Szenen der Wiener Moderne: Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen [1 ed.] 9783666358234, 9783525358238

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Szenen der Wiener Moderne: Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen [1 ed.]
 9783666358234, 9783525358238

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Theresa Eisele

Szenen der Wiener Moderne Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen

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‫ תולדות‬toldot Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur Herausgegeben von Yfaat Weiss Band 14

Theresa Eisele

Szenen der Wiener Moderne Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen

Vandenhoeck & Ruprecht

Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Lektorat: André Zimmermann, Leipzig Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2197-1013 ISBN 978-3-666-35823-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Inszenierte Vorstellungswelten . . . . . . . . . . . . 9 Die Stadt ohne Juden (1924) . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Klabriaspartie (1890) . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Wiener Typ Nr. 16 (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1873 – 1890 – 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Zur Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Vorwort

Ein Wiener Journalist veröffentlicht 1922 einen Roman, der zum Verkaufsschlager wird: Die Stadt ohne Juden, »ein Gedankenexperiment, das nachträglich als Prophezeiung der Schoah rezipiert wurde, de facto aber hauptsächlich Gesellschaftsklima und Politik der 1920er Jahre fiktionalisierte« (Theresa Eisele). Erzählt wird der Exodus der jüdischen Bevölkerung Wiens nach ihrer Ausweisung durch den christlichsozialen Bundeskanzler  – die Folge ist ein wirtschaftlicher und kultureller Niedergang der von antisemitischen Stimmungen geprägten Stadt. Kurz nach Erscheinen des Titels bearbeitet eine Drehbuchautorin den Stoff, der 1924 verfilmt wird und ein Kassenerfolg ist. Im Lauf der Zeit gehen allerdings sämtliche Kopien verloren; der Film verschwindet. In den 1990er Jahren tauchen Fragmente einer niederländischen Version wieder auf, doch erst nach dem Zufallsfund eines nahezu vollständigen Exem­ plars 2015 kann der Stummfilm restauriert werden. Und die Menschen dahinter? Romanautor Hugo B ­ ettauer wird 1925 von einem Antisemiten erschossen. Regisseur Hans Karl Breslauer tritt 1940 in die NSDAP ein. Drehbuchautorin Ida Jenbach wird 1941 nach Minsk deportiert und ermordet. Attentäter Rothstock hingegen genießt schon im Gerichtssaal den Applaus Gleichgesinnter, wird kurzzeitig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und kann noch fünfzig Jahre später in einem bizarren Interview unwidersprochen seine Tat verherrlichen. Der virtuos konzipierte und pointiert formulierte E ­ ssay von Theresa Eisele nimmt jedoch weniger die Protagonis­ten selbst in den Blick als vielmehr die von ihnen erzeugten Arte­ – 7 –

fakte, weniger eine Handlung als vielmehr ein Argument. Über drei Medien – Film, Theater, Fotografie – hinweg folgt der Text in einer antiteleologischen Rückerzählung den Imaginationen des Jüdischen im Wien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund einer Akkulturation im Spannungsfeld von Juden und ihrer christlichen Umgebung einerseits sowie äußerer und innerer Begegnungen zwischen Ost und West andererseits wird eine faszinierende Kulturgeschichte der Selbst- und Fremdbestimmung bei der vergeblichen Suche nach Authen­tizität erzählt. »Echt jüdisch«, so zitiert die Autorin, »ist wie ein großer Koffer, da hinein die ganze Menschheit ihre schmutzige Wäsche gepackt hat« (Felix Salten). An diesen gefürchteten Koffer traut sich Eisele mit historischen und zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Ansätzen heran, um einem ungebrochen allgegenwärtigen Phänomen nachzuspüren. Yfaat Weiss

Herbst 2020

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Inszenierte Vorstellungswelten

Im Oktober 2015 entdeckte ein Sammler auf einem Flohmarkt in Paris eine alte Filmrolle. Er erwarb sie, betrachtete das verfärbte Kunststoffmaterial näher, entdeckte den österreichischen Schauspieler Hans Moser auf dem schon stark zersetzten Zelluloid und kontaktierte das Filmarchiv Austria in Wien. Dort wurde das Material kurze Zeit später als nahezu vollständige Version des Stummfilms Die Stadt ohne Juden erkannt. Dieser war 1924 unter politisch brisanten Bedingungen produziert worden, galt im Nachkriegsösterreich lange als verschollen und tauchte in den 1990er Jahren in einer stark fragmentierten niederländischen Fassung wieder auf. Der Flohmarktfund initiierte eine mehrjährige Restaurierung  – im materiellen und kulturhistorischen Sinn: Der Film konnte mithilfe großzügiger Mittel aus einer Crowdfunding-Kampagne notkopiert, analog restauriert und digitalisiert werden, erhaltene Zwischentitel wurden aus dem Französischen ins Deutsche rückübersetzt, fehlende Szenen im Abgleich mit früheren Fragmenten ermittelt. Knapp zwei Jahre nach der Flohmarktentdeckung kuratierte das Filmarchiv eine Ausstellung zum Stummfilm, der inzwischen von einem breiten Publikum als wichtiges filmhistorisches Erbe Österreichs, als »erstes filmkünstlerisches Statement gegen den Antisemitismus« oder gar als Vorausahnung der Schoah erinnert wurde. Allen voran universalisierte die Ausstellung Die Stadt ohne  … Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer den Erfahrungshorizont der Ersten Republik Österreich, um daraus Schlüsse für die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart zu ziehen. Die Ausstellung, so warb das Filmarchiv, interveniere zwischen – 9 –

damals und heute. Während in der Restaurierungsabteilung des Filmarchivs also zunächst das physische Material, die Nitrozellulose, gesichert wurde, beschäftigte sich die öffentliche Diskussion mit der Wieder- und Neuherstellung eines für die Gegenwart sinnhaften Zugangs zum Inhalt des verloren gegangenen und in Paris neu entdeckten historischen Dings.

Film, Posse, Fotografie Dinge seien äußerst diskrete Wesen, schreibt der Wissenschaftshistoriker Peter Geimer in seiner Theorie der Gegenstände über das »lakonische Herumstehen«, die Stummheit und erhabene Indifferenz der uns umgebenden Gegenstände. Eine lädierte Zelluloidfilmrolle, deren Emulsionsschicht sich leicht ablöst, eine handkolorierte Fotografie aus dem Jahr 1873: Sie sind Teil unserer Umwelt, wir übersehen oder entdecken, betrachten, archivieren oder vergessen sie. Wir können sie mit Sinn versehen, emotional referenzieren oder gänzlich missachten. Viele Dinge überdauern uns, ohne dass wir davon Notiz nehmen; sie können ein uns unzugängliches Dasein fristen, neunzig Jahre nach ihrer Produktion auf einem Flohmarkt erneut ins Auge fallen und sich ab diesem Augenblick als Scharnier zwischen Gegenwart und Vergangenheit erweisen. In jenen Momenten, in denen wir ihnen eine besondere Qualität zuweisen, eröffnet sich uns ein Zugang zu den Verwandtschaften von Materie und Gesellschaft, zu den Verstrickungen zwischen Dingund Erinnerungswelten. Dieser Essay erzählt die Geschichte dreier Artefakte (lat. arte factum = kunstvoll [gemacht]), also vom Menschen gefertigter und geformter Dinge, und verschränkt sie mit den zeitgenössischen Vorstellungen, Mentalitäten und Wissens– 10 –

ordnungen, in die sie verwoben sind. Neben dem Stummfilm Die Stadt ohne Juden, der 1924 in Wien gedreht, uraufgeführt und politisch skandalisiert wurde, beschäftigt sich der Essay mit den schauspielenden Körpern in der Wiener Theaterinszenierung Die Klabriaspartie (1890 uraufgeführt) sowie mit der Typenfotografie eines jüdischen Hausierers, die im Jahr der Weltausstellung 1873 entstanden ist. Er schreitet damit aus heutiger Perspektive rückwärts in die Wiener Geschichte und von den Ereignissen um den Stummfilm in der Ersten Republik Österreich über die Possensensation der Jahrhundertwende zurück in das Jahr, in dem ein Börsenkrach die k. u. k. Metropole Wien erschütterte und eine industrielle Leistungsschau monumentalen Ausmaßes die anbrechende Moderne in der Habsburgermonarchie endgültig ankündigte. Obschon die drei Artefakte aus Film, Theater und Fotografie in ihrer Materialität wie Zeitlichkeit voneinander abweichen und sie in unterschiedlichen historischen Situationen entstanden sind, verhandeln sie allesamt Bildwelten des Jüdischen in der zentraleuropäischen Moderne. Dabei sind sie der dualistischen Geschlechterstruktur verhaftet, sie fokussieren auf Juden, nicht auf Jüdinnen – wobei gerade dieser Dualismus die wechselseitige Bezogenheit von Geschlecht bedingt und so Imaginationen über Juden auch mit Konstruktionen von Weiblichkeit in Beziehung stehen. In allen Artefakten haben sich widerstreitende Vorstellungen dessen verdichtet, was von verschiedenen Seiten als jüdisch markiert wurde – alle drei verfügen über eine epistemische und ästhetische Spezifik. Der Essay hat zum Ziel, diese Bildwelten des Jüdischen in Film, Theater und Fotografie zu historisieren und sie gleichfalls miteinander lesbar zu machen. Leitend ist die Frage, welcherart die Artefakte mit Konzepten von Authentizität verwoben waren und welchen Effekt dies auf die Wahrneh– 11 –

mung und Wirkmacht der Vorstellungen hatte. Im Zentrum steht das wechselseitige Verhältnis zwischen mentalen Ideen vom Jüdischen, ihrer konkreten In-Szene-Setzung und der diskursiven Beglaubigung dieser künstlerischen Produkte. Hierfür wird exemplarisch verfolgt, wie Vorstellungswelten des Jüdischen in Wien ab den 1870er Jahren sichtbar gemacht und anhand welcher Prozesse diese Vorstellungen als »authentisch« beglaubigt, wann und von wem sie für »echt« oder »wahr« befunden und wann sie als Konstruktion offen ausgestellt wurden. Gerade der Status der drei Artefakte zwischen künstlerischem Produkt und der Verwirklichung kollektiver Bilder konnte widerstreitende Rezeptionshaltungen auslösen: Sowohl die Mittel der Fotografie als auch die Figurengestaltung in einer Filmszene können als artifiziell wahrgenommen und dennoch als besonders glaubwürdig positioniert werden. Der Essay interessiert sich für diese Kippmomente und die wechselseitige Bedingtheit von Form und Inhalt. Er versteht »Vorstellung« im doppelten Wortsinn, als tatsächliche Darbietung und mentales Bild zugleich, und befragt so künstlerische Bilder und Mentalitäten in ihrer gegenseitigen Verschränkung. Die inszenierten Vorstellungen des Jüdischen werden daher nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, sondern daraufhin geprüft, wer sie wann warum für wahr befindet; sie sind damit nicht wahr, sondern in besonderem Maße wirklich, wenn Wirklichkeit all das umreißt, »was wirkt« (Wolfgang Pauli).

Authentizität als Denkfigur Fragen von Echtheit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit gewannen in der Moderne zunehmend an Bedeutung, in Wien grundierten sie gesellschaftspolitische, anthropologische und künstlerische Diskussionen, die von einer breiten Öf– 12 –

fentlichkeit geführt wurden. Felix Salten (1869–1945), der aus einer akkulturierten jüdischen Familie stammte, später mit Tiergeschichten wie Bambi bekannt wurde, um 1900 aber als anerkannter Feuilletonist und Chronist der Wiener Moderne wirkte, befragte stetig die Möglichkeiten authentischen Seins. Der Architekt Adolf Loos wertete in seinen Schriften über Architektur und Stilkritik den Effekt und die Hochstapelei moralisch ab und führte Echtheit als Maßstab für Baumaterialien wie auch für sozialen Umgang an. In den frühen Jahren der Ersten Republik suchten Künstlerinnen und Künstler, darunter zahlreiche jüdische Frauen, im Ausdruckstanz nach einem wahrhaftigen Bewegungsrepertoire – und auch im bürgerlichen Literaturtheater adelte das Urteil eines Theaterkritikers, der eine Aufführung für »lebenswahr« befand, den so beschriebenen Theaterabend. Damit grundierten Fragen von »Authentizität« zahlreiche Diskussionen, in denen anhand eines ganzen Bündels an Begriffen Konzepte von Gesellschaft und menschlicher Existenz aufeinandertrafen. Wurde nach dem Flohmarktfund der Filmrolle in Paris 2015 der Versuch unternommen, die ursprüngliche Version des Films Die Stadt ohne Juden, also die »Authentizität« eines Objekts wiederherzustellen, so sind und waren Konzepte des Authentischen gegenwärtig wie historisch ebenso für Personen und Personengruppen diskutierbar. Beschrieb Authentizität, abgeleitet vom griechischen Wort authentikós, lange Zeit Objekte, Dokumente oder Schriftstücke, die von einer Autorität als original oder zuverlässig bestätigt worden waren, so gewann der Begriff im Lauf der Moderne eine Beschreibungskraft für menschliche Existenz. Noch lange bevor sich der Begriff der Authentizität als Bezeichnung für eine stimmige moderne Seinsweise durchgesetzt hatte, diskutierte und behauptete man die Möglichkeiten eines selbstwirkenden, unmittelbaren und wahrhaftigen Selbst (griech. autós = selbst, allein, eigen). – 13 –

Die Debatten um die Möglichkeiten der Subjektauthentizität stießen dabei ins Zentrum eines neuzeitlichen Pro­ blems, das sich mit der Erfindung des modernen bürgerlichen Selbst ankündigte: Je mehr dieses im Zuge aufklärerischer Ideen sowie der medizinischen Entdeckung des menschlichen Körpers als Polarität von innerem Wesen und äußer­ licher Hülle gedacht wurde, umso dringlicher wurde die Frage, wie die Lücke, die sich dazwischen auftat, zu schließen sei. Die Lösung schien in der Einübung einer Lebensweise zu liegen, die Wesen und Ausdruck zu möglichst großer Übereinstimmung zu bringen versprach. Derart wird mit dem modernen Selbst als Individuum sowohl die Idee eines je eigenen Inneren bestärkt als auch die Anforderung verbunden, diesem originären Selbst zu einem möglichst glaubwürdigen Ausdruck zu verhelfen – um sich damit in Gesellschaft als geschlossenes, im wörtlichen Sinn unteilbares Individuum zu positionieren. Das moderne bürgerliche Subjekt stand fortan vor der verzwickten Aufgabe, mittels sozialer Praktik nach außen hin eine Natürlichkeit zu kultivieren und dabei die lebenstheatralen Mittel, die dazu nötig waren, zu negieren. Der »authentische Mensch«, den Jean-Jacques Rousseau beschrieb, ist mit sich, seinem Wesen und der Natur im Einklang, gibt dieses Ideal jedoch auf, sobald er den Naturzustand verlässt und in eine Gesellschaft eintritt. Im Diskurs über die Ungleichheit unter Menschen (1755) bespricht Rousseau den Zusammenhang von Vergesellschaftung und Entfremdung und skizziert damit, dass authentisches Sein kehrseitig entfremdetes Sein stets mit einschließt. Entfremdung wurde in der metro­ politanen Moderne, von Menschen in wachsenden Großstädten und in gesellschaftlichen Strukturen, die sie selbst nicht mehr vollumfänglich begreifen konnten, verschärft als Problem erfahren; sie beschäftigte auf spezifische Weise auch Jüdinnen und Juden, die sich im Lauf des 19. Jahrhun– 14 –

derts vielfach akkulturiert, verbürgerlicht und von religiösen jüdischen Traditionen entfernt hatten. Sie alle suchten sich auf verschiedene Weise zu versichern – durch religiöse Rückbesinnung, in politischen und künstlerischen Projekten, mithilfe der Lebensreformbewegung, aber auch mittels physiognomischer Lehren –, um eine als authentisch erfahrene Existenz zu erlangen und damit Orientierung bei sich selbst für eine in Unordnung geratene Welt zu finden. Dabei handelte es sich um Näherungsbewegungen an eine kulturelle Konstruktion, die stetig zur Aushandlung stand und gerade deswegen umkämpft war. Denn im kulturhistorischen Sinn kann authentisches Sein zwar empfunden, hervorgebracht und zugeschrieben werden, es unterliegt jedoch einem kontinuierlichen Prozess der diskursiven Verständigung. Diesem Verständigungsprozess wohnt ein Machtverhältnis inne zwischen denen, die urteilen, und jenen, die beurteilt werden. Er bescheidet über die Auf- und Abwertung von Menschen und Objekten; so entfaltet er eine spezifische Wirkmacht für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen und damit auch für die jüdische Bevölkerung der Moderne in Wien.

»Echt jüdisch«? Im Jahr 1909 veröffentlichte Felix Salten unter dem Titel Das österreichische Antlitz eine Sammlung knapper Porträts bedeutender Persönlichkeiten seiner Zeit. Er entlarvte darin die Demagogie des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, beschrieb die Lebensgeschichte der ermordeten Kaiserin Elisabeth als nunmehr unwirkliches Traumgebilde und berichtete von einem merkwürdigen Phänomen, das um die Wende zum 20. Jahrhundert ganz Wien erfasst habe: die Girardimanie. Salten beobachtete, wie sich – 15 –

die Wienerinnen und Wiener – inspiriert vom Schauspieler Alexander Girardi – eine Fiktion des habsburgisch-wienerischen Körpers aneigneten, die sie sich bei Girardis Auftritten abgeschaut hätten und nun nachahmen würden. Die Leute hätten von ihm im Theater gelernt, wie man wienerisch ist, und es dann kopiert: Jeder Fiakerkutscher, jeder Briefbote, jeder Spießbürger sei letztlich eine Girardi-Rolle, ein lebendig gewordener Einfall des Schauspielers. Alexander Girardi hatte über die Wiener Vorstadttheater zur Operette gefunden und war damit in den 1880er Jahren berühmt geworden. Just 1908 verließ er, auf die Wiener Theaterszene schimpfend und für viele überraschend, zugunsten eines Engagements am Berliner Thalia-Theater die Stadt. Er sollte in der darauffolgenden Saison bereits zurückkehren, derweil veranlasste sein Umzug nach Berlin nicht nur Felix Salten zu einer Hommage. Auch Karl Kraus (1874–1936) verfasste einen Aufsatz über Girardi, in dem er in seltener Einigkeit mit Salten beklagte, mit Girardi sei »Wien selbst nach Berlin gegangen«. Girardi, so akzentuierte Salten wiederum, habe eine Idee vom Wienertum ersonnen, die auf den Straßen der Stadt verwirklicht worden sei: »Eine Zeitlang lief halb Wien herum und spielte Girardi und wußte nicht, daß es damit sich selbst aufgab, daß es auf seine eigene Echtheit verzichtete, und an deren Stelle die besondere Echtheit eines einzelnen annahm.« Fasziniert und irritiert zugleich beschrieb Salten, wie sich Theaterrollen und Sozialrollen des Wiener Fin de Siècle wechselseitig beeinflussen und so ein erfundenes KunstWienertum hervorbrächten. Ein Wienertum, das Salten allenfalls für ein »halbechtes«, wenn auch »in seiner Unwahrheit entzückendes« hielt. Er beobachtete, wie Girardis Erfindung auf der Straße lebendige Konturen annahm, beklagte aber zugleich dessen Künstlichkeit und positionierte es gegen zwei große Begriffe: Echtheit und Wahrheit. Seine – 16 –

Befürchtung, Menschen, die Girardi-Rollen imitierten, verzichteten auf ihr Echtsein, setzt die sehr zeitgenössische anthropologische Annahme voraus, jeder Mensch besitze eine eigene Echtheit, die von außen erkennbar sei. Mit seinem Porträt schrieb Salten nicht nur an der kulturellen Imagination einer wienerischen Seinsweise, er beteiligte sich zudem – anhand eines Schauspielerkörpers und der an ihn gebundenen Praxis – an der Suche nach einer inneren Essenz des Menschen. Salten behauptet eine Echtheit, die innerlich und wesenhaft sei und sich bestenfalls mit seiner äußeren Hülle, dem Körperausdruck, decke. Die Versuche, ein wahres Wienertum wie eine echte Seinsweise zu bestimmen, mögen für Felix Salten, Sohn einer verarmten jüdischen Familie aus der Wiener Vorstadt, auch deshalb attraktiv gewesen sein, weil sie soziale Teilhabe versprachen. Wer sich im gesellschaftlichen Umgang »echt« oder »echt wienerisch« geben konnte, der schien in einer um 1900 heterogener werdenden modernen Gesellschaft leichter auf Akzeptanz zu stoßen. Für Jüdinnen und Juden, die sich im unsicheren politischen Klima der Wiener Moderne gesellschaftliche Teilhabe erhofften, entfalteten die Versprechen, die mit der Erlangung eines authentischen Selbst verbunden waren, damit einen großen Reiz. Während aber die (Er)findung einer unmittelbaren Seins- und Lebensweise Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in der diese Seinsweise als solche erkannt wurde, ermöglichen konnte, blieb die qua Authentizitätsurteil erlangte Zugehörigkeit unzuverlässig. Sie wurde oft gar gegen die jüdische Bevölkerung gewendet: Jüdinnen und Juden waren etwa mit dem antisemitischen Vorwurf der Verstellung und Verhehlung konfrontiert, sie würden sich – so der Anwurf – in bürgerlich-christlichen Gesellschaften nur »camouflieren« und immer wieder aus ihrer »Rolle« – oder genauer: aus ihrem Charakter – fallen, da dieser ihnen eben nie ganz eigen sei. Derart zeigen die – 17 –

Artefakte, dass die Hervorbringung und Zuschreibung von »Authentizität« an eine Autorisierungshandlung gekoppelt ist und damit nicht nur inklusives Potenzial entfalten konnte, sondern umgekehrt auch Mechanismen der Ausgrenzung beförderte und negative Bilder, die sich eine Gesellschaft von der jüdischen Bevölkerung gemacht hatte, zu beglaubigen imstande war. Felix Salten wehrte sich entschieden gegen die Verknüpfung von Authentizitätsbehauptungen und antisemitischen Vorwürfen. Über den Jahreswechsel 1899/1900 legte er in Theodor Herzls Zeitung Die Welt persönlich Bekenntnis ab. Unter dem Titel »Echt jüdisch« zeigte er auf, dass es sich bei der Aussage, jemand oder etwas sei »echt jüdisch«, um eine Macht ausübende Zuschreibung handle, und gestand, dass er selbst sehr darunter gelitten habe; sie sei ihm »ein Gebrechen, ein Abzeichen, ein Schicksal«, dem man nicht zu entrinnen vermöge: »Dieses gefürchtete ›Echt jüdisch‹ ist wie ein großer Koffer, da hinein die ganze Menschheit ihre schmutzige Wäsche gepackt hat.« Salten schlug schließlich vor, die Behauptung »echt jüdisch« vom »alten Krempel« zu befreien und sie mit neuem Inhalt zu füllen. Dieser Versuch eines akkulturierten Wiener Juden, das Machtverhältnis umzukehren und Deutungs­ hoheit über den Eindruck dessen, was echt jüdisch sei, zu erlangen, zeigt einerseits, wie umkämpft Fragen der Authen­tizität in der Wiener Moderne waren. Andererseits erhellt er innerjüdische Diskussionen, die sich ebenfalls um die Möglichkeiten authentischen jüdischen Seins bemühten. Viele akkulturierte Wiener Jüdinnen und Juden erkannten etwa in der osteuropäisch-jüdischen Bevölkerung eine »authentische« Existenz, die sie sehnsüchtig imaginierten oder mit exotisierendem Blick als besonders echt wahrnahmen. Anhängerinnen und Anhänger des Zionismus und der jüdischen Renaissance sahen in Juden aus dem östlichen – 18 –

Europa gleichfalls unverfälschte Vertreter des Jüdischen, während sie ihrerseits Konzepte des Authentischen nach zionistischen und nationaljüdischen Idealen etablierten. Die Renaissancebewegung, die der Philosoph Martin Buber ab der Jahrhundertwende beförderte und die ihre Hochphase nach dem Ersten Weltkrieg erlebte, griff Ideen des Jugendstils und der Lebensreformbewegung auf und zielte etwa auf eine authentisch jüdische Gemeinschaft mittels geistiger Besinnung. Damit liegt offen zutage, dass die Konstruktion von Authentizität – als jüdische Sehnsuchtsfigur, als antisemitisches Urteil oder als moderne Anforderung an das Subjekt – für die jüdische Bevölkerung in Wien spezifische Dimensionen entfaltete. Ideen des Authentischen durchzogen den innerjüdischen Diskurs; sie tauchten dort auf, wo traditionelle und akkulturierte Lebensweisen der aschkenasischen Judenheiten zur Aushandlung standen. Sie boten Möglichkeiten der Selbstpositionierung, bargen aber auch konkrete Gefahren. Authentisierung als Beglaubigung einer Entität wurde zur diskursiven Praxis der Moderne, die um 1900 die internen Mechanismen einer Gesellschaft mitbestimmte, an der Jüdinnen und Juden nur bedingt teilhatten. Diese waren seit 1867 zwar rechtlich gleichgestellt, wurden sozial aber nie als Gleiche akzeptiert. Authentizität als Denkfigur eröffnete ihnen die trügerische Chance, sich zugehörig zu zeigen oder eigene Entwürfe sozialen und politischen Seins zu etablieren. Gleichfalls konnte dieses Versprechen jederzeit umschlagen und die Anforderung an ein modernes authentisches Selbst exkludierend gegen die jüdische Bevölkerung gewendet werden, die diese Herausforderung vorgeblich nicht bewältigte.

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Wien, »fruchtbare Brutstätte« In der Zeitspanne zwischen 1873 und 1924 gewannen unterschiedliche Formen des Authentischen an Bedeutung. Sie tauchten überall dort auf, wo gesellschaftliche und politische Fragen verhandelt, demografische Umwälzungen, soziale Krisen und weltanschauliche Brüche diagnostiziert wurden. Die Wiener Geschichte der Moderne, die dieser Essay im engeren Sinn durchmisst und in deren Kontext die drei Artefakte stehen, war reich an Brüchen, Krisen und Umwälzungen. Wien hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein vormodernes Gepräge verloren und sich zur kaiserlichen Metropole gewandelt; die monumentalen Gebäude der neu errichteten Ringstraße, darunter das Burgtheater, die Universität und das Rathaus, spiegelten die Ideale des liberalen Bürgertums in historistischem Gewand. Ein Eisenbahnnetz, das maßgeblich vom Wiener Zweig der Frankfurter Familie Rothschild finanziert worden war, schloss Wien an die Provinzen der Monarchie an; zwischen Mitte und Ende des Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl beinahe verdoppelt. Die Leopoldstadt, in der frühen Neuzeit außerhalb der Stadtmauern gelegen und Ansiedlungsort weniger tolerierter Jüdinnen und Juden, war mittlerweile eingemeindet und zum größten Bezirk der Stadt angewachsen. Sie beherbergte nun die meisten Menschen mit jüdischer Religionszugehörigkeit in Wien und war von Menschen unterschiedlichster Herkunft bewohnt. Während die jüdische Bevölkerung im Lauf des 19. Jahrhunderts nach und nach soziale Teilhabe erfochten, eine Gemeinde sowie Salons gegründet und sich insgesamt, im Besonderen aber publizistisch und wirtschaftlich für die bürgerliche Idee engagiert hatte, schienen schon zum Ende des Jahrhunderts die Versprechen der Akkulturation nicht – 20 –

mehr einlösbar. Jüdinnen und Juden hatten mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 bürgerliche Rechte erhalten, erlebten nun aber einen modernen Antisemitismus enormen Ausmaßes. Die großen Gesellschaftsentwürfe des 19. Jahrhunderts standen ebenso zur Debatte wie der soziale Friede im habsburgischen Vielvölkerstaat. Der Einbruch der Finanzmärkte beim sogenannten Gründerkrach 1873 entfachte Verschwörungstheorien, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Modernisierungsprozesse, die für Einzelpersonen nicht mehr fassbar schienen, wurden nun den neuen Mitgliedern der Gesellschaft angelastet, kleinbürgerliche Schichten nahmen ihre prekäre finanzielle Situation als jüdisch verschuldet wahr. Mit den Deutschnationalen unter Georg von Schönerer und den Christlichsozialen, die von Karl Lueger angeführt wurden, wurde der biologistisch-rassistische und katholische Antisemitismus zur tragenden Säule einer äußerst erfolgreichen agitatorischen Politik, deren Tonfall in den Anfangsjahren der Ersten Republik Österreich sich noch verschärfen sollte. Während die jüdische Bevölkerung überall dort vermutet und beschuldigt wurde, wo die Moderne negativ Einzug hielt, gerieten umgekehrt zugewanderte Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa zum Sinnbild einer rückständigen jüdischen Existenz, das gleichfalls zur Phantasmagorie des modernen Antisemitismus gehörte. Die Vorurteile gegen die jüdische Bevölkerung aus dem östlichen Europa kondensierten schließlich im Begriff des »Ostjuden«, den zunächst Nathan Birnbaum verwendete. Birnbaum unterschied diese von den sogenannten »Juden des Westens«, die nicht mehr religiös verhaftet, sondern akkulturiert seien – und beschrieb so schablonenhaft zweierlei Erfahrungs- und Lebenswelten der aschkenasischen Judenheiten. Dabei hatte im Westen der Habsburgermonarchie, insbesondere in Wien, die breite Öffentlichkeit bereits – 21 –

ab dem 18. Jahrhundert stereotype Bilder einer traditionellen jüdischen Existenz im östlichen Europa ausgebildet, hinter denen die Vielfältigkeit jüdischen Lebens zwischen Chassidismus, Orthodoxie und Haskala zunehmend verschwand. Josephinische Beamte, die die Monarchie in den Provinzen vertraten, kultivierten diese Anschauung ebenso wie akkulturierte Jüdinnen und Juden, die sich von einer ortho­ doxen Lebensweise abgrenzen wollten. So unterschiedlich sich die Zugehörigkeiten und Traditionen aber innerhalb der Monarchie ausgeprägt hatten, so divers fielen die jüdischen Strategien im Umgang mit den Verwerfungen des Fin de Siècle aus. Wien wurde zum frühen Zentrum des universitären jüdischen Nationalismus, zur Heimat des politischen Zionismus und der jüdischen Renaissance. Am Beginn des neuen, des 20. Jahrhunderts war Wien zu einer fruchtbaren und zugleich dystopischen »Brutstätte« politischer Bewegungen (Carl E. Schorske) geworden. Das bedrohliche Potenzial dieser Brutstätte trat nach dem Zerfall der Monarchie und am Beginn der Ersten Republik – in jener Zeit also, in der das folgende Artefakt entstand – neuerlich zutage.

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Die Stadt ohne Juden (1924)

Am Vormittag des 10. März 1925, einem Dienstag, erschien der 21-jährige Zahntechnikergehilfe Otto Rothstock im Redaktionsbüro Hugo Bettauers im 8. Wiener Gemeindebezirk. Er erbat einen Termin bei Bettauer, wurde von dessen Sekretariat auf 15 Uhr vertröstet und traf am Nachmittag erneut überpünktlich ein. Nachdem er von Bettauer ins Arbeitszimmer gebeten worden war, verriegelte er die Tür und schoss fünfmal auf den Publizisten. Dann zerriss und verbrannte er Schriftstücke und Briefe, die er im Arbeitszimmer Bettauers vorfand. Hugo Bettauer wurde schwerstverletzt ins Krankenhaus eingeliefert, das Attentat auf ihn noch am selben Tag in einer Extraausgabe der Zeitung Der Tag verkündet. Zwei Wochen später erlag Bettauer seinen Verletzungen. Otto Rothstock wurde des Meuchelmords angeklagt. Hugo Bettauer, 1872 als Maximilian Hugo Betthauer in Baden bei Wien geboren, war in den 1920er Jahren ein namhafter Redakteur verschiedener Zeitungen. Er schrieb für das Montagsblatt Der Tag, für die linksliberale Zeit und die Neue Freie Presse; zuletzt hatte er aufgrund seiner Wochenschriften und seines gerade verfilmten Romans Die Stadt ohne Juden Aufmerksamkeit erregt. Als junger Soldat desertiert, nach Zürich geflohen und von dort nach New York übergesiedelt, fand Bettauer in den Vereinigten Staaten als Journalist Arbeit, nutzte 1908 jedoch eine Generalamnestie anlässlich des kaiserlichen Thronjubiläums, um ins habsburgische Österreich zurückzukehren. 1920 veröffentlichte er seinen ersten Roman Das Faustrecht, dem rasch weitere folgten, sodass Bettauer bis zu seinem Tod zwei Dutzend – 23 –

sogenannte Wiener Romane publiziert hatte, die alle soziale Problemlagen der Ersten Republik thematisierten; neun dieser äußerst nachgefragten Romane wurden verfilmt. In juristische Schwierigkeiten geriet Bettauer durch seine Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik, Er und Sie, die er nach nur fünf Ausgaben aufgrund einer Anklage wegen Kuppelei und Vergehens gegen die öffentliche Sittlichkeit einstellen musste, deren Themen er aber ab Mai 1924 in dem neuen Periodikum Bettauers Wochenschrift. Probleme des Lebens fortsetzte. Mit seinen Schriften über weibliche Lust, Homosexualität und außerehelichen Geschlechtsverkehr war Bettauer zum Vordenker sexueller Befreiung in Wien avanciert, zugleich aber starken Anfeindungen insbesondere von konservativer und deutschnationaler Seite ausgesetzt. Sittlichkeitsvereine, katholische Organisationen und Schulverbände hatten sich seit der Jahrhundertwende gegen Unterhaltungsromane, Filme und populäres Theater formiert und führten nun sogenannte Schund- und Schmutzkampagnen, die ein bürgerliches bis völkisches Kunstverständnis und rigide Moralvorstellungen mit antisemitischen Vorurteilen verbanden und sich mit aller Schärfe auch gegen Hugo Bettauer richteten. Bundeskanzler Ignaz Seipel beklagte mit Blick auf Bettauer eine »Flut von Pornographie«, die die Stadt Wien – deren sozialdemokratische Regierung Seipel damit gleichsam politisch angriff – nicht unterbinde. Der christlichsoziale Politiker Anton Orel ereiferte sich während einer Gemeinderatssitzung, die im Handgemenge eskalierte, über die »jüdische Schweinerei« Bettauers. Dessen Herkunft, seine libertären Ideen und politisch linke Einstellung wurden wiederholt für antisemitische Diffamierungskampagnen benutzt, die sich im Sommer 1924 abermals zuspitzten, als die Verfilmung des Romans Die Stadt ohne Juden in den Wiener Kinos anlief und so den Autor erneut ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückte. – 24 –

Der Roman zum sogenannten Tendenzfilm war zwei Jahre zuvor erschienen, inzwischen mehrfach neu aufgelegt und in neun Sprachen übersetzt worden. Er galt, wie seine Vorgänger, als Verkaufsschlager und zirkulierte in Wien als »echtes Buch der Zeit« zu Zehntausenden. Die erste Auflage war kurz nach Erscheinen vergriffen, die zweite folgte im Juli 1922, im Herbst wurde bereits von einer dramatischen Bearbeitung des »Sensationsromans« berichtet. Bettauer entwarf darin ein Gedankenexperiment, das nachträglich als Prophezeiung der Schoah rezipiert wurde, de facto aber hauptsächlich Gesellschaftsklima und Politik der 1920er Jahre fiktionalisierte: Im von Armut und Inflation gezeichneten Wien nutzt der christlichsoziale ­Bundeskanzler Schwertfeger die antisemitische Stimmung für seine populistischen Absichten. Ein von ihm initiiertes »Antijuden­ gesetz« verfügt die Ausweisung aller Jüdinnen und Juden aus der Stadt, die daraufhin als »Stadt ohne Juden« wirtschaftlich und kulturell verödet. Mitte 1923 gab der Regisseur Hans Karl Breslauer die Verfilmung des Romans bekannt, die in den folgenden Monaten von der Presse gespannt begleitet wurde, erwartete doch etwa Das Kino-Journal im Juli 1923, »daß dieser Film nicht weniger Aufsehen erregen wird, wie seinerzeit der Roman«. Das Kino-Journal sollte recht behalten: Die Stadt Linz hatte die Vorführung zum Start im Juli 1924 bereits verboten, laut Linzer Volksblatt aufgrund des »Schimpfs«, den »Bettauers Schandfilm« (Breslauer als Regisseur bleibt hier unerwähnt) der christlichen Bevölkerung antue. Im Oktober 1924 – Bettauer war nach einer Anklage aufgrund seiner Wochenschriften gerade vom Vergehen gegen die öffentliche Sittlichkeit freigesprochen worden – störten Nationalsozialisten in Wiener Neustadt eine Filmvorführung von Die Stadt ohne Juden. Sie hatten sich im Kinosaal verteilt, unterbrachen die Projektion mehrfach mit Rufen, warfen – 25 –

Stinkbomben von der Galerie und demonstrierten lautstark gegen den Film. Im selben Monat trat der Zahntechniker­ gehilfe Otto Rothstock aus der nationalsozialistischen Partei aus. Er war erst Anfang des Jahres Mitglied geworden, plante nun aber eine schwere Straftat und wollte verhindern – so gab er es später bei Gericht zu Protokoll –, dass die Tat mit der nationalsozialistischen Partei in Verbindung gebracht werde. Fünf Monate später erschoss er Hugo Bettauer. Er habe, so erzählt es Rothstock schließlich vor Gericht, Bettauers Schriften – neben den Wochenschriften drei Romane, darunter Die Stadt ohne Juden – gelesen. Gemeinsam mit dem Kino verführe diese Literatur zur Sittenlosigkeit, er habe das am eigenen Leib bemerkt. Während des Prozesses verteidigte sich Rothstock als Beschützer seiner »Volks- und Altersgenossen«. Jüdische Schriftsteller und Gelehrte würden die Jugend verderben und alles Deutsche verhöhnen: »Mein Schreckschuß sollte die Welt aufmerksam machen.« Er selbst trage keine Schuld. Warum er zunächst auf ­Bettauers Hände gezielt habe, fragte ihn der Richter – »damit er nicht mehr schreiben kann«.

