Systemische Hirngespinste: Neurobiologische Impulse für die systemische Theorie und Praxis 9783666401503, 9783525401507, 9783647401508

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Systemische Hirngespinste: Neurobiologische Impulse für die systemische Theorie und Praxis
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Reinert Hanswille (Hg.)

Systemische Hirngespinste Neurobiologische Impulse für die systemische Theorie und Praxis

Mit 23 Abbildungen und 4 Tabellen

2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401507 — ISBN E-Book: 9783647401508

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-40150-7 © 2013, 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Schrift: Minion Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch Was kann die Psychotherapie von den Ergebnissen der Neurobiologie lernen?

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Günter Schiepek Systemische Neurowissenschaften und systemische Therapie

34

Rainer Schwing Spuren des Erfolgs: Was lernt die systemische Praxis von der Neurobiologie?

63

Wilhelm Rotthaus Die Bedeutung der Neurobiologie für die Kinder- und Jugendlichentherapie

120

Alexander Korittko Neurobiologische Ansätze und heilende Interaktionen: Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien

148

Reinert Hanswille Systemische Traumatherapie und Neurobiologie

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Frank Natho Bindung und Trennung – Was Trennung so schwer macht. Neurobiologische Aspekte mit methodischer Anregung für eine systemische Trauerarbeit

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Inhalt

Jörg Baur Supervision als neurowissenschaftlich inspirierter Lehr-Lern-Prozess: Facetten einer »gehirngerechten« Supervision

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Jochen Schweitzer Hirngespinste systemischer Organisationstheorie

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Die Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Es gibt gegenwärtig wenige Themen, die die Fachdiskussionen im Bereich Psychotherapie und Beratung so stark prägen und beeinflussen wie die Fragen, die die Neurowissenschaften in den letzten Jahren aufgeworfen haben. Gibt es einen freien Willen? Sind Menschen schuldfähig? Können Menschen auch im hohen Lebensalter noch dazulernen? Welche unserer Eigenschaften sind angeboren und welche kann man verändern? Wie flexibel ist unser Gehirn? Sind die Möglichkeiten für menschliche Veränderungen begrenzt? Sind die neuronalen Auswirkungen von psychischen Erkrankungen durch Psychotherapie wieder rückgängig zu machen? Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?1 Gibt es überhaupt ein Ich oder Selbst? Daneben fragen sich viele: Wie können die Theorien und Forschungsergebnisse über unser Gehirn in der Praxis von Therapie, Beratung, Lehre etc. umgesetzt und nutzbar gemacht werden? Oder als extreme Gegenposition: Haben diese Ergebnisse überhaupt eine Bedeutung dafür? Erstaunlich ist dabei vor allem, dass das Interesse aneinander nicht nur einseitig ist, dass nicht nur die Psychotherapie die neurobiologischen Forschungen nutzen will, sondern dass sich auch die Neurowissenschaften für die Psychotherapie interessieren. Mit Grawe sind die meisten Autoren in diesem Buch der Ansicht, »dass die Psychotherapie aus den Neurowissenschaften entscheidende innovative Impulse für eine beschleunigte Weiterentwicklung erhalten kann« (Grawe, 2004, S. 12).2 Das Gehirn ist ein hoch komplexes System (und allein schon aus diesem Grund für Systemiker von besonderem Reiz) mit ei1 Precht, R. D. (2007). Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine psychologische Reise. München: Goldmann. 2 Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen u. a.: Hogrefe.

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Vorwort

ner Dichte an Synapsen und Neuronen, die unsere Vorstellungskraft übersteigt. Schätzungsweise 100 Milliarden Neuronen arbeiten in unserem Gehirn. Hinzu kommen ungefähr 10- bis 50mal so viele Gliazellen. Jedes Neuron wiederum ist mit bis zu 10.000 Synapsen verbunden. Die Gesamtzahl der Synapsen wird hoch in die Trillionen geschätzt. Edelmann (1995) vermutet, dass eine streichholzkopfgroße Hirnmasse schätzungsweise eine Milliarde Synapsen beinhaltet. »Von unseren verschiedenen Sinneszellen ziehen etwa zwei bis drei Millionen Nervenfasern zu unserem Gehirn. Jede von ihnen befeuert das Gehirn mit bis zu 300 Impulsen pro Sekunde« (Grawe, 2004, S. 45). Diese Kapazität und produktive Dichte in unseren Köpfen ist kaum vorstellbar und wirft fast automatisch für Systemiker die Frage auf, wie ein System bei dieser Dichte und Menge an Informationen eigentlich noch funktionieren kann und welche Regelsysteme oder anderen Funktionsweisen dem wohl zugrunde liegen. Glücklicherweise wissen wir es nicht und erhalten so die Möglichkeit, Ehrfurcht und Respekt vor jedem Individuum zu behalten. Lange standen sich die Neurowissenschaften und die Psychotherapie eher wie Konkurrenten gegenüber, wenn es um das Verständnis und die wirksamste Behandlung psychischer und psychiatrischer Symptome und Störungen ging. Das hat sich seit einigen Jahren verändert – die Neurowissenschaften haben mit ihren Forschungen den Elfenbeinturm der universitären Wissenschaft verlassen und ihre Ergebnisse sickern in die therapeutische Praxis ein. Dass wir heute in einer Situation sind, in der sich Neurowissenschaften und Psychotherapie gegenseitig beeinflussen und manchmal auch voneinander lernen, ist eine ziemlich neue Entwicklung. Lange Zeit standen sie sich eher als Konkurrenten gegenüber und die Diskussion war beherrscht von der Frage, wer die besseren und effektiveren Konzepte hat. Manchmal entstand sogar der Eindruck, beide Zugänge würden sich gegenseitig ausschließen. Doch die Ergebnisse der neueren Neurowissenschaften, dass sich neuronale Strukturen in großem Maße durch Lebenserfahrungen prägen und bestimmen, dass ungünstige Bedingungen

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Vorwort

unser Gehirn so verändern, dass sich psychische Störungen und Symptome entwickeln und dass jede psychische Störung ihre spezifischen neuronalen Korrelate besitzt (vgl. Grawe, 2003, S. V, zit. in Schiepek, 20033), haben dazu geführt, dass sich die beiden Felder jetzt mehr ergänzen. Negative Lebensbedingungen wie unsichere Bindungen, Vernachlässigung oder auch traumatische Erfahrungen können unser Gehirn so verändern, dass sich psychische Störungen entwickeln. Durch Lebenserfahrungen und -krisen sowie Umwelteinflüsse werden unsere kortikalen Landkarten ständig verändert. Sie sind dynamische Konstrukte, wie der kanadische Psychologe D. Hebb schon 1949 feststellte: »Neurons that fire together – wire together« (Neuronen, die zusammen feuern [aktiviert sind], vernetzen sich). Das wird noch heute als festes Prinzip des neuronalen Geschehens angesehen. Die daraus entstehenden synaptischen Prozesse sind die Ursachen für seelische Störungen und Gesundheit. Dies zeigt sich auch daran, dass die Grundstrukturen unserer Gehirne relativ gleich sind. Trotzdem erleben wir die Welt alle unterschiedlich, zeigen andere Regungen, wenn wir leiden und uns freuen, wütend sind oder einen Menschen lieben. Unsere Individualität wird in den feingliedrigen Netzwerken geformt, die durch die individuellen Geschichten der Menschen gebildet werden. Andere Forschungen haben nicht nur gezeigt, wie Gehirne krank werden können, sondern auch, wie sie wieder gesunden und sich gut entwickeln können, wenn positive Bilder und Vorstellungen, liebevolle Beziehungen, sichere Lebensbedingungen, Stabilität, Verstehen und Empathie vorhanden sind. Früher verstanden sich Systemiker als Experten für die Kommunikation und Interaktion in Familien, Paaren und anderen Systemen (das war in einer Zeit, als noch nicht deutlich war, wie stark Beratung/Psychotherapie unser Gehirn beeinflussen kann – damals also). Die Diskussion um die Spiegelneuronen, die »Theory of Mind« und die EOS-Systeme und viele andere neurowissenschaftliche Forschungen zeigen, wie sehr Veränderungen, auch neurobiologische Veränderungen, aus und über soziale Prozesse geformt werden. Vielleicht werden wir irgend3 Schiepek, G. (Hrsg.) (2003). Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer.

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Vorwort

wann auch noch bemerken, wie bestimmte familiäre Kulturen und Beziehungssysteme oder gar die Kooperationskultur in Organisationen neurobiologische Formungen anregen und individuelle Nervensysteme prägen, die Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen können. Bereits 2003 hat Günter Schiepek mit seinem Buch »Neurobiologie der Psychotherapie« auf das Zusammenspiel dieser beiden Disziplinen hingewiesen. Dies scheint auf der einen Seite Systemiker zu ermuntern, sich mit den Neurowissenschaften näher zu befassen, anderseits müssen sie sich aber auf den Weg machen, die inneren Systeme (neuronalen, hormonellen, emotionalen Systeme etc.) stärker in ihre Arbeit zu integrieren und sie als Teil der therapeutischen Wirklichkeit zu verstehen. Heute können sich systemische Therapeuten zusätzlich als Experten für die Herbeiführung von bedeutsamen Lebenserfahrungen zu therapeutischen Zwecken verstehen: »Könnten nicht zukünftige Psychotherapeuten Spezialisten zur gezielten Veränderung des Gehirns durch Herbeiführung der dafür erforderlichen Lebenserfahrungen sein? Erste Befunde dazu, dass sich neuronale Strukturen und Prozesse als Ergebnis von Psychotherapie tatsächlich verändern, nähren diese Hoffnung« (Grawe, 2003, S. V, zit. in Schiepek, 2003). In den Beiträgen dieses Buches werden sowohl theoretische Konzepte vorgestellt, wie die Neurobiologie die systemische Arbeit beeinflussen kann, als auch aus unterschiedlichen Praxisfeldern Beispiele zusammengefügt, wie sich die systemische Praxis durch die neurowissenschaftliche Forschung entwickeln kann. Vielleicht steht die systemische Therapie nach der Kybernetik 2. Ordnung vor einer dritten, wesentlichen Wende hin zu einer »systemischen Neuropsychotherapie«. Dieses Buch entstand im Rahmen der 8. wissenschaftlichen Jahrestagung des DGSF »Systemische Hirngespinste – Neurobiologische Impulse und andere Ideen für die Systemische Theorie und Praxis«: Das Institut für Familientherapie, systemische Supervision und Organisationsentwicklung (www.ifs-essen.de) hat diese Tagung im Jahr 2008 in Essen ausgerichtet. Wir haben uns aus folgenden Gründen für dieses Thema entschieden: − die geweckte Neugier auf Grund der vielfältigen Forschungen und Veröffentlichungen;

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Vorwort

− eigene anfängliche Erfahrungen, mit diesen Fragen in unserer systemischen Praxis zu experimentieren und Ideen zu entwickeln, wie Neurobiologie praktisch umgesetzt werden kann; − spannende und vielversprechende Forschungen der Neurowissenschaften für die Beratungspraxis; − der Nutzen neurowissenschaftlicher Forschung in der Traumatherapie, Kinder- und Jugendtherapie und Familientherapie; − Bücher von Grawe, Damasio, LeDoux, Panksepp, Kandel, Porges und vielen anderen; − das Gefühl, in einer Zeit leben zu dürfen, in der es für die systemische Therapie nach der Kybernetik 2. Ordnung zu einer dritten wesentlichen Wende kommen könnte – hin zu einer »systemischen Neuropsychotherapie«. Vielleicht sind das auch Gründe, sich für dieses Buch zu entscheiden, vielleicht haben Sie weitere und andere Vorstellungen, die Sie ganz persönlich motivieren, sich diesem Thema zu nähern. Leider konnten nicht alle Autoren aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Beiträge rechtzeitig bereitstellen. Damit das Buch zeitnah zur Jahrestagung erscheinen kann, haben wir auf einige der angekündigten Beiträge verzichtet. Das Buch erscheint in einer Zeit, die für die systemische Welt ein Schritt in eine neue Zeitrechnung ist. Die Anerkennung als Approbationsverfahren für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zum Jahreswechsel 2008/2009 bedeutet für die systemische Therapie endlich die Anerkennung in der Psychotherapielandschaft, für die sie lange gekämpft hat. Jetzt gilt es, sich im Vergleich und im Diskurs mit den anderen Richtlinienverfahren einen Platz zu erarbeiten. Es heißt Abschied zu nehmen von der Rolle »des Außenseiters, des Benachteiligten« hin zu einem etablierten Verfahren im Rahmen des Gesundheitswesens. Vielleicht kann dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leisten, indem es den Diskurs zwischen Neurobiologie und systemischer Therapie aufgreift. Reinert Hanswille

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch

Was kann die Psychotherapie von den Ergebnissen der Neurobiologie lernen?

Neuronale Grundlagen kognitiver und emotionaler Fähigkeiten Die neuroanatomischen, neurofunktionellen und neurochemischen Grundlagen der Informationsverarbeitung im Gehirn des Menschen durchlaufen unterschiedliche Entwicklungsstufen über die Lebensspanne eines Individuums hinweg. Veränderungen in den neuronalen Korrelaten kognitiver und emotionaler Prozesse finden insbesondere in der Kindheit und im Jugendalter statt. Sie sind generell als ein Teil des normalen biologischen Entwicklungsprozesses aufzufassen. Jedoch sind auch pathologische Formen zu beobachten. Darüber hinaus bilden pathologische Abweichungen neurofunktioneller Mechanismen die neuronale Grundlage psychologischer Störungen und psychiatrischer Krankheitsbilder. Als beispielhaft hierfür beschreiben wir die Pathogenese der posttraumatischen Belastungsstörung sowie Fallbeispiele von Personen mit psychogenen Amnesien. Im Zentrum des Interesses steht dabei der Befund, dass die neuronalen Mechanismen der Pathogenese solcher Störungsbilder auch die Basis für die Remission der Symptomatik und die Veränderung des Verhaltens durch psychotherapeutische Intervention bilden.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns Die morphologische und funktionelle Reifung des menschlichen zentralen Nervensystems (ZNS) im Verlauf der Kindheit und Jugend bis zum frühen Erwachsenenalter basiert auf nicht-

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch

linearen Entwicklungsprozessen (Thatcher et al., 1992; Johnson, 2001). Giedd et al. (1999) und Sowell et al. (2001) zeigten mit Hilfe der strukturellen Magnetresonanztomographie (MRT), dass es im zentralen Nervensystem in der Kindheit und Adoleszenz zu nicht-linearen Veränderungen der Dichte der grauen Gehirnsubstanz kommt, insbesondere zu einer präpubertären Zunahme und einer postpubertären Abnahme. Diese entwicklungsbedingten Veränderungen verlaufen im ZNS lokal unterschiedlich. Sie sind regionsspezifisch und koinzidieren mit der funktionellen Reifung des Gehirns. Entsprechend demonstrierten Gogtay et al. (2004) in einer MRT-Verlaufsstudie an gesunden Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 4 und 21 Jahren, dass Gehirnregionen mit primären Funktionen (z. B. der primär-motorische Kortex) früher ausreifen als solche, die die Basis höherer kognitiver Funktionen bilden (z. B. der präfrontale Kortex).

Genetische und erfahrungsabhängige Determination der Gehirnentwicklung Unser Gehirn besitzt ein hohes Ausmaß an neuronaler Plastizität (Singer, 2003; Piefke, 2008). Seine anatomischen und funktionellen Eigenschaften werden geformt durch genetische, biologische und umweltbedingte – insbesondere soziale – Faktoren. In der Kindheit ist die neuronale Plastizität des Gehirns besonders stark ausgeprägt. Es besteht noch immer Uneinigkeit über das Verhältnis zwischen den Einflüssen genetisch-biologischer Mechanismen und erfahrungsabhängiger Lernprozesse auf die Reifung des menschlichen Gehirns als Grundlage der kognitiven und behavioralen Entwicklung des Kindes. Medizinisch-neurowissenschaftlich belegbar ist jedoch, dass die postnatale anatomische und funktionelle Entwicklung des menschlichen ZNS keine passive Entfaltung eines sequentiellen Reifungsprozesses darstellt. Sie ist ein aktivitätsabhängiger Prozess, der gesteuert und begrenzt wird durch individuelle genetisch-biologische Prädispositionen (eine Überblicksarbeit gibt Piefke, 2008).

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Psychotherapie und Neurobiologie

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Kognitive und emotionale Entwicklungsstörungen Das Verständnis der normalen Reifungsprozesse des menschlichen ZNS ist von großer Wichtigkeit für das Verständnis von psychiatrischen (und auch neurologischen) Erkrankungen, die aus pathologischen Abweichungen der Gehirnreifung resultieren (z. B. Schlaggar et al., 2002). Kognitiv-emotionale Entwicklungsstörungen treten im Verlauf der Kindheit und Adoleszenz – insbesondere während der Pubertät – nicht selten auf (Braun u. Bogerts, 2001). Solche gegenwärtig intensiv diskutierten Entwicklungsstörungen sind das Autismus Syndrom (»autism spectrum disorders«; ASD) und Aufmerksamkeitsdefizite (»attention deficit hyperactivity syndrome«; ADHS). Der Befund einer hohen Erfahrungsabhängigkeit von Umbildungsprozessen des menschlichen Gehirns stimmt gut mit der Beobachtung überein, dass emotionale Störungen bei Kindern und Jugendlichen häufig den interpersonalen Bereich betreffen (Baron-Cohen, 2004). So haben autistische Kinder Schwierigkeiten, emotionale Gesichtsausdrücke und Gesten zu verstehen und sich in andere Menschen einzufühlen (Dalton et al., 2005). Die für ASD charakteristische Symptomatik betrifft jedoch nicht nur emotionale Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion, sondern auch kognitive Komponenten sozialer Kommunikation. Es wurde wiederholt berichtet, dass Autisten generell Beeinträchtigungen zeigen hinsichtlich der Fähigkeit, sich eine Vorstellung von den Gedanken, Intentionen und Annahmen anderer Menschen zu machen (z. B. Naito u. Nagayama, 2004). Diese als »Theory of Mind« (ToM; einen Überblick geben Vogeley u. Fink, 2003) bezeichnete Fähigkeit erlangen Kinder, die sich normal entwickeln, im Allgemeinen im Alter zwischen fünf und sieben Jahren.

Die zerebrale Verarbeitung von Emotionen Das limbische System repräsentiert unser »emotionales Gehirn«. Es ist ein phylogenetisch älterer Teil des menschlichen ZNS und wurde zunächst mit den Geruchs- und Geschmackssinnen in Verbindung gebracht, später dann allgemeiner mit der Emo-

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch

tionsverarbeitung und schließlich auch mit Gedächtnisfunktionen. Abbildung 1 veranschaulicht die Lage der Gehirnstrukturen, die direkt zum limbischen System gehören. Die Amygdala, die septalen Kerne und der Gyrus cinguli besitzen für die zerebrale Verarbeitung von Emotionen Schlüsselfunktionen. Darüber hinaus ist das limbische System aber auch in die Einspeicherung und Konsolidierung von Information im Gedächtnis involviert (Markowitsch u. Piefke, 2008). Diese funktionale Parallelität legt eine ausgeprägte neuroanatomische und neurofunktionelle Integration der Gedächtnis- und Emotionsverarbeitung nahe. Emotionen und Affekte werden zum Einen kontrolliert und gehemmt durch Gehirnregionen, die direkt zum limbischen System gehören. Jedoch leisten auch neokortikale, insbesondere präfrontale Strukturen zentrale Aspekte der Steuerung und Inhibition von Emotionen. Teile des präfrontalen und des medial angrenzenden anterioren cingulären Kortexes modulieren die

Abb. 1: Das limbische System im menschlichen ZNS. Das limbische System besitzt Schlüsselfunktionen bei der zerebralen Verarbeitung von Emotionen. Die Abbildung veranschaulicht die Lage der wichtigsten Gehirnstrukturen, die zum limbischen System gehören. Dazu zählen insbesondere die Amygdala, der Hippocampus, thalamische Regionen, das basale Vorderhirn, der Gyrus cinguli, der Fornix, die Mammillarkörper und der mammillothalamische Trakt.

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Psychotherapie und Neurobiologie

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Aktivität der tieferen, limbischen Kernstrukturen (z. B. Amygdala, Hypothalamus). Tierexperimente und Studien über die Reifung des menschlichen ZNS zeigen übereinstimmend, dass die Entwicklung der emotionalen Selbstregulation eines Kindes abhängig ist vom Wachstum und der Myelinisierung von verbindenden Nervenfasern zwischen präfrontalen und limbischen Gehirnstrukturen (z. B. Cunningham et al., 2002; Killgore et al., 2001). Diese kortiko-subkortikale Integration ist genetisch angelegt, die individuellen Ausformungen jedoch in hohem Maße erfahrungsabhängig (Braun u. Bogerts, 2001). Erfahrungen, die wir in der frühen Kindheit machen, können sich aufgrund der in diesem Lebensalter sehr hohen neuronalen und synaptischen Plastizität des ZNS (siehe oben) sozusagen in das kindliche Gehirn »einschreiben«. Dies trifft insbesondere für emotionale Erfahrungen zu, da die in die Emotionsverarbeitung involvierten Gehirnstrukturen besonders vulnerabel sind für frühe intensive, emotionale Erlebnisse und umweltbedingte Stresseinwirkungen. Im Falle traumatischer emotionaler Erfahrungen, mangelnder intellektueller Stimulation und/oder mangelnder emotionaler Zuwendung in der frühen Kindheit können daher »Narben« im Gehirn entstehen, die im weiteren Entwicklungsverlauf zur Manifestation psychopathologischer Symptome und psychiatrischer Erkrankungen führen können. Ein Paradebeispiel hierfür ist die nicht seltene Traumatisierung von Kindern durch Gewalt in der Familie. Erfahrungen von Gewalt und Deprivation schädigen das ZNS nachhaltig (Reddemann et al., 2002; Piefke u. Markowitsch, 2008a, 2008b, 2008c), so dass in der Folge posttraumatische Belastungsstörungen (»posttraumatic stress disorder«; PTSD), psychogene Amnesien, Persönlichkeitsstörungen (z. B. Borderline Persönlichkeitsstörungen; BPD) und andere affektive Erkrankungen auftreten können (Miller, 1986; Heim u. Nemeroff, 2001; Pollak, 2003).

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch

Posttraumatische Belastungsstörungen Eine PTSD kann als Reaktion auf ein belastendes Ereignis entstehen. Für die Symptomatik der PTSD typisch sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (so genannte »Flashbacks«) und Träumen und/oder die Dissoziation bzw. Derealisation des Trauma-Ereignisses (DSM-IV; APA, 1994). Darüber hinaus zeigen Patienten mit PTSD häufig Beeinträchtigungen der selbstreferentiellen Perspektive sowie der Integration von Erinnerungen in den raum-zeitlichen Kontext ihrer Autobiographie. Ihre autobiographischen Erinnerungen sind fragmentiert, und die Fragmente voneinander dissoziiert (van der Kolk, 1996). Angst und Depression sind die häufigsten mit der PTSD assoziierten komorbiden Störungsbilder (Siol et al., 2001). Emotional überwältigende Ereignisse, die zu einer akuten und in der Folge chronischen PTSD führen können, sind Erfahrungen von Gewalt (z. B. sexuelle Gewalt, Überfälle), schwere Unfälle, Kriegserfahrungen und Naturkatastrophen (Piefke u. Markowitsch, 2008c). Anatomische und funktionelle Schädigungen des ZNS können sowohl durch einmalige (wie z. B. durch einen schweren Unfall) als auch chronische Stresseinwirkung (wie z. B. durch über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch) verursacht werden (Sapolsky, 1996; Chambers et al., 1999; Markowitsch, 1999). Mit Hilfe anatomischer und funktioneller Bildgebungstechniken (strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie; MRT, fMRT; Positronenemissionstomographie; PET) konnte übereinstimmend gezeigt werden, dass der Hippocampus, die Amygdala, angrenzende mesolimbische Areale sowie auch Regionen des präfrontalen und anterioren cingulären Kortexes besonders vulnerabel für intensive emotionale Erlebnisse und chronischen Stress sind (z. B. Bremner et al., 2003; Gurvits et al., 1996; Lanius et al., 2001, 2002; Liberzon et al., 1999; Piefke u. Markowitsch, 2008c; Piefke et al., 2008; Rauch et al., 1996; Shin et al., 1999; Yamasue et al., 2003). Gurvits et al. (1996) berichteten verringerte Hippocampusvolumina (< 25%) bei Vietnam-Veteranen mit chronischer PTSD. Liberzon et al. (1999) zeigten bei Kriegsveteranen mit langjähriger chronischer PTSD eine verstärkte Aktivierung limbischer (z. B. Amygdala) und paralimbischer Gehirnregionen (z. B. Nucleus accumbens)

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Psychotherapie und Neurobiologie

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während einer Trauma-Exposition (Konfrontation mit Kriegsgeräuschen). Parallel beobachteten sie eine verminderte Aktivierung präfrontaler Strukturen, die Schlüsselfunktionen für die Kontrolle emotionaler Prozesse besitzen (medialer präfrontaler Kortex und anteriorer Gyrus cinguli; siehe auch Shin et al., 1999 und Lanius et al., 2001). Der Befund neuroanatomischer und neurofunktioneller Veränderungen bei Kriegsveteranen mit chronischer PTSD belegt, dass emotionale Traumata nicht nur in der Kindheit, sondern auch im Erwachsenenalter zu nachhaltigen Schädigungen des ZNS führen können. Einige psychiatrische Krankheitsbilder können sowohl aus frühkindlichen Traumatisierungen als auch intensiven emotionalen Belastungen im Jugend- und Erwachsenenalter resultieren. Zu diesen Krankheitsbildern gehört auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). In diesem Zusammenhang ist die Studie von Driessen et al. (2004) erwähnenswert, in der fMRT-basierte neurofunktionelle Messungen bei BPS Patientinnen mit und ohne zusätzliche PTSD während einer Trauma-Exposition gemacht wurden. Analog zu den oben erwähnten Befunden bei Kriegsveteranen von Liberzon et al. (1999) berichten Driessen et al. (2004) eine Hyperaktivierung des Hippocampus und der Amygdala in der rechten Gehirnhemisphäre bei Frauen mit BPS und zusätzlicher PTSD. Die meisten Bildgebungsstudien über die Auswirkungen emotionaler Traumata auf Funktionen des ZNS wurden bislang an Personen mit chronischer PTSD durchgeführt. Die behavioralen und neurofunktionellen Charakteristika der akuten Phase der Erkrankung spielen jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle für das wissenschaftliche Verständnis der Krankheitsentstehung und des weiteren Erkrankungsverlaufs. Bremner (2006) betont die Notwendigkeit der Erforschung früher Effekte emotionaler Traumata sowohl für die neurobiologische Grundlagenforschung als auch für erfolgreiche therapeutische Interventionen zur Vermeidung und Behandlung chronischer PTSD Symptome. Bislang sind wenige Daten über frühe und akute neurobiologische und neurofunktionelle Reaktionen auf traumatischen Stress sowie deren Veränderung im weiteren Krankheitsverlauf publiziert. Anatomische Bildgebungsstudien über ZNS Schädigungen bei akuten PTSD Patienten haben Ab-

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Martina Piefke und Hans J. Markowitsch

weichungen der Morphologie des anterioren cingulären Kortexes (Corbo et al., 2005), des Hippocampus (Li et al., 2006; Winter u. Irle, 2004) und der Amygdala (Vermetten et al., 2006) gezeigt. Eine funktionelle MRT-Studie demonstrierte bei Personen mit akuter PTSD veränderte neuronale Antworten der Amygdala auf maskierte und unmaskierte emotionale Gesichtsausdrücke (Armony et al., 2005). Die bislang publizierten Ergebnisse belegen, dass bereits im akuten Stadium der PTSD anatomische und funktionelle Veränderungen in Gehirnregionen auftreten, die die neuronalen Grundlagen der Emotionsverarbeitung und des Gedächtnisses bilden. Piefke et al. (2008) bestätigten und erweiterten diese Befunde kürzlich in einer fMRT-Studie an chirurgischen Patienten mit akuter PTSD infolge schwerer Unfalltraumata. Die Autoren berichten für das akute Stadium der Erkrankung ausgedehnte neurofunktionelle Abweichungen im Hippocampus, der Amygdala und weiteren Strukturen des limbischen Systems, im retrosplenialen Kortex und in emotionsregulierenden Strukturen des präfrontalen Kortexes. Abbildung 2 zeigt insbesondere die Aktivierungen im Hippocampus und angrenzenden Regionen der Amygdala sowie im parahippocampalen Gyrus. Betrachtet man die Ergebnisse von Piefke et al. (2008) vor dem Hintergrund früherer neurofunktioneller Untersuchungen an chronischen PTSD-Patienten, so zeigen sich im akuten Stadium der Erkrankung instabilere und ausgedehntere neurofunktionelle Veränderungen in limbischen, paralimbischen und neokortikalen Gehirnregionen als in späteren chronischen PTSD-Stadien. Die chronische PTSD scheint auf umschriebenen und stabilen anatomischen und funktionellen Veränderungen des ZNS zu basieren. Daher lassen sich die funktionellen Veränderungen des Gehirns bei chronischen PTSD-Patienten vermutlich nur noch schwer verändern, so dass eine vollständige Remission der Erkrankung kaum noch möglich ist. In der akuten Krankheitsphase können therapeutische Interventionen dagegen aufgrund der Instabilität der neurofunktionellen Veränderungen erfolgreich zur Remission einer PTSD führen (Piefke et al., 2008). Die gegenwärtig verfügbaren Daten über die Neurobiologie der PTSD und anderer psychiatrischer Erkrankungen legen nahe, dass die Mechanismen der Pathogenese psychologischer Störungen

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Psychotherapie und Neurobiologie

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Abb. 2: Aktivierungen im medialen Temporallappen bei chirurgischen Patienten mit einer akuten PTSD während des Erinnerns an ein rezentes Unfalltrauma (Piefke et al., 2008). Die Abbildung fokussiert die Aktivität im Hippocampus, der Amygdala (linke Bildseite) und im parahippocampalen Gyrus (rechte Bildseite). Der parahippocampale Gyrus ist insbesondere in die mentale Visualisierung von Ereignissen während des Gedächtnisabrufs involviert (siehe z. B. auch Piefke et al., 2003). A = anterior, P = posterior, L = links, R = rechts

auch die Grundlage für die Veränderung der Persönlichkeit und des Verhaltens durch psychotherapeutische Intervention – und damit für die Remission der Erkrankung – bilden (Braun u. Bogerts, 2000, 2001). Die neuronale Plastizität liefert die Grundlage für die Gestaltung und Umgestaltung der neuroanatomischen und neurofunktionellen Vernetzung von Strukturen des ZNS. Da diese Umbildungsprozesse beeinflusst werden von der Umgebung des Organismus, ermöglicht die Plastizität des Gehirns (i) die erfahrungsabhängige Entstehung einer individuellen Konnektivität zwischen Gehirnstrukturen als neuronale Basis der kognitiven und emotionalen Entwicklung und des Lernens, (ii) die Entstehung klinischer Symptome durch eine schädigende soziale Umwelt und/oder medizinische Erkrankungen und (iii) die Wirksamkeit psychotherapeutischer Intervention (Markowitsch u. Piefke, 2008c).

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Psychogene Amnesien Psychogene Amnesien können ebenfalls in der Folge bedrohlicher Einzelerlebnisse oder anhaltender psychologischer Stresssituationen (z. B. kontinuierliche Konflikte mit dem Lebenspartner) entstehen (Fuijwara et al., 2008; Markowitsch, 2003; Markowitsch et al., 1997a). Bei Personen mit psychogenen Amnesien lassen sich meistens keine anatomisch-organischen Schädigungen des Gehirns nachweisen. Am häufigsten treten psychogene Amnesien unvermittelt als selektive Störungen bestimmter Bereiche des autobiographischen Gedächtnisses auf. Sie können jedoch sehr verschiedene Erscheinungsformen annehmen. Im Folgenden werden einige Fallbeispiele aufgeführt. Herr N. N. zeigte ohne Vorankündigung eine psychogene Fugue (= Amnesie mit dem Drang, den Heimatort zu verlassen; Markowitsch et al., 1997a). Er fuhr – anstatt wie geplant Brötchen zu holen – mit dem Fahrrad mehrere Tage den Rhein entlang. Nach seinen späteren Berichten wusste er nicht, wer er war: Beim Blick in Schaufenster habe er ein ihm fremdes Gesicht gesehen. In einer Großstadt wurde er schließlich in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Er gab dort an, sein Gedächtnis verloren zu haben. Über eine Vermisstenanzeige konnte er nach Hause zurückgebracht werden. Dieses Zuhause war ihm fremd, und auch seine Frau und seine Kinder waren ihm unbekannt. Er fragte sich, wie man mit diesen Möbeln und diesen Tapeten leben könne. Auch mochte er weder als Fahrer noch als Beifahrer im Auto sitzen: Autos seien zu schnell für Menschen meinte er, obwohl er früher ein begeisterter Autofahrer gewesen war. N. N. sagte, er habe alle Ereignisse seines bisherigen Lebens vergessen: Ihm würden »die Bilder« fehlen, die die persönliche Vergangenheit »normaler« Menschen spiegeln. Er lernte dann seine Vergangenheit wie Schulwissen neu. Sein Faktenwissen war acht Monate nach dem Beginn seiner Fugue bereits hervorragend. Der Zugang zu Episoden seiner persönlichen Lebensgeschichte vor dem Auftreten des Fuguezustands blieb jedoch blockiert. Der Informatikstudent C. B. konnte sich Informationen plötzlich nicht mehr dauerhaft aneignen (Kessler et al., 1997). Sein Kurzzeitgedächtnis war intakt bis zu einer Zeitspanne von wenigen Minuten, nicht aber über dieses Zeitfenster hinaus. Aus dem Langzeitgedächtnis konnte er Informationen abrufen, die er sich vor dem Eintreten seiner Gedächtnisstörung angeeignet hatte. Sein amnestischer Zustand hielt über Jahre an und

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machte eine eigenständige Lebensführung unmöglich. Aufgrund einiger Eigenschaften von C. B.’s Persönlichkeit und einiger Ereignisse in seiner Lebensgeschichte könnte man vermuten, dass er durch Versagensängste – und damit durch chronische Stresszustände – eine Blockade für den dauerhaften Erwerb neuer Information aufgebaut hatte. Auf diese Weise konnte er weiterem Leistungsstress entgehen. Bildgebende Untersuchungen zeigten bei C. B. keine anatomischen Schädigungen des ZNS. Insofern ist seine Gedächtnisstörung als psychogene Amnesie aufzufassen, die ihre Ursache vermutlich in den Alltagsbelastungen des Informatikstudenten hatte. Frau C. D. hatte in ihrer Kindheit emotionale Traumata erlitten (sexueller Missbrauch durch nahestehende Verwandte und Druck durch deren Selbstmorddrohungen; Markowitsch et al., 1997b). Diese führten dazu, dass sie sich im Erwachsenenalter an die Zeit zwischen ihrem 10. und 16. Lebensjahr nicht erinnern konnte. Im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung malte sie Bilder über diese Zeit, die für sie selbst nicht verbalisierbare, jedoch emotional bewertbare Szenen zeigten. Neurofunktionelle Untersuchungen ihres Gehirns demonstrierten, dass das Anschauen der Bilder bei ihr eine starke Aktivierung von emotionsverarbeitenden Gehirnregionen bewirkte und stimmen insofern mit den Verhaltensaspekten überein. Herr A. M. N. hatte im Alter von vier Jahren gesehen, wie ein Mann im Auto verbrannte. Nachdem er als junger Erwachsener einen Brand im eigenen Haus erlebt hatte, trat bei ihm eine dauerhafte Amnesie auf. Anatomische MRT-Untersuchungen zeigten keine morphologischen Schädigungen seines Gehirns (Abbildung 3a). Mittels 18F-Fluor-Deoxyglukose (FDG)-PET konnte jedoch in gedächtnisverarbeitenden ZNS-Regionen ein verminderter Glukosestoffwechsel nachgewiesen werden (Abbildung 3b). In der Zeit kurz nach dem Hausbrand hatte A. M. N. keine Erinnerung an autobiographische Ereignisse der letzten sechs Jahre und konnte sich auch keinerlei neue Information dauerhaft aneignen. Nach einem Jahr war seine Amnesie noch immer so schwerwiegend, dass er seinem Beruf weiterhin nicht nachkommen konnte. Viele Erinnerungen waren jedoch im Verlauf einer psychotherapeutischen Intervention wiedergekommen. Eine zweite FDG-PET-Untersuchung zeigte zu diesem Zeitpunkt entsprechend eine Wiederherstellung des normalen zerebralen Glukosemetabolismus (Abbildung 3c). Erste Forschritte seiner kognitiven Leistungsfähigkeit hatten sich bereits nach ca. acht Monaten eingefunden (Markowitsch et al., 2000).

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F. A. zeigte nach einer über zweijährigen Krankengeschichte mit Aufenthalten in verschiedenen psychiatrischen Universitätskliniken eine vollständige Unfähigkeit zur Neugedächtnisbildung, ein stark eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis, Altgedächtnisstörungen, eine Akalkulie und Wortfindungsstörungen. Anatomische und funktionelle bildgebende Untersuchungen lieferten keine Hinweise auf ZNS-Schädigungen (Markowitsch et al., 1999a). Die Lebensgeschichte von F. A. lässt jedoch vermuten, dass bei ihm infolge belastender Lebenssituationen persistierende mnestische Blockaden und damit assoziierte neuropsychologische Defizite aufgetreten waren.

Abb. 3: In der Folge eines Branderlebnisses trat bei Herrn A. M. N. eine persistierende psychogene Amnesie auf. Anatomische MRT-Bilder zeigten kurz nach dem Einsetzen der Amnesie keine morphologischen ZNS Schädigungen (a). Mittels 18F-Fluor-Deoxyglukose (FDG)-PET konnte jedoch zum selben Zeitpunkt in gedächtnisverarbeitenden Regionen des Gehirns ein verminderter Glukosemetabolismus nachgewiesen werden (b). Ein Jahr nach dem Branderlebnis hatten A. M. N.’s Gedächtnisleistungen sowie seine weiteren kognitiven Fähigkeiten Fortschritte gemacht. Eine zweite FDG-PET-Untersuchung zu diesem Zeitpunkt zeigte entsprechend eine Wiederherstellung des normalen zerebralen Glukosemetabolismus (c). L = links, R = rechts

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T. A. hatte bei einem Unfall ein Schleudertrauma erlitten und war anschließend dauerhaft amnestisch (Markowitsch et al., 1999b). Bildgebende Untersuchungen ihres Gehirns hatten keine Anhaltspunkte für zerebrale Schädigungen gezeigt. T. A. war desorientiert hinsichtlich der Zeit, konnte sich an Ereignisse bis unmittelbar vor, nicht aber nach dem Unfall erinnern. Sie konnte sich neue Information bis zu einer Zeitspanne von ein bis zwei Stunden aneignen, nicht aber über dieses Zeitfenster hinaus. Entsprechend erwachte sie jeden Morgen ohne jede Erinnerung an den vorangegangenen Tag. Auch zeigte sie nach dem Unfall bimodale Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, für die sich keine direkten physiologischen Korrelate finden ließen. Zum einen hatte sie einen »Tunnelblick« und sah nur etwa zehn bis zwanzig Winkelgrade weit, zum anderen war sie so schwerhörig, dass sie eine Hörhilfe benötigte. Man kann mutmaßen, dass der Unfall als ein emotionales Schockereignis bei T. A. dauerhaft zu einer Blockade der Informationsübertragung ins Langzeitgedächtnis geführt hat. Der Umstand, dass sie seit ihrem Unfall vollständig von ihrer Mutter abhängig war, könnte als lebensgeschichtliche Beziehungskomponente der Persistenz ihrer funktionellen Amnesie interpretiert werden. T. X. war beim Schlittschuhlaufen auf den Hinterkopf gefallen und danach vollständig amnestisch für Ereignisse ihrer persönlichen Vergangenheit. Sie erkannte auch ihre Eltern nicht. Faktenwissen war dagegen nicht von der Amnesie betroffen. Bildgebende Untersuchungen zeigten keine Schädigungen des ZNS. Hinweise auf eine lebensgeschichtliche Komponente der psychogenen Amnesie ließen sich ebenfalls nicht ermitteln. T. X. versuchte, ihre Vergangenheit neu zu lernen wie neutrales Wissen. Frau A. D. wurde während eines Urlaubs in einem fernöstlichen Land bewusstlos am Beckenrand des Hotelschwimmbads liegend gefunden. Nachdem sie aufgewacht war, hatte sie keinerlei Erinnerungen mehr an ihre persönliche Vergangenheit. Sie unterbrach die Reise jedoch nicht. Diese ungewöhnlich erscheinende Unbekümmertheit, die viele Patienten mit psychogenen Amnesien zeigen, wird als »belle indifference« bezeichnet (Markowitsch, 1992). Nach der Rückkehr nach Hause blieb ihr amnestischer Zustand zunächst unverändert. Als sie an einem Tag die Eltern ihres Freundes besuchte, schlachteten diese gerade ein Schwein. A. D. half dabei, und als sie ihre Hände in Schweineblut tauchte, kam ihr schlagartig die Erinnerung an das Ereignis in Fernost wieder, das ihre Gedächtnisblockade ausgelöst hatte: Sie hatte einem blutend am Boden liegenden Mann helfen wollen, der vermutlich bei einer Messerstecherei schwer verletzt worden war. Sie hörte dann jedoch Schritte und lief aus Angst weg. Im Schwimmbad wollte sie sich das Blut abwaschen und fiel dann jedoch – überwältigt

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von dem hochemotionalen Erlebnis – in Ohnmacht. Der Fall A. D. ist von besonderem Interesse, da er demonstriert, dass man eine durch einen emotionalen Schock ausgelöste psychogene Amnesie gelegentlich durch einen erneuten Schock aufheben kann.

Stress, Neurobiologie und Psychotherapie Die Komponenten, die der Entstehung psychogener Amnesien zugrunde liegen, sind bei den bislang bekannten Fällen sehr ähnlich: eine stressreiche Kindheit, Probleme im späteren Erwachsenenalter und ein – manchmal banal erscheinender – unmittelbarer Auslöser der Gedächtnisblockade. Die oben beschrieben Fälle belegen, dass emotionale Belastungen und Stress Gedächtnisblockaden hervorrufen können. Diese können sich als selektive Abrufblockaden manifestieren. In diesen Fällen ist die Information vermutlich noch im ZNS gespeichert, der Zugang zu ihr jedoch blockiert (z. B. bei den Fällen T. X. und A. D.). Psychogene Amnesien können aber auch als selektive Blockaden der Neugedächtnisbildung auftreten (z. B. bei dem Fall C. B.). In vielen Fällen sind allerdings sowohl die Neugedächtnisbildung als auch der Abruf aus dem Altgedächtnis von der Amnesie betroffen (z. B. bei den Fällen A. M. N., F. A. und T. A). Die Fallbeispiele zeigen weiterhin, dass stressinduzierte Gedächtnisblockaden vor allem den Bereich des autobiographischen Gedächtnisses betreffen, während das Faktenwissen und Fähigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen in der Regel erhalten sind oder sehr schnell wiedergewonnen werden. Die gegenwärtig verfügbaren empirischen Daten über PTSD, psychogene Amnesien und andere affektive Störungen belegen übereinstimmend, dass emotional belastende Erlebnisse und Stress das ZNS schädigen und unsere Gehirnfunktionen verändern. Auf diese Weise können emotionale Belastungen psychologische Störungen und kognitive Defizite verursachen. Veränderungen der Ausschüttung von Stresshormonen (z. B. Cortisol) spielen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle (Sapolsky, 1996). Stresshormone beeinflussen die neuronale Plastizität des Gehirns und können regional Dysfunktionen neuronaler Pro-

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zesse und Blockaden der Interaktion zwischen verschiedenen Gehirnstrukturen auslösen (z. B. Lanius et al., 2001; Piefke u. Markowitsch, 2008c; Shin et al., 1999). Schwerwiegende emotionale Traumata können sogar morphologische Narben (z. B. Gurvits et al., 1996) in den Strukturen des ZNS verursachen. Es müssen vielfältige Zusammenhänge zwischen Gedächtnisfunktionen, der zerebralen Verarbeitung von Emotionen, sozialen und lebensgeschichtlichen Aspekten und der Entstehung von stress- und traumabedingten Gedächtnisstörungen in Betracht gezogen werden. Die gegenwärtig verfügbaren Daten über Patienten mit PTSD und psychogenen Amnesien demonstrieren eindrucksvoll, dass die mit den Krankheitsbildern verbundene Symptomatik aus dem Zusammenspiel individueller lebensgeschichtlicher Aspekte und – zumindest teilweise durch diese ausgelösten – pathologischen Veränderungen neurofunktioneller und neurochemischer Mechanismen resultiert. Die neuronale Plastizität des Gehirns bildet die Voraussetzung dieser Abhängigkeiten zwischen biologischen und umweltbedingten Determinanten von Gehirnfunktionen. Insbesondere für die Behandlung von Patienten mit PTSD und psychogenen Amnesien ist der Befund von zentraler Bedeutung, dass die neuronalen Mechanismen der Pathogenese dieser Störungsbilder auch die Grundlage für die Remission der Symptomatik und die Veränderung des Verhaltens durch psychotherapeutische Intervention bilden. Intensive zukünftige Forschungsarbeiten über die neurofunktionellen und neurochemischen Grundlagen der emotionalen Entwicklung sowie normaler und pathologisch veränderter Prozesse der zerebralen Emotionsverarbeitung sind in diesem Zusammenhang entscheidend. Für die Erarbeitung effizienter psychotherapeutischer und neuropharmakologischer Interventionen spielt die Weiterentwicklung bildgebender neurofunktioneller Untersuchungsverfahren insofern eine Schlüsselrolle.

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Danksagung Unsere Forschungsarbeiten werden unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; EC 277) und die Europäische Kommission (FP6-043460).

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Günter Schiepek

Systemische Neurowissenschaften und systemische Therapie

Ein kurzer Blick zurück Die Tatsache, dass die systemischen Therapieverbände in Deutschland die boomenden und auch populären Neurowissenschaften erst 2008 zum Thema einer Jahreskonferenz machten, könnte zu der Vermutung Anlass geben, der systemische Blick auf die Welt sei der Wissenschaft vom Gehirn fremd und/oder umgekehrt, systemische Therapien vermieden den Einbezug (neuro-)biologischer Erkenntnisse in ihre Denkmodelle. Beides trifft nicht zu: Die Perspektive auf das Gehirn als komplexes System ist keineswegs neu. Man kann hier schon Sigmund Freud als Referenz heranziehen. Im Jahre 1895 verfasste der damals Vierzigjährige eine umfangreiche Schrift mit dem Titel »Entwurf einer Psychologie«. Sie stellte den Versuch dar, eine Theorie des »seelischen Apparates« auf der Grundlage der soeben etablierten Neuronentheorie zu entwickeln. Diese Schrift wurde nie veröffentlicht – sie erschien erst posthum –, da Freud offenbar zur damaligen Zeit keine Chance sah, eine Seelenlehre im Allgemeinen und eine Psychotherapie im Besonderen neurobiologisch zu begründen. In dieser Schrift findet sich die Skizze eines Neuronennetzes, welche späteren Vorstellungen von gekoppelten, aktivierenden und inhibierenden Neuronen, das heißt gemischten Feedbacksystemen, schon sehr nahe kam. Derartige Vorstellungen boten sich seit des Entdeckung des Neurons als zentrales Bauelement des Gehirns durch Heinrich Wilhelm Waldeyer (1881) sowie insbesondere seit der Erstbeschreibung der Synapsen als interneuronale Schaltstellen durch Charles S. Sherrington (1897) durchaus an: Das Gehirn als Netzwerk von gekoppelten Neuronen und Neuronennetzen, an deren mathematischer Modellierung mehr denn je gearbeitet

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wird (z. B. Balanov et al., 2009; Osipov et al., 2007). Noch länger durchzieht den neurowissenschaftlichen Diskurs die Kontroverse zwischen einer lokalisatorischen Betrachtung, in der spezifische kognitive oder mentale Funktionen spezifischen und umschriebenen Hirnregionen zugeschrieben werden, und einer distributiven Betrachtung, welches das Gehirn als parallelverarbeitendes System verzweigter Teilsysteme beschreibt. Die Kybernetik und die frühen Systemtheorien machten das Gehirn schon seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einem zentralen Thema (z. B. Norbert Wiener, 1948; Ross Ashby, 1952; Heinz von Foerster, 1948, 1985). Die Neurophysiologen Humberto Maturana und Francesco Varela bezogen sich in ihren erkenntnistheoretischen und humanphilosophischen Überlegungen sehr konkret auf neurobiologisches Wissen, wobei vor allem Varela immer auch im neurophysiologischen Labor stand (z. B. Varela, 1979, 1993). Ihr Konzept der Autopoiese war explizit am Modell der Zelle, insbesondere der Nervenzelle gearbeitet (Maturana, 1982 [Aufsatzsammlung]; Maturana u. Varela, 1991). Der Begriff der Autopoiese, welcher sich auf selbstherstellende und selbsterhaltende – das heißt, zunächst lebende (an der Heiden et al., 1985), dann aber auch soziale (Luhmann, 1984) – Systeme bezog, wurde bekanntermaßen zu einer Leitmetapher systemischer Therapiediskurse. Auch in der Synergetik, der modernen Wissenschaft der Selbstorganisation, wurde das Gehirn bereits seit Ende der 1970er Jahre als geeignetes Anwendungsfeld für die Theorie kollektiver Musterbildungs- und Synchronisationsprozesse erkannt (z. B. Haken, 1979; Basar et al., 1983; Haken u. Koepchen, 1991). Frühe systemische, das heißt hier: mathematische Modellierungen bezogen sich auf die Neurodynamik motorischer und visueller Musterbildung und Ordnungsübergänge (z. B. Haken et al., 1985). Mustererkennen ist (neuronale) Musterbildung, lautete ein Schlagwort. Sogar zur Frage der neuronalen Korrelate psychotherapeutischer Selbstorganisationsprozesse gab es bereits vor acht Jahren an der Universitätsklinik der RWTH Aachen (2001) eine erste Konferenz, welche dann zu dem Herausgeberband »Neurobiologie der Psychotherapie« (Schiepek, 2003) führte.

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Das Gehirn als komplexes System: neuronale Selbstorganisation Lassen wir uns vom derzeitigen Stand des Wissens über den Grundaufbau des Gehirns leiten (einige wesentliche Merkmale sind in Tabelle 1 zusammengefasst), so können wir feststellen, dass das Gehirn aufgrund seines Aufbaus und seiner Funktionsweise geradezu ein idealtypisches Beispiel für ein selbstorganisierendes Systems darstellt (Haken, 1996, 2002, 2003; Haken u. Haken-Krell, 1997; Kelso, 1995): Viele Teile (Neurone) sind in Form von Netzwerken sowie Netzwerken von Netzwerken nichtlinear verbunden, funktionieren jeweils selbst bereits in nichtlinearer Weise und realisieren gemischte Feedbackstrukturen (d. h. Kombinationen aus positivem und negativem Feedback) in zahllosen Schleifen und Rückkopplungsstrukturen. Strukturen ermöglichen dabei Funktionen und Funktionen verändern Strukturen. Diese neuronale Plastizität liegt allen Prozessen des Lernen und der Gedächtnisbildung zugrunde. Tab. 1: Merkmale der Struktur und Funktion des neuronalen Aufbaus des Gehirns. Es handelt sich um ideale Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse (vgl. Roth, 2001). Das Gehirn verfügt über eine große Zahl von Teilen (Neurone) – konservative Schätzung: mindestens 1011 (100 Milliarden). Diese sind in Form von Netzwerken angeordnet, die wiederum zu Netzwerken verschaltet sind usw. (eingeschachtelte [»nested«] neuronale Netze). Es bestehen 8000 bis 10000 synaptische Verbindungen eines Neurons zu anderen Neuronen, je nach Art, Lokalisation und funktioneller Einbindung. Ein Neuron steht mit bis zu 1000 anderen Neuronen in direktem Kontakt. Nervenzellen sind somit stark vernetzt. Zum Beispiel kann im Kortex jedes Neuron mit jedem anderen Neuron prinzipiell über zwei zwischengeschaltete Neurone (d. h. drei Synapsen) kommunizieren Eingehende Signal werden im Neuron in nichtlinearer Weise verarbeitet. Es gibt eine nichtlineare Signalübertragung zwischen den Neuronen, die in komplexen Feedbackmechanismen zwischen und innerhalb der Zellen verankert ist.

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Eine vergleichsweise große Zahl von Neuronen ist mit der systeminternen Signalverarbeitung befasst, weniger Neurone dagegen mit Afferenz und Efferenz (Schätzung: Anteil von Afferenz : innerer Verarbeitung: Efferenz 1 : 100 000 : 1). Neuronale Schaltkreise realisieren vielfach gemischtes Feedback (Kombination aus positivem und negativem Feedback) sowie Inhibitions-Disinhibitions-Mechanismen, welche der Generierung chaotischer Dynamiken und Selbstorganisationsprozessen zugrunde liegen. Die Anzahl möglicher synaptischer Verbindungen / Vernetzungskonstellationen erreicht astronomische Größenordnungen.