Wiener Wirklichkeiten Der Roman Die Stadt ohne Juden war im Sommer 1922 veröffentlicht worden. Im Juli, das Buch lag gerade frisch in den Geschäften, berichtete Hugo Bettauer in der Zeitung Die Börse von der Entstehungsidee seines Werkes  – und sprach damit von jener gesellschaftspolitischen Stimmung im Wien der 1920er Jahre, die drei Jahre später in der Tat und den Prozessaussagen Otto Rothstocks auf bitter-konkrete Weise neuerlich belegt werden sollte. Bettauer beschreibt, wie eine Wandschmiererei »Hinaus mit den Juden!« seine spielerischen Gedanken angeregt habe. – 26 –

Diesen »Sehnsuchtsschrei eines sicher sonst ganz braven Mannes« habe er zufällig in Wien entdeckt, er begegne einem ja allenthalben, in den Plakaten der Hakenkreuzler, auf der Elektrischen und in den Wiener Stimmen. In seinem Zukunftsroman denke er schließlich nur weiter und frage, wie sich Wien wohl entwickeln würde, wenn die jüdische Bevölkerung der Stadt dieser »höflichen Aufforderung« einmal nachkäme. Dieses Gedankenspiel führt B ­ ettauer zu einer satirischen Überspitzung. Er habe in der Folge Firmenschilder, Spendenlisten sowie Menschen in Theatern und Vergnügungslokalen »auf blumenreiche und schlichte Namen, auf krumme und aufgestülpte Nasen« studiert. Eine Stadt ohne Juden, das hieße eine Stadt »ohne Menschen mit geschäftlichem Temperament, mit Luxusbedürfnis, mit Hang zu Pracht und Wohlleben«. Wien, die Stadt der Operette, könnte keine Operetten mehr aufführen, weil die Komponisten oder Librettisten, »gewöhnlich aber beide«, Juden seien; die Luxusgeschäfte gingen überdies ein. Ein ganz amüsantes Romänchen habe er dabei »hingehaut«, schreibt Bettauer. Er habe ein »kinematographisches Bild« eines Wiens ohne Juden entworfen, zusammengehalten durch eine »harmlose Romanhandlung«. Bettauers Aussagen verdeutlichen seine Absicht, den Wiener Antisemitismus in plastischer, »kinematographischer«, ja leichtfüßiger Weise zu thematisieren. Die Handlung ordnete er diesem Zweck unter, reproduzierte gleichzeitig aber virulente antisemitische Stereotype  – ein Spannungsverhältnis, das im Sommer 1924 die Kontroverse um die Filmproduktion zusätzlich beförderte. Die Arbeiter-Zeitung kritisierte die »abgedroschenste Karikiererei« eines »antisemitischen, gegen den Antisemitismus gerichteten Films«, der zudem von miserabler Qualität sei. Trotz des negativen Urteils einiger Kritiker – viele von ihnen deutschnational gesinnt und derart gegen den Film – 27 –

hetzend, andere hingegen besorgt über dessen fahrlässige Machart, die nur stereotype Vorstellungen des Jüdischen be­ diene – war der Film ein Kassenerfolg. Zwei Wochen nach der Premiere verlangten die großen Kinos in Wien, darunter das Zirkus-Busch-Kino mit knapp 1 800 Sitzplätzen, nach einer Verlängerung, da jede Vorstellung ausverkauft sei. Die prominente Besetzung, das brisante Sujet und ein Regisseur, der sich kurz zuvor mit der Riviera-Produktion Strandgut hervorgetan hatte, mögen dazu beigetragen haben. Der Regisseur Hans Karl Breslauer (1888–1965) war Anfang der 1920er Jahre bei der Filmgesellschaft Mondial engagiert, gründete unter deren Dach eine eigene Produktionsfirma und begann 1923 mit der Verfilmung von Die Stadt ohne Juden. Dafür hatte er erfolgreiche Schauspielerinnen und Schauspieler gewinnen können: Eugen Neufeld in der Rolle des Bundeskanzlers Schwerdtfeger sowie Johannes Riemann und Anna Milety als jüdisch-christliches Liebes­ paar waren bereits aus Stummfilmen bekannt, weitere Rollen wurden mit Stars aus der Wiener Theater- und Kabarettszene besetzt. Hans Moser, der im Film den antisemitischen Rat Bernart spielte, trat in Kabaretts auf, bevor ihn Max Reinhardt ans Theater in der Josefstadt verpflichtete. Sigi Hofer (Schankknecht Moritz), Armin Berg (Kommis ­Isidor) und Gisela Werbezirk (Köchin Kathi) gehörten zur jüdi­ schen Theaterszene und übernahmen im Film kleinere Rollen, die sie zu komischen Nebenfiguren ausgestalteten. Hofer und Berg waren Anfang des Jahres als jüdische Figuren in der berüchtigten Theaterposse Die Klabriaspartie zu sehen gewesen. Stars der jiddischen Theaterszene – Laura Glücksmann, Salcia Weinberg und Jona Reissmann – bekamen im Film kurze Auftritte als Verkäuferin, Kundin und Zeitungsleser. Mit ihnen, Hofer, Berg und Werbezirk war es Breslauer gelungen, prominente jüdische Mitwirkende zu verpflichten. Er engagierte zudem den Filmarchitekten – 28 –

Julius von Borsody, der zwei Jahre zuvor für Sodom und ­Gomorrha (1922, Regie: Michael Kertéz [Curtiz]) die bis dahin monumentalsten Filmbauten im europäischen Stummfilm entworfen hatte und nun Teile davon für die im­posante Synagogenkulisse wiederverwendete. Dieser Bau, so versprach Die Filmwelt, sei dazu angetan, »auch den Antisemiten nachdenklich zu stimmen«. Vielleicht würden diese Bilder gar mehr Kulturarbeit verrichten als riesige Bibliotheken. Im Vergleich zum Roman ist das Drehbuch tatsächlich versöhnlicher angelegt. Es folgt zwar weitgehend der Romanvorlage, weicht jedoch an entscheidenden Stellen davon ab. Das Drehbuch, das Breslauer gemeinsam mit der Filmautorin Ida Jenbach bearbeitet hatte  – in den 1920er Jahren war sie als einzige Frau Mitglied im Klub der Filmregisseure Österreichs –, verlegt die Handlung von Wien in ein nicht näher bestimmtes Utopia, macht aus der Christlichsozialen Partei die fiktive »Partei der Antisemiten« und löst das Ende harmonisierend auf. Nachdem im Film die gesellschaftlich aufgeheizte Stimmung mittels tumultartiger Demonstrationen, Straßen- und Wirtshausszenen illustriert worden ist, Bundeskanzler Schwerdtfeger die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung initiiert hat und die Stadt daraufhin zur abgehängten Provinz verkommt, nachdem das Modehaus lediglich groben Loden verkauft und das Kaffeehaus zur Bierstube wird, beginnen nicht nur die politischen Zweifel am Ausweisungsgesetz. Der Jude Leo Strakosch (Johannes Riemann) kehrt, verkleidet als französischer Kunstmaler, nach Wien zurück und setzt im entscheidenden Moment der erneuten Abstimmung über das Gesetz den Abgeordneten Bernart (Hans Moser) mit französischem Wein und einer Irrfahrt im Automobil außer Gefecht. Strakosch bewirkt so im Kostüm des anständigen Katholiken, dass Bernart seine Stimme nicht abgeben kann, – 29 –

die aber für die Aufrechterhaltung des Gesetzes nötig gewesen wäre. Das Parlament nimmt daraufhin die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung zurück, Rat Bernart gerät in eine psychiatrische Anstalt und findet sich dort, umgeben von Davidsternen, in einer surrealen, unproportionierten Zelle wieder. Die expressionistische, an Das Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie: Robert Wiene) angelehnte Szene legt nahe, die zuvor geschilderte Ausweisung sei nur der Traum eines Antisemiten gewesen, während die Schlussszene zeigt, wie Bürgermeister Karl Maria Laberl inmitten einer jubelnden Menschenmenge Leo Strakosch als ersten zurückgekehrten Juden begrüßt. Dabei referiert die Figur des Bürgermeisters vermutlich auf den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der die Stadt für die Christlichsoziale Partei von 1897 bis 1910 regierte und über dessen offenen Antisemitismus der Film nun 14 Jahre später triumphiert. Die abschließende Texttafel »Wir sind alle Brüder« moralisiert die Filmhandlung und löst den zuvor exemplifizierten Antisemitismus in einem versöhnlichen Ende auf, durch das nun auch Leo Strakosch wieder mit seiner österreichischen Verlobten Lotte Linder (Anna Milety), der Tochter eines Sozialdemokraten, zusammenfinden kann. Kurz vor der Filmpremiere bereitete Die Filmwelt das Publikum auf die Abweichungen vom Roman und das versöhnliche Ende vor: »Da man für einen Film nur Freunde werben will und nicht wie der Schriftsteller es auch auf Feinde ankommen lassen kann, war es notwendig, viele im Buche vorkommende scharfe Stellen abzuschwächen und in diesem Sinne Ausgleiche zu finden.« Insbesondere die Verlegung der Handlung in ein fiktionales Utopia sollte dem Film wohl seine tagespolitische Schärfe nehmen, wenngleich Straßenszenen und Architektur auf Wien verweisen. So changiert die Verfilmung zwischen der expliziten Inszenierung einer antisemitischen Drohkulisse  – als Teil jüdi– 30 –

scher Alltagserfahrung der 1920er Jahre in Wien – und deren plötzlicher, gewissermaßen traumhafter Auflösung. In der Tat hielt sich Breslauer, indem er antisemitische Demons­ trationen und körperliche Gewalt gegen Juden zeigte, eng an die sozialpolitische Realität seiner Heimatstadt. In den Anfangsjahren der Ersten Republik hatte sich der Antisemitismus gewaltvoll zugespitzt. Er grassierte an Universitäten und in zahlreichen Vereinen, die mittels sogenannter Arierparagrafen Jüdinnen und Juden ausschlossen. Der politische und öffentliche Druck richtete sich insbesondere gegen jüdische Flüchtlinge aus dem östlichen Europa. Bereits vor dem Ende des Weltkrieges reagierte die Israelitische Kultus­gemeinde Wien im Juli 1918 mit einer landesweiten Resolution auf die »Verhetzung der Bevölkerung« und die »antise­mitische Wühlarbeit«, rund 300 Kultusgemeinden schlossen sich an. Sie äußerten ihre Furcht vor Pogromen, wiesen auf die behördliche Duldung der Hetze hin und beteuerten ihre »tiefwurzelnde Liebe und Treue« zu Österreich. Ihr Bemühen war vergebens. Im Sommer 1919  – die Republik war nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie noch kein Jahr alt  – gründete sich der Antisemitenbund, der als Bewegung verschiedener antisemitischer Gruppen schnell wuchs. Im Oktober 1919 protestierten seine Anhänger, darunter Frontkämpfer und Nationalsozialisten, auf dem Wiener Rathausplatz erstmals für die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung, 1921 rief der Bund zu einem groß angelegten internationalen Antisemitentag nach Wien, an dem zahlreiche österreichische Verbände teilnahmen; im vorgelagerten Arbeitsausschuss sprach der Jurist und Politiker Walter Riehl. Vier Jahre später übernahm er die Verteidigung von Otto Rothstock. Eine zionistische Kundgebung gegen Judenhetze endete im März 1923 in nationalsozialistischer Gewalt. Zuvor hatte der christlichsoziale Politiker Leopold – 31 –

Kunschak die Ausweisung von Juden in der Nationalversammlung als ganz konkretes politisches Szenario entworfen; er wolle, so seine hetzerische Rede, die Juden »vor die Wahl« stellen, »entweder freiwillig auszuwandern oder aber in die Konzentrationslager gesteckt zu werden«. Auch Bundeskanzler Ignaz Seipel (Christlichsoziale) erwies sich, wie seine literarisch-filmische Karikatur Schwer[d]tfeger, als antijüdischer Agitator – und zusätzlich als rechtsradikaler Geheimbündler. Als Seipel im Juni 1924 am Südbahnhof durch ein Attentat des 29-jährigen Spinnereiarbeiters Karl Jaworek schwer verletzt wurde, machten seine christlichsozialen Parteigänger unter anderen Hugo Bettauer als Kopf einer sozialdemokratisch-kommunistischen Verschwörung gegen den Kanzler aus. So erschien der Film zwei Monate später unter politisch verschärften Bedingungen, er situierte sich in »erschreckender Nähe« (Michael Brenner) zur gesellschaftlich und politisch instabilen Realität der 1920er Jahre in Wien. Wie seine Romanvorlage kartografierte er Wiener Verhältnisse der Zeit und wirkte selbst auf diese zurück. Aufgrund der großen Nachfrage nach dem Film, den Kinos aus verschiedenen europäischen Großstädten projizie­ren wollten, versandte Hans Karl Breslauer wohl überstürzt zahlreiche mangelhafte Kopien, die die Kinobetreiber eigenhändig schnitten – ein Vorgehen, das offenbar zum Zerwürfnis zwischen Bettauer und Breslauer führte und zugleich die Restaurierungs- und Rezeptionsgeschichte des Films bis heute prägt. Im August 1924 veröffentlichte ­Bettauer in seiner Hauszeitung Der Tag die Feststellung, er habe mit Regie und Ausarbeitung der Verfilmung Die Stadt ohne Juden nicht das Geringste zu tun.

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Ethnografie auf Zelluloid Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Stummfilm als verschollen, bis 1991 in Amsterdam eine erste, beschädigte Zelluloidrolle auftauchte. Der Fund im Nederlands Filmmuseum umfasste schließlich sechs Rollen mit zusammen 1 635 Metern Film. Das stark in Mitleidenschaft gezogene, verblichene Material  – knapp zwei Drittel der ursprüng­ lichen, 2 400 Meter langen Wiener Fassung – war mit niederländischen Haupt- und Zwischentiteln versehen: De Stad zonder Joden. Der Film konnte notkopiert und restauriert werden, erhaltene Zwischentitel wurden ins Deutsche rückübersetzt, fehlende Szenen ermittelt. Das rekonstruierte Material blieb Fragment, erlaubte aber die erste Sichtung einer relativ konsistenten Filmversion und verdeutlichte gleichzeitig deren Leerstellen. Dass der Amsterdamer Fund weitere Szenen vermissen ließ, die den dramaturgischen Aufbau und die inhaltliche Aussage des Films wesentlich prägten, zeigte sich erst vierundzwanzig Jahre später. Die 2015 in Paris entdeckte Fassung ergänzte etwa den bislang verlorenen Schluss und ermöglichte eine neuerliche inhaltliche und formale Auseinandersetzung mit dem Film. So offenbart die Fassung Kontrastmontagen, die jüdisches Leben und antisemitische Demonstrationen einerseits sowie zweierlei Lebenswelten andererseits deutlich gegeneinander schnitten  – die Welt des akkulturierten jüdischen Bürgertums und die einer verarmten, der Tradition verhafteten jüdischen Bevölkerung. Unter den Szenen der Vertreibung, die im schnellen Wechsel bebildert wird, erwiesen sich diejenigen, die der traditionellen jüdischen Bevölkerung gewidmet sind, als besonders relevanter Fund für die Erfor­schung von Authentizitätsvorstellungen. Sie werden folgendermaßen eingeleitet. – 33 –

Nachdem das Gesetz erlassen und die Ausweisung beschlossen ist, zeigt Breslauers Film Utopia am Weihnachtsabend. Lotte, die Tochter des sozialdemokratischen Rates Linder, schmückt den Weihnachtsbaum, während die jüdische Bevölkerung bürgerliche Wohnräume und einfache Stuben räumt, Thorarollen verpackt, aus der Synagoge zieht und schließlich mit der Eisenbahn oder zu Fuß die Stadt verlässt. Während bürgerliche jüdische Familien mit Hut und Koffern im Automobil zum Bahnhof fahren, um von dort mit dem Zug auszureisen, zeigt der Film in Parallelmontage, wie eine traditionell gekleidete jüdische Bevölkerung in teils kargen Behausungen ihren spärlichen Besitz zusammenpackt und sich immer wieder klagend gen Himmel wendet. Ihre Vertreibung wird in religiös konnotierten Szenen des massenhaften Auszugs aus der Stadt bebildert. Als anonyme Masse ziehen sie mit kleinen, oft schwerfällig humpelnden Schritten und überwiegend in gebeugter Haltung aus der Stadt. Bürgerliche Figuren reisen dagegen nicht nur komfortabler, sie wurden auch mit bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt: Köchin Kathi (Gisela Werbezirk) verabschiedet ihren Geliebten Isidor (Armin Berg) ins Abteil und bittet ihn um eine »Angesichtskarte« aus Zion, Leo Strakosch (Johannes Riemann) nimmt den letzten Zug nach Paris (Abb. 1). Jeder von ihnen verlässt als Individuum die Szene; ihre Rollen und die dafür engagierten Akteure sind biografisch verortet und können so vom Publikum wiedererkannt werden. Die zahlreichen verarmten Vertriebenen hingegen sind namenlos, nicht im Abspann und in keiner Pressenotiz einzeln benannt; sie gestalten keine tragenden Rollen, sondern existieren lediglich als Masse. In wenigen Sequenzen wird ihr Leid aus der Menschenmenge herausgehoben, nur um als exemplarisches Schicksal wieder im Kollektiv zu verschwinden. Damit visualisiert der Film nicht allein dicho– 34 –

Abb. 1: Szene des bürgerlichen Abschieds: Die Stadt ohne ­Juden (A 1924, R: Hans Karl Breslauer), restaurierte Fassung. © Film­ ar­chiv Austria.

tomisch verfestigte Narrative über zweierlei Lebenswelten des Jüdischen in der europäischen Moderne; er fasst philosophische und soziologische Diskurse seiner Zeit in Bilder und überträgt sie auf die Erfahrung der Vertriebenen; so setzte sich Breslauer inszenatorisch mit einem Phänomen auseinander, das auch seine Zeitgenossen verstärkt beschäftigte  – der Masse: In Wien zirkulierte zur Premiere des Films bereits die Schrift Psychologie der Massen (1895) des französischen Mediziners und Soziologen Gustave Le Bon, die erst 1919 ins Deutsche übersetzt worden war, während Sigmund Freud seinerseits Ideen von der irrationalen, affektgeleiteten wie entindividualisierten Masse niederschrieb (Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921) und Elias Canetti als Student in Wien gerade begann, seine Recherchen zur Masse anzustellen. Ihnen allen ist die Faszination für die triebhaften Eigenschaften der Masse jenseits der bür– 35 –

gerlichen Vernunft gemeinsam. Canetti schreibt gar von der Erleichterung, die einsetzen könne, sobald der Einzelne seine Verschiedenheit und seine Berührungsangst in der Masse verliere; so etwa in der von ihm beschriebenen »Fluchtmasse«, die erst durch eine äußere Bedrohung hergestellt werde und dann alle Fliehenden unterschiedslos und aufgrund einer geteilten Gefahr in einer gemeinsamen Richtung vereine. Die Massenflucht, schreibt Canetti, bezieht ihre Energie aus ihrem Zusammenhalt – »alles flieht, alles wird mitgezogen […] von allen Formen der Masse ist die der Flucht die umfassendste«. Derart flieht auch die von Breslauer inszenierte Masse gemeinsam in ein, so scheint es, vormodernes Exil, das für die bürgerlichen Filmfiguren in ihrer Vereinzelung gar nicht mehr als Möglichkeit existiert. Der Kinematograph übte 1926 scharfe Kritik an der Kontrastierung der zwei Welten und interpretierte diese als Produkt einer »ungleichmäßigen Regie«. Man erzähle zwar im Titel vom Reichtum und der Bedeutung der Juden, zeige aber den Auszug aus Utopia so, als verließen die Bewohner eines Ghettos im tiefsten Russland ihre Stadt. Tatsächlich evoziert Hans Breslauer mit seiner Inszenierungs- und Besetzungsstrategie zwei Welten des Jüdischen, deren vielfältige Zusammenhänge im Lauf der Moderne in binäre Opposition zueinander gestellt worden waren: die jüdische Bevölkerung, die durch Verbürgerlichung und Säkularisierung gesellschaftliche Teilhabe erlangt hatte, auf der einen sowie auf der anderen Seite jene, die sich in vormodernen Traditionen verhaftet zeigten. Die Filmbilder dieser vor­ modernen Masse hoben sich in mehrerlei Hinsicht ästhetisch ab. Sie griffen die spezifische Ikonografie jüdischer Flucht auf, wie sie sich zur Jahrhundertwende etwa in Gemälden Samuel Hirszenbergs ausgeformt hatte. 1905 bearbeitete Hirszenberg mit The Black Banner die Erfahrung jüdischer Flucht vor den Pogromen im zaristischen – 36 –

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Abb. 2: Samuel Hirszenberg, The Black Banner, Öl auf Leinwand, 1905. The Jewish Museum, New York. Gift of the Estate of Rose Mintz.

Russland eindrücklich in Öl auf Leinwand (Abb.  2). Sein Bild wurde im Folgejahr in Paris im Salon der Société des artistes français ausgestellt und zeigt dicht aneinandergedrängte Juden, mit Augen und Mündern, die vor Entsetzen teils weit aufgerissen sind. Auf ähnliche Art illustrierte die Arbeit Exil (1904) eine durch eine karge Winterlandschaft ziehende Menschenmenge in traditioneller Kleidung und gebeugter Haltung. Exil wurde in Paris, London, Berlin und weiteren europäischen Städten ausgestellt und in der Zeitschrift Ost und West als »ein Stück lebendigen Lebens« von ungeheurer Melancholie besprochen. Die Figuren seien von der Straße, alltäglich und banal, in ihren wochentäglichen Bewegungen festgehalten: »keine Spur von Pose ist an ihnen. Sie sind nicht arrangiert. Hier ist alles Wahrheit, nichts ist Dichtung.« Von einigen als besonders wahrhaftiger Ausdruck ihrer Diasporaerfahrung empfunden, wurde das Gemälde bald zur beliebten Wohnzimmerdekoration jüdischer Familien. Ähnelten Breslauers Filmbilder der massenhaften Vertreibung auf verschiedenen Gemälden, denen es nach Auffassung vieler gelungen war, jüdisches Schicksal in der Moderne symbolisch zu verdichten, so versuchte er mit weite­ren Strategien, seinen Szenen Wahrhaftigkeit zu verleihen. Dabei halfen ihm nicht allein die relativ neuen, von vielen als besonders real erachteten Bilder des frühen Films, denen etwa der Filmtheoretiker Rudolf Harms einen »objektiven Urkundenwert durch die photographische Wiedergabe« bescheinigte. Breslauer engagierte für die Vertreibungsszenen aus Utopia Laiendarstellerinnen und -darsteller, von denen zumindest die zeitgenössische Presse annahm, sie stammten aus dem östlichen Europa. Die Wochenschrift Der Filmbote brachte im Februar 1924 in der Rubrik »Filme, von denen man spricht« einen bebilderten Vorbericht zu Breslauers Verfilmung und fand besonders bemerkenswert, »daß im – 38 –

Interesse der Echtheit auch eine Anzahl von Ostjuden zur Darstellung kleinerer Rollen herangezogen« wurde. Sie hätten sich während der bisherigen Atelieraufnahmen wider Erwarten ganz ausgezeichnet bewährt und in ernsten wie in heiteren Szenen »eine seltene Natürlichkeit« zum Ausdruck gebracht. Sie trügen damit zum Gelingen des Films nicht unerheblich bei. Breslauer griff also auf Statistinnen und Statisten zurück, die als Laien sich selbst geben und so die Inszenierung jüdischen Leidens besonders lebensnah darstellen sollten. Mit dieser Idee stand Breslauer nicht allein: Der Einsatz von Laien im Film war  – insbesondere wenn es darum ging, Menschen als ethnisch oder geografisch »Andere« zu markieren – in den 1920er Jahren sowohl in Österreich als auch in der Weimarer Republik en vogue. 1922 erschien Der gelbe Schein mit Pola Negri in der Hauptrolle, die in ihren Memoiren von der »faszinierenden, erlebnisreichen Erfahrung« berichtet, im jüdischen Viertel in Warschau zu filmen  – und ihre Erlebnisse gleichfalls an die Ikonografie osteuropäischen Judentums knüpft: »In dieser zeitlosen Örtlichkeit erschien eine bärtige und Perücke tragende Bevölkerung wie auf Gemälden von vor 200 Jahren.« Im selben Jahr verpflichtete der Regisseur Ewald André Dupont Jüdinnen und Juden aus Galizien für den Dreh von Das alte Gesetz, der Bildungs- und Aufsteigergeschichte eines galizischen Rabbinersohns. Um die Schtetlszenen besonders »authentisch« zu filmen, übernahm ein Schauspieler der Wilnaer Truppe, Avrom (Abraham) Morewski, nicht nur die Rolle des Rabbi Mayer, sondern auch die Funktion eines Filmberaters, der über die Korrektheit der illustrierten Gepflogenheiten und religiösen Bräuche wachte. Ähnlich arbeitete Carl Dreyer. Für seinen Film Die Gezeichneten (1922), den er im vorrevolutionären Russland ansiedelte, befragte er jüdische Geflüchtete in Berlin zu ihrem Leben vor – 39 –

der Flucht in der russischen Provinz, ließ dann eine russische Kleinstadt in Ost-Lichterfelde aufbauen und verpflichtete dafür die Interviewten als Statisten. Auch Breslauer scheint für Die Stadt ohne Juden ethnogra­fische Recherchearbeit geleistet zu haben, um etwa die Szenen in der Synagoge und während der Vertreibung möglichst lebensnah abzubilden. Die Filmwelt berichtete kurz vor der Premiere von den Studien Breslauers zur jüdischen Religion, ihren »Gebräuche[n] und Sitten« und würdigte die faktische Korrektheit des Gezeigten: »Er versenkte sich in das Wesen des Judentums und es findet sich in dem ganzen Film kein einziger Punkt, um dessentwillen er in seiner Vorbereitung etwa nur halbe Arbeit geleistet hätte.« Auf diese Weise implementierte eine Reihe von Stummfilmregisseuren in Berlin und Wien einen ethnografischen Blick in ihre kinematografischen Fiktionen, die parallel zur Filmerzählung dokumentarischen oder volkskundlichen Anspruch erhoben. Siegfried Kracauer schreibt in seiner Theorie des Films, die den Laien ein eigenes Kapitel widmet, diese würden gerade wegen ihres authentischen Aussehens und Verhaltens gewählt. Als Teil einer dokumentarisch abgebildeten Realität typisierten sie diese; ihre Haupttugend sei es, in einer Handlung zu »figurieren«, die eine Realität erschließe, ohne in ihren persönlichen Schicksalen zu gipfeln. Kracauer stellt die Hinwendung zum Laienspiel damit in Relation zu Themen, »die nicht so sehr individuelle Geschicke als soziale Verhältnisse betreffen«. In diesem Sinn geht es auch in den Vertreibungsszenen in Die Stadt ohne Juden nicht um eine Ausdifferenzierung einzelner Schicksale. Diese gehen vielmehr in der Masse auf und beanspruchen – nach Kracauer – dadurch eine typisierte Wahrheit über der Realität des Einzelnen. So verursacht Breslauers Besetzungs- und Bildstrategie einen spannungsreichen Zusammenhang, der zwischen den Polen Masse – 40 –

und Individuum, vormodern und bürgerlich, typisiert und psychologisiert oszilliert und dabei einen entscheidenden Unterschied etabliert: Während die bürgerlichen Individuen als Wiener Schauspielstars erkannt werden können, rufen die engagierten Laien als vermeintliche Darstellerinnen und Darsteller ihrer selbst Zuschreibungen des Authentischen jenseits eines bürgerlichen Verismus hervor. Breslauers »Ethnografie auf Zelluloid« operiert auf diese Weise mit den Wahrnehmungskonventionen von Authentizität. Imaginationen des Jüdischen werden durch die Statisterie als besonders authentisch beglaubigt. Die inszenierte Masse erscheint gar auf potenzierte Weise als gesellschaftlich wahr – und kann im Rückschluss wiederum Vorstellungswelten verfestigen. Ein inszenatorisches Detail ist dabei besonders geeignet, »Effekte des Authentischen« (Helmut Lethen) hervorzurufen: Das Klagen.

Vom Wehklagen Waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Jüdinnen und Juden aus den östlichen habsburgischen Provinzen, etwa aus Galizien und der Bukowina, auf der Suche nach Arbeit oder auf der Flucht vor Verelendung nach Wien gelangt, so kamen ab Herbst 1914 geschätzte 200 000 Flüchtlinge in der Stadt an, die meisten davon jüdisch. Sie flohen im Zuge des Weltkrieges und der Oktoberrevolution, auf die der Russische Bürgerkrieg mit neuen heftigen Pogromen folgte. In Berlin wurde das Scheunenviertel, in Wien die Leopoldstadt zum Anlauf- und Mittelpunkt jüdischen Lebens. Viele Vertriebene gehörten nun, oft allein aufgrund ihrer traditionellen Kleidung, als sichtbare »Fremde« zum großstädtischen Leben. Sie gingen als ikonografisch und erzählerisch fixierte Typen in öffentliche Diskurse ein. – 41 –

Während sich antisemitische Attacken gegen die neuen »Anderen« richteten, entdeckten viele Kulturakteure in ihrem »Ringen um Authentizität« (Michael Brenner) in den Neuankömmlingen eine ursprünglichere Daseinsform. Jüdische Künstlerinnen und Künstler suchten bei ihnen Formen eines Judentums, das sie selbst nie gelebt oder aber im Lauf ihrer Verbürgerlichung verloren zu haben glaubten. Ihre Gewohnheiten erschienen so vertraut und gleichzeitig andersartig, dass sie in innerjüdischen Debatten als »Brothers and Strangers« (Steven  E.  Aschheim) zugleich markiert wurden. Der Film Die Stadt ohne Juden hebt ihre Differenz zur akkulturierten jüdischen und zur übrigen Wiener Bevölkerung deutlich heraus: Als namenlose Statisterie bleiben sie zwangsläufig fremd. Sie fügen sich passiv erduldend in ihr Schicksal und fliehen aus ärmlichen Behausungen zu Fuß über eine karge Landstraße; jenseits großstädtischer Zivilisation begeben sie sich zurück in eine vormoderne Sphäre. Damit formt der Film Projektionen des Fremden mit, an die sich wiederum Authentizitätsvorstellungen hafteten. Generell entfalteten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts Vorstellungen vom (authentischen) Fremden auch parallel zu und jenseits von Fragen jüdischer Differenz – sie wurden mit verschiedenen Gruppen verbunden, die in sozialer, ethnischer oder religiöser Hinsicht als nicht zu einer modernen Gesellschaft gehörend markiert worden waren. Solche Vorstellungen von »Anderen« waren mit Ideen von Ursprünglichkeit, Wildheit und Zivilisationsferne verknüpft und dem bürgerlich-europäischen Subjekt gegenübergestellt, das sich nach Erfahrungen der Unmittelbarkeit jenseits zivilisatorischer Zwänge sehnte. Während gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zeremoniell und formalisierte Kultur des Bürgertums als zwangbehaftete Überformungen des Selbst ins Hintertreffen gerieten, wurde authentisches (Er)leben außerhalb – 42 –

der zentraleuropäischen Gesellschaft – in der »Fremde« – vermutet und romantisch überhöht. Ethnologen avancierten zu »Experten des zutage liegenden Authentischen« (­Helmuth Lethen) und Avantgardekünstler entwickelten mit dem Primitivismus eine europäische Projektion auf indigene Völker. Der Primitivismus funktionierte wie die Semantiken der Moderne insgesamt in binären Mustern, die Ideen von Kultur und Natur, überformter und eigentlicher Existenz, Maskenhaftigkeit und Maskenlosigkeit gegeneinandersetzten und miteinander verschränkten. Als vermeintlich maskenlose Möglichkeit des Daseins erfährt das Authentische im Zuge der lebensphilosophischen und reformbewegten Anschauungen eine Aufwertung  – und mit ihm Unordnung, Unvernunft, Gewalt und Schmerz als Ausdruck des Authentischen. So scheint Anfang des 20. Jahrhunderts ein Brückenschlag zum authentischen Sein in der Moderne auf dreierlei Weise möglich: durch den Rückgriff auf eine vermeintlich ursprünglichere Vergangenheit, den Zugriff auf außereuropäische oder (im Fall der Phantasmagorien über sogenannte »Ostjuden«) auf europäische Gesellschaften, die als vormodern galten, sowie schließlich durch den ungezügelten Affekt. Diesen Affekt galt es – glaubte man, ihn nicht mehr zu besitzen –, neuerlich zu erlernen. Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt vollführte diese Übung privat und exemplarisch auf der Theaterbühne zur Begeisterung des Publikums. Im Oktober 1903 sollte sie als Elektra in der gleichnamigen Inszenierung von Max Reinhardt in Berlin reüssieren, im Monat zuvor schrieb sie dem Autor der Bühnenfassung, Hugo von Hofmannsthal, nachdem sie sein Manuskript gelesen hatte: »Ich liege zerbrochen davon – ich leide – ich leide  – ich schreie auf unter dieser Gewaltthätigkeit  – ich fürchte mich vor meinen eigenen Kräften – vor dieser Qual, die auf mich wartet. Ich werde furchtbar leiden dabei […].« – 43 –

Offenbar entsetzt von den »Kräften«, die Hofmannsthals Manuskript in ihr auslöste, gesteht Eysoldt ihre Furcht vor dem eigenen Wollen und den bislang verborgen gewähnten »Tiefen«, die unter der Sozialrolle »aufzubrechen« drohten: »Mir selbst möchte ich entfliehen […]. Ich wehre mich – ich fürchte mich. Warum rufen Sie mich da in meinen bängsten Tiefen!« – »Wenn man von der etwas übertriebenen Sprache absieht«, rapportiert Hofmannsthal nach Erhalt des Briefes nüchtern an Hermann Bahr, »so glaube ich, annehmen zu dürfen, dass sie sich für die Rolle interessiert«. Hermann Bahr wiederum schildert zwei Jahre später  – die hofmannsthalsche Elektra gastiert gerade in Wien – seine Eindrücke für das Neue Wiener Tagblatt mit ­ähn­lichem Vokabular. Eysoldt sei ein »Wesen, ganz ausgesaugt und ausgehöhlt von Leid; alle Schleier zerrissen, die sonst Sitte, freundliche Gewöhnung, Scham um sich zieht. Ein ­nackter Mensch, auf das Letzte zurückgebracht. Ausgestoßen in die Nacht.« Die Wahrhaftigkeit, die Hermann Bahr im Schauspiel von Gertrud Eysoldt erfährt, ist bei ihm eng verknüpft mit Fremdheits- und Wildheitsvorstellungen, mit »Schreie[n], wie aus ferner Urzeit her, Tritte[n] des wilden Tieres, Blicke[n] des Ewigen Chaos«. Wie Hofmannsthal hing Bahr der Idee an, die moderne Zivilisation unter­ drücke die triebhafte Seite des Menschen, bis diese sich exaltiert und rauschhaft in einem »hysterischen« Anfall entlade. Diese »Hysterie« beobachteten Männer um 1900 bevorzugt an Frauen, denen ohnehin nach dem Muster binärer Geschlechtlichkeit bürgerlicher Wissensordnungen Rationalität ab- und Emotionalität zugesprochen worden war. Freud etwa beforschte das Phänomen, das um 1900 als Krankheitsbild gehandelt wurde, tatsächlich aber ein künstlerisch-medizinisches Konstrukt war, das inszenatorisch und suggestiv hervorgebracht wurde und das auch Hofmannsthal bei Elektra inspiriert hatte. Gertrud E ­ ysoldt zeigte auf – 44 –

der Bühne schließlich einen »Symptomkomplex« (­Bettina ­Conrad) eines verdrängten Innenlebens, das nun – schmerzhaft, aber kathartisch – an die Oberfläche trat. Ungezügelter Affekt und Wahnsinn waren damit in der europäischen Moderne, insbesondere für Frauen, zur Möglich­keit geworden, Authen­tizitätserfahrungen zu erlangen. Auch die Masse der osteuropäischen Juden im Film Die Stadt ohne Juden zeigt sich expressiv und in ausladenden Gesten. Ihr Schmerz über die Vertreibung entlädt sich höchst emotionalisiert und rückt sie somit in die Nähe von Verhaltensweisen, die zur Jahrhundertwende auch als weiblich erachtet worden waren – dabei ist die Imagination des femininen Juden keine Erfindung des Films, sondern bereits seit der Jahrhundertwende Teil eines antifeministisch-antisemitischen Diskurses, der insbesondere durch Otto Weiningers Arbeit Geschlecht und Charakter (1903) popularisiert wurde und Frauen wie Juden eine niedere, unkontrollierte Existenz attestierte. Die Formensprache jedoch, die Hans Karl Breslauer für den Schmerz der osteuropäisch-jüdischen Bevölkerung fand, war keinesfalls wild und ungezügelt; sie rekurrierte stattdessen auf Typisierungen jüdischer Gesten: Schablonenartig folgen die einzelnen Szenen einer Choreografie, die sich zu einem Bildkanon jüdischen Leidens fügt und dabei insbesondere männliches Leiden visualisiert. Drei dieser Szenerien der Wehklage seien beispielhaft beschrieben (Abb. 3–5):

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– Ein alter, bärtiger Jude sitzt, den Stuhl schräg zur Kamera ausgerichtet, an einem Holztisch in einer Hütte, deren Fußboden aus gestampfter Erde besteht. Ein Mann mit gepacktem Sack und Schiebermütze läuft in die Halb­ totale, um dem Sitzenden die Nachricht der Vertreibung mitzuteilen. Es folgt eine Nahaufnahme auf den Überbringer der Nachricht, dann auf den älteren Juden, dessen Erblindung nun erkennbar ist. Er atmet schwer, schluchzt und erhebt sich (die Kameraeinstellung zeigt wieder die gesamte Stube), bekommt seinen Blindenstock gereicht, reckt in diesem Moment die Arme und den Kopf impulsiv nach oben, sackt anschließend in sich zusammen und wird vom Begleiter am Arm hinausgeleitet.

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Abb.  3–5: Szenen der massenhaften Flucht: Die Stadt ohne Juden (A 1924, R: Hans Karl Breslauer), restaurierte Fassung. © Filmarchiv Austria.