Wesentlich für die Funktionsweise des Gehirns scheint die Möglichkeit zu sein, lokale ebenso wie weiträumige Synchronisationsprozesse herzustellen, aber auch zu verändern. Solche Synchronisationsvorgänge liegen bereits ganz basalen Wahrnehmungsvorgängen zugrunde: Wenn man zum Beispiel einer Katze zwei Balken zeigt, die sich in gleicher Richtung bewegen und die gleiche Orientierung haben, so feuern dazugehörige Neurone im gleichen Takt, also synchron. Die Aktivität dieser Neurone beeinflusst sich gegenseitig, selbst wenn sie einige Millimeter oder noch weiter voneinander entfernt liegen (Singer u. Gray, 1995). Vieles spricht dafür, dass dieses synchrone Feuern für Gehirnfunktionen ein wesentliches neuronales »Kommunikationsmedium« darstellt und auch eine Lösung für das sogenannte Bindungsproblem liefern könnte. Ein Objekt, etwa eine Zitrone, ist mit verschiedenen Eigenschaften verknüpft, zum Beispiel Farbe, Form, Gewicht, Geruch, Geschmack, Bezeichnung etc. Obwohl diese Qualitäten in unterschiedlichen Teilen unseres Gehirns verarbeitet werden, erscheint uns die Zitrone als einheitliches Objekt. Die Frage, wie das Gehirn zu einer solchen kohärenten Wahrnehmung kommt, wird als »Bindungsproblem« bezeichnet. Neuronale Synchronisation spielt bei der Integration von Einzelmerkmalen eines Perzepts zu kohärenten Gestalten (»feature binding«) ebenso eine Rolle wie die sogenannte Gamma-Band-Aktivität (neuronale Aktivität von Zellverbänden im Frequenzbereich von 30–50 Hz). Für die Entstehung selbstorganisierter Ordner kommen als weitere Mechanismen (a) die Topdown-Kontrolle von verzweigten Hirnstrukturen hinzu, welche es ermöglicht, dass neuronale Ordner weitflächige Strukturen

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funktionell koordinieren, sowie (b) die Versorgung größerer Hirnareale mit bestimmten Neurotransmittern bzw. Neuromodulatoren. Das Studium der Vorgänge, die den Prozessen des Lernens und der Gedächtnisbildung zugrunde liegen, verweist auf unterschiedliche Mechanismen auf zellulärer Ebene. Einer davon besteht – wie schon Hebb (1949) vermutete – in einer ko-aktivtätsabhängigen Veränderung synaptischer Kopplungen zwischen Neuronen: Synaptische Verbindungen verstärken sich zwischen solchen Neuronen, die gleichzeitig aktiv sind; umgekehrt nimmt die synaptische Kopplungsstärke ab, wenn ein oder beide Neuronen während der gleichen Zeit inaktiv sind. Weitere biochemische Mechanismen, die der Veränderung synaptischer und intrazellulärer Funktionen zugrunde liegen, sind zum Beispiel die Aktivierung von Second-Messenger-Systemen, Prozesse der Langzeitpotenzierung, aktivitätsabhängige Genexpression und damit die Strukturveränderung von Neuronen (Aussprossung von Synapsen oder von Dendritenbäumen) sowie – wie wir seit einigen Jahren wissen – auch die Möglichkeit einer Neuproduktion von Neuronen aus Stammzellen (Neuroneogenese). Dies sind gewissermaßen die Mikromechanismen, welche der sehr flexiblen Selbstorganisation neuronaler Funktionsmuster zugrunde liegen. Einen Homunkulus oder eine übergeordnete Schaltzentrale gibt es im Gehirn übrigens nicht – es setzt auf Synchronisation, Koordination und Selbstorganisation. Die Kontrollparameter neuronaler Selbstorganisation werden dabei meist im Inneren des Organismus generiert und verändert. Es ist primär sensorische Stimulation aus unserer physikalischen und sozialen Umwelt, aber auch aus dem Inneren des Körpers, auf die wir reagieren, das heißt die in unserem Gehirn veränderte Aktivität und neurochemische Prozesse erzeugt, welche als Trigger für weitere Funktionen wirkt. Eine Information, für die unser Organismus kein Sensorium hat, ist zumindest für psychische oder mentale Prozesse keine. Information wird systemintern generiert, wobei der aktuelle Ausgangszustand des Organismus eine große Rolle spielt. Vorerfahrungen, Bedürfnisse, Erwartungen und insbesondere Emotionen könnte man als Systembedingungen verstehen, die aus sensorischem Input relevante systeminterne Kontrollparameter machen. Im Bereich

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der sensorischen Reizverarbeitung ist inzwischen grundlegend verstanden, wie emotionale Strukturen (z. B. die Amygdala) die Relevanz von Stimuli beurteilen und dadurch das Arousal, die Vigilanz und physiologische wie motorische Reaktionen verändern – blitzschnell, bevor umständliche kognitive Detailanalysen der Situation überhaupt greifen (z. B. LeDoux, 2000, 2001). Biologische Systeme selektieren ihre Kontrollparameter – was allerdings auch physikalische Systeme bereits tun, denn Konvektionsströmungen in Flüssigkeiten reagieren weder auf Stromspannung noch auf Lichtpumpen (aber auf Temperaturunterschiede), und der Laser reagiert nicht auf thermische Erhitzung (aber auf Strom oder Lichtpulse). Kontrollparameter modifizieren dann die nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen den Neuronen und treiben diese aus ihrer momentanen Dynamik, das heißt aus ihrem aktuellen Quasi-Attraktor oder Gleichgewichtszustand. Hinzu kommt bei neuronalen bzw. psychischen Systemen eine Top-Down-Wirkung auf Kontrollparameter, das heißt, wir sensibilisieren uns für oder schotten uns gegen bestimmte Reize ab. Die entstandenen Ordner lassen, auch wenn sie sich wieder auflösen und in andere Ordner übergehen, das System nicht mehr im gleichen Zustand zurück. Einmal entstandene Ordner werden leichter wiederhergestellt (wenngleich kein zweites Mal in exakt identischer Weise, da jede Aktivierung biochemische Spuren hinterlässt) oder verändern die Auftrittswahrscheinlichkeit anderer Ordner. Die Lerngeschichte eines Individuums beeinflusst die Entstehung weiterer Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster und schafft Kontexte für die Bildung neuer Muster und Attraktoren. In Abbildung 1 wird dies als geronnene Systemgeschichte bezeichnet. Auf der Ebene der Neurone finden wir hierbei die Hebb’schen Synapsen am Werk, das heißt eine nutzungsanhängige Funktionsmodulation von synaptischen und intrazellulären Prozessen, zudem Second-Messenger Systeme und Prozesse der Genexpression. Die neuronale Plastizität ist, wie wir wissen, nicht beliebig, sondern wird von bisherigen Erfahrungen begrenzt, insbesondere von solchen, die in prägenden (meist frühen) Lebensphasen stattfanden. In Abbildung 1 fassen wir dies unter Randbedingungen, die auf die aktuelle Systemdynamik als »Constraints« (Schranken) wirken. Randbedingungen

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können (a) in der Funktionsweise und Wechselwirkung der Teile bestehen (z. B. in der Aktivierbarkeit bestimmter Synapsen), wobei sie sich hier sehr elementar in der Grundstruktur des Systems manifestieren (die Funktionsweise bestimmt die Struktur und umgekehrt), (b) in der Wirkung anderer Systeme und deren Ordner und (c) in physikalisch-materiellen Umgebungsbedingungen, auf die Organismen jedoch ihrerseits Einfluss nehmen (durch Gestaltung oder Auswahl). Unser phylogenetisches Erbe sowie den anatomischen Grundaufbau des Gehirns kann man somit als systemstrukturelle Randbedingung interpretieren. In der Regel verändern sich Randbedingungen relativ langsamer als Ordner, und Ordner langsamer als die Teile. Das in Abbildung 1 dargestellte Schema muss man sich vielfach parallelgeschaltet vorstellen, also in Hyperzyklen oder Netzwerken solcher selbstorganisierender Systeme, die sich gegenseitig triggern. Die Ordnungsparameterdynamik eines Systems kann zum Kontrollparameter anderer Systeme werden und umgekehrt. Die makroskopische Dynamik eines Systems kann sich mit anderen Systemen synchronisieren und neue Ordner hervorbringen. Kleine neuronale Netze koppeln sich mit anderen Netzwerken zu einem Netzwerkverbund, usw. (Freeman, 1995). Die Selbstorganisation eines Systems findet Eingang in ganze Hierarchien von Systemen, wobei die makroskopische

Umwelt interagierende Systeme/„Beobachter“

makroskopisches Muster Ordnungsparameter/kollektive Variable(n)

geronnene Systemgeschichte Bottom-upTop-downKreiskausalität

systeminterne und externe Randbedingungen

Kontrollparameter

wirksame Constraints

Stimulation

Abb. 1: Ein synergetisches Modell des psychischen Funktionierens

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Ordnerdynamik eines Systems zum Mikroprozess eines nächsten Systems wird, usw. Dies gilt für neuronale, psychische und auch interpersonelle Prozesse. Stellt man sich auf einer komplexen Ebene auch Handlungen als Ordner vor, so wirken diese auf unsere Umwelt. Wir wählen aus, in welchen Umwelten wir uns bewegen wollen (z. B. mit welchen Menschen wir zu tun haben wollen), und gestalten unsere Umwelt aktiv. Umgekehrt empfangen wir aus dieser Umwelt Signale. Obwohl die »Umwelt« in Abbildung 1 undifferenziert als Block dargestellt ist, enthält sie selbstorganisierende Systeme unterschiedlicher Art und Größenordnung, mit denen wir interagieren und in die wir eingebunden sind. Sofern sich Menschen in sozialen Prozessen gegenseitig wahrnehmen (»beobachten«) und beurteilen, handelt es sich um sogenannte Endosysteme nach Atmanspacher und Dalenoort (1994). Sie kommen dann ins Spiel, wenn Phänomene nicht nur registriert, sondern deren Erzeugung von Beobachtern abhängt, von diesen also mitkreiert werden. Im Zustand reflektierter Selbstbeobachtung, aber auch im Sinne eines mitlaufenden Selbst-Monitorings sind wir selbst dieser Beobachter. Die Umwelt selbstorganisierender Systeme stellt Bedingungen zur Verfügung, welche als Kontrollparameter fungieren. Gegebenheiten und Veränderungen unserer Umwelt haben permanent Wirkung auf uns, sie haben Aufforderungscharakter und erzeugen Annäherungs- und Vermeidungsgradienten (vgl. die Konzeption des psychologischen Feldes nach Lewin, 1963). Wir leben in einem Vektor-Gradientenfeld, das aber nicht einseitig von der Umwelt vorgegeben wird, sondern das wir über unsere Wahrnehmung, Bedürfnisse und Emotionen ko-kreieren (vgl. Abbildung 1). Dies drückt aus, was der Gestaltpsychologe Kurt Lewin mit seiner Formel V = f(P,U) meinte: Verhalten ist eine Funktion der Person und seiner Umwelt, und zwar einer Umwelt, wie sie in der Wahrnehmung und im Erleben eben dieser Person existiert. Die Umwelt schafft schließlich auch externe Randbedingungen für unser psychisches Funktionieren. Wir haben damit ein synergetisches Modell vor uns, welches erklären kann, wie sich psychische Strukturen zwischen Selbst und Umwelt stabilisieren. Längerfristig können Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster entstehen, welche für eine Person cha-

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rakteristisch sind und bevorzugt vorkommen. In der Metapher der Potentiallandschaften handelt es sich um Täler einer Landschaft, die unsere Persönlichkeit repräsentiert (Schiepek, 2007; Tominschek u. Schiepek, 2007). Sind diese Täler nicht allzu tief und die Gebirgsrücken dazwischen nicht allzu hoch, so können wir situationsangemessen zwischen den KEV-Mustern wechseln. In Abhängigkeit von der Nutzung (Erfahrung) verändert sich die Landschaft, das heißt, wir können unsere Persönlichkeit verändern. Damit wird der Doppelaspekt von Stabilität und Flexibilität nachvollziehbar, der gesunde Persönlichkeiten ausmacht. Die Kugel (aktuelles Systemverhalten) springt zwischen den Tälern, was die Täler deformiert. Dieser Formationsprozess allerdings vollzieht sich langsam im Vergleich zur Bewegungsgeschwindigkeit der Kugel.

Social Neuroscience: Neuronale Prozesse ermöglichen soziale Prozesse Für systemisch denkende Psychotherapeuten ist ein neurowissenschaftlicher Zugang nicht nur deshalb von Interesse, weil das Gehirn den Prototyp eines komplexen, selbstorganisierenden Systems darstellt, sondern auch, weil es interpersonelle Systeme ermöglicht. Es ist sehr genuin ein soziales Organ (Fuchs, 2008), und wir können sogar annehmen, dass zahlreiche seiner Funktionen, insbesondere was die Durchdringung kognitiver und handlungsbezogener Funktionen mit emotionalen Prozessen betrifft (Ciompi, 1997), dem Überleben und der Lebensfähigkeit in sozialen Verbänden dient. Zahlreiche neuronale Mechanismen haben ihren evolutionären Hintergrund darin, sozial resonanz- und lernfähig zu sein, das heißt letztlich Individuen in sozialen Strukturen zu halten und zu erhalten und damit auch diese sozialen Strukturen zu erhalten und flexibel weiterzuentwickeln. Ein prominentes Beispiel für diese soziale Funktionalität unseres Gehirns ist das »Spiegeln«, das heißt das neuronale und mentale Reproduzieren von Erfahrungen anderer Menschen im eigenen Hirn und in der eigenen Psyche. Das neuronale Spiegelsystem ist dabei kein anatomisches Areal oder gar ein be-

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stimmter Typ von Nervenzellen, sondern ein Funktionssystem. »Gespiegelt« wird in etwa in den Arealen, in denen wir unsere eigenen Erfahrungen neuronal verarbeiten und prozessieren. Beobachten wir Handlungen und Bewegungen anderer Menschen, so feuern auch in unserem eigenen Gehirn die Neuronen, die an Handlungsplanung und Handlungsrepräsentation beteiligt sind (z. B. im prämotorischen Kortex, im supplementär-motorischen Areal oder in unteren Bereichen des Parietalkortex). Beobachten wir, wie sich jemand verletzt, so aktivieren sich unsere eigenen Schmerzzentren, erleben wir die Bedrohung eines anderen Menschen, so aktivieren sich unsere eigenen Panik-Schaltkreise, oder beobachten wir, wie jemand angenehme Düfte oder eine eklige Flüssigkeit riecht, so ist das für unser Gehirn fast so, als ob wir dies selbst riechen würden (Bauer, 2005; Wicker et al., 2003). Diese Vorgänge laufen sehr schnell und spontan ab, wobei dieser unmittelbare Resonanzeffekt in den ersten Lebensmonaten reflexhaft und unkontrolliert erfolgt, später aber durchaus modifizierbar und kontrollierbar ist. Wir beziehen als Erwachsene zum Beispiel offenbar auch Vorerfahrungen mit der »gespiegelten« Person in unsere emotionalen Reaktionen ein und reagieren dann mehr oder weniger empathisch. Über unser Spiegelneuronensystem können wir auch nur angedeutete Handlungen eines Gegenübers mental fortsetzen und komplettieren, sie also richtig interpretieren, sogar einschließlich der möglichen damit verbundenen Intentionen und Motivationen. Eine zentrale Voraussetzung also für Empathie, Modelllernen, und jede Form sozialer und emotionaler Kompetenz. Über das Spiegeln hinaus ist unser Gehirn in der Lage, auch die Motive, Absichten und möglichen psychologischen Hintergründe des Verhaltens und der Emotionen anderer Menschen zu erraten oder zu rekonstruieren. Dass wir uns im Alltag als »naive Psychologen« betätigen und dabei mehr oder weniger nützliche psychologische Alltagstheorien entwerfen, die wir nicht zögern auf konkrete »Fälle« anwenden, ist bekannt und seit langem Thema der professionellen Psychologie. Seit einigen Jahren ist dies nun auch Thema der Neurowissenschaften, welche untersucht, welche Hirnstrukturen beteiligt sind, wenn wir solche Theories of Mind entwerfen und unseren Mitmenschen gegenüber in Anschlag bringen, oder wenn wir uns in andere

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Personen hineinversetzen und im Sinne eines Perspektivwechsels die Welt mit ihren Augen zu betrachten versuchen (vgl. die Beiträge in Förstl, 2007). Hierfür gibt es geeignete Stimulationsparadigmen, die in Form von Bildern oder kleinen Filmszenen den Versuchspersonen im fMRT-Scanner gezeigt werden. Solche wie andere Hirnleistungen können nur von einem entsprechend »trainierten« Hirn erbracht werden können. Das Gehirn ist in mancher Hinsicht wie ein Muskel, der eines entsprechenden Trainings bedarf, um Leistungen zu bringen – ohne Training atrophiert und degeneriert er. Auch neuronale Strukturen bedürfen der Übung, das heißt der wiederholten Funktion, um spezifische Strukturen und synaptische Vernetzungen sowie Konnektivitäten über größere Entfernungen auszubilden. Dies wurde zum Beispiel für motorische Leistungen (Spielen von Musikinstrumenten) mehrfach nachgewiesen, gilt aber auch für unsere Sozialleistungen. Insbesondere in frühen Jahren bedürfen kleine Menschen der sozialen Resonanz, das heißt einer engen, gut koordinierten, auf die Bedürfnisse, Emotionen und Befindlichkeiten adäquat und verständnisvoll eingehenden Kommunikation durch relevante Bezugspersonen, um interpersonelles Spiegeln und Verstehen zu üben und zu lernen. Damit entstehen nicht nur innere Modelle von anderen und Empathie für andere, es entstehen auch ko-kreativ Selbst-Modelle, Arbeitskonzepte für soziales Handeln, valide Emotionserfahrungen, damit Selbstsicherheit und vor allem eines – eine stabile Bindungsfähigkeit. Die durchaus nicht neue Bindungsforschung (z. B. Bowlby, 1982) hat durch die Möglichkeit der Identifikation neurobiologischer Korrelate der emotionalen Bezogenheit von Lebewesen (nicht nur Humanuntersuchungen, auch tierexperimentelle Forschungen haben auf diesem Gebiet von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt) einen wahren Boom erfahren. Es konnte gezeigt werden, dass vor allem biographisch frühe Bindungserfahrungen für die spätere Entwicklung von gravierender Bedeutung sind. Die soziale, emotionale und auch intellektuelle Entwicklung (Letzteres z. B. durch unterschiedliches Explorationsverhalten bei stabilen im Gegensatz zu unsicheren Bindungserfahrungen eines Kindes) wird davon beeinflusst, zudem die Grundlagen für psychische wie physische Gesundheit gelegt. Die mit positiven Bindungs- und Kontakt-

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erfahrungen verbundenen Ausschüttungen von Endorphinen sowie den Bindungshormonen Oxytozin und Prolactin prägen die Aktivierungsmuster des Angst- und Stressverarbeitungssystems sowie auch des Systems der Immunabwehr, wie dies umgekehrt in Falle von Bindungsstress auch Ausschüttungen von Hormonen des Stresssystems (CRH, ACTH) und Cortisol tun. Mit diesen frühen Weichenstellungen, die sich unter anderem im Organisationsgrad neuronaler Netze sowie in der Immunaktivität niederschlagen, werden die Vulnerabilitätsfaktoren für spätere psychische Probleme (z. B. Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, interpersonelle Problemmuster) oder aber protektive Faktoren für psychophysische Gesundheit geschaffen (z. B. Grawe, 2004; Rüegg, 2007). Unabhängig davon, ob man den systemischen Zugang nun als eine mehr interpersonelle oder als eine bio-psycho-soziale Betrachtung des Menschen versteht, ist die Bindungsforschung für die systemische Therapie relevant. Wie kaum auf einem anderen Gebiet wird hier deutlich, wie interpersonelle Kommunikation in neurochemische Prozesse (z. B. Serotoninregulation, Genexpression) eingreift und umgekehrt diese wiederum weitere interpersonelle Kommunikationsprozesse beeinflussen. Der Impact von sozialen Life-Events speziell auf die Immunregulation ist auch außerhalb eines bindungstheoretischen Paradigmas Gegenstand zahlreicher Untersuchungen (Psycho-Neuro-Immunologie). In einer Untersuchung von Schubert und Kollegen (Schubert u. Schiepek, 2003; Schubert et al., 2006) konnte zum Beispiel im Rahmen von Einzelfallstudien gezeigt werden, dass kritische Lebensereignisse mit synchronen Veränderungen der Neopterin-Dynamik (Neopterin ist ein Marker der zellulären Immunantwort, gemessen im Tag- und Nachtharn), der Dynamik psychologischer Parameter (Stimmung, Gereiztheit, kognitive Aktiviertheit) sowie des subjektiven Krankheitserlebens einhergingen. Dies ist ein »systemischer« Befund in doppelter Hinsicht: Zum einen handelte es sich bei den Life-Events der Patientinnen, die an einer chronischen Autoimmunerkrankung litten (systemischer Lupus erythematodes – systemisch meint hier: nicht auf einen bestimmten Herd oder ein Organsystem eingrenzbar) um Lebensereignisse, die eng mit ihrer sozialen Lebenssituation zu tun hatten, und zum Zweiten waren die Ver-

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änderungen in der Dynamik der genannten Parameter weniger im Niveau und anderen linearen Eigenschaften der Prozesse (Mittelwert, Varianz), sondern in ihrer dynamischen Gestalt (Rhythmen, Maxima und Minima der dynamischen Komplexität, Transienten in Recurrence Plots), also in »systemischen« Prozessmerkmalen erkennbar. Für die »social neuroscience« entstanden neue technische Möglichkeiten, seit mit Verfahren des »Hyperscanning« die neuronalen Aktivitäten interagierender Versuchspartner mit gekoppelten Stimulationsparadigmen in parallel arbeitenden fMRT-Scannern erfasst werden können. In früheren Untersuchungen wurden Versuchspersonen je einzeln sozial relevante Stimuli angeboten und damit soziale Kognitionen, Einstellungen oder die Wirkung sozialer Faktoren auf Entscheidungen (z. B. Fairness ökonomischer Angebote, Sanfey et al., 2003) untersucht. Nun können die neuronalen Korrelate von Interaktionsprozessen direkt beobachtet werden. Als Beispiel sei eine Studie von KingCasas et al. (2005) genannt, in der von zwei Versuchspersonen iterative Entscheidungen getroffen werden mussten, bei denen der je individuelle Gewinn und das Investitions-Nutzen-Verhältnis der einen Spielrunde die Entscheidungen in der jeweils nächsten Spielrunde beeinflussten. Es waren dabei nicht nur intraindividuelle Korrelationen zwischen Hirnregionen erkennbar (z. B. zwischen anteriorem cingulären Kortex und Nucleus caudatus), sondern auch interindividuelle (z. B. zwischen dem medialen cingulären Kortex von »Ego« und dem anterioren cingulären Kortex sowie dem Nucleus caudatus von »Alter«). Mit dem Entstehen von Ergebniserwartungen und interpersonellen Modellen aktualisierten sich diese Korrelationen (Kopplungen) zu immer früheren Zeitpunkten, zum Teil bereits schon vor der Unterbreitung eines Angebots in der jeweils nächsten Spielrunde. Während die Methodologie gekoppelter fMRT-Messungen zwar faszinierende Einblicke in die Aktivität tieferer Hirnstrukturen erlaubt, sind naturalistischere Experimente aufgrund der Messsituation damit allerdings kaum möglich. Diese böten sich zum Beispiel mit dem EEG an, das sich auch in quasi-realen Gesprächssituationen einsetzen lässt. So haben Rockstroh und Kollegen schon vor über zehn Jahren (1997) in einer therapeutischen Gesprächssituation von Therapeut und Patient EEG-Ab-

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leitungen erhoben (ein Interviewer und mehrere Patienten mit schizophrenen Symptomen in mehreren aufeinander folgenden Sitzungen). Die nichtlinearen Analysen der EEG-Signale ließen synchronisierte chaoto-chaotische Sprünge der Hirndynamik erkennen (für Eingeweihte: berechnet wurden die nichtstationären Entwicklungen der lokalen größten Lyapunov-Exponenten, welche ein Marker für den Chaotizitätsgrad eines Zeitsignals sind). Dies verweist auf das Vorliegen synchronisierter (gekoppelter) Ordnungs-Ordnungs-Übergänge bei den Interaktionspartnern (Schiepek u. Kowalik, 2003). Fazit: Sowohl die notwendige Methodik (nichtlineare Dynamik und Analysen dynamischer Kopplungen und Synchronisationen) als auch die integrierte bio-psycho-soziale Sichtweise lässt die soziale (d. h. interpersonelle) Neurowissenschaft als systemische Neurowissenschaft erscheinen.

Systemische Neurowissenschaft Unter systemischer Neurowissenschaft (»systemic neuroscience«) im engeren Sinne versteht man die Modellierung neuronaler Vernetzungs- und Kopplungsstrukturen (Konnektivität) mit mathematischen Methoden (der synonyme Begriff ist daher auch »computational neuroscience«, Izhikevich, 2008). Derartige Ansätze sind aufgrund des Systemcharakters des Gehirns sehr sinnvoll (vgl. erster Abschnitt). Als Beispiel seien die Entwicklungen im Bereich des Dynamic Causal Modelling (DCM; Friston et al., 2003; Eickhoff u. Grefkes, im Druck) angeführt, das auf der Basis von funktionellen MRT-Messungen Konnektivitätsmodelle von Hirnregionen prüft, welche an speziellen kognitiven, emotionalen oder sozialen Leistungen beteiligt sind. Für einen solchen datengetriebenen Modelltest braucht man natürlich zuerst einmal ein Modell, das heißt eine Hypothese über die beteiligten Areale und die Art ihrer Vernetzung. Im Unterschied dazu kann man andere fMRT-Analysen, zum Beispiel Ganzhirn-Vergleiche zweier Stimulationsbedingungen mit Statistical Parametric Mapping (SPM) oder dem Brain Voyager, auch hypothesenfrei durchführen. Üblicherweise wird die Dynamik der beteiligten Hirnregionen und ihrer Wechselwirkungen

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einschließlich ihrer selbstreferentiellen Wirkungen in einem Set von Differentialgleichungen dargestellt. Stimulationen (Inputs) können sich dabei sowohl auf die einzelnen Elemente (Hirnregionen) als auch auf ihre Konnektivität beziehen und damit die Kontexte für die Aktivität einzelner Regionen verändern. Forward-modelliert (d. h. mit Hilfe eines Bayes-Modells datenbasiert geschätzt) wird im DCM zusätzlich auch die neuronale Aktivität aus dem gemessenen BOLD-Signal. Andere Beispiele für systemische Neurowissenschaft sind die schon seit längerem durchgeführten Komplexitäts- und Chaosanalysen neuronaler Signale (EEG, MEG) (z. B. Elbert et al., 1994; Kowalik, 1998; Pritchard u. Duke, 1992). Wesentlich war hierbei die unter anderem von Zbigniew J. Kowalik vorangetriebene und methodisch umgesetzte Einsicht, dass neuronale Systeme im besonderen und Humansysteme ganz generell nicht nur nicht linear, sondern auch nicht stationär prozessieren. Die nichtlineare Dynamik des Gehirns musste also um nichtstationäre Systemanalysen erweitert werden, womit Adaptivitäts-, Veränderungs- und Lernprozesse erfasst werden konnten. Neuere Studien versuchen, die Konnektivität und die Komplexität neuronaler Systemdynamiken in Zusammenhang zu bringen. So berichtet zum Beispiel die Arbeitsgruppe um Birbaumer (Müller et al., im Druck) über MEG-Experimente zum dichotischen Hören (beide Ohren erhalten unterschiedliche oder zeitversetzte akustische Signale), welche nach Einsetzen des akustischen Signals eine Zunahme des Informationsaustauschs (erfasst mit Pointwise Transinformation, PTI) und der Kopplungsstärke (erfasst mittels Pointwise Conditional Coupling Divergence, PCCD) zwischen den involvierten intra- wie interhemisphärischen Dipolquellen feststellen konnten, begleitet von einer Abnahme der dimensionalen Komplexität (Pointwise Dimensionality D2) in weiten Arealen des Gehirns. Die fraktale Dimensionalität (z. B. die Korrelationsdimension D2) ist ein Maß für die Anzahl nichtlinear interagierender »Generatoren« oder Systemkomponenten (Dimensionen), die eine bestimmte Dynamik erzeugen. Die Anpassungsleistung des Gehirns an ein komplexes (dichotisches) Signal besteht also offenbar darin, nach verstärktem Informationsaustausch und intensivierter Kopplung kohärenter (niedrigdimensionaler) zu reagieren.

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Modellierungen, welche das Gehirn als umfassend gekoppelten Resonator nichtlinearer Oszillatoren (Neuronenpopulationen) verstehen, erlauben es inzwischen, Synchronisationsprozesse im Gehirngewebe zu messen, um etwa im Rahmen von Tiefenhirnstimulationen pathologische Übersynchronisationen (z. B. bei Epilepsie, Parkionson-Tremor oder massiven Zwangsstörungen) gezielt zu desynchronisieren. Lokale Feldpotenziale der synaptischen Aktivität von Neuronenpopulationen können dabei als Ordner im Sinne der Synergetik aufgefasst werden, die sich durch koordinierte sequentielle Impulse (»coordinated reset«; Tass, 2003) oder durch nichtlineares Feedback (Popovych et al., 2006) auflösen lassen. Im pathologischen Fall »versklaven« solche Ordner größere Hirnareale, das heißt Neuronenpopulationen, die bei physiologisch gesundem Funktionieren unabhängig voneinander aktiv und nur zeitlich vorübergehend koordiniert sein sollten. Aufgrund der synaptischen Plastizität, also einer Veränderung synaptischer Konnektivität aufgrund spezifischer Koaktivität von prä- und postsynaptischen Neuronen (»spike time characteristics«) lassen sich veränderte neuronale Funktionen in strukturelle Veränderungen übersetzen. Damit kann eine Reduktion pathologischer synaptischer Gewichte auch zu einer therapeutischen Neuverdrahtung in Neuronennetzen führen (Tass u. Hauptmann, 2007). Für die Anwendbarkeit der systemischen Neurowissenschaften in der Psychotherapie bedeutsam sind sowohl Entwicklungen sensorischer Hirnstimulation, das heißt nichtinvasiver Methoden, an deren Entwicklung und Erprobung bei psychiatrischen Störungsbildern gearbeitet wird, als auch schneller Auswertungsmethoden mit leistungsfähigen Rechnern und Rechenprogrammen für funktionelles MRT, welche eine Therapie mit Neurofeedback (z. B. Weiskopf et al., 2003) in praktikable Nähe rücken. Neurofeedback bedeutet die Rückmeldung neuronaler Aktivität mittels funktioneller MRT an den Patienten, während dieser im MRT-Scanner liegend versucht, bestimmte mentale Vorgänge (z. B. Gedanken, Gefühle) oder psychophysiologische Empfindungen (z. B. Schmerz) zu kontrollieren. Über den Zwischenschritt des visuellen Feedbacks soll wie im EEG-basierten Biofeedback (Rief u. Birbaumer, 2006) eine mentale Kontrolle über hirnphysiologische Vorgänge erlernbar werden.

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Für die Psychotherapiepraxis wie für die Psychotherapieforschung ist es von Bedeutung, neben Fortschritten im Bereich neurobiologischer Erkenntnisse und Messtechniken auch die psychologische Erfassung von Veränderungsprozessen voranzutreiben. Beide Seiten, die neurophysiologische wie die psychologische, müssen parallel entwickelt werden, um Einsichten in biopsychische Systemdynamiken zu erhalten. So ist es auch als Beitrag zur systemischen Neurowissenschaft zu werten, wenn Psychotherapien über internetbasierte Methodiken nun kontinuierlich, engmaschig und ohne Zeitverzögerung (im Sinne eines Real-Time Monitorings) erfasst und mit nichtlinearen Methoden analysiert werden können. Das Synergetic Navigation System (SNS) macht ein solches Real-Time Monitoring möglich und stellt damit sowohl eine Anwendung bisheriger Kenntnisse über selbstorganisierende Prozesse in der Psychotherapie als auch eine Voraussetzung für deren weitere Erforschung dar. Beispielsweise können damit wiederholte fMRT-Messungen im therapeutischen Prozess gezielt platziert und mit dynamischen Eigenschaften des Verlaufs (z. B. kritischen Instabilitäten, Ordnungsübergängen, Veränderungen dynamischer und Synchronisationsmuster) in Zusammenhang gebracht werden. Eben dies wurde in einem aktuellen Multicenter-Projekt1 realisiert, dessen Datenerhebung inzwischen abgeschlossen ist. Aufgrund der täglich aktualisierten Ergebnisse des Internetbasierten Prozessmonitorings wurden spezifische Zeitpunkte für die Durchführung von funktionellen MRT-Messungen bestimmt, die an kritischen Instabilitäten oder aber an besonders stabilen Phasen des Therapieverlaufs festgemacht wurden. Das 1 Finanzierung durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank und durch die DGSF. Beteiligte Institutionen und Wissenschaftler/-innen: Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München (Dr. Susanne Karch, PD Dr. Oliver Pogarell), Psychosomatische Klinik Windach (Dr. Igor Tominschek, Dipl.-Psych. Stephan Heinzel), Psychiatrische Universitätsklinik Wien (Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner, Dr. Markus Dold, Dr. Annemarie Unger), Excellenzzentrum für Hochfeld-MR der Medizinuniversität Wien (Dr. Florian Gerstl, Dr. Christian Windischberger, Univ.-Prof. Dr. Ewald Moser), Projektleitung: Univ.-Prof. Dr. Günter Schiepek (Paracelsus Medizinuniversität Salzburg).

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Interesse richtet sich dabei auf neuronale Aktivierungsmuster, die mit Ordnungszuständen und Ordnungsübergängen der therapeutischen Selbstorganisation einhergehen (Schiepek u. Schönfelder, 2007). Einbezogen wurden neun medikamentenfreie Patienten mit Waschzwang sowie neun parallelisierte Kontrollpersonen. Die stationäre Behandlung dauerte circa zwei bis drei Monate, was bei täglicher SNS-basierter Dateneingabe etwa 60 bis 90 Messzeitpunkten entspricht. Die Zeitreihenanalysen (Verläufe der dynamischen Komplexität, Komplexitäts-Resonanz-Diagramme, Recurrence-Plots) bestätigen einmal mehr (vgl. Haken u. Schiepek, 2006), dass Therapien in Kaskaden von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen ablaufen, welche durch kritische Instabilitäten charakterisiert sind. Kasuistische Auswertungen und erste Ergebnisse der Gesamtstichprobe weisen darauf hin, dass psychischen Ordnungsübergängen auf der Hirnebene spezifische Musterveränderungen entsprechen. Diese lassen sich unter anderem in Bereichen das anterioren und medialen cingulären Kortex, im rechten lateralen frontalen Kortex, im Nucleus caudatus, in bestimmten Arealen des Motokortex (z. B. im supplementär-motorischen Areal) sowie parietal-occipital im Cuneus und Präcuneus lokalisieren (Schiepek et al., 2008; Karch et al., in Vorbereitung). Abbildung 2 gibt ein Beispiel für die Veränderung neuronaler Aktivierungen einer Patientin mit Waschzwängen im Laufe einer etwa zweimonatigen stationären Psychotherapie. Die drei funktionellen MRT-Scans fanden am 9., 30. und 57. Behandlungstag statt. Die Stimulation (visuelles Symptomprovokations-Paradigma) wurde mit individuell zwangsauslösenden Bildern (photographiert mit einer Digitalkamera im häuslichen Umfeld der Patienten), mit ekelauslösenden Bildern aus dem International Affective Picture System (IAPS) und mit neutralen Bildern aus dem IAPS durchgeführt, für Patienten und gesunde Kontrollpersonen in gleicher Weise mit identischen Abständen zwischen den Messzeitpunkten. Gezeigt sind in Abbildung 2 die neuronalen Effekte der Kontraste zwischen zwangsauslösenden Bildern und ekelauslösenden Bildern bei der Patientin (Zwang > Ekel). Die Unterschiede der Hirnaktivierungen bei Messung 1 (Abbildung 2 oben) und bei Messung 2 (Abbildung 2 Mitte) sind deutlich zu erkennen. Dazwischen lag eine Phase starker

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Abb. 2: Neuronale Aktivierungsmuster einer Patientin mit einem Waschzwang (obsessive-compulsive disorder, washing/contamination fear) während stationärer Psychotherapie. Das BOLD-Signal wurde mit einem 1,5 Tesla fMRT-Scanner aufgenommen. Oben: Erste Messung (9. Tag der stationären Therapie); Talairach–Koordinaten: x = 0, y = -55, z = -2; p(uncor) < .001. Mitte: Zweite Messung (30. Tag der stationären Therapie); Talairach-Koordinaten: x = 8, y = -54, z = 5; p(uncor) < .001. Unten: Dritte Messung (57. Tag der stationären Therapie); Talairach–Koordinaten: x = 0, y = -85, z = 26; p(uncor) < .001. Gezeigt sind die Kontraste zwischen individuellen zwangsauslösenden Bildern und ekelauslösenden Bildern aus dem IAPS (Zwang > Ekel). Aktivierungen finden sich vor allem in der ersten Messung (u. a. im anterioren cingulären Kortex, in motorischen Arealen, Insula, Nucleus caudatus, Thalamus, sowie in Bereichen des Parietal- und Occipitalhirns), welche in der zweiten und dritten Messung nicht mehr erkennbar sind. Messungen und Auswertungen wurden von Dr. Susanne Karch (LMU München) durchgeführt.

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kritischer Instabilität (Maximum der dynamischen Komplexität, erfasst mit dem SNS-basierten Therapie-Prozessbogen bei täglicher Eingabe) sowie eine gravierende persönliche Entscheidung (Trennung vom Partner), der eine Periode auch subjektiv erlebter starker Ambivalenz (korrespondierend zur kritischen Instabilität der Zeitreihen) voranging. Man kann hier sehr klar von einem Ordnungsübergang sprechen, der sich in der Zeitreihendynamik, in den neuronalen Mustern, aber auch im klinischen Eindruck und im subjektiven Erleben der Patientin manifestiert hat. Mit diesem Projekt ist es gelungen zu zeigen, dass vor dem Hintergrund einer systemischen Theorie (Synergetik) ein psychologisches Assessment (Real-Time Monitoring) der nichtlinearen Dynamik von Therapieverläufen und die funktionelle Bildgebung (fMRT) von neuronalen Aktivierungen ein komplementäres Bild von biopsychischen Ordnungsübergängen liefern und damit einen vertieften Einblick in die »black box« psychotherapeutischer Prozesse ermöglichen.

Systemische Therapie – eine evidenzbasierte, bio-psycho-soziale Methodologie Inwieweit aus der sich schnell entwickelnden und interessanten neurobiologischen Grundlagenforschung bereits konkrete praktische Konsequenzen gezogen werden können, mag derzeit noch kontrovers beurteilt werden. Betrachtet man zum Beispiel die Leitlinien zur Therapiegestaltung, die Grawe (2004, S. 434 ff.) nach umfassenden Darstellungen neurobiologischer und neuropsychologischer Forschungen vorstellt, so wird deutlich, dass viele seiner klinisch-praktisch sicher wertvollen Anregungen sowohl aus klinisch-psychologischer Forschung und Konzeptentwicklung (nicht zuletzt aus seiner eigenen) als auch aus der therapeutischen Praxis (nicht zuletzt aus der lösungs- und ressourcenorientierten Praxis) stammen. Zu nennen seien die Orientierung an den Behandlungsanliegen und an den Ressourcen des Klienten, die Fokussierung auf Ziele, zu deren Erreichung der Klient intrinsisch motiviert sein soll, die Formulierung von Annäherungszielen, die durch eigenes Tun des Klienten erreich-

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bar sein sollten (Förderung von Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit), sowie die Berücksichtigung der konkreten Erfahrungen, die der Klient in der therapeutischen Beziehung machen kann, aber auch die von Grawe favorisierte Störungsbildorientierung und die Nutzung von Behandlungsmanualen. All das kommt uns bekannt vor – sei es aus der systemischen, sei es aus der verhaltenstherapeutischen Praxis. In Zukunft werden Komponenten hinzukommen, an denen gearbeitet wird, die aber derzeit noch mehr oder weniger weit außerhalb der Routinepraxis liegen, zum Beispiel − die Nutzung bildgebender Befunde (fMRT, PET) für die differentielle Indikation von Therapiemethoden (sowohl was verschiedene psychotherapeutische Vorgehensweisen als auch was die Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie betrifft, vgl. Aigner u. Lenz, im Druck) und/oder für die Erfolgsprädiktion (hier ist natürlich in nichtlinearen Systemen grundsätzlich Vorsicht geboten), − der Einsatz nichtinvasiver Stimulationsmethoden (z. B. sensorische Stimulation oder weiterentwickelte und fokussiertere Verfahren der Transkraniellen Magnetstimulation, TCM), − der Einsatz von Verlaufskontrollen mit bildgebenden Verfahren, oder − die breitere Nutzung von Technologien des Neurofeedback mit fMRT (siehe oben) oder EEG (Letzteres liegt bei einer Reihe von Indikationen durchaus im Bereich der Praxisroutine, z. B. Rief u. Birbaumer, 2006). Sehr häufig wird über die Nutzung neurowissenschaftlicher Befunde, Erkenntnisse und Methoden in der Psychotherapie oder in anderen psychologischen Anwendungsfeldern (Trainings, Rehabilitation) spekuliert. Gleichzeitig gibt es natürlich auch den anderen Weg: Die Neurowissenschaften sind, soweit sie sich mit mentalen Phänomenen befassen, auf klare Begrifflichkeiten, Konzepte und Hypothesen aus der Psychologie angewiesen sowie auf reliable und valide Operationalisierungen psychologischer Konstrukte, die dann in geeignete Stimulationsparadigmen umgesetzt werden, wenn sinnvolle Aussagen über neuronale Korrelate möglich werden sollen (vgl. die Querpfeile in Abbildung 3).

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Systemwissenschaftliche Modelle (Formalwissenschaft) Theoriebildung – Analyse – Modellierung/Simulation Komplexität – Synchronisation – Emergenz und Dynamik von Ordnern

Abstraktion Neuronale Systeme als intendierte Anwendung der Theorie(n) komplexer Systeme

cognitive, emotional, social neuroscience

Anwendungen in der Psychologie und auf soziale Systeme

Psychotherapie Psychologie

systemische Therapie

Abb. 3: Das Verhältnis von Neurowissenschaften einerseits und Psychologie bzw. Psychotherapie andererseits als Systemwissenschaften (intendierte Anwendungen der Theorien komplexer, nichtlinearer Systeme) zur systemischen Therapie (Definition siehe Text). Die Formalwissenschaften aus dem Bereich der Theorie komplexer, nichtlinearer Systeme stellen für die neurobiologischen und die psychologischen Realwissenschaften ein Paradigma für die Modellierung, Hypothesengenerierung, Interpretation von Phänomenen und Daten, und für die Lösung von wissenschaftlichen und praktischen Problemen bereit.

Darüber hinaus gibt es einen dritten Weg, der Psychologie und Psychotherapie einerseits und die Neurowissenschaften andererseits verbindet: Beide haben es weitgehend mit dynamischen, selbstorganisierenden Systemen zu tun, so dass die abstrakte und auf präzisen mathematischen Grundlagen ruhende Formalwissenschaft komplexer, nichtlinearer Systeme sowohl für die Realwissenschaften des menschlichen Erlebens und Verhaltens als auch für die Realwissenschaften neuroelektrischer und neurochemischer Vorgänge einen paradigmatischen Rahmen, mathematisches Rüstzeug für Modellierungen und Datenanalysen und eine verbindende Terminologie bereitstellen kann (Strunk u. Schiepek, 2006; für eine Interpretation im Rahmen der strukturalistischen Theorienauffassung s. Haken u. Schiepek, 2006). Dann wäre in der logischen Folge der Begriff »systemische

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Therapie« nicht mehr allein bezogen auf psychotherapeutische, sondern auch auf neurobiologische und andere Anwendungen (s. Abb. 3). Neben den Bemühungen um eine »Neuropsychotherapie« könnten die Entwicklungen somit auch in Richtung einer integrierten bio-psycho-sozialen Therapie vor dem Hintergrund eines systemwissenschaftlichen Paradigmas gehen. Eine solche systemische Therapie (»systemisch« hier im Gegensatz zur Bezeichnung der psychotherapeutischen Schule mit kleinem »s« geschrieben und »Therapie« ohne Einschränkung auf »Psycho«) könnte man wie folgt charakterisieren (Schiepek u. Rufer, 2008): Systemische Therapie ist die Ermöglichung von Veränderungsprozessen von als defizitär oder dysfunktional beurteilten Zuständen eines Systems oder Netzwerks von Systemen (Struktur und/oder Funktion betreffend) auf der Basis systemischer Theorien und Methoden. Diese beziehen sich vorwiegend auf das Theoriespektrum komplexer, dynamischer und nichtlinearer Systeme. Die Diagnostik der Systeme und ihrer Dynamik ist integrativer Teil des Therapie- und Veränderungsprozesses und innerhalb der Systemkompetenz von Therapeuten zu konzipieren. Sie erfolgt mit messenden Verfahren und ermöglicht ein konsequentes Prozessfeedback während der Behandlung. Der Therapie- und Veränderungsprozess selbst wird damit als dynamisches, selbstorganisierendes System konzipiert und erfasst.

Dies bedeutet, dass (a) der Fokus der Behandlung Systemqualität besitzt (z. B. psychische Strukturen, neuronale Systeme, interpersonelle Systeme) und mit systemtheoretischen Methoden modellierbar ist, (b) keine A-priori-Festlegung auf bestimmte Interventionsmethoden oder Therapieschulen erfolgt (im Bereich der Psychotherapie bedeutet dies eklektische Offenheit), (c) a priori keine Einschränkung auf eine bestimmte Funktionsebene erfolgt (z. B. auf eine biologische oder eine interpersonell-kommunikative), und (d) systemische Therapie nicht auf Psychotherapie beschränkt bleibt. Das Selbstverständnis eines solchen systemischen Zugangs ist trans- und interdiziplinär. Neurobiologische oder biomedizinische Behandlungen können in diesem Sinne ebenso systemisch sein wie psychologische oder soziale. Beispiele für systemische Therapie wären Psychotherapien, die bei der Identifikation und Beschreibung dysfunktionaler Zustände/Muster explizit mit Systemmodellierungen

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arbeiten und Verfahren des Real-Time Monitorings mit nichtlinearen Prozessanalysen nutzen, Therapien mit Neuro- und Biofeedback oder Technologien der Tiefenhirnstimulation auf Basis expliziter synergetischer Modellrechnungen (z. B. Popovych et al., 2006). Dieses Verständnis ist in jeder Richtung erheblich weiter gefasst als die geläufigen Konzeptionen von Systemischer Therapie (mit großem »S«) als Psychotherapierichtung, zum anderen erheblich anspruchsvoller als diese. Wiewohl systemische Therapie damit auch nicht notwendig Mehrpersonentherapie (erst recht nicht nur Familientherapie) ist, konzeptualisiert und gestaltet systemische (Psycho-)Therapie soziale Interaktionen als relevante Systeme für Veränderungsprozesse (vgl. oben die Ausführungen zur »social neuroscience«). Weder die Anwendung konventioneller »systemischer« Therapietechniken (z. B. Genogramme, Aufstellungen) noch die Festlegung auf eine bestimmte erkenntnistheoretische Position (z. B. Varianten des Konstruktivismus) können aber in diesem Sinne als notwendige oder hinreichende Bedingungen für systemische Therapie gelten. Systemische Therapie in diesem Sinne bemüht sich um eine konsequente theoretische Modellierung von gesunden und physiologischen wie dysfunktionalen Systemfunktionen und ihrer Veränderungsprozesse. Zudem steht ein permanentes Prozessfeedback zur Verfügung (in der Psycho- und Soziotherapie z. B. über das Synergetic Navigation System). Systemische Therapie ist damit per definitionem wissenschaftlich und evidenzbasiert – nämlich basiert auf der Evidenz von Daten und Analysen des aktuell ablaufenden Prozesses und seiner Effekte. Es ist nicht nur eine beforschte, sondern eine aktiv forschende Therapie. Diese Junktim von Praxis und Forschung setzt wissenschaftlich kompetente Praktiker und praktisch kompetente Forscher voraus (Scientist-Practitioner-Modell). Das Menschenbild ist salutogenetisch, auf die Ressourcen und Potentiale aller beteiligten Personen gerichtet (von Schlippe u. Schweitzer, 2007) und berücksichtigt die Verschränkung biologischer, psychischer und sozialer Prozesse (Schiepek, 1999). Wesentlich ist die Systemkompetenz der Therapeuten und ein – im Behandlungskontext passender – Einsatz von Real-TimeFeedbackmethoden, welche über die nichtlineare Dynamik des

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Veränderungsprozesses Auskunft geben. Fallkonzeptionen in der systemischen Psychotherapie sind Verfahren der Mustererkennung (z. B. System-, Plan-, Schemaanalysen) als Systemmodellierungen, welche es erlauben, Struktur und Dynamik der intervenierten Systeme zu erfassen. An die Stelle einer Fokussierung auf Interventionen (lineare Kausalität von der Technikanwendung zum Therapieeffekt) tritt eine Fokussierung auf intra- und intersystemische Resonanzen und Synchronisationsprozesse sowie auf die Schaffung von Selbstorganisationsbedingungen für die »behandelten« Systeme (Schiepek, 2008). Damit eröffnen sich weitreichende neue Möglichkeiten für die Praxis, aber auch neue Anforderungen an Fort- und Weiterbildungen in systemischer Therapie.

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Systemische Neurowissenschaften und systemische Therapie

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Günter Schiepek

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Rainer Schwing

Spuren des Erfolgs: Was lernt die systemische Praxis von der Neurobiologie?

Neurobiologische Forschung: Ein Steinbruch mit vielen Besuchern Seit sich das Gehirn und seine Aktivität immer genauer beobachten und in bunten Bildern darstellen lassen, sind die neurobiologische Forschung und ihre Erkenntnisse, das belegt nicht nur diese Tagung, sehr in den Blickpunkt gekommen, der wissenschaftlichen wie der medialen. Und wenn die Metapher des Steinbruchs (mit der Marie-Luise Conen, 2006, warnen wollte, dass sich Vertreter anderer Therapierichtungen bei systemischen Methoden bedienen und sie sich einverleiben) bei der systemischen Therapie passt, um wie viel mehr kann sie die Verwertung neurobiologischer Erkenntnisse beschreiben: Es ist ein Steinbruch mit vielen interessierten Besuchern, die gerne den einen oder anderen Stein für den Bau des eigenen Hauses mitnehmen, und sollte er nicht so ganz passen, wird er behauen. Das macht man mit Steinen so. Ein willkürlicher Auszug aus der Besucherliste: − Psychoanalytische Kollegen freuen sich darüber, dass das Unbewusste, Mechanismen der Verdrängung und die Bedeutung früher Lernprozesse offensichtlich neurobiologisch belegbar sind (z. B. Anderson, 2004, Leuzinger-Bohleber et al., 2008). So bildet zum Beispiel die Amygdala ihre wesentlichen Strukturen bis zum ersten Lebensjahr. Das bis dahin Gelernte ist extrem veränderungsresistent, frühe (traumatische) Erfahrungen sind daher prägend für Persönlichkeit und Verhalten (Roth, 2005, mündl. Mitteilung). − Verhaltenstherapeuten nehmen erfreut die vielen neuronalen

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Korrelate von Konditionierungsprozessen zur Kenntnis und bauen die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung zu positiver und negativer Verstärkung in ihre Theorieansätze ein (Grawe, 2004, S. 289 ff.). − Speiseeishersteller erfreut die Studie an der Universität Wien (Bauer et al., 2006), die zeigte, dass Speiseeis stärker als Schokolade die Stimmung hebt (Die Studie wurde von der Firma Eskimo in Auftrag gegeben: Handelszeitung vom 22.05.2006). Pepsi freut sich, dass sein Getränk eine Region des ventromedialen präfrontalen Kortex, das Belohnungszentrum, stärker aktiviert als Coca Cola (solange die Probanden nicht wissen, was sie trinken) (McClure et al., 2004). − Die Werbeagentur BBDO möchte herausfinden, »in wie weit die Gehirnforschung Auskunft darüber geben kann, wie der Konsument Marken erlebt, was Marken stark macht und wie das Gehirn durch spezifische Marken aktiviert wird« (http://www.marktforschung-mit-neuromarketing.de; Zugriff 28.07.2008). Und die Deutsche Post Worldnet kooperiert über das Siegfried-Vögele-Institut mit der Universitätsklinik Bonn bei Projekten, in denen neurowissenschaftlich gestützt Werbewirkungen erforscht werden. Ein Ergebnis: In einer Pilotstudie wurde mithilfe funktioneller Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) untersucht, welche Hirnareale bei der Betrachtung von Logos und Gesichtern aktiviert werden. »Gesichter aktivieren wie erwartet die emotions-assoziierten Areale des Gehirns. Logos jedoch, ob bekannt oder unbekannt, werden ähnlich wie Wörter verarbeitet. Sie führen zu keiner verstärkten Reaktion in denjenigen Hirnarealen, die Emotionen verarbeiten« (http://www.sv-institut.de/page. php?id=16; Zugriff 29.07.2008). − Das amerikanische Verteidigungsministerium investiert jährlich 10 % seines Forschungsetats in die Gehirnforschung, unter anderem auch in die Entwicklung von Killerspielen, mit denen Reflexe ihrer Rekruten verbessert und Tötungshemmung reduziert werden kann (Bauer, 2007). Es gibt neuerdings also das Neuromarketing, die Neuropädagogik, die Neuroökonomie, die Neuroökologie, die Neurophilosophie. Der Begriff hat Konjunktur. Aus der Begeisterung der

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Neurowissenschaftler für ihr Fach und aus der Faszination ihrer Kunden ob der griffigen Ergebnisse entsteht so etwas wie eine Deutungshoheit der Neurobiologie über andere Disziplinen. »Zwar seien die Theorien der Neurobiologie streng genommen selbst nur Konstrukte des Gehirns; dennoch können sie, so Roth, mehr Plausibilität für sich beanspruchen als andere Welterklärungen wie diejenigen von ›Religion, Philosophie oder Aberglaube‹« (Roth, 2001, S. 107; zit. nach Fuchs, 2007, S. 17). Das freut die Neurobiologen und das freut die Kunden, denen die Erkenntnisse nutzen. Welche Folgen das zeitigen kann, zeigten Weissberg und Kollegen von der Yale-Universität (2008) in einem Experiment. Sie gaben verschiedenen Gruppen eine Schilderung eines psychologischen Phänomens, teils mit guten, teils mit schlechten Erklärungen, in beiden Versuchsbedingungen teilweise mit oder ohne neurowissenschaftlichen Erklärungen (die jedoch für das Phänomen irrelevant waren). Nichtfachleute schätzten die neurowissenschaftlich verbrämten Erklärungen als sehr befriedigend ein, in der Gruppe mit den schlechten Erklärungen ließen sie sich derart blenden, dass sie logische Mängel derselben nicht mehr zu erkennen vermochten.

Erste Mahnung: Wahrnehmung und Bedeutungsgebung sind subjektiv Von den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen »wird das aufgenommen, was sich gut im Sinne der vorbestehenden Überzeugungen interpretieren lässt, der Rest wird ausgeblendet« (Grawe, 2004, S. 25). Vorsicht ist also geboten, auch bezüglich dieser Ausführungen: Ich werde nicht viel anderes tun als einige Schlussfolgerungen aus einer höchst subjektiven, mir nützlich erscheinenden Auswahl neurobiologischer Erkenntnisse vortragen. Ich tue dies durchaus fasziniert von den vielen bunten und interessanten Ergebnissen der Neurobiologie, und ich tue dies aus der Überzeugung, dass wir Systemiker als Forscher und Praktiker diese Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und einen lebhaften Austausch mit unseren neurobiologischen Kollegen pflegen sollten. Es ist ein »work in progress« und als Praktiker,

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der nicht die Zeit hat, alle relevanten Einzelergebnisse mitzuverfolgen, bin ich mir bewusst, dass zu mancher meiner Thesen jetzt schon Erkenntnisse vorliegen könnten (oder in Vorbereitung sind), die darüber hinausweisen und neue Perspektiven nahe legen. Und: Meine Auswahl ist natürlich auch bedingt durch mein Erkenntnisinteresse, das sich aus meinen Arbeitsgebieten und beruflichen Kontexten ergibt.

Zweite Mahnung: Auch Konstruktivisten verkünden zuweilen gern Wahrheiten Vorsicht ist auch geboten, wenn manche Neurobiologen aus »zuviel hermeneutischer Zärtlichkeit«, »zuviel Liebe zu ihrem Erkenntnisgegenstand« (Krüger, 2007, S. 81) heraus etwas gewagte Schlussfolgerungen treffen. Das gilt auch, wenn die Rezipienten Ergebnisse fasziniert als Fakten festschreiben, die aufgrund des Forschungsstands und der ungeheuren Komplexität des Gehirns bestenfalls als vorläufige Hypothesen durchgehen können. Fuchs (2008, S. 51 ff.) hat neben vielen anderen mahnend auf die methodischen Beschränkungen der faszinierenden Bildgebungstechniken hingewiesen. Sie messen keine neuronale Aktivität, sondern sekundäre Prozesse wie Blutfluss und Sauerstoffverbrauch, zeitliche und räumliche Auflösung sind noch sehr grob im Vergleich zu der zellulären Ebene, die Ergebnisse sind Visualisierungen statistischer Berechnungen; Fuchs (2008, S. 68 ff.) spricht vom »lokalisatorischen Fehlschluss« und verweist darauf, dass die Aktivitätsfarben in den Bildern nur eine höhere Aktivität dieser Region belegen, was nicht gleichbedeutend ist mit der Schlussfolgerung, dass hier die besagte Aktivität auch beheimatet ist. Bestenfalls kann gesagt werden, dass diese Region bei der besagten Aktivität im Verbund eines äußerst komplexen neuronalen Schaltkreises eine herausgehobene Rolle spielt, wie auch immer diese geartet ist. Holistische Konzepte, die Prozesse in neuronalen Netzwerken beschreiben und von einer »systemischen Einheit der zentralnervösen Prozesse« ausgehen, haben demgegenüber »bislang kein vergleichbares Forschungsprogramm« (Fuchs, 2008, S. 69) aufzuweisen. Das ändert sich möglicherweise durch Untersuchungsdesigns,

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die durch multivariate Auswertung nicht nach einzelnen Bildpunkten suchen, sondern « räumlich verteilte Bildpunkte auf spezifische Zusammenhänge ihrer Aktivierung, das Muster [untersuchen]« (Schleim u. Walter, 2007, S. 167 ff.) oder komplexe Verläufe in Zeitreihenanalysen abbilden (Schiepek, 2003, 2008 (mündl. Mitteilung). Ein Beispiel für die schnellen Schlussfolgerungen sind die zum Teil sehr apodiktischen Aussagen über das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gehirn: So schließt Roth (2003, S. 224 f.) unter anderem aus der Tatsache, dass der assoziative Kortex auf eine afferente oder efferente Nervenfaser etwa fünf Millionen intrakortikale Fasern aufweist, d. h. viel mehr interne Vernetzungen besitzt als Verbindungen nach außen, »dass sich das System im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt«. An anderer Stelle (Roth, 1994, S. 253) spricht er vom Ich als einer »Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können«. So gesagt, beansprucht dieser Satz offensichtlich, gültige Weltsicht zu sein; Wenn ich aber den Satz auf den Autoren und das Gesagte selber anwende, ist er sicher ebenfalls mit Hilfe seines Gehirns (5.000.000 intracortikale Fasern zu einer afferenten oder efferenten Faser) zu diesen Schlussfolgerungen gekommen. Hieße das dann nicht auch, dass sie Produkte einer starken »Selbstbeschäftigung« sind, angetriggert durch Forschungstabellen und Bilder aus dem Gehirn, aussagekräftiger über die Denkstrukturen des Autors denn über die beschriebene Realität? Es scheint allerdings menschlich zu sein, die Ergebnisse des eigenen Denkens nicht immer rekursiv auf sich selber anzuwenden. Manche radikale Konstruktivisten formulieren sehr apodiktisch, als ob ihre Theorien allgemeingültig, einzig mögliche Weltsicht seien; manche systemische Therapeuten vertreten ihre Methoden ebenso apodiktisch, ohne sie auf den Entstehungsund Anwendungskontext zu beziehen und damit zu relativieren (was man ja von Systemikern eigentlich erwarten sollte). Liebe macht bekanntlich blind, vielleicht bringt auch die »hermeneutische Liebe« soviel Dopamin und Endorphine zur Ausschüttung, dass wir unsere Denkergebnisse schnell für den Stein des Weisen halten. Hier nützt die gute systemische Grundhaltung, dass man sich in eine Hypothese verlieben, sich auch mal mit ihr

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zum Essen treffen kann, sich aber nicht mit ihr verheiraten sollte (Schweitzer, mündl. Mitteilung).