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– Eine Frau und drei Männer verlassen ihr Haus, das an einer Landstraße liegt, auf der bereits eine anonyme Masse Vertriebener aus der Stadt zieht – die Kamera fokussiert die vier: Während sich die Frau im Hintergrund an die Hausmauer stützt und dann – die Arme am Körper angewinkelt, die Hände leicht nach oben gewandt – eine vergleichsweise zurückhaltende Geste des Klagens gen Himmel sendet, gerät einer ihrer Begleiter in verzweifelte Erregung. Er kniet mit geschlossenen Augen nieder, schwankt unruhig und streckt die Arme in die Höhe. Sein Gesicht ist verzerrt, er beugt sich zur Erde, bevor er von seinen beiden Begleitern links und rechts gefasst und (nun in der Halbtotalen) auf die Landstraße geführt wird, wo alle vier in der Masse aufgehen. – Inmitten dieser Menschen befindet sich ein Jude, der aus der Menge heraus am Wegrand zu Boden stürzt, so aus der Massenszene fällt und gemeinsam mit seiner Begleiterin von der Kamera fokussiert wird. Weiter auf der Erde kniend, sammelt er Steine in ein Tuch, steht gestützt von seiner Begleiterin auf, presst das Tuch an seine Brust, hält für einen Moment inne und wehklagt mit schmerzverzerrtem Gesicht und geöffnetem Mund, den Blick zum Himmel gerichtet. Leiden vollzieht sich im Film nach einem strengen, rhythmisierten Formenreglement, das die äußeren Kennzeichen von Schmerz normiert und im Moment der größten Verzweiflung auf die männlichen Körper fokussiert. In den beschriebenen Szenen wird Schmerz als Zurückgeworfensein auf das (männliche) Selbst einer schablonenhaften Ikonografie unterworfen, die gleichfalls paradox im und durch den Schmerzausdruck ein unmittelbares Sein vorgibt. Es wirkt, als kontrollierten die Laienschauspiele­rinnen und -schauspieler ihren Körper lediglich eingeschränkt; ihre – 48 –

Gestik wird zu Entäußerung, ihr gebeugter Gang ist ausschließlich in der Gruppe, durch sie gestützt und oft nur schwankend möglich. Ihr Blick ist zu Boden oder – als Code letzter Hoffnung oder endgültiger Verzweiflung – nach oben gerichtet; die Arme werden vor das Gesicht und in den Himmel gereckt. Die Formen des Leidens lehnen sich dabei an historisch fixierte und als »jüdisch« tradierte Gesten an, wie sie auch in Handbüchern des 19. Jahrhunderts, sogenannten Katechismen, beschrieben wurden. Im Lehrbuch Die Aesthe­ thische Bildung des Menschlichen Körpers etwa, das sich besonders an Schauspielerinnen und Schauspieler richtete, beschrieb Oskar Guttmann den »gottesdienst­lichen Gruß der Hebräer«: »[D]er Segnende nahm beide Hände vor sein Gesicht, als ob er dasselbe hinter ihnen verbergen wollte«. Derart ist die äußere Erscheinung des Leidens in allen drei Beispielen aufeinander abgestimmt. Der Schmerz der osteuropäisch-jüdischen Bevölkerung wird durch die gemeinsame Körpersprache gegenseitig gestützt, vereinheitlicht und deutlich von jenem des jüdischen Bürgertums unterschieden. Kommt Ersteres als vermeintlich unkontrol­lierte Schmerzerfahrung daher, die das Selbst vorgeblich masken­ los offenbaren kann, zeigt sich das jüdische Bürgertum nur als Persona (lat.: [Schauspieler]maske, [soziale] Rolle): Der Journalist Dr.  Jakobus Krauss verabschiedet fünf seiner Kollegen am Bahnsteig, schüttelt ihnen die Hände; Hüte werden zum Abschied gelüftet, es wird sich gegenseitig höflich zugenickt. Das Kind eines Abreisenden winkt mit weißem Taschentuch seinem Vater hinterher. Hier agieren Bürger weder unmittelbar noch allein als naturhafte oder leibhaftige Existenz, sondern als Personae nach den Anforderungen ihrer bürgerlichen Sozialrolle. Wenn Effekte des Authentischen in den ­Phantasmagorien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts im Fremden wohnen, dann werden sie unter anderem durch – 49 –

Darstellungen des Schmerzes hervorgerufen. Im Leiden erscheint der Mensch auf sich und sein »eigentliches Sein« zurückgeworfen – vermeintlich weder auf die sozialen Rollenanforderungen noch auf das Spiel vor einer Kamera bedacht. Damit wirkt die jüdische Masse im Film durch folgende Kunstgriffe besonders »natürlich«: das namenlose Laienschauspiel, das in ethnografischer Absicht ausgestellte Fremdsein sowie die tradierte Ikonografie jüdischen Leidens.

Der sichtbare Mensch Über das Verhältnis von Film, Fremdheit, Entfremdung und Authentizität dachte im Premierenjahr von Die Stadt ohne Juden noch ein anderer nach: Der ungarisch-jüdische Dramatiker und Märchenautor Béla Balázs (1884–1949), der im Wiener Exil als Filmjournalist zu arbeiten begann, fasste 1924 seine Aufsätze und Kritiken zum Kino in einem Buch zusammen. Sein filmtheoretisches Opus Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) sollte später als erste umfassende Theorie zur Ästhetik des Stummfilms kanonisiert werden. Nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik 1919 war Balázs mit angeklebtem Backenbart und dem Pass seines Bruders auf einem Donauschiff von Budapest nach Wien geflohen, wo er drei Jahre später als Filmreporter für die Zeitung Der Tag zu arbeiten begann. Er wurde damit zum Redaktionskollegen Hugo ­Bettauers, für den er 1924 während des Skandals um ­Bettauers Wochen­schriften öffentlich eintreten wollte; allerdings keine Zeitung finden konnte, die seine Würdigung druckte. Kurz nach dem Attentat auf Bettauer publizierte Die Bühne ­Balázs’ Artikel schließlich unter dem lateinischen Pseudonym Hugo Ignotus (»der Unbekannte«). Darin bewunderte Balázs seinen Kollegen als einen Unter– 50 –

halter, dessen Erfolg er massenpsychologisch ausdeutet. Der kleine Mann finde sich in seiner Art, zu sehen und zu empfinden, bei Bettauer wieder. Dieser verwebe die Massengeschehnisse des Gestern zu einem Massentraum für das nächste Morgenblatt, er packe die Leute sinnlich. Mit der Rede vom Traum, von der Massenpsychologie und Sinnlichkeit trat Balázs mit seinem an Georg Simmel und Karl Marx geschulten filmtheoretischen Vokabular für Bettauer als Schriftsteller ein  – und würdigte ihn damit umso mehr. Denn Balázs hatte im selben Jahr der Kultur der Sprache und des Wortes eigentlich eine Absage erteilt. Selbst dazu berufen, seine Gedanken über den Stummfilm schriftlich mitzuteilen, rief er 1924 unter dem Eindruck des Stummfilms das Ende des Buchdruckzeitalters aus. Der Buchdruck habe das Wort zur Brücke zwischen den Menschen werden lassen und dabei das Gesicht unleserlich gemacht. Die Seele habe sich im Wort gesammelt, sie sei fast unsichtbar geworden, die restlichen Körperteile mit Kleidern verhängt, schreibt Balázs: »Unser Gesicht ist jetzt wie ein kleiner, unbeholfener, in die Höhe gestreckter Semaphor der Seele.« In Der sichtbare Mensch sieht Balázs ein Ende dieses leiblich verkümmerten Daseins und neue Hoffnung für einen ganzheitlichen Ausdruck des Selbst heraufkommen; denn ab sofort sei eine »andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen« zu geben: der Kinematograf. Im Stummfilm lag für Balázs ein Versprechen, das er im ersten Kapitel seines Buches in abgesetzten Lettern mitgibt: »Die ganze Menschheit ist heute schon dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. Nicht den Worteersatz der Taubstummensprache, sondern die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.« – 51 –

Béla Balázs, einst Student bei Simmel und Henri Bergson in Berlin und Paris, formulierte in Wien – das Tonfilmzeit­ alter stand kurz bevor  – eine lose, internationalistisch gefärbte Theorie des Stummfilms als visueller Urkommunikation. Diese befähige Menschen weltweit, sich aus der abstrakten Kultur des Wortes zu befreien und ihr Innerstes stattdessen mit dem ganzen Körper mitzuteilen. Der Mensch der visuellen Kultur, den Balázs mit dem Stummfilm heraufkommen sah, denke keine Worte. Seine Gebärden bedeuteten keine Begriffe, »sondern unmittelbar sein irrationelles Selbst«. Damit nahm Balázs nicht nur die Sprachkritik der Jahrhundertwende auf, um sie für den Film fruchtbar zu machen, er knüpfte auch an die Kinodebatte der frühen 1910er Jahre an und begegnete ihr mit einem schlagenden Argument für die Kinematografie. Wurde um 1910 das Kino noch als fantasie­saugender Moloch attackiert, der Kunst und Geistigkeit verunmögliche, ja sich sogar gesundheitsschädlich auf sein Publikum auswirke, so argumentierte Balázs nun gegenteilig: die visuelle Kultur des Stummfilms sei jenen Künsten voraus, an denen das Kino noch kürzlich gemessen wurde; sie ermögliche einen neuen visuellen Internationalismus. Er kontrastiert die abstrakte Kultur des Wortes mit der konkreten Unvermitteltheit menschlichen Ausdrucks und verknüpft diesen Ausdruck  – physiognomisch argumentierend  – mit dem Seelenleben des Menschen. Balázs nimmt ein direktes Verhältnis zwischen Innenleben und äußerlichem Ausdruck an, wobei das Innere eines Menschen an seinem Äußeren ablesbar werde. Die »tiefsten Geheimnisse des innersten Lebens« offenbarten sich auf dem Gesicht, schreibt Balázs: »wir sehen auf dem Gesicht – wie auf einem offenen Schlachtfeld – das Ringen der Seele mit seinem Schicksal«. Im Rückgriff auf Goethe und dessen Beiträge zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten entwirft er eine Filmtheorie, – 52 –

die das Potenzial der Gebärde hervorhebt und die »unmittelbare Körperwerdung des Geistes« anstrebt. Der Geist, das Seelenleben, das Innere des Menschen sollen über seinen Ausdruck, über seine Gebärden sicht- und lesbar werden. Balázs war mit der physiognomischen Grundierung seiner Ansichten über den Stummfilm nicht allein. Er schrieb vielmehr mit an einer physiognomischen Filmtheorie, wie sie Anfang der 1920er Jahre paneuropäisch entworfen wurde. Carl Hauptmann deutete in seinem Aufsatz Film und Theater (1919) die Gebärde als »Urbereich aller seelischen Mitteilung«. In Schauspielkunst im Film (1920) schrieb der dänische Regisseur Urban Gad von der »Innerlichkeit des Gefühls«, die auf »die ganze Zuschauermasse« wirke. Das Gefühl verrate sich durch ein Beben der Lippen, ein Erzittern der Gesichtsmuskeln oder eine Feuchtigkeit im Auge. Es werde »von dem vorüberziehenden Film aufgefangen« und später auf der weißen Leinwand mannigfach vergrößert  – »dann sprechen die kleinen Schlagschatten eines großen Gefühls deutlich und eindringlich zu empfänglichen Menschengemütern«. Der Publizist und Filmkritiker Willy Haas, der in Prag mit Franz Kafka und Max Brod verkehrte und 1925 in Berlin das Drehbuch zu Bettauers Roman Die freudlose Gasse bearbeitete, fragte 1924: Gibt es eine Schauspielermaske im Film? – und kam zu dem Schluss, dass der Filmschauspieler dem Publikum viel privater gegenüberstehe als der Theaterschauspieler; er trete in eine unvergleichlich intimere Beziehung zu seinem Publikum, seine Maske werde vom Zuschauer seelisch eliminiert. Kurzum: Film sei – im Vergleich zum Theaterspiel – per se unmittelbarer und wahrhaftiger. Theoretiker des frühen Films knüpften so mithilfe des Stummfilms an physiognomische Diskurse ihrer Zeit an. Nicht nur in wissenschaftlichen Debatten, auch im populä­ ren Denken hatte um die Jahrhundertwende eine gewisse – 53 –

»Physiogno-Manie« um sich gegriffen, die in der Tradition der Physio- und Pathognomie des 18. und 19. Jahrhunderts Lehren der Oberflächen- und Zeichenkunde aufnahm. Physiognomische Argumentationen wurden zum selbstverständlichen Bestandteil gesellschaftlicher Konversation und jenseits der Deutung des Einzelnen auch für Gesellschaftsanalysen oder Architekturphilosophien herangezogen: ­Felix Salten arbeitete um 1900 an einer Analyse äußerer Erscheinungen, um die Verkommenheit des Wiener Adels anhand von dessen Zeremoniell zu entlarven; Adolf Loos entwarf Häuserfassaden, die gerade vor dem durchdringenden Blick ins Innere bewahren sollten; Hermann Bahr wiederum träumte von einem Haus, in dem er in allen Farben, in jedem Stuhl und in jeder Tapete seine Seele »wie in einem Spiegel« sehen könne. Und schließlich schien der Stummfilm mithilfe eines technischen Instruments beseelte Innerlichkeit auf die Fläche einer Leinwand zu projizieren. Wesen und Erscheinung traten so in ein unmittelbares Wechselverhältnis, das physiognomische Charakterdeutungen nahelegte. Die Filmwelt begann ihre ausgedehnte Berichterstattung zu Die Stadt ohne Juden mit Karikaturen des Zeichners Rudolf Matauschek, die »charakteristisch die Personen in ihren Rollen« wiedergeben sollten. Der Begleittext lobte die Typen als sehr gelungen, lediglich die Umgangsformen des Regisseurs Breslauer seien bei Weitem nicht so eckig wie seine in der Karikatur dargestellten Gesichtsformen.

Apologie der Entfremdung Diese neuerliche Perspektivierung auf die äußere Erscheinung (bei Balázs etwa die Gebärde)  als sichtbar gemachtes Inneres des Menschen dürfte auch die Rezeption des Stummfilms Die Stadt ohne Juden geprägt – und besonders – 54 –

die Wahrnehmung der in der Tradition verhafteten Juden im Film präfiguriert haben. Balázs nahm an, dass die körperliche Ausdrucksfähigkeit und ihre Wahrnehmung durch das sinnlich geschulte Auge als Teil einer neuen »Entwicklung der Kultur« erst (wieder) erlernt werden müsse. Verschüttet unter Begriffen und Wörtern, verfügten die »hochgebildeten Europäer« zwar über einen großen Wortschatz, ihre Gebärden aber seien verkümmert – insbesondere verglichen mit dem reichen Gebärdenschatz »ganz primitiver Völker«. Diese Gegenüberstellung von Wort- und Gebärdenschatz, Bildung und »Primitivität« setzt der Film Die Stadt ohne ­Juden auf exemplarische, fast überspitzte Weise um. Während die traditionell illustrierte jüdische Bevölkerung hauptsächlich mittels expressiver Gestik und Mimik ihr Leiden erzählt, erhalten die akkulturierten Bürgerinnen und Bürger in den Ausreiseszenen anhand der Texttafeln wesentlich mehr Wortschatz. Dies ist nicht zuletzt deswegen nötig, weil die jüdisch-bürgerliche Welt nicht als Masse etabliert, sondern als Verschiedenheit psychologisierter Personen mit eigener Geschichte ausdifferenziert wird. Balázs zufolge führt ihre Individualität sie aber gleichfalls in die Entfremdung, wogegen die nichtsprachliche Kultur einen Zugang zum »unmittelbaren Sein« verspreche. In seiner feuilletonistischen Auseinandersetzung mit dem Film Die Leuchte Asiens (1925, Regie: Franz Osten) differenzierte Balázs seine Filmtheorie erneut aus. Die deutsch-indische Koproduktion erzählt das Leben Buddhas mit einer Laientheatergruppe und großer Statisterie an Originalschauplätzen, was Balázs zu einem Feuilleton über die Frage von Echtheit anregte. Er entwarf eine Apologie der Entfremdung und stellte dafür eine einfache Gleichung auf: Je individueller jemand sei, umso freier, aber auch umso unnatürlicher und entfremdeter werde er. Umgekehrt erscheint das »eigentliche Sein« zwar echt, dabei aber ans – 55 –

Natur- und Tierhafte gebunden. Authentizität erlange der moderne Mensch nur um den Preis seiner Unfreiheit, umgekehrt erkaufe er sich seine Individualität mit der Entfremdung: »Echt ist, was nur so und nicht anders sein konnte, dem kein Zweifel, keine Wahl, kein Suchen, kein Bedenken vorrangig. Echt ist der Baum, weil an seine Wurzeln gebunden, echt noch das Tier, weil von seinen Instinkten bedingt, echt noch der Wilde und manchmal noch der Bauer, wenn das Gesetz der Rasse sein eigenes bestimmt. Echt ist das Abhängige, das Unfreie, alles, was nicht selber ist. Und echt ist jenes indische Kind [gemeint ist die 1912 geborene indische Stummfilmschauspielerin Seeta Devi], weil es ganz unpersönlich, wie aufgelöst in der Natur seiner Rasse, auch mit der zufälligsten Gebärde immer ein ewiges Gesetz zu vollziehen scheint. Darum ist es unsagbar schön.«

Balázs unterscheidet in dieser Feuilletonskizze wie bereits in Der sichtbare Mensch zwischen gegebener Physiognomie als Ausdruck einer sogenannten »Rasse« und mimischen sowie gestischen Gebärden, die diesen fixen Ausdruck variieren. Er konstruiert damit ein Spannungsfeld, in dem Typus und Persönlichkeit, Natur und Kultur, Gesetzmäßigkeit und Individualität in ein widerstreitendes Verhältnis treten, das dem sinnlich geschulten Auge auf der Leinwand entgegentrete. Die Menschen der visuellen Kultur begännen schließlich, dieses Verhältnis sowie die für sie materialisierten gesellschaftlichen Wirklichkeiten gleich einer neuen Welt zu erkennen und zu dechiffrieren. Sie könnten in einem flüchtigen Blick, einer hastigen Handbewegung, einem kurzen Blinzeln je nach Situation verschiedenste Intentionen oder Gefühle einer Schauspielrolle entziffern  – mit einer Einschränkung. Die »Rasse« freilich vermöge man nicht zu spielen, schreibt Balázs weiter: »Denn einer kann – 56 –

nachmachen, und noch besser, was der andere macht. Aber keiner kann nachsein, was der andere ist.« Die Besetzungspraktik Breslauers, für Die Stadt ohne Juden im »Interesse der Echtheit eine Anzahl Ostjuden« zu verpflichten, scheint an Balázs’ Ansichten anzuschließen. Die osteuropäisch-jüdischen Statistinnen und Statisten repräsentieren einen Typus, der nicht nachgeahmt werden könne; sie sind  – den modernen Massetheorien folgend  – entindividualisiert, natur- und affekthaft. In der balázsschen Lesart sind sie gerade deswegen »echt«. Im Film werden sie in einem komponierten Wechselspiel von Massenszene und Nahaufnahme als Typen in Szene gesetzt, dem Einzelnen wird lediglich eine knappe Sequenz Individualität zugestanden, bevor er erneut in der Masse aufgeht, um seine Funktion als Typus nicht zu verlieren. Breslauer setzt damit Balázs’ Ansichten zur Masse im Film fast mustergültig in Szene. Während die Volksmasse ein »überindividuelles Gebilde der menschlichen Gesellschaft«, ein »eigenes Lebewesen mit eigener Gestalt und Physiognomie« sichtbar mache, müsse die Großaufnahme das »Mienenspiel des Massengesichtes« aufzeigen. Ein guter Film setze die Menschen aus lauter für sich lebendigen und sinnvollen Teilszenen zusammen, schreibt Balázs. Mit Detailaufnahmen zeige er die einzelnen Sandkörner, aus denen die Wüste besteht, damit auch beim Anblick der großen Totale das innen wimmelnde Leben ihrer Atome gegenwärtig bleibe: »In solchen Großaufnahmen fühlen wir den warmen Seelenstoff, aus dem die großen Massen bestehen.« Mit seiner physiognomischen Theorie schlug Balázs aus heutiger Sicht paradox anmutende Kapriolen. Als ungarischer Jude im Exil haderte er immer wieder mit Zugehörigkeit und Herkunft, er plädierte für eine internationalistische Filmsprache und, aus der Logik seiner physiognomischen Theorie heraus, gegen übermäßige Theaterschminke, mit der – 57 –

sich etwa Weiße schwarz bemalten (Blackfacing). Gleichzeitig führt er die zeitgenössische Kategorie der »Rasse« in seine Theorie ein, erweist sich damit als zeitdiagnostisch, ohne diese Diagnose je gänzlich kritisch zu wenden. Sein Feuilleton zu Die Leuchte Asiens schließt er mit der luziden Einsicht, das moderne Gefühl der Entfremdung erzeuge ein Verlangen nach Authentizität, die er aber wiederum im (ethnisch) »Anderen« und in der völligen Ursprünglichkeit des »Nichtseins« vermutet, die letztlich alle betreffe: »[E]ine tiefe Sehnsucht lebt in uns nach dem verlorenen Paradies der Unfreiheit, in dem wir wie im Mutterleib noch kein selbstbestimmtes eigenes Leben zu leben brauchten. Dort, wo das Unechte beginnt, dort beginnt der Mensch. (Man sollte es vielleicht doch nicht verachten.) Denn je weniger Rasse je mehr Individualität er hat, um so unechter wird er. Unsere tiefe Sehnsucht nach Echtheit aber ist unsere Sehnsucht nach dem Nichtsein.«

Damit liegt auch ein modernes Denkmuster offen zutage, das es dem Filmboten 1924 ermöglichte, den jüdischen Statistinnen und Statisten in Breslauers Film eine »besondere Natürlichkeit« jenseits ihrer Eigenschaft als Laien zu bescheinigen. Sie wurden als Typus in Szene gesetzt, ethnisch distanziert und wirkten dadurch im Film besonders wahrhaftig. Ohne Individualität, persönliche Geschichte und gebunden an eine invariante »Natur« (wie sie innerhalb der Rassenideologie behauptet wurde)  gehen sie in der Masse auf – und werden so zu einer Fiktion von maskenloser, aber unfreier, schicksalsgebundener Echtheit.

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Maskeraden Die moderne Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit beförderte die Markierung der osteuropäischen Juden als »authentisch (weil) Andere«, deren vermeintliche Natürlichkeit erst im Verbund mit ihrer Kennzeichnung als Fremde – ihrer FremdMachung – hergestellt wurde. Die Diskursivierung dessen, was als fremd oder natürlich wahrgenommen wird, geschieht in der Moderne in komplexen Blickregimes: Konnte die jüdische Bevölkerung aus dem östlichen Europa für eine allgemeine Wiener Öffentlichkeit eine Gruppe unter vielen sein, auf die sie ihre Projektionen des Primitiven bezog, formten Antisemiten ein negativ besetztes stereotypisiertes Konstrukt vom »degenerierten Ostjuden« im Sinn ihrer antisemitisch-völkischen Ideologie. Zeitgleich blickten akkulturierte Jüdinnen und Juden mit Befremden, Sehnsucht oder Nostalgie auf jüdische Menschen aus dem östlichen Europa, in denen sie »wahre« jüdische Existenzen erkannten. Dabei stößt die Sehnsucht nach dem natürlichen Selbst grundsätzlich auf ein anthropologisches Problem, das auch in die Kontrastierung von ost- und westeuropäischem Judentum eingeschrieben ist und seit dem 18. Jahrhundert virulent wird: Die Lücke zwischen innerem Wesen (als Sitz des »eigentlichen«, aber unsichtbaren Seins) und äußerer Erscheinung. Denn je akribischer der menschliche Körper im Theatrum anatomicum der frühen Neuzeit enträtselt wird, umso offensichtlicher wird, dass das »eigentliche Selbst« nicht in konkret materieller Weise im Körperinneren zu finden ist – es bleibt geheimnisvoll unsichtbar und verlangt daher nach einem stellvertretenden Beweis. Oberflächenlehren, bürgerliche Complimentierbücher und auch ein veristischer Schauspielstil sind letztlich der Versuch, die Kluft zwischen Wesen und Erscheinung sinnhaft zu – 59 –

schließen und so über den Umweg sozialer und theatraler Praktiken die Fiktion eines in sich geschlossenen, kohärenten Bürgers zu erschaffen. Während aber der selbstidentische Mensch gefordert war, sein Äußeres entsprechend den bürgerlichen Natürlichkeitsanforderungen zu modellieren, wurden die dafür nötigen Instrumentarien sozialen Spiels – Maske, Illusion, Verstellung – delegitimiert. Die Furcht, diesen Charakteranforderungen nicht gerecht zu werden, und der Argwohn gegen Maskierung im sozialen Leben wird rasch auf jüdische Mitmenschen projiziert und auch im Film Die Stadt ohne Juden als Motiv eingeführt. Der Filmbote berichtet vor der Premiere von der entsprechenden Filmstelle: »Im Rahmen des Ganzen steht die Geschichte eines jungen, befähigten Juden, der, obwohl er äußerlich in keiner Weise das Merkmal des Juden an sich hat, lediglich seiner Abstammung wegen […] in die Fremde wandern muß.« Die Rede ist von Leo Strakosch (Johannes Riemann), der als akkulturierter Jude weder Kaftan noch Schläfenlocken trägt, in gutbürgerlichen Wiener Kreisen verkehrt, sich mit der Tochter eines sozialdemokratischen Politikers verlobt und sich im Umgang mit seinem künftigen Schwiegervater der gängigen Höflichkeitsformen bedient. Im Gegensatz zur authentisierten Judenschaft aus dem östlichen Europa beherrscht er bürgerlichen Habitus und Konvention – Fertigkeiten der Sozialrolle, die ihn später zum Helden der Geschichte avancieren lassen. Durch den bewussten Einsatz einer Maskerade gelingt es Strakosch in der Verkleidung des katholischen Kunstmalers, die Rücknahme des Ausweisungsgesetzes zu erwirken und die Handlung harmonisierend aufzulösen. Indem er sich jedoch maskiert, Sein und Schein verkehrt sowie gekonnt in eine neue Berufs- und Sozialrolle schlüpft, verkörpert er als Jude die negativen Seiten der bürgerlichen Natürlichkeitsanforderungen. Er beweist eine Überbefähigung zum sozialen – 60 –

Rollenspiel, die letztlich in einer Täuschung endet und ihm so den Vorwurf einbringt, Juden verfügten nicht über einen gefestigten, transparenten und herzensreinen Charakter. Im Zusammenspiel mit der naturalisierten jüdischen Masse im Film adressieren bürgerliche Figuren wie Leo Strakosch gleichfalls moderne Dualismen von Wesen und Erscheinung, Authentizität und Maske. Die Stadt ohne Juden verhandelt diese großen Dualismen in der europäischen Moderne exemplarisch anhand der aschkenasischen Judenheiten in »Ost« und »West«. Das Gegensatzpaar, das mit der Verfestigung des pejorativ konnotierten Begriffs des »Ostjuden« ab dem späten 19. Jahrhundert in den Sprachgebrauch eingeht, innerjüdisch aber auch in der Kulturzeitschrift Ost und West bearbeitet wurde, teilt die Aschkenasim in zwei Gruppen, die sich längst nicht nur geografisch gegenüberstehen. Indem der bereits erwähnte Nathan Birnbaum von den Juden des Ostens und des Westens spricht, steckt er deren Herkunft zwar räumlich grob ab, lädt diese aber vielmehr politisch-kulturell auf. In der Folge umreißt das Begriffspaar einen sozialen und religiösen Gegensatz zwischen »westlich« orientierten, akkulturierten Jüdinnen und Juden und jenen, die als vormodern, ungebildet und religiös verhaftet galten. Sie, die oft noch verschiedene Formen des Ostjiddischen sprachen, erschienen in den Augen vieler als »natürlich«, da ihr Äußeres nicht bürgerlich-erzieherisch geformt oder ihre Individualität nicht ausgeprägt wäre. Umgekehrt war jüdische Akkulturation an ein spätaufklärerisches Bildungsideal geknüpft, das Bildung als An-Erziehung und Formung des Selbst im geistigen und körperlichen Sinn erstrebte. Die Idee der Akkulturation war also mit einem bürgerlichen Habitus verbunden, der mit Projektionen des »Ostjüdischen« kontrastiert, damit aufgewertet, gleichzeitig aber auch als negativ überformt markiert werden konnte.

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Was Balázs in seinem Feuilleton Echtes, Allzuechtes allgemein formulierte – der zivilisierte Körper gilt ihm als entfremdet –, buchstabierte Arnold Zweig in seinem Essay Das ostjüdische Antlitz (1920) für den innerjüdischen Diskurs aus. Er bezieht sich selbst in das Kollektiv akkulturierter Juden ein, wenn er schreibt: »[Wir] essen andere Speisen, messen mit anderen Maßen und haben ein Teil unserer Seele von Europa eingetauscht«. Der »greise Jude des Ostens« aber – treuherzig und »von einer Reinheit« – habe sein Gesicht gewahrt: »Seine klaren stillen Augen und der Mund, der seine große Güte verschämt und weich hinter dem Barte birgt, sagen aus, daß hier noch die Ursprünglichkeit und Helligkeit aller Verpflichtung wacht.« Zweig entwirft damit eine romantisierte Gegenerzählung zur antisemitischen Konstruktion des rückständigen »Ostjuden«. So konkurrieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Projektionen von aschkenasischen Judenheiten miteinander, die jenseits territorialer Grenzen weltanschaulich aufgeladen sind, jeweils romantisch überhöht oder pejorativ bis antisemitisch ausgedeutet werden. Im Film Die Stadt ohne Juden erhalten diese Vorstellungswelten nicht nur eine eindeutige Bildsprache; der Kontrast zwischen vermeintlich masken­ losem, unmittelbarem Sein und überformter bürgerlicher Existenz wird erzählerisch herausgearbeitet. Der Film nutzt Konventionen sowie Sehgewohnheiten und Rezeptionsweisen der 1920er Jahre, um die jüdische Statisterie zu naturalisieren und führt parallel die jüdischakkulturierte Welt als Sphäre der bürgerlichen Sozialrolle ein. Gerade aufgrund dieser Strategien ist Die Stadt ohne Juden kaum als dokumentarische Abbildung, dafür aber als Zeugnis gewachsener Vorstellungen und Konventionen der Markierung von Juden in der Öffentlichkeit lesbar. Dass sich das Produktionsteam des Films seiner Mittel aber an anderen Stellen vollauf bewusst war, sie teilweise gar kri– 62 –

tisch adressierte, wird in einer Traumszene von Bernart (Hans Moser) deutlich, dem seine eigenen Imaginationen des Jüdischen – Engelfiguren im Kaftan und mit Schläfenlocken – erscheinen. Auch die Figur des Journalisten Krauss wendet Momente der Fremdzuschreibung satirisch, indem er den Zusammenhang von Herkunft und Erscheinung hinterfragt: »Wenn es nach meinem Aussehen ginge, müsste ich auch fliehen, aber Gott sei Dank, der Schein trügt.« Trotz dieser satirischen Wendung muss die Behauptung einer »eigentlichen« osteuropäisch-jüdischen Seinsweise durch den Film als Fiktion des jüdischen »Anderen« im modernen Europa gelten. Die Authentizität jener »Anderen« besteht nun, da sie als besonders naturhaft und ursprünglich etabliert sind, gerade darin, sich jenseits des bürgerlichen Korsetts normierter Gesten zu bewegen, ihren Körper also in ausladender Gestikulation und entäußerter Mimik zum Ausdruck zu bringen. In letztendlich paradoxer Wendung findet diese vermeintlich maskenlose, körperlich konkretisierte Echtheit, die pejorativ als »theatralisch« wahrgenommen wird, in normierten Gesten ihren Ausdruck. Das theatralische Agieren wird durch Laientum als ungestellt naturalisiert, jüdisches Sein als theatralisch markiert. Wir werden in den folgenden Kapiteln, wenn wir rückwärts in die Wiener Geschichte und ihre Ding- und Vorstellungswelten dringen, immer wieder darauf stoßen.

Postskriptum Die Frage, ob der Attentäter Otto Rothstock während der Ermordung Hugo Bettauers zurechnungsfähig gewesen sei, beschäftigte im Oktober 1925 die zwölf Geschworenen des Prozesses gegen ihn. Während zwei Gerichtsärzte Rothstock ein »Jugendirresein« bescheinigten, kam die zu einem – 63 –

Zweitgutachten hinzugezogene Medizinische Fakultät der Universität Wien zu einem anderen Schluss. Rothstock sei lediglich »ein jugendlicher Wirrkopf mit abwegigen Gedankengängen«, der von einer überwertigen Idee beherrscht werde. Eine Geisteskrankheit lasse sich nicht nachweisen. Am 5. Oktober 1925 kurz vor Mitternacht stimmten die zwölf Geschworenen einstimmig für die Tötungsabsicht Rothstocks gegen Bettauer. Die Frage, ob Rothstock während des Mordes seine »Vernunft gebraucht« habe, blieb jedoch bei sechs Ja- und sechs Neinstimmen unentschieden. Unter Applaus lobte sein Verteidiger Walter Riehl  – ehemals Vorsitzender der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) und in Gerichtskreisen bestens vernetzt  – die »Ritterlichkeit« der Tat. Otto R ­ othstock wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen und Ende 1926 in die Wiener psychiatrische Klinik Am Steinhof eingewiesen, von deutschnationalen, völkischen und konservativen Kreisen als Vollstrecker eines sogenannten Volksurteils gefeiert und nach wenigen Monaten psychiatrischer Behandlung im Mai 1927 entlassen. Im selben Jahr erreichte Hugo Bettauers Roman Die Stadt ohne Juden eine Viertelmillion verkaufte Exemplare, der Roman sollte über achtzigmal aufgelegt werden. Der zugehörige Film kam – wohl stark geschnitten – in Berlin zur Aufführung, wo bereits die Berliner Version zu ­Bettauers Roman, Artur Landsbergers Berlin ohne Juden (1925), kursierte. Die Premiere am Kurfürstendamm löste derartige Proteste aus, dass die Kinobetreiber dem Publikum in der Folge untersagten, Beifall oder Missfallen laut zu äußern. Auch bei der Presse fiel der Film durch. Der Kritiker der Berliner Morgenpost echauffierte sich über das regietechnisch, fotografisch, schauspielerisch und architektonisch tiefe Niveau: »Wenn die Herrschaften in Wien einen solchen Film machen […], so ist das ihre Angelegenheit«; einzig Kurt – 64 –

Mühsam lobte in der B. Z. am Mittag die »stimmungsvollen Bilder von und vor dem Auszug der Juden«. Hans Karl Breslauer trat nach 1924 nicht mehr als Regisseur in Erscheinung, Die Stadt ohne Juden war wohl sein letzter Film. In den 1930er Jahren schrieb er Feuilletons, sein Film wurde vermutlich kaum mehr gezeigt, mit folgender Ausnahme: Im Jahr der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten 1933 wird De Stad zonder Joden in Amsterdam eine ganze Woche lang mehrmals im Theater Carré gezeigt; der jüdische Oberkantor Gershon-Yitskhok Leibovich Sirota, der den Film in die Niederlande gebracht haben könnte, umrahmte die Aufführungen musikalisch. 1940 trat Hans Karl Breslauer in die NSDAP ein. Die Drehbuchautorin Ida Jenbach gilt seit ihrer Deportation durch die Nationalsozialisten nach Minsk 1941 als vermisst. 1927 veröffentlichte Siegfried Kracauer eine Rezension zu Der sichtbare Mensch. Die irrige Annahme, mensch­liche Kultur wäre ohne Sprache denkbar, schreibt Kracauer, habe Balázs bei der Gegenüberstellung von Film- und Wortkunst zu den schlimmsten Entgleisungen verleitet: »Die neue Sichtbarkeit des Menschen, die der Film veranschaulicht, ist so durchaus das Gegenteil einer Wendung zu echter Konkretheit, daß sie vielmehr die schlechte Rationalität des kapitalistischen Denkens nur bestätigt und bei ihr festhält.« Béla Balázs musste 1932 ein weiteres Mal fliehen, diesmal vor den Nationalsozialisten, die sich inzwischen des physiognomi­ schen Diskurses bemächtigt hatten; er migrierte nach Moskau. Noch 1977 bekam der verurteilte Mörder Rothstock in einem ORF-Interview Gelegenheit, ohne jede Reue die »Auslöschung Bettauers« zu verteidigen. Unter allen Zeitzeugen erhielt damit im Österreich der Zweiten Republik der antisemitische, nationalsozialistische Täter das letzte Wort.

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Die Klabriaspartie (1890)

Im Januar 1931 erinnerte der Publizist Jacques Hannak in der Arbeiter-Zeitung an ein Jubiläum, welches, so vermutete er, nur gewissenhafte Theaterkritiker registriert haben dürften: das der Klabriaspartie. Die meisten Menschen der Gegenwart wüssten ja gar nicht mehr, was eine Klabriaspartie überhaupt sei: »Sie werden es für einen Ausflug auf das Land oder für eine Heiratsangelegenheit halten. Nur die wenigsten werden sich entsinnen, dass Klabrias ein Kartenspiel ist und die ›Klabrias­ partie‹ eine Posse, die in Wien allein an die tausendmal aufgeführt worden ist; dies zu einer Zeit, da Serienaufführungen und Rekorde noch nicht zum alltäglichen Zubehör des Theatergeschäftes gehörten.«

Zur Uraufführung der Klabriaspartie im November 1890 war Jacques Hannak noch gar nicht geboren, die vielen Aufführungen, die die Theaterposse in unterschiedlicher Besetzung und an verschiedenen Orten Wiens in den folgenden Jahrzehnten erlebte, hinterließen bei Hannak – 1892 als Sohn jüdischer Eltern zur Welt gekommen  – jedoch einen prägenden Eindruck. Noch vierzig Jahre später gilt die Posse für ihn als Inbegriff des jüdischen Witzes sowie als Akt der Selbstbehauptung einer diskriminierten Gruppe osteuropäischer Juden in Wien, als eine kurze, aber intensive Episode jüdischer Theater- und Gesellschaftsgeschichte, die ab 1890 für mehrere Jahre so selbstverständlich zum Stadtgespräch gehörte, wie sie zwei Jahrzehnte später wieder vergessen war. – 66 –

»Nicht einmal den Namen der Posse kennen die Leute mehr«, schreibt Hannak wehmütig, und erinnert an die letzten Verbliebenen der Klabrias-Zeit  – Sigi Hofer oder Armin Berg. Beide hatten in den 1920er Jahren im Stummfilm Die Stadt ohne Juden mitgewirkt, waren aber zuvor in der Theater- und Kabarettszene Wiens, insbesondere als Mitglieder des Theaterensembles der Budapester Orpheumgesellschaft, berühmt geworden. Beide traten zeitweise in der Klabriaspartie auf und ragten nun, so Hannak, als letzte Nachfahren dieser Zeit in die Gegenwart des Jahres 1931, ein Umstand, der kaum erinnert würde – zum Bedauern Hannaks, der in der Posse mehr verkörpert sah »als bloß eine Sammlung mehr oder weniger guter Witze«. Die Klabriaspartie, das sei sozusagen ein kleines Kapitel Kulturgeschichte.

Ein kleines Kapitel Kulturgeschichte Am Donnerstag, dem 13. November 1890, treffen Sigmund Branowitz und der Kaufmann Josef Berger vor dem Bezirksgericht in der Inneren Stadt zusammen. Beide hatten einige Tage zuvor im Café Residenz am Franz-Josefs-Kai mehrere Partien Klabrias gespielt und waren darüber in einen vielleicht justiziablen Streit geraten, den sie nun vor Gericht rekonstruierten. Branowitz gibt zu Protokoll, von Josef Berger zum Spiel herausgefordert worden zu sein, was ihm schon merkwürdig vorgekommen sei, da man Klabrias ja eigentlich zu dritt spiele. Und tatsächlich habe Berger dann »das Glück corrigiert«, statt sechs Karten habe er stets sieben vom Stapel genommen und sich dabei höhere Chancen auf eine Terz, Quart oder Quint verschafft. Vier Gulden habe er dadurch verloren, erzählt Branowitz, alle habe er zurückgefordert. Berger wirft ein, er hätte das Geld – 67 –

zurückgegeben, wäre sein Gegenspieler nicht so frech gewesen. Frech? Das sei er überhaupt nicht gewesen, entgegnet Branowitz, er habe Berger lediglich aufgefordert, ihn ohne Aufsehen zur Polizei zu begleiten. Dort wiederum habe Berger – den er ja gerade wegen Betrugs anzeigen wollte – ihn selbst als Hasardspieler (Glücksspieler) angezeigt. Ja, er bekenne sich des Hasardspiels schuldig, wirft nun Josef Berger ein, weist aber den Vorwurf des Betrugs vehement zurück. Nur einmal habe er durch Zufall eine Karte zu viel genommen. Ob Klabrias tatsächlich ein Glücksspiel und damit strafbar ist, kann der Bezirksrichter wiederum nicht entscheiden, er beschließt, einen Sachverständigen vorzuladen und ferner den Marqueur Karl aus dem Café Residenz hinzuzubitten, den der Angeklagte Berger als Entlastungszeugen angegeben hat. Die Sitzung am 13. November wird ohne Urteil geschlossen. Am Tag zuvor hatte im Nachbarbezirk, zehn Gehminuten entfernt auf der anderen Seite des Donaukanals, ein Theaterstück seine Leopoldstädter Uraufführung gefeiert, das ein ähnliches Ende nahm wie das Kartenspiel zwischen Berger und Branowitz im Café Residenz. Die Budapester Orpheumgesellschaft lud an jenem Mittwoch zum großen Novitätenabend ins Hotel Schwarzer Adler. Sieben Neuigkeiten waren angekündigt, darunter ein Kostüm­duett der Gebrüder Rott und das Theaterzettel-Couplet von ­Ferdinand Grünecker, der auch beim Duett Die Anti-Gigerln und schließlich beim siebten und letzten Programmpunkt  – dem Höhepunkt des Abends  – mitwirkte: Eine Partie Klabrias im Café Spritzer (kurz: Die Klabriaspartie). Jenes Café Spritzer war als kleines Kaffeehaus und Ort der Handlung auf der Bühne des Hotelsaals recht simpel angedeutet; links ein kleines Tischchen mit einem Stuhl, rechts ein Tisch mit vier Stühlen, an dem kurze Zeit später die vier Kaffeehausgäste Platz nehmen sollten: Simon Dalles, – 68 –

Jonas Reis, Dowidl und Prokop Janitscheck. »E Klabrias­ partie kummt da alle Tag z’amm’«, kündigt Kellner Moritz (gespielt von Anton Reder) dem Publikum seine überaus knausrigen Kaffeehausgäste an  – und schon kommen sie nacheinander zankend und singend herein. »Das Klabrias, das Klabrias, das is mein ganzes Leben«, singt Simon Dalles (1890 von Ferdinand Grünecker verkörpert) zum Entrée, gefolgt von Dowidl und Jonas Reis, der mit gestohlenem Hut und den Strümpfen seiner Frau, die er als dandyeske Gigerlhandschuhe trägt, das Café betritt. Die Partie ist schnell ausgehandelt, Dowidl als Zaungast zum Kiebitzen abgestellt und ein Dritter im Kartenspielbunde gewonnen: Prokop Janitscheck, einziger Böhme in der Runde und einst Tarock spielend im Café Sadlaček zu Hause, erhofft sich neuerdings beim Klabrias im Café Spritzer sein Glück, bestellt eine »Limonad ohne Limonie« – den Zucker habe er selber mitgebracht – und verärgert seine neue Spielrunde direkt zu Beginn mit einer fälschlich gemeldeten Quart sowie zahlreichen offensichtlichen Zaubertricks. Indessen unterbrechen seine drei jüdischen Mitspieler die Partie, um sich gegenseitig oder vom Marqueur Geld zu leihen, sich zu bestehlen oder sich in kleinere Handgreiflichkeiten zu verwickeln. Reis verpfändet die Strümpfe seiner Frau, die gleich darauf wutentbrannt das Kaffeehaus betritt und so die Runde kurzzeitig unterbricht; Janitscheck setzt mithilfe einer mitgebrachten Kartoffel zu einem weiteren Zaubertrick an und Dalles kämpft mit Dowidl um einen Hut – bis es ans Auszahlen der Spielbeträge geht, Reis sich von D ­ owidl, der ihm gegen Zinsen seinen Strumpf zum Pfandhaus getragen hat, um die Gulden betrogen fühlt und ihn nun zum großen Finale unter Zeugen vor Gericht ziehen will. »Reis. … ich geh’ den Dowidl sofort verklagen und rother ­Ganef [Dieb] hat er mich auch geheißen.

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Dalles. Lassen Se sich de Haar färben. Reis. Meine Herren, Sie kommen mit als Zeugen, ich lass’ ihm einsperr’n. Dalles. Aber morgen spiel’ ma weiter …«

Eigentlich habe Die Klabriaspartie überhaupt keine Handlung, schreibt Hannak 1931. Sie sei ein mageres Geschehen, um das keinerlei dramatischer Knoten geschlungen werde, eine Sammlung an Zitaten von Witzen, doch »obwohl sich so wenig ereignet, daß man es gar nicht erzählen kann«, kämen die Zuhörer nicht aus dem Lachen heraus. »Sensationell! Originell!«, bewarb das Illustrirte Wiener Extrablatt die ersten Aufführungen im Herbst 1890; und tatsächlich traf die Partie einen Nerv. Ab November 1890 reiste das Ensemble der Budapester Orpheumgesellschaft – der Logik der Singspielhallen- und Volkssängerszene folgend – mit der Klabriaspartie durch die ganze Stadt. Hatte die Partie am 8. November in Johanna Brauns Restauration im neunten Wiener Gemeindebezirk Premiere gefeiert, spielten die Budapester vier Tage später im Hotel Schwarzer Adler in der Leopoldstadt und wiederum zwei Tage darauf in den Hernalser Brauhaussälen. Das Theaterstück wurde da bereits als neue Sensationskomödie angekündigt. Rund fünfhundert Aufführungen zählte Die Presse eineinhalb Jahre später, im März 1892 – womit die Partie seit der Premiere fast täglich aufgeführt worden wäre. Die Klabriaspartie stand in diesem Monat als Hauptschlager eines Unterhaltungsabends des Wiener Männergesangsvereins im Sophiensaal auf dem Programm und habe, so die Zeitungskritik, Lachstürme ausgelöst. Vier Wochen danach erinnerte sich ein Richter des Bezirksgerichts Leopoldstadt an die Gerichtsverhandlung zwischen Berger und Branowitz, in der die Frage verhandelt wurde, ob Klabrias ein Glücksspiel und daher strafbar sei. – 70 –

Er hatte gerade eine Anzeige wegen Hasardspiels zu entscheiden, die das Polizeikommissariat in der Leopoldstadt gegen einige Kartenspieler erstattet hatte, und erhoffte sich in den Gerichtsakten des Jahres 1890 Auskunft darüber, ob Klabrias zu den verbotenen Spielen gehöre. Da die gesuchte Akte nicht auffindbar war und das Polizeipräsidium überdies mitteilte, dass »authentische Daten über das Wesen des sogenannten Klabrias-Spieles« hieramts nicht vorlägen, entschied der Richter, das Spiel selbst kennenzulernen. Er beschloss seine Feldstudie mit der Einsicht, dass zum Klabrias »eine gewisse Portion Scharfsinn und Logik gehöre« und der Gewinn nicht bloß vom Zufall abhänge. Die Angeklagten wurden freigesprochen. Während Klabrias im Wien der 1890er Jahre weiter Gegenstand von Gerichtsverhandlungen war, setzten die Budapester ihre Aufführungsserie rund um das verhandelte Spiel fort. Anlässlich eines Wohltätigkeitsabends für niederösterreichische Flutopfer gaben die Budapester drei Monate später ihre Posse im Circus Busch – und das »zu Pferde«. Die Neue Freie Presse begeisterte sich für diese »noch nicht gesehene Curiosität«. Im Frühling darauf brachte der Theaterverein in Czernowitz seine Version der nun als berühmt angekündigten Partie auf die Bühne. Schnell kursierten Varianten der Theaterposse, die entweder von der Budapester Orpheumgesellschaft selbst gegeben oder von weiteren Theaterautoren in Anlehnung an die Version der Budapester entworfen wurden. Der Volkssänger Adolfi (Adolf Hirsch, 1866–1931) kündigte 1892 Die Klabriaspartie vor Gericht an; Josef Armin versuchte für die Budapester mit dem Gesangsdivertissement Im Banne der Karten (1901) an die Erfolge der Partie anzuknüpfen und Julius Bauer bearbeitete die Posse als »klassisches Schauspiel«, in dem sich zum großen Spott von Karl Kraus nicht Dalles und Dowidl, sondern Nathan und Shylock zum Kartenspiel trafen. Als – 71 –

1896 im Wiener Tiergarten eine Gruppe der westafrikanischen Ethnie der Aschanti in einer sogenannten Menschenschau der Wiener Bevölkerung präsentiert wurde, schrieb Josef Philippi für die Singspielhalle Karl Steidlers die Posse Die Klabrias Parthie im Atschanti Dorf. Ebenso rasch, wie Adaptionen und Variationen des Stücks entstanden, ging die Partie in den umgangssprachlichen Wissensschatz ein, wurden politische und gesellschaftliche Gegebenheiten mit Witzen und Zänkereien aus der Posse verglichen und diente das Stück als Vorlage für antisemitische Anfeindungen, aber auch umgekehrt zur Kritik am populistischen Antisemitismus des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. So wurde das Gerüst der Theaterposse, die selbst einst in Anlehnung an ein Stück der ungarischen Folies Caprices von Budapest nach Wien gelangt war und auch in Berlin bei den Gebrüdern Herrnfeld großen Erfolg hatte, zu einer Projektionsfläche, die fast nach Belieben mit widerstreitenden Bedeutungen aufgeladen und wiederum ganz gegenteilig ausgedeutet, als begleitende Belustigung zu einer rassifizierenden Völkerschau adaptiert oder als widerständige Erzählung einer marginalisierten jüdischen Bevölkerungsgruppe rezipiert werden konnte. Auch die jüdische Öffentlichkeit begrüßte die Posse weder einhellig noch lehnte sie diese unisono ab, obgleich sich jeder eine kontroverse Meinung darüber gebildet zu haben schien. Die offen ausgestellte jüdische Differenz, die Lust an der »Dynamik der Dissimilation« (Shulamit Volkov) und die stetige Übertretung bürgerlicher Normen, stieß akkulturierten Kreisen auf. Die Art und Weise, in der das Ensemble der Budapester die jüdischen Figuren auf die Bühne brachte, ließ viele befürchten, antisemitische Vorurteile würden dadurch bestätigt oder gar geschürt. Karl Kraus lobte hingegen gerade, dass die Budapester die Figur des Geschäftsreisenden nicht dem »Haß der Kundschaft« preisgaben, sondern ihn so hinstellten, »daß – 72 –

man ihn umarmen möchte«. Einige sprachen sich generell gegen jüdische Sujets, Figuren und Künstler im »niederen« Possengenre aus; sie hielten dieses für unsittlich und einer jüdischen Theaterkunst nicht würdig. Kulturzionistische, nationaljüdische und bürgerliche Stimmen plädierten stattdessen für die Förderung einer hochkulturellen jüdischen Kunst, die es mit der bürgerlichen Theaterkultur der europäischen Nationen aufnehmen könne und rasch kanonisiert werden sollte. Wieder andere, darunter viele Gelehrte, Publizisten und Künstler aus dem Wiener Bildungsbürgertum, sahen in der Posse eine äußerst wahre, noch nicht überformte jüdische Kunst aus dem östlichen Europa, die einen ganzen Erfahrungszusammenhang auf authentische Weise auf die Wiener Bühne zu bringen vermochte.

Karten und Kaffeehaus Ein Auslöser für die widerstreitenden Meinungen und Rezeptionserfahrungen mag auch die Anlage des Theaterstücks gewesen sein, die artifizielle Konventionen des Possengenres mit Vorstellungswelten des Jüdischen verband: Während die einen gerade die Kunstfertigkeit der Posse lobten, wurde sie von vielen anderen als wahrhaftig rezipiert. Die jüdischen Figuren des Stücks waren verarmt und litten Hunger. Sie gaben sich durch ihre dialektale Aussprache als jüdische Migranten zu erkennen, die ihr Dasein seit ihrer Ankunft aus den östlichen Provinzen der Monarchie in der Leopoldstadt bei einem Kartenspiel im Kaffeehaus fristeten. Diese lebensweltliche Erfahrung vieler jüdischer Migranten und Migrantinnen, die von Osten her mit dem Zug am Wiener Nordbahnhof ankamen und von dort auf kurzem Weg in die Leopoldstadt gelangten, kondensierte nicht nur in der Klabriaspartie zum Sujet, sie wurde in Briefen und – 73 –

Tagebuchaufzeichnungen festgehalten oder im Wiener Lied weitergetragen. Gleichzeitig schienen die Karten spielenden Juden im Kaffeehaus das Bühnengeschehen an einen städtischen Alltag rückzubinden. So war das Kaffeehaus in der Wiener Moderne als öffentlicher Ort populär, an dem sich vornehmlich Juden aufhielten. Gleichzeitig war Klabrias – zumal im Kaffeehaus gespielt – als Freizeitaktivität eng an Vorstellungen des Jüdischen geknüpft: Im September 1899 besuchte Arthur Schnitzler während einer Reise ein Wiener Café in Wiesbaden und schrieb dort seinem Freund Gustav Schwarzkopf in einem atmosphärischen Brief: »nun sitz ich hier, ›Wiener Café‹ – also lauter Juden und neben mir ›werd geklabbert‹«. Im August 1893 unternahm Schnitzler eine nicht ganz so lange Reise. Mit seinem »verbogenen Pedales« fuhr er ins nahe gelegene Klosterneuburg, wo er während einer Rast einen Brief an Felix Salten verfasste und darin mit dem Blick eines eingeweihten Außenseiters beschrieb, wie »plötzlich zwei ältere jüdische Klosterneuburger ­›Gigohl‹ bei der Thür erschienen & dem barfußen Schlosser sagten ›Nü, Mädel, was is mit ä Tarokpartie?‹ und wie die 16-jährige Tochter, die mich offenbar sofort richtig taxirte, bemerkte ›Klabriaspartie!‹«. Mittels einer eindeutigen Freizeitaktivität an einem als jüdisch markierten Ort scheinen Vorstellungen vom Jüdischen in der Öffentlichkeit besondere Sichtbarkeit zu erlangen. Die Posse der Budapester Orpheumgesellschaft greift diese Trias von Kartenspiel, Kaffeehaus und jüdischer Zugehörigkeit auf und verdichtet sie in der theatralen Situation. Zum Zeitpunkt des großen Erfolgs der Klabriaspartie jedoch verschob sich die öffentliche Meinung über dieses als jüdisch wahrgenommene Spiel im Kaffeehaus: Seine Rechtmäßigkeit wurde hinterfragt und auch gerichtlich verhandelt. Über die Aufführungsperiode der Klabriaspartie hinweg fanden eine Reihe von Prozessen – 74 –

gegen Hasardspieler statt, die breitenwirksam in der Wiener Presse besprochen und bei denen immer wieder Juden als Protagonisten der Prozesse öffentlich kriminalisiert wurden. Mit dem Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf vermehrt Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa nach Wien flüchteten, häuften sich die Zeitungsartikel, in denen explizit »galizische Flüchtlinge« des kriminellen Zeitvertreibs im Kaffeehaus beschuldigt wurden. Im April 1915 berichtete Die neue Zeitung anlässlich eines Gerichtsprozesses gegen fünf galizische Kaufleute, dass Klabrias in Galizien ein üb­licher Zeitvertreib sei und die Kaffeehäuser von Flüchtlingen »überschwemmt« würden. Im Mai 1915 titelte die Arbeiter-Zeitung: »Wieder galizische Flüchtlinge als Hasardspieler«. So operierte die Posse im Lauf ihrer Aufführungs­ geschichte nicht nur mit Vorstellungen des Jüdischen, sondern mit konkreten Vorurteilen, die ein Wiener Publikum en gros über galizische Juden teilte. Die Budapester scheinen jedoch keineswegs in naturalistischer Absicht eine jüdische Lebensrealität auf die Bühne überführt und affirmativ in Szene gesetzt zu haben. Betrachtet man die Aufführungspraxis des Ensembles, so entzieht sich die Posse gerade aufgrund der theatralen Konventionen ihres Genres und mittels eines auffälligen Körperspiels einer vereindeutigenden Lesart. Die Partie repräsentiert in diesem Sinn keine durch das Spiel des Ensembles authentisierte jüdische Existenz, sie präsentiert einen möglichen Zugang zu einer spezifischen Vorstellungswelt, die gleichfalls nicht immer als überspitzte Darbietung gewürdigt wurde, in ihrer Artifizialität aber für das Publikum erkennbar gewesen sein dürfte. Allein die Namen der Figuren legen keine psychologisierende Zeichnung, sondern die satirische Überspitzung der Protagonisten nahe. Sie sind nicht als Personen mit eigener Individualität, sondern als Typen mit feststehenden – 75 –

Eigenschaften angelegt, die sie manchmal schon im Namen führen: Simon Dalles trägt in seinem Nachnamen bereits die Armut (jidd.: dales, hebr.: dalut) als grundlegendes Merkmal seiner Figur. Jonas Reis hat ein Lebensmittel immerhin namentlich in seinem Besitz. Die beschreibende Benennung der Figuren, der derbe Witz und die krasse Überspitzung können als Relikte frühneuzeitlich-comödiantischer Praxis interpretiert werden und so als Indiz dafür gelten, dass die Budapester zumindest in Ansätzen Spielweisen erprobten, die Zuschreibungsmuster artifiziell überzeichneten und mit Normierungen des Habitus spielten, wodurch diese Muster distanziert und befragbar gemacht wurden. Eine (subversive) Verfremdung von kollektiven Vorstellungen hat das Ensemble der Budapester wohl vor allem körperlich ausagiert; sie geschah im Unterschied zu filmischen Projektionen nicht vermittelt, sondern momenthaft in concreto für das jeweilige Publikum. Ein Zugang zu dem, was die Budapester Orpheumgesellschaft auf die Bühnen der Stadt gebracht und was das Publikum erlebt haben mag, eröffnet sich heute nur über Rezeptionsnotizen von einem Teil des damaligen Publikums oder mittels Foto­grafien. Gerade diese Quellen zeigen aber, wie jene Bühnen-Körperlichkeit erst in der öffentlichen Auseinandersetzung und durch sie zu spezifischen Vorstellungen des »jüdischen Körpers« verwoben, also diskursiv hergestellt wurde.

Das Rollenporträt Im November 1890 posierten Max Rott, Benjamin Blaß, Ferdinand Grünecker, Anton Reder und Karl Hornau in ihren Possenfiguren vor einem Fotografieapparat des Ateliers Kalmár  & Székely (Abb.  6). Zur Uraufführung der Partie hatte das Ensemble das frisch eröffnete Atelier des – 76 –

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Abb. 6: Rollenporträt Die Klabriaspartie, Budapester Orpheumgesellschaft. Fotografie des Ateliers Kalmár & Székely zur Uraufführung im November 1890. © Wien Museum.

renommierten Fotografen und Chemikers Josef Székely (1838–1901) und seines kurz zuvor aus Budapest übergesiedelten Partners Peter Kalmár beauftragt, Fotos für die Inszenierung der Klabriaspartie anzufertigen. Dabei entstand eine der wenigen erhaltenen Abbildungen zur Aufführungsgeschichte der Posse. Josef Székely hatte sich bereits in den 1870er Jahren als Patentnehmer für ein Verfahren hervorgetan, das Fotografien mit »besonders plastischer Wirkung« fertigen sollte, und zählte unterdessen viele Schauspielerinnen und Schauspieler zu seiner Kundschaft, denen er Rollen- und Privat­ porträts verkaufte. Bis auf Kathi Hornau, die 1890 die Frau Reis gab, aber nicht für das gemeinsame Rollenporträt posierte, sind alle Protagonisten der Partie auf dem Bild zu sehen. Sie stehen in ungleichmäßigen Abständen nebeneinander in gebückter, gekrümmter, in jedem Fall posierender Manier und schauen herausfordernd bis überrascht in die Kamera oder zu ihrem Nachbarn. Max Rott als Jonas Reis blickt mit aufgerissenen Augen in die Kamera. Er hat den Hut auf dem Kopf und die Strümpfe in der Hand, mit denen er in der Posse das Kaffeehaus betritt. »(Reis zieht die Strümpfe von den Händen). Dalles. Was sein das far e Strümpf? Reis. Das sein Strümpf? Das sein Gigerlhandschuh’ … Dalles. Das sein doch vun Ihne Weib e Paar alte Strümpf’«

Wie Reis ist auch Kiebitz Dowidl (Benjamin Blaß) an äußeren Attributen zu erkennen: Er trägt als einziger Kappe statt Hut und streckt seinen überlangen Schal in die Luft. Dalles (Ferdinand Grünecker, ab 1893 durch Heinrich Eisenbach ersetzt) ist auf der Fotografie mit langem Bart und Zylinder abgebildet und dreht sich, den Oberkörper gekrümmt, zu Kellner Moritz (Anton Reder), der hinter ihm mit Fliege, – 78 –

Kragen und Kellnertuch in die Szene springt. Ein Tuch in der einen, den Zylinder in der anderen Hand, steht Karl Hornau als Prokop Janitscheck am rechten Bildrand; seine Sonderstellung als einzig böhmischer Gast des Kaffeehauses wird zusätzlich durch seine weiße Kleidung augenscheinlich. Neben Kellner Moritz, der in seiner Funktion ebenfalls durch die Accessoires erkenntlich wird, ist Janitscheck von den drei jüdischen Spielern so deutlich unterschieden. Während gegenständliche Attribute die Rollen zu überindividuellen Figuren fügen, wird in der Fotografie der Einsatz einer exaltierten Körperlichkeit sichtbar. Verrenkte Gesten, entgleiste Mienen und typisierende Kennzeichen lassen auf ein artifizielles Spiel schließen, das mittels der Attribute einerseits soziale Distanz zwischen den Protagonisten etabliert und sie andererseits in ihrer Typisierung eint. Ihre Körperlichkeit tritt als Artefakt hervor, als gemachtes, geformtes und in Vorstellungen verstricktes Konstrukt. Im Unterschied zum Leib (mittelhochdt. Lîp = Leben), der an das lebendige »Natur-Sein« gebunden ist, resultiert Körper aus der Zivilisierung und Disziplinierung desselben. Er ist geformt, sozial konstruiert und damit gewachsen und gestaltet zugleich. In diesem Sinn ist auch der »jüdische Körper«, mit dem die Possenfiguren umgehen, eine historisch gewachsene Konstruktion; ein Konglomerat aus Körpertechniken, -praktiken und (stereotypen) Vorstellungen, die von außen an ihn herangetragen wurden. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden – unter dem Einfluss antijüdischer und in der Folge antisemitischer Diskurse – Vorstellungen vom »jüdischen Körper« hegemonial, die diesen als defizitär, ungeformt und verweiblicht festschrieben. Die Possenfiguren scheinen diese Zuschreibungen auf der Bühne in Szene zu setzen, sie betonen ihre existenziellen Bedürfnisse, überspitzen ihre Unförmigkeit, beschädigen sich in der Rauferei körperlich. Max Rott trägt als Figur Jonas – 79 –

Reis die Strümpfe seiner Frau in dandyesker Absicht und überschreibt dadurch vereindeutigte Geschlechtergrenzen, wie er Vorstellungen des »verweiblichten Juden« satirisch überspitzt. Ist das Porträt die Präsentation des Selbst (Erving Goffmann), so kann das Rollenporträt als Präsentation der Rolle gelesen werden, wobei die Rolle plausibel abgebildet und in ihren Eigenheiten inszeniert, kurz: geeignet symbolisiert werden soll. Während das frühe fotografische Auftragsporträt auf die Normierung eines Individuums zielt und dabei die soziale Stellung der Porträtierten mit einem passenden Arrangement verbessern soll, dient das Rollenporträt der Dokumentation einer theatralen Setzung, die dem Porträt vor- und nachgelagert ist und die Kunsthaftigkeit der Situation bereits in der Benennung als »Rollenporträt« mitdenkt. Dieser Interpretation folgend ist das Foto der Klabrias­partie von epistemischer Bedeutung: Es erlaubt als Rollenporträt einen Zugang zur Anlage der Figuren, ihren Spielweisen und den damit verbundenen Vorstellungen vom Jüdischen. Die so porträtierten Körper treten dem zeitgenössischen Publikum auf den Bühnen der Hotel- und Brauhaussäle, Singspielhallen und Zirkusmanegen entgegen. Sie sind ins Konkrete gewendete, überzeichnete Vorstellungen vom jüdischen als einem exaltierten Körper. Damit haben sie nie allein der Theaterbühne gehört – und damit holt sie, sobald sie auf den Wiener Bühnen erscheinen, das Publikum wieder in ihre Alltags- und Vorstellungswelt zurück.

Absolute Nacktheit Seit 1890 sahen viele Wiener und Wienerinnen Die Klabrias­ partie, sie sprachen und stritten darüber. Schickte es sich für eine Wienerin aus bürgerlichem oder adligem Haus – 80 –

nicht, bei den Budapestern gesehen zu werden, ja rieten einige Publizisten diesen Frauen aus sittlichen und gesellschaftlichen Gründen sogar ganz vom Theaterbesuch ab, so waren ebendiese Autoren oft selbst begeisterte Gäste der Orpheumgesellschaft. Felix Salten oder Alfred Polgar sahen Die Klabriaspartie vermutlich mehrfach, Karl Kraus zog die Posse immer wieder zum Vergleich oder als Metapher heran und Arthur Schnitzler baute Witze daraus in seine Briefwechsel ein. So gestand er, dass er einem Freund die Büste Beer-Hofmanns »›in’ Kopp hereinhaun‹« wollte – »Lachen Sie nicht; der Kellner beobachtet Sie.« Karl Kraus berichtet von einem Gerichtsprozess, der ihn an eine Klabriaspartie erinnert habe. Auch wenn heute nur annäherungsweise beschreibbar ist, wer die Vorstellungen der Budapester besuchte, so ist gesichert, dass gerade auch bürgerlich-jüdische Literaten die Partie rezipierten und sich lebhaft mit ihr auseinandersetzten. Karl Kraus zeigte sich begeistert von dem Theatervergnügen, das er bei den Budapestern fand  – und das er als einziges neben Alexander Girardi bestehen ließ. Er nutzte Die Klabriaspartie und ihre vermeintliche kulturelle Minderwertigkeit gleichfalls häufig, um gegen Kulturbehörden und -institutionen sowie etablierte Künstler zu polemisieren. Als 1903 das Amt des Theaterzensors neu besetzt wurde, brachte er den Hausdichter der Budapester, Louis Taufstein, als »literarischen Beirath« ins Gespräch. Im Juni 1911 setzte er das »einzig reelle Theatervergnügen« der Budapester und all ihren »Unflat« gegen die von ihm verspottete »Theater- und Taschenspielerei« von Max Reinhardt und Burgtheaterdirektor Alfred von Berger. Im Folgejahr nahm er die Erkrankung mehrerer Burgtheaterschauspieler zum Anlass, in der Fackel den Vorschlag zu unterbreiten, das Burgtheater einer Rettungsmaßnahme zu unterziehen und die Budapester dort einziehen zu lassen: – 81 –

»Das Lokal der Orpheumgesellschaft ist rauchig und wenig geräumig. Ich sage nicht, dass das Burgtheater gesperrt werden soll. Aber ein Theater, das ohne Tragöden, ohne Tragödin, ohne Helden, ohne Heroine klassische Vorstellungen herauszubringen versucht, wird am Ende doch zu der Überlegung kommen, welche Konsequenz es aus seiner breiten räumlichen Gelegenheit zu ziehen habe. Gewiß könnte ich zum Beispiel ohneweiters stimmlich das ganze alte Burgtheater ersetzen; ich tue es unter der Direktion Berger nicht. Aber das beste Wiener Ensemble spielt in einem Hotelsaal. Mein Vorschlag ist ganz ernst gemeint. Der Theaterzettel brauchte deshalb nicht jede Erinnerung an die Tradition des Burgtheaters zu verleugnen. Im Gegenteil, ich wäre dafür, dass in diesem Punkte der Pietät weitester Spielraum gelassen wird. Tief unten könnte die Spielunfähigkeit des ganzen heutigen Ensembles vermerkt sein: Gesund die Herren Reimers, Höbling.«

Kraus skandalisierte, dass die Musterleistungen der Budapester in der Wiener Presse nicht besprochen, sondern nur annonciert und überdies die Ensemblemitglieder Eisenbach und Rott nicht gewürdigt würden – in der folgenden Fackel legte er bekräftigend nach: »Mein Vorschlag, das leerstehende Burgtheater an das einzige künstlerische Ensemble Wiens, an die Budapester Orpheum­ gesellschaft, zu verpachten, wurde von Herrn v. Berger mißverstanden. Es war nur so weit ein Scherz, als es ein Scherz ist, zu wünschen, der klügste Mann im Staate solle Kanzler sein […] und der Bühnenkundigste Burgtheaterdirektor.«

Kraus lobte die Chargenkünste und Vulgarität der Budapester und befand, dass bei ihnen ebendas »in Kunst aufgelöst wird, was in der Unmittelbarkeit der Treumann und Kramer [vermutlich Louis Treumann, 1872–1943, und Leo– 82 –

pold Kramer, 1869–1942] die empörende Identität mit dem kommerziellen Leben ausmacht«. Bei den Budapestern fand Kraus die »letzte und lebendigste Schauspielerei«. Heinrich Eisenbach (1870–1923) erreiche bei Rauch und Tellermusik spielend jene Grenze, »wo er aus der Pflicht des nachgesprochenen Wortes in die Macht des nachgeschaffenen Lebens tritt«. Auch andere Publizisten erkannten Handwerk und Artifizialität im Possenspiel der Budapester, Polgar würdigte die »überlebenswahren Figuren« Heinrich Eisenbachs, seine Kunststücke und die fabelhafte Technik. Felix Salten sah in ihm einen genialen Komiker. Gleichzeitig mischten sich in die Rezeptionsnotizen Beschreibungen, die nicht das handwerkliche Können als Wertmaßstab setzten, sondern das theatrale Wesen der Schauspieler selbst betonten. Diese Stimmen verknüpften das artifizielle Handwerk mit den angenommenen inneren Eigenschaften des jeweiligen Künstlers und beglaubigten es gerade dadurch als »in der Natur der Sache liegend«. Insbesondere Felix Salten erkannte in den Darbietungen Heinrich Eisenbachs authentische Momente. Er beschrieb Eisenbach als Improvisator, Rhapsoden, Stegreifdichter und Darsteller seiner selbst, der von niemand anderem als von sich selbst eine »Rolle« empfangen könne. Salten würdigte Eisenbach damit nicht als Schauspieler – etwa als Figur des Simon Dalles  –, sondern als Menschen »von prachtvoller Einheit und tiefer Echtheit«. Er sei weder Schauspieler noch Dramatiker, allenfalls Imitator und Menschenschilderer, und da er ein naives Wesen habe, schreibt Salten, wäre Eisenbach leidenschaftlich gern ein großer Schauspieler geworden, gleichfalls sei sein Wesen aber so stark, seine »Eigenfarbe« zu durchdringend, als dass beides ein »Gängelband« ertragen hätte: »so wenig die Späße, die Eisenbach ersonnen hat, von einem anderen gesprochen, eine Wirkung geübt – 83 –

hätten, so wenig konnte Eisenbach zur Wirkung bringen, was ein anderer schrieb.« Damit geriet Saltens Ehrung für Heinrich Eisenbach eigentlich zur Negierung seiner Schauspielkunst als Handwerk. Sein Spiel sei zuvorderst eben nicht handwerklich erarbeitet, sondern liege ganz in seinem inneren Wesen begründet – womit Salten den Bewertungsfokus verschiebt: Das eisenbachsche Possenspiel ist in dieser Argumentation nicht auf artifizielle oder typisierte Weise überlebenswahr, sondern ursprünglich-wesenhaft und damit lediglich wahr. Ähnliches diagnostizierte Alfred Polgar für Eisenbach – in ihm liege eine »Ur-Komik« – sowie für Max Rott, der in der Partie die Figur des Jonas Reis gab: »Er war kein Künstler, durchaus nicht, er hatte weder Gestalterkraft noch Verwandlungsfähigkeit. Aber er war ein komischer Mensch«. In diesem Nachsatz spricht Polgar Rott das Schauspielhandwerk ab, da er ja schon im Leben »komisch« agiere, folglich immer sich selbst auf der Bühne spiele oder umgekehrt »komische« Menschen gute Schauspieler seien. In Abwandlungen zieht sich diese Engführung von Authentizität und Theatralik durch die Rezeption der Budapester Inszenierungen. Das Publikum meinte, das eigentliche »Wesen« des Schauspielers hinter seiner Persona erkennen und mit der Bühnenfigur vereinen zu können. In ihren Projektionen blitzt so die innere Eigentlichkeit des Künstlers auf der Theaterbühne momenthaft, aber stetig durch eine dünne Schicht theatraler Fiktion, die wiederum als Abbild einer gesellschaftlichen Gegebenheit faktualisiert werden kann. So ist es möglich, die besondere Kunstfertigkeit der Budapester zu erkennen und diese Kunstfertigkeit gleichzeitig als wesensecht zu interpretieren. Dazwischen eröffnete sich ein weiter Interpretationsspielraum, der auch die heftige Kontroverse rund um Die Klabriaspartie befördert haben mag. Anton Kuh, Journalist und Kraus-Kontra– 84 –

hent, entschied sich in seiner Deutung ebenfalls gegen das artifizielle Körperspiel und dafür, bei den Budapestern eine besondere Wahrhaftigkeit erlebt zu haben. 1924 schrieb er: »[Ü]berall, wo Kunst gemacht wird, [schlüpft] der nackte Leib unseres Alltags in ein Stil-Hemd. Aber bei den Wiener ›Budapestern‹ […] war (und zwar nur anfangs im obszönen Sinne) absolute Nacktheit die Parole!«

Ein »urkomischer Mensch« Der Wunsch, ein echtes Wesen hinter der Fassade einer Schauspiel- oder Sozialrolle zu erkennen, wird nicht nur an das Schauspiel der Budapester Orpheumgesellschaft heran­ getragen. Um 1900 tritt eine allgemeine Tendenz zur Authen­ tisierung von Schauspiel und Menschsein offen zutage: Echte Innerlichkeit wird als neue Möglichkeit des gesellschaftlichen Daseins erprobt, skeptisch bewertet man Rollenspiel im Alltag. Bürgerlicher Habitus und adliges Zeremoniell geraten neuerlich in den Verdacht der Täuschung, Lüge und Verstellung. So lesen sich die Rezeptionsnotizen zu den Budapestern als äußerst zeitgenössisch – sie buchstabieren anthropologische Anschauungen in Bezug auf schauspielerische Praktiken aus. Allerdings wird das theatrale Spiel der Budapester nicht nur vor dem allgemeinen weltanschaulichen Paradigma als wesenhaft und »lebensecht« bewertet. Es wird zusätzlich mit der mehrheitlich jüdischen, konkret osteuropäisch-jüdischen Herkunft der Ensemblemitglieder verknüpft – und beleuchtet so, wie sich das Verlangen nach Authentizität auf jüdische Erfahrungen der Moderne ausgewirkt hat. Wie Eisenbach fand auch Max Rott seinen Weg über die Volkssängerszene in Budapest nach Wien zur Orpheumgesellschaft. Seine jüdische Herkunft und seine Migrationsge– 85 –

schichte wurden rasch in die Rezeption seines Schauspiels mit einbezogen. So verdichtete Josef Koller in seiner Chronik des Wiener Volkssängertums in alter und neuer Zeit Rotts Biografie zu einer jüdischen Migrations- und Akkulturationsgeschichte par excellence. Als Sohn des Großkaufmanns Rottmann 1863 in Radmino (heute Radymno, Polen) geboren, sei er in den »strengen Sitten der Hebräer« erzogen worden, habe jedoch lieber Lieder vorgetragen, daraufhin das Elternhaus verlassen, seine Locken entfernt und in den Gasthäusern Lembergs und Przemyśls gesungen. Die jüdischen Rollen, schreibt Josef Koller weiter, habe er bei den Budapestern schließlich sehr wahrheitsgetreu gespielt. Als Max Rott Anfang 1922 im Sterben lag, blickten eine Reihe von Journalisten auf seine Migrationsbiografie und Wiener Karriere zurück und verknüpften beides miteinander. Die zionistische Wiener Morgenzeitung erinnerte daran, dass Max Rott aus Polen nach Wien gekommen sei: »Er ist einer der vielen Beweise, wieviel Begabung in dem so viel verspotteten und verachteten Ostjudentum steckt.« Einige Wochen zuvor hatte die Zeitung bereits über Rott berichtet und die Budapester Orpheumgesellschaft zwar der Verspottung und Selbsterniedrigung jüdischen Wesens bezichtigt, Rott selbst aber als begnadeten Komiker gewürdigt, als einen von denen, »die ohne Mätzchen, ohne Uebertreibungen wirkten, weil ihr ureigenstes Wesen eine Humor ausstrahlende Sonne ist«. Anton Kuh verglich ihn mit der Figur des sogenannten »großen Chinesen«, die zu den ikonischen Attraktionen des Wiener Wurstelpraters gehörte und überlebensgroß in der Mitte eines lokomotiv-betriebenen Ringelspiels stand. Max Rott sei, so Kuh, ein »Chineser im Prater galizisch-deutscher Zunge«, seine Komik beruhe auf dem Prinzip des »überragenden mittelpunktbildenden Gleichbleibens eines noch so einfachen, noch so von der Straße übersiedelten, noch so urkomischen – 86 –