Dritte Mahnung: Es geht um Menschenbilder und Märkte Die Herausforderung der Neurowissenschaften besteht unter anderem darin, dass sie unsere auf Subjektivität und Willensfreiheit gründenden Menschenbilder radikal in Frage stellen. Diese Herausforderung gebiert sehr viele interessante Diskurse (vgl. z. B. die Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in 2005 und 2006 zu den Themen: »Willensfreiheit – eine Illusion« und »Subjektivität und Gehirn«; Fuchs et al., 2007). Die Faszination der neuen bildgebenden Verfahren verleitet dazu, menschliche Subjektivität auf biochemische Molekularprozesse zu reduzieren, das menschliche Ich gleichzusetzen mit dem »milliardenfachen Flimmern« (Fuchs, 2008, S. 26) elektrochemisch bedingter neuronaler Erregungen, das Ich-Bewusstsein als Konstrukt neuronaler Verrechnungen, mithin als Traum oder Einbildung zu sehen. Wir stehen damit vor der Frage, ob wir uns als Menschen im Sinne eines mechanistischen Weltbildes oder als Subjekte und Beziehungswesen in sozialen Kontexten konzeptionalisieren. Wie diese Frage entschieden wird, betrifft nicht nur philosophische und epistemologische Diskurse, sondern hat sehr handfeste praktische Konsequenzen: Wird mit wachsendem neurobiologischen Wissen menschliche Entwicklung, Lernen, die Linderung psychischer und sozialer Störungen immer mehr als Stoffwechselproblem gesehen und entsprechend behandelt? Oder wird menschliche Beziehung und Unterstützung als wichtigstes Agens gesehen? Es geht hierbei auch um Märkte und Marktanteile, und als politisch denkender Konstruktivist gehe ich davon aus, dass wir ein hartes Ringen um die Richtung und Ausdeutung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse erleben werden, die nicht nur von rationalen Kriterien geleitet werden, sondern auch ebenso stark von den ökonomischen Interessen der Akteure. Ein Beispiel: Sollte es wissenschaftliche Lehrmeinung werden, dass depressive Menschen am besten und vorrangig psy-

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chopharmakologisch behandelt werden, so entsteht ein riesiger Markt. Im Jahr 2002 betrugen die direkten Kosten für die Depressionsbehandlung in Deutschland 4 Milliarden Euro, davon waren 20 %, also 0,8 Milliarden, Medikamentenkosten (Statistisches Bundesamt, 2006). Bei 680 Millionen Einwohnern in Europa können wir bei einer 12-Monats-Prävalenz von 5 % von 34 Millionen behandlungsbedürftigen depressiven Menschen im Jahr ausgehen. Das ergibt einen europäischen Markt für Antidepressiva im zweistelligen Milliardenbereich, bei aller Vorsicht mit den von Studie zu Studie sehr unterschiedlichen Zahlen. Für diese Umsätze lohnt es sich, massiv in Forschung zu investieren, um die Wirksamkeit zu belegen und z. B. Studien wie die von Elkin (1994) zu widerlegen oder zu relativieren. Elkin fand heraus, dass die langfristige Rückfallquote bei nur medikamentös behandelter Depression bei 80 % liegt, bei zusätzlicher oder alleiniger psychotherapeutischer Behandlung deutlich geringer. Unübersehbar gibt es deutliche Trends zu medikamentöser Therapie. Mojtabai und Olfson (2008) fanden in einer Studie unter niedergelassenen Psychiatern in den USA heraus, dass der Prozentsatz psychotherapeutischer Behandlung von 47 % in 1996 auf 29 % in 2005 fiel. Auch wenn dieses Ergebnis nur psychiatrische und keine anderen psychotherapeutischen Praxen einschloss, spiegelt es doch einen Trend: Laut dem Arzneiverordnungsreport 2006 ist in Deutschland die Verordnung von Methylphenidat (z. B. Ritalin) von unter 1 Million DDD (»daily defined dose« = angenommene mittlere Tagesdosis, eine von der WHO definierte Maßeinheit) in 1992 auf 32,6 Millionen DDD in 2005 gestiegen (Schwabe u. Paffrath, 2006, zit. nach Fritz, 2007), die Antidepressivaverordnungen sind von 1993 auf 2006 um das Dreifache gestiegen (Schwabe u. Paffrath, 2007). Es wäre naiv zu glauben, dass Marktinteressen der PharmaUnternehmen nicht direkt oder indirekt Einfluss auf neurowissenschaftliche Forschungen nähmen. Allein das ist Grund genug, dass wir als systemische Psychotherapeuten uns in dieses Feld einbringen müssen, Kooperationen aufbauen und pflegen sollten, um unsere Fragestellungen und Perspektiven in die Forschung einfließen zu lassen. Einige Ideen dazu möchte ich im Weiteren präsentieren.

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Ein historisches Beispiel: Wie in Wissenschaft und Praxis Scheuklappen entstehen Ein recht instruktives Beispiel, wie aus Faszination und Marktnotwendigkeiten wissenschaftliche Lehrmeinungen und praktische Handlungsstrukturen geprägt werden, hat Morgan (1986) für den Bereich der Organisationstheorien beschrieben. In seinem Buch »Images of Organisations« zeigt er auf, wie sich in der historischen Entwicklung die Ideen über Produktion, Unternehmen und Organisation gewandelt haben, indem sie bestehende Gedankenströme aufgriffen, sich dabei um gewisse Leitmotive herum strukturiert haben, und wie diese Leitmotive in einem zirkulären und rekursiven Prozess wiederum das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen immens geprägt haben. Der Beginn der industriellen Revolution und das Aufkommen von Maschinen war ein solcher bedeutender Impulsgeber. Dies fand statt in einem Zeitgeist der Aufklärung, die in der Tradition Descartes an die vernunftgesteuerte Aneignung der Welt durch den Menschen glaubte und damit »die Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit der nach den Gesetzmäßigkeiten eines Uhrwerks funktionierenden Welt« anstrebte (Simon, 2006, S. 11). Mechanische Fertigung und die dazu benutzten Maschinen haben auf der einen Seite enorme Produktivitätsfortschritte gebracht: Mit der Erfindung der Dampfmaschine 1769 und des mechanischen Webstuhls 1785 war beispielsweise eine 200-fache Produktivitätssteigerung in der Baumwollspinnerei möglich. Neben diesen ökonomischen Vorteilen faszinierten die Maschinen jedoch mit ihren neuen Möglichkeiten und beherrschten das Denken der Menschen in vielen anderen Wissenschaftsbereichen, und das mit weit reichenden Folgen. Mechanistische Mensch- und Weltbilder drängten sich in den Vordergrund, Friedrich der Große organisierte nach diesen Prinzipien sein Militär; er konnte sich sehr an dem damals aufkommenden mechanischen Spielzeugmännchen begeistern und übertrug das auf seine Soldaten, von denen er automatischen Gehorsam verlangte. Viele auch heute noch vorfindbare Organisationsideen entstanden damals: Unterscheidung von Stab und Linie, klare Arbeitsteilung, Standardisierung von Abläufen etc.; diese flossen dann in die Ideen des amerikanischen Ingenieurs Frederick

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Taylor ein, dessen »Scientific Management« die beginnende Massenproduktion Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts prägte. Menschen hatten als Rädchen in der Maschinerie zu funktionieren, sie überblickten nur einen Teil des ganzen, bei Problemen wurden sie ausgetauscht. Wie sie sich dabei fühlten, war uninteressant. Mechanistische Ideen über Produktionsformen prägten daraufhin das Denken und Handeln der Menschen, ein Blick abseits des Wegs war nicht möglich, andere Wissensbestände wurden unterdrückt oder blieben unbeachtet. Das blieb so, bis in den späten zwanziger Jahren Elton Mayo in seinen Hawthorne Studies feststellte, dass die Produktivität eines Unternehmens der Western Electric Company in Chicago trotz einheitlicher Organisationsgrundsätze variierte und um so besser war, je mehr soziale Kontakte die Arbeiter untereinander hatten und je wohler sie sich fühlten. Dies war für die Fachwelt damals erstaunlich und revolutionierte das Denken über Organisationen. Dass soziale Bedürfnisse und Wohlbefinden wichtig für die menschliche Leistungsfähigkeit sind, hat man prinzipiell auch schon vor Mayo’s Studien gewusst, nur dieses Wissen hatte kaum Chance, in den Mainstream der Wissenschaften und des praktischen Handelns zu geraten. Thomas Kuhn hat in seinem Werk »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962) aufgezeigt, wie Leitideen, Paradigmen für eine Periode das gesamte Denken beherrschen und anderes Wissen aktiv verdrängt wird. Möglicherweise gibt es auch in der Welt der Wissenschaft Phänomene wie Aufmerksamkeitsfokussierung, Ideen-Trance, Dissoziation von Gedanken, die zu einer bestimmten Zeit nicht ins Bild passen. Damit werden dann Bilder und Beschreibungen konstruiert, die als Wahrheiten gehandelt werden. Sie halten sich recht lange, nicht, weil sie wahrer sind, vielleicht nicht einmal, weil sie nützlicher sind als andere Ideen. Weil es faszinierende Gedanken sind, von faszinierenden Menschen vorgetragen, weil sie in zeitgeistliche Strömungen passen, konstellieren sie sich als Aussagen mit hohem Gültigkeitsanspruch. Dazu passt mitunter die mediale Erhöhung, in deren Berichterstattung Einzelaussagen herausgegriffen und groß aufgemacht werden; Damit wird die ganze komplizierte Komplexität, die sich dahinter verbergen mag, munter glatt gebügelt. Und auf die Protagonisten dieser Ideen warten

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ja auch attraktive Verstärkersysteme: Bekanntheit, Beliebtheit, Einfluss, Zugang zu Medien und anderen Ressourcen. Ist es zu respektlos, festzustellen, dass es auch in unserer Szene soziale Dynamiken gibt, die einzelne herausragende Menschen zu Popstars machen, welche dann für längere Zeit die herrschenden Moden prägen? Die Ingredienzien für eine solche Entwicklung scheinen mir auch heute vorhanden, manche Diskussionen und Verläufe ähneln den Prozessen, die Morgan beschrieben hat.

Systemische Praxis: Ein Begriff und viele Bedeutungen Genau genommen ist die Frage im Titel, was die systemische Praxis von der Neurobiologie lernt, nicht beantwortbar. Denn »die systemische Praxis« gibt es nicht, stattdessen viele systemische Praxisfelder und viele systemische Praktiker. Die jeweiligen Kontexte nötigen dem einzelnen Praktiker beträchtliche Anpassungsleistungen ab, und das konkrete Tun entwickelt sich aus der gelernten Methode, der Person der Beraterin/Therapeutin, dem Kontext, den Klienten, den Problemstellungen, mit denen sie uns konfrontieren, den Rahmenbedingungen der Arbeit, den Kollegen, die systemisches Arbeiten begrüßen oder bekämpfen etc. Wenn ich also die über die Kopplung systemischer Praxis mit neurobiologischer Forschung spreche, sollte ich die konkrete Praxis beschreiben, die mir die Perspektiven für die Antworten auf diese Fragen liefert. Und ich sollte meine Beschreibung systemischer Praxis zumindest in groben Zügen explizieren, damit deutlich wird, aus welchem Grundverständnis heraus argumentiert wird. Zuerst zu den professionellen Kontexten: 1. Gelernt habe ich vor allem bei Carole Gammer, die sehr viele handlungsorientierte Methoden wie Enactment, Dramatisierung, Skulpturarbeit, konkrete Aufgaben etc. vermittelte (und dies auch heute noch tut: vgl. Gammer, 2006). 2. Neben, vor und nach der systemischen Ausbildung hatte ich Weiterbildungen in anderen Ansätzen absolviert: klientenzentrierte Therapie, Kindertherapie, Hypnotherapie, Organisationsberatung, Verhaltenstherapie.

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3. In unserem Institut verfügen praktisch alle Lehrende und Supervisoren über eine ähnliche berufliche Vita: Die neben der systemischen Therapie absolvierten Weiterbildungen reichen von psychodynamischen Ansätzen, Gruppenanalyse, Körpertherapie bis zu Psychodrama und Theaterpädagogik. Das erfordert und schult die fach- und berufsgruppenübergreifende Verständigung und bereichert enorm. 4. Unsere Weiterbildungsteilnehmer kommen zu einer großen Anzahl aus sozialen Arbeitsfeldern wie der Jugendhilfe, der Sozialpsychiatrie, Selbsthilfebewegungen etc. Sie arbeiten mit Menschen in zum Teil sehr schwierigen Kontexten und sind gefordert, immer wieder neu die »Hoffnung zu erfinden« (Conen, 2004) und die dafür passenden vielfältigen methodischen Zugänge zu entwickeln. Häufig sind dies nicht komplexe sprachliche Konstruktionen, sondern auch konkrete handlungsorientierte Interventionen. Vor diesem Hintergrund war und ist mir die Aussage von Milton Erickson, man solle für jeden Patienten eine eigene Therapieschule gründen (dem Sinne nach Gunter Schmidt, 1994, mündl. Mitteilung), Bestätigung meiner Erfahrungen und Orientierungshilfe in meiner Arbeit. Ebenfalls vor diesem Hintergrund habe ich Entwicklungen der systemischen Therapie wahrgenommen und bewertet, die in der folgenden Tabelle (Tabelle 1) skizziert sind. Tab. 1: Entwicklungstendenzen der systemischen Therapie

Arbeit mit Emotionen handlungsorientierte Interventionen direktive, strategische Interventionen Anleitung begleitende Unterstützung über längeren Zeitraum

¯ Arbeit auf kognitiver Ebene ¯ sprachliche Interventionen Verstörung und autopoietische

¯ Neuorganisation ¯ Kurzzeittherapie

1. Virginia Satir et al. haben sehr stark mit emotionalen Kon-

zepten wie Selbstwert und Empathie gearbeitet. Mit der Ent-

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wicklung zur Kybernetik zweiter Ordnung kamen komplexe Theoriebildungen und komplizierte Sprachformen in die systemische Theorie und Methodologie. Sprachgewitzt wurde die Arbeit mit Emotionen ironisch kommentiert (»Horch, was kommt von drinnen raus«: Simon u. Weber, 1989), wohl auch, um »die Exzesse der 1970er Jahre in Sachen Innerlichkeit und Selbsterfahrung zu überwinden« und um »die systemische Gedankenwelt möglichst unverfremdet in die Therapie umzusetzen« (Ludewig, 2005, S. 67). 2. Es entwickelte sich, auch im Kontext narrativer und lösungsorientierter Ansätze, eine weitgehend sprachliche Methodologie: erkundende, zirkuläre, vergleichende, lösungs- und zukunftsorientierte Fragen, Kommentieren, Reflektieren, Externalisieren, Dekonstruieren etc. (vgl. Ludewig, 2005, S. 110). »Es ging – und geht – in der modernen systemischen Therapie darum, welche Art von Sinn über Sprache erzeugt wird. Probleme werden als sprachliche Ereignisse einer sozialen Gruppierung beschrieben, als eine Art »sozialer Übereinkunft« [. . . ] Therapie bedeutet, sich in die Beschreibungen von Klienten in ihren Systemen einzuklinken und [. . . ] in diese Beschreibungsmuster neue Elemente einzuführen (von Schlippe, 1999; zit. nach Bünder u. Sirringhaus-Bünder, 2005, S171). 3. Direktive Ansätze (wie beispielsweise die strukturelle Arbeit von Minuchin oder strategische Ansätze) waren mehr und mehr verpönt, sie wurden von etlichen Fachkollegen als Ausdruck gewertet, dass man noch in der Kybernetik erster Ordnung hängen geblieben sei und offensichtlich (ein großer Fauxpas) an die Instruierbarkeit von Systemen glaube (zu den Begrifflichkeiten vgl. Schlippe u. Schweitzer, 1996; Simon, 2006) 4. Auf den Kongressen wurden erfolgreiche Therapien von zum Teil stark ausgeprägten Symptomatiken gehandelt, die mit maximal drei bis fünf Sitzungen auskamen. Erfolgs- und Heldenstorys prägten die »belief systems« der systemischen Szene, wer länger brauchte, zweifelte an der eigenen Kompetenz oder behielt es häufig für sich. Dies waren maßgebende Bilder, mit denen z. B. Kolleginnen aus der Jugendhilfe konfrontiert waren, wenn sie eine systemische Weiterbildung machten und die sich natürlich fragten, was sie bei ihrer zum

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Teil langfristig angelegten Arbeit mit sehr desorganisierten Familien falsch machten. Seit einigen Jahren beobachte ich, dass sich die geschilderten Entwicklungen teilweise umkehren und sich eine Vielfalt methodischer Handlungsansätze auch in der publizierten Fachöffentlichkeit breit macht. Ludewig (2005, S. 67) spricht gar von einer »emotionalen Wende«. Dies wurde auch angeregt durch die beispiellos erfolgreiche Verbreitung systemischer Ansätze in sozialen Arbeitsfeldern und der dadurch notwendigen Neu- und Umkonstruktionen systemischer Handlungstheorien. Mir scheint die Betonung kognitiver, sprachlicher Interventionen, die durch verstörende Impulse autopoietische Neuorganisation anregen, eine unnötige Verengung systemischer Handlungsmöglichkeiten zu sein, die weder fachlich noch theoretisch begründbar ist. Ich möchte im Folgenden ein Modell vorschlagen, das es erlaubt, verschiedene Interventionsebenen zu integrieren und das zum einen neurobiologisch begründet ist und auch eine Grundlage darstellen kann, neurobiologische Erkenntnisse nutzbringend in systemische Theoriebildung und Praxis zu integrieren.

Muster, die verbinden Menschen lernen Menschen lernen, sie können gar nicht anders. Und sie tun dies ausgiebig schon vor der Geburt (vgl. Hüther u. Krens, 2005). Jeder Lernprozess verändert uns, auch auf einer körperlichen Ebene. Neben den muskulären Veränderungen (z. B. beim Erlernen einer Sportart) sind damit vor allem die neuronalen Veränderungen gemeint: Denn Lernen verändert die synaptischen Verbindungen, die Reaktionsbereitschaft von Neuronen, die Vernetzung in Form von neuronalen Schaltkreisen oder neuronalen Karten (Hüther, 2001; Spitzer, 2007). Piaget (1937) hat ähnliche Prozesse beschrieben und nannte die entstehenden inneren Substrate des Lernens sensomotorische Schemata, die

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vom Kind durch Erfahrungen aufgebaut und gegebenenfalls verändert werden. Er beschrieb zwei Prozesse des Lernens, die auftreten, wenn neue Erfahrungen nicht zu den bisherigen sensomotorischen Schemata passen. Durch Assimilation werden die Erfahrungen in die vorhandenen Schemata integriert, auch wenn sie etwas dafür angepasst werden müssen. (Wie Prokrustes, der seine Gäste durch Verlängerung oder Verkürzung in sein vorhandenes Bett anpasste). Wenn dies nicht mehr gelingt, weil die Inkonsistenz zu groß wird, werden Schemata verändert, in dem sie akkomodiert werden. Diese theoretische Formulierung ist sehr nah an den Beschreibungen von Kuhn für die wissenschaftliche Entwicklung, nach der neue Erkenntnisse an die bestehenden Theorien angepasst werden (manchmal durchaus mit mehr oder weniger sanfter Gewalt), bis das nicht mehr geht und ein Paradigmenwechsel stattfindet. In einem Schema könnte das in etwa wie in Abbildung 1 dargestellt werden. In diesem Modell trenne ich Prozesse, die im Gehirn hochgradig vernetzt und fast zeitgleich stattfinden. Dies ist aus pragmatischen Gründen nützlich, vor allem wenn wir an die Konsequenzen für klinisches und sozialpädagogisches Handeln denken. Darüber hinaus sind den einzelnen Funktionsbereichen zum Teil durchaus unterschiedliche Schaltkreise und Hirnareale zugeordnet. Die Relationen zwischen den einzelnen Funktionen und den neuronalen Karten oder Schemata sind als zirkulär zu verstehen: Zum einen verändert jede Erfahrung meine inneren

Abb. 1: Lernprozesse beim Menschen/im psychisch-körperlichen System

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Schemata, zum anderen beeinflussen meine inneren Schemata, was und wie ich überhaupt wahrnehme (z. B. durch Selektion), welche Bedeutung ich dem Wahrgenommenen gebe, wie ich es bewerte (durch Abgleich mit gespeicherten Vorerfahrungen, kognitiven Schemata, emotionalen Bewertungen) und wie ich handle (durch Abrufen von Handlungsmustern, mit denen ich in ähnlichen Situationen erfolgreich war). Wie durch solche Prozesse innere Realität aufgebaut wird, wird in den Modellen des Konstruktivismus untersucht (Förster, 1985, Glasersfeld, 1998).

Systeme lernen Auch soziale Systeme lernen, sie verändern (gelegentlich) ihre Organisationsmuster aus den Erfahrungen, die sie machen, oder (was häufiger geschieht) sie assimilieren ihre Erfahrungen an ihre grundlegenden Muster. Diese grundlegenden konstitutierenden Muster sind in der systemischen Theorie vielfach und vielfältig benannt worden. Zum Beispiel wurde insbesondere in dem von Gergen (z. B. 2002) begründeten Ansatz des »sozialen Konstruktionismus« beschrieben, wie in sozialen Systemen durch Interaktionen Realität konstruiert wird. Ich finde hier einen Blick in die Ethnographie und Organisationstheorie nützlich und aufschlussreich, in der diese Muster zusammenfassend als Kultur beschrieben werden. Der Begriff, ursprünglich entwickelt für die Beschreibung von Stämmen, Völkern, Gesellschaften, wurde recht bald auf Organisationen übertragen (Bateson, 1999; Garfinkel, 1967; Goffmann 1967; Schein 1985; Morgan, 1986). Er beschreibt die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Werte und Normen in einem sozialen System. Diese − »bieten Unterscheidungskategorien für die Wahrnehmung (Worauf muss geachtet werden?); − bieten einen Deutungsrahmen für Zeichen und Symbole (was bedeutet was?)« (Simon, 1992, S. 130). Sie beeinflussen auch die Geschichtsschreibung und die Narrative des Systems (z. B. die Art der Geschichten oder Witze, die kursieren); − definieren die Bewertungssysteme, definieren Gratifikationen

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für erwünschtes und Sanktionen für unerwünschtes Verhalten; − bieten Handlungsmuster, die nahe legen, wie in bestimmten Situationen gehandelt werden soll und engen so die Verhaltensvarianz ein (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2: Lernprozesse in sozialen Systemen/Lernen durch Kulturbildung

Damit ist die Analogie zu dem Lernen eines Menschen, die Analogie von sozialem und psychisch/körperlichem System deutlich. Beim Menschen werden die Schemata in neuronalen Karten gebahnt, bei sozialen Systemen wird Kultur durch Interaktionen, Verhaltenserwartungen, Glaubenssysteme konstruiert. Ähnlich wie im menschlichen Gehirn bei Gefahren oder erfolgreichen Erlebnissen neuronale Bahnungen gestärkt oder neu angelegt werden (neuronale Plastizität), so wird die Verhaltenskoordinierung und Kulturentwicklung in sozialen Systemen häufig durch bedrohliche Situationen oder erfolgreiche Interaktionssequenzen getriggert. Beispielsweise kann der Kulturbegriff auf eine harmonisierende, konfliktscheue Familie (oder Organisation) angewandt werden. Es erschließt sich, wie eine konsistente Kultur erzeugt wird − durch eine bestimmte Wahrnehmung des Umfelds (»Gott sei Dank verstehen wir uns so gut, es ist soviel Streit in der Welt«) und der eigenen Beziehungen (konflikthafte Themen sind

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tabuisiert, Konfliktsignale werden übersehen oder heruntergespielt); − durch Bedeutungsgebung (»Aggression ist Ausdruck von Unreife«); − durch Bewertung (Wut, Abgrenzung und Ärgerausdruck werden sanktioniert, fürsorgliches Verhalten gratifiziert und als Vorbild gehandelt) und − durch Verhaltenssteuerung (häufige Rituale der Harmonie, des Miteinanders, übertriebene Freundlichkeit). Die entstandene Kultur wiederum wirkt zirkulär auf die Prozesse des Wahrnehmens, Erklärens, Bewertens, Handelns zurück. Ähnlich wie bei den Schemata des psychischen Systems von Menschen sichern diese kulturellen Muster das Überleben und die Stabilität von Systemen und sind entsprechend langlebig und häufig veränderungsresistent.

Ein Modell für die Praxis Wenn das psychische/körperliche System eines Menschen und das soziale System wechselseitig als Umwelten (das eine jeweils für das andere; Simon, 2006, S. 89) gesehen werden, wird die strukturelle Kopplung der beiden beschriebenen Lernprozesse darstellbar (Abbildung 3).

Abb. 3: Kopplung der Lernprozesse in psychisch-körperlichen und sozialen Systemen

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Die liegende Acht, die Lemniskate, beschreibt modellhaft die wechselseitig aufeinander bezogenen Abläufe von Beeinflussungs- und damit Lernmustern. Gegebenheiten des sozialen Systems werden vom Menschen (nach Maßgabe der bisherig gebildeten Schemata, also selektiv) wahrgenommen, erklärt, bewertet und in Handlung übersetzt. Diese wird wiederum vom System (nach Maßgabe seiner kulturellen Prägung, also selektiv) wahrgenommen, ihr wird Sinn und Bedeutung zugeschrieben, sie wird bewertet und mit Handlungen beantwortet. Dies geschieht in einem kontinuierlichen Prozess, solange die beiden Systeme miteinander gekoppelt, also in Kontakt sind. Es findet ein koevolutiver Prozess der Strukturbildung statt, in dem in jedem System Information über das jeweils andere entsteht und die beiden Systeme sich miteinander entwickeln und sich gegenseitig stabilisieren. Veränderung entsteht, wenn nun eines der Systeme verstörende Inputs für das andere bereithält (z. B. von einer Therapeutin oder einem Sozialpädagogen gegenüber eine Familie oder Jugendgang). Das vorgeschlagene Modell legt nahe, dass an allen acht Prozessen für eine Veränderungsarbeit angesetzt werden kann. Als Beispiel sei die Arbeit mit einem dissozialen Jugendlichen beschrieben. − Ich kann daran arbeiten, wie er bestimmte provokante oder verführerische Situationen wahrnimmt (Perzeption). − Ich kann beeinflussen, wie er sein Verhalten erklärt, welchen Sinn er ihm zuschreibt, kann mit ihm über seine Ziele sprechen (Kognition). − Ich kann auf emotionaler Ebene intervenieren, Verständnis und Empathie zeigen und mit ihm erkunden, wie es ihm mit seinem bisherigen Leben geht und was ihm wichtig für die Zukunft ist (Emotion). − Ich kann mit ihm Verhaltensschritte einüben für bestimmte Lebensbereiche, kleine Erfolgserlebnisse feiern und sein Verhaltensrepertoire entwickeln (Aktion). Analog kann ich mit den relevanten Umwelten, also Familie, Freundesclique, Schulklasse, arbeiten, um auch hier Veränderungsimpulse zu setzen, die sich auf den Jugendlichen auswirken werden. Aus meiner Sicht kann damit die Verengung der systemi-

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schen Therapie und Beratung auf vorwiegend kognitive Ansätze überwunden werden, bzw. das, was in der Praxis häufig schon längst vollzogen ist, theoretisch abgebildet werden. Es folgt überhaupt nicht notwendig aus einer systemischen Theorie, die von Kommunikativer Kopplung und Autopoiese ausgeht, dass die veränderungswirksame Intervention nur sprachlich-kommunikativ daherkommen kann. Jede Art von Intervention, auch eine direktive Anweisung, kann Verstörung, Veränderung anstoßen. Damit öffnen wir uns auch den Erkenntnissen anderer fachlicher Richtungen und können beispielsweise verhaltenstherapeutische, psychodramatische oder tiefenpsychologische Methoden widerspruchsfrei integrieren, unter der Voraussetzung, dass wir − von einem kontext- und systemorientierten Störungsverständnis ausgehen; − eine systemorientierte Theorie der Veränderung zugrunde legen; − bei jedem Schritt relevante Kontexte virtuell (durch Visualisierungen oder Symbolskulpturen) oder real einbeziehen und immer die zirkulären Wechsel-Wirkungen bei Veränderungen zwischen Person und Umfeld mit bedenken; − als wichtigstes Kriterium die Passung von Methode und Klient(ensystem) beachten; − genau und kritisch beobachten, was wirkt und mit welchen Angeboten sich Menschen und Systeme zu Veränderungen einladen lassen und auf Veränderungen einlassen. Was uns von anderen therapeutischen Richtungen unterscheidet, und das ist ein großes Pfund: Wir haben sowohl theoretisch als auch praktisch seit Jahrzehnten die Kopplung individueller und sozialer Prozesse untersucht und in eine wirksame Methodologie übersetzt. Dass dies vom Markt wahrgenommen wird, zeigt sich unter anderem auch daran, dass in Feldern, in denen die Beachtung des Kontextes von hilfebedürftigen Menschen besonders wichtig und erfolgskritisch ist (z. B. in der Jugendhilfe), systemische Arbeit eine beispiellose Verbreitung gefunden hat. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass auch andere Autoren unter dem Eindruck neurobiologischer Erkenntnisse vermehrt den Einbezug von Kontextpersonen in die Therapie für nötig erachten. Für die effektive Neubahnung von Erlebens- und

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Verhaltensmustern sind eine Vielzahl von Wiederholungen oder Übungsdurchläufen nötig, dies kann oft nur dadurch sichergestellt werden, wenn das Umfeld miteinbezogen wird und im sozialen System Kommunikation so angeregt wird, dass neue Muster erlaubt sind, Platz haben und aktiv geübt werden (Grawe, 2004, S. 32 f.).

Wenn Systemiker von Neurobiologen lernen wollten . . . Welche Anhaltspunkte uns die neurobiologische Forschung für dieses Projekt liefert, möchte ich beispielhaft an sieben Punkten darstellen. Dass auch dies eine höchst subjektive Selektion aus einem riesigen und faszinierenden Gebiet darstellt, versteht sich von selbst. (Und warum ich gerade diese Selektionen vornehme, lässt sich wahrscheinlich vor dem Hintergrund der bisher dargestellten Überlegungen recht gut nachvollziehen.)

Die Weisheit des Talmuds: Neuronale Plastizität (1) Achte auf Deine Gedanken, denn Deine Gedanken werden zu Worten. Achte auf Deine Worte, denn Deine Worte werden zu Taten. Achte auf Deine Taten, denn Deine Taten werden zu Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn Deine Gewohnheiten werden zum Schicksal.

Eine der wohl wichtigsten Botschaften der Neurobiologie ist: Das menschliche Gehirn zeigt sich bis ins hohe Alter in der Lage, seine Strukturen gemäß der eigenen Erfahrungen zu verändern. Dieses als Neuroplastizität benannte Phänomen ist vielfach belegt (z. B. Grawe, 2004, S. 131 ff.; Spitzer, 2007, S. 95 ff.; Fuchs, 2008, S. 153 ff.). Hebb hat den Begriff der neuronalen Plastizität griffig formuliert: »Neurons that fire together, wire together« (zit. nach Grawe, 2004, S. 31). Diese Bahnung geschieht auf drei Ebenen: − Synapsen: Bei häufiger Aktivierung werden die erregten Synapsen durch Langzeitpotenzierung noch leichter aktivierbar und es bilden sich weitere Synapsen.

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− Neuronen bilden neue Dendriten aus und damit neue Verknüpfungen; vor allem im Hippocampus können auch neue Neuronen wachsen. − Kortikale Karten verändern sich durch neue oder verstärkte Vernetzung der verschiedenen beteiligten Areale. Hüthers (2001, S. 61) Begriff der programmöffnenden Konstruktion geht einen Schritt weiter und bezieht die zirkulären Prozesse der Koevolution zwischen Mensch und Umwelt mit ein. Im Gegensatz zu Gehirnen von Würmern oder Schnecken, die stark programmgesteuert sind, oder Gehirnen von Vögeln, die in frühen Zeitfenstern bleibende Konstruktionen bilden (initial programmierbare Konstruktionen), meint programmöffnende Konstruktion des menschlichen Gehirns die Fähigkeit, im rekursiven Austausch mit der Umwelt (beeinflusst werden und beeinflussen) neue Strukturen zu bilden (Hüther, 2001, S. 37 ff.). Das Wissen über diese Koevolution ist alt, das Eingangszitat aus dem Talmud bringt prägnant und poetisch wie kaum eine andere Formulierung die Prozesse der neuronalen Bahnung durch häufige Wiederholung und die Wechselwirkung mit dem Umfeld auf den Punkt. Ein Beispiel: Wenn ich denke, dass die Welt schlecht ist und niemand an echten Beziehungen (schon gar nicht mit mir) interessiert ist, werde ich immer selektiver das wahrnehmen, was meine Sicht bestätigt. Je häufiger ich diese Gedanken denke, desto mehr wird sich das in meinen neuronalen Karten »einbrennen«, was rekursiv die Auftretenswahrscheinlichkeit solcher Gedanken erhöht, denn bei geringsten Frustrationen wird dann das ganze Programm abgerufen. Ich werde mich misstrauisch von anderen zurückziehen, was die Möglichkeit korrigierender Erfahrungen verringert. Meine Umwelt werde ich mit meinen negativen Gefühlen beglücken, sie werden mich als mürrischen Menschen erleben und viele werden sich zurückziehen, was wiederum mein Bild der Welt bestätigt. Wenn diese Kreisläufe sich oft genug wiederholt haben, sind sie gut in den Gehirnbahnungen und in den Organisationsmustern meiner Umwelt, meines sozialen Systems verankert. Was ich gedacht habe, ist Schicksal geworden. Was für diesen negativen Kreislauf gilt, gilt auch für Verände-

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rungsprozesse. Veränderung anzuregen heißt dann, dass sich neuronale Muster ändern (das lässt sich durch bildgebende Verfahren nachweisen, vgl. Hüther u. Rüther, 2003, S. 225 ff; Leuzinger-Bohleber et al., 2008, S. 12 ff.) und ebenso die Kommunikationsmuster im umgebenden System. Beides wird in Beratung und Therapie erreicht, wenn die Beraterin neue Erfahrungen anregt und anbietet und für Wiederholung und Übung sorgt. Ich möchte dies am Beispiel des Joining oder Beziehungsaufbaus zu Beginn einer Beratung verdeutlichen. − Zu Beginn einer Familientherapie trete ich mit allen in Kontakt, begrüße jeden, nehme mir Zeit, alle kennen zu lernen, höre jedem aufmerksam, wohlwollend, interessiert zu. Das allein kann schon eine starke Induktion von neuen Informationen in das System sein (»alle sind wichtig«), die z. B. in machtbetonten Systemen (»einer hat das Sagen«) eine Verstörung des Weltbildes bewirkt und neue Erfahrungen bahnt. − Ich benenne Unterschiede, die ich sehe, frage gelassen nach, wie sie damit umgehen. Auch das ist für Familien, die in ihrer Kultur viel Gleichheit herstellen, etwas sehr Neues, das ihre Handlungsmuster herausfordert. − Wenn ein kleines Kind »stört«, nehme ich mir Zeit, helfe den Eltern, ihm eine Beschäftigung anzubieten oder auch Grenzen zu setzen, coache sie dabei auch, wenn sie das wollen. Auch diese Intervention setzt Neues in dem System frei, vor allem wenn die Eltern erfolgreich sind und Anregungen mitnehmen, wie sie Ähnliches zu Hause bewerkstelligen können. − Ich wechsle zwischen Ernsthaftigkeit und Humor (mit gelegentlichen Ausflügen ins Absurde oder zu scherzhaft-wohlwollenden Übertreibungen). Das baut eine gute und lockerflexible Beziehung auf und transportiert die Botschaft, dass nicht alles immer so schwer zu nehmen ist, was gerade in sehr ernsthaft-bemühten Familien etwas Neues ist und für Entspannung sorgen kann. Dies sind alles Interventionen, die sowohl beim Einzelnen und seinen Informationsverarbeitungsmustern neue Bahnungen anregen, gleichzeitig sind sie auch Interventionen in Kulturaspekte des Systems, in diesem Beispiel der Familie. Ein Grund, warum systemische Therapien – auch belegbar in den Wirksamkeitsstu-

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dien (von Sydow et al., 2007) – mit deutlich weniger Sitzungen zurechtkommen wie andere therapeutische Ansätze, scheint mir auch darin zu liegen, dass sie kontextbezogen arbeiten. Sie können dadurch viel gezielter und bewusster auf die Koevolutionsprozesse zwischen Mensch und Umfeld einwirken, problemstabilisierende Muster hemmen und Lösungsmuster aufbauen. Was allerdings noch viel wichtiger ist: Wenn es gelingt, im Umfeld Veränderungen anzuregen, entstehen für die Menschen viele Übungssituationen für Lösungsmuster im Alltag, und diese sind enorm wichtig für dauernden Erfolg (siehe »Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger«). Wenn ich mit wertschätzendem Beratungsverhalten die Familie anrege, auch auf positive Aspekte ihres Sorgenkindes zu schauen, und sie dies im Alltag verstärkt tun, ist das ein starker und nachhaltiger Veränderungsimpuls.

Virginia Satir und Dopamin: Wann lernen wir besonders gut? (2) In der Zeit etwa, als ich mich mit dem Dopamin-System im menschlichen Gehirn beschäftigte, sprach ich mit einer Klientin aus einer sehr desorganisierten Familie über kleine Erfolgserlebnisse in ihrem bisherigen Leben. Durch Reframing und ressourcenorientierte Kommentare versuchte ich sie einzuladen, ihre bisherige Lebensleistung positiver zu sehen. Ihre Reaktionen waren zuerst ungläubige Verblüffung, dann skeptische Abwehr. Als ich beharrlich bei meinen wertschätzenden Kommentaren blieb, war in ihren Gesichtszügen immer mehr Freude abzulesen, im Wechsel mit Verblüffung. Diese emotionalen Prozesse schienen mir das exakte Abbild von dem zu sein, was ich über die Funktion des Neurotransmitters Dopamin gelernt hatte (Abbildung 4). Neben anderen Funktionen steuert Dopamin das Neugierund Explorationsverhalten und ist bei Verstärkungsprozessen beteiligt. Immer wenn wir auf etwas Neues stoßen, und vor allem, wenn dieses Neue positiv getönt ist und unerwartet eintritt, wird das dopaminerge System in Region A10 im ventralen Tegmentum aktiviert. Diese Neuronen projizieren zum einen in

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Abb. 4: Teile des dopaminergen Systems. Das mesolimbische System projiziert vom ventralen Tegmentum in den Nucleus accumbens, das führt zu einer Ausschüttung von Opioiden im frontalen Kortex, die ein positives Gefühl vermitteln. Das meso-kortikale System projiziert direkt in den frontalen Kortex, das ausgeschüttete Dopamin erleichtert die synaptische Bahnung (nach Spitzer, 2007, S. 178).

den Nucleus accumbens, in dem Dopamin freigesetzt wird und gleichzeitig werden Opioide im frontalen Kortex ausgeschüttet, die ein positives Gefühl vermitteln. Ein anderer Teil der Neuronenfasern führt direkt in den frontalen Kortex und bewirkt die Freisetzung von Dopamin, das dort an die Dopaminrezeptoren andockt und synaptische Bahnungen erleichtert. In Tierversuchen erwies sich der Kortex »nur dann als plastisch, wenn zugleich das Dopamin-Belohnungssystem aktiviert wurde« (Spitzer, 2007, S. 184). Grob vereinfacht gesagt, wird unser Gehirn auf Lernen eingestellt, wenn wir Neues erfahren; der Prozess wird verstärkt, wenn dies in positiver Atmosphäre geschieht (Grawe, 2004, S. 290 ff.). Dieses Dopamin-Belohnungssystem wird nicht nur durch Schokolade (oder eben Speiseeis, siehe erstes Kapitel) aktiviert, sondern auch durch schöne Musik (Blood u. Zatorre, 2001; zit. nach Spitzer, 2007, S. 189 f.), freundliche Blicke (Kampe et al., 2002) oder nette Worte (Hamann u. Mao, 2002). Interessant ist dabei, dass Blood und Zatorre bei als schön empfundener Musik eine Hemmung der Gehirnstruktu-

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ren fanden, die mit negativen Emotionen wie Angst und Vermeidung gekoppelt sind. Dies korrespondiert mit Ergebnissen aus der von Martin Seligman begründeten Positiven Psychologie (Seligman, 2005, S. 70 f.). In verschiedenen Untersuchungen wurde gezeigt, dass das Leistungsvermögen von Kindern, Erwachsenen und Ärzten dramatisch anstieg, wenn statt eines freundlich reservierten Joinings vor dem Versuch Stimmungsaufheller verabreicht wurden: lustige Spiele, humorvolle Konversation, Anbieten von Süßigkeiten etc. Dopamin ist auch beteiligt an negativen Verstärkungsmechanismen, d. h. wenn unangenehme Spannung abnimmt, nimmt die Dopaminkonzentration im Nucleus accumbens zu; »Auch die Bahnung von Flucht- und Vermeidungsverhalten scheint also über die Ausschüttung von Dopamin zu laufen« (Grawe, 2004, S. 291). Menschen lernen am Erfolg, auch die Vermeidung von Unangenehmem ist ein Erfolg, und so setzen sich offensichtlich Problemmuster als (langfristig) misslingende Lösungsversuche genauso in psychischen oder sozialen Systemen fest wie gelingende Lösungen. Was heißt das für die systemische Therapie? 1. Es wird deutlich, wie wichtig der Aufbau einer positiven Beziehung in der Therapie und Beratung ist, damit Umlernprozesse möglich werden. Dass dies auch störungsspezifisch sehr wichtige Effekte haben kann, sei hier nur angemerkt (Grawe, 2004, S. 141 ff., S. 423 ff.). Wenn Neutralität und Allparteilichkeit als emotionale Zurückhaltung verstanden wurde, so sprechen viele neurobiologischen Ergebnisse stattdessen dafür, positive Emotionalität in die Beratungen einzubringen. Wer bei Virginia Satir oder Insoo Kim Berg erlebte, wie freundlich und zuversichtlich sie auf Menschen zugingen, kann sich vorstellen, wie viel Dopamin bei den Beteiligten ausgeschüttet wurde und was das für deren Lernbereitschaft bedeutete. Ähnliches kann erleben, wer die Beziehungsgestaltung von Maria Aarts auf ihren Videos beobachtet. Sie konzeptualisiert diesen Punkt, indem sie darauf hinarbeitet, ihre Klienten »in the mood for development« (Aarts, 2008, mündl. Mitteilung) zu bringen. 2. Die genannten Ergebnisse sind ein starker Beleg für das lö-

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sungsorientierte Arbeiten. Wir müssen uns sehr konsequent an Ausnahmen, an Gelingendes im Leben, an erste Erfolge der Klienten ankoppeln und diese fast übertreibend in den Vordergrund holen. Für viele Klienten, gerade aus desorganisierten Familien, ist es etwas sehr Verblüffendes und Neues, dass in ihrem »verpfuschten« Leben auch positive Anteile sichtbar werden. Dies immer wieder zu betonen, fördert die Bereitschaft umzulernen und scheint ein gar nicht zu überschätzender Faktor in der Therapie zu sein. Ein Beispiel aus der lösungsorientierten Therapie ist das Konzept des Cheerleading (Walter u. Peller, 1995). Der Begriff kann in zwei Teile gefasst werden: »cheering« – »leading«. Indem wir (kleine) Veränderungen bejubeln, uns über sie begeistern, sie feiern, können wir Menschen dahin führen, größere Veränderungen anzugehen, mutiger zu werden, sich mehr zuzutrauen. Es sind in Anlehnung an Walter und Peller (1995) vier Fragen oder Kommentare, die in diese Richtung arbeiten (die Reihenfolge der Aufzählung ist nicht zwingend die Reihenfolge für das Gespräch): – »Wie haben Sie sich dazu entschieden, das (Neue, Überraschende) zu tun?« Fragen dieser Art zielen auf den eigenen Anteil, die eigene Entscheidung des Klienten. – »Wie genau haben Sie das denn gemacht (schaffen können, vollbracht?)« Mit diesen konkretisierenden Fragen erkunden und explorieren wir, wie und in welchen Verhaltens- und Interaktionssequenzen Erfolge entstehen. Dies ist wichtig für Klienten, die oft wenig Bewusstsein darüber haben, mit welchen Verhaltensweisen sie Erfolge produzieren. – »Wie erklären Sie sich das denn, dass das möglich wurde?« »Das ist ja großartig!« Das Ganze sollte von einer begeisterten Grundstimmung getragen sein. Dabei kommt es auf die innere Haltung an: Kann ich authentisch einem Menschen, der sich lange in vielen Problemkreiseln drehte, widerspiegeln, welch dramatische Wende es ist, wenn er beginnt, einiges anders zu machen? 3. Je näher ich Therapie und Beratung an das Alltagsleben an konkrete Handlungsvollzüge kopple, desto mehr können Erfolgserlebnisse mit diesen verknüpft und abgespeichert werden. Dazu müssen wir uns wieder in Erinnerung rufen, dass unser

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Gehirn keine Einzelepisoden speichert, sondern immer Konstellationen von Wahrnehmungen, Emotionen, körperlichen Zuständen, Verhaltensmuster und deren wahrgenommene Effekte (Grawe, 2004, S65). Wenn wir also im Therapieraum häufig positiv aufgeladene Situationen herstellen, wird genau das abgespeichert: Therapieraum, nette Therapeutin, Wohlbefinden. Das ist gut für die therapeutische Beziehung, kann aber zu Abhängigkeit von der Therapie führen, weil der Transfer des Erfolgserlebens auf den Alltag zu gering ist. Das bedeutet, wir müssen Therapie und Beratung so gestalten, dass positive Emotionen an andere Personen oder Alltagssituationen gekoppelt werden. Das ist virtuell/mental möglich durch ausgiebige Beschreibungen, die wir durch Fragen unterstützen (vgl. »Nicht aufhören, wenn es gerade schön ist«). Wir können den Alltag in Form von Bildern und Videoaufnahmen hereinholen (Aarts, 2002). Oder wir gehen direkt in die Alltagssituationen, wie dies in den jüngeren Ansätzen der Multifamilientherapie (Asen, 2001) oder der multisystemischen Therapie (Henggeler, Schoenwald u. Borduin, 1998), früher in Gemeinwesenansätzen oder Netzwerktherapien propagiert wurde (z. B. Sommer et al., 1977, 1982; Speck u. Attneave, 1983). In zugehenden Arbeitsformen wie der Aufsuchenden Familientherapie (Conen, 2004) oder in systemisch konzipierten Jugendhilfeformen wie der sozialpädagogischen Familienhilfe kann dieses Prinzip in hohem Maße verwirklicht werden. 4. Gelernt und gebahnt werden durch solche Erfolgserlebnisse nicht nur die konkrete neue Fähigkeit oder das veränderte Verhalten, sondern in zahlreichen Wiederholungen werden auch Metastrukturen im präfrontalen Kortex und anderen Regionen gebahnt: Vertrauen in sich selber (Selbstwirksamkeit, »Ich kann wichtige Ziele erreichen«), Vertrauen in andere (»Ich kann mir Hilfe holen und bekomme sie«), Lebenszuversicht (»Auch wenn es rauf und runter geht, irgendwie wird es gut gehen«) (Hüther, 2008, mündl. Mitteilung). Dies ist im Hinblick auf sekundäre Prävention für alle Klienten wichtig. Für Menschen jedoch, die aufgrund ihrer desorganisierten Familien- oder Bindungsgeschichte wenig konsistente innere Strukturen aufbauen konnten, kann dies das primäre Therapieziel sein. Und das dauert gelegentlich.

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Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger (3) Auf systemischen Kongressen hören wir sehr häufig, wie schnell Veränderungen erzielt werden, Kurzzeitkonzepte sind en vogue. Tatsächlich zeigen Studien aus der Wirksamkeitsforschung, dass häufig mit 10 bis 20 Sitzungen ähnliche Wirkungen erzielt werden, wie mit anderen zeitintensiveren Methoden. Das kontrastiert mit der starken Verbreitung systemischen Denkens z. B. in der Jugendhilfe, die oft auf längerfristige Unterstützungsprozesse angelegt ist. Vielleicht sollten wir daraus keine Ideologie machen, sondern untersuchen, wann was passt. Und dazu liefert uns die Neurobiologie interessante Anhaltspunkte. Lernen und Veränderung besteht neurologisch in der Neubahnung synaptischer Verbindungen, diese Prozesse werden zusammenfassend Neuroplastizität benannt, laufen aber auf verschiedenen Ebenen ab (Spitzer, 2007, S. 95). Zum einen findet ein molekularbiologischer Prozess an Synapsen statt, die einige Sekunden aktiviert werden. Diese sogenannte Langzeitpotenzierung bewirkt, dass die Übertragungsbereitschaft an der beteiligten Synapse und die Erregungsbereitschaft des postsynaptischen Neurons erhöht werden. Für einige Sekunden bis Minuten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese neuronale Verbindung aktiviert wird. Wenn diese Aktivierung dann tatsächlich einige Minuten weiterhin besteht, kommt es zu einer dritten biochemischen Kaskade, die im Endresultat dazu führt, »dass um die dauernd aktivierte Synapse herum weitere Synapsen wachsen und damit die Erregungsübertragung vom präsynaptischen auf das postsynaptische Neuron nachhaltig und längerfristig erleichtert wird. Erst dieser Vorgang führt zu langfristigem Lernen.« (Abel u. Kandel, 1998, zit. nach Grawe, 2004, S. 53). Ein zweiter Prozess besteht im Wachstum von Neuronen. Vor allem für den Hippocampus wurde seit 1997 in mehreren Versuchen mit Tieren und Menschen belegt, dass neue Neuronen wachsen können, wenn sich die Tiere oder Menschen in interessanten, anregungsreichen Kontexten bewegten: Taxifahrer in London beispielsweise haben einen vergrößerten Hippocampus, und die jetzige Befundlage zeigt, dass der »Hippocampus in Abhängigkeit von der Erfahrung wächst und damit umso besser

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funktioniert, je mehr er beansprucht wird« (Spitzer, 2007, S. 32). Dieser Prozess des Neuronenwachstums beansprucht jedoch Tage bis Wochen. Eine dritte Ebene der Neuroplastizität betrifft die Veränderung von neuronalen Karten und Schaltkreisen, die Monate bis Jahre benötigen können (Tabelle 2). Tab. 2: Ebenen der Neuroplastizität (nach Spitzer, 2004, S. 95)

Ebene

Prozess

Zeitraum

Synapse Neuron

Langzeitpotenzierung Wachstum Veränderung von Repräsentationen

Sekunden bis Stunden Tage bis Wochen

Kortikale Karte

Monate bis Jahre

Um diese neuen Bahnungen zu stabilisieren, braucht es neben dem Zeitraum vor allem viele Übungsdurchläufe, damit »aus wenig begangenen Wegen breite Autobahnen werden« (Hüther, 2008 mündl. Mitteilung). Simon (2006, S. 115) beschreibt dies in seinem 9. Gebot des systemischen Denkens: »Orientiere Dein Handeln an repetitiven Mustern! [. . . ] Wo nicht für Wiederholung gesorgt wird, kann nicht mit Berechenbarkeit gerechnet werden.« Dieser Zeitbedarf ergibt sich auch aus der Tatsache, dass viele unserer Störungsmuster gar nicht im expliziten Gedächtnis verankert sind, sondern in den impliziten, nichtdeklarativen Gedächtnisstrukturen, wie dem prozeduralen Gedächtnis, dem Priming und in Konditionierungsprozessen. Diese brauchen sehr viele Wiederholungen für ein Neu- oder Umlernen, neue Erfahrungen sind schwerer generalisierbar als im expliziten Gedächtnissystem (Grawe, 2004, S. 126). Grawe (2004, S. 29 ff.) beschreibt dies eindrücklich am Beispiel einer depressiven Frau. Mit bildgebenden Verfahren können bei depressiven Menschen unter anderem folgende Veränderungen in den Funktionskreisen des Gehirns belegt werden: − Der Hipppocampus ist geschrumpft, er ist für das Neulernen von Beziehungen und kontextbezogenem Verhalten aber wichtig. − Der anteriore cinguläre Kortex ist nur noch schwer aktivierbar, er spielt eine wichtige Rolle bei der aktiven Auseinander-

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setzung mit Schwierigkeiten und beim bewussten Erleben von Gefühlen. − Eine Neuronenstruktur im rechten ventromedialen präfrontalen Kortex, die für das Erleben von Unlust und negativen Emotionen steht, ist hypertrophiert, die entsprechende Region im linken ventromedialen präfrontalen Kortex (Lust und positive Emotionen) ist schwer aktivierbar. − Analoges gilt für einen Bereich im rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex, der Vermeidungsverhalten steuert, er ist viel stärker gebahnt als sein »linker Kollege«, der zum Annäherungssystem gehört. Das heißt, die Klientin kann von ihren neuronalen Voraussetzungen nur sehr schwer neue Beziehungs- und Verhaltensmuster erlernen. Grawe (2004, S. 33 ff.) arbeitet nun in einem ersten Schritt mit Einbezug des Umfelds daran, dass die bisherigen Bahnungen gehemmt werden, indem Rückzug, Grübeleien etc. so oft wie möglich unterbrochen werden Ebenso soll die Klientin auf der anderen Seite so stark wie möglich in positive Aktionen einbezogen werden, die an ihren Ressourcen, Interessen, Motivationen, früheren schönen Erlebnissen anknüpfen (vgl. Euthymiekonzept von Lutz, 1983). Nach etwa drei Monaten »reiner Symptomtherapie« sind die neuronalen Voraussetzungen besser, der Hippocampus gewachsen, die für positive Emotionen und Annäherung zuständigen Regionen im linken präfrontalen Kortex leichter aktivierbar, sodass nun an den auslösenden Bedingungen, der Bindungsgeschichte (Grawe, 2004, 216 ff.; von Sydow, 2008), symptomerhaltenden Verhaltensmustern etc. gearbeitet werden kann, um eine langfristig stabile Symptomfreiheit zu erzielen. Er warnt hier explizit vor einem Therapieende, da ohne die Bahnung neuer Verhaltensmuster eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 60–80 % innerhalb zweier Jahre besteht (Elkin, 1994). Wir sollten uns also von der generellen Idee einer Kurzzeitbehandlung zugunsten einer differenziellen Sichtweise verabschieden. Dies kann bedeuten, dass Therapie für manche Klienten starke neue Erfahrungen setzt, die als Attraktoren wirken und die zu Kaskaden von Ordnungsübergängen führen (Schiepek et al., 2003, S. 253) bzw. autopoietische Reorganisationen bewirken, sodass es spontan zu einer häufigen Aktualisierung neuen Ver-

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haltens kommt und dadurch viele Wiederholungsmomente entstehen. Bei manchen Klienten wird es durch den Einbezug des personalen Umfelds möglich sein, dass auch andere Menschen für die Kontinuität von wiederholenden Verhaltensmustern sorgen bzw. die Umstrukturierung von Kommunikation parallel im sozialen System wie in den psychischen Systemen der Beteiligten starke Synergieeffekte produziert, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung potenzieren. Und für manche Klienten wird es wichtig sein, dass sie über eine ausreichende Zeit therapeutische oder beratende Begleitung erhalten, die dafür sorgt, dass das neue Erleben, Denken, Verhalten in vielen verschiedenen Situationen gebahnt werden kann. Was für wen passt, müssen wir in der klinischen und sozialpädagogischen Praxis entscheiden; hier ist die weitere Forschung gefragt, um differenzielle Kriterien zu untersuchen (vgl. »Unterschiede, die Unterschiede machen«).