Menschen«, als solcher stehe er in der Mitte affektbeweglicher Individuen: »Er war einfach, von der Straße geholt und an sich urkomisch.« Als »Galizianertypus« sei er mit dem Hut auf dem Kopf in seinen Possen zu Gast, »wie seine Landleute in den Kaffeehäusern«. Ein Kritiker des Neuen Wiener Journals kommt zu einem ähnlichen Schluss: Rott habe in den seltensten Fällen »Maske gemacht«, »und auch dann gelang es ihm nicht, sich unkenntlich zu machen«. Er sei kein Fregoli (Leopoldo Fregoli, italienischer Verwandlungskünstler, 1867–1936) gewesen, »vielmehr eine so starke Persönlichkeit, daß sie immer wieder deutlich und kraftvoll durchschlug«. So verfestigten sich im Lauf des Wirkens der Budapester zwei ideengeschichtliche Annahmen zu einer größeren Erzählung: Über verschiedene gesellschaftliche und politische Lager hinweg wird in der öffentlichen Debatte fast unisono die Beobachtung geteilt, dass Max Rott als er selbst auf die Bühne trete. Sein Schauspiel wird damit nicht als Spiel, Verstellung oder Verwandlung wahrgenommen, sondern als deckungsgleich mit seinem »Innersten« und damit als besonders echt, wahr und authentisch. Diese diskursiv hergestellte Authentizität von Rotts Spiel gründet auf seiner Herkunft. Seine Darbietung jüdischer Figuren ist für ein zeitgenössisches Publikum wahr, weil er selbst jüdisch ist; sein schauspielerisches Talent wird auf seine Zugehörigkeit zurückgeführt oder mit dieser gleichgesetzt. Dass dem Ensemble großteils Mitglieder jüdischer Herkunft angehörten, die jüdische Figuren auf der Bühne erschufen, veranlasste viele Zuschauende, im Spiel des Budapester Orpheums die Realität osteuropäischen Judentums wahrhaftig verwirklicht zu sehen. Die Presse nahm Die Klabriaspartie bereits 1892 als »so sehr aus dem Leben gegriffen« wahr. Diese Rezeptionshaltung bestärkte den Eindruck, einer durch das Ensemble leibhaftig werdenden – 87 –

jüdischen Theatralik beizuwohnen. So schrieben die Kritiker und Literaten implizit eine seit der Neuzeit virulente Erzählung fort, nach der Juden im Leben ein besonderes schauspielerisches Talent besäßen, das sich nun auf der Theaterbühne als besondere Qualität erweise. Die Erzählung umreißt dabei Erfahrungszusammenhänge und Zuschreibungen, die jüdische Zugehörigkeit und Konzepte von Schauspiel auf konträre Weise verbinden. So wird seit dem 19. Jahrhundert die Akkulturation von Jüdinnen und Juden in ihre jeweiligen Umgebungsgesellschaften als Projekt von grundsätzlich theatralem Gehalt beschrieben. Die »bürgerliche Verbesserung der Juden« sowie ihr Streben nach gesellschaftlicher und damit auch habitueller Zugehörigkeit wurde innerjüdisch als Herausforderung für die Sozialrolle wahrgenommen, wobei zur Beschreibung dieser Akkulturationserfahrung Theatervokabular Verwendung fand. Zeitgleich wird das jüdische Streben nach Zugehörigkeit mit demselben Vokabular als Rollenspiel oder in negativer Absicht als »Camouflage« gewendet. Der antisemitische Vorwurf, Jüdinnen und Juden tarnten sich in christlichen Umgebungsgesellschaften, findet sich umgekehrt auch in der Behauptung, insbesondere osteuropäische Juden seien nicht in der Lage, den Anforderungen einer bürgerlichen Sozialrolle gerecht zu werden. Sie würden deswegen vielfach »aus ihrer Rolle« fallen und dabei eine urwüchsige, angeborene Theatralik offenbaren. Einen direkten Zusammenhang zwischen osteuropäischjüdischer Herkunft und besonderer Theatralik legten indes auch Wiener Juden nahe, die selbst aus bürgerlich-akkulturierten Haushalten stammten und nun glaubten, in osteuropäischen Bevölkerungsschichten, die sich stärker an jüdischen Traditionen orientierten, eine ursprünglichere, noch nicht bürgerlich überformte Daseinsweise entdeckt zu haben. So erfuhr das Narrativ von einem besonderen jüdi– 88 –

schen theatralen Talent wiederum eine nostalgisierende, romantisierende oder exotisierende Wendung, in der eine vermeintliche jüdische Urtheatralik als authentisch positioniert und so als positives Beispiel gegen ein entfremdetes Dasein in der Moderne gesetzt werden konnte. Felix Salten suchte eine jüdische Affinität zum Theater(spiel) in den Zwängen des Diasporadaseins zu begründen. Er erkannte in Heinrich Eisenbach einen Vertreter eines erniedrigten Volkes und in seinem humoristischen Spiel also ein widerständiges Moment: Der Humor stecke Eisenbach »im Gemüt«. Um 1900 überlagerten sich auf diese Weise Vorstellungen des Jüdischen und diverse Konzepte von theatralem Handeln. So entstand eine spannungsvolle Verbindung zwischen Theater- und Sozialrollen, die ebenso mit- und gegeneinander gedacht wurden, wie sich Ideen von theatralem und authentischem Sein verwoben und  – je nach Perspektive, Ideologie und Theaterbegriff – auf unterschiedlichste Weise zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden. Die Frage, ob und warum Juden eine gewisse Affinität zu Schauspiel und Theater hegen könnten und wie soziales Rollenspiel im Leben mit einem Talent für Theaterrollen korrespondiere, beförderte zur Jahrhundertwende kontroverse Erklärungsansätze, die auch Felix Salten umtrieben. Noch vor seinen Beiträgen zur Behauptung, etwas oder jemand sei »echt jüdisch«, veröffentlichte Salten eine andere Artikelserie in der Zeitung Die Welt, um das Verhältnis von Judentum und Theater näher zu bestimmen. Salten war bereits als Burgtheaterreferent der Wiener Allgemeinen Zeitung hervorgetreten und begann nun für die zionistische Welt unter der Herausgeberschaft Theodor Herzls zu schreiben. Der Zeitpunkt für die Artikelserie im Februar 1899 war dringlich, seine Argumentation von gesellschaftspolitischer Brisanz. In den Wochen und Monaten zuvor hatten konservative Volkstheater­vereine und Politi­ – 89 –

ker gegen die jüdische Präsenz im Theaterbetrieb opponiert und kulturpolitische Tatsachen geschaffen. Die Direktion des Grazer Stadttheaters etwa sollte laut städtischem Beschluss nicht an einen jüdischen Bewerber übertragen werden. Im Dezember 1898 feierte das Wiener Kaiser-Jubiläums-Theater (heute Volksoper) seine Eröffnung, das zum 50. Thronjubiläum Franz Josephs auf Initiative eines Bürgervereins gegründet worden war und dezidiert jüdische Künstlerinnen und Künstler ausschloss. Theodor Taube, Herausgeber des Figaro und Theaterautor, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein weiteres Theaterprojekt mit antisemitischer Programmatik angestoßen, um die Zahl jüdischer Theaterschaffender zu verringern. In seiner Serie Das Theater und die Juden griff Salten den antisemitischen Anwurf, die österreichische Theaterlandschaft sei »ver­judet«, direkt und offensiv auf: »Ich will nur bekräftigen, was die Antisemiten behaupten: jawohl, die Juden gehen fleißiger und eifriger ins Theater als andere Leute; die Juden schreiben Stücke, componieren Opern, und einige von ihnen sind dadurch sogar berühmt geworden; sie sind Schauspieler, manchmal sogar große Schauspieler, Directoren, Dirigenten, kurz alles Mögliche. Das ist nun einmal nicht zu leugnen. Man muss sogar zugestehen, dass es den Juden beim Theater sogar besser ergangen ist als in anderen Berufszweigen. Ihre Abkunft und ihre Religion hat hier ihre Carrière selten behindert, sie konnten – immer alle sonst erforderlichen Qualitäten vorausgesetzt – zu den höchsten äußeren Ehren dieses Berufes gelangen.«

In den folgenden Artikeln wendet Salten das antisemitische Urteil kritisch und macht es für eine moderne zionistische Bewegung lesbar. Für die von ihm argumentierte enge Verbundenheit der jüdischen Bevölkerung zum Theater findet – 90 –

er differenzierte Erklärungen demografischer, religiöser, gesellschaftspolitischer und soziologischer Art – und mischt diese mit essenzialistischen Denkweisen. Er gründet eine jüdische Schauspielkunst religiös in der tänzerischen Begabung König Davids und misst dann der jüdischen Außenseiterstellung und dem Wunsch nach Zugehörigkeit ein thea­ trales Potenzial bei. Theater sei eine sinnfällige Befreiung aus langer Abgeschlossenheit, »in dieser Welt der Vorstellungen, in diesem Carneval sinnreicher Verkleidungen, durften sie den Juden ablegen«. Die lange Zeit des Außenstehens und Beobachtens befähige Juden zu einem besonders durchdrungenen, die Umgebungskultur produktiv bereichernden Spiel, das nun atavistisch hervortrete. In seinem Artikel zur »Schauspielerei« argumentiert Salten das jüdische Theaterspiel als ein besonders theatralisches. Die jeweiligen »nationalen [Theater-]Anstalten« hätten durch jüdische Schauspieler ein tieferes, grelleres »Colorii« erhalten. Die »Sinneslust der Juden, die wir ganz ruhig eingestehen können«, habe Liebesszenen »dunkler gefärbt« und Tragödien einen wuchtigen Zug ins Dämonische verliehen. Überhaupt sei jüdisches Spiel organischer, schreibt Salten und negiert damit Imitation als Komponente von Schauspiel: Das Theaterspielen der Juden sei – mehr noch als jede ihrer Kunstübungen – von Nach­ahmung frei, es sei ihnen eigentümlich, von einer »wahrhaften Volksthümlichkeit«: »Wo immer sie auch spielen, was immer sie auch verkörpern […], immer ist es der tausendjährige Schmerz des Judenthums, den sie agieren. Er haftet an ihren traurigen und an ihren fröhlichen Mienen, und ist kenntlich von Hamlet an bis zum Simon Dalles in der Klabriaspartie.«

So gerät auch Salten in eine argumentative Schleife, die immer wieder auf eine jüdische Wesenhaftigkeit zurückführt – 91 –

und derzufolge Juden theatralisch und darin eben besonders authentisch agieren. Die Vorstellungen des Jüdischen, die die Budapester Orpheumgesellschaft in der Klabriaspartie mittels artifizieller Körperlichkeit auf die Bühne bringt, werden mit diesem Argumentationsmuster im Lauf der Rezeptionsgeschichte ebenfalls authentisiert. Ihre Körper stellen geformte Artifizialität offen zur Schau und werden dennoch als authentisch rezipiert. Das kulturhistorische Narrativ vom »theatralischen Juden« schlägt schließlich die Brücke zwischen Posse und Leben, Theaterrolle und Sozialrolle, äußerer Erscheinung und innerem Wesen. Im März 1922, zum Tod Max Rotts, bringt der Journalist der Wiener Morgenzeitung diese engführende Annahme, jüdisches Schauspiel sei mit der Sichtbarmachung eines inneren, jüdischen Wesens verbunden, pointiert auf den Punkt – und wendet sie gleichfalls gegen die Schauspielenden selbst. Rott habe mit seinem berüchtigten Ensemble die jüdische Pariastellung verschärft: »Man erblickte in Rott nicht einen genialen Karikaturisten, sondern einen Repräsentanten des Judentums. Das Volkssängertum der Rott, Eisenbach usw. erschien den Wienern als praktischer Ergänzungskurs zu den politischen Lehren der Volkssänger Lueger, Vergani usw. Der jüdischnationale Gedanke hat auch auf diesem Gebiete einen Wandel zum Besseren gebracht. Mit Max Rott ist nicht nur eine künstlerische Persönlichkeit, sondern auch ein künstlerischer Typus dahingegangen. Die ostjüdische Kunst hat sich erhebendere Ziele gesetzt als die Travestierung des eigenen Volkstums und wir sind gerade in diesen Tagen Zeugen des Triumphs, daß sich in dem Wien der bankrotten ›Budapester Orpheumgesellschaft‹ die Freie jüdische Volksbühne achtunggebietend durchzusetzen vermag.«

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Jenseits der Bürgerlichkeit Die Budapester Orpheumgesellschaft geriet mitsamt ihrer Klabriaspartie nicht nur in den Fokus von Antisemiten; zionistische und nationaljüdische Kreise kritisierten das Ensemble gleichfalls, da es die Hervorbringung einer nationalen jüdischen Identität und Kultur behindere. Das Genre der Posse, das keine qualitativ hochwertige Literatur hervorbringe und auf Improvisation und schlechtem Witz gründe, wird im Verbund mit der Singspielhallenund Volkssängerszene als »nieder«, anrüchig und im bürgerlichen Sinn unsittlich positioniert. Tatsächlich ist das artifizielle Körperspiel dazu geeignet, sowohl Konzepte eines dramenzentrierten Theaters als auch ein normiertes Verständnis vom modernen, zivilisierten Körpergebaren zu unterlaufen. Fasziniert von diesem entgrenzenden Spiel, beschreibt Alfred Polgar die Posseninszenierungen der Budapester und konkret das schauspielerische Agieren Rotts und Eisenbachs als tierhaft. Etwa wenn er von den »schweinernen Äuglein« und dem »aggressiven Schafsgesicht« Max Rotts schwärmt und von seinem Grinsen berichtet, »bei dem das ganze Gesicht zerrann«. Eisenbach habe hingegen etwas von einem Affen, »auch dessen potenzierte Possierlichkeit«. In der tierisch-grotesken Attribuierung schwingt Polgars Faszination für ein expressives Spiel mit, das sich jenseits veristischer Menschenausdeutung, bürgerlicher Körperordnungen und des Literaturtheaters zu positionieren sucht, für ein Spiel, das die zur Verhandlung stehende Humanitas körperlich-leiblich befragt und damit stetig Gefahr läuft, ins Tierisch-Monströse, ins »Unsittliche« abzugleiten. Dementsprechend wird moralisch abgeurteilt – der jüdische Autor Alfred Deutsch-German beschreibt in seiner proto– 93 –

soziologischen Studie Wiener Mädel etwa den schädlichen Einfluss der Klabriaspartie auf Leopoldstädter (also: jüdische) Frauen, während er die erzieherischen Effekte eines Burgtheaterbesuchs für Vorstadtmädchen anerkennt. Noch 1931 schreibt Jacques Hannak in seiner Retrospektive, eine gesittete Wienerin habe die Budapester nur besuchen dürfen, »wenn sie mindestens zehn Jahre Ehe hinter sich und womöglich schon Drillinge geboren hatte«. Bei den Budapestern steht damit eine Spielpraxis zur Diskussion, die Typen anstelle psychologisierter Rollen auf die Bühne bringt und sie mittels gestischer und mimischer Fertigkeiten ausgestaltet. Dass diese Fertigkeiten des Possenschauspiels oft nicht als techné erkannt, sondern als authentischer Ausdruck einer ersten Natur rezipiert werden, erhellt letztlich nicht nur anthropologische und schauspieltheoretische Positionen der Moderne, die possenhaftes, groteskes und leibliches Spiel tendenziell moralisch abwerten, romantisieren oder in den Zuständigkeitsbereich der Avantgarde verweisen. Es legt vor allem Mechanismen der Authentisierung jüdischen Seins offen, das in einer paradoxen Wendung gerade dann als besonders echt erkannt wird, wenn auf einer Bühne hochartifizielle Projektionen des Jüdischen in Erscheinung treten. Im November 1911 fand am Leopoldstädter Bezirksgericht den überlieferten Berichten zufolge kein Prozess wegen eines Klabriasspiels statt, dafür hatte Richter Tietze eine Ehrenbeleidigungsklage zu entscheiden. Der Schauspieler Richard Waldemar prozessierte gegen den Tenor Willi Strehl, da dieser ihn in Gegenwart des gesamten Chores einen Lügner genannt habe. Die Rekonstruktion des Vorfalls bescheinigte den Budapestern, die gar nicht direkt in den Vorfall verwickelt waren, einen gesamtgesellschaftlich miesen Leumund. Laut Aussagen der Prozessierenden hatte – 94 –

sich Anfang November unter der Belegschaft des Carltheaters in etwa Folgendes zugetragen: Der Tenor Willi Strehl habe sich beschwert – so behauptet Waldemar –, dass am Carltheater »ärger wie bei den Budapestern« Komödie gespielt werde. Dies habe Waldemar dem Theaterdirektor Siegmund Eibenschütz gemeldet, der daraufhin Strehl aufgefordert habe, sich für diese Aussage zu rechtfertigen. Sehr erregt habe Strehl daraufhin von Waldemar Zeugen für diese Äußerung gefordert – sonst erkläre er ihn zum Lügner. Eine solch »abfällige Äußerung« habe er nie getätigt! Dementgegen erklärte Richard Waldemar nun vor Gericht, dass zwei Schauspieler, der Friseur Schittentopf und ein gewisser Herr Kumpa die »abfällige Bemerkung« bezeugen könnten. Er selbst sei äußerst gekränkt worden, eine derartige Herabsetzung des Theaters habe er verhindern wollen und deswegen den Direktor informiert. Strehl sei ein unverträglicher Mensch mit zahlreichen Affären, überhaupt und insbesondere nach diesem Vorfall sei er, Waldemar, froh, jetzt an einem anständigen Theater zu spielen. Die Verhandlung wird vertagt, die genannten Zeugen werden vorgeladen  – während Karl Kraus in der Fackel gleich zweimal zur außergerichtlichen Verteidigung der Budapester anhebt und mit seiner Fürsprache zugleich gegen nationaljüdische Ansichten wie gegen antisemitische Vorwürfe schreibt. Kein Wort der Anerkennung sei für die Schauspieler der Budapester zu viel, der Spott liege nur bei jenen »Theaterleuten ödesten Kalibers«, die den Vergleich mit den Budapestern als Schmähung beabsichtigt und empfunden hätten. Die Budapester aber, schreibt Kraus, müssten es sich gefallen lassen, »für die Zweideutigkeiten der Welt, die sie zur Kunst erheben, verantwortlich gemacht und hinter das schäbigste Operettenvergnügen gestellt zu werden, dessen traurige Spender sich durch einen Vergleich mit ihnen ›beleidigt‹ fühlen«. – 95 –

Wiener Typ Nr. 16 (1873)

Ein Mann posiert für einen Fotografen vor einer Alt-Wiener Hofkulisse (Abb. 7). Er trägt einen Hut und hält Lumpen und abgetragene Schuhe in den Händen. Sein Porträt wird kurze Zeit später im Visitformat entwickelt, nummeriert, auf Karton geklebt und nach Kundenwunsch handkoloriert. Es erhält den Titel »Hausjude. Hand’ln« und wird als Teil der Fotoserie Wiener Typen in verschiedenen Varianten zum Kauf angeboten. Vermutlich im Jahr 1874 erwarb Konstantin Danhelovsky (1857–1939), Hofrat aus Wien, eine dieser Fotografien für seine Theatersammlung. Bis zu seinem Tod hatte der Jurist über 50 000 Porträts zusammengetragen, die schließlich in die Sammlung des Wiener Theatermuseums eingingen. Dort hat die handkolorierte Fotografie mit der Nummer  16, von Danhelovsky akkurat beschriftet und mit einem Namensstempel versehen, auf einer festen, leicht angegilbten Pappe die Zeit überdauert. Varianten dieses Wiener Typs, des sogenannten »Hausjuden«, aufgenommen vom selben Fotografen und derselben Serie zugeordnet, sind auch im Bildarchiv Austria aufbewahrt. Die Frage, warum Konstantin Danhelovsky die Fotografie eines jüdischen Hausierers für seine Sammlung von Theaterporträts erwarb und weshalb sie sowohl im Bildarchiv der Nationalbibliothek als auch im Theatermuseum verwahrt wird, berührt den Entstehungskontext der Fotografie. Das Typenporträt eines jüdischen Hausierers birgt die Geschichte einer Begegnung zweier Wiener Persönlichkeiten und verweist darüber hinaus auf Imaginationen des Jüdischen im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

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Abb. 7: Otto Schmidt, Hausjude. Hand’ln. Nummer 16, Serie Wiener Typen, 1873/1878. © KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien.

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Sommer 1873 Das Jahr 1873, in dem der Fotograf Otto Schmidt seine Serie Wiener Typen begann, ging als das Ausstellungs- und Krachjahr in die Wiener Geschichte ein. Am 1. Mai eröffnete Kaiser Franz Joseph die Weltausstellung auf dem Gelände des Praters, es regnete in Strömen. Nach London und Paris (1851 und 1862 beziehungsweise 1855 und 1867) war Wien Gastgeberin der fünften Weltausstellung, die als überwältigende Leistungsschau der industriellen Moderne geplant war. Die Stadt erwartete Aussteller aus 39 Ländern, die in den folgenden Monaten einem erwarteten Millionenpublikum in thematisch unterteilten Hallen und in über 200 Pavillons Kunst-, Agrar- und Industrieprodukte präsentieren wollten. Das Vorhaben sollte eine Enttäuschung werden. Nur acht Tage nach der Eröffnungszeremonie platzte eine schon tagelang beobachtete Spekulationsblase endgültig, Bankunternehmen meldeten Konkurs, die Polizei räumte die Wiener Börse. Nicht allein der Börsenkrach dieses »schwarzen Freitags« dämpfte die Ausstellungseuphorie jäh. Eine letzte große Choleraepidemie sorgte zusätzlich für Verunsicherung. Sie erreichte Wien im Sommer 1873, trat zuerst unweit des Pratergeländes im neu eröffneten Hotel Donau, dem mit 280 Betten bis dato größten Hotel der Monarchie, auf und führte zu zahlreichen vorzeitigen Abreisen. Wenn die Ausstellung auch bis zu ihrem Finale hinter den Besuchererwartungen zurückblieb, so veränderte sie doch in diesen »Ausstellungsund Krachmonaten« das Gepräge einer Stadt, changierend zwischen kaiserlicher Residenz und moderner Großstadt, wesentlich. Zahlreiche Bewohnerinnen und Bewohner waren in die Unternehmung auf dem Prater, dem ehemaligen kaiserlichen Jagd- und Erholungsgebiet, eingebunden oder versuchten, von deren internationaler Strahlkraft zu profitieren. – 98 –

Schon Monate vor Ausstellungseröffnung wurde über das Verfügungsrecht des Pratergeländes gestritten. Der Generaldirektor der Schau, Wilhelm Freiherr von SchwarzSenborn, versuchte, Hausierende vom Prater auszuschließen, scheiterte jedoch an der zuständigen Statthalterei, die ein Hausierverbot nur für den Ausstellungsrayon aussprach. Folgerichtig boten Hausierende in der Hoffnung auf Kundschaft ihre Waren im unmittelbaren Umfeld des Praters an, sahen sich dabei aber polizeilichen Schikanen ausgesetzt. Die fotografische Vermarktung der Ausstellung hatte sich die Photographen-Association gesichert und schon während der Bauphase mit einer umfassenden Dokumentation des Geländes und der entstehenden Pavillons begonnen. Viele der Gebäude wurden nicht oder nur knapp vor der Eröffnung fertiggestellt, die ganze Nacht hindurch und noch bis zum späten Vormittag des 1. Mai arbeiteten Bauleute, Gärtner und Dekorateure. Die ersten Gäste begegneten »langen Zügen von Arbeitern, die erst jetzt Hacken und Schaufel niedergelegt und die Röcke um die Schultern genommen haben. Auf dem Rotundendach klettern noch Arbeiter herum«, so berichtete es Max Nordau, der als Feuilletonist für den Pester Lloyd aus Budapest entsandt worden war, vom Eröffnungsmorgen. Theaterdirektor Johann Fürst (1825–1882) hingegen konnte sein Fürsttheater, das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ausstellung im angrenzenden Wurstelprater lag, rechtzeitig renovieren und wiedereröffnen. Er entschied sich, die Sommersaison 1873 mit einer Possennovität zu beginnen, in der anlässlich der Ausstellung die Wiener Gastfreundschaft gefeiert wurde und in der Fürst selbst den altruistischen Hausherrn Georg Wiener gab, der sein Haus in eine Touristenherberge wandelt. Das Neue Wiener Tagblatt beschied der Handlung zur Premiere einen gewissen Idealismus, der durch die »echt wienerische Gemüthlichkeit«, – 99 –

die Fürst in die Darstellung lege, sogar glaubhaft werde. Gäste aus Tirol, Ungarn und der Steiermark genossen in der Posse die Gastfreundschaft und auch ein Böhme verkehrte in Wieners Haus: Martin Kräuser (1839–1898), der Publikumsliebling in Fürsts Truppe, gab den »Dorliezel aus Böhmen«. Seit Beginn seines Engagements am Fürsttheater brachte Kräuser mit großem Erfolg böhmische und jüdische Figuren auf die Bühne und auch im Sommer 1873 trat er in gewohnter Weise auf. Das Publikum konnte so der typisierten Festschreibung eines Böhmen im Fürsttheater beiwohnen, anschließend quer durch den Wurstelprater spazieren und durch das gewaltige Südportal der Rotunde, auf deren Spitze eine vergoldete Kaiserkrone prangte, den Zentralbau der Weltausstellung betreten. Dort warteten Präsentationen der »im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Österreichs«, zu denen auch Böhmen gehörte: In kleingliedrige Gruppen und Sektionen systematisiert, wurden etwa böhmische Wachs- und Salonzündhölzchen, Schafwollartikel, Hopfenprodukte und die Bierproduktion sowie das Bergbau- und Hüttenwesen beworben; ein Krämer aus Ober­ politz hatte Vogelleim, Kiefern-, Fichten- und Kleesamen zur Schau nach Wien gebracht. Jener Teil der Ausstellung, der sich von der Rotunde aus in den angrenzenden Industriepalast erstreckte, war in 16  Höfe unterteilt, in denen neben der Habsburgermonarchie unter anderem Russland, Griechenland und die Türkei ausstellten. In Hof 13a, links an die Textil- und Bekleidungsindustrie und rechts an ungarische Aussteller grenzend, hatte der Verleger Adolf F. Czihak aus Wien seinen Stand aufgeschlagen. Czihak war der Gruppe  XII »Graphische Künste und gewerbliches Zeichnen« und darin der Sektion  V »Photographie« zugeordnet. Als Teilnehmer 11 der Collectiv-Ausstellung der Photographen Wiens zeigte Czihak, der unter – 100 –

anderem Rollenporträts der Burgtheater-Tragödin Charlotte Wolter, kaiserliche Jagdfotos und ein variantenreiches Portfolio an Abbildungen der Volkssängerin Fiakermilli vertrieb, »schwarze und übermalte Photographien«, Stereoskope sowie »Gegenstände zur Aufbewahrung«. Während der Ausstellungsmonate begann ein Mitarbeiter Czihaks, Otto Schmidt, mit der Fotoserie Wiener Typen, die mit ähnlich universell-enzyklopädischem Anspruch, wenn nicht die Welt, so doch die prekär gestellte Wiener Bevölkerung zu ordnen suchte und damit ganz im Sinn der Weltausstellung und ihrer kleingliedrigen Systematisierung von Welt und Wissen entworfen war. Dieser Serie zugeordnet, gefertigt 1873/74 und einsortiert zwischen den Porträts der Öbstlerin und dem Milchmädl befand sich der Typ mit der Nummer 16, die Abbildung eines jüdischen Hausierers.

Wiener Typen Otto Schmidt (1849–1920), an der Wiener Kunstgewerbeschule zum akademischen Maler ausgebildet, arbeitete ab 1872 als technischer Operateur und Fotograf bei Czihak, der an prominenter Adresse im Graben des ersten Wiener Gemeindebezirks seinen Verlag & Haupt-Depôt für Photographie und Stereoscopie betrieb. In diesem auf Kunst- und Fotodrucke spezialisierten Verlag legte Schmidt den Grundstein für seine fotografische Laufbahn. Hier fertigte er zahlreiche der damals in Mode gekommenen Sammelbildreihen. Mit der ersten, 42 Nummern umfassenden Serie, den Wiener Typen, begann er just im Weltausstellungsjahr. Sie erschien in den üblichen Kleinformaten und zeigte in nummerierter Abfolge vermeintliche Wiener Originale, den Hausmeister oder die Öbstlerin genauso wie einen jüdischen Hausierer. – 101 –

Beginnend mit dem Typenporträt des Fiakers, der auf seiner Kutsche sitzend einem weiblichen Fahrgast den Hut zum Gruß hebt und den man dabei in Gedanken die titelgebende ikonische Formel »Fahr’ mer Euer Gnad’n« sagen hört, porträtierte Schmidt ein Sammelsurium des Wienerischen, das sich im Ganzen zu einem Reigen der unteren Stände der Stadt fügte. Das Wäschermädl oder die Prostituierte (als »Grabennymphe« bezeichnet und bei Schmidt betitelt mit: »Am Graben. Ob schön, ob Regen«) werden ebenso wie Hundeverkäufer, Stiefelputzer oder Pfannenflicker in typischer Umgebung, vor einer meist als Fototapete erkennbaren Straßenkulisse porträtiert. Der Wiener Typ Nr. 16 ist in mehreren Variationen überliefert und zeigt einen vermeintlichen jüdischen Hausierer etwa in einem Alt-Wiener Hinterhof stehend, seine Waren  – Lumpen, Kleider, geflickte Schuhe aus zweiter oder dritter Hand  – über die Schulter gehängt und in den Händen tragend. Er steht damit, ebenso wie der Hausmeister, der HäferlVerkäufer und die Lumpensammlerin, die alle vor derselben Fassade aufgenommen sind, zeitlich entrückt in einer nostalgisch referenzierten Alt-Wien-Kulisse – als eine fotografisch vergegenwärtigte Imagination, als untrügliches Indiz dafür, dass diese verklärte Vorstellung eines biedermeierlichen Straßenbilds einmal tatsächlich existiert habe. Zur Bekräftigung der mustergültigen Dokumentation eines Originals in seiner Umgebung tragen alle Typen Utensilien, die ihre Zugehörigkeit rasch sichtbar machen. Erscheinung, Kleidung, Haltung und Mimik der Porträtierten gerinnen zur kulturellen Komposition eines feststehenden und physiognomisch erkennbaren Typen. Suggerierte die Form einen gewissen Realismus, war der Inhalt Produkt einer künstlerischen Praxis, mit der Schmidt Individuen zu Typen ausgestaltete. Mithilfe von Requisiten und Körperhaltungen erschuf er diese als überindividuelles Gesamtwerk, – 102 –

das – wie im »Bildakt« von Horst Bredekamp theoretisiert – wechselseitig Wirklichkeit stereotypisierte und als stereotypisierte Vorstellung auf die Wirklichkeit Einfluss nehmen konnte. Die Bildtitel geben den Fotografien eine zusätzliche, akustisch-sprachliche Dimension und bestärken damit den ersten Seheindruck. Sie nennen nicht nur die (Berufs-) Bezeichnungen der Figuren, sondern führen auch fixe Rufe an, anhand derer sich die lebendigen Vorbilder dieser Typen im öffentlichen Raum hörbar machten. Dem jüdischen Hausierer ist sein Ruf »Hand’ln« im Bildtitel mitgegeben, weitere reisende Händlerinnen und Händler bewerben in ihren Porträts Spielzeug, Töpfe (Häfen) oder Strohdecken im jeweiligen Dialekt – »Kafens Spielelei«, »Häfen kafte!« – manchmal gar in typografisch angedeuteter Rhythmik mit Wiedererkennungswert: »Stroh  …  dack’n!« (Wiener Typ Nr. 28). Otto Schmidt setzte so kollektiv stabilisierte Sozialrollen ins Bild. Seine Porträts fügen Bildtitel, Kulisse und Habitus zu einer Gesamtkomposition, die den jeweiligen Typ als nunmehr ikonografisch fixierte und im Stadtbild erkennbare Größe in einen gesellschaftlichen Kosmos integriert. Dabei reagierten Schmidts Wiener Typen auf gewachsene künstlerische Konventionen. Sie fügten sich ein in eine paneuropäische und für Wien spezifizierte Bildtradition, die im 18. Jahrhundert populär wurde und bekannte Straßenfiguren typisiert in Szene setzte. Mit den sogenannten Kaufrufen gelangte dieser Bildkanon in adlige und bürgerliche Wohnräume. Der Wiener Kaufruf, 1775 aus der k. k. Kupferstecherakademie Johann Christian Brands hervorgegangen, zeigte Stiche »nach dem gemeinen Volke«, sogenannte Wiener Originale, wie das »Milchweib« oder den »Trödeljud«. Der Titel der Stichserie bezog sich auf die Kaufrufe der jeweiligen Händlerinnen und Händler: eingängigmelodiöse Formeln, mit denen sie ihre Waren auf der Straße – 103 –

bewarben. Diese »Suite von verschiedenen aus den gemeinen Ständen der hiesigen Einwohner gewonnenen Charaktere[n] nach der Natur« wurde stark nachgefragt und insbesondere für ein bürgerlich-höfisches Zielpublikum vertrieben, das die pittoresken, zierlichen Figuren und deren sozial prekäre Geschäftstätigkeit mit herrschaftlichem Blick und in adligem Dekor ästhetisierte. Die Idealisierung »einfacher« Lebensumstände durch privilegiertere Gesellschaftsschichten war bereits zwei Jahrzehnte zuvor für die Ausruferfiguren der Porzellanmanufaktur Augarten programmatisch. 65 solcher Porzellanfiguren, die nur für kaufkräftigere Kreise erschwinglich waren, produzierte die Manufaktur nach dem Vorbild der Cris de Paris. Im Lauf des 19. Jahrhunderts begannen die Wiener Typen zu proliferieren; sie differenzierten sich in Literatur, Theater und Grafik, im Wienerlied und im Feuilleton aus. Über die Jahrzehnte manifestierte sich so ein Repertoire, das die Gestalt und Lesbarkeit einzelner Typen konventionalisierte. In dieser bildgewordenen Vorstellungswelt garantierten feste Merkmale die rasche Wiedererkennung der Typen – in zahlreichen Bildern raucht der Schusterbub’ die Zigarette lässig in den Mundwinkel gehängt  –, während sie gleichfalls auf Ideologien ihrer Zeit reagierten. Anton Zampis vorrevolutionäre Lithografien Wiener Charaktere (1844/47) trugen sozialkritische Züge, während die Feuilletonskizzen des späteren 19. Jahrhunderts von Eduard Pötzl, Vincenz ­Chiavacci oder Friedrich Schlögl literarische Typen als gegenmoderne Antwort auf soziale Umwälzungen situierten. Parallel bevölkerten die Typen die Theaterbühnen der Stadt. Im Theater in der Josefstadt standen Würstelbuben, Zeitungsverkäufer, Fiaker, Dienstmädchen, Fleischhauerjungen und auch typisierte »polnische Juden« auf der Bühne  – sogar auf dem Theatervorhang, der eine Wiener Straßenszene zeigte, hatte man verschiedene Typen abge– 104 –

bildet. Der Schauspieler Martin Kräuser gab nicht nur die Figur des Böhmen im Fürsttheater, er war ebenso als Lehrjunge, Dienstmann oder Hausierer beim Publikum bekannt. Otto Schmidts Typen sind in diesem Kontext Neu- und Fortschreibung zugleich. Im Wissen um einen rege aktualisierten Typenkosmos übersetzte Schmidt seine Sammelund Schauobjekte als Souvenir in Fotografie. So entstanden Ansichtskarten des »Straßenprekariats«, die die Gäste der Weltausstellung 1873 ebenso wie Wiener Bürgerinnen und Bürger für 60  Kreuzer vergleichsweise günstig erwerben und als ein Stück »echtes« Wien mit nach Hause nehmen konnten. Waren Kaiser-, Aristokraten- oder Politikerporträts meist doppelt so teuer, so überstiegen die Typenporträts dennoch den durchschnittlichen Tageslohn der auf den Porträts gezeigten Berufsschichten. Für 60 Kreuzer konnte man sich im Wien des Ausstellungsjahres einen Wochenendeintritt auf dem Ausstellungsgelände und ein Seidel Tischwein, einen Vorstellungsbesuch auf einem Stehplatz im dritten Stock des Burgtheaters, vier kleine Melange mit Kipferl in einem durchschnittlichen Kaffeehaus – oder eine schmidtsche Sammelkarte leisten. Deren Käuferschaft trug ein komplexes Amalgam aus Stereotyp und Wirklichkeit, eine Fotografie gewordene Imagination der unteren Schichten bei sich, in ihren Hand- und Brusttaschen, als Grußkarte zur Post und heim in ihre Wohnräume.

Fotografie Nr. 16 Mit Fotografie Nr. 16 erwarb die Käuferschaft nicht allein eine ins Bild gesetzte Vorstellung von einem typischen jüdischen Hausierer, sondern zugleich das Rollenporträt eines Schauspielers, der in Wien gut bekannt war und den viele schon in Aktion gesehen hatten – etwa jüngst auf dem P ­ rater – 105 –

ganz in der Nähe des Ausstellungsgeländes als Böhme Dorliezel in der Sommernovität des Fürsttheaters oder kurz darauf als Hausierer im Theater in der Josefstadt. Typ Nr. 16 zeigt also keinen zufällig ausgewählten jüdischen Hausierer aus Galizien oder der Bukowina, aus Mähren oder Böhmen, vom Fotografen auf der Straße angesprochen und im Atelier dokumentiert, sondern den Schauspieler Martin Kräuser im Bühnenkostüm eines Juden. Nachdem der Sammler Kon­ stantin Danhelovsky seine Fotografie 1874 erworben hatte, notierte er auf der Rückseite des Porträts: »Dieser Jude ist Martin Kräuser, Komiker im Theater in der Josefstadt«. Schmidt hatte den Schauspieler im Kostüm des jüdischen Hausierers Moses Gansel fotografiert, einer Rolle, die Kräuser just im November 1873 in der Inszenierung des Stücks Rózsa Sándor am Theater in der Josefstadt gab, dessen Leitung ebenfalls Johann Fürst innehatte. Vielleicht hatte Otto Schmidt Kräuser auf der Bühne als jenen Hausierer gesehen, vielleicht wurde er zunächst für ein Rollenporträt beauftragt, was ihn zur Idee veranlasste, den Schauspieler in sein Typenuniversum aufzunehmen. Immerhin habe Kräuser, so das Neue Wiener Tagblatt, die »Lachfigur« des Juden Moses Gansel »ganz klassisch dargestellt«. Überhaupt war Martin Kräuser, 1839 in Prag als Kaderzabeck geboren, seit seinem Schauspieldebüt 1865 bei Johann Fürst in Wien auf böhmische und jüdische Figuren spezialisiert. In ihm trafen sich jene zwei Gruppen, die in Wien als prototypische Fremde angesehen waren. Gab er den Böhmen zum Debüt und im Weltausstellungsjahr in Fürsts Sommernovität, so feierte er mit der böhmischen Figur auch seinen letzten großen Erfolg in der Komödie Ein Böhm’ in Amerika am Josefstädter Theater. Unter der Direktion Fürsts trat er zwischen Prater und Josefstadt mit einem »derartigen Erfolg« als Jude und Böhme auf, dass Ludwig Eisenberg ihm postum in seinem Biographischen – 106 –

Lexikon eine »Zugkraft allerersten Ranges« bescheinigte. Kräuser sei einer der vorzüglichsten Wiener Komiker der letzten Dezennien gewesen, der mit »Schlagkraft in der Darstellung« gewirkt und sich als Böhme und Jude eine Spezialität erarbeitet habe: »Wie viel Komiker auf diesem Gebiete ihm auch nachstrebten, keiner konnte auch nur im entferntesten die Lebenswahrheit erreichen, mit welcher K. diese Typen ausgestaltet hatte.« Konstantin Danhelovsky notierte über Kräuser, dass er »Böhmen und Juden wunderbar naturgetreu darzustellen verstand«. Auf einem anderen Rollenporträt hielt er fest: »Spezialist für jüdisch- und böhmisch-deutschen Jargon«. In der Gestaltung seiner Figuren habe Kräuser mit einfachsten Mitteln gearbeitet, eben nicht mit »Händen und Füßen«, mit »grotesken Grimassen, Wortverdrehungen und sonstigem komischem Handwerkszeug«, beschrieb Ludwig Eisenberg das Schauspiel Kräusers und legte dabei wohl sein eigenes bürgerliches Theaterverständnis als Maßstab zugrunde, um Kräusers Schauspiel aufzuwerten und ihn gleichfalls als »letzten Repräsentanten«, als »Typus« einer unaufdringlichen Wiener Komik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu würdigen. So wird Martin Kräuser, vielfach gefeierter Typenschauspieler der 1870er Jahre, zum Ende des Jahrhunderts selbst zum Typen des Alt-WienerKomikers. Seine Lebensgeschichte  – Kräuser starb 1898 laut Eisenberg als abgetaner Komiker in »größter Armut und völliger Verlassenheit in der städtischen Versorgungsanstalt« – wurde als Verfallsgeschichte der verklärten Vorstellung von »Alt-Wien« erzählt, die freilich so vor der Ringstraßenzeit nie existiert hatte. Einen letzten großen Auftritt hatte Kräuser, bevor er auf Gastspielreisen durch die Provinz reisen musste, sinnfälligerweise 1892 im Prater auf der sogenannten Hanswurst-Bühne der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. Hierfür hatte – 107 –

man die Attraktion »Alt-Wien« errichtet, eine begehbare Nachbildung des Hohen Marktes des späten 17. Jahrhunderts, wo der 53-jährige Kräuser neben Ludwig Gottsleben auf einer gedeckten Bretterbühne auftrat  – und damit in theaterhistorisch bemerkenswerter Wendung vom national und religiös ausdifferenzierten Typenschauspieler des 19. Jahrhunderts zur nostalgischen Reinkarnation einer traditionellen Theatermaske wurde. Während Kräuser eine marginalisierte Theaterfigur des vorherigen Jahrhunderts zurück in eine begehbare Vergangenheitskulisse brachte und dabei selbst als aussterbender Typ eines verklärt erinnerten Alt-Wien rezipiert wurde, war er in den 1870er Jahren noch für die »lebensechte« Darstellung anderer Wiener Typen gefeiert worden. Im Umfeld der Entstehung der Fotografie Nr. 16 spielte Kräuser etwa als »schöner Dovidl« in der gleichnamigen Posse, in der laut Wiener Theater-Chronik »volksthümliche, ächte WienerTypen« auftraten. Diese Typen bewegten sich, so berichtete es die Chronik, in »zusammenhanglosen Tableaux«, die gezeigten Situationen kennzeichneten das »Licht- und Schattenleben der Großstadt«. Die Sujets und Figuren trafen in der Ära der Modernisierung einen Nerv. Kräuser gab seine jüdische Figur »Dovidl« vor ausverkauftem Haus, die Kassen schlossen wegen des Andrangs schon vor Beginn der Vorstellungen. Im Februar 1873 berichtete Die Presse gar von »lebhafte[m] Beifall und wiederholte[m] Hervorrufen« für den Publikumsliebling Kräuser, als dieser nach einem kurzen Engagement im Theater an der Wien wieder ins Josefstädter Theater zurückkehrte. Gut möglich also, dass Otto Schmidt auch die ökonomische Zugkraft des Schauspielers Kräuser im Blick hatte, als er ihn als jüdischen Hausierer porträtierte und damit nicht nur eine Theaterfigur in eine Typenfotografie übersetzte, sondern auf eine doppelte Verwertung seines Fotos als Typ und Rollenporträt hoffte. – 108 –

In der Puszta Am Samstagabend, dem 8. November 1873, zog die ungarische Puszta in den achten Wiener Gemeindebezirk ein. Nur fünf Gehminuten von der neu erbauten Ringstraße entfernt feierte Rózsa Sándor, das »Charakterbild aus dem ungarischen Räuberleben«, seine Uraufführung. Das Theater in der Josefstadt hatte das Stück bei seinem künstlerischen Leiter Eduard Kaan beauftragt, acht Bühnenbilder gefertigt und eine Vielzahl an Rollen besetzt. Das Premierenpublikum wurde mit einem ungarischen Ensembletanz auf den Abend eingestimmt, von dem der Kritiker der Wiener Theater-Chronik später ebenso lobend berichten sollte wie von dem imposanten Wald, der für das dritte Bild auf der Bühne entstand: ein dekoratives »Meisterstück«, begeisterte sich der Kritiker. Das stark bewaldete Bild entfaltete das Räuberleben des Sándor Rózsa, der mit seiner Bande in der Puszta hauste. Gleich zu Beginn der Szene erscheint ein Fremder im waldigen Dickicht der Theaterbühne (»Dort trappelt was im Gebüsch«, »Ein Spion vielleicht?«), der kurz darauf erkannt wird: »Moses Gansel  – unser Banquier«, »der Verwaltungsrath unserer Finanzen«. »Grüß Euch, Merkur!« In der Figur des Moses Gansel trat Martin Kräuser auf die Bühne; mit viel Gelächter sei seine Figur belohnt worden, schrieb das Neue Wiener Tagblatt am darauffolgenden Montag. Seine Leistung sei gleich nach der des Hauptdarstellers zu nennen, fand die Wiener Theater-Chronik. Gansel handelt mit dem Diebesgut der Räuberbande um Sándor Rózsa, er hausiert mit alten Ringen, Uhren und Brillanten und dies stets zum eigenen Vorteil. »Nix zu Handeln? Handeln? Nix zu Handeln!«, wiederholt Gansel einen Spruch, der schon in Typenuniversen des frühen 19. Jahrhunderts – 109 –

überliefert ist und auch in der Fotografie Otto Schmidts als Untertitel dient. Hart und unlauter verhandelt Martin Kräuser als Gansel mit den Räubern um ihr Raubgut – »mir scheint, der Gansel will uns beschummeln«. Das Charakterbild mit Gesang, Tanz und Musik wurde ein Kassenerfolg. Es feierte nur sieben Wochen nach der Premiere seine fünfzigste Aufführung und war bis dahin derart gut verkauft, dass Direktor Johann Fürst dem Autor Eduard Kaan als Dank zu diesem Anlass einen Brillantring überreichte. Kaan war seit fünf Jahren künstlerischer Leiter des Theaters und verschrieb sich vor allem der Erneuerung des Volksstücks. Mit seiner Bearbeitung der Biografie Sándor Rózsas, der seit der Mitte des Jahrhunderts immer wieder für spektakuläre Presse sorgte, bearbeitete Kaan ein breit diskutiertes Nachrichtenthema: Erst im Herbst 1872, ein Jahr bevor das »romantische Original-Volksstück« in der Wiener Josefstadt Premiere feierte, war der historische Rózsa zum wiederholten Mal in die Schlagzeilen der Monarchie geraten. Sándor Rózsa war seit seiner Jugend in der großen ungarischen Tiefebene auf Beutezug unterwegs und hatte sich damit seinen Ruf als Räuberkönig erarbeitet. 1872 stand er in Szegedin neuerlich vor Gericht. Verhandelt wurden »kleinere Fälle« aus früheren Jahren, etwa ein Kälberraub und die »gewaltsame Wegführung von 18 Schafen«. Gemessen an den kursierenden Geschichten mussten diese Fälle geringfügig erscheinen. Sie dienten aber als Vorlage, nochmals die sagenhafte Biografie Rózsas zu erzählen, der mehrfach wegen Raubmordes an Soldaten, Gendarmen und Zivilpersonen verurteilt worden war, sich aber meist der Haft entziehen konnte und trotz seines skrupellosen Vorgehens als Rächer der Armen galt. Aus der ersten Kerkerhaft von seiner Geliebten »Kati« befreit, hatte er im Revolutionsjahr 1848 seine Begnadigung erwirkt, da er sich der ungarischen – 110 –

Unabhängigkeitserhebung gegen Österreich angeschlossen und sich bereit erklärt hatte, eine Freiwilligentruppe gegen die aufständischen nicht magyarischen Volksgruppen zu bilden. Nachdem er 1856 wegen Mordes verurteilt worden war, avancierte die Festung Kufstein zum Wallfahrtsort für Reisende, die den dort gefangenen Sándor Rózsa zu Gesicht bekommen wollten. Ein Überfall auf eine Eisenbahn im Jahr 1868 und die anschließende neuerliche Gefangennahme, die durch eine List des Grafen Gedeon Ráday von Ráda gelang, dem sich Rózsa zuvor als Sicherheitskommissär angeboten hatte, befeuerten die Legendenbildung um den »Räuberkönig der Puszta«. Zur Urteilsverkündung im Dezember 1872  – er erhielt erneut eine lebenslängliche Haftstrafe  – berichtete etwa das Unterhaltungsblatt Der Feierabend von den »Heldentaten« des schönen Sándor Rózsa, die dieser selbst auf Aushängen in Gasthäusern oder mündlich in den Städten verkündet habe. Er sei ein »humorvoller Till Eulenspiegel« und ein »Liebling der Frauen«. Seine erste Geliebte habe er unter Einsatz seines Lebens verteidigt, ihrem Mann aber »mit einem Pistolenschusse die Hirnschale zerschmettert«; seine Missetaten würden ihm vom Volk gern verziehen, denn er sei so großmütig gegen Arme gewesen, wie er unerbittlich gegen Reiche vorgegangen sei, »namentlich gegen die Juden«. Eduard Kaan goss – wohl inspiriert durch die neuerliche Berichterstattung um Rózsa – seine Version der Banditenbiografie in ein Theaterstück und entschied sich dabei, den jüdischen Hausierer Moses Gansel nicht zum Objekt eines Raubes, sondern zum Profiteur der Überfälle zu machen. Rózsa selbst hingegen wird zum Opfer äußerer Umstände, der – hier geht Kaans literarische Erfindung weiter – mit gebrochenem Herzen seine tote Braut rächt und, angestachelt vom Gebaren der Obrigkeiten, zum Räuber wird. Gansel erhält keine solche psychologisierende Rechtfertigung für – 111 –

seine Mittäterschaft, er scheint aus sich heraus zu handeln. Auch wenn er sich kurzzeitig in den Dienst der Räuber stellt und schließlich mit ihnen verurteilt wird, gehört er als Reisender – laut Manuskript »halb ungarisch, halb deutsch gekleidet«  – weder zur Sphäre der Räuber noch zu jener der Obrigkeiten. Er tritt als Mittler auf, macht Raubgut zu Ware und unterstützt dadurch die Bande Sándor Rózsas finanziell, deren Taten er schließlich aus Furcht vor Folter gesteht  – womit er das Schicksal des berüchtigten Sándor Rózsa besiegelt. Gansels moralisch fragwürdige Eigenschaften, der profitable Handel mit Raubgut und die finanzielle Unterstützung der Räuber sowie schließlich sein Verrat an der Bande werden als jüdische Eigenschaften auf der Bühne ausgestellt und verlacht. Anhand der Figur des Moses Gansel wendete die Inszenierung antijüdische Vorstellungen von Hehlerei, Wucher und Gier ins sichtbar Konkrete. Otto Schmidt entnahm die Figur diesem Theaterkosmos und gliederte sie als Typenporträt in ein ästhetisiertes Wiener Universum ein. Theaterinszenierung und Fotografie beförderten dabei ein Paradox, das die jeweilige Rezeptionsgeschichte geprägt haben mag: Sie illustrieren, dass der jüdische Hausierer zur Wiener Gesellschaft, ins Stadtbild und auf die städtische Theaterbühne gehörte, gleichfalls aber nur als Außenseiter auftreten durfte. Als Händlerfigur begleiten ihn harsche Vorurteile, die im Lauf der Neuzeit gegen jüdische Hausierer vorgebracht und in der Bildmotivik des Typenuniversums fortgeschrieben wurden. Häufig waren jüdische Figuren in diesem Universum, etwa in den Mandelbögen Josef Schmutzers (1825), als einzige auf bösartige Weise karikiert. Otto Schmidt legte sein Porträt jedoch freundlich an. Bei Eduard Kaan im Theater an der Josefstadt erfüllt dieselbe Figur wiederum judenfeindliche Stereotype, darf als »Lachfigur« aber dennoch in eine positive Beziehung zum Publikum treten, sich an den – 112 –

Saal wenden und seine Listen mit den Theatergästen teilen. Traditionell genossen solche Figuren und ihre Schauspieler große Beliebtheit beim Publikum, das diese Figuren samt ihrer stereotypen Anlage gleichfalls verlachen konnte. Im Typenuniversum Wiens gehört der jüdische Hausierer zu einem enzyklopädisch kanonisierten, vormodernen Figurenrepertoire, das mit der fortschreitenden Modernisierung sehnsüchtig vergegenwärtigt wurde. Als Fotografie wird er dokumentierter und gesammelter Mit-Bewohner der Kaiserstadt – und hat so teil am Mythos einer Stadt und an der Wiener Gegenwart der 1870er Jahre, wie er von ihr objektifiziert und partiell ausgegrenzt wird. In der Erzähl- und Bildwelt der fiktionalen Figur Moses Gansel verschmolzen vielschichtige Vorstellungen über jüdische Hausierende, die ohne deren Mitsprache entstanden sind und ihre konkreten Alltagserfahrungen im 19. Jahrhundert ignorierten beziehungsweise diskriminierende Aspekte dieser Erfahrungen allenfalls unbeabsichtigt  – über den Umweg der kondensierten Klischees über sie  – mit transportierten. Als typisierte Vertreter einer kollektiven Imagination stehen sowohl die Theaterfigur Moses Gansel als auch die im Anschluss an sie entworfene Typenfigur noch an der Schwelle zum aufkommenden modernen Antisemitismus, der nach dem »Gründerkrach« 1873 grassieren und die jüdische Bevölkerung für die beklemmenden Erfahrungen der Moderne verantwortlich machen sollte.

Verordnung und Unordnung Im November 1873, während Kräuser den Hausierer Gansel auf der Josefstädter Bühne gab, erreichte das Illustrirte Wiener Extrablatt ein anonymer Leserbrief eines Hausierers, der unter dem Titel »Für die Hausierer!« veröffentlicht – 113 –

wurde. Der Text griff den Streit um das Verfügungsrecht auf dem Prater während der Weltausstellung auf und trug die alltäglichen Erfahrungen der Exklusion vor: »Gestatten Sie mir einige Bemerkungen über das Verfahren der Diener des Gesetzes mit uns armen Hausierern. Wir zahlen unsere Steuern, haben unsere Hausierbücher und doch wird uns der Erwerb auf folgende Weise gestört. Vom Baron Schwarz, dem König des Praters, ist uns der Eintritt in den Prater verboten worden. Wir suchen daher unseren Erwerb außerhalb dieses Unterhaltungsortes und passiren wir mit unserer Waare die Praterstraße, so werden wir von den Sicherheitswachinspektoren auf eine nicht geradezu humane Weise angehalten, worauf wir benannte Gasse räumen müssen. Auf dem Wege in die innere Stadt wiederholen sich solche Szenen […]. Und kommen wir dann in die Judengasse, als den eigentlichen Ort des Hausiererhandels, um dort unsere Waare anzubringen, so werden wir von dort aus verhaftet und zu größeren Geldstrafen verurtheilt.«

Solche Erfahrungen sind in der romantisierenden Typenserie kaum erkennbar, aber Teil der öffentlichen Diskussion im Jahr 1873. Während die Restriktionen gegen den Hausierhandel in den Jahren zuvor etwas gelockert worden waren, verstärkten sich Ressentiments und Konkurrenzkämpfe in den 1870er Jahren im Umfeld von Wirtschaftskrise und Migrationsbewegungen aus den östlichen Provinzen der Monarchie. Ansässige Geschäftsleute lobbyierten gegen reisende Kleinhändlerinnen und -händler, die etwa aus Galizien nach Westen wanderten, ihre Waren von Dorf zu Dorf anboten und so nicht nur ihr eigenes Überleben, sondern auch die Versorgung abgelegener Gebiete sicherten. War das Hausieren seit dem Mittelalter bekannt, wurde es in der Habsburgermonarchie im Verlauf der frühen Neuzeit verschiedentlich verboten oder befördert, immer aber – 114 –

als Praxis verarmter, umherziehender Bevölkerungsschichten beargwöhnt  – ein Marginalisierungsprozess, der noch heute in der pejorativen Konnotation (etwa des Verbs: »mit etwas hausieren [gehen]«) erahnt werden kann. Mit dem Hausierpatent von 1852 hatte die Habsburgermonarchie den Bewohnerinnen und Bewohnern aus den Provinzen den Hausierhandel gestattet, teilweise sogar gelockerte Sonderregeln erlassen, aber gleichzeitig ein striktes Reglement für die Reise- und Handelstätigkeit eingeführt, das unter anderem die Registrierungspflicht beim Übertritt in andere Kronländer vorsah. Ab 1867, dem Jahr des Staatsgrundgesetzes, das die rechtliche Gleichstellung aller unabhängig von Herkunft und Religion verankerte, reisten vermehrt jüdische Hausierende nach Wien – etwa aus dem agrarisch geprägten Galizien. Die allgemeine Volkszählung listete zwei Jahre später 444 Hausierer und 134 Hausiererinnen jüdischer Herkunft in der Kaiser- und Residenzmetropole, davon 90 aus Galizien und der Bukowina. Als sogenannte Luftmenschen waren sie wegen ihrer exzentrischen Position, ihres Berufs und ihrer Zugehörigkeit doppelter Marginalisierung ausgesetzt. Sie litten unter der christlichen Judenfeindschaft, wurden geprellt, bedroht und aufgrund ihrer ungeschützten Wanderschaft zum Opfer von Raubüberfällen. Der anonyme Hausierer im Illustrirten Wiener Extrablatt nennt die Judengasse als »eigentlichen Ort des Hausiererhandels« – und weist damit auf die Verschränkung hin, die in der Wortbildung vom »Hausierjuden« beinhaltet ist und Vorurteile und Gewalt gegen sie mitprägte. Otto Schmidts Fotografie markiert den Hausierhandel innerhalb des Typenuniversums ebenfalls als jüdisch. Im Typenporträt erfüllt Martin Kräuser Projektionen vom reisenden, handelstätigen Juden. Man sieht ihm nicht nur seine Wanderschaft an, er trägt auch abgetragene Schuhe und Stofffetzen bei sich und zeigt sich so in Warenläufe und – 115 –

Dingwelten verstrickt. Damit kann auch Schmidts Hausierer im Rahmen einer neuzeitlichen Bildtradition als vormoderner Agent einer potenzierten Zirkulation der Dinge gedeutet werden, die alle durch ihn erneut in Ware verwandelt und sekundären Verwertungskreisen zugeführt werden. In dieser möglichen Lesart der Fotografie gerät der Hausierer an der Schwelle zur Moderne in Wien zu einem der ersten Akteure eines umfassenderen, kapitalistischen Systems, zum Mitverursacher einer in Unordnung geratenen Ordnung der Dingwelten, die sich im Zuge von Industrialisierung und fortschreitendem Warentausch über Grenzen hinweg und scheinbar unkontrolliert vervielfältigten. Die Ordnungsprinzipien des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa in der Wiener Weltausstellung 1873 plastisch entfaltet werden, arbeiten gegen diesen Kontrollverlust und behaupten eine neuerliche rationale Durchdringung. So ist das 19. Jahrhundert als »Saeculum der Dinge« (Hartmut Böhme) gleichzeitig von Dingwelten überwältigt, wie es ihnen und ihrer Eigenlogik habhaft zu werden versucht. Allein die Porträtfotografie erlebte als neues bürgerliches Repräsentationsinstrument einen derart rapiden Produktionsanstieg, dass der Fotograf Ludwig Schrank (1828–1905) im Photographischen Archiv für das Jahr 1860 von einer »großen Visitkartenepidemie« berichtete. Dienten die Porträts im Visitformat der Vergewisserung bürgerlicher Lebenswelten, so bannten sie diese Welten samt ihren Menschen gleichfalls in eine neue Bildordnung und lieferten so Strategien, um sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verorten. Während auch der jüdische Hausierer via Fotografie als Ding schier entgrenzt proliferiert, setzt er selbst eine wachsende Warenwelt ins Bild und damit eine spezifische Vorstellung vom Jüdischen fort. Er illustrierte als anschaulich bezeugtes Faktum Warenketten und konnte so zur personifizierten Projektion der als bedrohlich empfundenen – 116 –

Aspekte einer beginnenden Modernisierung herangezogen werden. Gleichfalls wählt Otto Schmidt für seine Typenfotografie einen äußerst beliebten Schauspieler, verortet ihn in der idealisierten Stadtgeschichte von »Alt-Wien« und veranschaulicht seine Dingwelt konkret. Derart konnte die Fotografie sehnsüchtig idealisiert und gleichzeitig, insbesondere von jenen Wienerinnen und Wienern, die die Theateraufführung mit Moses Gansel erlebt hatten, pejorativ interpretiert werden. Sie konnten einerseits den konkreten vormodernen Handel, andererseits aber auch die negativ bewerteten abstrakten, nach Profit strebenden Seiten der kaufmännischen Existenz als jüdisch projektieren. Die vormodernen Hausierer stehen dabei teleologisch gedacht am Anfang eines sozialen und ökonomischen Aufstiegs, der tatsächlich einigen Kleinhändlern nach ihrer rechtlichen Gleichstellung gelang. Der Komponist Carl Lorens zeichnete dementsprechend in seinem Lied Jüdische Klabrias G’stanzeln à la Klapphorn, gesungen vom Volkssänger Adolphi im Programm der Budapester Orpheumgesellschaft, eine direkte Linie vom jüdischen Hausierer zum Börsenhändler: »Krach Leberle schreit nix mehr ›handeln!‹ / Thut auf der Börs’ jetzt herumwandeln«. Der Argwohn gegenüber diesem Aufstieg und dem neuartigen Börsenhandel richtete sich vornehmlich gegen Eigenschaften, die als jüdisch galten – gegen ein nicht mehr konkret fassbares, unmoralisches und entsinnlichtes Tun. So wird im Angesicht explodierender Artefakte und der Etablierung eines kapitalistischen Systems die Verantwortung für die überbordende Zirkulation von Dingen und deren Umwidmung in Ware der jüdischen Bevölkerung und speziell jüdischen Händlern angelastet: Sie würden Materielles in ungebührlicher Weise anbeten, von ihrer dinglichen Sphäre entkoppeln und aus unlauteren Motiven dem Wirtschaftskreislauf zuführen. – 117 –

In diesem Kontext können das Vorgehen der Wiener Obrigkeiten gegen Hausierer und das erlassene Hausierpatent als Versuche gelesen werden, neuerlich Kontrolle zu erlangen: über eine als unübersichtlich empfundene Dingwelt und über die vermeintlichen Mitstifter dieser Unordnung. So zielte das Hausierpatent auf die Reglementierung des Warenhandels wie des Hausierens. Es steuerte den ausübenden Personenkreis und die gehandelten Waren – Edelsteine, Gold und Silber wurden nach Paragraf 12 des Hausiergesetzes strikt vom Handel ausgeschlossen. Martin Kräuser verstößt als Moses Gansel auf der Josefstädter Theaterbühne nicht nur gegen diesen Paragrafen, er handelt auch ungebührlich zu seinem Vorteil und stellt damit antijüdische Vorurteile aus. Die theatralen, literarischen und bildlichen Darbietungen des Jüdischen  – die Figur Moses Gansel ist ein Beispiel  – fütterten eine städtische Vorstellungswelt und wurden zugleich von ihr genährt. In dieser wechselseitigen Bedingtheit erlaubten sie eine paradoxe, teilweise konträre Ausdeutung. So wurde auch Otto Schmidts Typenfotografie zu einem Wackelbild, das je nach Blickwinkel in einem Moment ein Unbehagen gegenüber den mobilen Dingwelten und ihren vermeintlichen frühen Agenten in der Moderne anzeigen, im anderen aber zum Nostalgieobjekt einer vormodernen Kaiserstadt geraten konnte, die gerade nach den architektonischen Umbrüchen im Zuge des historistischen Ringstraßenprojekts ab den 1870er Jahren sehnsüchtig adressiert wurde. Dementsprechend bleibt auch die Rezeption des Wiener Typs Nr. 16 heute verworren und nur ansatzweise rekonstruierbar. Gleichfalls wurden die aufgerufenen kollektiven Vorstellungswelten des Jüdischen mittels ihrer Bildhaftmachung im neuen Medium der Fotografie in besonderer Weise als vermeintlich authentisch wahrgenommen.

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Ein »unparteiisches Instrument« Zehn Jahre nachdem Martin Kräuser als Moses Gansel auf der Bühne stand, Otto Schmidt seine Typenserie begann und Fotografie Nr. 16 erschuf, dachte Friedrich Schlögl (1821–1892) über die schmidtschen Urbilder nach. Der Wiener Feuilletonist hatte bereits zwei äußerst erfolgreiche literarische Sammlungen Kleiner Culturbilder veröffentlicht, in denen er seinerseits literarische Typen erschuf, »Charaktere« und »Originale« des Wiener Stadtlebens beschrieb sowie Stimmungs- und Sittenbilder skizzierte. Im dritten Band, den der Verlag mit der besonderen »Naturwahrheit« der Schilderungen bewarb, publizierte Schlögl den Essay Von alten und neuen Sachen, Figuren und Dingen über die bildliche Darstellung von Wiener Typen. Darin nimmt er die Leserschaft mit auf einen Spaziergang, in dessen Verlauf er chronologisch von Typ zu Typ streift, dabei alte und neue Figuren und Dinge, altes und neues Wien vergleicht und schließlich bilanziert, dass sich die Wiener Gesellschaft »in der That entwickelt«, »vervollkommnet, oder wenigstens verfeinert« habe. Nicht ohne den Verlust einiger Gestalten und Berufe zu bedauern, betrachtet Schlögl Brandts Kaufrufe wie auch die Kupferstiche Jakob Adams (Abbildungen des gemeinen Volkes zu Wien, 1789) und gelangt schließlich zu den Fotografien Otto Schmidts. In ihnen erkennt er die »wahren ›Kinder ihrer Zeit‹«, schon in der Ausführung ein völlig zeitgenössisches Produkt. Die neuen fotografischen Mittel vergleicht er mit Kupferstich und Grafik: »War es früher den einzelnen Meistern überlassen, die gewählten Typen je nach ihrem Künstlervermögen und dem richtigen Blick ihres Auges dem Beschauer zu versinnlichen, wobei statt der drastischen Originale nicht selten undefinierbare Ideale

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dem Blei und Pinsel entwuchsen, so nimmt nun der Photograph die Gestalten ›von der Straße‹, stellte sie vor sein unparteiisches Instrument und die Figuren stehen in unzweifelhafter Echtheit, ja nach Verlangen in – unretouchierter Wahrheit auf dem Papiere. ›Sint ut sunt, aut non sint!‹ heißts auch hier.«

Begeistert vom »unparteiischen Instrument« Fotografie, vollzieht Schlögl einen Spagat. Er erkennt, dass es sich auch bei Schmidt um Urbilder und Figuren handelt, und versichert dennoch deren »lebendigste Treue«: »Wir haben sie tausendmal gesehen und können die frappante Aehnlichkeit des Portraits, wie den ganzen ›Habitus‹ des und der ›zum Schreien Getroffenen‹ beschwören. Das sind wahrhafte ›Wiener Typen‹«, bestätigt Schlögl. »Von der Straße« geholt, auf eine Fotografie gebannt, erwachen sie in der Rezeption des Feuilletonisten erneut zum Leben. Sie treten ihm »fast grüßend« entgegen. Er sieht keine Fantasiebilder, sondern die Verlebendigung der Dinge als unretuschierte Wahrheit: Der Fiaker grüße, »als ob wir mit ihm einen ›kutscher‹ nach Neuwaldegg unterhandeln würden«. Der Werkelmann schaue so sehnsüchtig nach dem ersten Stockwerk, »daß wir fast erwarten, ein in Papier gewickeltes Geldstück in die emporgehaltene Mütze fliegen zu sehen«. Der Sicherheitswachmann stehe so stramm an der Ecke, »daß ein steckbrieflich Verfolgter sich ordentlich vor ihm scheuen müßte«. Die Fotografie Nr. 16 stellt Schlögl in seinen Beschreibungen hingegen nicht gesondert heraus, vielleicht, weil sie die »unzweifelhafte Echtheit« der Figur zu offensichtlich infrage stellt. Denn während der Feuilletonist die neutrale Abbildfunktion der Fotografie betont, stellt er die konstrukthaft-künstlerische Seite hintan, die Otto Schmidt in einigen seiner Porträts offen darlegt. So dürften dem Josefstädter Theaterpublikum das Rollenporträt des jüdischen Hausie– 120 –

rers oder die Schauspielerpersona Martin Kräusers sofort aufgefallen sein. Es könnte zudem die Perücke des Hausmeisters bemerkt oder Notiz davon genommen haben, dass es sich bei der Figur des Stiefelputzers um dieselbe Person handelt, die auch den Typ des Maronibraters gibt. Noch in seiner zweiten, schon weitaus dokumentarischer angelegten Typenserie (ab 1880) porträtierte Schmidt zwei »polnische Juden«, die in zwei Bildvarianten dieselbe Holzpfeife als das sie kennzeichnende Attribut in den Händen halten. Beide Varianten erhalten  – als Vorstellungen des Jüdischen und in Reminiszenz an die erste Serie deren Ordnung fortführend – die Nummer 16. Wenn Schmidts Wiener Typen also als kunstvolles Amalgam dechiffrierbar sind, wieso werden sie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als lebensecht empfunden? Und welchen Effekt hat diese so lange nachwirkende Rezeption auf die Wahrnehmung der Fotografie Nr. 16 sowie genereller auf kollektive Imaginationen des Jüdischen? Mit seiner Nr. 16 hatte Otto Schmidt ein Vexierbild geschaffen, das sich je nach Perspektive typisiert oder individuell geriert, das einen Hausierer oder Martin Kräuser und immer auch beides zeigen kann, das Rollenporträt, Schauspielerpersona, Typ sein oder eine ineinander verflochtene, aufeinander aufbauende Triade bilden kann. In diesem Produkt treffen sich mentale und konkrete Bilder, tatsächliche Personen und fiktive Existenzen. Typ Nr. 16 ist in diesem Sinn die Dokumentation eines Theaterereignisses und gleichfalls das wortwörtliche Klischee eines mentalen Bildes (frz. Cliché = Druckplatte), eine klischierte Imagination des Jüdischen – die mittels Fotografie beglaubigt wird. So zeigte sich in Friedrich Schlögls Rezeption der Wiener Typen der noch kaum erschütterte Glaube an die Funktion der Fotografie als objektiv produziertes, visuelles Surrogat der Welt, dessen vermeintliche Neutralität durch das techni– 121 –

sche Verfahren selbst garantiert schien, das lediglich Lichtstrahlen auf sensiblem Material festhielt. Das fotografische Paradox (Roland Barthes), nach dem Fotografie gleichzeitig objektiv und besetzt, natürlich und kulturell sein kann, durchzieht zwischen den Zeilen auch die frühen fotografietheoretischen Fragen des 19. Jahrhunderts – tritt dort aber nicht als Paradox zutage. So setzte sich die Photographische Gesellschaft Wiens zwar mit einer Petition an den Reichsrat für die Gleichsetzung von Fotografie und Kunst ein, allerdings nur aus juristischen Gründen: um fotografische Werke als künstlerisches Eigentum zu schützen und deren Verhältnis zum Pressegesetz zu regeln. Anton Martin, Bibliothekar am Polytechnikum Wien und in der Photographischen Gesellschaft organisiert, stellte in seinem einschlägigen Handbuch der gesammten Photographie (zuerst 1865) klar, »dass es niemandem einfallen wird, die Photographie und ihre Erzeugnisse eine Kunst in höherem Sinne zu nennen […] die Photographie ist ja an den Stoff gebunden und hat unter dem Druck dieser Fessel niemals das Vermögen, im freien Aufschwung das Ideal zu erfassen«. Zwar erzeuge der Fotograf eine gewisse künstlerische Wirkung, indem er etwa beim Porträtieren den Kopf ins rechte Licht stelle, die Beleuchtung günstig wähle und den Kopfhalter so anbringe, »dass der Beschauer des Bildes die Anwendung eines solchen nicht erkennt«, jedoch könne er »bloss unter gegebenen Nuancen die Günstigste erwählen«, aber nie wie der Maler »veredeln und verschönern«. Der Fotograf trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Arrangeur auf, der die vorgefundene Welt bestmöglich einrichtete und »d’après nature« ins Bild setzte. Damit wurde er zum Zuarbeiter von Künstlern, zum Porträtbeauftragten einer bürgerlichen Schicht sowie zum objektiven Dokumentar für Journalismus und Wissenschaft. Anton Martin stellte die Vorzüge der Fotografie als »natur­ – 122 –

getreues Abbildungsmittel« heraus, erklärte den »unberechenbaren Werth« des exakt-technischen Verfahrens für die Mikroskopie und bilanzierte: »Die Photographie ist unparteiisch und liefert die Bilder vorurtheilsfrei mit aller nur möglichen Genauigkeit«. So ruft die Typenserie Otto Schmidts allein durch die Wahl ihrer Mittel Effekte hervor, die den fotografischen Moment, das porträtierte Subjekt und letztlich auch die ins Bild gesetzten Vorstellungswelten als ein »Es-ist-so-gewesen« beglaubigen; Effekte, die diese Imaginationen des Jüdischen gar in umgekehrter Wendung über ein Ding – die Fotografie  – nicht nur (wie es fototheoretischer Konsens ist) mumifizieren, sondern gerade verlebendigen. Waren »Naturwahrheit« und »Lebensechtheit« auch bei früheren Typen wichtige Bewertungskategorien für die Kunstfertigkeit, mit der sie erschaffen wurden, und darf im späteren 19. Jahrhundert von einer generellen Kompetenz ausgegangen werden, Typen als Konstrukt zu begreifen und nicht als »authentisches« Abbild eines Individuums zu lesen, so bestätigte die Fotografie die vorgeblich tatsächliche Existenz einer Typenfigur in spezifischer Weise. Die Wahrscheinlichkeit, einem besonders »lebensechten« Typen in Wien zu begegnen, die Möglichkeit, im nächsten Schusterbuben jenen dargestellten zu erkennen, machten den Reiz eines Sammelbilds aus. Die Fotografie bediente diesen Wunsch par excellence und autorisierte damit Vorstellungen über nicht privilegierte Schichten nur aufgrund der Zuschreibungen, die ihr im 19. Jahrhundert als allgemein anerkanntes technisches Weltabbildungsverfahren zuteilwurden. Im Fall des von Kräuser verkörperten jüdischen Hausierers Moses Gansel wurden Vorstellungen des Jüdischen im doppelten Wortsinn tatsächlich zunächst leiblich-konkret auf einer Theaterbühne in Szene gesetzt, bevor jenes typisierte Kondensat erneut »von der Straße« weg auf – 123 –

eine Fotografie gebannt und damit als konkreter, wenn auch nicht mehr leiblich anwesender Körper angesehen, mumifiziert und vervielfältigt werden konnte  – während es als Rollenporträt gleichzeitig die Befragung einer in sich geschlossenen Abbildung zuließ.