Nicht aufhören, wenn es gerade schön ist (4) Auf einem Kongress zum ressourcenorientierten Arbeiten hörte ich von einem Kollegen die Metapher: »Ich suche nach einem Zipfelchen Ressource bei meinen Klienten, und wenn ich eins gefunden habe, lasse ich es nicht mehr los, klammere mich daran, als ob es mein einziger Halt wäre, und ziehe behutsam, meistens kommt dann viel mehr Stoff zum Vorschein, als man vorher denkt.« Die Ergebnisse zur Langzeitpotenzierung (siehe »Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger«) weisen in die gleiche Richtung. Es braucht einige Minuten Aktivierung einer synaptischen Verbindung, damit die Reaktionsbereitschaft längerfristig erhöht werden kann. Wenn ich also die Fähigkeit eines Klienten erweitern möchte, positive Aspekte, eigene Stärken wahrzunehmen, oder in bestimmten Situationen nachzudenken und Neues auszuprobieren, muss ich mental die Voraussetzungen schaffen, dass solche Bahnungen gestärkt werden. Das bedeutet, dass ich ihn in dem Gespräch für eine längere Zeit im Lösungsmuster halten sollte, damit die molekularbiologischen Prozesse der Reorganisation Zeit haben, sich zu entfalten. Das heißt, dass wir im Gespräch nicht zu schnelle Themen-

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wechsel vornehmen sollten, sondern durch vielfältige und konkretisierende Fragen bei bestimmten relevanten Themen verharren sollten. Wir können die Aufmerksamkeitsfokussierung neu bahnen, indem wir »die positiven Momente halten« (Aarts, 2008, mündl. Mitteilung) und damit auch Halt geben. Wenn ich einer alleinerziehenden Mutter mit einer sehr langen Abwertungsgeschichte Komplimente mache, wie einfühlsam sie mit ihren Kindern umgeht, sollte ich nicht dem oft vorfindbaren Vermeidungsmuster der Klientin folgen und es bei einer Bemerkung belassen, sondern diese öfters wiederholen und durch konkrete Beobachtung belegen. Genauso können wir vorgehen, wenn wir durch zukunftsorientierende Fragen die Klienten einladen, Szenarien von erfolgreichen Problemlösungen zu erzählen (»future pacing«). Mir scheint es wichtig, dass, wie in der Hypnotherapie nach Milton Erickson empfohlen, durch das Gespräch regelrecht virtuelle Bilder gemalt und ausgemalt werden, also längere Zeit verweilt wird. Dasselbe gilt in einer Paartherapie, in der ich z. B. frühere gute Erlebnisse oder im Verlauf der Therapie entstandene schöne Momente ausgiebig beschreiben lasse, emotionale Reaktionen benenne (»Da blitzen Ihre Augen«, »Sie strahlen ja richtig, wenn Sie das erzählen«), Pausen mache, um die Verweildauer zu verlängern und damit die mentale Bahnung zu unterstützen (»Das muss ein sehr schöner Moment gewesen sein . . . «). Neben dem Effekt einer stärkeren Bahnung neuen Verhaltens ist dieses Verweilen bei Ressourcen auch wichtig, um sie als Attraktoren zu verankern, die bei schwierigen Wegstrecken als Motivgeber wirken können. Dieser zeitliche Streckungs-Effekt ist m. E. ein starker Wirkfaktor der Marte-Meo-Methode, die mit dem zusätzlichen Medium der Video-Aufnahme arbeitet: Ein gelingender Interaktionsmoment wird den Klienten gezeigt, emotional anrührende Bilder (das Strahlen des Kindes, das gemeinsame Lachen o. Ä.) werden als Standbilder eine Zeit gehalten, Klienten werden gebeten, das mit ihren eigenen Worten zu kommentieren (was durch die stärkere Eigenaktivität noch mehr neuronal bahnende Wirkung erzeugen dürfte als das bloße Hören der wertschätzenden Kommentare der Therapeutin, vgl. »Durch Fragen wird man klug . . . und noch viel mehr«).

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Am allerwichtigsten scheint mir jedoch, den Spuren des Erfolgs der Klienten zu folgen und diese ausgiebig zu würdigen und zu feiern. Auch wenn diese Erfolgsmomente nur wie Spurenelemente im Leben der Klienten vorfindbar sind (wir wissen aus der Ernährungslehre, wie lebenswichtig Spurenelemente sind) müssen wir sie aufspüren und sie unter das Vergrößerungsglas legen. Und uns dafür Zeit nehmen. Es ist häufig (auch das sollte kein Mythos mit Absolutheitsanspruch sein) weitaus effektiver, den Spuren der Klienten zu folgen, als eigene zu legen. Der oft vorfindbare Verblüffungseffekt hat positive Folgen und aus Eigenem lernt es sich besser. Eine chinesische Weisheit sagt: Wenn du Menschen führen willst, gehe hinter ihnen. Neurobiologisch angeregt könnte man ergänzen: Und lass dir Zeit, die Schönheit der neuen Schritte zu feiern und zu bewundern.

Durch Fragen wird man klug . . . und noch viel mehr (5) Die systemische Therapie hat als ein Kernstück ihrer Methodologie eine breite Vielfalt von Fragetechniken entwickelt. Wenn unsere Weiterbildungsteilnehmer diese in ihre Praxis umsetzen, melden sie regelmäßig zurück, dass Beratung und Therapie für sie einfacher würde, für die Klienten jedoch anstrengender, sie müssten viel mehr arbeiten, nachdenken, sich Situationen vorstellen, überlegen, wie jemand anders sich etwa fühlt, warum er so handelt etc. Nicht erst seit Sigmund Freud das Denken als »inneres und experimentelles Probehandeln« bezeichnete (Freud, 1933), wissen wir, dass Denken und Imagination neuronale Prozesse freisetzen. Es gibt beispielsweise im Bereich des Autogenen Trainings (z. B. Hoffmann, 2004) oder der Sportpsychologie (Mayer u. Hermann, 2008) eine Fülle von experimentellen Belegen dafür. Wir können also davon ausgehen, dass die durch systemische Fragen induzierte Denk- und Imaginationsarbeit der Klienten Neubahnungen im Gehirn anregt und somit die Grundlage für verändertes Verhalten legt. Dabei scheint mir noch ein anderer Aspekt wichtig, über den Heinrich von Kleist (1805) in seinem Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« schrieb: Wenn er vage Vorstellungen über etwas im Kopf habe, rede er mit seiner

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Schwester. Das Nachfragen oder die gelegentliche Widerrede der Schwester seien für ihn die allerbeste Hilfe, am Ende dann sehr genau zu wissen, was er zuerst nur vage gedacht hatte. Im Mikrokosmos der Beratung bildet sich etwas ab, das für die Lerngeschichte der Klienten sehr wichtig sein kann: Sie werden herausgefordert, arbeiten sich an den Fragen ab, strengen sich an, ordnen ihre Gedanken, entwickeln Ideen, kreieren Einsichten, kommen auf Lösungen. Sie haben das Gefühl, etwas selber erschaffen zu haben, können auf einen Erfolg stolz sein. Und da unser Gehirn von seiner ganzen Funktionalität als »Problemlöseorgan« (Hüther, 2008, mündl. Mitteilung) ausgelegt ist, wächst und reift es an Herausforderung und Bewältigungserfahrung, Letzteres ein in den Forschungen von Grawe immer wieder bestätigter zentraler Wirkfaktor von Psychotherapie (z. B. Grawe et al., 1999). Das bedeutet für die Beratung, in der Art der Fragestellung immer wieder Herausforderungen zu schaffen, die allerdings Erfolgserlebnisse vermitteln müssen, d. h. die Fragen müssen in Inhalt, Formulierung, Komplexität und Schwierigkeitsgrad genau auf die Klientin abgestimmt sein. Und wir müssen die Erfolge in der Welt willkommen heißen, sie gebührend wertschätzen (vgl. »Virginia Satir und Dopamin: Wann lernen wir besonders gut?«). Dass viele Klienten durch solch eine Arbeit ganz nebenbei korrigierende Beziehungserfahrungen machen, stützt den Veränderungsprozess weiterhin, gerade wenn sie in ihren Familien wenig Interesse, Wohlwollen, Unterstützung, Ermutigung und Wertschätzung erfahren haben. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf ein recht neues Konzept zu werfen, der Mentalisierungsbasierten Therapie (MBT, Fonagy et al., 2004; Allen u. Fonagy, 2006; Fonagy, 2008). Dieser im Rahmen psychoanalytischer Theorie entwickelte Ansatz hat in seiner Methodologie große Überschneidungen zu systemischen Fragetechniken, moduliert diese jedoch in eine interessante Richtung. Mentalisierung meint die Fähigkeit, eigene Stimmungen, Empfindungen, Gedanken und Gefühle bewusst wahrnehmen zu können, ebenso die Fähigkeit, sich die Stimmungen, Empfindungen, Gedanken und Gefühle anderer Menschen vorstellen zu können. Diese Fähigkeit wird in sicheren Bindungen während der Kindheit gelernt, indem die Bezugspersonen Stimmungen, Wünsche, Intentionen des Kindes

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wahrnehmen und spiegeln (vgl. Fonagy et al., 2004; Grossmann u. Grossmann, 2008; Aarts, 2008). In der Summe entwickelt sich durch viele konsistente Spiegelungen ein kohärentes Selbstempfinden und eben eine stabile Mentalisierung als Fähigkeit, sich selber und andere zu verstehen. Die neuronale Basis kann als Entwicklung neuronaler Netze von subkortikalen und kortikalen Regionen gesehen werden, die durch häufige Kopplung von emotionaler und kinästhetischer Wahrnehmung (z. B. Schwere im Körper, Gähnen etc.) mit akustischen und visuellen Reizen (»Bist du müde?«, Gesicht der Bezugsperson spiegelt Müdigkeit) zu einer synchronen Aktivierung der beteiligten Neuronen führt und damit neuronale Bahnungen entstehen lässt (Abbildung 5). »Es wird angenommen, dass Mentalisierung mit zahlreichen Hirnregionen assoziiert ist, vor allem aber mit dem [. . . ] mittleren präfrontalen Kortex« (Fonagy, 2008, S. 134). Als solche wirkt Mentalisierung wie ein Puffer zwischen Affekt und Handlung. Ist aufgrund desorganisierter Bindungsgeschichte die Mentalisierungsfähigkeit nur schwach ausgeprägt, verschwimmen Innenwelt und Außenwelt, es kann zu affektgesteuertem Agieren ohne Impulskontrolle kommen. Fonagy et al. wenden dieses Konzept seit vielen Jahren mit sehr guten Erfolgen auf die Behandlung von Menschen mit Borderline-Diagnosen und/oder traumatisierten Klienten an (Allen u. Fonagy, 2006). In Deutsch-

Abb. 5: Die Entstehung eines konsistenten Selbsterlebens und der Mentalisierungsfähigkeit durch zirkuläre Interaktionen zwischen Kind (links) und Bindungsperson (rechts)

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land hat vor allem Ulrich Schultz-Venradt dazu gearbeitet und behandelt in seiner Tagesklinik Patienten mit Borderline- oder Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen mit MBT (Schultz-Venradt, 2008a, 2008b). Ein Aspekt mentalisierungsbasierter Therapie ist nun, bei Klienten durch mentalisierungsfördernde Fragen die zum Teil defizitären Bahnungen zwischen den affektsteuernden und kognitiven Hirnregionen aufzubauen. Hier begegnen wir als Systemiker »guten Bekannten«, denn diese Fragen sind aus der freundlich-interessierten nicht-wissenden Haltung gestellt. Neu mag für viele Systemiker die starke Betonung affektiver Inhalte in den Fragen sein. Durch die Beantwortung dieser Fragen, durch die Eigenarbeit der Klientin werden Verbindungen zwischen Wahrnehmungen, Affekten, Gedanken und Handlungen hergestellt, und damit die entsprechenden Hirnregionen aktiviert (Fragen nach einer Episode der Selbst-Verletzung können z. B. sein: »Wann, als Sie nach Hause kamen, kamen die Gedanken, sich zu schneiden, auf?« »Wie fühlten Sie sich, kurz bevor die Gedanken kamen?« »Was meinen Sie genau mit Leere, wie fühlt sich das bei Ihnen an?« »Und wenn die Leere immer kommt, wenn Sie nach Hause kommen, wann ist sie stärker, wann schwächer?« »Wo in Ihrem Körper nehmen Sie das besonders stark wahr?« »Was fühlen Sie, bevor die Leere kommt?« »Was könnten Sie tun, damit die Leere nicht so stark wird, wann ist Ihnen das mal gelungen? »Wie fühlte sich das an?«). Diese Ansätze, in Koppelung mit den neurobiologischen Erkenntnissen zur Neuroplastizität legen nahe, dass systemisches Fragen Wirkungen entfaltet, die bisher nicht so sehr im Blickpunkt lagen. Neben dem Erkunden des Kontextes, dem Generieren von Information und dem Erkunden neuer Möglichkeiten führen sie durch die Verknüpfung von affektiven und kognitiven Inhalten zu (u. a. kortiko-limbischen) Neuverschaltungen im Gehirn des Klienten (und selbstverständlich auch der Therapeutin), die neues Erleben und Handeln bahnen können. Diese Perspektiverweiterung bedingt allerdings auch, die Art der benutzten Fragen sehr differenziell auf die einzelnen Klienten und deren Fähigkeitsprofil abzustimmen (vgl. »Unterschiede, die Unterschiede machen«).

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Mit Rat und Tat, mit Herz und Hand und allen Sinnen (6) Systemische Therapie tritt oft als sprachlich orientiertes Verfahren auf, handlungsorientierte Interventionen treten abgesehen von Skulptur- oder Aufstellungsmethoden in den Hintergrund. Direktive Methoden, pädagogisch anmutende Anleitungen scheinen da keinen Platz zu haben. Wie bereits aufgeführt, scheint mir diese Abgrenzung weder theoretisch noch praktisch plausibel. Auch eine direktive handlungsbezogene Intervention ist ein legitimes systemisches Vorgehen, wenn ich die Selbstorganisation des Systems respektiere, indem ich aus dem Ergebnis lerne und mein weiteres Vorgehen darauf abstimme. Ein Beispiel dazu: Von Milton Erickson wird berichtet, dass er zu einer alten Dame gerufen wurde, die nach dem Tod ihres Mannes stark depressiv reagierte und sich immer weiter zurückzog. Er hatte nur die Gelegenheit zu dem einen Kontakt; da der Besuch bei der alten Dame zu Hause stattfand, entdeckte Erickson, dass sie eine engagierte und kompetente Züchterin einer heiklen und kostbaren Veilchenart (»African violets«) war. Er gab ihr eine Anweisung mit seiner ganzen Autorität als Arzt, wohl auch, weil er die Vermutung hatte, dass eine direktive Intervention in das Wertesystem der Frau passte: Sie sollte jedes Mal, wenn in ihrer Gemeinde eine Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung stattfand, der jeweiligen Familie eines ihrer Veilchen schenken. Diese aus einer Anleitung bestehende Intervention passt sehr gut zu systemischen Theorien: Sie greift starke Motive der Frau auf (freundlich sein, für andere da sein), aktiviert ihre Ressourcen (Veilchen züchten) und koppelt sie mit einem Kontext, der für die Frau wichtig gewesen war. Das Geniale an der Intervention ist, dass die Kopplung anhand von Übergangssituationen stattfindet, d. h. die Anweisung bringt die Frau in Kontakt mit anderen Gemeindemitgliedern, die gerade auch einen Übergang (teils einen freudigen, teils einen schmerzhaften) zu bewältigen haben. Und wir können uns vorstellen, dass es über den (durch das Geschenk gestifteten positiven) Kontakt hinaus Einladungen gab und Gespräche über Veränderungen und deren Bewältigung stattfanden, d. h. implizit ein Netzwerk zum Thema angeregt wurde, das der alten Dame sicher bei der Bewältigung ihres Verlustes half.

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Auch aus der Neurobiologie scheint es mir gute Gründe zu geben, auf vielen Ebenen zu intervenieren. Wissen und Motivation entsteht nur durch handelndes und fühlendes Ausprobieren und durch Erfolgserlebnisse (Bauer, 2005, S. 123 f.). Das Gehirn speichert Neues am besten, wenn es mit lebensnahen, praktischen Handlungserlebnissen und den dazugehörigen Emotionen und Erfolgserlebnissen gekoppelt ist. Diese Bedeutung des Handelns entspricht einem alten (und maximal vernachlässigten) Prinzip in der Pädagogik: Comenius formulierte im 17. Jahrhundert in seiner Didactica magna: »[. . . ] und damit alles sich leichter einpräge, möge man alle möglichen Sinnestätigkeiten heranziehen« (zit. nach Potthoff, 1991, S. 11). Unser Gehirn speichert keine isolierten Fakten, sondern immer Konstellationen (Hüther, 2008, mündl. Mitteilung). Grundlage dafür ist ein zeitlicher Integrationsmechanismus, der durch Synchronisation die an unterschiedlichen Stellen im Gehirn vorhandenen neuronalen Erregungsmuster zu komplexen Schaltkreisen zusammenfügt. »Was immer wieder gleichzeitig aktiviert wird, wächst zusammen« (Grawe, 2004, S. 65), entsprechend der Hebb’schen Regel: »cells that fire together, wire together«. Das gilt für Lösungsmuster wie auch für Problemmuster: Wenn Menschen erleben, dass sie in spannungsgeladenen, stressreichen, aversiv erlebten Situationen durch bestimmte Gedanken oder Handlungen Entlastung erfahren, so werden diese Gedanken und Handlungen als Verstärker wirksam und die entsprechenden neuronalen Netze werden gebahnt. »Autonome Erregung, Vermeidungsreaktionen, Kognitionen [. . . ] wie ›worrying‹, Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, Vermeiden usw. wachsen zusammen zu einem immer fester etablierten Störungsmuster« (Grawe, 2004, S. 374). Das bedeutet umgekehrt für die veränderungswirksame Arbeit in Beratung und Therapie, dass wir auf allen Ebenen ansetzen können und sollen: Wahrnehmung, Bedeutungsgebungen und Gedanken, Bewertungen und Gefühle, Handlungen und konkretes Verhalten. Veränderung und Neu-Lernen ist dann besonders wirkungsvoll, wenn sie multimodal angeregt werden. Oft taucht in den Weiterbildungen die Frage nach dem Unterschied von Beratung und Therapie auf. Das ist eine komplexe Frage mit vielen möglichen Antworten. Auf einen einfachen

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Nenner gebracht, handelt es sich um zwei unterschiedliche Kontexte der Veränderungsarbeit. Unsere Erfahrung zeigt, dass in einer professionell und systemisch durchgeführten sozialpädagogischen Hilfemaßnahme häufig ein ähnliches oder bisweilen stärkeres Veränderungspotential realisiert werden kann wie in einer Psychotherapie, weil viele dieser Maßnahmen, wie etwa ambulante Erziehungshilfen oder Betreutes Wohnen in der Sozialpsychiatrie, viel enger an der Lebenswelt der Klienten agieren, damit multimodal arbeiten und so Veränderungen auf allen Ebenen anstoßen können (Schwing u. Fryszer, 2007, S. 264 ff.). Der Nobelpreisträger Eric Kandel (2008) fasste in einem Interview am Rande des diesjährigen Neuroforums der Hertie-Stiftung den Wissensstand zu nachhaltigem Lernen in drei Punkten prägnant zusammen: »Die Einspeicherung in das Langzeitgedächtnis geschieht dann besonders gut, wenn die Inhalte wichtig sind, wenn sie emotional geladen sind und wenn sie oft wiederholt werden.« Beginnen wir mit der Motivation und Emotion und damit dem Wirkfaktor, der unabhängig vom psychotherapeutischen Verfahren, der Diagnose und Patientenmerkmalen ein starker Prädiktor für den Therapieerfolg ist: der therapeutischen Beziehung (vgl. Horvath, 1994; Grawe, 1999; auch von Sydow, 2008, die von der Bindungsforschung zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt). Es scheint notwendig, eine »warmherzige, empathische und verlässliche therapeutische Beziehung« (von Sydow, 2008, S. 267) aufzubauen, um für die Klienten einen maximal veränderungswirksamen Kontext zu generieren, die Klienten in einen »mood for development« einzuladen (Aarts, 2008, Grawe, 2004, S. 128). Dazu gehört auch, vertraute systemische Tugenden zu pflegen, wie etwa die starke Betonung der Ressourcen, die Ankopplung an die Motive der Klienten und die reichhaltige Nutzung von Humor. Auch dazu ein Beispiel: Maria Aarts (2008, mündl. Mitteilung) war eingeladen, in einem Jugendzentrum mit männlichen Jugendlichen ein Kommunikationstraining durchzuführen (nicht gerade etwas, was die meisten Jugendlichen aktiv nachfragen). Beim lockeren Gespräch in der Cafeteria fand sie heraus, dass die Jugendlichen sich stark damit beschäftigten, wie sie ein Mädchen als Freundin gewinnen und sie dann auch halten könnten. Maria Aarts rahmte daraufhin

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die Veranstaltung als Training, wie man Kontakt zu Mädchen aufbauen kann und den Kontakt halten kann, die Jugendlichen machten begeistert mit. Grawe (2004, S. 128 u. 266) nennt dies »motivationales priming«; gemeint ist, vorhandene Annäherungsziele zu nutzen, um die Arbeit an den anstehenden Veränderungen zu energetisieren. Neurobiologisch stärkt das die Aktivierung von Arealen im linken präfrontalen Kortex, die dem Annäherungssystem zugerechnet werden und bei positiven Emotionen reagieren, Areale die beispielsweise bei depressiven oder alkoholabhängigen Menschen atrophisch sind und schwächer gebahnt sind (Davidson et al., 2000; Davidson, 2001; Heinz u. Beck, 2007). Was hilft dabei noch? Beispielsweise gemeinsames Eisessen (Bauer, 2006), ein freundliches Gesicht und nette Worte (Spitzer, 2007, S. 190 ff.), angenehme Musik (Blood u. Zatorre, 2001). Letztere aktiviert körpereigene Belohnungs- und Annäherungssysteme (Ausschüttung von Dopamin im Nucleus accumbens und im frontalen Kortex, Aktivierung von Arealen, die mit Aufmerksamkeit und positiven Emotionen zu tun haben wie dem orbitofrontalen Kortex, der Insel, dem anterioren Gyrus Cinguli), hemmt die Areale, die mit Angst und Aversion verbunden sind (z. B. Kerne in der Amygdala, der linke ventromediale präfrontale Kortex, der bei negativen Emotionen aktiviert ist). Diese Aktivitäten fördern also eine »mood for development« (Aufmerksamkeit und positive Stimmung, zuversichtliche Erwartungshaltung) und sie wirken gleichzeitig schon verändernd durch die stattfindenden neuroplastischen Bahnungen. Das bedeutet, dass wir die Wirksamkeit der systemischen Therapie und Beratung erhöhen können, wenn wir häufig die große Bandbreite von alltäglichen angenehmen Aktivitäten nutzen und sie in unsere Arbeit integrieren. Erfahrungen mit dem Einsatz kunst- und gestaltungstherapeutischer Methoden bei z. B. der Behandlung von Menschen mit Borderline-Diagnose belegen dies eindrücklich (Schultz-Venradt, 2008, mündl. Mitteilung; vgl. auch die Forschungen zur Ressourcenorientierung von Grawe, 2004, S. 384 ff.). Ähnliches gilt auch für die starke Betonung handlungsorientierter Interventionen: Bei depressiven Menschen ist der präfrontale Kortex, dem eine besondere Rolle bei der Handlungs-

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planung zugeschrieben wird und der bei der Hemmung aversiver Emotionen wie Angst beteiligt ist (z. B. über hemmende Efferenzen zur Amygdala), verkümmert. Verschiedene Forscher fanden eine Volumenverringerung um 7 % (z. T. bis 40 %), eine Verringerung der Neuronendichte um 17–30 % und eine verringerte Dichte der Gliazellen um 19 % (Coffey et al., 1993; Drevets et al., 1997; Rajkowska, 2000, zit. nach Grawe, 2004, S. 147). Ähnliches wird von Alkoholabhängigen berichtet (Heinz u. Mann, 2001, Heinz u. Beck, 2007). Es konnte gezeigt werden, dass diese Atrophie im präfrontalen Kortex zu einer verringerten Impulskontrolle führt; deren Ausmaß korreliert hochgradig mit dem Rückfallrisiko der Patienten. Die Atrophie kann sich im Verlaufe einer Abstinenz und Therapie innerhalb einiger Monate zurückbilden, woraus die Autoren folgern, dass im Rahmen einer Therapie unter anderem »ungewohnte belohnungsanzeigende Reize den Patienten zu neuen Aktivitäten motivieren« sollten und »andere genussvolle Tätigkeiten an Stelle des Alkoholkonsums gesetzt werden sollten« (Heinz u. Mann, 2001). Darüber hinaus geht es sehr um die Steigerung der Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«), die dabei helfen soll, »unerwünschtes Verhalten besser zu reflektieren und in Konsequenz auch zu kontrollieren. Auch die Expositionen gegenüber dem Lieblingsgetränk wirken wahrscheinlich [. . . ] [vor allem] wegen der Steigerung des Selbstvertrauens nach erfolgreich bestandener Exposition.« (Heinz u. Beck, 2007). Da ähnliche Befunde spezifischer Hirnatrophie auch bei anderen Störungsbildern vermutet werden, können wir davon ausgehen, dass die Erfahrung erfolgreichen Handelns ein starker Wirksamkeits-Faktor für Therapie und Beratung darstellt (»Bewältigungserfahrung«, vgl. Grawe et al., 1999). Das legt nahe, mit Klienten daran zu arbeiten, dass sie − sich passende Herausforderungen suchen, − die Sinn machen, zu ihren Motiven und ihrem Wertsystem passen − und die bewältigbar sind und in kleinen Schritten mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolge ermöglichen. − Dazu gehört die positiv fördernde Begleitung des Beraters im Sinne der Hilfe bei Auswahl, Dosierung, beim Training benötigter Fertigkeiten und beim Feiern der Erfolge (Schwing u. Fryszer, 2007, S. 306 ff.).

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Und diese Arbeit kann sehr gut in den unterschiedlichsten Kontexten geschehen. Wenn eine Schuldnerberaterin dem Klienten hilft, seine Rechnungen aufzubewahren, einen Ordner dafür anzulegen, Listen zur Übersicht anzufertigen, wenn sie den Klienten dabei unterstützt, dies alles möglichst selbständig zu bewerkstelligen und ihm damit Schritt für Schritt Erfolgserlebnisse vermittelt, dann tut sie sehr viel für den Aufbau von Handlungsstrukturen (neurobiologisch: für die Bahnung von Verbindungen im und zum präfrontalen Kortex), die sich dann auch auf andere Lebensbereiche auswirken werden. Ähnliches gilt für die Tagesstrukturierung im Rahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe oder in anderen Betreuungssituationen. Wir sollten die enormen Lern- und Veränderungspotentiale in diesen Kontexten gerade auch für »therapeutische« Ziele nutzen, weil Nutzen und Erfolge direkt im Alltagsleben der Klienten erfahrbar sind.

Unterschiede, die Unterschiede machen (7) In der systemischen Tradition sind wir mit guten Gründen skeptisch gegenüber Diagnosen und Etikettierungen, die, einmal in die Welt gesetzt, soziale Realitäten konstruieren und nicht selten zu chronifizierenden Festschreibungen führen. Störungsspezifische Ansätze und Publikationen dazu (z. B. Schweitzer u. v. Schlippe, 2006) werden damit eher kritisch gesehen. Es sind zahlreiche systemische Methoden entwickelt und beschrieben worden, doch die differenzielle Wirksamkeit ist wenig erforscht, die Praktikerin muss alleine herausfinden, wann was wirkt. Ab und zu wurden Kirchen gegründet, die ein Methodenset in die Mitte stellen und als allein seligmachend verkaufen (»nur lösungsorientierte Fragen, auf keinen Fall Problemtalk«). Wir trauen uns zu wenig, Kriterien zu entwickeln, an denen wir es festmachen können, wann welche Methode, auch wann welche Art der Beziehungsgestaltung eher Nutzen stiftet als andere. Das halte ich für unverantwortlich: Dürfen wir darauf verzichten, Erfahrungswerte zu formulieren und anzuwenden? Es könnte nun argumentiert werden, dass diese Passung ja genau in der und durch die systemische Praxis hergestellt wird. Dem wider-

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spricht aber die praktische Erfahrung, dass Therapeuten je nach Ausbildung, gelernten Fähigkeiten, persönlichen Präferenzen bestimmte Methoden bevorzugen und andere vernachlässigen. Erickson wird mit dem Ausspruch zitiert, man müsse für jeden Patienten eine eigene Therapieschule gründen (Trenkle, 1996, mündl. Mitteilung). Das mag etwas weit gehen, jedoch scheint mir eine große methodische Varianz und Wissen über die differentielle Anwendung entscheidend für therapeutischen Erfolg zu sein. Dazu helfen übliche störungsspezifische Diagnostikkategorien nur bedingt; wir benötigen für die Praxis handlungsleitende diagnostische Kategorien, die wir aus Interaktions- und Entwicklungsdiagnostik, aus Erkenntnissen der Bindungsforschung, aus der klinischen Praxis und aus der Neurobiologie schöpfen können. Ich beschränke mich im Folgenden auf einige hypothetische Schlussfolgerungen darüber, wie wir aus Erkenntnissen der Neurobiologie diagnostische und vor allem differentialdiagnostische Unterscheidungen treffen können, die viel versprechende und nützliche Perspektiven für die systemische Praxis bieten. a) Verstörung oder Halt geben: Bei welchen Klienten können wir vorrangig mit Verstörung arbeiten und auf autopoietische Reorganisation hoffen, und bei welchen sollten wir Halt geben und stützen, möglicherweise über längere Zeit? Wenn wir davon ausgehen, dass nachhaltige Veränderungen viele erfolgreiche Bahnungen in neuronalen Netzen erfordern, damit alte Bahnungen gehemmt, neue alternative Bahnungen aufgebaut werden können, so können wir daraus Hinweise für die Frage ableiten. Wann immer wir davon ausgehen können, dass Klienten aus der Verstörung heraus in Selbstorganisation genügend viele erfolgreiche positive Interaktions- und Lernzirkel aufbauen können, scheint diese Strategie aussichtsreich, in anderen Fällen scheint eine längere haltende Begleitung sinnvoll. Kriterien können möglicherweise sein, dass eine desorganisierte Bindungsgeschichte vorliegt, nur schwache Coping-Strategien in anderen Bereichen gefunden werden können, soziale Netzwerke fehlen oder starke Lücken aufweisen. b) Warmherzig-zugehende oder distanzierte Beziehungsgestaltung: In dem Ansatz der Mentalisierungsbasierten Therapie

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wird darauf hingewiesen, dass bei Patienten mit BorderlineDiagnose eine zu starke zugehende, warmherzige Haltung kontraindiziert ist, da das Bindungssystem im cingulären und orbitofrontalen Kortex (Fuchs, 2008, S. 191 ff.) aktiviert wird. Diese Aktivierung beeinträchtigt die Mentalisierungsfähigkeit (Bartels u. Zeki, 2004), Abhängigkeit entsteht und das Risiko hoher Beziehungserwartungen und entsprechender Enttäuschungen können den Therapieverlauf negativ beeinflussen (Schultz-Venradt, 2008, mündl. Mitteilung; Allen u. Fonagy, 2006, S. 191 ff.). Daher wird eine eher freundlich-neutral zugewandte therapeutische Haltung empfohlen, Konzepte wie ein expressives Cheerleading (siehe oben) wären hier kontraindiziert, es genügt, durch freundliches Fragen die Mentalisierung des Klienten zu unterstützen und seine eigene Freude über Erfolge herauszuarbeiten. Ähnliche Hinweise gibt von Sydow, die eine zeitliche und personelle Passung der emotionalen Intensität fordert. »Ein vermeidender Klient wird einen Therapeuten schätzen, der seine Distanz respektiert, während eine ambivalent-verstrickte Klientin viel Aufmerksamkeit und Rückversicherung vom Therapeuten benötigt« (2008, S. 268). c) Kognitiv-narrative oder handlungsorientierte Strategien: Eine gängige differentialdiagnostische Unterscheidung wird häufig vom Bildungsniveau her getroffen. Einfach strukturierte Menschen sollten nicht mit komplexen Fragen geplagt werden, sondern eher auf der Handlungsebene angesprochen werden. Das ist sicher eine nützliche Unterscheidung, greift aber zu kurz. Denn gerade auch für kognitiv sehr ausgebildete Menschen kann handlungsorientiertes Arbeiten eine große Hilfe sein (z. B. gestaltungstherapeutisches Arbeiten, Skulpturarbeit oder dramatisierende Techniken in der Familientherapie; Schwing u. Fryszer, 2007, S. 175 ff.; Gammer, 2007, S. 24 ff. u. 79 ff.), weil es ihren prädominanten Stil der Handlungssteuerung erweitert. Eine interessante Untersuchung wird von Grawe referiert: Bruder und Kollegen (1997, zit. nach Grawe, 2004, S. 157 ff.) konnten zeigen, dass beim Behandlungserfolg in der Depressionstherapie offensichtlich die Voraussetzungen eine große Rolle spielen, die der Klient für das jeweilige Verfahren mitbringt. Er gab Klienten vor der Be-

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handlung in beide Ohren gleichzeitig verschiedene Silben zu hören, die Versuchspersonen unterschieden sich darin, mit welchem Ohr sie die Silben besser erkannten, mit welcher Gehirnhälfte sie den Reiz also besser verarbeiteten. Depressive Klienten, die später bei einer kognitiven Therapie erfolgreich behandelt werden konnten, erkannten bei dem Test die Silben mit dem rechten Ohr doppelt so genau wie die sogenannten Non-Responder, die bei der späteren Therapie erfolglos abschnitten. »Gute linkshemisphärische Verarbeitung verbalen Materials war der beste Prädiktor für den Erfolg einer Therapie, bei der es stark auf kognitive Fähigkeiten ankommt. [. . . ] Bei einer nonverbalen Unterscheidungsaufgabe fand sich kein Unterschied (Grawe, 2004, S. 157). Andere Untersuchungen (Heim et al., 2000; zit. nach Grawe, 2004, S. 154) belegten, dass beispielsweise depressive Klientinnen mit Missbrauchserfahrung in einem Test weitaus höhere Stressreaktionen zeigten als depressive Klientinnen ohne diesen Hintergrund. Das weist darauf hin, dass es wichtig ist, verschiedene Subgruppen von depressiven Klienten nach funktionalen Kriterien zu unterscheiden. Es wäre sehr interessant und nützlich, durch weitere (auch neurobiologische) Forschung Indikatoren zu entwickeln, die in der Praxis bei der Entscheidung helfen, mit welcher Therapiemethode Klienten den besten Erfolg zu erwarten haben.

Marte Meo und systemische Praxis: Neue Lovestory oder vertraute Tugenden Handlungsorientierte Ansätze geraten vermehrt in den Fokus und werden in die systemische Praxis integriert, und es gibt die eine oder die andere Systemikerin, die sich gelegentlich traut, ihren Klienten gegenüber auch anleitend tätig zu werden. Dies hat aus meiner Sicht viel zu damit zu tun, dass die kontextbezogenen systemischen Ansätze eine starke Verbreitung in den Berufsfeldern der Sozialarbeit gefunden haben. Und hier haben es die Praktikerinnen mit Klienten zu tun, die gut auf konkrete Interventionen ansprechen.

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Das ist mindestens in zweierlei Hinsicht ein »back to the roots«: Zum einen sind systemische Konzepte dort entstanden, wo sich traditionelle Psychotherapieansätze schwer taten und als wenig nützlich erwiesen. Und viele Pioniere haben mitunter sehr direktiv in ihre Systeme interveniert. Wenn wir also unser handlungsorientiertes Repertoire erweitern wollen, lohnt sich ein Blick zurück auf Pioniere wie Virginia Satir, Salvador Minuchin und Jay Haley. Oder zur Seite, wo wir entdecken, dass Carole Gammer den Kindern in der Familientherapie wieder stärker eine Stimme geben will (Gammer, 2007). Und es lohnt der Blick über den Tellerrand; hier können wir interessante Entwicklungen beobachten und gegebenenfalls in die systemische Arbeit integrieren. Die von Maria Aarts entwickelte Marte-Meo-Methode bietet dafür einen reichhaltigen Fundus (Aarts, 2002, 2008). Ursprünglich als Entwicklungsunterstützung für Familien mit autistischen Kindern konzipiert, hat sich die Methode innerhalb von zwei Jahrzehnten beispiellos verbreitet, sowohl regional (über 30 europäische Länder, Indien, Australien etc.) wie auch von den Anwendungsfeldern (Jugendhilfe, Schule, Demenzkranke, Managementtraining etc.). Es gibt schon zarte Anzeichen einer Lovestory mit systemischen Ansätzen (Hawellek u. von Schlippe, 2005; Bünder u. SirringhausBünder, 2005), die allerdings von epistemologischen Zweifeln an der Vereinbarkeit geplagt sind, ob denn mit einem klaren Entwicklungsmodell und detaillierten Checklisten nicht normative Paradigmen Einkehr halten, die zwischen richtig und falsch unterscheiden und den Klienten sagen wollen, was sie tun sollen. Dies kann hier nicht weiter vertieft werden, in den genannten Publikationen findet sich fundierter Lesestoff dazu. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, aus der genannten Argumentationslinie einige, wie ich meine nützliche Aspekte herauszuarbeiten. Klienten werden bei Marte Meo gebeten, kurze Filme von Alltagssituationen herzustellen, die Marte-Meo-Therapeutin fokussiert dann nach einem klar strukturierten Kriterienkatalog auf gelingende Interaktion und gibt bezüglich der beobachteten Entwicklungsbedarfe kleine Aufgaben mit. Diese orientieren sich an gelingenden Alltagsinteraktionen in Familien. Beispielsweise werden Eltern gebeten (und anhand der Videoaufnahmen

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gecoacht), Impulse ihrer Kinder wahrzunehmen, sie zu benennen, ein gutes Timing von Mitgehen und Führen zu entwickeln, eine gute Abstimmung von Kontaktaufbau und Intervention. Nach einer Zeit werden weitere Filme hergestellt, an denen in so genannten Reviews die Veränderungen besprochen werden und neue Entwicklungsaufgaben gegeben werden. Von Maria Aarts weitgehend aus der Beobachtung von Alltagsinteraktion in Familien entwickelt (»learning from nature«), entsprechen diese Checklisten doch stark dem aktuellen Wissen aus der Bindungsund Interaktionsforschung und wirken wie eine passgenaue Übersetzung neurobiologischer Erkenntnisse in konkrete Praxis. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen. a) Mood for development: Maria Aarts kommt es darauf an, Klienten zu Beginn jeder Beratungssitzung in einen entwicklungsoffenen, neugierigen, zuversichtlichen Zustand einzuladen (Aarts, 2008, mündl. Mitteilung). Das entspricht dem, was Systemiker unter Joining verstehen, und geht darüber hinaus. Es geht nicht nur um die Ankoppelung und den Beziehungsaufbau, sondern auch darum herauszufinden, was einem Klienten hilft, einen inneren Zustand aufzubauen, der Veränderungen begünstigt, aus neurobiologischer Perspektive: in dem durch Dopaminausschüttung eine emotional positive, neugierige Erwartungshaltung gefördert wird. b) Good moments: In der Besprechung des ersten Videoclips wie in den Reviews der folgenden wird exklusiv ausschließlich auf gelingende Interaktionen fokussiert. Entsprechende Bilder (der nach einer Bemerkung der Mutter glücklich lächelnde Sohn, der neugierige Blick des Babys, die gute Kooperation von Vater und Tochter) werden auf Standbild gesetzt, um sie einige Momente wirken zu lassen. Die Therapeutin hält sich eher zurück und bestätigt die Kommentare der Klienten (»Ja genau«, »Ist das nicht schön, wie Sie das gesagt haben«). Die Bilder wirken und hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck, neurobiologisch wird durch die längere Exposition eine hohe Aktivierungsrate in den beteiligten neuronalen Schaltkreisen geschaffen, was die Stärkung und Neubildung synaptischer Bahnungen unterstützt. c) Small Steps: Die Entwicklungsaufgaben definieren kleine Schritte, die schon in Ansätzen zu sehen waren, und damit

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bestmöglich einen Erfolg garantieren. Damit entstehen Spuren des Erfolgs: in den Interaktionen zwischen Klienten und in den Menschen und ihren Gehirnen. Mein starker Eindruck beim Beobachten der Videos und der Reaktionen der Klienten: Das Bindungssystem wird (re-)aktiviert, was gerade bei Klienten mit einer desorganisierten und leidvollen Bindungsgeschichte äußerst heilsame Wirkung entfaltet. In einem Meer von Versagen und Selbstvorwürfen entstehen kleine Inseln von Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Vielleicht musste die Methode deshalb von einer Niederländerin erfunden werden: In diesem Land gibt es eine lange Erfahrung, wie man Land gewinnt. d) Good face, good tone: Klienten werden auf Momente aufmerksam gemacht, in denen es ihnen gelingt, ihrem Gegenüber mit einem freundlichen Gesicht, mit einer lebendigen Mimik gegenüber zu treten, genauso Momente, in denen ihre Stimme eine warme Färbung und Synchronisation mit dem Gegenüber hat, was natürlich besonders wichtig ist (aber nicht nur), wenn dieses Gegenüber ein Kleinkind ist. Dadurch werden in starkem Ausmaß die inneren Annäherungs-, Belohnungsund Bindungssysteme gestärkt (Kampe et al., 2001; Spitzer, 2007, S. 176 ff.). Wenn man den Blick noch etwas schweifen lässt, kann man weitere spannende Entdeckungen machen und Verbindungen herstellen. Zwei Beispiele dazu: e) Videotherapie mit Schlaganfallpatienten: Die Videotherapie ist ein neues Therapieverfahren für die Behandlung von Schlaganfallpatienten, das unter anderem von einer Forschergruppe an der Universität Lübeck untersucht wird (Binkofski et al., 2004; Ertelt, 2007, 2008). Patienten schauen sich Videos von alltäglichen Bewegungen an und üben sie anschließend. Dies soll Areale im motorischen Kortex stärken, die für Bewegungen und ihre Steuerung zuständig sind, wenn sie in Folge des Schlaganfalls beschädigt sind. Diese Therapie basiert auf neurobiologischen Forschungen der Rizolatti-Gruppe aus Parma zu den Spiegelneuronen (Roth, 2003, S. 450), die eine deutliche Aktivierung von Neuronen durch alleinige Bewegungsbeobachtung gezeigt haben. Die höheren motorischen Hirn-

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gebiete werden reaktiviert und wirken dann mit Impulsen auf die primären motorischen Areale, die durch den Schlaganfall stillgelegt wurden. Im Üben werden die neu aktivierten Bahnungen durch die beständige Aktivität und durch die Rückmeldung aus dem Körper gestärkt und verfestigt. Der Effekt ist inzwischen durch Untersuchungen gut belegt (Ertelt et al., 2007), neben den motorischen Fortschritten, die deutlich über den durch übliche Physiotherapie lagen, konnten signifikante Steigerungen der Aktivierung von motorisch relevanten Gehirnarealen nachgewiesen werden. Dieser hier deutlich nachgewiesene Effekt des Doppelschritts Schauen und Üben wird ebenso von Marte Meo benutzt, mit dem weitergehenden Aspekt, dass die Klienten von eigenen Bildern, von eigenen Erfolgen lernen, was die therapeutische Wirkung beträchtlich erhöhen dürfte. f) Marte Meo und Capoeira: Warum und wie die Videobilder im Rahmen von Marte Meo wirken, kann möglicherweise aus einem Experiment von Glaser und Kollegen an der Universität London geschlussfolgert werden (Calvo-Merino et al., 2005, 2006) Sie zeigten Capoeira-Tänzern (eine brasilianische tänzerisch anmutende Selbstverteidigung), klassischen Balletttänzern und Laien Filme von Capoeira und klassischem Ballett. Dabei wurde deutlich, dass die Aktivierung der Spiegelneurone und der motorischen Zentren dann besonders stark war, wenn die Teilnehmer den Bewegungen zuschauten, die sie bereits können, also die Capoeira-Tänzer den Capoeira-Videos und die Balletttänzer den Videos mit klassischem Ballett. Mittlere Aktivität zeigte sich, wenn die Tänzer der jeweiligen anderen Bewegungskunst zuschauten, die schwächste Aktivierung erfolgte, wenn Laien zuschauten. Ein unerwarteter Befund war, dass beim Zuschauen der eigenen Bewegungskunst auch emotionale Zentren feuerten, was die Hypothese nahe legt, dass der starke Aktivierungsunterschied auch durch die emotionale Beteiligung zustande kam. Unabhängig davon scheint der Aktivierungsgrad und damit die Bahnungsverstärkung in den neuronalen Netzwerken dann besonders stark zu sein, wenn wir Videos mit Aktivitäten anschauen, die uns wichtig und vertraut sind. Genau das geschieht in der Marte-Meo-Arbeit, wenn die Klienten

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sich selber bei erfolgreichen Handlungen zuschauen. Und das geschieht auch in der systemischen Therapie, wenn wir nach Ressourcen und nach Ausnahmen vom Problem fragen und das therapeutische Vorgehen darauf aufbauen, allerdings ohne den verstärkenden Effekt von Bildern.

Fazit »Wir wissen aus der Psychotherapieforschung und aus der Praxis teilweise bereits, was wirksam ist. Die Neurowissenschaft kann uns dabei helfen, besser zu verstehen, warum es wirksam ist. [. . . ] [Und sie] kann uns darüber hinaus auch Hinweise geben, wo noch ungenutzte Potentiale liegen, Irrwege aufzugeben und neue Vorgehensweisen zu konzipieren, die wir dann erproben und prüfen müssen, um so unsere Praxis Schritt für Schritt zu verbessern« (Grawe, 2004, S. 90). Nach dem Gesagten ist klar, dass ich viele Techniken und Haltungen der systemischen Therapie und Beratung durch die neurobiologische Forschungslage bestätigt sehe, und dass ich andererseits in vielen Ergebnissen spannende Anregungen finde, das eigene Repertoire zu überdenken, zu modifizieren oder zu erweitern. Ich denke, wir können mit Selbstbewusstsein und gleichzeitig einer lernoffenen Bescheidenheit auf die Neurobiologie zugehen – Letzteres sollte uns von unserer konstruktivistischen Grundhaltung ja eigentlich selbstverständlich sein. Wir sollten uns beeinflussen lassen, wenn Veränderungen und Erweiterungen unserer theoretischen/methodischen Ausstattung einen größeren Nutzen für unsere Klienten versprechen. Andererseits haben Systemikerinnen einzigartige Begriffe entwickelt, um zu verstehen und zu begreifen, wie aus Interaktionen Realitäten entstehen, Eigenschaften von Menschen geformt, gestärkt oder geschwächt werden, wie sich dabei die Lernprogramme der Protagonisten miteinander verzahnen und Probleme chronifiziert oder gelöst werden. Wir sollten also auch Einfluss ausüben, um unsere theoretischen Ansätze, unsere Fragestellungen und Forschungsbedarfe aktiv einzubringen, damit vermehrt neurobiologische Forschungsprogramme entworfen

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werden, die die Komplexität der Synchronisationsprozesse in sozialen Systemen erfassen können. Der Kreis schließt sich also, wenn wir auch fragen, was die Neurobiologie von der systemischen Therapie lernt. Das geschieht aber nur, wenn wir etwas dafür tun, dass es geschieht. Und das wird neue Spuren des Erfolgs hervorbringen.

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Rainer Schwing

lytische Psychotherapie. Theorie, Technik, Therapie (S. 197–223). Stuttgart: Klett-Cotta. Schultz-Venrath, U. (2008b). Mentalisierungsgestützte Gruppenpsychotherapie. Zur Veränderung therapeutischer Interventionsstile. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 44, 135–149. Schwabe, U., Paffrath, D. (Hrsg.) (2006). Arzneiverordnungsreport 2006. Berlin u. Heidelberg: Springer. Schwabe, U., Paffrath D. (Hrsg.) (2007). Arzneiverordnungsreport 2007. Berlin u. Heidelberg: Springer. Schweitzer, J., Schlippe, A. von (2006). Lehrbuch der systemischen Theorie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schwing, R., Fryszer, A. (2007). Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Seligman, M. (2005). Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben. Bergisch Gladbach: Lübbe. Simon, F. B., Weber, G. (1989). Horch, was kommt von drinnen raus . . . ?! Über das Umgehen von und mit Gefühlen. Familiendynamik, 14, 1989, 57–64. Simon, F. B. (2006). Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl Auer. Simon, F. B. (1992). Radikale Marktwirtschaft. Grundlagen des systemischen Managements. Heidelberg: Carl Auer. Sommer, G., Ernst, H. (Hrsg.) (1977). Gemeindepsychologie, München: Urban & Schwarzenberg. Speck, R., Attneave, C. (1983). Die Familie im Netz sozialer Beziehungen. Freiburg: Lambertus-Verlag. Spitzer, M. (2007). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. München: Elsevier. Sydow, K. von, Beher, S., Retzlaff, R., Schweitzer, J. (2007). Die Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie. Göttingen: Hogrefe. Sydow, K. von (2008). Bindungstheorie und systemische Therapie. Familiendynamik, 33 (3), 260–273. Weisberg D. S., Keil, F. C., Goodstein, J., Rawson, E., Gray, J. R. (2008). The Seductive Allure of Neuroscience Explanations. Journal of Cognitive Neuroscience, 20, 470–477.

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Was lernt die systemische Praxis von der Neurobiologie?

Internet http://www.marktforschung-mit-neuromarketing.de, 28.07.2008

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Persönliche Empfehlung für die weiterführende Lektüre Hüther, G. (2001). Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Spitzer, M. (2007). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. München: Elsevier. Fuchs, T. (2008). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer. Schiepek, G. (Hrsg.) (2003). Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Deller, T., Sebestény, T. (2007). Fotoatlas Neuroanatomie. München: Elsevier.

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Wilhelm Rotthaus

Die Bedeutung der Neurobiologie für die Kinderund Jugendlichentherapie

Fragestellung Welche Bedeutung haben die in den letzten beiden Jahrzehnten erarbeiteten neurobiologischen Forschungsergebnisse für die Praxis der Kinder- und Jugendlichentherapie? Das ist die Frage, mit der ich mich im Folgenden beschäftigen möchte. Ich selber schwanke immer zwischen zwei Extremen: Einerseits finde ich es faszinierend, über neuere neurobiologische Erkenntnisse zu lesen und ihre Bedeutung für die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen zu reflektieren. Andererseits habe ich oft den Eindruck, dass die zweifellos beeindruckenden Forschungsmethoden doch nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, etwas von der Komplexität der Vorgänge im Gehirn zu erfassen. Sie fordern die Forscher damit zu Interpretationen heraus mit der Folge, dass manche von ihnen darin genau das entdecken, wovon sie vorher überzeugt waren. Sicherlich kommen umfangreiche neurobiologische Forschungen in vielen Fällen auch zu Ergebnissen, die aufgrund des inzwischen doch sehr großen psychotherapeutischen Erfahrungsschatzes ziemlich selbstverständlich, sozusagen als alte Hüte wirken. Das mindert mein persönliches Interesse allerdings nicht. Denn nach meiner Erfahrung ist es oft sehr bereichernd, auch alte Hüte mal von einer anderen Seite und unter anderen Aspekten zu betrachten. Und ich erlebe es als sehr spannend zu beobachten, welche Teile dieses therapeutischen Erfahrungsschatzes sich nicht bestätigen werden. Alles in allem ist unbestreitbar: Faszinierende Ideen, Perspektiven und Erwartungen verbinden sich heute mit neurobiologischer Forschung: Wird sie beispielsweise in absehbarer Zeit in der Lage sein, die ICD-10 oder das DSM-IV, die aktuell gültigen,

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weitgehend auf Konventionen beruhenden und seit der ICD10 lediglich beschreibenden Klassifikationen von psychischen Störungen und Auffälligkeiten über Bord zu werfen und sie – wie Grawe (2004, S. 19) es als realistische Utopie beschreibt – »durch ein funktionales Ordnungssystem, das die Phänomene danach ordnet, wie sie zustande kommen«, zu ersetzen? Wird man herausfinden, was man genau im Gehirn verändern muss, um die erwünschten Veränderungen im Erleben und Verhalten des Klienten zu erreichen? Und lässt sich dann in absehbarer Zeit durch neurobiologische Forschungen feststellen, welche psychotherapeutischen Haltungen und Methoden zu diesen Veränderungen im Gehirn führen, die mit einer Reduktion oder einem Verschwinden des Leidens einhergehen? Werden uns die neurobiologische Erkenntnisse in Zukunft zwingen, die Therapieschulen abzuschaffen und stattdessen eine neurobiologisch basierte Psychotherapie durchzuführen? Das alles sind heute noch Fragen und Spekulationen, die aber meinem Eindruck nach viel zu dem heute hohen Ansehen der Neurobiologie beitragen.

Zwei Kernaussagen Ich möchte nun aber in diesem Beitrag versuchen darzustellen, welche neurobiologischen Forschungsergebnisse mir für unsere therapeutische und pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutsam erscheinen. Dabei gehe ich nicht auf das Gebiet ein, in dem neurobiologische Forschungsergebnisse vielleicht die größte Bedeutsamkeit bekommen haben: Die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen, die in diesem Band gesondert thematisiert wird. Ich möchte beginnen mit der Darstellung von Forschungsbefunden, die sich in zwei Kernaussagen zusammenfassen lassen. Erstens: Psychotherapie wirkt, indem sie Änderungen in den Hirnstrukturen bewirkt. LeDoux (2002, S. 299 – nach Grawe 2004, S. 18) formuliert: »Psychotherapy is fundamentally a learning process, and as such is a way to rewire the brain. In this sense, psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to

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Wilhelm Rotthaus

treat mental illness.« (Psychotherapie ist prinzipiell ein Lernprozess und damit ein Prozess, das Gehirn neu zu strukturieren bzw. wörtlich: zu verdrahten. In diesem Sinne nutzt Psychotherapie letztlich biologische Mechanismen, um geistige Krankheiten zu behandeln.) Voraussetzung dafür ist die heute wohl nicht mehr zu bestreitende Tatsache, dass das Gehirn seine Struktur und seine damit zusammenhängenden Funktionen aufgrund der Erfahrungen, die die Person macht, laufend verändert. Diese Neuroplastizität des Gehirns wurde von Donald Hebb 1949 erstmals postuliert, ohne dass man das damals – wie es heute möglich ist – nachweisen konnte. Das heißt: Psychotherapie ist nicht eine professionalisierte Form harmloser Rederei, sondern stellt einen Eingriff in Hirnstrukturen dar. Zweitens: Menschliche Gehirne unterscheiden sich in einem Punkt von denen aller anderen Lebewesen. Die Dauer ihres Reifungsprozesses ist im Vergleich wesentlich höher, wodurch eine besonders hohe Neuroplastizität, eine erfahrungsbedingte Formbarkeit des menschlichen Gehirns begründet ist. Dabei ist die Reifungsgeschwindigkeit der entwicklungsgeschichtlich älteren limbischen Hirnstrukturen am höchsten. Diese steuern vornehmlich die Motorik sowie die Gefühlswahrnehmungen und die Sinneswahrnehmungen. Demgegenüber dauert die Entwicklung der temporo-parietalen und der präfrontalen Hirnregionen – bei großen individuellen Unterschieden – bis in ein Alter von 22 Jahren. Dies geschieht durch zunehmende Myelinisierung der Nervenfasern, das heißt einer zunehmenden Ummantelung der Nervenfasern mit einer besonderen Art von Fett, dem Myelin, die eine um das 30- bis 40-fache höhere Nervenleitgeschwindigkeit bewirkt. Diese sich erst so spät entwickelnden Regionen, und hier besonders der frontale Kortex, kontrollieren die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, das Abstraktionsvermögen, die Fähigkeit abzuwägen und zu planen, spezifische Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen sowie die Möglichkeit, kurzfristige Wunscherfüllungen zugunsten längerfristigerer Ziele zurückzustellen. »Die Reifung dieser Hirnstrukturen«, so folgern Heipertz-Dahlmann und Kollegen (2008, S. 149), »ist somit für das Zusammenspiel von kognitiven und emotionalen Prozessen und damit für die Entwicklung unseres sozialen In-

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teraktionsverhaltens von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise haben funktionelle Bildgebungsstudien darauf hingewiesen, dass im Vergleich zu Erwachsenen selbst in der späteren Adoleszenz die Veränderungen in der neuronalen Aktivität der Amygdala bei der Verarbeitung von ängstlichen Gesichtsausdrücken eher schwach ausgeprägt sind.« Auf Grundlage dieser neurobiologischen Befunde ist es also keineswegs verwunderlich, dass bei Jugendlichen und vielen Heranwachsenden noch häufig Verhaltensprobleme auftreten, die durch impulsive Aggressivität, kurzfristige Bedürfnisbefriedigung sowie eine mangelnde Fähigkeit, die Folgen des eigenen Tuns zu bedenken, gekennzeichnet sind. Aber das heißt auch – und das ist meine zweite Kernaussage: Die in der gesamten Kinder- und Jugendzeit noch besonders hohe Neuroplastizität des Gehirns eröffnet sehr große Chancen, durch geeignete erzieherische, beraterische sowie therapeutische Maßnahmen auf die Entwicklung dieser Hirnstrukturen und damit auf die Ausbildung der von ihnen repräsentierten Fähigkeiten der Frustrationstoleranz, der Impulssteuerung und der Planung des Handelns im Sinne eigener Wertvorstellungen einzuwirken – wenn diese Maßnahmen denn hinreichend konsequent und ausreichend langdauernd sowie professionell kompetent durchgeführt werden.

Erstes Prinzip: Bahnung Was lässt sich nun aus neurobiologischer Sicht darüber sagen, wie eine Therapeutin die erwünschten Veränderungen bei ihrem Klienten am besten erreicht? Nach dem bisher Ausgeführten geschieht dies durch Veränderung synaptischer Übertragungsbereitschaften. Dies ist grundsätzlich möglich, indem Übertragungsbereitschaften durch Bahnung verstärkt, durch Nichtbenutzung geschwächt oder aber aktiv gehemmt werden. Bahnung ist sicher das bedeutsamste Prinzip. Bereits Donald Hebb war von der Annahme ausgegangen, dass die Übertragungsbereitschaft an den Synapsen, den Verbindungsstellen zweier Nervenzellen, zunimmt, je öfter sie gebraucht werden.

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Berühmt geworden ist sein Satz, mit dem er dies schlagwortartig zusammengefasst hat: »Cells that fire together wire together« (Zellen, die gemeinsam feuern, verdrahten sich miteinander). Dies gilt nach heutiger Überzeugung nicht nur auf der Ebene einzelner Neuronen, sondern auch auf der Ebene von Neuronenverbänden und neuronalen Schaltkreise. Man spricht von Bahnung von Erregungsbereitschaften, und diese Bahnung erfolgt dadurch, dass etwas wiederholt und anhaltend aktiviert wird. Das heißt: Durch verändertes Erleben und Verhalten entwickeln sich neue neuronale Netzwerke, die wiederum, wenn sie regelmäßig gebahnt werden, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass dieses Erleben und Verhalten häufiger gezeigt werden kann und gezeigt wird. Für die Kinder- und Jugendlichentherapeutin heißt das, dass ihre Bemühungen darauf ausgerichtet sein müssen, dem Kind oder Jugendlichen Erfahrungen zu ermöglichen, die in Richtung seiner Therapie- und Beratungsziele verweisen. Dies erinnert sofort an Steve de Shazers schlichten Satz: »If something works do more of it.« Aber die Therapeutin sollte nicht nur abwarten, bis der Klient irgendwann von selbst das Gewünschte tut, sondern sollte Situationen herstellen, die das Auftreten neuen, erwünschteren Verhaltens und Erlebens nahelegen. Tritt dies in Ansätzen auf, sollte sie dann alles dafür tun, dass es häufiger auftritt. Je länger und öfter das neue Verhalten und Erleben gezeigt wird, umso besser wird es gebahnt und umso leichter kann es wieder aktiviert werden. Die Methode der Lösungsorientierten Therapie, mit Ausnahmen zu arbeiten, findet hier seine neurobiologische Bestätigung. Denn wenn Ausnahmen von dem beklagten Verhalten irgendwann in der letzten Zeit aufgetreten sind, heißt das, dass der Person offensichtlich ein – wenn wahrscheinlich auch nur schwach ausgeprägtes – neuronales Netzwerk zur Verfügung steht, das bereits etwas von dem leistet, was sie anstrebt, und das deshalb gestärkt und ausgebaut werden sollte. Ich habe Steve de Shazer soeben nur mit der Hälfte seines bekannten Satzes zitiert, dessen zweite Hälfte lautet: »If something doesn’t work do something else.« Auch aus neurobiologischer Sicht ist es Aufgabe der Therapeutin, den Klienten neue Erfahrungen machen zu lassen. Allerdings geht es nicht um irgendwelche neue Erfahrungen, sondern um solche, deren Bahnung

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es dem Klienten ermöglicht, seine Ziele zu erreichen. Das heißt: Es ist die Aufgabe der Therapeutin, mit dem jeweiligen Klienten herauszufinden, welche Art von Erfahrungen der betreffende Mensch machen muss, damit es ihm besser geht, und es ist auch der Job der Therapeutin, den Klienten darin einzuleiten und zu unterstützen, solche Erfahrungen wirklich zu machen. Dabei sollte sie die Tatsache nutzen, dass neuronale Netzwerke multicodiert sind. Damit ist gemeint, dass Erfahrungen nicht nur in einem System des Gehirns abgelegt werden, als reine Gedanken, reine Gefühle oder reine körperliche Empfindungen, sondern als sprachlich verfasster Gedanke und als ein Bild mit einer bestimmten Szene und als ein Gefühl in der Brust oder Ähnlichem. Sie ist an verschiedenen Orten des Gehirns gespeichert, wird aber ganzheitlich aufgerufen, wenn sie über eine Ebene angesprochen wird. Das ist ein starkes Argument dafür, auch in der Therapie unterschiedliche Ebenen zu nutzen: die Sprache, Bilder, Metapern, die emotionale Ebene, die Körperebene. Ein weiterer Befund ist unter dem Aspekt der Bahnung neuer Übertragungsbereitschaften sehr faszinierend. Neurobiologische Erkenntnisse verweisen darauf, dass nicht nur real gemachte Erfahrungen notwendig sind, sondern dass auch imaginierte Erfahrungen eine neuroplastische Wirkung haben. Die Neurobiologen sprechen in diesem Zusammenhang von so genannten »Als-ob-Schleifen«. Offensichtlich behandelt das Gehirn Imaginiertes, als ob es sich um reale Erfahrungen handeln würde. So konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass sich der Bereich der Hirnrinde, der für die Motorik der Finger zuständig ist, bei Versuchspersonen, die sich während zwei Wochen täglich zwei Stunden vorstellten, sie würden Klavier spielen, fast in gleichem Ausmaß vergrößerte wie bei einer Kontrollgruppe, die dies tatsächlich tat (Storch u. Krause, 2003, S. 118 – nach Daniel Mentha). Das Sprechen über imaginiertes Erleben und Verhalten, beispielsweise angeregt durch die Wunderfrage oder die Frage nach hypothetischen Ausnahmen, ist also neurobiologisch gesehen höchst sinnvoll, führt es doch dazu, neue Übertragungsbereitschaften zu entwickeln und erste Bahnungen und Verstärkungen dieser Übertragungsbereitschaften zu bewirken, falls es gelingt, dieses Gespräch über lange Zeit mit vielen konkreten Details zu gestalten.

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Und auch in seiner grundsätzlichen Aussage »Problem-talk creates problems, solution-talk creates solutions« wird Steve de Shazer durch die Neurobiologie bestätigt. Denn aus dem Vorangegangenen resultiert, dass ein Sprechen über die Probleme zwangsläufig die nicht erwünschten neuronalen Erregungsmuster verstärkt und bahnt. Auch wenn das in der Regel zu Beginn einer Therapie nicht ganz zu vermeiden ist, so folgert doch Grawe (2004, S. 429) interessanterweise als zumindest von seiner Herkunft doch eher verhaltenstherapeutisch orientierter Therapeut: »Aber von diesem notwendigen Anfangsstadium aus sollte der therapeutische Fokus sich möglichst rasch verschieben auf das, was neu gelernt werden soll, also auf Annäherungen an das angestrebte Ziel. Therapien, die zu lange bei der Identifizierung und Analyse der Probleme stehen bleiben, haben nach unseren Prozessanalysen ein schlechteres Ergebnis als Therapien, die ihren Schwerpunkt schon bald auf dem Veränderungsaspekt haben. Dieses von uns immer wieder gefundene Ergebnis ist sehr gut vereinbar damit, dass nicht die alten, zu verändernden, sondern die neuen, zielannähernden neuronalen Erregungsmuster in der Therapie möglichst oft aktiviert werden sollten.«

Orientierung an den Zielen des Klienten Unsere therapeutische Arbeit steht und fällt mit der Motivation der Kinder und Jugendlichen zur Auseinandersetzung mit den erarbeiteten Zielen. Deshalb erscheint es mir bedeutsam zu schauen, was aus der neurobiologischen Lernforschung über die Entstehung von Motivation zum Lernen bekannt ist. Motivation wird über die so genannten Neuromodulatoren vermittelt, die an nonNMDA-Rezeptoren anbinden, im Hinblick auf das Lernen vor allem die noradrenergen und die Dopaminrezeptoren. Sie führen dann über so genannte Second-Messenger-Botenstoffe zu einer erhöhten Erregbarkeit und zur Ausbildung weiterer Synapsen, das heißt zu einer langfristigen Verbesserung der synaptischen Erregungsübertragung und damit zu einem besseren, leichteren Lernen. Diese Prozesse kommen vor allem dann in Gang, wenn wichtige Ziele aktiviert werden. Diese Befunde erscheinen mir hochinteressant für den Bereich der Schu-

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le. Sie sind aber genauso wichtig für die Kinder- und Jugendlichentherapie. Denn erfolgreiches (therapeutisch angeregtes) Lernen gelingt vor allem dann, wenn wichtige positive Ziele aktiviert und damit gleichzeitig oder kurz danach die aktivierten Neurone durch Adrenalin- und Dopaminausschüttung lernbereit gemacht werden, und wenn in diesem Zustand erhöhter Lernbereitschaft die Aktivierung der zu fördernden neuronalen Erregungsmuster intensiv, nämlich anhaltend und wiederholt, erfolgt. Sich streng, konsequent und immer neu an den tatsächlichen Zielen des Klienten zu orientieren – sei es auch zum Beispiel bei Jugendlichen ein Ziel, das der Therapeutin oder Beraterin wenig realistisch erscheint –, ist nach meinen Erfahrungen in systemischen Weiterbildungen eine nicht leicht zu erwerbende Fähigkeit, so dass ich die Sequenz »Klärung von Anlass, Anliegen und Auftrag sowie Schließen eines Kontraktes« immer wieder zum Thema mache. Aber ich fühle mich durch diese neurobiologischen Befunde sehr bestätigt, die Orientierung an den Zielen des Klienten zu einem der zentralen Themen zu machen. In meinen eigenen Therapien versuche ich dementsprechend, immer wieder die Zielvisionen des Klienten in konkreten, kraftvollen und attraktiven Bildern anzusprechen, um daraus ableitend Teilschritte zu aktivieren, Ausnahmen anzusprechen und auf teilweise schon Verwirklichtes, aber nicht Wahrgenommenes im Sinne der übergreifenden Ziele aufmerksam zu machen.

Aktivierung positiver emotionaler Zustände Schon länger ist bekannt, dass Lernen am besten in einem Zustand positiver Emotionalität gelingt. Zentrale Aufgabe der Therapeutin ist deshalb die Aktivierung positiver emotionaler Zustände. Dies finde ich umso bedeutsamer, als sich neurobiologisch die von Paul Watzlawick oft geäußerte Ansicht bestätigt, dass Einsicht noch bei keinem Menschen eine Veränderung bewirkt habe. Gemeint hat er damit, dass rationale Erkenntnis selten zu einer Verhaltensänderung führt, wenn sie nicht durch emotionales und/oder körperliches Wahrnehmen und Erleben

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gestützt bzw. begleitet wird. Raucher und andere Personen, die über viele rationale Einsichten in die Gesundheitsschädlichkeit ihres Tuns verfügen, sind ein anschauliches Beispiel dafür. Gerhard Roth (2003, S. 40) formuliert: »Bloße Appelle an die Einsicht [bleiben] wirkungslos, denn sie aktivieren allein die Netzwerke des bewusstseinsfähigen kortiko-hippokampalen Systems; dieses hat aber auf die verhaltensrelevanten limbischen Netzwerke keinen wesentlichen oder einen nur indirekten Einfluss.« Demgegenüber zeigen Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (PET, fMRT), dass bei psychisch Kranken im Vergleich zu psychisch Gesunden limbische Zentren in ihrem Aktivierungszustand deutlich erhöht oder erniedrigt sind. Roth (2003, S. 39) schlussfolgert daraus: »Ziel jeder Psychotherapie muss es entsprechend sein, die Psyche des Patienten dadurch zu verändern, dass die Fehlfunktionen subkortikaler limbischer Netzwerke behoben werden.« Dabei ist davon auszugehen, dass sich emotionale Lernprozesse eher langsam vollziehen und dass dies in besonderem Maße für Umlernprozesse gilt. Entsprechend hoch muss die emotionale Aktivierung innerhalb der Therapie sein. So schreibt Roth der Therapeutin die Fähigkeit zu, »mit geeigneten Mitteln, insbesondere mithilfe der Erzeugung eines ›emotionalen Aufruhrs‹, auf das Unbewusste des Patienten ein[zu] wirken und damit Veränderungen subkortikaler limbischer Zentren [zu] bewirken«. Darauf verweise ich Weiterbildungsteilnehmerinnen oft, wenn sie Sorge haben, die Klienten beispielsweise nach der Durchführung einer Skulptur in emotional stark angerührtem Zustand nach Hause zu schicken. Ich halte es demgegenüber für wichtig, dieses starke emotionale Erleben nicht durch nachträgliche peripher kortikale Kognitionen zu egalisieren und fortzureden. Auch Hüther und Rüther (2003) betonen die Bedeutung der Aktivierung emotionaler Reaktionen für die Bahnung neuer Reaktionsmuster im Gehirn. Sie heben hervor, dass neue Nutzungsmuster um so schwerer durch psychotherapeutische Interventionen in Gang gesetzt und gebahnt werden können, je früher die dem bisherigen Fühlen, Denken und Handeln der Person zugrunde liegenden Nutzungsmuster entstanden sind, je länger diese Muster subjektiv erfolgreich zur Lösung von Problemen, beispielsweise zur Wiederherstellung des emotionalen

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Gleichgewichts, benutzt werden konnten und je stärker das psychosoziale Beziehungsgefüge der Person weiterhin dazu beiträgt, diese einmal entwickelten und strukturell verankerten Nutzungsmuster aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Diese einmal entstandenen Verhaltensmuster würden aufgrund ihrer assoziativen Verknüpfungen mit einer Vielzahl anderer neuronaler Schaltkreise und Netzwerke gewissermaßen »von Innen heraus« stabilisiert und seien deshalb relativ gesichert gegenüber äußeren Einflüssen. Sie seien deshalb nur unter Beteiligung emotionaler Zentren der tiefer liegenden, limbischen Hirnregionen veränderbar. Zu einer solchen Aktivierung emotionaler, limbischer Hirnbereiche komme es aber immer nur dann, wenn etwas Neues, Aufregendes und Unerwartetes geschehe, das nicht sofort und routiniert mit den bereits etablierten Denk- und Handlungsmustern bewältigbar sei und deshalb subjektiv entweder als Bedrohung (Angst, Leid) oder aber als Glück (Belohnung, Lust) bewertet würden. Bleibe die Aktivierung dieser emotionalen Reaktionen kurz, beispielsweise bei einer kontrollierbaren Stressreaktion, bei einer gelungenen Herausforderung, bei einer erfolgreichen Bewältigung oder bei einer Belohnung, so komme es unter dem Einfluss der dabei kurzfristig freigesetzten Botenstoffe (beispielsweise Dopamin, Noradrenalin, Vasopressin) zur Bahnung und Stabilisierung der im Verlauf dieser Reaktion aktivierten Verschaltungsmuster. Demgegenüber hätten unter der Bedingung einer lang anhaltenden Aktivierung emotionaler Zentren, beispielsweise bei unkontrollierbaren Stressreaktionen und unbewältigbaren psychosozialen Konflikten, die dabei vermehrt freigesetzten Signalstoffe, beispielsweise Cortisol, eine destabilisierende Wirkung auf bereits etablierte neuronale Vorschaltungsmuster.

Therapeutin-Klient-Beziehung Grundsätzlich ist es also eine herausragende Aufgabe der Therapeutin, positive emotionale Zustände herzustellen, wobei meines Erachtens die Aktivierung positiver Zielvisionen – wie bereits dargestellt – eine große Rolle spielt. Ein zweiter und vielleicht noch wichtigerer Aspekt in diesem Zusammenhang

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betrifft die Bedeutung der Therapeutin-Klient-Beziehung. Sie kennen wahrscheinlich die umfangreichen Forschungen von Wampold (2001) und Norcross (2002), nach denen Psychotherapie insgesamt wirksam ist, die Unterschiede in der Wirksamkeit der verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren jedoch gering sind, was zu der Frage veranlasste, was denn überhaupt Wirkfaktoren in Psychotherapien seien. Als Ergebnis über viele Studien stellte sich heraus, dass 70 % der Wirksamkeit der Therapeutin-Klient-Beziehung zuzuordnen ist, während etwa 11 % durch bestimmte Patientenvariablen, 11 % durch bestimmte Therapeutenvariablen und 8 % durch spezielle therapeutische Methoden erreicht werden. Auch seitens der Neurobiologie gibt es starke Hinweise auf die Bedeutung der Therapeutin-Klient-Beziehung. Spitzer (2003) verweist in diesem Zusammenhang auf das grundlegende Funktionsprinzip unseres Gehirns, dass in jeder Sekunde von Millionen von Reizen bombardiert wird. Aufgabe des Gehirns ist es deshalb herauszufinden, welche Reize wichtig sind. Dies tut es, indem es kontinuierlich vorausberechnet, was demnächst eintreten wird. Wenn dies eintritt – was meist der Fall ist –, wird es als unbedeutend abgebucht, das heißt, nicht weiterverarbeitet und darum auch nicht gespeichert. Gelegentlich aber treten Ereignisse auf, die besser sind als erwartet. Diese Feststellung hat ein Signal zur Folge, dass zur Aktivierung des mesolimbischmesokortikalen Dopaminsystems führt. Subjektiv hat dies über die Freisetzung endogener Opioide im Frontalhirn einen Belohnungseffekt zur Folge. Zugleich hat das direkt vom mesokortikalen System im Frontalhirn freigesetzte Dopamin im Hinblick auf die Informationsverarbeitung die Funktion eines Türöffners (»gating«). Spitzer folgert daraus (2003, S. 53): »Für jede Form von Lernen ist wichtig: Gelernt wird, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Dieser Mechanismus ist wesentlich für das Lernen der verschiedensten Dinge, wobei deutlich sein muss, dass für den Menschen die positive Erfahrung schlechthin in positiven Sozialkontakten besteht. [. . . ] Die biologischen Wurzeln der therapeutischen Situation werden so unmittelbar deutlich.« Die Wirkung von Psychotherapie hängt demnach wesentlich davon ab, ob es der Therapeutin gelingt, ihrem Klienten positive

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Erfahrungen zu vermitteln. Das beginnt schon vor der eigentlichen Therapie durch die Informationen über die Einrichtung und über die Therapeutin, die der Klient wo auch immer erhält, im Weiteren durch die Gestaltung des ersten telefonischen Kontaktes, durch die Terminabsprache und die ersten telefonischen Informationen. Von der ersten Minute der Therapie an kann die Therapeutin durch ihre Beziehungsgestaltung und durch Ressourcenaktivierung ihrem Klienten positive Erfahrungen ermöglichen. Dazu gibt es ein hoch interessantes Forschungsergebnis, wonach positives Umdeuten die einzige Intervention ist, die in der ersten Sitzung zu positiven Reaktionen bei Jugendlichen führt (Robbins, Alexander, Newell u. Turner, 1996) und die effektiv die negativen Interaktionen zwischen dem identifizierten Patienten und seinen Eltern unterbrechen kann (Robbins, Alexander u. Turner, 2000). Zu einer positiven Beziehungsgestaltung gehört zudem, dass die Therapeutin ihrem Klienten Hoffnung und Zuversicht im Hinblick auf das Erreichen seines Therapieziels vermittelt, gleichzeitig aber deutlich macht, dass dies harte Arbeit erfordert.

Zukunftsorientierung Einen weiteren neurobiologischen Befund möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Als systemische Therapeutinnen neigen wir dazu, unsere therapeutischen Gespräche zukunftsorientiert zu führen, um damit die Schuldfrage weitestgehend zu vermeiden und auf diese Weise unsere Therapiegespräche emotional positiv zu gestalten. Zudem glaube ich, dass Zukunftsorientierung dem Denken eines Kindes und eines Jugendlichen am ehesten entspricht. Aber das hat auch zuweilen zu dem Vorwurf der Oberflächlichkeit geführt und zu der Unterstellung, eine notwendige Bearbeitung der pathogenen Erfahrungen in der Vergangenheit würde unterbleiben. Dem widerspricht die Gehirnforschung. Denn es sind dieselben Bereiche des Gehirns, die sich mit dem Erinnern der Vergangenheit und dem Planen der Zukunft beschäftigen, wie Spitzer es in einem anderen Beitrag (2008a, S. 247) darstellt. Bittet man beispielsweise gesunde Versuchspersonen im Rahmen einer Studie mit funktioneller Bildgebung, sich

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einen vergangenen Geburtstag vorzustellen, und vergleicht die Aktivierung mit der während der Aufgabe, sich einen künftigen Geburtstag vorzustellen, so zeigt der Vergleich, dass es keinen Bereich des Gehirns gibt, der beim Erinnern der Vergangenheit aktiver ist als beim Vorstellen der Zukunft. Der umgekehrte Vergleich zeigt an manchen Stellen sogar mehr Aktivierung beim Vorstellen der Zukunft. Im Gehirn ist also Vergangenheit und Zukunft eng miteinander verknüpft, oder besser noch, letztlich durch die gleiche Hardware auf gleiche Weise repräsentiert. Einschränkend muss man sagen, dass diese Interpretation dieser Studien und wahrscheinlich auch die Studien selbst noch einer näheren Überprüfung bedürfen. Aber als einen ersten Hinweis finde ich diesen Befund doch sehr interessant.

Zweites Prinzip: Hemmung Bis zu diesem Punkt meines Beitrags stand der Prozess der Bahnung neuer neuronaler Verbindungsmuster im Zentrum der Ausführungen. Er ist sicherlich auch der bedeutendste. Ich hatte aber erwähnt, dass es noch ein zweites Prinzip gibt, um Veränderungen synaptischer Übertragungsbereitschaften anzustoßen: die Hemmung. Dazu stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Zum einen die Schwächung unerwünschter Bahnungen durch Nichtbenutzung oder aber die aktive Hemmung. Die erstere, die Schwächung durch Nicht-Benutzung, spielt – wie dargestellt – nur insofern als therapeutische Strategie eine nennenswerte Rolle, als die Therapeutin gehalten ist, eine zusätzliche Bahnung und Verstärkung durch ein möglichst seltenes Thematisieren des Problemverhaltens zu vermeiden. Sie ist aber als eigenständige therapeutische Strategie wenig geeignet, da dieser Vorgang einfach zu lange dauert. Demgegenüber bedeutsam ist die therapeutische Strategie der aktiven Hemmung synaptischer Übertragungsbereitschaften. Grundsätzlich spielt aktive Hemmung auf allen Ebenen des Nervensystems eine große Rolle. Beispielsweise wird Aufmerksamkeit erreicht, indem andere aktivierte Schaltkreise aktiv unterbrochen werden, bevor die in ihnen verarbeiteten Signale den Arbeitsspeicher erreichen. Viele Reize werden durch

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das Gehirn wahrgenommen, und diejenigen mit der höchsten motivationalen Wertigkeit werden vor anderen durch aktive Hemmung abgeschirmt. Hemmung erfolgt im Nervensystem in der Regel dadurch, dass die Weiterleitung von Signalen an bestimmten Stellen aktiv unterbunden oder aber gemindert wird. Ein weiteres Beispiel ist beispielsweise die Spastik, die sich bei einem Schlaganfallpatienten entwickelt und die als ein Mangel an Hemmung, das heißt ein Überflutetwerden mit motorischen Aktivitätsreizen, zu verstehen ist.

Angststörungen In unserer Arbeit lässt sich dieses Prinzip sehr gut bei Angstreaktionen beobachten. So konnte festgestellt werden, dass bei erfolgreich behandelten Spinnenphobikern nach Abschluss der Therapie durch die Beobachtung von Spinnen zwar kein subjektives Angstgefühl, kein Vermeidungsverhalten und auch keine autonomen Erregungsreaktionen (Herzrate und Hautleitfähigkeit) mehr ausgelöst wurden. In der Amygdala, dem Angstzentrum, trat aber immer noch dieselbe Erregung auf wie vor der Behandlung. Die Angstreaktionen waren also nicht verschwunden, die Weiterleitung der Erregung zu anderen neuronalen Schaltkreisen war jedoch gehemmt beziehungsweise unterbrochen worden. Diese Erkenntnis, dass die Amygdala ständig Angst signalisiert und dass das mediale Frontalhirn die Aufgabe hat, diese Angstsignale zu bewerten, entweder zu hemmen oder zuzulassen, ist eine Information, die ich bei Angstbehandlungen häufig meinem Klienten gebe und die meistens als hilfreich erlebt wird. Man kann daraus ableiten, dass es sinnlos ist, gegen die Angst zu kämpfen; sie kommt in jedem Fall. Sinnvoll ist es jedoch zu lernen, die Angst besser zu bewerten und nicht zu tun, was die Angst sagt. Das lässt sich dann mit unterschiedlichen Metaphern und Bildern veranschaulichen, von denen zumeist eine oder eines von dem einzelnen Klienten aufgegriffen wird und ihm plausibel erscheint. Dabei nützt es allerdings wenig, wenn man im Arbeitsspeicher »vernünftige Gedanken« erzeugt, beispielsweise: »Du brauchst

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keine Angst zu haben, die Situation ist nicht gefährlich.« Grawe (2004, S. 425) schreibt dazu: »Es sind die impliziten Situationsbewertungen, die im orbitalen PVC (Frontalhirn) automatisch erzeugt werden, die geändert werden müssen, damit die Weiterleitung der Amygdala-Erregung gehemmt wird. Implizites Lernen ist keine Frage von Einsicht, sondern von wiederholten Erfahrungen, die zeigen, dass wirklich nichts Gefährliches geschieht. [. . . ] Die Erfahrungen, die solche neuen Bewertungen bahnen, müssen mehrfach und zuverlässig gemacht werden. Erst nach genügend starker Bahnung durch reale Erfahrungen sind diese neueren Erregungsmuster, die die neuen impliziten Bewertungen repräsentieren, so gut etabliert, dass sie mehr oder weniger automatisch aktiviert werden. Erst dann ist der Hemmungsgradient stark genug, um die Weiterleitung der von der Amygdala ausgehenden Erregung zu blockieren. Um einen Hemmungsgradienten aufzubauen, muss sich die betreffende Person den Situationen aussetzen, die die Angst auslösen.« Damit der Klient bereit ist, sich solchen Situationen auszusetzen, müssen vorher – und damit komme ich auf das zuvor Gesagte zurück – positive Emotionen, Erwartungen und Ziele bei ihm aktiviert worden zu sein, die sein neuronales System in einen wenig angstbereiten Zustand gebracht haben. Der Aufbau einer positiven Therapeutin-Klient-Beziehung und Ressourcenaktivierung sind also notwendige Voraussetzungen und unerlässliche Bedingung für den Einsatz hilfreicher Methoden, hier der Anregung und Unterstützung des Klienten zur Vermeidung der Vermeidung.

Mehrpersonen-Setting Studien, die für die Arbeit im Mehrpersonen-Setting nützlich sein könnten, habe ich kaum gefunden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, steigt doch dadurch die Komplexität des Forschungsdesigns noch einmal erheblich. Eine Studie betrifft Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. In ihr haben Flor und Kolleginnen (2002) vom Mannheimer Institut für seelische Gesundheit nachgewiesen, dass diese Patienten umso stärker

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leiden, je mehr deren Lebenspartner auf die Schmerzen eingehen. Ihrer Meinung nach wurde damit zum ersten Mal gezeigt, dass ein sozialer Faktor die Reaktion des Gehirns auf Schmerzen beeinflusst. Flor hatte zwanzig Patienten mit Rückenschmerzen identifiziert, deren Ehefrauen und -männer unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Krankheit verfolgten. Die Hälfte der Partner ging auf die Beschwerden ein, indem sie beispielsweise Medikamente brachte oder eine Massage anbot. Die andere Hälfte versuchte den Partner abzulenken, etwa indem sie ihn zu einem Spaziergang ermunterte. Im Labor verglich Flor die Hirnstromkurven (EEG) beider Gruppen, während diese am Rücken mit Elektroden gereizt wurden. In Anwesenheit ihrer Partner zeigten Patienten der umsorgten Gruppe dabei fast dreimal so starke Ausschläge (in der Hirnregion des »anterioren Cingulus«) wie die Gruppe der abgelenkten Patienten. Auch durch Stöhnlaute und ähnliche Reaktionen zeigte sich die umsorgte Gruppe als erheblich »wehleidiger«. Die Unterschiede zwischen den Gruppen verschwanden allerdings, wenn die Lebenspartner sich in einem anderen Raum aufhielten.

Psychopharmakologie und Psychotherapie Bevor ich auf Forschungsbefunde zum Verhältnis von Psychotherapie und Psychopharmakologie eingehe, möchte ich eine Überzeugung hervorheben, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Psychogen und somatogen sind keine Alternativen, sondern zwei unterschiedliche Blicke auf ein und dasselbe komplexe Geschehen. Das Wort komplex soll dabei ausdrücken, dass beide Ebenen in ständiger Zirkularität eng miteinander verwoben sind und kausale Beschreibungen in aller Regel willkürliche Interpunktionen darstellen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Wenn ein Tumor im Gehirn auf bestimmte Zentren Druck ausübt oder sie als Astrocytom durchwächst, ist der biologische Blick sinnvoll und angemessen. Die relative Häufigkeit eines solchen Geschehens ist allerdings minimal. Wenn andererseits bei Kindern heute die Menarche und Ejakularche nochmals sehr viel früher eintritt und die Wissenschaft – wie Hurrelmann verschiedentlich

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hervorgehoben hat (u. a. Hurrelmann u. Bründel, 2003) – keine Erklärungen für diesen Prozess findet, wird man nach meiner Überzeugung den Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen, das »Verschwinden der Kindheit« (Postman, 1987), die frühen Medieneinflüsse und das geänderte Erwachsenenbild, also soziopsychische Faktoren, für den früheren Übergang vom Kind zum Jugendlichen und damit für die somatischen Änderungen primär verantwortlich machen. Ähnliches geschieht bei der Posttraumatischen Belastungsstörung. Was ich allerdings häufig für wissenschaftlich total naiv halte, wenn irgendwelche gerade neu aufgefundenen neurobiologischen Besonderheiten, die bei Personen mit Krankheitssymptomen gefunden werden, relativ unreflektiert als Ursache dieser Erkrankung postuliert werden. Doch zurück zur Therapie, um die es in diesem Beitrag gehen soll, und zurück zum Thema Psychopharmakologie und Psychotherapie: Psychopharmaka wirken, indem sie beispielsweise entweder die Reizleitungsgeschwindigkeit, die Produktion und Freisetzung einzelner Transmitter, deren Wiederaufnahme oder Abbaugeschwindigkeit oder die postsynaptische Weiterleitung verändern. Dabei sind drei Gesichtspunkte zu beachten: 1. Der Einsatz des Psychopharmakons kann nicht sehr gezielt erfolgen. Zudem führen der hohe Vernetzungsgrad und die wechselseitige Abhängigkeit zentralnervös ablaufender Prozesse dazu, dass jeder Eingriff eine ganze Kette von Reaktionen und Gegenreaktionen auslöst, die in ihrer Komplexität kaum zu erfassen sind. 2. Nachvollziehbarerweise wirken Psychopharmaka auf ein noch in der Entwicklung befindliches Gehirn anders als auf ein erwachsenes, und diese Altersabhängigkeit ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen ist noch schlecht erforscht. 3. Unterschätzt wird fast immer, welch hohen Einfluss die subjektive Bewertung, sei es eine positive oder negative Erwartungshaltung, darauf hat, wie ein Medikament wirkt. Deshalb sollte jeder, der Kindern und Jugendlichen – für Erwachsene gilt das allerdings nicht minder – Psychopharmaka gibt, sehr sorgfältig auf die Botschaft achten, die vom Kind oder Jugendlichen mit dieser Handlung verbunden wird.

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Hüther und Rüther (2003, S. 230 ff.) schätzen die Situation wie folgt ein: »Für die Psychopharmakologie ist die Berücksichtigung all dieser ›konfundierenden Variablen‹ zu einer neuen Herausforderung geworden, die nur sehr zögerlich angenommen wird.« Aber sie bestreiten nicht den Nutzen einer medikamentösen Behandlung, sehen sie aber eher als sekundär. Wenn es nicht gelinge, durch psychotherapeutische Behandlungen prinzipiell neue Nutzungsmuster zu etablieren und die noch vorhandenen plastischen Potenzen des Gehirns zu aktivieren, müsse versucht werden, das plastische Potenzial des Gehirns durch zusätzliche medikamentöse Behandlungen zu unterstützen beziehungsweise zu reaktivieren oder neue innere Nutzungsbedingungen zu schaffen, die zur adaptiven Modifikation und Reorganisationen der im Gehirn des betreffenden Patienten etablierten psychopathologischen Verschaltungsmuster führen. Sie favorisieren eine Psychotherapie unterstützende medikamentöse Behandlung und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass in den USA inzwischen nur noch ein Drittel aller psychiatrischen Patienten ausschließlich medikamentös behandelt würde. In einer Vielzahl von Publikationen werde auf die Bedeutung und den Nutzen psychopharmakologischer Begleitmedikationen im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen, aber auch auf die Gefahren und Risiken des Einsatzes bestimmter Psychopharmaka, beispielsweise gerade auch bei kinder- und jungendpsychiatrischen Störungen, verwiesen. Grawe (2004, S. 18 ff.) bezieht ebenfalls eine sehr eindeutige Position und schreibt: »Psychotherapie ist in vielen Fällen ohne jede medikamentöse Beeinflussung in der Lage, Änderungen im Gehirn zu bewirken, die gewünschte Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten haben. [. . . ] Aber das schließt nicht aus, dass bei manchen Störungen durch Psychotherapie allein nicht die wünschenswerten Verbesserungen erzielt werden können, wohl aber nach vorbereitender oder mit begleitender Behandlung durch die Psychopharmaka. [. . . ] Die soeben ausgeführte Logik ist jedoch nicht umkehrbar. Die Anwendung von Pharmakotherapie allein, ohne fachlich kompetente Einflussnahme auf die Erfahrungen, die der Patient unter der medikamentösen Beeinflussung macht, kann neurowissenschaftlich nicht stichhaltig begründet werden. Sie ist eine Spekulation darauf, dass

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der Patient schon irgendwie von selbst die richtigen Erfahrungen machen wird.« In diesem Zusammenhang verweist er auf die Depressionsbehandlung mit Psychopharmaka, die kurzfristig zwar recht gut wirkt, deren Ergebnisse langfristig gesehen aber nicht sehr überzeugend sind. Dasselbe gilt bekanntermaßen für ADHS diagnostizierte Kinder, deren auffälliges Verhalten nach Absetzen der Medikation zumeist in alter Stärke wieder auftritt, wenn nicht während der Zeit der medikamentösen Behandlung mit Kind und Eltern intensiv psychotherapeutisch gearbeitet wird.

Störungsbezogene neurobiologische Befunde Die störungsbezogenen Ergebnisse neurobiologischer Forschung sind nach meiner Kenntnis und Beurteilung aus kinder- und jugendtherapeutischer Sicht eher bescheiden – zumindest wenn man einmal die Befunde zur Posttraumatischen Belastungsstörung und ansatzweise auch die zur Depression ausklammert. Auf die für die Angstbehandlung nützlichen Erkenntnisse hatte ich bereits verwiesen und auf autistische Störungen werde ich später noch eingehen. Im Hinblick auf Zwangsstörungen hatten Baxter und Kollegen bereits 1992 festgestellt, dass die Glukoserate im Thalamus sich sowohl durch medikamentöse als auch durch psychotherapeutische Maßnahmen veränderte. 2008 berichten Saxena et al. (2008), dass sie bei erfolgreich über vier Wochen mit täglichen psychotherapeutischen Sitzungen behandelten Zwangspatienten eine Normalisierung des Energieverbrauchs im Thalamus, einem Zentrum, das bei Zwangskranken gewöhnlich überaktiv ist, beobachtet hätten. Dagegen sei die Aktivität rechtseitig im vorderen cingulären Kortex angestiegen. Schiepek und Kollegen (2008) berichten über entsprechende Ergebnisse, die sie in einer Studie, die von der DGSF unterstützt wurde, gefunden haben. Das Spannende an dieser Einzelstudie ist, dass der gesamte Behandlungsprozess über acht Wochen verfolgt wurde mit dem Ziel, kritische Übergangsphasen im subjektiven Erleben der Patientin, in der Symptomatik und bei den Veränderungen im Gehirn parallel zu verfolgen. Sie berichten, dass die durch tägliche

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computergestützte Befragung erfasste dynamische Komplexität zunahm, bevor es zu einer diskontinuierlichen Symptomreduktion kam. Bei der Untersuchung des Gehirns mit bildgebenden Verfahren zeigte sich daraufhin eine vergleichsweise geringere Aktivität in den Bereichen, die bei Zwangsverhalten typischerweise erregt sind. Diese Studie stand im Kontext der »Real-time-monitoring«Forschung von Günter Schiepek, mit der er sich bemüht, Psychotherapien zeitnah zu verfolgen mit dem Ziel, die kritischen Phasenübergänge im Gehirn und damit also die Stunden und Tage zu erfassen, in denen eine diskontinuierliche, gravierende Änderung der Funktionsweise durch relativ geringe therapeutische Anstöße erfolgen kann – ein Projekt, das perspektivisch für die Psychotherapie große Bedeutung haben kann und das in verschiedenen Praxisstellen, beispielsweise psychotherapeutisch arbeitenden Kliniken, bereits erprobt wurde und erprobt wird.

Lernen und Erziehung Im Folgenden möchte ich Ihnen nun noch einige Hinweis dazu geben, was uns die Neurobiologie im Hinblick auf Lernen und Erziehung lehrt. Zunächst einmal fragt man sich ja, welchen Vorteil die bereits erwähnte verzögerte Hirnentwicklung beim Menschen mit sich bringt. Manfred Spitzer würde sagen: Sie ersetzt einen guten Lehrer. Er würde dies folgendermaßen begründen: Ein guter Lehrer sorgt dafür, dass seine Schüler zunächst die einfachen Grundtatsachen erlernen, um auf diesen aufbauend in der Folge immer komplexere Sachverhalte ihnen nahe bringen zu können. Er sorgt also für systematisches Lernen. Dieser Lehrer wird beim Menschen durch ein reifendes Gehirn ersetzt, das zunächst nur in kleinen neuronalen Netzwerken einfache Strukturen repräsentieren kann; alles darüber Hinausgehende rauscht an ihm vorbei. (Im statistischen Sinne ist hohe Komplexität für ein kleines System nichts als strukturloses Rauschen.) Diese kleinen neuronalen Netzwerke werden weiter ausgebaut, sobald das Gehirn mit komplizierteren Strukturen konfrontiert wird. Und dieser Prozess schreitet fort bis zur Herausbildung einer komplexitätsentsprechenden neuronalen

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Struktur. Spitzer (2008b, S. 676) folgert daraus: »Die Gehirnentwicklung nach der Geburt ist kein Mangel, sondern eine notwendige Bedingung höherer geistiger Leistungen.« Und an anderer Stelle: »Gerade weil das Gehirn reift und gleichzeitig lernt, ist gewährleistet, dass es in der richtigen Reihenfolge lernt. Dies wiederum gewährleistet, dass es überhaupt komplexe Zusammenhänge lernen kann und auch lernt.« In diesem Prozess lässt sich dann auch leicht der Grund dafür erkennen, dass es kritische Perioden für das Lernen bestimmter Fähigkeiten, beispielsweise des Sprechens, gibt und dass Sie alle mit Ihren heutigen Gehirnen – wie die berühmten Wolfskinder – nicht in der Lage sein würden, (ohne entsprechende Vorkenntnisse) richtig sprechen zu lernen. Was aber sind gute Bedingungen für das Lernen? Dazu muss man sich klar machen, dass unser Gehirn ständig lernt. Lernen ist das Einzige, was es kann; aber das kann es gut. Lernen ist also nicht nur das, woran wir meist bei diesem Wort denken: das anstrengende, ungeliebte Büffeln von Vokabeln und sonstigem »Lernstoff«. Vielmehr sind uns die meisten Lernprozesse, die in unserem Gehirn stattfinden, überhaupt nicht bewusst. Wir haben laufen gelernt, ohne darüber nachzudenken und beispielsweise zu überlegen, wie ich welchen Fuß in welchem Augenblick heben muss. Aber wir haben etwas versucht, was vielleicht nicht klappte, und haben es auf andere Weise neu ausprobiert. So haben wir auch Sprechen und all die komplexen sprachlichen Regeln gelernt: nämlich durch Wahrnehmen und Handeln in einer für die entsprechenden Lernprozesse möglichst stimulierenden Umwelt. Einsichten spielten in diesem Prozess nur eine sehr geringe oder gar keine Rolle. Wir haben spielend gelernt; denn Spielen und Lernen ist (nicht nur) für kleine Kinder identisch. Und wir haben vor allem im Kindergartenalter gelernt, da dies neurobiologisch gesehen die bedeutendste Lernzeit des Menschen überhaupt ist. Wir haben gute Chancen zum Lernen gehabt, wenn wir in dieser Zeit viele soziale Kontakte und – wie eine Reihe von Studien zeigt – viele Gelegenheiten zum »rough-and-tumble-play«, platt übersetzt: zum Herumtoben, hatten (Spitzer, 2008c). Lernen im Kindes- und Jugendalter ist also immer ein Zusammenspiel zwischen Hirnreifung und einer Umwelt, die die in den jeweiligen kritischen Perioden wichtigen Lernanregungen

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bereithält. Und das gilt besonders auch für die Zeit der Pubertät, in der das Gehirn des Menschen, und hier – wie bereits dargestellt: insbesondere das Frontalhirn – besondere Veränderungen erfährt. Um noch einmal Manfred Spitzer zu zitieren (2008c, S. 676): »Ganz besonders wichtig werden diese Zusammenhänge bei der moralischen Entwicklung der Persönlichkeit. Werte lernen wir nicht durch Predigten, sondern durch Leben in einer Wertegemeinschaft! Und sie sind so ziemlich das schwierigste, was wir Menschen im Laufe unseres Lebens lernen. (Manche schaffen es nie!) Daher müssen Jugendliche die Gelegenheit erhalten, zu bewerten, zu entscheiden und zu handeln, im Rahmen vorgegebener Strukturen, nicht anders wie bei der Sprachentwicklung. Sie brauchen hierzu Vorbilder und Möglichkeiten des Auslebens. Daher gilt das für das Spiel von Kindern Gesagte auch für Jugendliche: Sie lernen Werte und Tugenden durch Handeln, und nur so. Hierzu müssen sie aber die Gelegenheit haben, müssen also Grenzen gesetzt bekommen und Konflikten ausgesetzt sein und die Chancen haben, richtig zu handeln, oder die Konsequenzen falschen Handelns erfahren.« Einige weitere Studienergebnisse, die sich auf Jugendliche in der Pubertät beziehen, können in der Arbeit mit Jugendlichen und ihren Eltern hilfreich sein. Vor allem MvGivern und Jay Giedd heben hervor, dass die Pubertät eine Zeit des Gehirnumbaus sei. Sie benutzen dazu gern das Bild einer Baustelle, auf der manches zeitweilig drunter und drüber geht, und setzen dies mit den manchmal irritierenden Verhaltensweisen von Jugendlichen in Zusammenhang. Wenn das sehr populärwissenschaftlich geschieht, wie beispielsweise in dem inzwischen schon recht bekannten Buch von Barbara Strauch »Warum sie so seltsam sind« (2004), geht mir das persönlich zu weit. Aber beispielsweise eine Studie von McGivern (nach Spitzer, 2008c) scheint mir doch interessant, die der Autor dahingehend interpretiert, dass es zu Beginn der Pubertät oft zu einem Absinken der kognitiven Leistungsfähigkeit vor allem aufgrund einer Verlangsamung der Reaktionszeiten kommt. Vielleicht können wir mit einem solchen Hinweis manche beunruhigte Eltern und auch Jugendliche selbst beruhigen und eine Erwartung auf eine positive Änderung gegen Ende der Hirnumbauzeit des Jugendlichen begründen.

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Forschungsergebnisse zu Spiegelneuronen Zum Abschluss noch die Frage, was aus den Forschungsergebnissen zu den Spiegelneuronen für die Kinder- und Jugendlichentherapie zu lernen ist. Ich hatte bereits darauf hingewiesen: Menschen lernen durch Wahrnehmen und Handeln. Das führt zwangsläufig dazu, über die Bedeutung der Spiegelneuronen zu sprechen. Vittorio Gallese, einer der Entdecker der Spiegelneuronen, sagte dazu in einem Interview (2008): »Kein Geschöpf imitiert so viel und so mühelos wie der Mensch. Entsprechend haben wir weit mehr Spiegelneuronen als alle anderen Tiere. Ein Schimpanse muss fünf Jahre lang zusehen, bis er selbst eine Nuss aufbrechen kann, indem er einen Stein als Hammer und einen anderen als Amboss gebraucht. Ein Kleinkind lernt das in ein paar Minuten.« Das Netz der Spiegelneurone ist ein weit verzweigtes System von speziellen Nervenzellen in unserem Gehirn. Diese Nervenzellen werden durch die Gegenwart anderer Menschen aktiviert und rufen sozusagen spiegelbildlich die Gefühle oder Körperzustände des anderen in uns wach. Spiegelneurone sind somit die neurobiologische Basis für unser intuitives Wissen und das Verständnis dessen, was andere Menschen fühlen. Sie melden uns, was Menschen in unserer Nähe erleben, und lassen uns deren Freude oder Schmerz mitempfinden. Deshalb ist Lachen so ansteckend, umgekehrt aber auch eine gedrückte Stimmung. Schon sehr früh imitieren Babys Gestik und Mimik der Eltern. Das Gesicht von Vater und Mutter ist – vom Blinzeln bis zum Grimassen schneiden – wie ein Spiegel für die Verhaltensweisen des Kindes. Die Forscher nennen dieses Verhalten, das in jedem von uns verankert ist, Resonanzverhalten. Und auch hier erfolgt Lernen durch Wahrnehmen und Handeln. Interessanterweise werden nun beim Wahrnehmen die gleichen Erregungsmuster ausgelöst wie bei der aktiven Handlung selbst. Deshalb verziehen wir das Gesicht, wenn einem anderen Schmerz zugefügt wird. Und deshalb können Schlaganfallpatienten mit Lähmungen an den Extremitäten ganz offensichtlich durch Beobachten von Arm- oder Beinbewegungen das Wiedererlernen von verlorenen Fertigkeiten beschleunigen. Spiegelneuronen sind aber vor allem deshalb wichtig, weil sie

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uns Einfühlung ermöglichen. Sie spiegeln das, was der andere tut, und mit ihrer Hilfe empfinden wir die Absichten unseres Gegenübers, als ob es die eigenen wären. Es ist also nicht so, wie man bisher gedacht hatte, dass ein Kind zunächst sich selbst verstehen muss, bevor es die Absichten des anderen begreifen kann. Der Mechanismus der Spiegelneuronen bietet vielmehr einen direkten Zugang zu der Innenwelt der anderen. Das ist Kindern, die sich autistisch zeigen, offensichtlich nicht möglich. Vittorio Gallese sagt dazu in dem genannten Interview: »Sie [die Autisten] können sich nicht einfühlen. Darum müssen sie stets überlegen, was in ihrem Gegenüber wohl vorgehen mag – das ist anstrengend und geht allzu oft schief. Wir haben Hinweise darauf, dass bei Autisten der Spiegelmechanismus gestört ist. Wenn ein gesundes Kind Ihnen etwa zusieht, wie Sie Erdbeeren essen, wird automatisch auch bei ihm jedes Mal die Mundmuskulatur aktiviert, sobald sich eine Frucht Ihrem Gesicht nähert. Bei einem autistischen Kind ist das nicht so. Folglich haben solche Kinder auch ungewöhnliche Schwierigkeiten damit, Bewegungsabläufe zu lernen.« Und auf die Frage, ob man Einfühlungsvermögen trainieren könne, antwortete er: »Ein Schlüssel dazu liegt wahrscheinlich im Verbessern des Körperempfindens. Wir versuchen gerade herauszufinden, ob man Menschen mit autistischen Störungen so helfen kann: Tanzen, Schauspielen, auch Musikmachen können dazu beitragen, dass sich die motorischen Fähigkeiten und damit auch das Einfühlungsvermögen verbessern. Zudem haben wir gerade Experimente begonnen, um zu erfahren, wie es bei Autisten um den Sinn für Berührungen steht.« Dies ist insofern naheliegend, als das italienische Forscherteam vor kurzem entdeckte, dass auch fremde Empfindungen im Gehirn nachgespielt werden. Wenn also eine Person sieht, wie jemand gestreichelt wird, kommt es in ihrem Kopf zu Aktivitäten, als würde sie selbst die Massage empfangen – eben weil beim Menschen auch die Hirnareale, die für Berührungen zuständig sind, mit Spiegelneuronen versehen sind. Insofern gibt es tatsächlich so etwas wie Mitleid – allerdings in Grenzen. Denn wenn das Gehirn keine Schmerzsignale aus dem eigenen Körper empfängt, schließt es daraus: Das ist nicht mein Problem, und die Empfindung wird gehemmt beziehungsweise gedämpft. Es

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gibt also einen Unterschied zwischen Einfühlung und Mitgefühl: Eine Person kann sozusagen in die Haut des anderen schlüpfen, kann sich intuitiv und eben nicht nur gedanklich in ihn hineinversetzen, muss aber trotzdem nicht alle Empfindungen des anderen teilen. Das ist Einfühlung. Wenn eine Person auch noch die Gefühle des anderen erlebt, hat sie Mitgefühl. Als beunruhigend erlebt Vittorio Gallese auf der Basis dieser Beobachtungen das Vordringen der virtuellen Welt, da es für das Einfühlungsvermögen keineswegs gleichgültig sei, ob man einem anderen Menschen nur auf dem Computer oder leibhaftig Auge in Auge begegne. Welche Auswirkungen das auf die sozialen und geistigen Fähigkeiten habe, sei zurzeit noch zu wenig untersucht. Und er resümiert: »Wie wir heute wissen, beruht unser gesamtes Denken und Fühlen darauf, dass wir die Körper anderer Menschen beobachten, dass wir Dinge anfassen und sie manipulieren. Auch häufen sich die Hinweise darauf, dass wir solchen motorischen Fertigkeiten sogar das Sprachvermögen verdanken. Unser Geist existiert nur in der körperlichen Welt.« Das erinnert an die bereits referierte Bedeutung des »rough-and-tumble-play« im Kindergartenalter. Wahrscheinlich können wir nicht genug tun, um Kindern und Jugendlichen Gelegenheiten zu vermitteln, hinreichend körperliche Erfahrungen zu machen. Das bloße Wahrnehmen beim Sitzen vor dem Fernseher reicht sicherlich nicht aus. Für Joachim Bauer (http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen) ist die Zeit reif, um erste Schlüsse aus der Spiegelneuronenforschung auch für die Psychotherapie zu ziehen. Zum Beispiel könne der Therapeut seine Fähigkeit, andere zu spiegeln, Patienten zur Verfügung stellen, die nur schwer Gefühle empfinden können. Das hieße beispielsweise, dass man bestimmte körperliche Zeichen für Emotionen mit den Patienten im Sinne einer Imitationsübung einübt, weil wir durch neurobiologische Studien wissen, dass das Imitieren eines emotionalen Zustandes tatsächlich die Emotionszentren in den Partien, in denen Emotionen hergestellt und reguliert werden, aktiviert. Imitation könne dadurch mehr sein als eine rein oberflächliche Als-ob-Show. Vielmehr könne durch psychotherapeutisch angeleitete Imitation letztlich auch das Gefühl entstehen, das ich zunächst nur imitiert habe. Zuweilen gelingt etwas Ähnliches in meinen Therapien, wenn ich einen Jugendlichen anleite, seine

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Gute-Zustands-Phantasie nach der Wunderfrage konkret zu spielen, wenn ich ihn beispielsweise auffordere, sein Sich-gutFühlen am Morgen nach dem Wirken der guten Fee mimisch, durch seine Körperhaltung und seinen Gang, durch den Klang seiner Stimme beim Guten-Morgen-Sagen etc. zu spielen.

Persönliches Fazit Auch wenn die konkrete Nutzung neurobiologischer Erkenntnisse in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen nach meiner Wahrnehmung noch ganz am Anfang steht – das Thema der Therapie mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen habe ich hier, wie gesagt, bewusst ausgeklammert –, so hat sich mein psychotherapeutisches Arbeiten doch durchaus bereits geändert: Ich achte beispielsweise sehr viel aufmerksamer auf die Aktivierung positiver emotionaler Zustände und auf die schon frühe Vermittlung positiver, Zuversicht generierender Erfahrungen. Zudem nutze ich – wie zur Angstbehandlung dargestellt – neurobiologische Erkenntnisse, um vor allem Jugendlichen den Sinn meines Vorgehens plausibel zu machen. Neben der Traumatherapie gibt es noch viele Themen, die durch die neurobiologische Forschung angestoßen wurden und die die Therapie mit Kindern und Jugendlichen zumindest berühren: beispielsweise die Frage nach der Willensfreiheit und die Berechtigung eines Schuldstrafrechts – eine Diskussion, die ich ungemein spannend finde und die meiner Wahrnehmung nach außerordentlich vorurteilsbehaftet geführt wird. Es bleibt also noch genug zu tun.

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Die Bedeutung der Neurobiologie für die Kinder und Jugendlichentherapie 147

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Alexander Korittko

Neurobiologische Ansätze und heilende Interaktionen: Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien

Live is not a matter of holding good cards, but of playing a poor hand well. (Robert Louis Stevenson)

Einleitung Seit Anfang der 1990er Jahre – angeregt durch Gespräche mit US-amerikanischen Kollegen und durch Artikel aus amerikanischen und englischen Fachzeitschriften – hat mich die Frage beschäftigt, inwieweit das damals neue Konzept der Verarbeitung von traumatischem Stress und der Entstehung von Trauma-Folgestörungen (PTSD) bei Individuen auch interaktionelle Aspekte berücksichtigt (Korittko, 1993). Wenn Menschen anderen Menschen etwas antun, das wir dann Trauma nennen, müssten doch andererseits auch Beziehungen zu Menschen heilend auf das traumatisierte Individuum einwirken können. Doch wie können Therapeuten heilende Beziehungen fördern? Mit den Erkenntnissen der Neurobiologie über den Einfluss der Umweltbedingungen auf die Entwicklung des Babys im Mutterleib (u. a. bei Hüther u. Krens, 2005) und die Auswirkungen von Beziehungserfahrungen auf das Gehirn des Neugeborenen von Anfang an (Perry et al., 1995; Hüther, 1997; Schore, 2007) bekamen wir einen tiefen Einblick in das Zusammenwirken zwischen fördernden beziehungsweise einschränkenden Außenbedingungen auf die Entwicklung des Gehirns und seine nutzungsbedingte Strukturierung. Die Ergebnisse der Bindungsforschung (u. a. Brisch u. Hellbrügge, 2003, 2006) geben Aufschluss darüber, welche Form von Unterstützung und Anregung Kinder benötigen, damit sich ihrer Potenziale entfalten können. Auch frühe

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Neurobiologische Ansätze und heilende Interaktionen

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ungünstige Erfahrungen haben weit reichenden Einfluss auf alle Bereiche der psychischen, sozialen und intellektuellen Entwicklung eines Kindes. Unangemessene soziale Resonanz oder soziale Isolation führen zur dauerhaften Nutzung von Stressregulation. Wie es in der Praxis einer Beratungsstelle möglich ist, die Erkenntnisse aus den drei Bereichen Psychotraumatologie, Neurobiologie und Bindungstheorie zu handlungsleitenden Konzepten zu verknüpfen, möchte ich im Folgenden an meiner Arbeit mit Pflegekindern verdeutlichen. Eines Morgens bekam ich einen Anruf vom Allgemeinen Sozialen Dienst. Ein zehn Wochen altes Mädchen, nennen wir sie Natalie1, wurde vor einigen Tagen von den Eltern ins Krankenhaus gebracht. Dort sind von den Ärzten eindeutige Zeichen eines Schütteltraumas festgestellt worden: bifrontale Hygrome (flüssigkeitsgefüllte Räume in den vorderen Bereichen des Schädels) und multiple Rippenfrakturen nach Kindesmisshandlung. Natalie erlitt starke Krampfanfälle, die nachließen, als durch Drainagen das blutige Hirnwasser abgeleitet wurde. Auch der später eingeschaltete Gutachter ging davon aus, dass die erhobenen Befunde für ein massives Schütteltrauma mit lebensbedrohlichen Folgen sprachen. Die Eltern konnten keine Erklärung dafür finden und sagten, dass nur sie allein das Baby versorgt hatten und es nie geschüttelt hätten. Da sie einer Unterbringung ihres Kindes in einer Pflegefamilie nicht zustimmten, wurde ihnen das Sorgerecht per Gerichtsbeschluss entzogen. Natalie wurde nach erfolgter Klinik-Behandlung in einer Pflegefamilie untergebracht. Nun begannen jedoch die Probleme, mit denen Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe immer dann zu tun haben, wenn ein Kind zwar äußerlich sicher ist, die misshandelnden leiblichen Eltern aber ihr Recht auf Kontakt zum Kind durchsetzen, ohne dass sie ihr eigenes Verhalten kritisch hinterfragt oder geändert haben. Die Fragestellung an mich lautete: Wie können die Eltern den Kontakt zu Natalie so gestalten, dass es für die weitere Entwicklung des Kindes förderlich ist? Natalie zeigte in der Bereitschaftspflege zunächst äußerst geringe motorische Lebendigkeit, Ablehnung von Körperkontakt, Vermeidung von Augenkontakt und Ausbleiben von alters angemessenen Zeichen bei Unbehagen (leises Jammern und Räuspern anstelle von Schreien). Besonders fiel sie durch körperliche Anspannung beim Trinken aus der Flasche (Durchbiegen der Wirbelsäule, Schlagen mit dem Kopf) und durch schreckensgeweitete Augen und »hysterisches« Schreien beim Wickeln auf. 1

Namen geändert.