Naturgeschichte und Nostalgie Parallel zur fotografischen Authentisierung der Wiener Typen wurden die darin kondensierten Kollektivvorstellungen auf eine zweite Weise ausgedeutet und naturalisiert. Friedrich Schlögl bilanziert seine Ausführungen zur »unretouchierten Wahrheit« der Typen mit einer wie beiläufig eingestreuten lateinischen Formel – zugeschrieben dem Ordensgeneral der Jesuiten Lorenzo Ricci: »Sint ut sunt, aut non sint!« Sie seien, wie sie sind, oder sie seien überhaupt nicht. Er beschreibt damit die schmidtschen Typen als unveränderliche Entitäten, die ihr Dasein durch ihre Geschichtsund Zeitlosigkeit erwirkten, während ihre Existenz jedoch auf dem Spiel steht, sobald eine übergeordnete Autorität sie nicht mehr als typisiert, »wie sie sind«, erkennt. So waren die Wiener Typen erstens in einen Machtdiskurs verstrickt, der sich gerade in Fragen nach ihrer Echtheit und Wahrheit offenbarte und der entlang der Standesgrenzen verlief. Denn: Autoritäten, die über die Lebensechtheit der idealisierten, de facto aber prekarisierten Typen urteilten, blickten aus privilegierter Position auf diese. Indem sie sie objektifizierten, sie in einer nostalgisch verklärten Vergangenheit situierten oder ihnen Geschichte ganz absprachen, zementierten sie nicht nur Standesunterschiede. Die Typen gerieten so zweitens zwischen die im Lauf des 19. Jahrhunderts strikt gezogenen Grenzen von Natur- und Kultur– 124 –

geschichte oder gar in eine geschichtslose, mythisch verankerte Vergangenheit, wodurch sich ihre unverrückbare, »ursprüngliche« Existenz verfestigte. Die mythische Vergangenheit trat gleichfalls dort zutage, wo die Gegenwart der 1870er Jahre zur Sinnstiftung nicht ausreichte oder ihre als krisenhaft empfundenen Verhältnisse nach neuer Orientierung verlangten. In der just 1873 veröffentlichten ersten Sammlung Kleiner Culturbilder erzählt der Feuilletonist Friedrich Schlögl von seinen Besuchen auf einem Fiaker- und auf einem Wäschermädelball. Beide Besuche werden zum Auslöser nostalgischer Klagen über den Niedergang eines Typus und den Verfall einer Veranstaltung. Er, Schlögl, habe sehr schmerzliche Nachrichten, aber sein »kritisches Gewissen« gebiete es ihm, »dieses trübselige Faktum« allseits kundzutun: »wie es keine ›reinen‹ Fiakerbälle mehr gibt, so gibt es keinen purifizierten Wäschermädelball mehr«. Beim Besuch des ersten Balls findet sich der Feuilletonist in einem prächtig erleuchteten Saal wieder und gerät dort in einem »furchtbare[n] Gedränge« in eine »gemischte Gesellschaft«. Dort drohe der »Typus des Fiakerthums« unter »fremdartigen Elementen« unterzugehen. Der »Schmelztiegel der glättenden Modernisierung« sei folglich schuld am Verfall der Wiener Originale. All seine Sitten und Gebräuche habe der Fiaker in diesen Tiegel geworfen und dabei seine Urwüchsigkeit eingebüßt. Er sei nun verdammt zu »universale[r] Flachheit«. Schlögl kontrastiert ein modernes Fremdheitsund Entfremdungsgefühl mit der Natur- und Sagenhaftigkeit des Fiakers. Er begründet dessen Untergang in sozialdarwinistischen Tönen mit dem Entstehen moderner Großstädte im Zuge von Migrationsbewegungen. Das Wäschermädel und der Fiaker werden dabei zu Gegenspielern der Moderne, als Spezies und Phänomen einer ursprünglicheren Stadt-Natur, die dem kulturhistori– 125 –

schen Fortschritt zum Opfer fällt. Zur Beobachtung dieser naturhaften Spezies unternimmt Schlögl gar eine »wissenschaftliche Expedition« zum Wäschermädelball und befindet, dass das Wäschertonerl vom Himmelpfortgrund »in unserer modernisierten Aera wie Ossian und Fingal bereits zu den mythischen Figuren« gehöre: »Dem Gebildeten brauche ich nun nicht erst auseinander zu setzen, daß ich mit der besagten ›Tonerl‹ keineswegs eine einzelne, am Ufer der Als gelebt und gewirkt habende Persönlichkeit dieses Namens meine, sondern daß der nekrologistische Ausruf der Gattung gilt.« Schlögl diagnostiziert, dass diese Gattung »in ihrer klassischen Urwüchsigkeit« verschwinde und so gewiss auszusterben drohe »wie der graziöse Steinbock am Monte Rosa«. Den Lehrbuben vergleicht Schlögl an anderer Stelle mit seinem »assimilirten Mitgeschöpfe«, dem Fiakerpferd. Derart werden die Typen, ob mit sozialkritischer Absicht oder in sozialromantischer Färbung, in Natur und Naturgeschichte ver- und herabgesetzt. Sie sind das widerständige naturhafte Element einer großstädtischen Gesellschaft, das, sofern nicht wandelbar, nur verdrängt werden kann. Im Augen­blick ihrer schmerzlich beschworenen Verdrängung, im Wien des »Krach- und Ausstellungsjahres« 1873, setzt die versuchte Vergegenwärtigung ihrer eigentlich als mythisch erfahrenen Existenz ein. Kurzfristige Ereignisse wie der Börsenkrach und langwierige Prozesse – etwa die städtebauliche und demografische Wandlung der barocken Stadt in eine Metropole sowie die Erosion eines bürgerlichliberalen Wertesystems – schienen für manche den sicheren Zugriff auf die Gegenwart zu verunmöglichen. Sie wandten sich den verschwörerischen Weltdeutungen des aufkommenden Antisemitismus oder sinnsuchend einer mystifizierten Alt-Wien-Vergangenheit und damit der neuerlichen Ordnung von Welt, Stadt und Gesellschaft zu: im Großen – 126 –

und im Kleinen; in der Leistungsschau der Weltausstellung und in den Typen-Tableaus. Verdinglicht, fixiert, geordnet und nummeriert illustrieren sie als Ganzes die »Naturgeschichte der Großstadt« (Jens Wietschorke), deren sich ihre Produzenten- und Käuferschaft ermächtigt, während den einzelnen Typen der Eindruck einer mythischen Unmittelbarkeit anhaftet. Denn gerade weil sich der Wiener Typ im Korsett einer vorbestimmten Urform bewegt, weil er sein Wesen mit seinen Attributen und seinem Habitus in konstanter Weise sichtbar vor sich herträgt, ist er frei von Individualität und Gefühl und als Exempel gleichfalls »wahrer« als die Wirklichkeit. Befreit von den Anforderungen der bürgerlichen Subjektkonstitution und, da ohnehin jede und jeder über seine ganz »ureigene« Beschaffenheit Bescheid weiß, kann er auch auf Verstellung und Verhehlung verzichten, die beide Gegenstand der auflagenstarken Manier- und Complimentierliteratur des 19. Jahrhunderts sind. Sein Dasein als »Mythos des Alltags« (Roland Barthes) hat ihn nach Jens Wietschorke in Natur verwandelt und damit auf seine vermeintliche Ursprünglichkeit reduziert. In dieser »Natürlichkeit« können erneut »Effekte des Authentischen« gesucht werden, die letztlich jene Vorstellungen beglaubigt haben mögen, die in die Fotografien Otto Schmidts eingeschrieben sind. Die Vorstellungen, die sich Wienerinnen und Wiener von jüdischen Hausierern in den 1870er Jahren mittels dieser Fotografien gemacht haben mögen, sind durch ein für das 19. Jahrhundert spezifisches Verständnis von Fotografie wie durch die nostalgische Referenz auf Naturgeschichte authentisiert. Sie dienen der Distinktion und Versicherung der eigenen modernen Existenz. In ihnen werden Konflikte zwischen Gegenmoderne und Moderne, zwischen Fortschrittskritik und Fortschrittsglaube ausgetragen. Sie sind Teil einer versuchten Ordnung von Welt und Gesell– 127 –

schaft, die sich durch Dinge und Menschen, Artefakte und Naturafakte zieht, Dinge klassifiziert und Menschen typisiert, während sich parallel erstarkte Ideen von Individualität herausbilden. Gerade die Konvergenz von Mythos und Moderne, von mythischer Überindividualität und dem Fotografieverständnis des 19. Jahrhunderts verbrieften die Vorstellungen des Jüdischen, die in der fotografischen Inszenierung sichtbar wurden. Jüdische Stimmen zu Kräusers Schauspiel wie zur Typenfotografie sind äußerst rar. Einzig die Neue Freie Presse, die von Max Friedländer mitbegründet worden war und in der seit den 1870er Jahren Publizisten wie Moriz Benedikt und Daniel Spitzer tongebend waren, begleitete Kräusers Bühnenwirken kontinuierlich mit Theaterkritiken. Diese Kritiken lobten seine Leistung mehrheitlich, erwähnten immer wieder den großen Beifall für Kräuser und notierten schließlich auch 1896, als der Schauspieler verarmt und dement in die städtische Versorgungsanstalt zog. Der Bericht würdigte Kräusers Erfolge und beschrieb, wie er seine Spezialität des »Böhmen« mit »drolligen Eigenheiten« und »gutmüthigem Humor« ausgestattet habe. Seine Darstellungen garantierten »blühendsten Unsinn«, begeisterte sich die Neue Freie Presse. Die jüdischen Figuren erwähnte sie nicht.

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1873 – 1890 – 1924

Fünfzig Jahre und einen Systemwechsel später existiert der jüdische Hausierer immer noch im Typenrepertoire Wiens. Hans Karl Breslauer inszeniert ihn 1924 in Die Stadt ohne Juden jedoch viel deutlicher als Fremden: Er trägt einen Mantel und Schläfenlocken und gehört mit seiner ärm­ lichen Erscheinung eindeutig zum Kosmos der mittellosen osteuropäischen Aschkenasim. In späteren Variationen des Hausierermotivs hatte Otto Schmidt um 1880 einen Händler gezeigt, der, umringt von zwei Kindern, seine Waren einer Frau anbieten kann; in Breslauers Film bekommt der Hausierer diese Chance gar nicht mehr. Er wird im Wirtshaus von Antisemiten angefeindet und später wohl mit der Masse jüdischer Menschen aus der Stadt vertrieben – seine Spur verliert sich. Trotz verschiedener Kontinuitäten, wie sie etwa im Typ des Hausierers verfolgt werden können, entziehen sich die behandelten Artefakte einer einfachen Teleologie – sie sind in sich vieldeutig und oft paradoxen Rezeptionsmustern unterworfen. Als »eingefangene Erfahrung« (captured experience, Susan Sontag) kondensieren sie auf typisierte und aspektische Weise jüdische Erfahrungswelten in der Moderne  – sie erzählen von existenzieller Not und Gewalt, von innerjüdischen Fragen der Akkulturation und Dissimilation sowie von Fremdzuschreibungen, die von außen an die jüdische Bevölkerung herangetragen wurden und deren Alltag nachhaltig prägten. Gerade weil es sich bei allen Artefakten um Typisierungen des Jüdischen handelt, verdichten sich in ihnen Vorstellungen über jüdische Lebensweisen solcherart, dass sie vielen Rezipientinnen und Rezipienten – 129 –

um 1900 in paradoxer Wendung als typisiert und deswegen wahr, gar »überlebenswahr«, erschienen. »Die Sache ist nämlich so«, schreibt Béla Balázs in Der sichtbare Mensch, »daß die Stilisierung der Natur […] die Bedingung dafür ist, daß ein Film zum Kunstwerk werde.« Und Felix Salten befindet über Alexander Girardi zwanzig Jahre zuvor, dass er etwas »neben dem Wienerischen« erschaffe, »etwas, das vielleicht darüber ist«. Die Typenfotografie, die als Abbildverfahren von Welt »Effekte des Authentischen« hervorrufen kann, gleichzeitig aber den künstlerischen Gehalt der Vorstellungswelten des Jüdischen ins Bild setzt, verweist exemplarisch auf diese Doppeltheit. Dieser Essay hat nach den Verschränkungen von künstlerischen Bildwelten und kollektiven Perzeptionen des Jüdischen gefragt, er hat die Strategien und Wahrnehmungsmuster verfolgt, mit denen diese Bildwelten als authentisch positioniert wurden, und ist dabei auf eine ganze Ideenlandschaft jüdischen Seins der Moderne gestoßen. So ist die Antwort auf die Frage, ob etwas als besonders natürlich beglaubigt oder gegenteilig als besonders artifiziell gefeiert wurde, in erster Linie abhängig vom Blick auf die Welt und von der Stellung zu ihr. Sie erzählt aber auch von einem spezifischen Kunst- und Theaterverständnis, von Vorstellungen über Differenz und anthropologischen Annahmen. Der Film Die Stadt ohne Juden etwa gründet auf zwei Strategien, sich im Leben und in Gesellschaft als wahrhaftig zu zeigen – beide sind mit anthropologischen Ideen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden: Modelliert das bürgerliche Subjekt – zunächst in Abwendung von höfischen, neuzeitlichen Wissensordnungen  – mittels sozialer Praktiken des Ausdrucks, Affekts und Verhaltens eine streng kodifizierte Natürlichkeit, so sind diese Praktiken der Bürgerlichkeit in den 1920er Jahren bereits einer kritischen Revision unterworfen. Das Versprechen – 130 –

von Authentizität ohne Modellage liegt nun gerade darin, das bürgerliche Natürlichkeitskorsett zu verlassen und Erfahrungen der Unmittelbarkeit im Fremden oder im unkontrollierten Gefühl zu vermuten. Sind diese Ideen in der Moderne generell im Schwange, so exemplifiziert Breslauer sie für den zeitgenössischen Diskurs um aschkenasische Judenheiten im östlichen und westlichen Europa. Er wirft einen ethnografischen Blick auf eine nur vermeintlich einheitliche Gruppe – die jüdische Bevölkerung des östlichen Europa – und dokumentiert so, wie Ideen des Fremden mit Authentizität verknüpft und anhand von Vorstellungen des Jüdischen ausgehandelt und verfestigt wurden. Dass Breslauer für die Illustration dieser Authentizität auch keine andere Strategie kannte, als mittels eines tradierten Formenrepertoires Unmittelbarkeit zu behaupten, spricht von der Unmöglichkeit, »echte« Ursprünglichkeit zu zeigen oder zu erlangen. Diese ist im kulturwissenschaftlichen Sinn ein Konstrukt, das hervorgebracht und zugeschrieben wird, dabei paradoxe Ergebnisse zutage fördert und teilweise gewaltvolle Zuschreibungen gegen marginalisierte Gruppen wie die jüdische Bevölkerung vornimmt. Die Dokumente rund um die Theatervorstellungen der Klabriaspartie zeugen von dieser teils mächtigen Zuschreibungspraxis. Das theatrale Handwerk der Possenschauspieler wird durch Authentizitätsurteile nicht als artifiziell erkannt, sondern – um mit Felix Salten zu sprechen – als »echt jüdisch« etabliert. Dass diese Zuschreibung letztlich antisemitisch gegen die jüdische Bevölkerung gewendet werden konnte, bestimmte unter anderem die Kontroverse um Die Klabriaspartie zur Jahrhundertwende. Dabei ermöglichte die Posse, die um 1900 ungewöhnlich breit und lange diskutiert wurde, ein widerständiges, offenes Spiel, das verschiedene Figuren des Jüdischen nicht bloß darstellte oder gar psychologisierte. Die theatrale Anlage erlaubte vielmehr – 131 –

eine Kommunikation über Fragen der sozialen Positionierung, der Akkulturation und Bürgerlichkeit und war wohl gerade deswegen so beliebt. Im Vergleich zum Film Die Stadt ohne Juden, der zwei Lebenswelten der Aschkenasim teilweise hierarchisierend gegenüberstellt, verhandeln in der Posse jüdische Figuren des östlichen Europa diese kategorische Trennung auf überspitzte und körperliche Weise; sie befragen so – die spielerischen Möglichkeiten von Theater ausschöpfend – die Zuschreibungen des Jüdischen auf dialektische Weise. Indem dieses Spiel samt seinen Schauspielern als authentisch wahrgenommen wurde, erfolgte neben der Marginalisierung einer Bevölkerungsgruppe zugleich die Abwertung einer Theatertradition, die Relikte eines ambivalenten, uneindeutigen Spiels jenseits der veristischen Menschendarstellung ermöglichte, deren Praxis aber qua Authentisierung gleichfalls vereindeutigt wurde. Die diskursiven Mechanismen der Auf- und Abwertung jüdischer Existenz im Verbund mit Authentizitätsurteilen und Ideen von Theater sind schließlich in der Typenfotografie des Wiener Weltausstellungsjahres 1873 auf exemplarische Weise kondensiert. Die Fotografie verschränkt das Rollenporträt des Schauspielers Martin Kräuser mit der Sammelkarte eines jüdischen Hausierers und setzt so die historische Erfahrung ins Bild, in Gesellschaft als »Schauspieler« auf den Bühnen der sozialen Lebensrealität wahrgenommen worden zu sein. Diese Vorstellung des Jüdischen als einer per se theatralen – und pejorativ: theatralischen – Existenz durchzieht alle Artefakte: Die Theaterfigur des Hausierers Moses Gansel erweist sich auf der Theaterbühne der Wiener Josefstadt als begnadeter Schauspieler des gesellschaftlichen Miteinanders, der Praktiken der Verstellung und Verhehlung  – genauso wie die Figur Leo Strakosch im Film Die Stadt ohne Juden – zu seinem Vorteil nutzen kann. Umgekehrt entäußern sich die der Tradition verhaf– 132 –

teten jüdischen Figuren im Film jenseits dieses bürgerlichen Rollenspiels. Sie erscheinen maskenlos, nicht durch einen westlichen Modernisierungsprozess zivilisiert und gerade deswegen von besonderem »theatralischen« Talent. Dergestalt sind die Rezeptionshaltungen, die allen Artefakten entgegengebracht werden, durchdrungen von zeitgenössischen Diskursen über Schauspiel und Sozialrolle, über den Prozess gesellschaftlicher Teilhabe und die Dichotomie von Ost und West. Im Zuge der Rezeption werden die jüdischen Figuren der Artefakte von verschiedener Seite als Vertreter einer folkloristisch bis antisemitisch inszenierten und gleichfalls als authentisch imaginierten Gesellschaftsgruppe projektiert – dabei scheint oft kaum ins Gewicht zu fallen, ob die mediale oder theatrale Praxis ethnografischen oder artifiziellen Anspruch erhebt. Was als authentische jüdische Seinsweise diskursiviert wird, bestimmt ein Konglomerat aus Fremd- und Selbstzuschreibungen, Wahrnehmungsweisen, politischen Ideologien und künstlerischen Praktiken. Als künstlerische Szenen kollektiver Imaginationen sind die Artefakte damit nicht per se wahr, sondern Teil einer gesellschaftlichen Wirklichkeit des modernen Wien. Dieser Essay hat vornehmlich Vorstellungswelten des Jüdischen besprochen, die Bilder von Juden – nicht von Jüdinnen – theatral und medial inszeniert haben. Dies verdeutlicht einerseits ein historisches Ungleichgewicht: Gab es etwa im 19. Jahrhundert auch zahlreiche jüdische Hausiererinnen, so ist lediglich ein männlicher Kollege in einem damals weitverbreiteten Motiv festgehalten. Andererseits ist diese Tatsache der Beobachtung geschuldet, dass den Vorstellungen des Jüdischen teilweise erhebliche geschlechtliche Differenzen eingeschrieben sind. Ein antisemitisch-anti­feministischer Diskurs um 1900 betraf Juden, gleichwohl aber hatte er eine besondere Wirkmacht auf Jüdinnen. Hildegard Frübis etwa – 133 –

arbeitete anhand von Typisierungen der Jüdin im 19. Jahrhundert heraus, wie sich exotisierende Ideen vom Orient mit Bildern der »schönen Jüdin« überlagerten. Nichtsdestotrotz wirkten Vorstellungen über Juden und Jüdinnen, die als solche im gesamtgesellschaftlichen Diskurs vorhanden waren, auf den Lebensalltag der jüdischen Bevölkerung zurück. Kerry Wallach weist etwa auf die Anekdote des jüdischen Autors Sammy Gronemann (1875–1952) hin, die er 1927 in seiner biografischen Sammlung Schalet. Beiträge zur Philosophie des »Wenn Schon« veröffentlichte und die Konstruktionen des Jüdischen wie auch deren lebensweltliche Konsequenzen umreißt. Gronemann beschreibt die Begegnung mit einer Frau an einem dämmrigen Abend in Wien. Er habe ihr eine Zigarette angeboten und, als sie ihm aus dem Schatten entgegentrat, sie wegen ihres »typischen orientalischen Gesichts« gefragt: »Sind sie eine Jüdin?« Ihre erschrockene Antwort: »Ja, ich bin eine Jüdin – und stolz darauf.« Wohl verärgert über seine Frage und vielleicht aus Angst vor einem antisemitischen Angriff, verschwand die Frau, nicht ohne Gronemann die angebotene Zigarette ins Gesicht zu werfen.

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Quellen und Literatur

Inszenierte Vorstellungswelten Über die Ausstellung Die Stadt ohne … informieren die Webseite des Filmarchivs Austria (2.  Juli 2020) sowie der Ausstellungskatalog von Andreas Brunner / Barbara Staudinger /  Hannes Sulzenbacher (Hgg.), Die Stadt ohne: Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer, Wien 2018. Zu Peter Geimers Einsichten in das Wesen der Dinge vgl. ders., Theorie der Gegenstände. »Die Menschen sind nicht mehr unter sich«, in: Jörg Huber (Hg.), Person / Schauplatz (Interventionen 12), Zürich / New York 2003, 209–222. Einen Überblick über Forschungsfelder und -perspektiven der materiellen Kulturen gibt der Sammelband von Stefanie Samida / Manfred K. H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hgg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014. Wolfgang Paulis Definition von Wirklichkeit als »alles, was wirkt« wenden für die Theatergeschichtsforschung an Ronja Flick / Maria Koch / Ingo Rekatzky, My Big Fat Klingon Wedding. Ein Vorwort, in: dies. (Hgg.), Erinnern  – Erzählen  – Erkennen. Vom Wissen kultureller Praktiken, Leipzig 2017, ­11–26, hier 14.  Zu Vorstellungen, Darstellungen und Stereotypen vgl. Eva Schürmann, Vorstellen und Darstellen. Szenen einer medienanthropologischen Theorie des Geistes, Paderborn 2019; Hans Henning Hahn, Einleitung, in: ders. (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Oldenburg 1995, sowie Juliane Sucker / Lea Wohl von Haselberg, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Bilder des Jüdischen.

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Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin / Boston, Mass., 2013, 11–30, hier bes. 14 f. Über Echtheit als Maßstab für Architektur und soziale Existenz bei Adolf Loos vgl. ders., Die Potemkin’sche Stadt, in: Ver sacrum. Mittheilungen der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs (Juli 1898), H. 7, o. S. Zum Ausdruckstanz der 1920er Jahre in Wien und dem Engagement vieler jüdischer Künstlerinnen vgl. Andrea Amort, Free Dance in Interwar Vienna, in: Deborah Holmes / Lisa Silverman (Hgg.), Interwar Vienna. Culture between Tradition and Modernity, New York 2009, 117–142. Zu Begriff, Konzept und Historizität von »Authentizität« vgl. Susanne Knaller / Harro Müller (Hgg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006; dies., Art. »Authentisch / Authentizität«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart 2005, 40–65; Michael Rössner / Heidemarie Uhl (Hgg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012; Kurt Röttgers / Reinhard Fabian, Art. »Authentisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Basel 1971, 691 f.; Achim Saupe, Authentizität (Version 3), in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. August 2015

(2. Juli 2020); ders., Historische Authentizität: Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 15. August 2017, (2.  Juli 2020). Eine Verständigung über den Begriff der Authentizität mittels Charles Taylors Arbeiten nimmt vor Christoph Menke, Was ist eine »Ethik der Authentizität«?, in: Michael Kühnlein / ​ Matthias Lutz-Bachmann (Hgg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, 217–238.

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Eine »emotionalisierte Natürlichkeit« als Teil der modernen bürgerlichen Subjektordnung wird untersucht in Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2008, 6 f.; zur neuzeitlichen Problematik des »Wesens« und Ausdrucks vgl. zudem ausführlich bei Hartmut Böhme, Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition, in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, 179–211. Kraus’ Klage, mit Girardi sei »Wien selbst nach Berlin gegangen«, findet sich in Karl Kraus, Girardi, in: Die Fackel  9 (12. März 1908), Nr. 246/247, 38–44, Zitat 43. Alle bibliografischen Angaben zur Fackel entstammen der Ausgabe Karl Kraus, Die Fackel, 12 Bde., München 1968–1976. Das Zitat »Eine Zeitlang lief halb Wien herum und spielte Girardi  …« ist entnommen Felix Salten, Girardi-Kainz, in: ders., Das österreichische Antlitz, Essays, Berlin 1909, 143–156, Zitat 148, daneben bes. 147–152. Saltens persönliches Bekenntnis hinsichtlich einer Zuschreibung des Jüdischen findet sich in F. S. [Felix Salten], »Echt jüdisch«, in: Die Welt, 10. November 1899, 13 f. Für das Verständnis des Authentischen innerhalb der zionistischen Bewegung vgl. Manja Herrmann, Zionismus und Authentizität. Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs, Berlin 2018; zur jüdischen Renaissance vgl. Asher D. Biemann, Art. »Renaissance«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften hg. von Dan Diner (nachfolgend EJGK), Bd. 5, Stuttgart 2014, 174–178. Zur jüdischen Geschichte Wiens vgl. eingehend Robert Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1999, sowie Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867–1914. Assimilation und Identität, Wien 1989; vgl. zudem Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993. Zu den Lebenswelten der aschkenasischen Judenheiten vgl. Dan ­Diner, Gedächt-

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niszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 125–134; zur Geschichte des Begriffs »Ostjude« vgl. Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison, Wis., 1982, und Anne-Christin Saß, Art. »Ostjuden«, in: EJGK, Bd. 4, Stuttgart 2013, 459–464; zudem Philipp Mettauer / Barbara Staudinger (Hgg.), »Ostjuden«. Geschichte und Mythos, Innsbruck / Wien / Bozen 2015. Carl  E.  Schorskes Überlegungen zu Wien als einer dysto­ pischen »Brutstätte« politischer Bewegungen finden sich in ders., Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Wien 1982, XVIII.

Die Stadt ohne Juden (1924) Zum Mord an Hugo Bettauer vgl. u. a. den zeitgenössischen Bericht in der Illustrierten Kronen Zeitung, 27. März 1925, 4. Zu Kontroversen um seine Person im Jahr zuvor vgl. etwa Arbeiter-Zeitung, 15. März 1924, 1. Die Rede Ignaz Seipels ist abgedruckt in Illustrierte Kronen Zeitung, 14. März 1924,  3. Ein Bericht zum Handgemenge während einer Wiener Gemeinderatssitzung findet sich in der Arbeiter-Zeitung, 22. März 1924, 8. Murray G. Hall, der sich ab 1978 als Erster aus akademischer Perspektive mit Bettauer und seinem Schaffen befasste, schreibt ausführlich über die Anfeindungen: ders., Der Fall Bettauer, Wien 1978. Einige Romane Bettauers, darunter Die Stadt ohne Juden, sind neu veröffentlicht in: Hugo Bettauer, Gesammelte Werke, 6 Bde., Salzburg 1980. Über Pläne für eine dramatische Bearbeitung von Bettauers »Sensationsroman« Die Stadt ohne Juden berichtet das Wiener Montags-Journal, 10. November 1922, 3. Die Nachfrage nach dem Roman wird betont in Neues Wiener Tagblatt, 7. Dezember 1922, 13; In der Wiener Sonn- und Montagszeitung, 31. Juli

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1922, 3 ist die erste Zehntausenderauflage des Buches als vergriffen inseriert. Von der schwierigen Produktionsgeschichte der Romanverfilmung berichtet Armin Loacker, Die Stadt ohne Juden. Produktion  – Rezeption  – Überlieferung, in: Andreas Brunner u. a (Hgg.), Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge, München 2019, 27–31. »[D]aß dieser Film nicht weniger Aufsehen erregen wird …« Das Zitat ist entnommen Kino-Journal, 7. Juli 1923, 26. Zum Roman siehe Hugo Bettauer, Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen, Wien 2012, hier 9 sowie das Kap. 6: Doktor Schwertfeger. Ein Bericht zum Verbot von Bettauers Film durch die Stadt Linz findet sich im Linzer Volksblatt, 10. August 1924, 6. Zu den Störungen im Kinosaal in Wiener Neustadt vgl. z. B. Illustrierte Kronen Zeitung, 13. Oktober 1924, 4, oder Neue Freie Presse, 13. Oktober 1924, 6. Die Aussagen Otto Rothstocks (»Mein Schreckschuß  …«) finden sich in Neuigkeits-Welt-Blatt, 6. Oktober 1925, 3, und Salzburger Wacht, 6. Oktober 1925, 1. Hugo Bettauers Notizen zur Entstehung des Romans Die Stadt ohne Juden sind veröffentlicht in Die Börse, 13. Juli 1922, 16. Zur Kritik an Bettauers Roman vgl. Arbeiter-Zeitung, 29. Juli 1924, 10. Steven Beller argumentiert mit dem Buch von Hugo Bettauer anekdotisch die kulturelle Bedeutung der jüdischen Bevölkerung für die Wiener Moderne, teilt also Bettauers Perspektive. Auch wenn er dessen Beschreibung für keine »allzu gut beobachtende« hält, erkennt er an: »In diesem prophetischen Roman schildert Bettauer, was geschähe, wenn die antisemitische Regierung Österreichs alle Juden, einschließlich der Konvertiten (denen man nicht trauen könne), des Landes verwiese. Gesellschaftlich und wirtschaftlich bricht alles zusammen. Die Banken müssen von Ausländern übernommen werden, die Politiker haben keinen Sündenbock mehr, und die eleganten

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Modehäuser verlieren ihre Kunden, denn es waren die jüdischen Damen, die den Ton in der Mode angaben.« Ders., Wien und die Juden, 1993, 14 (zuerst engl. 1989). Patricia Zhubi weist hingegen auf die Problematik der Strategie Bettauers hin, antisemitische Vorurteile positiv zu wenden. Vgl. dies., Maskierte Propheten. Darstellungsformen des Antisemitismus in Hugo Bettauers Roman Stadt ohne Juden und Artur Landsbergers Adaption, in: Hans-Joachim Hahn / Olaf Kistenmacher (Hgg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft  II: Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz, Berlin 2019, 219–248, hier 227–232. Über den Erfolg von Die Stadt ohne Juden in den großen Wiener Kinos berichtete Das Kino-Journal, 2. August 1924, 6. Zur Wirkung der Kulissenbauten vgl. Die Filmwelt 14/15 (1924), 7. Das Zitat »Da man für einen Film nur Freunde werben will …« entstammt ebd., 6. Die Resolution der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ist abgedruckt etwa in Neue Freie Presse, 28. Juli 1918, 6. Materialien der Israelitischen Kultusgemeinde Wien zur Resolution lagern in den Central Archives of the History of the Jewish People in Jerusalem, A-W-325. Zu Walter Riehls Rolle im Prozess gegen Rothstock vgl. Andreas Huber / Linda Erker / Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg, Wien 2020, 28. Auszüge aus Leopold Kunschaks Rede vor der Nationalversammlung sind entnommen dem Stenographischen Protokoll der 78.  Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung, 29. April 1920, 2.379–2.383, hier zit. nach Oliver Rathkolb, Art. »Leopold-Kunschak-Platz«, in: Straßennamen Wiens seit 1860 als »Politische Erinnerungsorte«, erstellt im Auftrag der Kulturabteilung der Stadt Wien, Forschungsendbericht, Wien 2013, 66–69. Zum Antisemitismus in der Ersten Republik vgl. Albert Lichtblau, Antisemitismus – Rahmenbedingungen und Wirkungen auf das Zusammenleben von Juden und Nicht­juden,

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in: Emmerich Tálos u. a. (Hgg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 454–471. Die Einschätzung einer »erschreckende[n] Nähe« von Breslauers Film zur gesellschaftlich-politischen Realität der 1920er Jahre in Wien findet sich bei Michael Brenner, Wien, Berlin, München. Judenausweisungen in den 1920er-Jahren in Fiktion und Realität, in: Brunner u. a. (Hgg.), Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge, 42–45, hier 43. Hugo Bettauers Distanzierung von der Verfilmung seines Romans veröffentlichte er in Der Tag, 9. August 1924, 7. Dass die originalen, in der restaurierten Fassung nur näherungsweise rekonstruierten Zwischentitel wohl von einer »Angesichtskarte« schrieben, legt die Filmkritik in der Arbeiter-Zeitung nahe, in der sich der Rezensent über die »stumpfsinnigen Witze der Aufschriften« des Robert Weil echauffiert: »Hält er ›Angesichtskarte‹ statt ›Ansichtskarte‹ und [den Firmennamen] ›Biskuit und Bruder‹ statt ›Zwieback und Bruder‹ tatsächlich für sehr lustig?« Arbeiter-Zeitung, 29. Juli 1924, 8. Zu Massenphänomenen bei Elias Canetti vgl. ders., Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980 (Erstausgabe 1960), die Zitate 13 und 54 f. Das Zitat zur »ungleichmäßigen Regie« ist entnommen Der Kinematograph 1014, 25. Juli 1926, 29. Zu Samuel Hirszenbergs Bild Exil (1904) vgl. Sie wandern, in: Ost und West, H. 8–9, August–September 1904, 553–562, hier 554. Zu Kontext und Rezeption des Gemäldes vgl. R ­ ichard I. Cohen, Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe, 1998, 231–233; vgl. zudem ders. / Mirjam Rajner, The Return of the Wandering Jew(s) in Samuel Hirszenberg’s Art, in: Ars Judaica 2011, 33–56. Ich danke Stefan Hofmann für den Hinweis auf Samuel Hirszenberg sowie für den bereichernden Austausch. Das Zitat zum »objektiven Urkundenwert durch die photographische Wiedergabe« findet sich bei Rudolf Harms, Kul-

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turbedeutung und Kulturgefahren des Films, Karlsruhe 1927, 15. Gleichfalls erkannte Harms in dieser Wirklichkeitsnähe eine Gefahr; er stellte ihr zudem bald eine zweite Tendenz zur Seite: die des spielerischen Zugangs zur Wirklichkeit bis hin zu Wirklichkeitsferne des Films. Vgl. dazu ders., Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, hg. von Birgit Recki, Hamburg 2009. Der bebilderte Vorbericht zu Breslauers Film erschien in der Rubrik »Filme, von denen man spricht«, in: Der Filmbote, 9. Februar 1924, 14. Aus Pola Negris Memoiren wurde zitiert nach Irene Straten­ werth, Ostjüdische Lebenswelten im Großstadt-Kino. Um 1920 avanciert das Schtetl zur Filmkulisse, in: dies. / Hermann Simon (Hgg.), Pioniere in Celluloid, Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004, 221–245. Zum Film Die Gezeichneten vgl. ebd., 228. Zu den Dreharbeiten von Das alte Gesetz vgl. Cynthia Walk, Romeo with Sidelocks. Jewish-Gentile Romance in E. A. Dupont’s »Das alte Gesetz« (1923) and Other Early Weimar Assimilation Films, in: Christian Rogowski (Hg.), The Many Faces of Weimar Cinema. Rediscovering Germany’s Filmic Legacy, New York 2010, 84–101, hier 97. Über Breslauers ethnografische Recherchen berichtete Die Filmwelt 16 (1924), 5. Siegfried Kracauers Überlegungen zu Laiendarstellern beim Film finden sich in ders., Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M. 2005, 170 f. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge 1914/15 ist bis heute nur näherungsweise bestimmbar. Zu den Schätzungen und zur Situation der Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina in Wien vgl. Barbara Staudinger, »Juden auf Wanderschaft«. Galizische Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Dokumentationsarchiv des öster­ reichischen Widerstands (Hg.), Forschungen zu Vertreibung und Holocaust, Wien 2018, 197–209.