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Alexander Korittko

Ansonsten lag sie auf ihrer Decke und machte einen teilnahmslosen Eindruck.

Ein solches Verhalten ist von Babys bekannt, die in ihrer bisherigen Entwicklung nicht gelernt haben, dass ihre Schreie bei leichtem und größerem Stress (Hunger, Bedürfnis nach Nähe, Störungen im Bedürfnis nach Kontakt und Fürsorge) zu dem gewünschten Erfolg geführt haben und von traumatisierten Babys, die lebensgefährliche Situationen bewältigen mussten. Kleinen Menschen stehen in solchen Situationen ausschließlich die Notfall-Reaktionen des Körpers zur Verfügung, die unter »Kampf und Flucht« oder »Dissoziation« bekannt sind. Entweder kann sich das Kind aus der bedrohlichen Situation durch Strampeln und andere körperliche Aktionen befreien (Kampf/Flucht) oder es unterwirft sich der Situation, schaltet aber seine Wahrnehmung für Unlustgefühle und Schmerz ab (Dissoziation). Muss ein Kind diese Notfall-Reaktionen häufig nutzen, werden sie so sehr ein fester Bestandteil seines Verhaltensrepertoires, dass sie auch angewendet werden, wenn die lebensgefährliche Situation nicht mehr besteht. Die von Natalie gezeigte körperliche Unbeweglichkeit und Teilnahmslosigkeit deutet auf Dissoziation hin, die körperliche Anspannung, das Schlagen mit dem Kopf, die geweiteten Augen und die Ablehnung von Körperkontakt können als Anzeichen von Kampf und Flucht gewertet werden. Alle drei Reaktionsweisen lassen vermuten, dass Natalie bis zum damaligen Zeitpunkt nicht erlebt hatte, dass andere Menschen angemessen feinfühlig auf ihre Bedürfnisse eingehen konnten. Ihre Angst-Vergangenheit springt in die Gegenwart.

Das Fenster der Toleranz Wenn ein Mensch zur Welt kommt, ist er schon mit den beiden grundsätzlichen Systemen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, mit Stress umzugehen: Sympathikus und Parasympathikus. Gerät ein Baby in eine Situation, in der es den erlebten Stress nicht allein bewältigen kann – liegt dieser Stress also außerhalb des so genannten »Fensters der Toleranz« (nach Odgen u. Milton, 2000), gerät es in Übererregung und das System des

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Sympathikus wird aktiviert. Wir merken das von außen ganz schnell, denn dann schreit das Baby, spannt die Muskeln an und schlägt unter Umständen um sich. Die Natur hat das Baby mit einer schrillen Stimme ausgestattet, mit der es auf seine Gefühle von Unbehaglichkeit aufmerksam machen kann. Diese schrille Stimme wirkt auf die meisten Menschen unangenehm, d. h. wir gehen schnell zum Kind und versuchen, die Signale des Babys richtig zu deuten: Hunger, Bedürfnis nach Nähe, Schmerz oder Angst. Wenn ein liebevoller Erwachsener die Bedürfnisse des Kindes richtig erkannt hat und auf angemessene Weise Abhilfe geschaffen hat, beruhigt sich das Kind, Sympathikus hat seine Aufgabe erfüllt. Je häufiger das Kind angemessen versorgt wird, umso mehr kann es seiner eigenen Kompetenz vertrauen (sich Hilfe holen zu können) und der Kompetenz anderer Menschen. Es wird auch Vertrauen und Geduld entwickeln und dadurch das eigene »Fenster der Toleranz« nach und nach erweitern können. Geschieht dies aber nicht, wird das Kind nicht angemessen versorgt, steigert der Sympathikus zunächst die Übererregung: das Schreien wird lauter, die Muskeln spannen sich noch stärker an, der Blutdruck steigt, der kleine Körper ist in höchster Kampfoder Fluchtbereitschaft. Da jedoch die Kampf- und Fluchtmöglichkeiten des kleinen Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen äußerst gering sind – der Mensch ist ein »Nesthocker« –, muss das Baby davor geschützt werden, seine Erregung unangemessen zu steigern und den Körper möglicherweise durch einen Kollaps zu überlasten. Diese wichtige Schutzfunktion erfüllt der Parasympathikus: Dieses System sorgt für eine Beruhigung des übererregten Körpers und führt nach einer Erschöpfung in die körperliche Untererregung: die Herzfrequenz wird geringer, die Haut färbt sich bleich, die Muskeln erschlaffen, der Blick verliert seine Aufmerksamkeit. Der kleine Mensch wirkt wie abgeschaltet, oft folgt der Schlaf der Erschöpfung. Dieser Zustand von Dissoziation stellt keine angemessene Form der Beruhigung dar, sondern kann mit der peri-traumatischen Dissoziation bei Erwachsenen verglichen werden. Die Wahrnehmung nach innen und nach außen ist nahezu erloschen. Wird ein Kind über längere Zeiträume wiederholt vernachlässigt, misshandelt oder überfordert, ist es gezwungen, die Systeme Sympathikus und

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Parasympathikus immer wieder zu aktivieren. Es gewinnt also kein Vertrauen in die eigene Kompetenz und in die der anderen Menschen. Kann ein Kind keine Zuversicht und Geduld entwickeln, verkleinert sich das »Fenster der Toleranz« und das heranwachsende Kind kennt hauptsächlich zwei innere Zustände: entweder hoch erregt oder untererregt, Kampf bzw. Flucht oder Abschalten (Dissoziation). Es bewegt sich in seinen Erlebnisund Emotionswelten ausschließlich zwischen zwei Extremen hin und her, es hat nicht lernen können, mit Gefühlen anders umzugehen und auftretende Affekte anders zu regulieren. Aus Gefühlen werden Charaktereigenschaften. Der texanische Trauma-Experte Bruce Perry schreibt, dass ein Baby in Panik gerät und in die Innenwelt der Dissoziation flieht, wenn es immer wieder in seiner Bedürftigkeit enttäuscht wird oder ihm noch zusätzlich Schmerz zugefügt wird. Diese Abspaltung des Schmerzes und der Außenwelt ist mit der Ausschüttung von körpereigenen Glückshormonen (Endorphinen) verbunden. Der innere Rückzug fühlt sich gut an und wird dann auch in weitaus weniger bedrohlichen Situationen aktiviert (Perry et al., 1995). Bei in der Kindheit traumatisierten Jugendlichen und Erwachsenen nehmen wir manchmal eine Umkehr dessen wahr, was die meisten Menschen als angenehm bewerten. Sie suchen die Einsamkeit, weil Menschen ihnen Angst machen. Und sie suchen den Schmerz, weil die damit verbundene Endorphinkaskade gute Gefühle bereitet. Zurück zu Natalies Geschichte: Nach einem Monat in der Pflegefamilie hatte sie ihre Verhaltensmuster erweitert. Sie hatte mit der Bereitschaftspflegemutter gelernt, ruhig und gelassen ihre Flasche zu trinken. Dies gelang durch geduldiges Einstellen auf den Rhythmus von Natalie, die mit der Zeit immer weniger Entspannungspausen während der Nahrungsaufnahme benötigte. Auch ihr teilnahmeloser Zustand auf der Babydecke hatte sich verändert. Sie beteiligte sich am Familienleben altersentsprechend und nahm auch mit den anderen Familienmitgliedern Kontakt auf. Sie wurde als freundlich, aufgeschlossen, bewegungsfreudig, wach und interessiert beschrieben. Sie weinte bei Unwohlsein und Hunger. Sie benötigte allerdings beim Trinken eine absolut ruhige Situation und die ihr mittlerweile bekannte Umgebung in der Wohnung der Pflegeeltern.

Hat ein Kind über lange Zeit die oben beschriebenen Notfall-

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Reaktionen anwenden müssen, dauert es lange Zeit, bevor es andere, »Nicht-Notfall-Reaktionen« in sein Verhaltensrepertoire aufnehmen kann. Wenn dies durch Geduld und Einfühlsamkeit der Pflegepersonen gelingt, bleiben trotzdem die vorher intensiver genutzten Reaktionen schneller abrufbar als die neuen Verhaltensweisen, besonders wenn ein Anblick, ein Geruch, ein Geräusch, eine Form des Hautkontaktes an die frühere lebensgefährliche Situation erinnert. Dieses »Erinnern« findet in Hirnregionen statt, die schon lange aktiv sind (limbisches System), lange bevor das bewusste Erinnerungsvermögen des Gehirns (Neokortex) mit etwa drei Jahren ausgereift ist. Aus diesem Zusammenhang ist zu erklären, dass Natalie bei den Kontakten mit den Eltern im Jugendamt, besonders mit der Mutter, schnell wieder in alte Verhaltensweisen zurückfiel. Sie bog beim Trinken auf dem Schoß der Mutter erneut ihren Rücken durch und verweigert die Nahrungsaufnahme. Die Mutter, eingeschränkt durch eine extreme Sehschwäche, nahm daraufhin noch intensiver mit Natalie Kontakt auf, redete ständig auf sie ein und ließ ihr keinen Bewegungsspielraum. Das Verhalten der Mutter stellte für das Kind eine nicht zu bewältigende Überstimulierung dar, die letztendlich die Gefahr in sich barg, dass Natalie wieder häufiger auf die beschriebenen Notfall-Reaktionen zurückgreifen musste: Kampf und Flucht – wenn das nicht zum Erfolg führt: Dissoziation. Nach den Kontakten war sie völlig erschöpft; ein Zeichen dafür, welch gewaltige Anstrengung sie bei den Kontakten unternehmen musste.

Kinder, die sich in der frühen Kindheit so verhalten mussten, um mit überwältigendem Stress umzugehen, fallen später durch eine extrem leichte Erregbarkeit auf – sie schreien und schlagen auch bei leichtem Stress um sich – oder durch schnelles »Abschalten«: Sie lassen scheinbar ohne emotionale Anteilnahme alles mit sich geschehen und verlieren den Kontakt zu sich selbst und ihren Mitmenschen. Daher war für die Besuchskontakte dringend erforderlich, dass die Mutter in ihrem Bedürfnis nach ununterbrochener Nähe und Kontrolle gegenüber Natalie gestoppt wurde und dem Kind ähnlichen Freiraum gab, wie ihn der Vater nach Berichten der Begleitpersonen ermöglichte. Natalie benötigte eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Feinfühligkeit, die es ihr erlaubt, in einem Wechseln von freundlicher Kontaktaufnahme und aus der Ferne begleiteter selbständiger Erkundung der Umwelt eine Balance

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zwischen Geborgenheit und eigener Kompetenz zu entwickeln, die Grundlage für die weitere psychische Gesundheit sind, wie aus der Bindungsforschung bekannt ist. Es war dabei von großer Bedeutung, dass die Mutter auch trotz ihrer starken Sehschwäche lernte, eine Distanz zwischen ihr und ihrer Tochter zu ermöglichen. Hier konnte sie vom Vater lernen, der ebenfalls in seinen visuellen Fähigkeiten extrem eingeschränkt war, aber sensibler mit Natalie umging.

Trauma und Bindungsstörungen Der Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch zeigt die zwischenmenschlichen sehr spezifischen Interaktionselemente auf, die eine sichere Bindungsbeziehung fördern. Die frühe ElternKind-Beziehung ist hochsensibel. Von Moment zu Moment werden in der gemeinsamen Interaktion Bewegungen, Blicke und Laute aufeinander abgestimmt und beeinflussen sich gegenseitig. Die Babys ahmen nicht nur nach, sondern sie nehmen auch aktiv am Dialog teil und wirken auf das elterliche Verhalten ein. Auf der Seite der Eltern ist es erforderlich, dass die Handlungen des Erwachsenen in einem stetigen Wechsel mit Sprache über diese Handlungen stattfinden, anstelle von gleichzeitigem Sprechen und Handeln oder absolut unbezogenem Sprechen und Handeln. Dabei muss die Mutter, der Vater oder eine andere Pflegeperson die Signale des Säuglings wahrnehmen, richtig interpretieren, angemessen und prompt darauf reagieren. So entsteht ein »Tanz« mit aktiven Phasen und Pausen, mit wechselseitig sich beeinflussenden Interaktionen, mit Blickkontakt und Berührung, mit Benennen von eigenen Gefühlen und denen des Kindes und mit dem Herstellen von Zusammenhängen zwischen Handlungen und Gefühlen. All dieses bildet die Basis für eine sichere Bindung und für eine gesunde Entwicklung des Kindes. Ergänzend gehört die angemessene Unterstützung bei der Erforschung der Umwelt und bei effektiven Abschlüssen von eigenen Aktivitäten dazu (Brisch u. Hellbrügge 2003, 2006; Brisch, 2006a, 2008). Erwachsene, die nicht in der Lage sind, bei der Gestaltung dieses »Tanzes« feinfühlig ihren Teil zu übernehmen, haben selbst keine sicheren Bindungserfahrungen erleben dürfen oder

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stehen aktuell unter dem Einfluss ungelöster Traumata. Das können eigene lebensbedrohliche Erlebnisse sein, wie z. B. eine problematische Geburt, ein Unfall, schwere Erkrankungen oder der plötzliche Tod eines geliebten Menschen, aber auch schwerwiegende Gewalterlebnisse wie z. B. in einem Bürgerkrieg, sexuelle Gewalt oder eigene Traumatisierung in der Kindheit. Erwachsene, die vor diesem Hintergrund eine Bindungsstörung entwickelt haben, leiden unter einer mangelnder Beziehungsfähigkeit, zeigen weniger pro-soziales Verhalten in Konfliktsituationen und hochgradige Verhaltensstörungen in bindungsrelevanten Situationen, bis hin zu Misshandlung und Vernachlässigung der eigenen Kinder. Sie geben ihre Bindungsstörungen an die nächste Generation weiter (Pleyer, 2004; Brisch, 2006a,) Gelingt es, ein Kind vor Bedrohungen in seinem häuslichen Umfeld zu schützen, kann dieses Muster unterbrochen werden. In einem anderen Fall, in dem ein von den Eltern misshandeltes Baby von den Eltern täglich im Krankenhaus besucht, aus dem Kinderbett genommen und herumgetragen wurde, verhielt sich das Kind nach den Kontakten mit den Eltern so unruhig, dass sich die Kinderkrankenschwestern fragten, ob das Kind vielleicht unter einer hirnorganischen Störung leide. Auf meine Anregung verabredete die Sozialarbeiterin, die Vormund des Kindes war, mit den behandelnden Ärzten, den Krankenschwestern und den Eltern folgende Prozedur: Das Kind sollte auf dem Schoß der Krankenschwester sitzen, die es als »sichere« Person akzeptiert hatte, die Eltern sollten keinen körperlichen Kontakt mit dem Kind aufnehmen und ca. einen halben Meter vom Kind entfernt sitzen. Sobald das Kind Anzeichen von körperlichem Stress zeigen würde (z. B. erhöhter Blutdruck, dauerhafte Anspannung der Muskeln, Wegdrehen des Kopfes) oder Dissoziation (leerer Blick, bleiche Haut, keine Reaktion auf Beziehungsangebote) sollte der Kontakt mit den Eltern beendet werden. Schon bei dem zweiten auf diese Weise durchgeführten Besuch der Eltern verhielt sich das Kind auch danach ruhig und ausgeglichen.

Was war geschehen? Wenn Kinder erlebt haben, dass Menschen, die ihnen Sicherheit bieten sollen, meist die Eltern, nicht zuverlässig für sie zur Verfügung stehen, bzw. ihnen sogar Schmerzen zufügen, geraten sie in eine schwer erträgliche Ambivalenz. Einerseits zeigen sie aus Angst, allein zu sein, Anzeichen von Sehnsucht nach Kontakten zu ihren Bezugspersonen, andererseits vermeiden sie aus Angst vor weiteren Misshandlungen den

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Kontakt. So ist bei diesem Kind zu vermuten, dass es zunächst Freude über den Besuch der Eltern entwickelte, dann aber durch die Stimmen, den Geruch die Berührungen ebenso an die Misshandlungen erinnert wurde und in einen dauerhaften Zustand von Alarmbereitschaft geriet, der auch noch nach dem Besuch der Eltern anhielt. So funktioniert unser Gehirn: Reaktionen, die häufig genutzt werden, sind so sehr in das sich entwickelnde Gehirn »eingebrannt«, dass auch kleine Auslösereize genügen, um exakt das gleiche Verhaltensmuster auszulösen. Der Hirnforscher Gerald Hüther spricht von der nutzungsbedingten Strukturierung des Gehirnes. Er verwendet das Bild von »Fahrstuhlschächten«, von durch häufige Nutzung in extremer Angst vertikal gebahnter Neuronen-Verbindungen, die bei erneut auftretender Angst vom Kortex (Erkennen von Angst machenden Situationen) über das limbische System (Aktivieren von StressReaktionen) direkt zum Stammhirn (körperliche Regulierung von Stress) führen und damit die Notfallschaltungen des Gehirns als leicht verfügbare Dauerfunktion festlegen (Hüther, 1997; Hüther, Besser, Korittko u. Wolfrum, 2008). Doch je kleiner die Kinder sind und je schneller sie aus dem Misshandlungs- oder Vernachlässigungsumfeld herausgenommen werden, umso schneller kann das junge Gehirn den gebahnten »Fahrstuhlschacht« auch wieder auflösen. Dazu ist zunächst eine äußerlich sichere Umgebung notwendig und ein Umfeld, in dem das Kind nicht dazu gereizt wird, erneut die Notfallschaltung des Gehirns zu nutzen. Dies war offensichtlich dadurch gelungen, dass das Kind auf dem »sicheren« Schoß saß, die körperlichen Berührungen der Eltern extrem reduziert wurden und auf die körperlichen Signale des Babys geachtet wurde. Erst wenn ein Kind äußere Sicherheit als dauerhaften Schutz von Misshandlung, Vernachlässigung oder Überstimulierung erlebt, kann es auch eine innere Sicherheit entwickeln, die die Grundlage einer »sicheren Bindung« darstellt. Ab dem sechsten Lebensmonat (ungefähr bis zum 18. Lebensmonat) entwickeln Kinder mehr und mehr ein so genanntes inneres Bindungsmodell. Dieses auch mit »Internal Working Model« bezeichnete Modell besteht aus der Summe der Erfahrungen des kleinen Menschen darüber, mit wie viel eigener Kompetenz und mit wie viel Vertrauen in andere Menschen

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das Leben zu gestalten sei. Besonders in dieser Zeit benötigen Kinder ausreichend feinfühlige Bezugspersonen, die auf die ausgedrückten Bedürfnisse des Kindes nach emotionaler Nähe einerseits und Exploration der Umwelt andererseits gerade so viel unterstützende und anregende Angebote machen, dass das Kind Vertrauen in die eigene Kompetenz gewinnt und gleichzeitig sicher sein kann, bei Bedarf auf körperliche und emotionale Nähe zurück greifen zu können. Ein absolutes »In-Ruhe-Lassen« des Kindes ist mit Vernachlässigung gleichzusetzen, ein »Überschütten« mit verbalen und handlungsorientierten Angeboten stellt für Kinder einen nicht zu bewältigenden Stress dar. Zum Dritten ist es ein guter Kontext für die Entwicklung einer »sicheren Bindung«, wenn das Kind in dieser Zeit kontinuierlich einen Großteil des Tages von einer Bezugsperson begleitet und gefördert wird (Brisch, 2008). Natalie brauchte also nicht nur die sichere Umgebung in der Pflegefamilie, sondern auch eine zügige Entscheidung darüber, wo sie zwischen ihrem ersten halben Jahr und eineinhalb Jahren leben sollte. Alle Beteiligten waren damit einverstanden, als die Bereitschaftspflegemutter erklärte, sie würde Natalie auch als Dauerpflegekind nehmen. Die Kontakte mit den Eltern wurden von ursprünglich zwei Mal pro Woche auf einen Kontakt pro Woche reduziert. Natalie entwickelte sich zu einem lebendigen und relativ ausgeglichenem Kind. Das Essen bereitete ihr nach wie vor Probleme. Sie benötigte direkt nach den Mahlzeiten sehr viel Bewegung, um innere Spannungen abzubauen, die sich offensichtlich immer noch in Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme einstellten. Dieser »Fahrstuhlschacht« (»Essen und Trinken kann gefährlich werden: Notfallschaltungen aktivieren«) lässt vermuten, dass die Misshandlung, die das Schütteltrauma zur Folge hatte, im Kontext von Essen und Trinken entstanden ist.

Die Trauma-Erzählgeschichte Manchmal ist es schwer, herauszufinden, warum ein Kind erhöhte Stress-Reaktionen zeigt. Da wir wissen, dass in Alltagssituationen so genannte »Trigger«, ereignisähnliche Reize, den Menschen wieder in die traumatische Situation zurückführen, könnte man davon ausgehen, dass wir den Kindern helfen, wenn sie diesen Auslösereizen nicht mehr ausgesetzt sind. Hier läge

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zum Beispiel die Idee nahe, dass misshandelte Kinder nicht häufig und intensiv Kontakt zu ihren Misshandlern haben sollten. Die beiden obigen Beispiele zeigen jedoch, dass dies nicht immer möglich ist. Andererseits gibt es Auslösereize, die so sehr Teil des Alltags von Kindern sind, dass man sie nicht vermeiden kann, wie zum Beispiel »Essen« oder »Anziehen«. In einem anderen Fall »flippte« die 5-jährige Lena »aus«, wenn die Pflegemutter mit ihr U-Bahn fahren wollte. Es bedurfte intensiver Nachforschungen, bis klar wurde, dass das Mädchen in ihrem ersten Lebensjahr mit der leiblichen heroinabhängigen Mutter monatelang in U-Bahn-Stationen verbracht hatte, weil die Wohnung wegen des gewalttätigen Vaters für Mutter und Kind zu unsicher geworden war und weil die Mutter dort Kontakt mit ihren Dealern aufnahm. Bei Lena setzte eine Veränderung ihres Verhaltens erst ein, nachdem eine Integration mit der Intervention der »Trauma-Erzählgeschichte« gelungen war.

Grundlage dieser therapeutischen Intervention ist die Annahme, dass Kinder (wie auch Erwachsene) traumatische Erlebnisse nicht auf allen Ebenen der Informationsverarbeitung des Gehirns integriert haben, sondern im Moment der größten Gefahr und des Schocks fragmentierte Informationen (Gerüche, Geräusche, Bilder, Emotionen) im limbischen System gespeichert werden, die jederzeit in der Lage sind, Alarmreaktionen auszulösen, wenn sie durch Erlebnisse, die ähnliche Informationsbruchstücke beinhalten (Beispiel: U-Bahn), in die damalige Zeit zurück versetzt werden. Zur nachträglichen Verarbeitung eines Traumas ist es hilfreich, wenn die Geschichte des bedrohlichen Ereignisses erzählt oder gehört werden kann, wenn sie einen Anfang, einen oder mehrere dramatische Höhepunkte und ein gutes Ende enthält und die den vorhandenen Traumafragmenten eine Ordnung gibt. Dann ist es, als würden die vorhandenen Puzzleteile wieder zu einem inneren Bild zusammengesetzt und als Teil der Vergangenheit integriert werden (Traumasynthese). Dies geschieht jedoch nur dann, wenn die Emotionen, die zu dem traumatischen Erlebnis gehören – meist Angst, Verzweiflung, Wut oder Hilflosigkeit –, durch die Geschichte erneut berührt werden – nicht in voller Wucht, sondern in handhabbaren Portionen. Für Erwachsene wurden sanfte Methoden des Wiedererlebens entwickelt, wie z. B.

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die Bildschirm-Technik (Betrachten eines vorgestellten Films über das traumatische Ereignis; Besser, 2006), EMDR (durch visuelle oder taktile rechts-links Stimulierung angeregte Nachverarbeitung; Shapiro, 1998) oder eine gut vorbereitete Annäherung an den Ort des Geschehens in der Verhaltenstherapie. Für Kinder wurden Methoden entwickelt, die ihrer Entwicklung und ihren Möglichkeiten entsprechen. Sie können familientherapeutische Interventionen beinhalten (Korittko, 2000, 2002, 2006) hypnotherapeutische Elemente (Signe-Fischer, 2008), Formen der Imagination (Krüger u. Reddemann, 2007) oder auch EMDR (Tinker u. Wilson, 2006). In vielen Situationen eignet sich die Trauma-Erzählgeschichte, eine Intervention, die von Joan Lovett (1999) entwickelt wurde und in der praktischen Anwendung von Dorothea Weinberg (2005) durch selbst gezeichnete Comics ergänzend modifiziert wurde. Sie kann bei Kindern ab ungefähr dem dritten Lebensjahr eingesetzt werden. Für das Beispiel »U-Bahn« könnte die Geschichte vielleicht folgendermaßen erzählt werden: »Es war einmal ein Mädchen, das war genau ein Jahr alt und hieß Paula (durch einen anderen Namen leicht verfremdet). Paula saß am allerliebsten in ihrem Buggy und wurde von ihrer Mama durch die Stadt geschoben. Auf dem Schoß hatte Paula immer ihren kleinen braunen Teddy. In der Stadt gab es oft viel zu sehen und zu bestaunen. Das gefiel Paula. Aber leider kümmerte sich die Mama von der Paula nicht immer gut um sie. Manchmal vergaß sie das Essen für Paula, manchmal war Paula nicht warm genug angezogen und manchmal tröstete sie Paula nicht, wenn Paula traurig war. Paulas Mama war nämlich krank und ziemlich durcheinander im Kopf. Manchmal ging Paulas Mama mit ihr in eine U-BahnStation, z. B. wenn es regnete, aber da blieb sie mit ihr dann den ganzen Tag. Da war es dann immer ganz laut, wenn die U-Bahnen kamen, diese großen grünen Züge, oder wenn plötzlich ganz viele Leute da waren, die laut redeten. Manchmal hat es da auch ganz schlecht gerochen. An manchen Tagen hatte die Paula deshalb ganz große Angst und schrie, wenn die Mama mit ihr wieder in einer U-Bahn-Station war. Paula hat gedacht, wenn ich schreie, tröstet mich die Mama. Aber die Mama hat dann nur immer geschimpft. Da wurde Paulas Angst immer größer. Und da hat die Paula was ganz Schlaues gemacht. Sie hat sich einfach selbst getröstet. Und weißt du, wie sie das gemacht hat? Sie hat einfach an was ganz Schönes gedacht und geträumt, mit offenen Augen. Wenn sie so träumte, hat sie nichts mehr gespürt: keinen Hunger, keine Kälte, keine Angst. Dann hat

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sie auch keinen Krach mehr gehört. Hat sie das nicht toll gemacht? Heute lebt die Paula nicht mehr mit ihrer Mama zusammen. Sie lebt jetzt in einer Pflegefamilie, genau wie du. Dort bekommt sie immer gut zu essen, hat immer die richtige Kleidung an und wird immer getröstet, wenn sie traurig ist. Manchmal kriegt sie aber immer noch Angst, wenn sie in UBahn-Stationen ist. Dann probiert sie aus, ob das mit dem Schreien und träumen immer noch geht. Und dann merkt sie, dass sie das ja gar nicht mehr braucht, weil sie jetzt mit Menschen zusammen lebt, die sich richtig gut um sie kümmern. Und damit ist die Geschichte zu Ende.«

Die Trauma-Geschichte kann entweder vom Therapeuten erzählt oder in einem Gespräch mit einer Bezugsperson entwickelt und dann zu Hause erzählt werden. Wenn ich die Geschichte in einer Therapiestunde erzähle, tue ich dies gern in Anwesenheit von Eltern oder Pflegeeltern. Meist sitzt das Kind dann neben seinen Eltern oder bei einem der beiden auf dem Schoß. Auf diese Weise lernen die Erwachsenen gleichzeitig, wie sie die Geschichte später noch einmal erzählen können. Kinder wollen ja bekanntlich Geschichten, die sie emotional bewegen, immer wieder hören. Joan Lovett empfiehlt, dass die Geschichte in einer einfachen, kindgerechten Sprache erzählt wird. Sie soll Lösungen für die erdrückenden, unverständlichen Dinge, die durch das Trauma hervorgerufen worden sind, ansprechen. Sie soll dem Kind angemessene, entwicklungsgemäße Überzeugungen an die Hand geben, die ihm zu einem besseren Verständnis und Fortschritt verhelfen werden. Die Geschichte sollte so gestaltet werden, dass sie einerseits leicht verfremdet wird. Das kann man erreichen, indem man einen anderen Namen benutzt (»Paula« anstelle von »Lena«) oder anstelle eines Kindes ein Tier als Protagonisten wählt (der kleine Hase, der kleine Fuchs, das kleine Hundebaby). Die Geschichte sollte anderseits gerade am Anfang Elemente enthalten, mit denen sich das Kind identifizieren kann. Das kann z. B. die Erwähnung eines Kuscheltiers sein, das das Kind gerade dabei hat (». . . der hatte immer sein Kuscheltier dabei, einen kleinen Hasen, der sah fast so aus wie deiner . . . «), ein Detail vom Aussehen des Kindes (». . . die hatte auch so schöne blonde Haare wie du . . . «) oder ein Detail der Kleidung des Kindes (». . . das kleine Häschen trug am liebsten seinen gestreiften

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Pullover, wenn es kalt war. Der hatte rote und gelbe Streifen, fast so wie deiner . . . «). Im Laufe der Geschichte sollten die spezifischen Ereignisse enthalten sein, die zu der traumatischen Situation geführt haben. Das Trauma selbst, also das Ereignis mit dem bedrohlichsten Moment, sollte mit Details der Wahrnehmung (Anblicke, Geräusche, Geschmäcker, Gerüche usw.) und ihrer Wirkung auf den Protagonisten geschildert werden. In der ursprünglich bedrohlichsten Situation – wenn sich das Gehirn in Alarmzustand befindet – werden die nonverbalen Signale wesentlich wirkungsvoller gespeichert, als Worte: Gesichtsausdrücke, Körperbewegungen, Geräusche, Gerüche. Zur Synthese dieser Signale und zu ihrer Neubewertung dient die Geschichte vor allem. Die Puzzle-Stücke der fragmentierten Wahrnehmung werden geordnet und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengeführt. Das Ende der Geschichte sollte eine konstruktive Lösung enthalten, eine Lösung, die für das Kind eine positive Meinung über sich selbst beinhaltet. Obwohl die Geschichte auch die bedrohlichen und Angst machenden Aspekte enthält, wird sie doch so erzählt, das es sich um ein Geschehen handelt, »das einem Kind passieren kann«. Im Anschluss an die Geschichte kann das Kind noch gebeten werden, ein Bild zu der Geschichte zu malen oder mit Knetgummi Figuren passend zu der Geschichte zu gestalten. Zeichnungen, Spielfiguren und vieles andere mehr eignen sich hervorragend zur Visualisierung von angesprochenen Themen. Die dadurch neu entstandenen »Bilder« bleiben viel intensiver haften, als ausschließlich verbal übermittelte Inhalte. Und wenn es darüber hinaus gelingt, die unterschiedlichen Informationsverarbeitungskanäle zu aktivieren (sehen, hören, denken, empfinden, berühren) und sie mit körperlichen Wahrnehmungen und Aktivitäten zu verbinden, wenden wir hirnfreundliche Interventionen an, die die linke und die rechte Hirnhälfte gleichermaßen einschließen. In der linken Hemisphäre werden die logischen und sprachorientierten Informationen verarbeitet, in der rechten Hemisphäre die ganzheitliche und emotionale Wahrnehmung.

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Traumadynamik in Pflegefamilien In den meisten Situationen, in denen ich von Pflegeeltern um Hilfe gebeten werde, geht es aus meiner Sicht um eine systemische Wechselwirkung, die Saxe, Ellis und Kaplow (2007) folgendermaßen beschreiben: Ein traumatisiertes Kind ist noch nicht in der Lage, seine emotionalen Zustände angemessen zu regulieren, wenn es mit einem Stressor konfrontiert wird. Und die soziale Umgebung und/oder das Bezugssystem sind noch nicht in der Lage, dem Kind angemessen zu helfen, mit diesen Zuständen umzugehen. Wenn Pflegeeltern ein Kind zu sich nehmen, rechnen sie meist damit, dass es am Anfang, wenn es um die Anbahnung der Beziehung zueinander geht, zu Schwierigkeiten kommt. Schließlich müssen sich alle aneinander gewöhnen, das Kind muss lernen, dass es in der Familie sicher ist und dass neue ihm unbekannte Regeln für das Zusammenleben gelten. Meist wissen die Pflegeeltern wenig von den Umständen der Traumatisierung, die das Kind erlitten hat. Sie sehen es zunächst als besonders schutzbedürftig und geben sich besondere Mühe, dem Kind eine sichere und förderliche Umgebung zu schaffen. Treten aber auch nach mehreren Jahren Probleme auf, entwickeln Pflegeeltern schnell das Gefühl, sie hätten etwas falsch gemacht und ziehen sich in ihrer Unsicherheit ein wenig zurück. Auf der anderen Seite bleibt das Kind sein Leben lang für die Erinnerung an sein Trauma sensibel. Der »Fahrstuhlschacht« (Hüther et al., 2008) ist strukturell gebahnt und nutzbar. Das Kind wird direkt oder indirekt durch nicht zu erkennende »Trigger« unbewusst an sein Trauma erinnert und reagiert mit den Verhaltensweisen, die schon während der Traumatisierungen als passende Gefahrenabwehr dienten: Kampf, Flucht oder Dissoziation. Es gibt mit seinem Verhalten dafür ein Signal, dass es mehr Sicherheit und klare Grenzen benötigt. Wenn aber die Pflegeeltern dieses Verhalten als Anzeichen dafür werten, dass die Einbettung in die Pflegefamilie (Ziel: Assoziation) nicht gelungen ist, entwickeln sie manchmal eine vorsichtige Distanz. Dann fühlt sich das Kind erneut unsicher und reagiert verstärkt mit Kampf, Flucht und Dissoziation. Wenn die Pflegeeltern aber diese Dynamik verstanden haben, werden sie weniger an ihren

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eigenen Fähigkeiten zweifeln, sondern Dinge tun, die ihnen schon zu Beginn des Zusammenlebens den Kontakt zum Kind und ein Herunterregulieren der Stressreaktionen des Kindes ermöglicht haben. In Beratungen und Therapien reicht es manchmal aus, auf die eine oder andere Weise Bänder zwischen den Traumata aus der Vergangenheit des Kindes und seiner gegenwärtigen Situation zu knüpfen. Unsere Geschichten können möglicherweise Veränderungen in den Gedanken der Kinder bewirken. Und es ist denkbar, dass diese therapeutischen Interventionen Veränderungen in den Gehirnen der Kinder zur Folge haben. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Pflegeeltern nach wie vor die Bereitschaft zeigen, das Kind liebevoll zu versorgen. Die besten Absichten und passgenaue Interventionen in der Therapie können nur wirksam werden, solange es Mütter und Väter gibt, die mutig sind und deren Entschiedenheit, einem Kind ein liebevolles Zuhause anzubieten, größer ist als ihre Furcht zu versagen. Und solange schwer traumatisierte Kinder die Hoffnung nicht aufgeben, daran zu glauben, dass es Menschen gibt, die es gut mit ihnen meinen. Neurobiologische Erklärungsmodelle und die daraus resultierenden Behandlungsansätze bilden eine Einheit mit den Sicherheit bietenden und heilenden Interaktionen zwischen den Pflegeeltern und den Kindern.

Literatur Besser, L. (2006). Die Screen-Technik nach dem KReST-Modell. Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen. Unveröffentlichtes Manuskript für Weiterbildungsteilnehmer. Brisch, K.-H. (2006a). Einführung in die Bindungstheorie sowie Diagnostik und Behandlung von Bindungsstörungen, Vortrag in Hannover am 10. Oktober. Unveröffentlichtes Manuskript. Brisch, K.-H. (2008). Bindung und Umgang. In Deutscher Familiengerichtstag (Hrsg.), 17. Deutscher Familiengerichtstag vom 12. Bis 15. September 2007 in Brühl (S. 89–135). Bielefeld: Verlag Gieseking. Brisch, K.-H., Hellbrügge, T. (Hrsg.) (2003). Bindung und Trauma. Stuttgart: Klett-Cotta. Brisch, K.-H., Hellbrügge, T. (Hrsg.) (2006). Kinder ohne Bindung. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Hüther, G. (1997). Wie aus Stress Gefühle werden. Biologie der Angst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hüther, G., Krens, I. (2005). Das Geheimnis der ersten neun Monate. Düsseldorf u. Zürich: Patmos. Hüther, G., Besser, L., Korittko, A., Wolfrum, G. (2008). Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung Psychotrauma bedingter Symptomatiken. Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen. Unveröffentlichtes Manuskript für Weiterbildungsteilnehmer. Korittko, A. (1993). Trauma: Wenn nichts mehr ist, wie es war. PostTraumatische Stress-Reaktionen. Psychologie Heute, 20 (4), 54–57. Korittko, A. (2000). Trauma und Verlust – Vom Zwang des Vergessens zum heilsamen Erinnern. Kontext Zeitschrift für Familientherapie, 31 (2), 171–179. Korittko, A. (2002). Bilder, von denen wir uns kein Bild machen. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen durch Krieg und Flucht. Zeitschrift für Systemische Therapie, 20 (3), 175– 180. Korittko, A. (2006). Trauma und System: Das erstarrte Mobile. In J. Rieforth (Hrsg), Triadisches Verstehen in sozialen Systemen (S. 129– 142). Heidelberg: Carl Auer. Krüger, A., Reddemann, L. (2007). Psychodynamische Imaginative Traumatherapie für Kinder und Jugendliche. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Lovett, J. (1999). Kleine Wunder. Heilung von Kindheitstraumen mit Hilfe von EMDR. Paderborn: Junfermann. Ogden, P., Minton, K. (2000) Sensorimotor psychotherapy: One method for processing traumatic memory, Traumatology VI (3), 149– 173. Perry, B. D., Pollard, R., Blakely, T., Baker, W., Vigilante, D. (1995). Childhood trauma, the neurobiology of adaptation and ›use-dependent‹ development of the brain: how »states« become »traits«. Infant Mental Health, 16 (4), 271–291. Pleyer, K.-H. (2004) Co-traumatische Prozesse in der Eltern-Kind-Beziehung, Forum (3), 48–69. Saxe, G., Ellis, H., Kaplow, J. (2007). Collaborative Treatment of Traumatized Children and Teens. The Trauma Systems Therapy Approach. New York: Guilford Press. Schore, A. (2007). Affektregulation und die Reorganisation des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Signe-Fischer, S. (2008). Hypnotherapeutische Methoden der Traumatherapie im Kindesalter. In M. Landolt, T. Hensel (Hrsg.), Trauma-

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therapie bei Kindern und Jugendlichen (S. 184–200). Göttingen: Hogrefe. Shapiro, F. (1998). EMDR. Eye Movement Desensitization And Reprocessing. Grundlagen und Praxis. Paderborn: Junfermann. Tinker, B., Wilson, S. (2006). EMDR mit Kindern: Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann. Weinberg, D. (2005). Traumatherapie mit Kindern. Strukturierte Trauma-Intervention und traumabezogene Spieltherapie. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

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Reinert Hanswille

Systemische Traumatherapie und Neurobiologie

In diesem Beitrag wollen wir einige Hinweise geben, wie eine systemische Traumatherapie durch Ansätze der Neurobiologie unterstützt werden kann. Einen ausführlichen Ansatz einer systemischen Traumatherapie haben wir (Annette Kissenbeck und Reinert Hanswille) in unserem Buch »Systemische Traumatherapie. Konzepte und Methoden für die Praxis« (2008) vorgelegt. Wir folgen in weiten Abschnitten dem Kapitel »Strukturelle Dissoziation« unseres Buches. In diesem Beitrag wollen wir das Metakonzept der strukturellen Dissoziation als Erklärungsmodell für Traumafolgestörungen vorstellen und daraus ableitend einige neurobiologische Akzente vorstellen, die die systemische Praxis anregen und die Arbeit mit traumatisierten Menschen und ihren Systemen unterstützen können.

Der Ansatz der strukturellen Dissoziation1 Der Ansatz der strukturellen Dissoziation greift auf die Ideen alter Traumaforscher zurück.2 Die psychobiologische Traumaforschung hat sich weitgehend von den eher »psychodynamischen« 1 Wir verdanken viele der folgenden Ideen und Anregungen Ellert Nijenhuis und Helga Mattheß. In ihren Seminaren im »PIE – Psychotraumatology Institute Europe« 2004, 2005, 2006, 2007 und in vielen Gesprächen haben uns ihre Ideen wesentlich geprägt und bereichert. Wir möchten besonders auf van der Hart, Nijenhuis und Steele (2008) verweisen. 2 Er bezieht sich auf die Pionierarbeiten von Pierre Janet (1898, 1919/1925) und nutzt die Arbeiten von Charles Samuel Myers (1940). Hinzu kommen die modernen Forschungen der Neurowissenschaften und Psychobiologie: Le Doux (1998); Damasio (2002); Schore (2003); Fanselow u. Lester (1988); Panksepp (1998); Porges (2001, 2003).

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Erklärungsmustern gelöst und versucht, das Traumageschehen anhand von psycho- und neurobiologischen Prozessen zu beschreiben, die bei Tieren und Menschen ähnlich ablaufen. Die traumabezogene strukturelle Dissoziation hat sich im Laufe der Evolution als psychobiologisches Überlebenssystem entwickelt (Panksepp 1998). Der traumatherapeutische Ansatz von Ellert Nijenhuis, Onno van der Hart u. a. zur strukturellen Dissoziation geht von der Hypothese aus, dass es zwischen den beobachtbaren Ego-States bzw. Anteilen, sie nennen sie ANPs (»Apparently Normal Personalities«), anscheinend normale Persönlichkeit(-santeile), und EPs (»Emotional Personalities«), emotionale Persönlichkeit(-santeile), und der Aktivierung basaler emotionaler Systeme, wie sie Panksepp u. a. postulieren, sowie den sogenannten psychobiologischen Überlebenssystemen, wie sie von Fanselow und Lester (1988) beschrieben werden, einen deutlichen Zusammenhang gibt. Diese Handlungs- oder Aktionssysteme kontrollieren eine Reihe von Funktionen, Interaktionen bzw. Prozessen und sind unterschiedlich komplex. Das Erleben von Trauma aktiviert das genetisch im Verlauf der Evolution ausgebildete Handlungssystem der Verteidigung, das bei Bedrohung anspringt und aus unterschiedlichen Subsystemen besteht. Van der Hart, Nijenhuis und Steele gehen davon aus, dass je nach Traumastärke, Traumadauer und Lebensalter des Traumatisierten, seinen Resilienzfaktoren und anderen Bedingungen sich unterschiedliche Formen einer dissoziativen Störung entwickeln können. Klinische Beobachtungen zeigen, dass die Entstehung von Persönlichkeitsanteilen nach einem Trauma nicht zufällig geschieht, sondern dass eine gewisse Struktur dabei beobachtet werden kann, die sich dann in zahllosen Varianten manifestiert. »Die strukturelle Dissoziation [ist] eine Teilung der Persönlichkeit des Traumatisierten in zwei (im Falle der primären strukturellen Dissoziation) oder mehr (im Falle der sekundären und tertiären strukturellen Dissoziation) ihrer selbst« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 49) bewussten psychobiologischen Systeme.

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Strukturelle Dissoziation und Selbst-Konzeptualisierung In vielen modernen Psychotherapiekonzepten wird die Frage diskutiert, wie das Selbst und/oder das Ich zu begreifen sind. Aber auch in der Populärliteratur ist die Frage der Ich- bzw. Selbststruktur von großem Interesse, wie der Verkaufserfolg des Buches »Wer bin ich und wenn ja wie viele?« von Richard David Precht zeigt. Wenn wir von der Hypothese ausgehen, ein Individuum bestehe aus mehreren »Ichs«, dann wird die Frage bedeutsam, wie sich diese »Ichs« unterscheiden. Verfügen sie über unterschiedliche neurobiologische Determinanten (wie gesonderte neuronale Strukturen), besitzen sie unterschiedliche physiologische Parameter (wie Herzfrequenz, Schmerzempfindlichkeit oder Blutdruck) oder unterschiedliche psychologische Zustände (wie Emotionen, Wahrnehmungen, Erinnerungen)? In der Nachweisbarkeit dieser Parameter und in deren Nutzung unterscheiden sich auch die unterschiedlichsten therapeutischen Konzepte. Viele Richtungen gehen von einer mehrdimensionalen »Ich-Struktur« aus, beispielsweise vom inneren Theater (V. Satir) , der inneren Familie (R. Schwartz), dem inneren Team (Schulz von Thun), dem inneren Parlament (G. Schmidt), den inneren Kindern ( Bradshaw, Chopich u. Paul) bis hin zum EgoState-Ansatz (Watkins u. Watkins 2003). Neuere psychobiologische und neurobiologische Ansätze (Damasio, 2002; Panksepp, 1989) unterstützen die Ideen, dass wir von unterscheidbaren »Ich-Strukturen« ausgehen können. In der Traumatherapie ist die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen ebenfalls durch unterschiedlichste Arbeiten verbreitet worden (Reddemann, Huber, Figley, Brewin, Kluft, Putnam u. a.). Der Ansatz der strukturellen Dissoziation von van der Hart, Nijenhuis und Steele (2008) nutzt ebenfalls die Idee von Persönlichkeitsanteilen, stellt allerdings weitreichende Ansprüche an die Subsysteme, die folgende Kriterien erfüllen sollten: 1. Sie sollten selbstorganisierte Systeme sein, die sich durch den Kontext über eine bestimmte Zeit entwickeln. Sie sollten als System die Fähigkeit zur Selbstregulation besitzen und sich durch Rückkoppelungsprozesse selbst innerhalb gewisser Grenzen stabilisieren können. Dies ist notwendig, damit die

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unterschiedlichsten Anforderungen von ANPs und EPs integriert werden können. Es sollte sich um psychobiologische Systeme handeln, die sich im Laufe der Evolution als funktionsfähig erwiesen haben, und das für alle Säugetiere. Klinische Beobachtungen zeigen, dass der ANP »gewöhnlich der Bewältigung von Aufgaben des Alltagslebens wie Fortpflanzung, Bindung, Fürsorge und andere sozialen Handlungstendenzen sowie dem Vermeiden traumatischer Erinnerungen« obliegen (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 50). EPs zeigen hingegen Verteidigungsreaktionen auf reale, wahrgenommene oder angenommene Bedrohungen, auf die Menschen fixiert zu sein scheinen. EPs und ANPs sollten sehr stark auf konditionierte wie unkonditionierte Bedrohungen in selbstähnlichen Mustern reagieren. Subsysteme sollen stabile, nicht veränderbare Charakteristika aufweisen und andererseits auch situationsspezifische, individuelle Erlebnis- und Verhaltensreaktionen und Varianten zeigen können. Es ist notwendig, dass die Subsysteme bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt im menschlichen Leben funktionsfähig sind, weil viele komplexe Traumatisierungen mit dissoziativen Traumafolgestörungen sehr oft in einem sehr frühen Lebensabschnitt entstehen (vgl. dazu van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 49 f.).

Wir verstehen das Ich, das Selbst und Ego-States oder EPs und ANPs als eine Konstruktion neurobiologischer selbstorganisierter und selbstreferentieller Systeme mit einer neuronalen Organisation. Dieses Verständnis nutzt sowohl neurowissenschaftliche Erklärungsansätze als auch die Systemtheorie und den Konstruktivismus, um die therapeutische Arbeit mit einem vielfältigen Selbst zu beschreiben. Der amerikanische Psychologe W. James hat bereits 1890 darauf hingewiesen, dass der Mensch so viele »soziale Selbst« besitzt, wie er soziale Beziehungen eingehe. Der Philosoph T. Metzinger sieht das Selbst als einen Repräsentant des Organs, das es produziert, also des Gehirns, und versteht die »Selbst-

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konstruktion« als ein Gebilde unterschiedlichster »Selbstkonstruktionen«. »Die ›Perspektive der ersten Person‹ ist ausschließlich ein Darstellungsphänomen, dem nichts in der objektiven Struktur der Welt entspricht. [. . . ] wir besitzen in diesem Sinne überhaupt keine Identität: Wir sind eine intern mehr oder weniger stark korrelierte Menge aus physikalischen und psychologischen Eigenschaften die sich durch die Zeit bewegt. Die Einheit des Selbstbewusstseins ist eine repräsentationale Fiktion« (Metzinger, 1996, S. 151).

T. Metzinger (2006) geht in seinen Vorstellungen davon aus, dass das Selbst ein Selbstmodell ist, das sich durch die Bewusstseinsinhalte konstruiert, die wiederum ein Produkt des Gehirns sind: »meine aktuellen Körperempfindungen, mein gegenwärtiger emotionaler Zustand und alle Empfindungen meiner phänomenal erlebten Kognition [. . . ]. All jene Eigenschaften des phänomenalen Selbst, auf die ich in diesem Moment prinzipiell meine Aufmerksamkeit richten kann [. . . ], [sind] ein integrierter Vorgang, der kontinuierlich in meinem Gehirn abläuft [. . . ]. Zumindest für alle uns bekannten bewussten Wesen gilt, dass sie weder ein Selbst haben noch ein Selbst sind. Was sie haben, ist ein Selbstmodell – und dies ist letztlich ein komplexer Gehirnzustand« (Metzinger, 2006, S. 427f.).

Unser Selbst ist in jedem beliebigen Augenblick mit Millionen mentaler Repräsentationen angefüllt, von denen nur einige zum bewussten Erleben einer Situation ausgewählt werden. Die Erfahrung eines »Ich-Gefühls« ist ein Konstrukt, »denn sie [diese Erfahrung] ist eine interne, dynamische Repräsentation des Organismus als Ganzem, die in ein Gegenwartsfenster eingebettet wurde [. . . ], sie ist tatsächlich eine phänomenale Eigenschaft in dem Sinne, dass sie nur eine Erscheinung ist« (S. 428). Das phänomenale Erleben von Individualität, Identität und Entität sind besondere Formen von repräsentationalen Inhalten, die im Laufe der Evolution entstanden sind, weil sie sich für das Überleben als vorteilhaft erwiesen (vgl. Metzinger, 1999, 2006).

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Die Unterteilung der strukturellen Dissoziation Im Rahmen dieses Ansatzes treffen wir folgende Unterteilung, um dissoziative Erkrankungen zu unterscheiden: a) Primäre strukturelle Dissoziation: einfache akute Belastungsstörung, einfache posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), einfache dissoziative Störung der Bewegung und der Sinnesempfindung. Sie besteht aus einem ANP und einem EP, wie in Abbildung 13 dargestellt. ANP EP

Abb. 1: Primäre strukturelle Dissoziation

b) Sekundäre strukturelle Dissoziation: komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), »disorder of extreme stress, not otherwise specified (DESNOS)«, traumabezogene Borderline-Persönlichkeitsstörung, komplexe dissoziative Störung der Bewegung und der Sinnesempfindung, andere dissoziative Erkrankungen. Sie besteht aus einem ANP und mehreren EPs, wie in Abbildung 2 dargestellt. ANP EP

EP EP

Abb. 2: Sekundäre strukturelle Dissoziation

3 Die Abbildungen 1, 2 und 3 haben wir dem Manual »Seminare 1: Diagnostik und Behandlung chronischer Traumatisierungen« entnommen (S. 41 ff.; ausführlich beschrieben in van der Hart, Nijenhuis u. Steele 2008). Wir möchten uns für die Erlaubnis bei Dr. Ellert Nijenhuis herzlich bedanken.

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c) Tertiäre strukturelle Dissoziation: dissoziative Identitätsstörung (DIS). Sie besteht aus mehreren ANPs und mehreren EPs, wie in Abbildung 3 dargestellt.

ANP

ANP ANP

EP

EP EP

Abb. 3: Tertiäre strukturelle Dissoziation

Die strukturelle Dissoziation wird primär durch unterschiedlichste Phobien und durch Faktoren aus dem Bindungssystem aufrechterhalten. Für P. Janet reichen die Phobien von dem Versuch, Erinnerungen an das Trauma zu vermeiden, bis zur totalen Leugnung des Traumas und seiner Auswirkung auf die Alltagsgestaltung. Damit betroffene Menschen mit den unerträglichen Erinnerungen, den eigenen Wirklichkeitskonstruktionen und Narrativen leben können, ist eine Vermeidung auf der Verhaltens- wie auf der mentalen Ebene notwendig; sie wird durch die strukturelle Dissoziation möglich. In der weiteren Entwicklung werden aus den einzelnen Phobien komplexe Ängste, die durch kognitiv-reflexive Überzeugungen gefestigt und in der Regel verallgemeinert werden. Sie erfassen die gesamte Person sowohl in der Beschreibung und den Narrativen bezüglich der Vergangenheit als auch in der Konstruktion der Gegenwart und der Zukunftserwartung. Das äußert sich in Aussagen wie »Das ist mir nicht passiert«, »Wenn ich wirklich spüre, was in mir ist, werde ich verrückt«, »Immer wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, werde ich verletzt« usw.

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»Die strukturelle Dissoziation wird in der Tat durch eine Anzahl miteinander in Beziehung stehender Faktoren aufrechterhalten: Phobien, reflexive Überzeugungen, andere Bereiche mit niedrigem psychischem Funktionsniveau und niedrigem Antrieb. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es äußerst bedeutsam, diesen Komplex von Phobien zu bewältigen und das psychische und energetische Niveau des Patienten zu steigern« (van der Hart et al., 2006, S. 159).

Neben den Handlungssystemen sind die EPs und ANPs sowie die dissoziative Amnesie zwischen diesen Anteilen ein Merkmal der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit.

EPs – emotionale Persönlichkeitsanteile EPs werden folgendermaßen charakterisiert: »EPs sind primär, aber nicht ausschließlich, Manifestationen des Handlungssystems, das die Verteidigung im Falle akuter Bedrohungen vermittelt – insbesondere bei Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit durch einen anderen Menschen –, und potentiell auch Manifestationen des Handlungssystems, das die Angst vor Trennung von Pflegepersonen steuert. Beide Systeme dienen dem Überleben und beeinflussen deutlich die psychischen und physischen Erfahrungen und Handlungen der EPs« (Nijenhuis et al., 2007, S. 181).

Subsysteme des Verteidigungssystems sind »Hypervigilanz, Flucht, Einfrieren, Anästhesie/Analgesie, Kampf und totale Unterwerfung. Verschiedene Genesungssubsysteme, wie beispielsweise die Wundversorgung, Erholung und Rückzug aus der Gruppe, stehen der Abwehr nahe« (van der Hart et al., 2006, S. 157). EPs sind eingeschränkt in ihrer Bewusstheit, weil sie fixiert sind auf die traumatische Situation und sich ihr Fokus auf reale, erwartete oder vermutete Bedrohungen richtet. Beim Menschen führen die Verteidigungssysteme zu einer komplexen Form von »verhaltensbestimmten geistigen Handlungstendenzen und biologischen Reaktionen. Einfrieren zum Beispiel steht in Zusammenhang mit Unbeweglichkeit, Schweigen, Erregung, Analgesie und mit der Einschränkung des Bewusstseinsfeldes auf bedrohliche Signale und Fluchtwege« (van der Hart et al., 2006, S. 158 f.).

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Selbstbeschuldigung, Verleugnung, Verweigerung, Projektion schmerzender oder verletzender Gefühle sind weitere mentale Subsysteme und Aktionstendenzen der Verteidigung. »Eine verwandte verhaltensorientierte Verteidigungsreaktion ist die Selbstverstümmelung, basierend auf reflexiven Überzeugungen wie beispielsweise: ›Ich bin ein schlechter Mensch und verdiene es, bestraft zu werden.‹ Selbstverletzung kann abwehrenden Funktionen dienen, indem sie die Freisetzung von endogenen Opioiden auslöst, die zeitweise den traumabezogenen körperlichen und physischen Schmerz dämpfen« (van der Hart et al., 2006, S. 158).

EPs einer Person stehen für ein mehr oder weniger komplexes mentales System traumatischer Erlebnisinhalte. Diese können Einzelaspekte des Traumas beinhalten, komplette Traumafilme umfassen oder fragmentierte Ausschnitte aus den traumatischen Situationen. Die Wahrnehmung der eigenen Person, des Körpers und der äußeren Realität ist meist eingeschränkt und verknüpft mit einem reduzierten Selbsterleben. EPs rekonstruieren die traumatische Situation so, als würde sich das schreckliche Ereignis in diesem Augenblick, im Hier und Jetzt, ereignen. EPs haben kaum ein Gefühl für die Zeit und rekonstruieren die Erfahrungen der Vergangenheit als gegenwärtig. Diese Wirklichkeitskonstruktionen der EPs bestehen aus Bildern, Gefühlen, körperlichen Empfindungen und Handlungen – mit allen Erlebnisqualitäten von Erfahrungen –, welche die gesamte Aufmerksamkeit der Person, zu der ein jeweiliger EP gehört, in Anspruch nehmen. Wenn einer der gebildeten EPs aktiv ist, dann sind andere Erinnerungen, auf die der ANP üblicherweise zugreifen kann, unzugänglich, zum Beispiel kann dann auf das Wissen, dass das Trauma Vergangenheit ist, nicht mehr zugegriffen werden. Es ist möglich, dass auch EPs eine Phobie vor den traumatischen Erinnerungen entwickeln. Dann wird ein EP versuchen, sie zu vermeiden, aber oft dabei scheitern. Auf Grund der unterschiedlichen Ausprägung der EPs kann es auch zu einer Phobie und Vermeidung der EPs untereinander kommen. Dies kann zum Beispiel zwischen einem EP, der eher mit dem Totstellreflex reagiert, und einem EP, der eher im Modus des Kampfes agiert, leicht geschehen (vgl. Nijenhuis, den Boer u. Mattheß, 2007). Hat sich in der traumatischen Situation ein EP gebildet, sprechen wir

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von primärer struktureller Dissoziation. Wenn die traumatische Situation als überwältigend erlebt wird und/oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, kann das eine weitere Aufspaltung des EP zur Folge haben. Dann sprechen wir von sekundärer struktureller Dissoziation. Bei einer tertiären strukturellen Dissoziation (DIS) besteht zwischen den EPs und den ANPs eine dissoziative Amnesie. Das heißt, ANPs haben weder Bewusstsein von noch Einfluss auf die Handlungen der EPs. EPs als objektiv von außen erlebbare Persönlichkeiten finden sich fast ausschließlich bei Klienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Klienten mit anderen komplexen Traumafolgestörungen (DESNOS und DDNOS) erleben subjektiv EPs, die aber nach außen nur bedingt erkennbar werden. Auch Klienten mit einer einfachen dissoziativen Störung, zum Beispiel einer PTBS, erleben sich selbst mit wechselnden psychischen und physischen inneren Anteilen (vgl. Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 466).

ANPs – anscheinend normale Persönlichkeitsanteile Der ANP ist für die Erfüllung von Alltagsaufgaben, die das Leben und Überleben der Art sichern, zuständig. Dazu gehören »Bindung, Regulation des Energiehaushaltes, Fortpflanzung, das Aufziehen von Kindern, gesellschaftlicher Umgang, Spielen und Neugier« (van der Hart et al., 2006, S. 158). Hinzu kommt die mentale Aufgabe, die traumatischen Erinnerungen des EP abzuwehren. Der ANP zeigt eine starke phobische Vermeidung aller Erinnerungen an das Trauma, die bis zur kompletten Amnesie reichen kann. Nicht selten sind das Gefühl von Betäubtsein (physisch wie psychisch; »numbing«) und die Vermeidung von Bindung zu finden. »Um funktionieren zu können, vermeiden sie traumatische Erinnerungen und damit generell seelische und verhaltensorientierte Handlungen, die mit traumatischem Erleben verbunden sind oder verbunden werden könnten. Dies ist jedoch nicht absolut zu verstehen: Die ANPs repräsentieren das Alltagsbewusstsein; zum Teil zeigen sie also durchaus auch Gefühle wie Freude, Zugewandtheit etc. Neben den ANPs gibt es eine oder mehrere Persönlichkeitsanteile, deren Aufmerksamkeit auf Gefahr und Bedrohung gerichtet ist und die auf traumatisierte Erfahrungen fixiert

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sind – die emotionalen Persönlichkeitsanteile (EPs)« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 465 f.).

Wir können den ANP als eine Art »Notstandsregierung« zur Bewältigung der alltäglichen Aufgaben verstehen. Dies gelingt nur mit Hilfe sogenannter negativer dissoziativer Symptome von Amnesie, Depersonalisation und Betäubung. Der ANP ist mit der Persönlichkeit vor der Traumatisierung nicht zu vergleichen. Die Persönlichkeit hat eine Anpassungsleistung unter dem Stress des Traumas vollzogen, aus der heraus der ANP gebildet wurde. Sie verzichtet darauf, das Trauma in die Lebensrealität zu integrieren, und benötigt alle Energie, um die Dinge des alltäglichen Überlebens zu regeln. Auch der ANP kann sich unter bestimmten Bedingungen spalten. Am ehesten geschieht das, wenn unvermeidbare Teilaspekte des Alltags mit dem traumatischen Ereignis in der Vergangenheit verbunden werden. »Das heißt, dass diese Aspekte durch Verallgemeinerungen zu konditionierten Stimuli werden, die traumatische Erinnerungen reaktivieren können. Zusätzlich können sich neue ANPs entwickeln, wenn der ANP ein so schlechtes Funktionsniveau aufzeigt, dass der normale Alltag selbst nicht bewältigt werden kann. Weitere Dissoziationen des ANP als Reaktion auf Stressfaktoren des Alltagslebens können sich sogar zur ›normalen‹ Lebensweise entwickeln. Die tertiäre strukturelle Dissoziation schließt neben der Aufspaltung der EPs noch die der ANPs mit ein und bezieht sich nur auf Patienten mit DIS« (van der Hart et al., 2006, S. 158).

Bei komplex traumatisierten Müttern oder Vätern mit einer dissoziativen Identitätsstörung findet sich immer wieder die Situation, dass der ANP bei der Pflege, Bindung und Versorgung der Kinder mehr oder weniger stark depersonalisiert und distanziert ist und die notwendigen physiologischen Synchronisierungsprozesse behindert. »Solche Synchronisierungsprozesse helfen dem Kind, seine Zustände zu regulieren (Field, 1985). Somit kann es dazu kommen, dass bei Kindern dissoziativer Eltern eine strukturelle Dissoziation entsteht (Schore, 2003)« (Nijenhuis et al., 2007, S. 182).

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Die integrative Kapazität Eines der Zeichen von Heilung bei struktureller Dissoziation ist die Fähigkeit der Klienten, eine große Bandbreite psychischer Phänomene in die Persönlichkeit integrieren zu können. Die Integrationskapazität ist bei traumatisierten Menschen meist reduziert. Im Therapieprozess sollen die Klienten unterstützt werden, unterschiedlichste Erfahrungen ihres Lebens in ihre Persönlichkeit zu integrieren. »Integrative psychische Prozesse umfassen insbesondere folgende zwei seelische Phänomene: − die Synthese (d. h. die synthetische seelische Handlung) als bedeutungsvolle Assoziation basaler psychischer Phänomene in eine komplexe und kohärente seelische Struktur und − die Realisierung als sich entwickelnde bewusste Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung persönlicher Erfahrungen und Fakten, indem man sich vollständig deren Implikationen für die eigene Existenz bewusst wird, also über – die Personifikation – das Erlebte wird der eigenen Person zugeordnet – und über – die Präsentifikation wird der Bezug zur Gegenwart hergestellt« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 468). Präsentifikation meint, sich mit allen Anteilen bewusst in der Gegenwart zu erleben und die eigene Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft als untereinander verbunden wahrzunehmen: »Der jetzige Augenblick ist eine Synthese aus allen meinen Erfahrungen in der Zeitspanne: Vergangenheit, Gegenwart und bevorstehende Zukunft« (van der Hart, 2006, S. 13). Personifikation meint die Anerkennung von gemachten Erfahrungen als zu sich gehörig und die Fähigkeit, daraus in der Gegenwart angemessene Handlungsweisen zu entwickeln. Sie äußert sich in der Selbstüberzeugung, dass das traumatische Erlebnis »mir« widerfahren ist, »ich mir« dessen bewusst bin und dass es »meine« Grundüberzeugungen und »meine« Selbstrepräsentation beeinflusst (S. 13). »Integration heißt also für den Patienten, in der Gegenwart verankert über das Trauma mit den angemessenen Gefühlen berichten zu können« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 468).

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Die integrative Kapazität ist ferner abhängig von der mentalen Energie und der mentalen Spannung. Beides ist bei vielen Klienten mit Traumafolgestörungen oft nicht stark genug ausgeprägt. Eine hohe mentale Energie und Spannung sind aber notwendig dafür, neue Erfahrungen und Handlungen zu beginnen, auszuführen, zu beenden und in die Person zu integrieren. Nur wenn beide hoch sind, sind Menschen für die Integration neuer Erfahrungen bereit. Ist die mentale Energie gering, können kaum neue Handlungen und Verhaltensweisen eingeübt werden. Die Menschen wirken dann eher erschöpft und ausgelaugt. Ist die mentale Spannung schwach, können neue Erkenntnisse oder neue Erfahrungen nur schwer verarbeitet und in bestehende Muster integriert werden. Betroffene Menschen wirken dann unkonzentriert, desorientiert, es scheint, als würde das Gesagte sie nicht erreichen. Aus diesen Gründen ist es für die Therapie sehr bedeutsam, die mentale Energie und Spannung zu stärken (van der Hart et al., 2008, S. 44f., S. 225f.). Dies geschieht durch Ressourcenorientierung sowie begonnene, durchgeführte und vollendete Handlungen und die Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen der Klienten. Mit P. Janet (1889) wird in der Theorie der strukturellen Dissoziation die traumatische Erinnerung als nicht abgeschlossene oder unvollendete Handlung verstanden. Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht abgeschlossene Handlungen innere Konflikte hinterlassen, die psychische Kraft und Energie kosten. Das Vollenden von Handlungen erhöht die Integrationsfähigkeit und die mentale Kraft und Spannung, während unvollendete Handlungen sie eher schwächen (van der Hart et al., 2006, S. 163). Zur »strukturellen Dissoziation kommt es, wenn die mentale Effizienz [Spannung] und Energie eines Menschen [. . . ] zu schwach sind, als dass der Betreffende das Geschehen völlig integrieren könnte« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 44).

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Implikationen für die Therapie − Bei primärer und meist auch sekundärer Dissoziation beinhalten EPs nur eine oder mehrere traumatische Erfahrungen mit entsprechenden Affekten, Körperempfindungen und Handlungsimpulsen. − Komplexere EPs finden sich häufiger bei der tertiären Dissoziation. Sie können eigene Wünsche, Bedürfnisse, Kognitionen bis hin zu eigenen Persönlichkeitszügen haben. − Der ANP entwickelt in der Regel eine Phobie vor den traumatischen Erinnerungen und vor EPs, die entsprechende Traumaerinnerungen gespeichert haben. − Auf Grund unterschiedlicher Bewältigungsmuster entwickeln auch EPs untereinander Phobien und Vermeidungsverhalten. − Ziel der Therapie soll es sein, dass sowohl die traumabezogenen Phobien »als auch die zusätzlichen Faktoren, die eine strukturelle Dissoziation aufrechterhalten und somit die natürlichen integrativen Tendenzen behindern, überwunden werden« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 469). − EPs und ANPs können unterschiedliche Phobien entwickeln, zum Beispiel vor Gefühlen, Wünschen, Körperempfindungen, Bedürfnissen oder Berührungen. In der Theorie der strukturellen Dissoziation unterscheiden wir Phobien vor: − »traumabezogenen Stimuli und Verhalten, − traumatischen Erinnerungen, − traumabezogenen seelischen Handlungen, − dissoziativen Persönlichkeitsanteilen, − Bindung und Bindungsverlust, − Intimität, − dem normalen Leben und − Veränderung und gesundem Risikoverhalten« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 471). Der Ablauf der Therapie erfolgt auch beim Ansatz der strukturellen Dissoziation nach einem Phasenmodell, wie es schon P. Janet vorgeschlagen hat. Dabei werden die Therapiephasen nicht als ein

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statisches Modell verstanden, in dem die Phasen zwanghaft nacheinander abgearbeitet werden, sondern als ein zirkulärer Prozess, bei dem die Therapie sich immer wieder in den unterschiedlichen Phasen ereignet. So wechseln sich Stabilisierung und Traumabegegnung in kleinen, sicheren Dosierungen bei der Arbeit an den einzelnen Phobien immer wieder ab. Ziele dabei sind: »Phase 1: Symptomreduzierung und Stabilisierung − Überwinden der Phobie vor dem Kontakt zum Therapeuten − Überwinden der Phobie vor mentalen Inhalten (z. B. Gefühlen, Gedanken, Körperempfindungen, Wünschen, Fantasien) − Überwindung von Phobien vor den dissoziativen Persönlichkeitsanteilen (ANP und EP). Phase 2: Behandlung der traumatischen Erinnerungen − Überwindung der Phobien im Zusammenhang mit der unsicheren Bindung zum Täter/zu den Tätern − Überwinden der Phobien der EPs im Zusammenhang mit der unsicheren Bindung zum Therapeuten − Überwinden der Phobien vor den traumatischen Erinnerungen. Phase 3: Integration der Persönlichkeit und Rehabilitation − Überwinden der Phobien vor dem normalen Leben − Überwinden der Phobien vor einer gesunden Risikobereitschaft und vor Veränderungen − Überwinden der Phobie vor Intimität einschließlich Sexualität« (van der Hart et al., 2006, S. 159).

Psychobiologische Erklärungsmuster Die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahren viele Erkenntnisse gewonnen, die uns therapeutisch helfen, Handlungen und Verhalten des Menschen besser zu verstehen. Wir wollen hier nur auf wenige Ergebnisse kurz eingehen, weil sie unser Verständnis von Dissoziation wesentlich mitgeprägt haben. Wir beziehen uns im Folgenden vor allem auf die Arbeiten von J. Panksepp (1998) und S. Porges (1995, 2001, 2003) (ohne dabei die anderen Forschungen hintenan stellen zu wollen). Die beiden Autoren gehen davon aus, dass das menschliche Gehirn grob in zwei unterschiedliche Bereiche aufgeteilt werden

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kann. Der entwicklungsgeschichtlich ältere Teil ist das sogenannte ventrale (bauchseitige) Gehirn. Es umfasst Bereiche des verlängerten Rückenmarks, das Mittelhirn und das limbische System. Es ist bei allen Säugetieren in ähnlicher Form zu finden. Das sogenannte dorsale (rückseitige) Gehirn ist entwicklungsgeschichtlich jünger und hat sich sehr unterschiedlich ausgebildet. Der Neocortex des Menschen ist ein Ergebnis. Das limbische System, als Teil des ventralen Gehirns, umfasst das Stammhirn (Sitz primitiver Verhaltensprogramme, die unser Routineverhalten prägen, zum Beispiel Schutzsuche, Ausruhen, Unterordnung, Jagen – Programme, wie sie selbst bei Reptilien zu finden sind) und den Balken, der beide Hirnhemisphären verbindet. Das EOS (»Emotional Operating System«), ein komplexes System für affektive Muster, ist einer ihrer zentralen Bereiche. Das EOS enthält Handlungssysteme, die das Überleben der Art – die Aufzucht von Nachkommen, die Suche nach Nahrung etc. – sichern. Es funktioniert bei allen Säugetieren ähnlich und ist als Struktur deshalb auf das menschliche Gehirn übertragbar. Bisher sind sieben EOSZentren erforscht. Die Forscher gehen von noch mehr Systemen aus, konnten sie aber bisher nicht eindeutig nachweisen. Die Arbeitsgruppe von S. Porges hat besonders auf die zentrale Bedeutung des Nervus Vagus hingewiesen und die sogenannte Polyvagaltheorie entwickelt. Während früher das autonome Nervensystem, also der Sympathikus und der Parasympathikus, primär für physiologische Prozesse verantwortlich gemacht wurde, zeigen neuere Forschungen seine große Bedeutung für weitaus komplexere Prozesse. Danach ist der Parasympathikus zweigeteilt in einen dorsalen und einen ventralen Vagus (übliche Kurzbezeichnung für Nervus Vagus). Porges unterstreicht die zentrale Bedeutung des Vagus für die Evolution des Gehirns. Menschen müssen Freund und Feind, Sicherheit und Bedrohung voneinander unterscheiden und auf die entsprechenden Signale reagieren können. Im Laufe der Evolution haben sich dafür komplexe Systeme gebildet. »Produkt dieses phylogenetischen Prozesses ist ein Nervensystem, das Menschen mit der Fähigkeit ausstattet, Emotionen auszudrücken, zu kommunizieren und körperliche wie verhaltensbezogene Zustände zu regulieren« (Porges, 2007a, S. 4).

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Bei Säugetieren, also auch beim Menschen, lassen sich drei Regelkreise des ventral-vagalen Systems unterscheiden, die hierarchisch strukturiert sind (diesen drei Regelkreisen entsprechen drei Verhaltensstrategien, siehe unten). Die Funktionsweise dieses komplexen autonomen Systems wird durch neuronale Prozesse gesteuert. Die in den Regelkreisen ausgelösten Verhaltensstrategien haben für das Verstehen und die Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen weitreichende Auswirkungen. Die drei Verhaltensstrategien sind der soziale Kontakt, die Mobilisierung und die Immobilität. Wir referieren im Weiteren Porges. 1. Der soziale Kontakt: Verhaltensstrategien, die auf den sozialen Kontakt orientiert sind, werden durch neuronale Muster unterstützt, die zwei Komponenten bedienen. Der myelinisierte Vagus, der Pfade umfasst, deren Ursprung im Frontalcortex liegen, begünstigt ruhige Verhaltensweisen; er kontrolliert zum Beispiel die Gesichtsmuskeln (emotionaler Gesichtsausdruck), die Mittelohrmuskeln (Filter zur Unterscheidung menschlicher Stimmen von anderen Geräuschen), die Kaumuskeln (Verdauung), den Kehlkopf und den Rachen (Stimmbildung und Sprache), die Kopfdrehmuskeln (Gesten der sozialen Orientierung) und die Öffnung der Augenlider (Sehen). Die entsprechenden Muskeln funktionieren einerseits als Dämpfer (die Wahrnehmung der Stimuli von außen wird eingeschränkt) und gleichzeitig als Anreger für die Beschäftigung mit der sozialen Wirklichkeit. Dieses Zusammenspiel bestimmt die sozialen Erfahrungen, während im Hirnstamm befindliche Nerven autonom den Herzschlag verlangsamen, den Blutdruck reduzieren und damit aktiv die stressphysiologische Erregung unterdrücken (Porges, 2007a, S. 1ff.). Die Herstellung von Sicherheit bekommt damit eine neue Bedeutung und schafft auf dieser Ebene erst die Möglichkeit zu Kommunikation, Zuhören, sozialer Kontaktaufnahme, Bindung, Kümmern um den Nachwuchs etc. So werden Augenkontakt möglich, das Sprechen in einem angenehmen Tonfall, das Zeigen freundlicher Gesichtsausdrücke, das Herausfiltern angenehmer Stimmmuster und auch das Zulassen von körperlicher Berührung. Bestimmte Areale des Gehirns bewerten Merkmale des Gesichtsausdrucks, der Körperbewegung, der Atmung, der Stimme, und vermitteln

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den Eindruck von Sicherheit und Vertrauen. So wird im Cortex ein bestimmter Bereich aktiviert, wenn wir Gesichter und Stimmen von Familienangehörigen wahrnehmen. Anscheinend sind die Temporallappen des Cortex für die Unterscheidung von »sicher« und »vertrauenswürdig« bzw. »unsicher« oder »gefährlich« verantwortlich. Wenn Personen als sicher identifiziert sind, hemmen neuronale Schaltkreise aktiv Handlungsmuster der Verteidigung, des Kampfes oder der Flucht. Allerdings können bereits kleinste Veränderungen der biologischen Bewegungen, beispielsweise ruckartige Bewegungen, bestimmte Gesten, aggressiver Gesichtsausdruck, laute Stimme, zu einer Veränderung der Botschaft von »sicher« hin zu »unsicher« bewirken (S. 2 f.). 2. Die Mobilisierung: Wenn die Fokussierung auf Bedrohungsreize bestehen bleibt und die Verteidigungssysteme aktiviert werden, wird die sogenannte vagale Bremse (Dämpfung der Herz- und Atemfrequenz) gelöst und sympathische Reaktionen werden ausgelöst. Dadurch werden Handlungssysteme, die auf Flucht oder Kampf orientiert sind, aktiviert. Der Körper schaltet in einen »Kampf-Flucht-Modus«, die Herzfrequenz steigt deutlich an, ebenso der Blutdruck, die Hände werden feucht und kalt, der Mund wird trocken und die Sehfähigkeit für den Nahbereich senkt sich ab. Die »sozialen« Handlungen wie Kommunikation und Zuhören sind nur noch sehr eingeschränkt nutzbar. Die gesamte Energie wird auf die Muskulatur der Gliedmaßen ausgerichtet. Eine Beruhigung ist hier noch schnell möglich, indem über das ventral-vagale System wieder »gebremst« wird. 3. Die Immobilität: Sie ist die phylogenetisch älteste Verhaltensstrategie, die durch das dorsal-vagale System im Bedrohungsfall aktiviert wird. Es entstammt einem Areal des Stammhirns, das dorsaler motorischer Nukleus des Vagus genannt wird und bei fast allen Wirbeltieren vorkommt. Lebewesen reagieren im Falle der Aktivierung mit Immobilität, Sich-tot-Stellen, In-Ohnmacht-Fallen und mit der Entleerung von Magen und Darm. Die Herzleistung senkt sich weiter ab. Totale Unterwerfung ist mit niedrigem Blutdruck und Herzfrequenz, langsamer Atmung und körperlicher wie emotionaler Anästhesie verbunden. – Die Traumareaktion des Einfrierens hingegen scheint keine dor-

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sal-vagale Aktion zu sein. Das Einfrieren braucht viel Energie, schnelle Atmung, hohen Muskeltonus, Erhöhung der Herzfrequenz und CRF (»Corticotropin Releasing Factor«), Analgesie, Bewegungsstarre etc. und unterliegt wahrscheinlich vagal-sympathischer Kontrolle (Nijenhuis, 2007, S. 186–188). – Immobilität ist der älteste Schutzmechanismus. Die Verlangsamung der Bewegung und das Heben der Schmerzschwelle haben neben dem defensiven Erstarren jedoch auch eine Bedeutung für basale soziale Aktivitäten. Sie sind auch bei Konzeption (Empfängnis), Geburt, Umsorgung von Neugeborenen, Aufbau sozialer Beziehungen zu finden. Anscheinend wurden durch den Prozess der Evolution neuronale Regelkreise des Gehirns so modifiziert, dass Prozesse, die ursprünglich dem Erstarrungsverhalten zugeordnet waren, dem Menschen auch dazu dienen, intime Sozialbedürfnisse zu befriedigen. Das bekannte Oxytocin, ein Neuropeptid (umgangssprachlich auch Bindungshormon genannt), wird bei der Geburt, beim Stillen und bei Bindungsaktivitäten freigesetzt. So können wir beispielsweise tröstende Umarmungen genießen. Identifizieren wir aber jemanden als gefährlich, wird kein Oxytocin freigesetzt, und wir wehren die Umarmung ab (Porges, 2007b, S. 3 ff.).

Die Handlungssysteme Die Frage, wie wir das Zusammenspiel zwischen Emotionen und Handlungen und Handlungstendenzen erklären, welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen, wie sie motiviert werden, wie Zielkonflikte in Handlungen gelöst werden etc. beschäftigt viele Forschungsrichtungen, die in den vergangenen Jahren dazu unterschiedlichste Ergebnisse geliefert haben. Auf einige möchten wir hier verweisen: Aus der kognitiven Psychologie und Entwicklungspsychologie sind es die Arbeiten von Schore (2003a, 2003b und 2007), aus der Psychoanalyse von Fonagy, Gergely, Jurist, Target (2004), aus der Neurobiologie von Damasio (1999/2000), Fuster (2003), Llians (2001), Panksepp (1998) und aus der Neurophilosophie von Metzinger (1999, 2006). Panksepp beispielsweise hat in seinen Forschungen folgende Systeme nachweisen können:

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CARE = Pflegesystem, FEAR = Angstsystem, LUST = Lustsystem, PANIC = Paniksystem, PLAY = Spielsystem, RAGE = Ärgersystem, SEEKING = Neugiersystem.

Sie alle sind komplexe neuronale Programme, die motorische, vegetative und affektive Qualitäten besitzen. Sie werden spontan durch adäquate Impulse der Umwelt aktiviert. Sie prägen menschliches Verhalten physiologisch wie psychologisch in vielen Bereichen, erklären Verhaltensweisen, wie sie zum Beispiel in traumatischen Situationen entstehen, und helfen so, therapeutische Ideen zu entwickeln. Dabei werden die psychobiologischen Systeme mal als motivationale (z. B. Gould, 1982, Toates, 1985), behaviorale (z. B. Bowlby, 1982/2006) oder emotional arbeitende Systeme (z. B. Panksepp 1989) beschrieben. »Wir haben sie Handlungssysteme (action systems) genannt, weil sie uns helfen, uns durch mentale und behaviorale Handlungen adaptiven Herausforderungen zu stellen. Bei gesunden Erwachsenen sind die Handlungssysteme des Alltagslebens und der Verteidigung [weitgehend] integriert« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 50).

Sie sind »psychobiologische Überlebenssysteme (Fanselow u. Lester 1988) oder emotional arbeitende Systeme (Panksepp 1998), die sich in weitere Subsysteme einteilen lassen. Zweck dieser Systeme ist die Regelung adaptiver Handlungen und Handlungsanweisungen« (Mattheß u. Nijenhuis, 2006b, S. 465). – Sie sind »selbstorganisiert, im Laufe der Evolution entstanden, funktional, innerhalb gewisser Grenzen flexibel und angeboren, aber epigenetisch, d. h. ein Produkt, das durch Interaktionen zwischen genetischen Faktoren und Umweltfaktoren entsteht« (Panksepp 1998). »[. . . ] Aktionssysteme [Handlungssysteme] sind epigenetisch, d. h., sie sind das Resultat von Veranlagung in Verbindung mit Einflüssen aus der Natur und der Pflege. Insbesondere frühe Erlebnisse können spezifische Details

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im Gehirn dauerhaft verändern. Aktionssysteme unterliegen der klassischen Konditionierung, so dass zuvor neutrale Ereignisse unkonditionierte (z. B. traumatische) Ereignisse voraussagen können« (Nijenhuis, den Boer u. Mattheß, 2007, S. 179 f.).

Handlungssysteme prägen die Persönlichkeit und sind Grundelemente unserer Person. Im Normalfall sind sie integriert und weitgehend immer zugänglich. Sie regulieren Handlungstendenzen und steuern so einen großen Teil unserer Alltagsaktivitäten. Sie regulieren beispielsweise, was wir als attraktiv ansehen oder was wir ablehnen. Sie helfen uns Ziele zu verfolgen und zu unterscheiden, was für deren Erreichen wichtig ist und was nicht. »Im Idealfall kommt es innerhalb der Handlungssysteme und zwischen ihnen aufgrund des normalen Entwicklungsverlaufs zur Integration, was bewirkt, dass wir so adaptiv wie eben möglich leben können. Sie regulieren und steuern die Handlungstendenzen [. . . ]. Im Laufe der Evolution sind diese primitiven Handlungssysteme mit höheren kortikalen Funktionen verbunden worden, und aufgrund dessen sind wir zur Entwicklung komplexer Handlungstendenzen in der Lage, unter anderem komplexer Beziehungen« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 50 f.).

Handlungssysteme sind eine Form komplexer Subsysteme, »und jedes besteht mindestens aus zwei Ebenen mit jeweils eigenen Zielen, Motivationen und ihnen entsprechenden Handlungstendenzen (Fanselow u. Lester 1988, Timberlake 1994). Wir unterscheiden Handlungssubsysteme und innerhalb dieser Subsysteme Modi oder motivationale Zustände. Beispielsweise umfasst das Handlungssystem Energieregulation Subsysteme wie die für Essen und Schlafen, die jeweils andere Zielsetzungen verfolgen, aber letztlich alle der Energieerhaltung dienen« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008, S. 52).

Die Subsysteme regulieren, wie Menschen auf bestimmte Reize achten, sie wahrnehmen und wie sie sich auf diese zubewegen. Sie entscheiden wesentlich mit, welche Teile des Erlebens integriert werden. Sie schränken die Wahrnehmung so ein, dass im Bewusstseinsfeld der Menschen nur noch bestimmte Reize Bedeutung haben, beispielsweise Hunger, Verteidigung, Sexualität und Beziehung. So fördern oder hemmen die Subsysteme bestimmte Handlungstendenzen.

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Im Alltag sind wir ständig in der Situation, unterschiedlichste Ziele zu verfolgen: Beziehungen einzugehen, Konkurrenz zu erleben, bedroht zu werden, Essen zu müssen, Kinder zu erziehen, sich auszuruhen, Sexualität zu haben, die Welt zu erkunden, sich mit anderen zu vergleichen, Kranke zu versorgen und vieles mehr. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen wir versuchen, unterschiedlichste Handlungssysteme zu integrieren. Das kann schwierig sein, wenn es konkurrierende Motivationen gibt. Ein hohes Maß an Integrationsleistung ist erforderlich, wenn wir uns in Situationen bewegen, in denen ein Ausgleich zwischen unterschiedlichen Handlungssystemen nötig ist, zum Beispiel wenn wir Arbeit und Beziehung in einen Ausgleich bringen wollen. Noch schwieriger ist es, wenn wir einerseits uns in einer Situation bedroht fühlen und uns verteidigen wollen, und anderseits unsere Neugier uns antreibt, in der Situation zu verweilen, die eigentlich bedrohlich ist. Diese Integration unterschiedlicher Handlungen erfordert ein hohes Maß an mentaler Spannung. Die verschiedenen Handlungstendenzen können nicht nur einem Handlungssystem zugeordnet werden. Vielmehr sind sie für unterschiedlichste Ziele zu nutzen und zu modifizieren. So können wir Sex haben, um zu entspannen, zur Fortpflanzung, zum Spiel/Exploration, zur Bindung, in manchen Fällen auch Tab. 1: Handlungssysteme (nach Wöller, 2006, S. 466; die Bezeichnung »Aktionssysteme« wurde durch »Handlungssysteme« ersetzt)

Handlungssysteme des Alltags

Handlungssysteme der Verteidigung

Handlungssysteme der Erholungszustände

Bindung Exploration (Neugier) Spielen Energieregulation (Ausruhen, Nahrungsaufnahme etc.) Sozialverhalten Versorgung Reproduktion/ Sexualität

Wundversorgung Bindungsschrei Pause Hypervigilanz Isolation von der Gruppe Einfrieren Fliehen Kämpfen Zusammenbruch totale Unterwerfung mit Anästhesie, Analgesie und dem Totstellreflex

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zum Schutz. Essen kann zur Bindung und sozialem Kontakt beitragen, es kann als Spiel oder Test verstanden werden, ob etwas bekömmlich ist oder nicht. Es dient der Energieversorgung und manchmal auch der Verteidigung, um Gefühle zu vermeiden. Handlungssysteme aktivieren unterschiedlichste Gruppen von affektiven Zuständen, welche helfen, Erlebnisse zu identifizieren und entsprechende Antworten in Form von Handlungsmustern zu entwickeln. Sie sind mit ihren Subsystemen Ergebnisse von Anpassungsprozessen, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben. Beispielhaft nennen wir in Tabelle 1 Handlungssysteme des Alltags, der Verteidigung und Erholungszustände.

Aufgaben und Prinzipien in der Therapie der strukturellen Dissoziation Nach den für eine Therapie notwendigen Schritten (Auftragsund Zielklärung, Therapiemotivation) ist die wichtigste Aufgabe der ersten Phase die Stabilisierung und die Stärkung der Integrationskapazität des ANPs und der bedeutsamen EPs. Dabei soll der Fokus auf einer Entwicklung der Fähigkeit liegen, Alltagsaufgaben anzugehen und zu vollenden (wie z. B. den Alltag zu strukturieren, einfache Haushaltstätigkeiten zu erledigen, eventuell einer Arbeit nachzugehen, sich um die Kinder zu kümmern etc.). Das schafft nicht nur eine Verstärkung der eigenen Ressourcen, sondern erhöht die mentale Kraft und Effizienz und das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Darüber hinaus ist das Abschließen einer Aufgabe, einer »Gestalt« etc. wichtig, damit sie in der inneren Repräsentation auch als gelernt und verstanden abgespeichert werden kann. Diese Prozesse werden durch unterschiedlichste Aktionen und Aktivitäten gestört, unter anderem weil die traumatische Vergangenheit des EP in der Regel eine nicht vollzogene, unabgeschlossene Handlung ist und deshalb die Phobien des EP das Abschließen von Handlungen des ANP in der Gegenwart behindern. Das »Window of Tolerance«, das von den Psychologen Ogden und Minton in den USA entwickelt wurde, beschreibt einen optimalen Erregungsbereich für die Therapie/Beratung (Abbildung 4).

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Hyperarousal Hyperarousal

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ƒ Emotionale Reaktivität ƒ Hypervigilanz ƒ Intrusive Bilder ƒ Zwanghaftes/kreisendes mentales Verarbeiten ƒ Druck, Zittern, nicht „geerdet“ ƒ Panik ƒ Dissoziation ƒ Rückkzug aus dem Bewußtsein

ƒ Optimale Erregungszone, ƒ mentaler Bereich der Integration

erlaubt ƒ Sicherheitsbereich

Hypoarousal

ƒ Unzureichender Erregungsgrad ƒ Flacher Affekt ƒ Unfähigkeit klar zu denken ƒ Numbing (Betäubung) ƒ Zusammenbruch ƒ Geistige Faulheit

Abb.4: Window of Tolerance (nach Ogden a. Minton, 2000)

Hypoarousal ist eine parasympathische Reaktion mit fallendem Puls, die Atmung und die Affekte sind flach. Die Klienten erscheinen wie betäubt und sind unfähig, klar zu denken. Auftretende Symptome sind dem Dissoziationskontinuum zuzurechnen, es zeigen sich folgende Symptome: Derealisation, Depersonalisation, Betäubung, Ohnmacht, Fugue. Beim sogenannten Hyperarousal finden sich nach Perry (Perry et al. 1998) Flucht- und Kampfreaktionen. Der beschleunigte Puls und die erhöhte Atemfrequenz ist die offensichtlichste physiologische Reaktion. Die Steigerung der Aufmerksamkeit, die erhöhte Wachsamkeit, Verhaltensverunsicherungen, Hypervigilanz, Angst, Panik, hoher Bewegungsdrang, Zittern, Intrusionen und kreisende mentale Verarbeitungsprozesse sind die Symptome. Beide Bereiche, Hypoarousal und Hyperarousal, sind ungünstig für Veränderungsprozesse, die Gedächtnisleistung ist reduziert, und eine mentale Verarbeitung wird durch stressphysiologische Prozesse blockiert. Im Hyperarousal dominiert der Sympathikus und im Hypoarousal der Parasympathikus des vegetativen Nervensystems. Das »Window of Tolerance« ist ein wichtiger Helfer für den therapeutischen Prozess. Es ist sinnvoll, darauf zu achten, dass sich die Klienten und Klientinnen im optimalen Erregungszustand bewegen; dann können sie lernen, achtsamer gegenüber sich selbst und ihren EPs zu werden und aufmerksam gegenüber der sozialen und physischen Umwelt zu

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sein. Damit einher gehen die Wahrnehmung und Anerkennung von Triggern, Intrusionen, Affekten, die die Handlungssysteme der Verteidigung bei den EPs aktivieren. Idealerweise bewegen sich Therapeutinnen im sozialen Bereich, um ein Gegengewicht zu schaffen zu dem, was in traumatischen Erfahrungen erlebt wird. Bei schweren Traumatisierungen sind die Opfer oft im Hyperarousal oder im Hypoarousal. Bei Aktivierung traumatischer Erfahrungen entsteht eine Art Alarmzustand im Körper, der Sympathikus wird alarmiert und mobilisiert. Das Signal lautet »Vorsicht, Gefahr«, die innere Wachsamkeit steigt, es wird überprüft, ob die Gefahr weiter besteht. Wird die Bedrohung bestätigt, dann wird die nächste Prozessebene angestoßen und die Handlungen von Kampf, Flucht und Einfrieren werden ausgelöst, was eine ganze Kaskade von Reaktionen und Prozessen nach sich zieht. Ist der Sympathikus zu dominant, befinden sich die Menschen in einem ständigen Alarmzustand (mit Kampf- oder Fluchtverhalten), haben einen hohen Arousal und es fällt ihnen schwer, sich zu entspannen und abzuschalten. Die hohe und dauerhafte Anspannung (auf physischer wie psychischer Ebene) führt zu Veränderungen in der Wahrnehmung, des Bewegungsapparates, der Schmerzempfindlichkeit usw., was unter anderem damit einhergeht, dass die Verletzungsgefahr, beispielsweise beim Sport und bei alltäglichen Arbeiten, wächst. Durch die innere Anspannung wird der Kraftaufwand selbst für alltägliche Aufgaben größer und die Mobilität sinkt. Aggressivität und Hyperaktivität treten öfter auf. In Beziehungen treten vermehrt Schwierigkeiten auf, weil das Bindungssystem geschwächt, die Emotionalität reduziert ist und Affektdurchbrüche öfter zu beobachten sind. Dies kann auch in der Therapie geschehen, zum Beispiel wenn Klienten auf einmal vorsichtig werden, ausweichen, unruhig werden, sich zurückziehen, irrelevant werden. Bleibt die Gefahr bestehen, so folgt das Umschalten auf Immobilisierung, indem der Parasympathikus aktiviert wird. Vergesslichkeit, Amnesien, Unbeweglichkeit, Erstarrung, Dissoziation, Totstellreflex sind die Symptome, die auftreten und dann im späteren Leben auch immer wieder aktiviert werden können. Überwiegt im Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus der parasympathische Anteil (zu dem der Vagusnerv mit seinen ver-

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schiedenen Ästen gehört), fällt es schwer, sich anzustrengen, sich zu konzentrieren und die notwendige Energie zur Bewältigung des Alltags aufzubringen. Alltägliche Handlungen werden entweder nicht mehr begonnen oder können nicht zu Ende geführt werden. Die mentale Energie ist zu gering. Traumatherapeutisch geht es nun darum, die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus wieder auszugleichen, was zu einem effizienten Verhalten und zu erweiterten Möglichkeiten in der Bewältigung schwieriger (problematischer) Situationen führen kann. Damit das gelingt, muss ein Zugang zum Vagussystem gefunden werden. In den unterschiedlichen Ansätzen der Traumatherapie wird dies unter anderem erreicht durch eine beruhigende Sprache, Herstellen von Sicherheit, die Erarbeitung optimaler Erregungsbereiche, Affektregulationstechniken, körperorientierte Übungen und Bewegungen, Integrationsübungen von emotionalen Persönlichkeitsanteilen, Ressourcenaktivierung, Verstärkung von Bindungsaktivitäten und Traumabegegnung in Distanz. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass diese heilenden Prozesse nur im optimalen Erregungsbereich zu erreichen sind. In der Traumatherapie, aber nicht nur dort, ist es also bedeutsam, auf den physisch-psychischen Zustand der Klienten zu achten, um Therapie effektiver und nachhaltiger zu machen. Ideal ist, wie bereits erwähnt, eine ausgewogene sympathische und parasympathische Aktivität. Sie führt in den optimalen Erregungsbereich einer Psychotherapie. Wenn beide Anteile des autonomen Nervensystems in Balance sind, ist die integrative Kapazität am größten, also die Möglichkeit, Neues oder Unbekanntes aufzunehmen, zu experimentieren, neue Aufgaben anzugehen, Veränderungsideen umzusetzen, neue Handlungen zu integrieren. Hier sind die mentale Spannung und Energie, die für die Integration von Neuem von großer Bedeutung sind, am stärksten. Dafür ist es wichtig: − dass Klienten sich sicher und stabil fühlen können, − die Beziehung zum Therapeuten positiv besetzt ist, − genug Vertrauen aufgebaut wurde, − und eine freundliche Grundatmosphäre besteht.

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Dies bedeutet für die Sitzung mit einer Familie, dass idealerweise alle Familienmitglieder sich in diesem Bereich bewegen sollten, um gute Bedingungen für Veränderungsprozesse herzustellen und nachhaltige Therapieergebnisse erreichen zu können. Wenn Eltern im optimalen Bereich sind, können sie ihre Kinder aus dem Hyperarousal in einen optimalen Erregungsbereich führen und ihnen zeigen, wie Affektkontrolle erreicht wird.

Der therapeutische Prozess in zwölf Schritten4 Folgende Punkte sollten bei der Therapiegestaltung berücksichtigt werden: 1. Vermittlung dessen, was der Klient erleben, verstehen und aushalten lernen muss, dass ANP, EPs und Therapeut in einem Raum sind und miteinander in Kontakt kommen. 2. Erarbeitung eines sicheren und ruhigen Ortes, zuerst als Imagination. 3. Einführen von Stoppsignalen und der Idee von Kontrolle. Dabei sind Stoppsignale für den ANP bzw. die ANPs und EP bzw. die EPs notwendig. Auch die Idee von Kontrolle über das, was geschieht, muss für alle deutlich und erlebbar sein. 4. Einrichten eines ruhigen, sicheren, vertrauensvollen Platzes in der Realität zu Hause und in der Therapie. Hier können EPs sein und sich ausdrücken, zum Beispiel durch Malen, Spielen und Schreiben. 5. Innere Begegnung von ANP und EPs finden unter klaren Regeln statt. Die Begegnung muss strukturiert und sicher erfolgen. Manchmal geht das nur langsam und durch kleinste Schritte. 6. Erlernen von inneren Konferenzen mit ANP bzw. ANPs und EP bzw. EPs durch einen Konferenzleiter in einem Inneren Versammlungsraum. Die Regeln sollen eindeutig und 4 Diese Zusammenfassung basiert auf Ausführungen von E. Nijenhuis während eines Seminars im Oktober 2007 beim ifs (Institut für Familientherapie und Systemische Supervision) in Essen zum Thema »Strukturelle Dissoziation«.

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sicher sein. Die Konferenzteilnehmer können durch eine Skulptur mit Figuren repräsentiert und externalisiert werden. Tägliches Einüben einer inneren Konferenz am Tagesbeginn, in der geklärt wird, was anliegt und wer was erledigt (davon kann ein Protokoll erstellt werden). Am Abend wird dann geprüft, was gelungen ist und was nicht. Dadurch sollen eine bessere Vorhersagbarkeit der Tagesgestaltung und eine Beruhigung erzielt werden. Wegpacken der traumatischen Erinnerungen in einen Safe, wo sie für eine Zeit zwischengelagert werden, damit sich die EPs unbelastet treffen können. Bearbeitung der belastenden traumatischen Geschichte zunächst ohne den ANP. Worte sollen symbolisiert oder sensomotorisch ausgedrückt werden. Auf der Ebene der Handlungssysteme einladen, von der Verteidigung zur Untersuchung und zum Spiel zu wechseln, und entsprechende Angebote machen, um Integration anzustoßen. Kontakt und Begegnung mit dem traumatischen Material in guten Dosierungen für EP1, EP2 und EP3. Begegnung von ANP und EP1 und EP2 und EP3 untereinander ermöglichen und dann mit dem traumatischen Material. Dabei auf einen guten Energielevel achten, damit eine Integration, eine Realisation und der Prozess der Synthese stattfinden können. Integrationsbestrebungen weiter fördern. Handlungen sollen in der Gegenwart vollzogen und realisiert werden, und nicht mehr in der Vergangenheit oder Zukunft.

Was heißen diese Überlegungen systemisch? − Klienten haben weitaus mehr Schwierigkeiten, den Wechsel zwischen ANP und EP zu kontrollieren, wenn sie alleine sind. − Einsamkeitsgefühle triggern häufig EPs, deshalb versucht der ANP, reales und imaginiertes Verlassensein zu vermeiden. − Beziehungspartner können dabei unterstützen, die integrativen Fähigkeiten des ANP zu stärken. − Gute, sichere soziale Beziehungen reduzieren die Alarmbe-

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reitschaft des EPs der Verteidigung und sorgen so für weniger Retraumatisierung. − Therapeuten und Familienmitglieder können einen wichtigen Beitrag zur Affektmodulation erbringen. − Therapeuten und Familienmitglieder können helfen, Klienten, die im Handlungssystem der Verteidigung (mit Flucht, Kampf oder Einfrieren) feststecken, durch sichere soziale Beziehungen zu beruhigen und zu stabilisieren. − Die Idee des inneren Systems der strukturellen Dissoziation lässt sich gut mit systemischen Ideen verbinden (Neutralität den Systempartnern gegenüber, Kontextorientierung, Autopoiesekonzepte u. a. m.). Der therapeutische Prozess kann als abgeschlossen gelten, wenn aus der traumatischen eine autobiografische Erinnerung geworden ist – ein Narrativ, mit dessen Hilfe die Klientin in der Gegenwart mit angemessenen Gefühlen über das Trauma berichten kann. Dazu muss sie lernen, sich mit allen Persönlichkeitsanteilen bewusst in der Gegenwart zu erleben und zu spüren (Präsentifikation) und das mit dem Bewusstsein der eigenen Vergangenheit und Zukunft zu verbinden. Darüber hinaus ist es bedeutsam, die in der Lebensgeschichte und Gegenwart gemachten Lebenserfahrungen als zur eigenen Person gehörig zu akzeptieren und dazu adäquate Verhaltensweisen zu entwickeln (Personifikation) (van der Hart et al., 1995). Dazu können folgende Maßnahmen beitragen: Sie stellen Grundideen von Traumatherapie dar und haben neurobiologisch Auswirkungen auf die Therapie: Klienten sollen − sich in der Beziehung sicher fühlen; − lernen, inneren Stress zu managen und zusätzlichen Stress zu vermeiden; − lernen, die physiologische Erregung zu kontrollieren; − lernen, Affekte zu kontrollieren (vorher ist keine Traumaexposition möglich); − Sicherheit über alle ihre Teile/Anteile erlangen und nach und nach ein Co-Bewusstsein entwickeln.

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Das Konzept mentaler Spannung und Energie Mentale Energie und Spannung meint die Fähigkeit, neue Ideen, Verhaltensweisen ausprobieren zu können und diese in die Persönlichkeit zu integrieren. Wie unterschiedlich diese Fähigkeiten im Alltag ausgeprägt sind, kennen die meisten Menschen aus ihren Urlaubserfahrungen: Sie kommen erschöpft von der Reise an ihrem Urlaubsort an, der in einem fremden Land liegt, mit einer wenig bekannten Sprache und einer fremden Kultur, und sie haben den Eindruck, alles überfordert sie, was gerade auf sie einströmt (geringe mentale Spannung und Energie aufgrund der Strapazen der Reise, Zeitverschiebung etc.). Am anderen Morgen, ausgeschlafen und gestärkt, sprühen sie vor Neugier, das Fremde in sich aufzusaugen und zu integrieren. Hinsichtlich des Verhältnisses von mentaler Energie und mentaler Spannung lassen sich vier grundsätzliche Zustände beschreiben: − hohe mentale Spannung und hohe mentale Energie sind der wünschenswerteste Zustand; − niedrige mentale Energie und hohe mentale Spannung: wenig Antrieb, aber viele Ideen, was man tun könnte, ohne die Möglichkeit, diese auch in Handlungen umzusetzen; − hohe mentale Energie und niedrige mentale Spannung: viel Aktivität, Bewegungsdrang, aber geringe Möglichkeiten, Handlungen zu Ende zu führen und die Energie zielgerichtet zu nutzen (symptomatisch drückt sich das z. B. im ADHS aus); − niedrige mentale Energie und niedrige mentale Spannung: depressive Zustände, Lebensunlust etc. Sowohl im Hyerarousal wie im Hypoarousal sind die mentale Energie und Spannung oft so gering, dass notwendige Handlungen des Alltags nicht durchgeführt oder nicht zu Ende gebracht werden können, was das Gefühl von Unfähigkeit, geringem Selbstwert etc. befördert. Durch Intrusionen sowie andere Symptome einer komplexen Traumafolgestörung und die daraus folgenden psychobiologischen Veränderungen verbringen Klienten häufig ihren Alltag im Bereich des Hypoarousal oder Hyperarousal, was dazu führt, dass die mentale Energie und die mentale Spannkraft oft gering sind, hilfreiche und notwendige

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Handlungen nicht durchgeführt oder nicht zu Ende gebracht werden können. Psychotherapeutische Prozesse, Veränderungsprozesse erfordern ein hohes Maß an mentaler Energie und Spannung, um erfolgreich sein können. Das gelingt nur, wenn Handlungen in der Psychotherapie abgeschlossen werden können und nicht durch die subjektive Belastung oder Überforderung abgebrochen werden. Das führt, wie ausgeführt, zur Minderung mentaler Kapazitäten. Abgeschlossene Handlungen hingegen erhöhen die mentale Spannung und Energie. In der Therapie sollte deshalb daran gearbeitet werden, wie einfache Handlungen begonnen und abgeschlossen werden können.

Handlungssysteme in der Praxis Die Bedeutung von Handlungssystemen für menschliches Handeln haben wir bereits theoretisch beschrieben. Hier wollen wir nun auf einer praktischen Ebene beschreiben, welche Bedeutung den Handlungssystemen in der Therapie mit Patienten mit Traumafolgestörungen zukommt. Dazu sollen zwei Gruppen vorgestellt werden. In einer sehr praxisnahen Beschreibung (und dadurch verkürzten Form) wird gezeigt, wie diese in therapeutischen Kontexten genutzt werden können bzw. für Interventionen nutzbar sind. − Handlungssysteme des Alltags: Sozialverhalten, Versorgung, Energieregulation (Ausruhen, Nahrungsaufnahme etc.), Bindung, Exploration, Untersuchung, Spiel, Sexualität und Reproduktion. − Handlungssysteme der Verteidigung mit den unterschiedlichen Subsystemen: Flucht, Kämpfen, Einfrieren, Zusammenbruch, totale Unterwerfung, Hypervigilanz, Bindungsschrei. Wir wollen zunächst einige Handlungssysteme des Alltags vorstellen: Die Handlungssysteme Sozialverhalten, Versorgung und Energieregulation werden durch das Erleben positiver Erfahrungen (Ruhe und Erholung, Sättigung u. a.) Ressourcen angesprochen und aktiviert. Das wiederum führt zum Ausgleich von Sympathikus und Parasympathikus. Beruhigung und Zukunfts-

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glaube ermöglichen es, Affekte zu kontrollieren, den Selbstwert zu steigern. Sie stärken Abwehrkräfte, erhöhen die Belastungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit und Bindung. Das Handlungssystem Bindung ist für die Therapie das wohl bedeutsamste und wird auf unterschiedlichsten Ebenen angesprochen durch Augenkontakt, ein freundliches Gesicht, zuwendende Gesten, einen warmen Klang der Sprache und freundliche Sprachmelodie, Ansprache von Ressourcen, Betonung und Verstärkung positiver Bindungserfahrungen aus der Vergangenheit, durch imaginierte positive Bindungserfahrungen und Berührung. Die Vermittlung von Geborgenheit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Affektberuhigung und Tröstung etc. verstärkt auf den einzelnen Bindungsebenen dieses Handlungssystem. Es mindert Konkurrenz und Kampfimpulse. Das Handlungssystem Bindung stärkt die Bindungsfähigkeit, die Resilienz, das Vertrauen in andere, gibt innere Ruhe und Sicherheit balanciert Sympathikus und Parasympathikus, reguliert Affekte, stärkt das Immunsystem und vieles mehr. Darüber hinaus wirkt es direkt auf den Belastungsstress und gilt in der Traumatherapie als das bedeutsamste Handlungssystem, um die Co-Evolution unterschiedlichster Persönlichkeitsanteile zu stärken. Die Handlungssysteme Sexualität und Reproduktion gehören im weitesten Sinne zum System Bindung. Sie gehen unter anderem mit der Versorgung von Oxytocin einher. Die Handlungssysteme Sexualität und Reproduktion nehmen eine Sonderstellung ein. In ihnen kommt eine besondere Kombination von sympathischen und parasympathischen Reaktionen zusammen, die in der Regel mit starken hormonellen Reaktionen besondere Handlungskaskaden freisetzen. Die Handlungssysteme der Exploration mit Neugier und Spielen stärken die mentale Spannung und Energie und ermöglichen so Lernen, Entwicklung, neue Erfahrungen, sich Erproben etc. Sie schaffen Motivation und Anreize, Neues auszuprobieren, Grenzen zu testen und sich zu entwickeln. Sie vermitteln Stabilität, Selbstvertrauen, geben Sicherheit sowie Anerkennung und schaffen soziale Kontakte. Jeder Mensch besitzt zwar diese Handlungssysteme, sie sind aber nicht für alle in gleichem Maße zugänglich und aktivierbar. Traumafolgestörungen, zum Beispiel Dissoziation, führen dazu,

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dass der ANP auf viele dieser bedeutsamen Handlungssysteme nicht mehr zurückgreifen kann oder nur noch eingeschränkt mit diesen in Kontakt ist. Das Handlungssystem der Verteidigung mit seinen unterschiedlichen Handlungstendenzen findet sich ebenfalls bei allen Säugetieren. Allerdings scheint es deutliche Unterschiede zu geben, wie die einzelnen Handlungskaskaden ausgelöst werden und wie das Handlungssystem wieder verlassen werden kann und andere Handlungssysteme aktiviert werden können. So haben viele wahrscheinlich bereits erlebt, wie eine ähnliche Situation, zum Beispiel allein durch eine einsame Straße zu gehen und wahrzunehmen, wie eine Gruppe von lauten Jugendlichen auf einen zu kommt, zu unterschiedlichen Reaktionsketten führt. Bei dem einen ist zu beobachten, wie sich der Körper langsam zusammenzieht, der Atem schneller geht, vielleicht sogar eine gewisse Bewegungserstarrung zu beobachten ist. Diese Reaktionen können auch noch lange über die »Bedrohungssituation« hinaus anhalten. Bei anderen Menschen spannen sich vielleicht die Schultern und die Muskulatur, die Augen ziehen sich etwas zusammen, die Bewegungen werden eckiger und die Reaktion lässt relativ schnell nach Beendigung der Bedrohungssituation wieder nach. Das Handlungssystem der Verteidigung scheint einerseits auf die bereits gemachten Erfahrungen von Bedrohung und den dabei genutzten Verhaltens- und Empfindungsreaktionen zurückzugreifen. Andererseits scheint die Dauer, der Grad der Bedrohung, der Kontext der Bedrohungssituation etc. dafür verantwortlich zu sein, wie sich das Handlungssystem der Verteidigung entfaltet. Das Verteidigungssystem wird angesprochen, wenn sich der Mensch bedroht fühlt. Wird die Bedrohung ernster, beispielsweise durch physiologische Attacken gegen die körperliche Integrität, werden ganze Kaskaden von Handlungen und Untersystemen ausgelöst und aktiviert. Handlungssysteme der Verteidigung werden aktiviert bei: − physischer Bedrohung, − psychischer Bedrohung, − realer wie konstruierter Bedrohung, − Gefahr für Leib und Leben der eigenen Person oder anderer Personen,

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− Triggern und Flashbacks bzw. vergangene Bedrohungssituationen. Wichtig ist, dass die Handlungssysteme der Verteidigung auch in Situationen aktiviert werden, in denen alte traumatische Erfahrungen neu getriggert werden oder die Menschen in der inneren Erwartung einer erneuten Bedrohung sind. Wir wollen hier besonders auf die Situation eingehen, in der Menschen eine erneute Bedrohung erwarten. Was ist damit gemeint? Zum Beispiel lässt sich bei Kindern, die in ihren Familien Gewalterfahrungen gemacht haben oder die verbalen Bedrohungen ausgesetzt sind, die mit viel Anspannung in ihren Familien leben, weil sie ständig auf der Hut vor Bedrohlichem sind, beobachten, wie diese (z. B. wenn der Vater laut wird) einen Angriff konstruieren und in den Verteidigungsmodus schalten. So erzählte zum Beispiel Dominik (10 Jahre) in einer Sitzung auf einmal von einer Situation, in der sein Vater ihn heftig attackiert und damit bedroht hatte, die Zigarette auf seiner Haut auszudrücken. Diese »reale« Bedrohung führt nun bei Dominik dazu, dass er jedes Mal, wenn der Vater laut schreit und dabei raucht, seine Hände versteckt, sich innerlich anspannt und, um diese dann auszuagieren, anfängt zu schreien. Ähnliche Reaktionen können auch in der Therapie auftreten. Die vermutete bzw. erwartete Bedrohung kann hier durch den Therapeuten angestoßen werden oder durch andere Familienmitglieder, die in der Sitzung etwas initiieren, was zu einer Aktivierung des Handlungssystems der Verteidigung führt. Dies ist manchmal nicht zu vermeiden, obwohl es für den therapeutischen Prozess eine eher schwierige Situation darstellt, weil die Therapie für Patienten ein Ort sein sollte, in dem sie sich sicher und stabil fühlen. In Paar- und Familientherapie können solche Situationen durch aggressive Impulse eines Familienmitglieds oder durch Trigger ausgelöst werden, aber auch durch Bagatellisierungen oder Beschämungen, die nicht rechtzeitig gebremst werden können. Es kann auch zu Retraumatisierungen kommen, wenn ein Familienmitglied über eine Situation erzählt, die für einen anderen traumatisierend war und der Therapeut diese Interaktion nicht rechtzeitig stoppen konnte. Auch ruckartige

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Körperbewegungen oder Laute (z. B. Weinen oder Stöhnen) können andere triggern. Auf der Therapeutenseite kann durch eine zu frühe, zu direkte und nicht genügend vorbereitete Traumakonfrontation oder durch Beschämungen das Handlungssystem der Verteidigung des Klienten aktiviert werden. Hinzu kommen Trigger, von denen der Therapeut nichts ahnen kann. So kann zum Beispiel die indirekte Abwertung, skeptische Gedanken der Therapeuten, ob das wohl stimmt, was da erzählt wird, die laute Stimme, der kritische Blick, die unerwartet plötzliche Intervention etc. schnell zu einer Aktualisierung des Traumas führen und damit die gleichen Handlungssysteme aktivieren wie in der traumatischen Situation. Die Situation wird noch etwas komplizierter, wenn man sich jetzt das Erleben von ANP und EP vorstellt. So kann es ohne Weiteres sein, dass der ANP mit dem Therapeuten da sitzt und ruhig kommuniziert, während ein EP durch eine Intervention irritiert ist und dessen Emotionen den ANP wenig später in die Krise bringen. Die therapeutische Interaktion spielt sich in der Traumatherapie (und wahrscheinlich nicht nur da) eben nicht nur zwischen den beiden realen physischen Personen ab, sondern auch in der indirekten Kommunikation und Interaktion der Selbstanteile der Klienten und des Therapeuten. Das Geschehen ist also ziemlich komplex. Auch wenn wir den komplizierten Zusammenhängen von Handlungssystemen und Handlungstendenzen und deren neurobiologischen Determinanten und Zusammenhängen nicht gerecht werden, wenn wir einzelne Reaktionsprozesse besprechen, kann es doch hilfreich sein, einmal zu überlegen, was bestimmte Handlungen auf der Klientenseite bedeuten können und welche therapeutischen Reaktionen möglich und hilfreich sind. Flucht bei Bedrohung: Bedrohlich können viele »gut« gemeinte Angebote von Therapeuten sein. So kann bereits die Frage: »Wie haben Sie die Situation denn genau erlebt?« zur Bedrohung werden und den Flucht-EP aktivieren. Fluchtsymptome können sein: schnelle Themenwechsel, Ausweichen, motorische Unruhe, Dissoziation etc.