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Für Gedanken über Authentizität bei Michael Brenner vgl. ders., The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, Yale, Conn., 1996 (dt.: München 2000). Helmut Lethens hier zitierte Überlegungen zur Authentizität finden sich in ders., Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme / Klaus R. Scherpe (Hgg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, 205–231, hier 222. Lethen unterzieht in seinem Aufsatz u. a. die einflussreichen und in den politischen Debatten der 1960er Jahre verhafteten Thesen Lionel Trillings in Sincerity and Authenticity (1972; dt.: Das Ende der Aufrichtigkeit, München 1980) einer erneuten Probe. Trilling war besonders daran gelegen, die Aufwertung des »Authentischen« in den 1960er Jahren als ideen- und moralgeschichtliche Konstellation aus dem 19. Jahrhundert heraus zu verstehen. Zur Verbindung von Avantgarde, Primitivismus und Authentizitätszuschreibungen vgl. Helmut Lethen, Masken der Authentizität. Der Diskurs des »Primitivismus« in Manifesten der Avantgarde, in: Hubert van den Berg / Ralf Grüttemeier (Hgg.), Manifeste. Intentionalität, Amsterdam / Atlanta, Ga., 1998, 227–258. Gertrud Eysoldts Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 29. September 1903 ist publiziert in Der Sturm Elektra. Gertrud Eysoldt, Hugo von Hofmannsthal, Briefe, hg. und mit einem Nachwort versehen von Leonhard M. Fiedler, Salzburg 1996, 9. Hofmannsthals Reaktion gegenüber Bahr vom 6. Oktober 1903 findet sich in Hugo von Hofmannsthal / Gerty von Hofmannsthal / Hermann Bahr, Briefwechsel 1891–1934, hg. und kommentiert von Elsbeth Dangel-Pelloquin, 2 Bde., Göttingen 2013, hier Bd. 1, 225. Hermann Bahrs Schilderungen von Gertrud Eysoldts Schauspielkunst wurden zitiert nach Hermann Bahr, Elektra, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. Mai 1905, 11. Für die Ausdeutung von Eysoldts schauspielerischer Darbietung als »Symptomkomplex« eines verdrängten Innenlebens

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vgl. Bettina Conrad, Gelehrtentheater: Bühnenmetaphern in der Wissenschaftsgeschichte zwischen 1870 und 1914, Oldenburg 2012, hier 117; zur inszenatorischen Praxis der Hysterie vgl. ebd., 23–103. Zum antifeministisch-antisemitischen Diskurs der Jahrhundertwende vgl. genauer Sander  L.  Gilman, Freud, Race, and Gender, Princeton, N. J., 1993; Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien 1985; Ann Pellegrini, Performance Anxieties. Staging Psychoanalysis, Staging Race, London 1997; Karin Stögner, Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen, Baden-Baden 2014. Im Zusammenhang reglementierter und normierter Formen des Leidens im Film spricht Michael Kitzberger von einer »Leidenspoesie«; ders., Bild-Störung. Repräsentationen des Jüdischen, in: Guntram Geser / Armin Loacker (Hgg.), Die Stadt ohne Juden, Wien 2000, 415–444, hier 438. Die Zitate zum »gottesdienstlichen Gruß der Hebräer« sind entnommen Oskar Guttmann, Die Aesthetische Bildung des Menschlichen Körpers. Lehrbuch zum Selbstunterricht für alle gebildeten Stände, insbesondere für Bühnenkünstler, Leipzig 31902, 140 f. Die pseudonym publizierte Würdigung Hugo Bettauers durch Balázs ist abgedruckt als Hugo Ignotus (Béla Balázs), Bettauer. Eine Wiener Erscheinung. Wahrheitsplauscher, Herzenskenner, Lebenshelfer, in: Die Bühne, 26. März 1925, H. 20, 22 f. Balázs äußert sich darin auch zu den Attacken gegen Bettauer aufgrund seiner jüdischen Herkunft: »Zu alledem ist noch zu bemerken, daß die Wiener kleine Bürgerschaft in einem Teil provinziellen, ja bäuerlichen Ursprungs und überwiegend christlich, die Kaffeehausintellektualität Bettauers hingegen jene für jüdisch hingenommene zeitungsschreiberische ist, der man den Zugang zum Herzen des Volkes abzusprechen pflegt. Nun zeigt es sich wieder, wie gedankenlos das Gefasel und nur

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in Ländern den Leuten anzubinden ist, wo, wie im Osten und in Deutschland, es bemerkbar viele Juden gibt«. Ebd., 23.  Zu Balázs in Wien vgl. Hanno Loewy, Vom Schielen der Sinne. Feuilletons und Film. Béla Balázs  – ein Dichter auf Abwegen, in: Wien und die jüdische Erfahrung, Wien 2003, ­325–341. Zur Biografie Balázs’ und der ideengeschichtlichen Verortung seines Schaffens als Märchenautor und Filmtheo­ retiker hat Hanno Loewy eine umfassende Dissertation vorgelegt: ders., Béla Balázs. Märchen, Ritual und Film, Berlin 2003. Für Balázs’ ästhetisch-theoretische Überlegungen zum Stummfilm vgl. ders., Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001, bes. 16 f., das Zitat 17 (Erstausgabe 1924; Hervorhebung im Original gesperrt). Der vorliegende Essay nutzt für den neuzeitlichen Körper-Geist-Dualismus nur an jenen Stellen den Seelenbegriff, an denen auf Balázs oder den Wortgebrauch anderer referiert wird; zur Komplexität des jüdischen Seele-Leib-Verhältnisses vgl. Robert Jütte, Leib und Leben im Judentum, Berlin 2016, 13. Auf welche Beiträge Goethes sich Balázs bezieht, ist nicht eindeutig feststellbar, es könnte sich um den Naturgeschicht­lichen Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1776) handeln; Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 42 und 21. Die Ausführungen von Balázs sind keine kohärente Filmtheorie, sondern vielmehr zeitdiagnostische Essayistik, die virulente Diskurse des beginnenden 20. Jahrhunderts beziehungsreich aufnimmt. Zum Verhältnis von Sprachkritik und früher Filmtheorie vgl. Jörg Schweinitz, Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin 2006, bes. 138–160. Gertrud Koch hat die Einflüsse von Georg Simmel auf Balázs detailliert herausgearbeitet: dies., Die Physiognomie der Dinge. Zur frühen Filmtheorie von Béla Balázs, in: Frauen und Film 40 (August 1986), 73–82. Heide Schlüpmann verortet die Arbeiten von Balázs im Kontext der marxschen Frühschriften und

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perspektiviert Balázs mit feministischer Filmtheorie. Vgl. dies., Filmsprache als Körpersprache. Zu Béla Balázs’ Ästhetik des Kinos von 1925, in: Birgit Edle / Sigrid Weigel (Hgg.), Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln / Weimar / Wien 1996, 83–98. Daniel Hermsdorf weist auf die Konnexe zur lichtenbergschen Pathognomik hin. Ders., Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne, Würzburg 2011, bes. 310–337. Vgl. zudem Béla Balázs, Mienenspiel und Physiognomie im Film (1924), in: Helmut  H.  Diederichs (Hg.), Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt a. M. 2004, 212–222. Zum paneuropäischen Entwurf einer physiognomischen Filmtheorie in den 1920er Jahren vgl. u. a. Carl Hauptmann, Film und Theater, in: Die neue Schaubühne 1 (1919), H. 6, ­165–172, hier 168 f.; Urban Gad, Schauspielkunst im Film (1920), in: Diederichs (Hg.), Geschichte der Filmtheorie, 2­ 04–211; Willy Haas, Gibt es eine Schauspielermaske im Film? Filmdramaturgische Notizen, in: Film-Kurier 256, 29. Oktober 1924, zit. in: Wolfgang Jacobsen / Karl Prümm / Benno Wenz (Hgg.), Willy Haas. Der Kritiker als Mitproduzent. Texte zum Film 1920–1933, Berlin 1991, 46 f., hier 46. Zu Hermann Bahrs Traum von einem Haus als Projektionsraum der Seele vgl. Carl  E.  Schorske, Vom öffentlichen zum privaten Raum. Architektur als Kulturkritik, in: ders. (Hg.), Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne, Wien 2004, 187–201, das Zitat 192. Der umfassende, mit Karikaturen von Rudolf Matauschek illustrierte Bericht zu Die Stadt ohne Juden wurde veröffentlicht in Die Filmwelt 7/8 (1924), 7. Zu Balázs’ Gegenüberstellung von Wort und Gebärde vgl. ders., Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 19 f. Das Zitat »Echt ist, was nur so und nicht anders sein konnte,  …« und nachfolgende Zitate zur feuilletonistischen

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Besprechung des Films Die Leuchte Asiens sind entnommen Béla Balázs, Echtes, Allzuechtes, in: ders., Ein Baedeker der Seele und andere Feuilletons aus den Jahren 1920–1926, hg. von Hanno Loewy, Berlin 2002, 33–35, hier 34 f. Der Begriff »Rasse« verweist auf seine Verwendung um 1900 im Kontext von Rassentheorie und biologistischen Klassifizierungsversuchen des Menschen. Wurde im 19. Jahrhundert versucht, die hierarchisierende Systematisierung von Menschen akademisch zu fundieren, so sind diese anthropologischen Ideen wissenschaftlich unhaltbar. In diesem Sinn wird »Rasse« als wissenschaftlich nicht valides, aber historisch prägendes Konzept verstanden, das sozial hervorgebracht wurde und als solches die Lebenswirklichkeit und Ideengeschichte seit der Moderne maßgeblich mit beeinflusst hat. Für Balázs’ Gedanken zur Masse im Film vgl. ders., Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 55. Zu seinem Verständnis von »Rasse« sowie seinen physiognomischen Schriften als »one of the first attempts to undermine the racial unconscio­us of European film theory from within« vgl. Tobias Nagl, The Aesthetics of Race in European Film Theory, in: Temenuga Trifonova (Hg.), European Film Theory, New York 2009, 17–31. Zudem Laura Hein, The »Psyche of the White Man« and the Mass Face on Film. Béla Balázs between Racialist and Marxist Physiognomics, in: New German Critique 127, Bd. 43 (Februar 2016), H. 1, 59–89. Das Zitat »eine tiefe Sehnsucht lebt in uns …« findet sich in Béla Balázs, Echtes, Allzuechtes, 35. Zur Lücke zwischen Wesen und Erscheinung vgl. Hartmut Böhme, Der sprechende Leib. Zu den Zusammenhängen von veristischem Schauspiel und Anthropologie siehe Gerda Baumbach, Der Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, 2 Bde., Leipzig 2012 und 2018, hier Bd. 1. Zur Maskenfeindlichkeit der Moderne dies., Maschera, ve saludo! Maske, seid gegrüßt! Anmerkungen zu Maske, Theater-Maske und ­Masken-​Theater in der europäischen Neuzeit, in: Alfred Schä-

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fer / Michael Wimmer (Hgg.), Masken und Maskierungen, Opladen 2000, 137–160. Über das Paradox, dass Lebenstheater im bürger­lichen Zeitalter umso notwendiger wird, je mehr es verschleiert werden soll, hat etwa Ingo Rekatzky am Beispiel von Knigge geschrieben. Ders., Die Reise nach Braunschweig oder: Über den Umgang mit Menschen. Knigges Nicht-TheaterIdeal zwischen Utopie und Lebensrealität, in: ders. / Flick / Koch (Hgg.), Erinnern – Erzählen – Erkennen, 199–212. »Im Rahmen des Ganzen steht die Geschichte eines jungen, befähigten Juden, …«, zit. nach Der Filmbote, 9. Februar 1924, 14. Die Zweig-Zitate »[Wir] essen andere Speisen,  …« und nachfolgende sind entnommen Arnold Zweig, Das ostjüdische Antlitz, Berlin 21922, hier 12 und 16. Zur Denkfigur der »Ostjuden« vgl. Anne-Christin Saß, Art. »Ostjuden«, in: EJGK, Bd. 4, Stuttgart 2013, 459–464. Zur Berichterstattung über den Prozess gegen Rothstock vgl. u. a. Salzburger Wacht, 6. Oktober 1925, 1, sowie Der Tag, 6. Oktober 1925, 7 f. Rothstocks Verteidiger Walter Riehl war nicht nur Vordenker des nationalsozialistischen Programms in Österreich, sondern zudem im Deutschen Klub aktiv. Im Klub organisierten sich zahlreiche deutschnationale Publizisten, Politiker und Juristen zu einem einflussreichen Netzwerk, das antisemitische Kampagnen führte und sich gegenseitig Posten zuschanzte. Andreas Huber, Linda Erker und Klaus Taschwer haben die Einflussnahme des Vereins auf den Freispruch von Otto Rothstock untersucht. Sie weisen u. a. darauf hin, dass mehrere Akteure des Prozesses  – neben Riehl auch der Prozessvorsitzende Ernst Ramsauer und der Staatsanwalt Franz Bucek  – mit dem Deutschen Klub verbunden waren und der Freispruch Rothstocks so durch den Klub erwirkt worden sein könnte. Vgl. Huber / Erker / Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg, 72–74. Lisa Silverman hat den Prozess zum Mord an Hugo Bettauer sowie drei andere Prozesse der Zwischenkriegszeit als Verhandlungen von jüdischer

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Differenz gedeutet. Vgl. dies., Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars, Oxford 2012, 29–65. Zur Filmkritik der Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden vgl. Berliner Morgenpost, 22. Juli 1922, sowie Kurt Mühsam, B. Z. am Mittag, 21. Juli 1926, beide zit. nach L ­ oacker, Die Stadt ohne Juden. Produktion – Rezeption – Überlieferung, 29.  Vgl. zur Aufführung von De Stad zonder Joden in Amsterdam die detaillierten Nachforschungen von Loacker, Die Stadt ohne Juden. Produktion – Rezeption – Überlieferung, 30.  Das Zitat »Die neue Sichtbarkeit des Menschen,  …« entstammt ursprünglich Siegfried Kracauer, Bücher vom Film, in: Frankfurter Zeitung, 10. Juli 1927, hier zit. nach Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 172. Zu den Biografien von Breslauer und Jenbach vgl. Armin Loacker, Johann Karl Breslauer, in: Geser / ders. (Hgg.), Die Stadt ohne Juden, 169–171, sowie ders., Kino vor dem KZ. Österreichische Filmschaffende als NS-Opfer, in: filmarchiv 7 (März 2003), 11 f. Zur Rezeption von Rothstocks Tat in der Zweiten R ­ epublik vgl. Der Mord an Hugo Bettauer, in: Brunner u. a. (Hgg.), Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge, 175.

Die Klabriaspartie (1890) Das Zitat »Sie werden es für einen Ausflug auf das Land oder für eine Heiratsangelegenheit halten.  …« und nachfolgende entstammen Jacques Hannak, Fünfzig [sic] Jahre »Klabriaspartie«, Arbeiter-Zeitung, 1. Januar 1931, 13. Zur Geschichte der Budapester Orpheumgesellschaft vgl. Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919, Wien 2002. Für die Gerichtsverhandlung vor dem Bezirksgericht der Inneren Stadt Wien vgl. den Bericht vom selben Tag: Eine Klabrias-Partie, in: Die Presse, 13. November 1890, 11 f.

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Vgl. zum Inhalt der Klabriaspartie die Ausgabe Adolf Bergmann, Die Klabriaspartie, 3. Aufl., Wien o. J., die Zitate: »Reis. … ich geh’ den Dowidl sofort verklagen …« 40 und später: »(Reis zieht die Strümpfe von den Händen). …« 11 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Für die Ankündigung des Theaterstücks als Sensationskomödie vgl. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 8. November 1890, 11, sowie ebd., 14. November 1890, 8 und 11. Über den Selbstversuch eines Wiener Bezirksrichters berichtete Die Presse, 28. April 1892, 11. Weitere Presseberichte über Klabrias finden sich etwa in Die Presse (Abendblatt), 26. März 1892,  7; Neue Freie Presse, 17. Juli 1892,  8; Bukowiner Rundschau, 6. April 1893, 2. Zum Volkssänger Adolfi vgl. ausführlich Klaus Hödl, Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn. Juden in der Wiener populären Kultur um 1900, Göttingen 2017. Zur »Dynamik der Dissimilation« vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 22000, 166–180. Zum Einsatz von Humor im Jargontheater gegen den Druck der Akkulturation bzw. Assimilation vgl. etwa Steven  E.  Aschheim, Gabriel Riessers Rechte. Zur deutschjüdischen Erfahrungswelt zwischen Sittlichkeit und Zurückweisung, in: Dan Diner (Hg.), Deutsche Zeiten. Geschichte und Lebenswelt. Festschrift für Moshe Zimmermann, Göttingen 2012, 75–88, sowie Peter Sprengel, »Herrnfeld-Humor« im Visier (anti)jüdischer Diskurse, in: Burkhard Meyer-Sickendiek / ​ Gunnar Och (Hgg.), Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie, Paderborn 2015, 173–186. Die lobende Kritik von Karl Kraus ist zit. nach ders., Ein Vorschlag, in: Die Fackel 13 (27. Januar 1912), Nr. 341/342, 6–8, hier 7 f. Karl Kraus plädierte in seiner Fackel für eine radikale Anpassung der jüdischen Bevölkerung, lehnte Jiddisch als Sprache ab und schrieb oftmals gegen sogenannte »Ostjuden«; gleichzeitig würdigte er die Budapester Orpheumgesellschaft und ihre Schauspielkunst, die ja gerade jüdische Sichtbarkeit

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theatral verhandelte. Zu Kraus’ teilweise paradoxen Positionen vgl. auch Dietmar Goltschnigg, Art. »Die Fackel«, in: EJGK, Bd. 2, Stuttgart 2012, 310–314. Seine Positionen zum Wiener Theater sind etwa beschrieben bei Jens Malte Fischer, Karl Kraus. Der Widersprecher, Wien 2020, 45–53. Zum Herrnfeld-Theater vgl. Stefan Hofmann, Bürgerlicher Habitus und jüdische Zugehörigkeit. Das Herrnfeld-Theater um 1900, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 445–480. Hofmann beschreibt das überzeichnete Spiel der Herrnfelds, das dennoch – darin der Rezeption der Budapester Orpheumgesellschaft ähnlich – teilweise authentisiert wurde. Die beiden Briefe Arthur Schnitzlers sind publiziert in ders., Briefe, 1875–1912, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 1981, 390 sowie 211 f. Zeitgenössische Presseberichte zum Klabriasspiel in Kaffeehäusern sind entnommen Die Kartenpartie der Flüchtlinge, in: Die Neue Zeitung, 22. April 1915, 6, und Wieder galizische Flüchtlinge als Hasardspieler, in: Arbeiter-Zeitung, 12. Mai 1915, 7. Zu comödiantischen Spielpraktiken vgl. Baumbach, Der Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 1. Zum »jüdischen Körper« vgl. Jütte, Leib und Leben im Judentum; Sander L. Gilman, The Jew’s Body, New York 1991. Zu Körpertheorie allgemein siehe Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988; Dietmar Kamper, Art. »Körper«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart / Weimar 1990, 426–450; Ralf Elm, Art. »Leib / Leiblichkeit«, in: Eike Bohlken / Christian Thies (Hgg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart / Weimar 2009, 367–371; Gernot Böhme, Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Frankfurt a. M. 2019. Über Karl Kraus’ Haltung zu den Budapestern vgl. ders., Die Humoristen, in: ders., Sittlichkeit und Kriminalität. Aus-

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gewählte Schriften, Bd. 1, Wien / Leipzig 1908, 25–28; ders., Habitué, in: Die Fackel 5 (Ende April 1903), Nr. 136, 20 f.; ders., Distanzen, in: Die Fackel 13 (2. Juni 1911), Nr. 324/325, 23 f., Zitate 23. Das Zitat »Das Lokal der Orpheumgesellschaft ist rauchig …« findet sich in Karl Kraus, Ein Vorschlag, in: Die Fackel 13 (27. Januar 1912), Nr. 341/342, 6–8, hier 8; »Mein Vorschlag, das leerstehende Burgtheater …« in ders., Mein Vorschlag, in: Die Fackel 13 (29. Februar 1912), Nr. 343/344, 17–21, hier 17. Zu Felix Saltens Äußerungen über Heinrich Eisenbach siehe etwa ders., Eisenbach, in: ders., Geister der Zeit. Erlebnisse, Berlin / Wien / Leipzig 1924, 171–174, die Zitate 173. Zu Alfred Polgars Einschätzung vgl. ders., Max Rott, in: Ja und Nein, Bd. 3: Noch allerlei Theater, Berlin 1926, 217–219, Zitate 217. Anton Kuhs Deutung »[Ü]berall, wo Kunst gemacht wird, …« findet sich in ders., Das Theater der Komiker. Unter der Führung von Glinger und Taussig, in: Die Bühne, 20. November 1924, 24. Zu Anton Kuhs Analyse des Judentums in der Moderne vgl. Andreas B. Kilcher, Anton Kuh und sein Essay »Juden und Deutsche«, in: Anton Kuh, Juden und Deutsche, hg. mit einer Einleitung von Andreas B. Kilcher, Wien 2003, 7–65. Josef Koller wurde zitiert nach ders., Das Wiener Volks­ sängertum in alter und neuer Zeit. Nacherzähltes und Selbst­ erlebtes, Wien 1931, 159. Nachrufe auf Rott sind abgedruckt als Max Rott – gestorben, in: Wiener Morgenzeitung, 7. März 1922, 5; Armer Yorik, in: ebd., 29. Januar 1922, 8; Anton Kuh, Max Rott, in: Der Morgen. Wiener Morgenblatt, 6. März 1922, 2; Neues Wiener Journal, 5. März 1922, 3. Das Zitat: »so sehr aus dem Leben gegriffen«, entstammt dem Beitrag Kleine Chronik, in: Die Presse, 26. März 1892, 3. Hans Liebstöckl bezieht sich nostalgisch auf Eisenbach und die Budapester Orpheumgesellschaft. Ders., Theater, in: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 28. Januar 1924,  2. Saltens Ein-

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schätzung, der Humor stecke Eisenbach »im Gemüt«, findet sich in ders., Eisenbach, 171–174. Die folgenden Zitate entstammen Felix Salten, Das Theater und die Juden (1), in: Die Welt, 17. Februar 1899, 14 (»Ich will nur bekräftigen, was die Antisemiten behaupten: …«), sowie ders., Das Theater und die Juden (Schauspielerei), in: Die Welt, 3. März 1899, 14 f., hier 15 (»Wo immer sie auch spielen  …«). Zum Entstehungskontext von Saltens Artikelserie und einer Deutungsperspektive auf Saltens Rollenverständnis in Bezug auf seine jüdische Herkunft vgl. Siegfried Mattl, Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt, in: Frank Stern / Barbara Eichinger (Hgg.), Wien und die jüdische Erfahrung. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien / Köln / Weimar 2009, 419–426, zu antisemitischen Theatergründungen vgl. zudem Hilde Haider-Pregler, Ausgrenzungen. Auswirkungen antisemitischer Tendenzen in der Kulturpolitik auf das österreichische Theater von der Jahrhundertwende bis 1938, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Theatralica Judaica I. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte von der Lessing-Zeit bis zur Shoah, Berlin 1992, 184–204. »Man erblickte in Rott nicht einen genialen Karikaturisten …«; der Beitrag zum Tod Max Rotts wurde veröffentlicht als Max Rott – gestorben, in: Wiener Morgenzeitung, 7. März 1922, 5. Alfred Polgar äußert seine Bewunderung für die schauspielerischen Leistungen Rotts und Eisenbergs in ders., Max Rott, in: ders., Ja und Nein, Bd. 3: Noch allerlei Theater, Berlin 1926, 217–219, Zitat 217, sowie ders., Heinrich Eisenbach, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 6: Theater II., hg. von Marcel Reich-­ Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl, Reinbek bei Hamburg 1986, 347–349, Zitat 348. Zur Ehrenbeleidigungsklage vor dem Leopoldstädter Bezirksgericht vgl. Neues Wiener Tagblatt, 28. November 1911, 16. Karl Kraus äußerte sich zweimal zum Prozess: ders., Ein Vorschlag, in: Die Fackel 13 (27. Januar 1912), Nr. 341/342, 6–8,

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hier  8; ders., Mein Vorschlag, in: Die Fackel 13 (29.  Februar 1912), Nr. 343/344, 17–21, hier 18.

Wiener Typ Nr. 16 (1873) Max Nordaus Bericht zum Eröffnungsmorgen der Weltausstellung wurde publiziert unter dem Titel Die Eröffnung der Weltausstellung, in: Pester Lloyd, 1. Mai 1873, hier zit. nach Hedvig Ujvári, Zwischen Bazar und Weltpolitik. Die Wiener Weltausstellung 1873 in Feuilletons von Max Nordau im Pester Lloyd, Berlin 2011, 149. Zur Debatte um Hausierer vgl. Neues Wiener Tagblatt (Tagesausgabe), 11. Juni 1872, 3. Eine Kritik zur Posse des Wiener Fürsttheaters veröffentlichte Neues Wiener Tagblatt, 15. April 1873, 15. Fachlich-organisatorische Übersichten zur Ausstellung bietet der offizielle Ausstellungskatalog: Amtlicher Catalog der Ausstellung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Österreichs: Welt-Ausstellung 1873 in Wien. Mit drei Uebersichtsplaenen, 349. Zu Otto Schmidt und seinem Schaffen vgl. Otto Schmidt, Wiener Typen und Strassenbilder, hg. von Helfried Seemann, Wien 2000; Otto Schmidt, Studien. Landschaften, Architektur, Akte. Mit einem Text und einer Chronologie zu Leben und Werk von Timm Starl, Wien 2000; Reingard Witzmann, Wiener Typen. Historische Alltagsfotos aus dem 19. Jahrhundert, Dortmund 1982, sowie bes. Michael Ponstingl, Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen, in: Wolfgang Kos (Hg.), Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit, Wien 2013, 192–201. Für Typen im Wienerlied siehe Elisabeth Theresia Fritz / Helmut Kretschmer (Hgg.), Wien, Musikgeschichte. Volksmusik und Wienerlied, Münster 2006; zu Anton Zampis Lithografien vgl. Kos (Hg.), Wiener Typen, 96–103; zum Wiener Feuilleton vgl. Hildegard Kernmayer, Judentum im Wiener Feuilleton

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(1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne, Tübingen 1998. Zu den Preisen und Löhnen im Wien des Ausstellungsjahres vgl. Ponstingl, Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen, 194, sowie K.  Schumann, Neuester Wiener Fremden-Führer: praktischer und unentbehrlicher Rathgeber für Reisende, welche Wien und die Weltausstellung besuchen und dabei Zeit und Geld sparen wollen, Wien 1873. Die zitierte Theaterkritik zu Rózsa Sándor wurde veröffentlicht in Neues Wiener Tagblatt, 10. November 1873, 15. Vgl. außerdem Ponstingl, Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen, 198. Zu Kräuser siehe den Art. »Kräuser, Martin«, in: Ludwig Eisenberg, Großes Biographisches Lexikon der Deutschen Bühne im 19. Jahrhundert, Leipzig 1903, 537 f., hier 538. Vgl. weiterhin z. B. Marion Linhardt, Residenz und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1585–1918), Tübingen 2006, 264. Zur Internationalen Ausstellung für Musik und Theaterwesen 1892 siehe Louis Rainer’s Illustrirter Führer durch die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, Wien 1892. Für die zitierten Presseberichte über die Posse Der schöne Dovidl vgl. Wiener Theater-Chronik, 10. Juli 1874,  3, sowie Wiener Sonn- und Montagszeitung, 5. Juli 1874, 3. Das Manuskript des Schönen Dovidl befindet sich in der Theaterzensursammlung des Niederösterreichischen Landesarchivs (nachfolgend NÖLA), Theater ZA 1874/3316 K 20. Der Bericht über »lebhafte[n] Beifall …« für Kräuser ist abgedruckt in Die Presse, 9. Februar 1873, 6; vgl. außerdem Neues Fremden-Blatt, 7. Juli 1874, 5. Zur Premierenkritik von Rózsa Sándor siehe Wiener ­Theater-​ Chronik, 14. November 1873, 3; zum Stück selbst vgl. Eduard Kaan (Pseudonym: Dorn), Rózsa Sándor, der Räuberkönig der Puszta. Romantisches Original-Volksstück in 4 Abtheilungen

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und 8  Bildern mit Gesang u. Tänzen. NÖLA, NÖ Reg. Präs Theater TB K 368/10. Die beschriebene Situation findet sich in der zweiten Szene des dritten Bildes. Zum historischen Sándor Rózsa siehe etwa Petra Knápková, Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Iglaus, Olomouc 2010, 158, sowie zeitgenössische Quellen: Der Feierabend. Ein Unterhaltungsblatt zur Straubinger Zeitung, 30. Dezember 1872, 2 f.; Fremden-Blatt (Abendausgabe), 16. Dezember 1872,  4; Illustrirtes Wiener Extrablatt, 7. März 1873, 1. Zu judenfeindlichen Narrativen und Aktionen in Verbindung mit Räuberbanden vgl. das Fallbeispiel des Schinderhannes von Cilli KasperHoltkotte, »Jud, gib dein Geld her oder du bist des Todes«. Die Banditengruppe des Schinderhannes und die Juden, in: ­Asch­kenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 1 (1993), 113–188. Zu jüdischen Figuren in Bilderbögen vgl. den historischen Abriss von Peter Dittmar, Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, Berlin 2014 (Erstausgabe 1992), 169–214. »Gestatten Sie mir einige Bemerkungen über das Verfahren …«, zit. nach Illustrirtes Wiener Extrablatt, 9. November 1873, 3. Nach der allgemeinen Volkszählung vom 31. Dezember 1869 lebten rund 607 000 Menschen in Wien, darunter 40 230 jüdischer Herkunft, von denen wiederum 578 hausierten. Davon waren zwei in Wien, 57 in Böhmen, 84 in Mähren und Schlesien, 90 in Galizien und der Bukowina, 332 in Ungarn und 9 im Ausland heimatberechtigt. Vgl. Israel Jeiteles, Die Kultusgemeinde der Israeliten in Wien mit Benützung des statistischen Volkszählungsoperates v. J. 1869, Wien 1873. Zum Begriff »Luftmenschen« siehe Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 22014 (Erstausgabe 2008). Für die Situation jüdischer und jüdisch-galizischer Hausierer vgl. Klemens Kaps, Räumliche Konkurrenz und Ethnisierung

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der Ökonomie. Der Hausierhandel in Galizien im Zeitalter der Ersten Globalisierung (1873–1914), in: Jacques Le Rider / Heinz Raschel (Hgg.), La Galicie au temps des Habsbourg ­(1772–1918). Histoire, société, cultures en contact, Tours 2013, 263–279, sowie Gerhart Milchrahm, Auswärtige Händler in Wien. Tiroler Teppichhändler, Figurini, Zwiebelkroaten, jüdische Hausierer und griechische Kaufleute, in: Kos (Hg.), Wiener Typen, ­158–165. Zur beispielhaften Lebensgeschichte des Hausierers Moses Hirsch vgl. Stefan Rohrbacher / Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und anti­ semitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg 1991, 43–78. Das Hausierpatent ist veröffentlicht durch den k. k. Grenzinspektor Franz Joseph Schaffer, Das Hausirgesetz im Zusammenhange mit den seither erflossenen nachträglichen Erläuterungen und sonstigen gesetzlichen Bestimmungen, Salzburg 1859. Für die Klage über eine »Visitkartenepidemie« siehe Ludwig Schrank, Bericht aus Wien, in: Photographisches Archiv, 1861, 19; teilweise zit. in Wolfgang Baier, Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München 1977, 507. Vgl. außerdem Michael Ponstingl, Die Photographische Gesellschaft in Wien – ein bürgerliches Netzwerk im Zeitenwandel, in: ders. (Hg.), Die Explosion der Bilderwelt, 32–49, hier 36. Vgl. zur Theorie der Waren- und Dingwelten etwa Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg  i. Br. 2010 (engl. Erstausgabe: Time, Labor, and Social Domination. A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory, Cambridge 1993). Zur Konstruktion von deutscher und jüdischer kaufmännischer Existenz, gutem und schlechtem Handel anhand von Gustav Freytags Roman Soll und Haben vgl. Christine Achinger, Antisemitismus und »Deutsche Arbeit«. Zur Selbstzerstö­rung des Liberalismus bei Gustav Freytag, in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Se-

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mantiken des Jüdischen, Leipzig 2011, 361–388. Doerte B ­ ischoff betrachtet in ihrer Studie die literarische Verhandlung fetischistischer Objektbeziehungen im 19. Jahrhundert und arbeitet darin überzeugend Zusammenhänge zwischen Fetischismus und Antisemitismus sowie die »Konstruktion des Juden als Fetischisten« in der Literatur heraus. Der von Hartmut Böhme angeführte Psychoanalytiker Wilhelm Stekel (1868–1940) setzt in seiner Schrift Der Fetischismus (1923) gleichfalls den Kontrapunkt zu den im 19. Jahrhundert behaupteten Verflechtungen von Fetischismus und jüdischer Zugehörigkeit. Stekel, der aus einer jüdischen Familie aus der Bukowina stammte, schloss jüdischen Fetischismus aus religiösen Gründen aus. Vgl. ­Doerte Bischoff, Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert, München 2013, bes. 447–451, sowie Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, 411–417. Zu Arbeiten des Wiener Feuilletonisten Friedrich Schlögl vgl. ders., Von alten und neuen Sachen, Figuren und Dingen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Wienerisches. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, Wien / Pest / Leipzig 1883, 345–358, dort auch die Zitate. Die ersten beiden Sammlungen dieser Culturbilder wurden 1997 neu herausgegeben: Friedrich Schlögl, Wiener Blut und Wiener Luft. Skizzen aus dem alten Wien, hg. von Karlheinz Rossbacher und Ulrike Tanzer, mit einem Nachwort von Karlheinz Rossbacher, Salzburg / Wien 1997. Zur Bewerbung des dritten Bandes durch den Verlag Karl Prochaska siehe Österreichische Buchhändler-Correspondenz 49 (9. Dezember 1882), 500. Zur Verortung Schlögls als Feuilletonist des späteren 19. Jahrhunderts in Wien vgl. Hildegard Kernmayer, Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne, Berlin 2013 (Reprint), hier bes. das Kap. »Wiener Blut und Wiener Luft. Friedrich Schlögls Physiologien des Kleinbürgertums«.

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Auf den augenfälligen Konstruktions- und Spektakelcharakter von Otto Schmidts Typenserie hat zuerst Michael Ponstingl hingewiesen: ders., Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen, 198. Die Fotografien Nr. 16 der zweiten Typenserie sind im Bildarchiv Austria archiviert: Otto Schmidt, Polnischer Jude (Nr. 16 der zweiten Wiener Typen), um 1880, Inv.Nr. Pk 3304, 12, sowie ders., Judentum (Nr. 16 der zweiten Wiener Typen), nach 1886, Inv.Nr. Pk 3304, 14. Zum »fotografischen Paradox« siehe Roland Barthes, Die Photographie als Botschaft (1961), in: ders., Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, hg. von Peter Geimer und Bernd Stiegler, Berlin 2015, 81. Für Anton Martins Auffassung von der Fotografie als »natur­ getreue[m] Abbildungsmittel« vgl. ders., Handbuch der gesammten Photographie. Mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur Wissenschaft, zur Kunst und zum Gesetz, 6., vollständig neu bearbeitete Aufl., Wien 1865, bes. 411 f., 429 f. und 448. Zu Fotografie als Wissenschaft vgl. Monika ­Faber, Die Photographie als »vollwertige Wissenschaft«, in: Ponstingl (Hg.), Die Explosion der Bilderwelt, 114–127. Zur Beglaubigung von Vorstellungswelten durch Fotografie als einem »Es-ist-so-gewesen« vgl. Lethen, Versionen des Authen­tischen, 205–231. Friedrich Schlögls Beobachtungen zum Fiaker- und zum Wäschermädelball finden sich in ders., Auf dem Fiakerball, in: ders., Wiener Blut. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, Wien 1873, 133–142, sowie ders., Auf dem Wäschermädelball (Februar 1870), ebd., 127–132. Zu Typen als Illustrationen einer »Naturgeschichte der Großstadt« vgl. Jens Wietorschke, Die Stadt als Tableau. Zur kulturellen Konstruktion der »Wiener Typen«, in: Kos (Hg.), Wiener Typen, 26–31. Jens Wietschorke hat zudem weitere Publikationen zum kulturhistorischen Verständnis des Wiener

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Typs vorgelegt: ders., Urbane Volkstypen. Zur Folklorisierung der Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde (2014), H. 2, 215–242, sowie Moritz Ege / ders., Figuren und Figurierungen in der empirischen Kulturanalyse. Methodologische Überlegungen am Beispiel der »Wiener Typen« vom 18. bis zum 20. und des Berliner »Prolls« im 21. Jahrhundert, in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theater­ soziologie 7 (Oktober 2014), H. 11, 16–35. Eine späte Würdigung der Erfolge Martin Kräusers druckte die Neue Freie Presse, 7. Mai 1896, 23.

1873 – 1890 – 1924 Das Zitat »Die Sache ist nämlich so …« ist entnommen Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 97; Saltens frühere Einschätzung zu Alexander Girardi findet sich in Salten, Girardi-Kainz, 143–156, Zitat 148. Die Theatermetaphern, etwa der (misslingenden) Charaktermodellierung und der romantischen Überhöhung einer theatralischen Existenz im authentisierten Fremden – namentlich dem »Ostjuden« –, haben in der Moderne in Bezug auf die jüdische Bevölkerung eine relative Konstanz. Vgl. hierzu überblicksartig Steven E. Aschheim, Reflections on Theatricality, Identity, and the Modern Jewish Experience, in: Jeannette R. Malkin / Freddie Rokem (Hgg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City, Ia., 2010, 21–38. Zur Überlagerung von (orientalischen) Exotismen mit Bildern der »schönen Jüdin« vgl. Hildegard Frübis, Porträt und Typus. Repräsentationen »der« Jüdin in der Jüdischen Moderne, in: Sucker / Wohl von Haselberg (Hgg.), Bilder des Jüdischen, 33–56. Zu Gender und dem Film Die Stadt ohne Juden vgl. Silverman, Becoming Austrians, Kap. 2: Die Stadt ohne Jüdinnen.

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Die Anekdote seiner abendlichen Begegnung mit einer Frau in Wien erzählt Sammy Gronemann in Schalet. Beiträge zur Philosophie des »Wenn schon«, hier zit. nach Kerry Wallach, Passing Illusions. Jewish Visibility in Weimar Germany, Ann Arbor, Mich., 2017, 27.

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Auswahlbibliografie

Artefakte, Authentizität, Wien um 1900 Steven E. Aschheim, Reflections on Theatricality, Identity, and the Modern Jewish Experience, in: Jeannette R. Malkin / Freddie Rokem (Hgg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City, Ia., 2010, 21–38; ders., Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison, Wis., 1999; Hartmut Böhme, Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition, in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, 179–211; Manja Herrmann, Zionismus und Authentizität. Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs, Berlin 2018; Helmut Lethen, Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme / Klaus  R.  Scherpe (Hgg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, 205–231; Kurt Röttgers / Reinhard Fabian, Art. »Authentisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Basel 1971, 691 f.; Martin Sabrow / Achim Saupe (Hgg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016; Stefanie Samida / Manfred K. H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hgg.), Handbuch Materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014; Achim Saupe, Authentizität (Version  3), in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. August 2015,

(3. Juli 2020); Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Wien 1982; Frank Stern / Barbara Eichinger (Hgg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien / Köln / Weimar 2009.

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Die Stadt ohne Juden Béla Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001 (Erstausgabe 1924); Hugo Bettauer, Gesammelte Werke, 6 Bde., Salzburg 1980; Andreas Brunner u. a. (Hgg.), Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge, München 2019; ders. / Barbara Staudinger / Hannes Sulzenbacher (Hgg.), Die Stadt ohne: Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer, Wien 2018; Hans Eichner, City with Jews. Hugo Bettauer’s Vienna, in: ders., Against the Grain. Selected Essays / Gegen den Strich. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Rodney Symington, Oxford / Bern 2003, 341–363; Guntram Geser / Armin Loacker (Hgg.), Die Stadt ohne Juden, Wien 2000; Murray G. Hall, Der Fall Bettauer, Wien 1978; Andreas Huber / ​Linda Erker / Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-­Nazis in der Hofburg, Wien 2020; Armin Loacker (Hg.), Wien, die Inflation und das Elend. Essays und Materialien zum Stummfilm »Die freudlose Gasse«, Wien 2008; Beth Simone Noveck, Hugo Bettauer’s Vienna 1918–1925, in: Donald  G.  Davian (Hg.), Jura Soyfer and His Time, Riverside, Calif., 1995, 366–387; Lisa Silverman, Becom­ ing Austrians. Jews and Culture between the World Wars, New York 2012; Irene Stratenwerth / Simon Hermann (Hgg.), Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004.

Die Klabriaspartie Gerda Baumbach, Der Schauspieler. Historische Anthro­pologie des Akteurs, Bd. 1, Leipzig 2012; Adolph Bergmann, Die Klabriaspartie, Wien 3o. J.; Brigitte Dalinger, Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Tübingen 2003; dies., »Verloschene Sterne«. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Wien 1998; Stefan Hofmann, Bürgerlicher Habitus und jüdische Zugehörigkeit. Das Herrnfeld-Theater um 1900,

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in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 445–480; Karl Kraus, Die Fackel, 12 Bde., München 1968–1976 (Nachdruck); Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters, 1858–1918, Berlin 2012; Alfred Polgar, Ja und Nein, Bd. 3: Noch allerlei Theater, Berlin 1926; Felix Salten, Geister der Zeit. Erlebnisse, Berlin / Wien / Leipzig 1924; Arthur Schnitzler, Briefe. 1875–1912, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 1981; Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919, Wien 2002.

Wiener Typen Peter Dittmar, Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, Berlin 1992; Wolfgang Kos (Hg.), Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit (Sammelband zur Sonderausstellung im Wien Museum), Wien 2013; Michael Ponstingl (Hg.), Die Explosion der Bilderwelt. Die Photographische Gesellschaft in Wien 1861–1945, Wien 2011; Friedrich Schlögl, Gesammelte Schriften, 3 Bde., Wien 21893, bes. Bd. 3: Wienerisches. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, Wien 1893, 345–358; Otto Schmidt, Studien. Landschaften, Architektur, Akte, mit einem Text und einer Chronologie zu Leben und Werk von Timm Starl, Wien 2000; ders., Wiener Typen und Strassenbilder, hg. von H ­ elfried Seemann, Wien 2000; Hedvig Ujvári, Zwischen Bazar und Weltpolitik. Die Wiener Weltausstellung 1873 in Feuilletons von Max Nordau im Pester Lloyd, Berlin 2011; Jens Wietschorke, Urbane Volkstypen. Zur Folklorisierung der Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde (2014), H. 2, 215–242; Reingard Witzmann, Wiener Typen. Historische Alltagsfotos aus dem 19. Jahrhundert, Dortmund 1982.

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Zur Autorin

Theresa Eisele studierte in Leipzig und Madrid Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Theaterwissenschaft mit dem Schwerpunkt Theaterhistoriografie und -anthro­pologie. Seit 2016 forscht sie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, unter anderem zum Verhältnis von jüdischer Geschichte und Theatergeschichte in der Wiener Moderne. 2020/21 ist sie Marietta-Blau-Stipendiatin an der Freien Universität Berlin. Ausgewählte Publikationen: Zersetztes Zelluloid, virulente Vorstellungen. Die Restaurierung von »Die Stadt ohne Juden«, in: Jüdische Geschichte & Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts 2 (2018), 48–51; Wider das »bürger­liche Schlafmittel«. Jacinto Graus Erkundungen frühneuzeitlicher Figu­ren für die Theateravantgarde, in: Ronja Flick /  Maria Koch / Ingo Rekatzky (Hgg.), Erinnern – Erzählen – Erkennen. Vom Wissen kultureller Praktiken, Leipzig 2017, 238–252; Unerwünschte Uraufführungen. Das »Deutsche Miserere« und die »Jüdische Chronik« 1966 in Leipzig, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 195–217; Art. »Rhapsody in Blue«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften hg. von Dan Diner, Bd. 5, Stuttgart 2014, 209–215.

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