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Verteidigung bei erlebtem Angriff: Diese Handlungen zeigen sich in aggressiven Impulsen von EPs (manchmal auch nur internal, z. B. durch Selbstverletzungen, innere Abwertungen), durch negative und abwertende Äußerungen gegenüber dem Therapeuten oder anderen Familienmitgliedern, Anspannung der Gesichtsmuskulatur (besonders im Kieferbereich), Anspannung der Muskulatur. Einfrieren, Erstarrung und Selbstbetäubung bei anhaltender Bedrohung: Auch diese Handlungen sehen wir in der Therapie, wenn Klienten einfrieren, gedankenlos in die Gegend starren, sich selber kneifen oder die Hände zusammenpressen, bis sie weiß werden, monoton über ihre Belastung sprechen, Körperstarre sichtbar wird, die Mimik einfriert, sie frösteln, der Kopf sich nicht mehr bewegt oder schützende Haltungen eingenommen werden ohne dass eine direkte Bedrohung sichtbar ist (z. B. mit der Hand den Kopf schützen). Totale Unterwerfung: Die totale Unterwerfung mit physischer wie psychischer Anästhesie gilt als »stärkstes« Handlungssystem der Verteidigung, welches am ehesten bei lang anhaltender und extremer Bedrohung genutzt wird. Sie ist in der Sitzung nur bei Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen sichtbar, wenn diese dissoziieren, keine Reaktionen mehr zeigen, wegtreten, im Stuhl zusammensacken, amnestische Symptome auftreten oder motorische Immobilität auftritt, zum Beispiel die Beine nicht mehr bewegt werden können. Abschließend soll noch einmal zusammengefasst werden, was Therapeuten bei Klienten tun können, die leicht (schnell) im Handlungssystem der Verteidigung sind: − Halte bei Sicherheit und Stabilität Augenkontakt oder baue diesen auf. Zeige einen freundlichen Gesichtsausdruck. − Unterstütze das mit einer wohlwollenden und einladenden Körperhaltung und Körperdrehung zum Klienten. − Zeige den Klienten mit dem Körper, dass wir bei ihnen sind und sie verstehen. − Nutze die Klangfarben der Stimme und gebe ihr eine freundliche und angenehme Melodie, um mit entspannter und ruhiger Stimme zu sprechen.

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− Zeige ein freundliches und wohlwollendes Gesicht, das symbolisiert, dass keine Gefahr von dir ausgeht. − Vermeide heftige Körperbewegungen, wenn über intime, persönliche Themen gesprochen wird. − Richte deinen Fokus und den Fokus deiner Klienten auf ein Thema, einen Inhalt, der sichere Gefühle ermöglicht, und unterstütze das durch Körperbewegungen, die Sicherheit zeigen. − Sprich die Stärken, Ressourcen und positiven Erfahrungen deiner Klienten an. − Unterrichte die Klienten darin, wie sie in nahen Beziehungen darauf verzichten können, in einen Verteidigungsmodus zu gehen. − Bringe Klienten in eine Ja-Haltung (d. h. mache Aussagen oder stelle Fragen, denen die Klienten zustimmen können). So fühlen sie sich verstanden und sicher. − Unterstütze Klienten darin, Überprüfungsinstrumente zu entwickeln, um herauszufinden, ob Situationen und Menschen für sie bedrohlich sind. − Gestalte die Umgebung in deinem Therapieraum so, dass sich Klienten sicher fühlen können und rege sie an, das Gleiche zu Hause zu machen. Was Therapeuten in Sitzungen mit Familien oder Paaren zusätzlich tun können: − Schaffe Situationen, wo direkte Bindungserfahrungen möglich sind. − Stärke Kontakt und Berührung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. − Rege positive Bilder und positive Imaginationen an. − Spreche problematische Inhalte nur bei Stabilität und Sicherheit der Klienten an. − Beende die Sitzungen nach Möglichkeit immer mit positiven Bildern oder Themen. − Stärke und rege den Augenkontakt zwischen den Familienmitgliedern an, wenn diese über positive Erfahrungen oder Situationen reden. Das fördert Bindung und schafft Stabilität.

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− Fördere Freude und Lachen zwischen den Familienmitgliedern. − Bleibe nicht zu lange in der Konfrontation, sondern wechsele immer wieder zu sicheren Situationen und Erfahrungen. − Fördere Situationen, in denen die mentale Spannung und Energie hoch ist und hoch bleibt, damit Veränderung langfristig möglich wird.

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Bindung und Trennung – Was Trennung so schwer macht Neurobiologische Aspekte mit methodischer Anregung für eine systemische Trauerarbeit Vorbemerkung Das Thema Trauer und Trauerarbeit fand in den letzten Jahren innerhalb der systemischen Therapie stärkere Beachtung. Das zeigt sich einerseits an der Zunahme systemisch basierter Publikationen zu diesem Themenkreis und andererseits an einer verstärkten Nachfrage nach spezifischen systemischen Ansätzen und Methoden zum Thema Trauerarbeit innerhalb von Fortund Weiterbildungen. Die einschlägigen theoretischen Konzepte zum Verständnis von Trauer und Trauerarbeit sind traditionell psychoanalytisch und tiefenpsychologisch orientiert. Sie beruhen im Wesentlichen auf der Vorstellung, dass Menschen sich an Objekte binden und dass der Verlust dieser Objekte zu einer psychischen Reaktion bzw. zu einer Krise führt. Gelingt es längerfristig nicht, die Fixierung vom Objekt zu lösen und die Realität des Verlustes zu akzeptieren, entwickeln Betroffene nicht selten pathologisches Verhalten. Trauerarbeit soll unter diesem Aspekt die Lösung vom Objekt begünstigen und zu einer Annahme der Realität führen. Therapeutisch kann dieser Prozess unterstützt werden, indem das Bewusstsein für die Realität bzw. den Verlust gestärkt wird. Die Trauerarbeit führt dann das Ich dazu, auf das Objekt zu verzichten (Freud, 1989, S. 119). Diese sehr verbreitete Vorstellung vom Sinn der Trauerarbeit führte möglicherweise auch dazu, dass sich in verschiedenen Trauerarbeitskonzepten die Idee manifestierte, dass es in erster Linie wichtig sei, den Betroffenen mit der ganzen Härte der Realität des Verlustes zu konfrontieren. Erst wenn der Betroffene durch das Tal der Tränen und des Leides gewandert ist und sich den Schmerzen des Verlustes aussetzt, ist eine Lösung vom Objekt möglich. So besteht

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die Aufgabe vieler traditioneller Ansätze von Trauerarbeit darin, den Widerstand gegen die Annahme des Verlustes zu brechen und den Trauerprozess so schnell wie möglich anzuschieben bzw. voranzutreiben, um das Ich von der Objektfixierung zu befreien und es zu einer neuen Reife und Unabhängigkeit zu führen. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Konzepte zum phasenhaften Ablauf des Trauerprozesses entwickelt (Bowlby, 2001, S. 105; Kast, 1982, S. 59 ff.). Sie vermitteln die Idee eines gesetzmäßigen Ablaufs von Trauer nach Verlusterfahrungen. Am Ende des Trauerprozesses steht immer die Lösung vom Objekt. Wird die Trauer verdrängt oder verschleppt, dann führt dies zu Depressionen oder anderen affektiven Störungen (Kast, 1982, S. 80 ff.). Diese doch recht schlichte und lineare Vorstellung vom Problem und dessen Lösung lässt Systemiker naturgemäß skeptisch werden und so fing auch ich an, nach anderen Erklärungen und Lösungen für das Phänomen Trauer, welches mir in meiner beraterischen und familientherapeutischen Praxis häufiger begegnete, zu suchen. Zunächst befragte ich im Rahmen einer kleinen Untersuchung in Heimen untergebrachte, von ihrer Familie getrennte Kinder und Jugendliche zu ihrem Trennungserleben und stellte fest, dass jedes Kind auf eine andere Art und Weise mit dem Verlust der Familie umgeht und dass die Qualität der Bindung zu den Eltern das Trauererleben stark beeinflusst (Natho, 2007, S. 86). Weiter konnte ich feststellen, dass einige Jugendliche, die schon längere Zeit von der Herkunftsfamilie getrennt im Heim lebten, diese Trennung scheinbar gut verarbeitet haben. Lenkt man aber im Gespräch die Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit, auf Familie, Eltern, Geschwister oder Heimat, so zeigen sich viele von ihnen emotional berührt. Manche reagieren mit Abwehr, andere mit typischem Trauerverhalten. Auf Grund dieser Erfahrung beschäftigte ich mich mit traditionellen und aktuellen Ergebnissen der Bindungsforschung, wie sie beispielsweise von dem Regensburger Entwicklungspsychologen-Ehepaar Karin und Klaus Grossmann vorgelegt wurden (2003, 2005). Schnell wurde klar, dass frühkindliche Bindungserfahrungen das Bindungs- und Trennungsverhalten über das gesamte Leben hin beeinflussen. Frühe Bindungserfahrungen prägen die gesamte Persönlichkeit bzw. das emotionale Gedächt-

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nis eines Menschen, welches im Wesentlichen den Umgang mit Nähe und Distanz im Erwachsenenalter reguliert. Doch was passiert bei dieser frühkindlichen Prägung und warum ist das emotionale Gedächtnis, in dem die Bindungserfahrungen gespeichert sind, bis in das hohe Alter hinein so stabil? Antworten auf diese Fragen fand ich in der Beschäftigung mit Ergebnissen der modernen Persönlichkeitsforschung und ich entdeckte interessante Zusammenhänge zwischen der Stabilität einiger Persönlichkeitsmerkmale und der neurobiologischen Entwicklung des kindlichen Gehirns. Diese theoretischen Zusammenhänge sollen im Folgenden näher vorgestellt werden. Darüber hinaus will ich eine methodische Anregung zur professionellen Unterstützung von Trauerprozessen geben.

Stabilität des emotionalen Gedächtnisses Die Neurobiologie erlebt derzeit einen Boom. Neben bunten Bildern von Gehirnen aus dem Kernspin fasziniert vor allem die Erkenntnis von der Plastizität des Gehirns. Das Gehirn ist unfassbar komplex und noch lange nicht ausgelastet. Diese Komplexität ermöglicht dem Gehirn unendlich viele Entwicklungsmöglichkeiten und neuronale Verschaltungen. Gehirne, die benutzt werden, passen sich den Anforderungen entsprechend an und entwickeln sich weiter. Wissen, Sprache oder auch komplexere Verhaltensweisen sind letztlich nur neuronale Muster, die, wenn wir sie nicht nutzen, verloren gehen oder, wenn wir sie nutzen, sich spezialisieren bzw. neu organisieren. Durch Wiederholung und Übung bestimmter Verhaltensweisen lassen sich die sie verursachenden neuronalen Netzwerke stabilisieren oder weiterentwickeln. Das ist eine der populärsten Botschaften der Hirnforschung und mit ziemlicher Sicherheit ist dies auch so. Als Berater und Familientherapeut fragt man sich natürlich, warum es Klienten und Hilfesuchende dann so schwer haben, ihre Problemmuster zu verändern, die ja hirnphysiologisch betrachtet, letztlich nur durch neuronale Netzwerke hervorgerufen werden. Bei genauerer Betrachtung bestimmter Verhaltensweisen oder spezieller Merkmale der Persönlichkeit eines Menschen

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fällt auf, dass einige Muster weniger flexibel bzw. veränderbar sind als andere. Es ist zu vermuten, und die Neurobiologie bestätigt mit differenzierten Forschungen diese Idee, dass einige neuronale Strukturen mit der Zeit an Plastizität verlieren und dass sich damit ihre Entwicklungsmöglichkeiten einschränken. Insbesondere die Persönlichkeitsforschung (Asendorpf, 2002) untersuchte die Stabilität von Persönlichkeitsprofilen über längere Zeiträume hinweg und konnte feststellen, dass sich einige Merkmale wie Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus vor allem aber typische emotionale Reaktionsmuster in Zusammenhang mit Stress- oder Bedrohungssituationen über die gesamte Lebenszeit hinweg kaum verändern. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Stabilität auch für frühe oder späte Bindungserfahrungen und damit verbundene Trennungsängste bzw. Trauerreaktionen gilt.

Modularität neuronaler Netzwerke Die Neurobiologie geht davon aus, dass das menschliche Gehirn trotz seiner unglaublichen Komplexität modular aufgebaut ist. Diese Module kommunizieren miteinander, bilden aber innerhalb des Gehirns eigene operational geschlossene Systeme. Sie entwickeln sich unterschiedlich schnell und haben unterschiedliche Funktionen. Manche Hirnstrukturen reifen früh aus und andere behalten ihre Plastizität fast lebenslang. Zu den stabileren Bereichen des Gehirns gehört das emotionale Gedächtnis, das sich im limbischen System verorten lässt. Hier werden auch frühe Bindungserfahrungen oder andere sehr stark eingefärbte bzw. stressintensive Erfahrungen, die Menschen im Laufe ihres gesamten Lebens vor allem aber in der frühen Kindheit erwerben, gespeichert. Der Hirnforscher Gerhard Roth entwirft vor dem Hintergrund der Modularität des Gehirns und aktueller Ergebnisse der Persönlichkeitsforschung ein Vier-Ebenen-Modell von der Persönlichkeit und beschreibt in diesem Zusammenhang die Beeinflussbarkeit der einzelnen Persönlichkeitsebenen genauer (Roth, 2008, S. 88 ff.). Er stellt fest, dass vor allem die vegetativaffektive Ebene und die Ebene der emotionalen Konditionierung bzw. die durch diese Ebenen motivierten Verhaltensmuster nur

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schwer willentlich zu beeinflussen sind. Die Hirnareale, die Roth diesen Persönlichkeitsebenen zuschreibt, sind nicht bewusstseinsfähig. Sie arbeiten ständig im Hintergrund und motivieren unser Handeln und unsere Entscheidungen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Lediglich in schwierigen sozialen Situationen, wenn unterschiedliche, gegenläufige Impulse das Handlungssystem enervieren, wird uns unsere emotionale Situation bewusst. Wir erleben solche Situationen als emotionalen Stress und sind in der Lage, uns verschiedener emotionaler Erregungen bewusst zu werden. Die Trauer als komplexes Gefühlserleben bei Trennung ist im weitesten Sinne eine solche Stressreaktion. Die erste, die vegetativ-affektive Ebene, die Roth in seinem Modell beschreibt, entwickelt sich ab der siebten Schwangerschaftswoche bis in das erste Lebensjahr hinein. Schwerpunkte der neurologischen Verortung sind der Hypothalamus, die Hypophyse, die zentrale Amygdala, Teile des basalen Vorderhirns und des vegetativen Zentrums des Hirnstamms. Diese Ebene ist überwiegend genetisch geprägt und bezeichnet den Teil der Persönlichkeit, der in anderen Konzepten als Temperament beschrieben wird. Hier werden bzw. sind die typischen Mechanismen eines Menschen im Umgang mit Stress und Bedrohungen festgelegt (z. B.: Dominanz- und Paarungsverhalten, Verteidigungsverhalten, Flucht, Aggressivität). Die zweite Ebene, die so genannte Ebene der emotionalen Konditionierung, entwickelt sich in frühkindlicher Zeit. Schwerpunkte der neurobiologischen Verortung sind die Amygdala und das gesamte mesolimbische System. Überwiegend Bindungserfahrungen und Erfahrungen aus dem Bereich der sozialen Nahwelt des Kleinkindes konditionieren auf der Basis der ersten Ebene das affektive Verhalten und Erleben. Hier wird das individuelle Belohnungs- und Motivationssystem gestaltet und neuronal verschweißt. Herausgebildet werden typische Fähigkeiten und Verhaltensweisen einer Person in den Bereichen: Bindungs-, Trennungsverhalten, Nähe-Distanz-Regulierung, Affekte und Affektkontrolle, Motivation, Ehrgeiz, Belohnungshaltung, Egoismus (Nutzen für die eigene Person), Aufopferungsbereitschaft usw. Verhaltens- und Reaktionsmuster, die durch diese neuronalen Netzwerke der ersten beiden Ebenen hervorgerufen werden,

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zeichnen sich durch eine hohe Stabilität über das gesamte Leben hinweg aus. Die dritte Ebene bilden limbische Areale der Großhirnrinde. Dieser Teil des Gehirns entwickelt sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein. Es handelt sich dabei um funktionale Bindeglieder zwischen den limbischen Zentren und der Großhirnrinde wie beispielsweise der cinguläre und insuläre Cortex und der Hippocampus. Hier sind typische Fähigkeiten einer Person in den Bereichen: Sozialverhalten, Einschätzungen von Konsequenzen des eigenen Verhaltens, Risikoabschätzung und bewusstes Gefühlserleben verankert. Diese neuronale Ebene wird überwiegend durch Umwelteinflüsse und Erziehung geprägt. Veränderungen sind hier eher möglich als in den ersten beiden Ebenen. Sie lassen sich durch stärkere emotional erlebte Situationen oder Erziehungsimpulse bewirken. Roth (2008, S. 94) beschreibt noch eine vierte neuronale Schicht und nennt sie kognitiv-kommunikative Ebene. Verorten lässt sich dieser Teil der Persönlichkeit in den assoziativen Arealen der Großhirnrinde. Eine besondere Rolle spielt der präfrontale Cortex, Sitz des Arbeitsgedächtnisses und der Intelligenz. Diese vierte Ebene ist im Hinblick auf Veränderung besonders flexibel, da hier typische Fähigkeiten einer Person in den Bereichen: Sprachbegabung, Selbstreflexionsvermögen, Handlungsplanung und Problemlösen neuronal verankert sind. Die dritte, besonders aber die vierte Ebene zeichnen sich durch eine höhere neuronale Plastizität aus.

Die Amygdala vergisst nie! Bindung stellt somit eine frühe emotionale Konditionierung dar und führt zu stabilen neuronalen Mustern in der zentralen Amygdala. Diese kleine aber für unser emotionales Erleben so außerordentlich wichtige Hirnstruktur innerhalb des limbischen Systems zeichnet sich durch ein explosionsartiges Wachstum in den ersten zwei bis drei Lebensjahren aus. Erfahrungen und für das Individuum bewährte Verhaltensstrategien in Zusammenhang mit Nähe, Geborgenheit, Schutz, aber auch negative Erfahrungen wie Angst, Ablehnung, Vernachlässigung und Gewalt werden hier in den sich bildenden neuronalen Mustern dauer-

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haft verschweißt. Die Erinnerungen werden fragmentarisch und reizabhängig gespeichert. Da die Amygdala und auch andere Strukturen des limbischen Systems mit dem vierten bis fünften Lebensjahr ausreifen und sich dann neuronal weniger verändern als beispielsweise Hirnstrukturen des Großhirns, werden auch die in diesen Netzwerken verankerten Erfahrungen und Reaktionen dauerhaft gespeichert. Die Amygdala vergisst nie! Besonders gut belegt ist dieses Phänomen in der Traumaforschung. Hier sind es vor allem negative Ereignisse und die mit ihnen verbundenen körperlichen sowie psychischen Empfindungen, die sich dauerhaft im limbischen System einbrennen. Aus der therapeutischen Erfahrung wissen wir, dass es ein sehr mühsamer und langwieriger Prozess ist, frühkindliche Traumatisierungen, in deren Folge sich oft schwere Persönlichkeitsstörungen entwickeln, wirksam zu beeinflussen (Natho, 2002). Das Neuanlegen limbischer Netzwerkstrukturen ist hirnphysiologisch eine äußerst aufwändige Operation. Roth (2003, S. 150 ff.) geht davon aus, dass die im limbischen System angelegten Netzwerke, die wiederum durch komplexe Strukturen biochemischer Botenstoffe stabilisiert werden, sich kaum löschen lassen. Bestenfalls können durch Therapie und Beratung kompensatorische Muster aufgebaut werden, die dann mit den alten Mustern um den Zugriff auf das Verhaltenssystem konkurrieren. Das bedeutet aber nicht, dass sich die frühen Bindungserfahrungen, ob positiv oder negativ, löschen lassen. Der Aufbau solcher kompensatorischer Muster ist wiederum an starke emotionale Erfahrungen gekoppelt. Je stärker die emotionale Erfahrung, umso tiefer ist die Gedächtnisspur, die diese im limbischen System hinterlässt. Worte helfen hier wenig. Der Einfluss der sprachbegabten Großhirnrinde auf das limbische System ist eher gering. Dass wir dennoch durch Beratung, Therapie oder Trauerarbeit affektive Reaktionen des limbischen Systems beeinflussen bzw. kompensatorische Netzwerke aufbauen können, verdanken wir unter anderem dem so genannten Hippocampus. Diese Hirnstruktur wird auch als Organisator des bewusstseinsfähigen, deklarativen Gedächtnisses bezeichnet. Er moderiert die sensorischen Eingänge und legt fest, welche Wahrnehmungen relevant sind, wo sie angelegt und in welchem Kontext sie neuronal verknüpft werden (Roth, 2003, S. 160 ff.). Der Hippocampus vermittelt zwischen der Amygdala

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bzw. dem emotionalen Gedächtnis und der sprachbegabten, bewusstseinsfähigen Großhirnrinde. Über ihn lassen sich emotionale Inhalte wie Bindungserfahrungen neu bewerten oder eben kompensatorische Netzwerke aufbauen.

Bindung, ein neurobiologisches Programm Die Bindung als neurobiologisches Programm soll vor allem das Überleben des hilflosen Kindes sichern. Es bindet uns an die Menschen, durch die wir in der Kindheit Schutz, Versorgung und die uns emotionale Geborgenheit erfahren. Da wir uns als Kinder unsere Eltern, unsere soziale Umwelt nicht aussuchen können, stellt sich unser limbisches System auf das ein, was es vorfindet und integriert es. Es speichert Schlüsselreize von den Menschen, die uns unmittelbar umgeben und unser Überleben garantieren. So weiß das Kind, wohin es gehört. Für das in unseren Genen gespeicherte Programm Bindung spielt es dabei keine Rolle, ob die Eltern besonders gefühlvoll und fürsorglich oder abweisend und gewalttätig sind. Das limbische System generalisiert gute und schlechte Erfahrungen und entwickelt diesbezüglich speziell auf seine Umwelt bezogene geeignete Verhaltensmuster, die die Chance des Überlebens erhöhen. Diese Verhaltsmuster werden an das emotionale System gekoppelt und automatisiert. Das Automatisieren dieser Verhaltsmuster und deren Kopplung an unbewusste emotionale Erfahrungen ist für das Überleben wichtig. Denn die für Verhaltensplanung zuständigen Hirnareale, die in der Lage sind, Situationen immer wieder neu einzuschätzen und kontextbezogen zu reagieren, sind in früher Kindheit noch unterentwickelt und kaum funktionstüchtig. Das hat zur Folge, dass die Bindung zu den Eltern als ein zeitloses und vom eigenen Lebenskontext unabhängiges Gefühl gespeichert ist, welches uns jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder Lebenssituation ergreifen kann, wenn es durch bestimmte Reize wieder aktiviert wird. Wenn wir älter werden und auf eigenen Füßen stehen, tragen wir die frühen Erfahrungen, automatisierten Verhaltensmuster und ihre auslösenden Reize in uns weiter. Und wann immer diese Reize auftauchen und unser emotionales Gedächtnis aktivieren, fühlen wir uns liebe-

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voll oder schmerzlich erinnert an die Menschen, die uns in der Weise geprägt haben und denen wir unser Leben und das Überleben verdanken. Interessanterweise entwickeln Eltern eine fast ebenso feste Bindung zu ihren Kindern wie umgekehrt. Hier spielen vor allem biochemische Botenstoffe, wie beispielsweise das Hormon Oxytocin, eine große Rolle. Durch den persönlichen Körperkontakt mit dem Säugling wird beim Erwachsenen im Gehirn das Hormon Oxytocin produziert. Dieser auch als Bindungshormon bezeichnete Botenstoff wirkt direkt auf die Amygdala und führt zu angenehmen und lustvollen Empfindungen im Umgang mit dem Kind. Es wirkt insgesamt beruhigend und stressreduzierend. Auch Väter, so wurde inzwischen festgestellt, produzieren bei körperlichen Kontakten mit ihren Säuglingen dieses Bindungshormon. Eine weitere wichtige Rolle für die Bindung, so vermuten Forscher, spielen die erst in jüngster Zeit intensiv erforschten so genannten Spiegelneuronen. Sie befähigen uns dazu, uns in andere Menschen einzufühlen und die Empfindungen anderer in unserem Verhalten zu berücksichtigen oder deren Verhalten unbewusst nachzuahmen (Bauer, 2004). Hält man sich den Nutzen von Bindung vor Augen und macht sich bewusst, wo sie neuronal produziert und gespeichert wird, wächst eine Ahnung davon, wie schwer es für unser psychisches System ist, wenn die Menschen, durch die wir geprägt wurden, uns verlassen oder wir von ihnen getrennt werden. Man erhält eine Antwort auf die Frage, warum wir Menschen uns ein Leben lang an unsere Eltern gebunden fühlen und warum der Verlust oder Tod von uns nahe stehenden Menschen uns emotional so aufwühlt. Der Verlust dieser Menschen bedeutet für unser limbisches System noch immer eine Bedrohung, das psychische System reagiert mit Stress und es reagiert entsprechend emotional. Man weiß nicht genau, was in Kindern vorgeht, wenn sie von ihren Eltern, um sie vor diesen zu schützen, getrennt und in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht werden. Ihre Trauerreaktionen sind sehr unterschiedlich, manche entwickeln Schlafstörungen, depressive oder aggressive Verhaltensweisen. Sie gehen nicht zur Schule oder sie sind abgängig, treiben sich herum und sind auf der Suche nach Ersatz. Es gibt auch Kinder und Jugendliche, die keine Emotionen zeigen,

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scheinbar unbeeindruckt sprechen sie von der Trennung von ihrer Herkunftsfamilie. Ein Phänomen, das aus der Traumaforschung bekannt ist. Wird der emotionale Stress zu stark, zu lang anhaltend und fehlen geeignete psychische Verarbeitungsmöglichkeiten, dissoziieren Betroffene in der bedrohlichen Situation und entwickeln Amnesien. Diese emotionalen Reaktionen im Zusammenhang mit der Trennung von Bindungspersonen zielen darauf, die Bindung wiederherzustellen und den Rahmen für das sichere Heranwachsen zu gewährleisten. Angst, Ärger, Liebe und Trauer sind die vom limbischen System produzierten Emotionen, um die Bindung wiederherzustellen oder sie zu erhalten. Trauer ist eine weitere emotionale Reaktion auf den Verlust von Bindungspersonen. Dieses Gefühlserleben wird präsent, wenn Ärger und Angst in einer Trennungssituation nicht ummittelbar zum Erfolg bzw. zur Bindungsperson zurückführen. Das Erleben, dass das eigene emotionale Handeln die Bindung nicht sichern kann, führt zu einer Erfahrung von Ohnmacht und Trauer.

Spätere Bindungserfahrungen Die frühe Bindungsforschung hatte die Mutter-Kind-Beziehung zum Gegenstand. Heute wissen wir insbesondere durch die Forschungsergebnisse der Grossmanns (2005, S. 217 ff.), dass auch Väter, Geschwister und andere in der Familie lebende Personen potentielle Bindungspersonen sind. Deshalb schmerzt uns je nach Bindungsqualität auch der Verlust anderer uns nahe stehender Familienmitglieder. Auch spätere Beziehungen, wie wir sie in jahrelangen Partnerschaften oder Ehen erleben, können Bindungscharakter erlangen. Bindung ereignet sich dort, wo es starke emotionale Erfahrungen miteinander gibt. In der Regel haben sie nicht die Tiefe, wie sie frühkindliche Bindungen aufweisen, dennoch können sie unter gewissen Voraussetzungen neuronale Muster im limbischen System bilden. Hinsichtlich der Voraussetzungen habe ich folgende Hypothesen: Die Dauer der Partnerschaft spielt eine wesentliche Rolle. Längere Partnerschaften, die über mehrere Lebensphasen hinweg andauern, verstärken die Bin-

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dung. Viel bedeutsamer für das limbische System ist meines Erachtens die Qualität und Tiefe der gemeinsamen Erfahrungen. Emotional beeindruckend sind wohl Erfahrungen, wie sie Eltern beim Heranziehen gemeinsamer Kinder erleben. Das gemeinsame Bangen um die Kinder bei Krankheit, die geteilte Freude bei jedem ihrer Entwicklungsschritte oder das Erleben anderer intensiver Höhepunkte prägen die Bindung zwischen den Eltern. Hinzu kommt die gegenseitige Fürsorge des Paares im Krankheitsfall oder gemeinsam gemeisterte kritische Lebensphasen. Das sind Erfahrungen, die zu Erinnerungsspuren im limbischen System führen und die bei Trennung Schmerz und Trauer hervorrufen. So trauern wir auch um den Partner, den Freund oder um den über Jahre lieb gewonnenen Kollegen, wenn diese von uns gehen. Speziell in der Partnerschaft spielt das schon erwähnte Bindungshormon Oxytocin vermutlich eine große Rolle. Es wird beim Mann und bei der Frau beispielsweise während des Geschlechtsverkehrs produziert und hat eine stimulierende bzw. nach dem Orgasmus beruhigende Wirkung. Das Vertrautheitsgefühl und der Wunsch nach sozialer Nähe werden dadurch gesteigert. Ein weiterer die Bindung unterstützender Faktor kommt wohl schon bei der Auswahl des Partners zum Tragen. Hier hat das limbische System immer ein Wörtchen mitzureden. Dies geschieht jedoch völlig unbewusst. Das limbische System nutzt hier die generalisierten und kontextunabhängigen Bindungserfahrungen aus der Kindheit. Es weiß, mit welchem Temperament der potentielle Partner ausgestattet sein sollte, um im eigenen emotionalen System Anschluss zu finden. Eine hohe Anschlussfähigkeit hinsichtlich unserer in der frühen Kindheit geprägten emotionalen Bedürfnisse schafft Vertrauen und Sicherheit. Unser Bauchgefühl sagt uns dann, das ist der Richtige, die Richtige für mich.

Trauer hat kein Ende Wie stark wir Trauer bei Verlust von uns nahe stehenden Menschen erleben, hängt im Wesentlichen davon ab, wie eng wir uns an sie gebunden fühlen und welchen Eindruck sie in unserem limbischen System hinterlassen haben. Eine Funktion des lim-

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bischen Systems besteht darin, in enger Vernetzung mit dem Stammhirn bzw. dem autonomen Nervensystem das biologische und soziale Überleben des Menschen zu sichern. So sind denn auch die Reaktionen des limbischen Systems in Bedrohungssituationen nicht vernünftig, sondern hochgradig emotional. Sie zielen auf eine schnelle und möglichst effektive Behebung der bedrohlichen Situation. Lässt sich die Situation nicht durch Angriff oder Flucht klären, wird das limbische System vermutlich instabil. In Panik werden alle zur Verfügung stehenden emotionalen Optionen ausprobiert. Menschen in Trennungs- bzw. Trauersituationen fühlen sich innerlich emotional aufgewühlt. Dennoch ist der Trauerprozess kein sinnloses Gefühlschaos. Instabilität ist eine Voraussetzung für Neuorganisation und Ordnungsumbrüche innerhalb eines Systems. Trauerarbeit bedeutet aus systemischer Sicht, Betroffene durch das emotionale Chaos hindurch zu begleiten und ihnen gegebenenfalls Entwicklungsanregungen zu geben. Ausgehend von der neurobiologischen Erkenntnis, dass das limbische System nach dem vierten bis fünften Lebensjahr stark an Plastizität verliert, kann man wohl behaupten, dass ein Trauerprozess nach dem Verlust einer Bindungsperson nie zum Ende kommt. Mit dieser Feststellung möchte ich auch ein von mir entworfenes Modell (Natho, 2007, S. 121), in dem ich drei Lösungsoptionen des Trauerprozesses (1. Erhalt der Bindung, 2. qualitative Veränderung der Bindung und 3. die Lösung der Bindung) beschreibe, korrigieren bzw. weiterentwickeln. Wenn Bindung ein Teil des emotionalen Gedächtnisses ist, und die aktuellen Erkenntnisse der Neurobiologie stützen diese Vermutung, dann wird es keine Lösung der Bindung zumindest im limbischen System geben. Trauer hat unter diesen Gesichtspunkten lediglich noch zwei Ziele: die Bindung zu erhalten oder, wenn dies nicht möglich ist, die alte Bindung neu zu bewerten bzw. sie qualitativ zu verändern. Die Bindung an sich, an einen Vater, eine Mutter oder einen verstorbenen langjährigen Lebenspartner, mit dem man Glück und Leid teilte, bleibt bis zum eigenen Tod erhalten. Der Trauerprozess als Reaktion auf den Verlust der Bindungsperson hat kein Ende. Mit dem Aufbau kompensatorischer Muster und der qualitativen Veränderung von Bindung nimmt die Intensität der Trauer allmählich ab. Die mit dem Verlust verbundenen

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Frank Natho

Emotionen wie Angst, Ärger und Liebe werden bis zu einem gewissen Grad steuerbar. Trauerarbeit unterstützt den Erwerb von Affektkontrolle und bringt eine für den Betroffenen sinnvolle Ordnung in das emotionale Chaos der Trauer.

Unterstützung des Trauerprozesses mit Tierfiguren Die Idee der Objektfixierung, welche die traditionelle Trauerarbeit lösen will, basiert auf der Vorstellung, dass es außerhalb der eigenen Wahrnehmung eine objektive Welt gibt. Diese wird Wirklichkeit oder auch Realität genannt. Bei dieser Denkweise kann man sich als Subjekt auch an ein Objekt binden. Das scheint logisch, weil wir uns und auch die anderen um uns herum vordergründig als Körper wahrnehmen. Dass diese Vorstellung nicht der Arbeitsweise unseres Gehirns entspricht, vermuteten Konstruktivisten wie Paul Watzlawick, Heinz von Foerster oder Humberto Maturana, die das systemische Denken schon seit einigen Jahrzehnten beeinflussen. Inzwischen wissen wir Konkreteres über die Strukturen und das Funktionieren unseres Gehirns und die Neurobiologie bestätigt die Thesen des Konstruktivismus, »die wahrgenommene, phänomenale Welt, die Wirklichkeit, ist ein Konstrukt des Gehirns« (Roth, 1996, S. 53). Wir haben keinen Zugang zu einer von uns unabhängigen, realen Welt mit Objekten. Mittels komplizierter neuronaler Prozesse konstruieren wir uns und unsere Umwelt. Nur unser Gehirn ist real und die Welt, die durch das Gehirn entsteht (Roth, 1997). Demzufolge gibt es für das Gehirn auch keine tatsächlich lösbare Objektfixierung. Es gibt nur neuronale Netzwerke, die, wenn sie den Verlust eines wichtigen Menschen konstruieren, zugleich auch Angst, Liebe, Ärger und Trauer produzieren. Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht kann das Ziel von Trauerarbeit daher nicht darin bestehen, den Betroffenen mit der Realität zu konfrontieren und ihn möglichst schnell von seiner Objektfixierung zu befreien. Vielmehr sollte es darum gehen, dem Gehirn Entwicklungsanreize für die Neuorganisation neuronaler Strukturen zu verschaffen. Eine methodische Vorgehensweise, die sich meiner Erfahrung nach dafür eignet, ist die Versammlung der Gefühle mit Tierfiguren. Die

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von mir im Rahmen von Trauerarbeit entwickelte Vorgehensweise (Natho, 2007) soll kurz skizziert werden. Konzeptionell handelt es sich bei der Technik um eine Teilearbeit. Sie basiert auf der Vorstellung von der Multiplizität der menschlichen Psyche (Schwartz, 2007). Trauer wird als vielschichtiges diffuses Gefühlserleben verstanden. Unterschiedliche Gefühle, wie Angst, Ärger, Liebe, Trauer usw. mit unterschiedlichen Motivationen, wechseln einander ab oder ringen gegenseitig um den Zugriff auf das Handlungssystem. Trauernde beschreiben ihren Zustand als emotionales Chaos, sie fühlen sich ihren Gefühlen ausgeliefert und unfähig zu handeln. Zu widersprüchlich sind die Motive der Emotionen, um ins Handeln zu kommen. Insbesondere Kindern und Jugendlichen fehlen sinnstiftende Vorstellungen und Erklärungen hinsichtlich der Bedeutung des inneren emotionalen Chaos. Die Externalisierung von Emotionen mit Tierfiguren hilft ihnen, die eigene Gefühlswelt abzubilden, zu verstehen und bei Bedarf zu ordnen. Die einzelnen Gefühle werden mittels Tierfiguren externalisiert und vom Klienten als Tierfigurenskulptur auf ein Brett aufgestellt. In der Praxis haben sich folgende drei Arbeitsschritte bewährt. − Arbeitsschritt – Differenzierung des Gefühlserlebens: Der Berater, Seelsorger erarbeitet im Gespräch die konkreten Gefühle des Klienten im Zusammenhang mit der emotionalen Konfliktsituation (Trauererleben). Er nimmt hier die Begrifflichkeiten des Klienten auf, grenzt sie voneinander ab und lässt so eigenständige Konstrukte entstehen. Wichtig ist, am Ende dieser Gesprächsphase die herausgearbeiteten Emotionen noch einmal zu benennen und abschließend zu prüfen, ob diese im Augenblick des Gespräches auch tatsächlich dem persönlichen Erleben entsprechen. − Arbeitsschritt – Zuordnung der einzelnen Tiere: Eine Sammlung von etwa 50 Tierfiguren wird dem Klienten vorgelegt. Anschließend wird er gebeten, die von ihm benannten Gefühle in Tierfiguren zu verwandeln und auf ein quadratisches Brett zu stellen. In der Arbeit mit Kindern leitet folgende Instruktion üblicherweise diesen Arbeitsschritt ein. »Du kennst das ja aus Märchen, da verwandeln sich oft Menschen in Tiere und umgekehrt. Manchmal nimmt auch das Böse oder das Gute eine Tiergestalt an. Stell dir nun mal vor, die von

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Frank Natho

dir genannten Gefühle (z. B.: Heimweh, Wut und Traurigkeit) verwandeln sich in eins der hier vor dir liegenden Tiere. In welches Tier würde sich die Wut verwandeln?« usw. − Arbeitsschritt – Das Gespräch in der Versammlung der Tierfiguren (Gefühle): Die emotionalen Anteile werden miteinander ins Gespräch gebracht. Einige zirkuläre, und unterschiedsbildende Fragen vom Berater bzw. Seelsorger schaffen den Gesprächsrahmen. Der Klient wird befragt, was wohl die einzelnen Tierfiguren (Gefühle) zu erzählen haben, welches Interesse sie verfolgen und wie es ihnen in der Versammlung mit den anderen Gefühlen geht. Ziel des Gespräches ist es nicht, dass sich am Ende alle emotionalen Anteile einig sind oder Kompromisse aushandeln. Es geht eher darum, die innere Dynamik der Skulptur transparent werden zu lassen bzw. zu entwickeln. Lösungsimpulse kommen vom Klienten. Im Rahmen von Trauerarbeit heißt es hier, den Klienten auf dem Weg, den er vorgibt, zu begleiten und ihm eine Möglichkeit zu eröffnen, die eigenen Gefühle aushalten und verstehen zu können. Die Arbeit zeichnet sich eher durch eine Prozessorientierung als durch eine Lösungsorientierung aus. Die Versammlung der Gefühle mit Tierfiguren ist ein ganzheitlicher Ansatz, spielerisch und mit Distanz lernt der Klient seine Emotionen und den inneren emotionalen Konflikt näher kennen. Die Arbeit berührt einerseits die Klienten emotional, stellt andererseits aber auch eine kognitive Distanz zu den Gefühlen her. Diese Spannung zwischen Gefühl und Verstand ermöglicht am ehesten eine Neubewertung alter emotionaler Inhalte und damit die Schaffung kompensatorischer Muster. Wie die kompensatorischen Muster letztlich wirken und zu welchem Verhalten sie dauerhaft führen, kann man nicht sagen. Das Gehirn ist ein geschlossenes System, das sich zwar stören, aber nicht zielsicher von außen beeinflussen lässt.

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Literatur Asendorpf, J. (2002). Die Persönlichkeit als Lawine: Wann und warum sich Persönlichkeitsunterschiede stabilisieren. In G. Jüttemann, H. Thomae (Hrsg.), Persönlichkeit und Entwicklung (S. 46–72). Weinheim: Beltz. Bauer, J. (2004). Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München: Piper. Bowlby, J. (2001). Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1989). Trauer und Melancholie. In S. Freud, Essays. Bd. 2 (S. 102–120). Berlin: Volk und Welt. Grossmann, K., Grossmann, K. (Hrsg.) (2003). Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. Grossmann. K., Grossmann, K. (2005). Bindungen – Das Gefüge psychischer Sicherheit. (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Kast, V. (1982). Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart: Kreuz Verlag. Natho, F. (2002). Borderline-gestört. Systemische Arbeitsweisen in Bereichen der Jugendhilfe. Dessau: Gamus. Natho, F. (2007). Bindung und Trennung. Von Eltern und Familien getrennt – Trauer- und Trennungsprozesse von Kindern und Jugendlichen professionell begleiten. Dessau: Gamus. Roth, G. (1996). Schnittstelle Gehirn. Zwischen Geist und Welt. Bern: Benteli Verlag. Roth, G. (1997). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Roth, G. (2003). Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Roth, G. (2008). Persönlichkeit, Entscheidungen und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schwartz, R. (2007). Systemische Therapie mit der inneren Familie. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Jörg Baur

Supervision als neurowissenschaftlich inspirierter Lehr-Lern-Prozess: Facetten einer »gehirngerechten« Supervision

Supervision und Neurowissenschaft: Ein Unruhe erzeugendes Spannungsfeld Mit der Begrüßung »liebe Gehirne, liebe Mitgehirne« eröffnete Hilarion G. Petzold 2007 einen Vortrag zur »Neurobiologie des Lernens, Metalernen und supervisorische Praxis« im Kontext einer Tagung der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (EAG) und der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv). Die Zuhörer mussten schmunzeln. Gerald Hüther begann seine Vorlesungen zur »Macht der inneren Bilder« auf den Lindauer Psychotherapiewochen 2004 immer mit dem Lied »Imagine« von John Lennon – auch hier Schmunzeln, aber auch Unruhe im Auditorium. Zwei unterschiedliche, zunächst irritierende Eröffnungsweisen in das spannende Thema der Grundlagen und Implikationen aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Theorie und Praxis verschiedener Beratungs- und Therapiekonzepte. Besonders interessant sind dabei die Hypothesen zum Wechselspiel menschlicher Sinneseindrücke, Bilder, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, (Lern-)Erfahrungen und deren neuronalen Verankerungen oder Korrelate im Gehirn. Erkenntnisse, die offenbar so bedeutsam sind, dass insbesondere die Hirnforschung in einflussreichen Medien bereits als neue »Leitwissenschaft« gehandelt wird (u. a. Engelhard in Gehirn & Geist, 2008; SWR2-Forum, 2008; Krüger-Brand in Deutsches Ärzteblatt, 2004; Spiegel, 2003). Schon Goethe wusste: »Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe.« Diese Unruhe hat auch mich dazu veranlasst, in eine

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Supervision als neurowissenschaftlich inspirierter Lehr-Lern-Prozess

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Neuro-Landschaft von Netzwerken, »assemblies«, kortikalen Karten, Neuronen, Synapsen, Botenstoffen usw. aufzubrechen, die ich anfänglich als noch weitgehend unbekannt, dennoch faszinierend, jedoch beinah unüberschaubar vorfand. Motiviert von der Frage, ob und wie sich aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse auch für den Bereich der Supervision nutzbar machen lassen, erkundete ich dieses komplexe Terrain Schritt für Schritt. Was als Erstes auffiel, war – und ist immer noch – die seltsame Ruhe in der Community der Supervisoren, die sich bislang öffentlich eher zurückhaltend mit den Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Supervisionsprofession auseinandersetzte. Einer der wenigen Ausnahmen ist beispielsweise H. Kersting (2002a), der in seiner Eröffnungsrede des sechsten systemischen Supervisionstags in Heidelberg auf solche Schlussfolgerungen insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung von Emotionen für die systemische Supervision hinwies. Auch auf der bereits erwähnten Fachtagung der EAG und der DGSv wurden supervisorische Lernprozesse neurowissenschaftlich begründet (Petzold, 2007) und die Bedeutung der Spiegelneuronen für die supervisorische Praxis thematisiert (Lamacz-Koetz, 2007). Diese offensichtliche Zurückhaltung mag verschiedene Gründe haben. Zum einen werden einige neurowissenschaftliche Positionen bereits in der supervisorischen Praxis umgesetzt, sind also gar nicht so neu, in diesem Sinne »nicht der Rede wert«. Beispielsweise gehören die nun auch neurowissenschaftlich untermauerten Bedeutungen erlebnisaktivierender, lösungs- und ressourcenorientierter Methoden bereits zum integralen Bestandteil verschiedener Supervisionskonzepte (u. a. Langosch, 2008; Buer, 2004; Vogt-Hillmann, Eberling, Dahm u. Dreesen, 2002; Brandau u. Schüers, 1995). Ein anderer Grund könnte darin liegen, dass insbesondere neurobiologische Postulate als eine Bedrohung des Selbstverständnisses einer eher sozialwissenschaftlich ausgerichteten Supervisionsprofession erlebt und durch Nichtbeachtung abgewehrt werden. Der kritische Einwand, die Neurowissenschaften kreierten einen neuen biologisch-reduktionistischen Determinismus, ist ja nicht von der Hand zu weisen (Grawe, 2004; Kurthen, 2004; Geyer, 2004). Immerhin setzt das vorherrschende neurowissenschaftliche Pos-

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Jörg Baur

tulat, dass das Psychische und das Handeln die Folge neuronaler Prozesse und Strukturen sind, die Biologie an die erste Stelle einer Kausalkette, die letztlich zu bestimmten menschlichen Verhaltens- und Erlebensweisen führt (Kandel, 2006, 1996; Roth, 2004; Singer, 2004). Eine solchermaßen biologistische Position wird von führenden Neurowissenschaftlern vehement vertreten. Für den Nobelpreisträger Eric Kandel sind geistige oder psychische Funktionen somatischer Natur: »Aus diesen Überlegungen folgt, dass es sich bei allen Vorgängen im Gehirn – von den Kommandos für Bewegungen bis zu den intimsten Gedankengängen – um biologische Prozesse handelt« (Kandel, 1996, S. 713). Dieselbe Auffassung vertritt der prominente Hirnforscher Joseph LeDoux in seinem Buch mit dem Titel »Synaptic Self«. Das Buch endet mit dem Satz: »You are your synapses. They are who you are« (LeDoux, 2002, S. 324). Der Mensch folglich ein »homo cerebralis« (Hagner, 2008)? Eine Position, die auch für Supervisoren zumindest auf den ersten Blick nicht haltbar erscheint, gehen sie doch von der Erfahrung einer ebenfalls verhaltensbeeinflussenden Wirkung gesellschaftlicher, ökonomischer, organisationaler sowie interaktioneller und psychischer Variablen im beruflichen Kontext aus. Im systemisch-konstruktivistischen Supervisionsmodell sind daher biologische, psychische und soziale Subsysteme in selbstreferentieller und rekursiver Beziehung zueinander gesetzt (Krapohl, 2008; Kersting u. Neumann-Wirsig, 2004; Buchinger, 2007). Ein Blick zurück in dessen Theoriegeschichte vergegenwärtigt, dass dieses Modell mit der Autopoiesetheorie Maturanas und Varelas (1974, 1980) bereits auf biologischem Fundament gebaut wurde, bevor es über die Systemtheorie Luhmanns eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung erhielt. Luhmann postulierte die Systemtrias organisches, psychisches und soziales System. Die genannten drei autonomen Systemtypen »interpenetrieren« sich, das heißt setzen sich in ihrer Existenz zwar voraus und bilden füreinander Umwelten, reproduzieren sich jedoch ansonsten geschlossen-selbstreferentiell (Luhmann, 1984, S. 296, Konopka, 1996). Über die Wesen von und Zusammenhänge zwischen psychischem und sozialem System existieren bereits theoretisch elaborierte Aussagen – weniger aber über das organische bzw. biologische System.

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Beispiele inkrementeller neurowissenschaftlicher Impulse für Theorie und Praxis der Supervision Durch die anziehende Faszination, die von Luhmanns Theorie sozialer Systeme ausging und durch den stärker auf Kognition abzielenden Konstruktivismus ergaben sich jedoch auch blinde Flecken sowohl in der Theoriebildung als auch in der Praxis systemisch-konstruktivistischer Supervision: zum einen die zeitweise Vernachlässigung individueller Aspekte zugunsten der Beziehungsperspektive – zum anderen in der Unterbewertung individueller emotionaler und motivationaler im Vergleich zu den kognitiven Aspekten menschlichen Verhaltens und Erlebens (Kersting, 2002a; Levold, 1997). Hier ist ein praxisrelevantes Defizit sowohl in Luhmanns Systemtheorie wie auch im Konstruktivismus erkennbar, das vermutlich durch aktuelle und zukünftige neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die biologischen Strukturen und Prozesse im Gehirn verringert werden könnte. Möglicherweise beinhaltet der Ansatz des »Dynamic causal modellings« (DCM), auf dessen Grundlage die Konnektivität verschiedener Areale im menschlichen Gehirn erforscht und erklärt wird, eine solche inkrementelle Aussagekraft (Schiepek, 2005; Friston, Harisson u. Penny, 2003). Allerdings ergibt sich aus der Vielzahl und Komplexität solcher neurowissenschaftlichen Modelle oder Befunde ein unübersichtliches Feld empirisch unterschiedlich stark gesicherter Erkenntnisse, sodass es für Neurowissenschaftler und noch mehr für Praktiker immer schwieriger wird, deren wissenschaftliche Güte, insbesondere deren Validität und Reliabiliät einzuschätzen. Aus diesen unübersichtlichen, dennoch spannenden neurowissenschaftlichen Erkenntnisfeldern lassen sich einzelne praxis- und theorierelevante Impulse für den Bereich der Supervision beispielhaft markieren. Die hoffnungsvollen neurowissenschaftlichen Botschaften basieren auf der grundlegenden These der Neuroplastizität des Gehirns im Sinne einer erfahrungsabhängigen Veränderbarkeit insbesondere der neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen (Hüther, 2004b). Diese Selbstorganisations- und Selbstregenerierungsfähigkeit des Gehirns bis ins hohe Alter hinein widerlegt die lange Zeit gültige Vorstellung einer genetisch determinierten, unveränderlichen Schaltzen-

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trale, in der einmal abgestorbene Neuronen nicht mehr nachwachsen und auch keine neuen Neuronen entstehen können. Wenn nun allerdings innere und äußere, vor allem emotionale psychosoziale Erfahrungen die Strukturen des Gehirns über entsprechende neuronale Aktivierungsprozesse verändern können und diese Strukturen selbst wiederum menschliches Verhalten, Erleben und Bewusstsein beeinflussen, wenn nicht gar determinieren, ist das auch für die Supervision als berufsbezogenes Beratungsformat von enormer Bedeutung (Hüther, 2004a). Im supervisorischen Kontext ginge es dann um die Frage, wie sich äußere, insbesondere berufliche und biografische Erfahrungen im Gehirn neuronal verankern und auf diese Weise das aktuelle und zukünftige Denken, Fühlen und Handeln der Supervisanden beeinflussen. Unter dem Blickwinkel von Supervision als andragogischer Lehr-Lern-Prozess wären des Weiteren biologische Kenntnisse über Lehr- und Lernbedingungen und deren Störanfälligkeit von Relevanz (Spitzer, 2004, 2007). Auch die theoretischen Beiträge zu den »Spiegelneuronen« als neuronale Korrelate von Empathie (Rizzolatti u. Sinigaglia, 2008) und zur Bedeutung von Emotionen und »somatischen Markern« für die Wahrnehmung und Interpretation psychosozialer Erfahrungen (Damásio, 1994, 2000) würden neue Perspektiven eröffnen.

Neurowissenschaftliche Impulse und deren Transfer auf die supervisorische Praxis – ein Fallbeispiel Angenommen, Sie als interessierte Supervisorinnen und Supervisoren würden sich von solchen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen inspirieren lassen und beschließen daher, diese zunächst einmal pragmatisch in Ihr bisheriges Supervisionskonzept zu integrieren. Was wäre dann anders? Was würde sich dann konkret verändern? Oder gar, was wäre das Profil einer »gehirngerechten« Supervision? Mit diesen Fragen bin ich nun selbst auf den Weg durch die verschiedenen Neuro-Landschaften gegangen. Ich habe recherchiert, konstruiert, rekonstruiert, geprüft, ausgemalt, in mich gehört, habe mich mit Kollegen ausgetauscht, einiges wieder verworfen, anderes gar nicht erst verstanden, manches

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in einem anderen Licht betrachtet. Auf diese Weise entstand mit der Zeit ein Bild, mein vorläufiges Bild einer »gehirngerechten Supervision«, das ich mit diesem Beitrag anhand eines fiktiven Fallbeispiels einer Supervision vorstellen möchte. Das leitende Motiv dabei ist nicht, biologistische Positionen unkritisch zu übernehmen, sondern mit Interesse und Offenheit eine Selbstvergewisserung, eine eigene Standortbestimmung vorzunehmen als Ausgangspunkt für einen Diskurs über die Chancen der neurowissenschaftlichen Impulse für die Supervision als Profession. Im folgenden Fallbeispiel werden Impulse verschiedener Neurowissenschaftler aufgegriffen und auf die supervisorische Praxis hin transferiert.

Fallbeispiel einer beruflichen Krisensituation von Frau Schmitt Frau Schmitt ist 47 Jahre alt, geschieden und alleinerziehende Mutter einer 14-jährigen Tochter. Sie arbeitet als Familientherapeutin in einer konfessionellen Beratungsstelle einer westfälischen Kleinstadt. Der kirchliche Träger kündigte unlängst einschneidende Einsparmaßnahmen an, darunter die Fusion seiner insgesamt fünf regionalen Beratungsstellen in ein neu zu bildendes überregionales Beratungszentrum in der 50 km entfernten Großen Kreisstadt, verbunden mit Versetzungen und möglichen betriebsbedingten Kündigungen. Da es bereits in den vergangenen Jahren immer wieder zu teils heftigen Konflikten zwischen Frau Schmitt und dem Leiter der Beratungsstelle kam, befürchtet Frau Schmitt einen Arbeitsplatzverlust und entwickelt bereits seit längerem verschiedene psychophysiologische Stress- und Angstsymptome, die sich zu chronifizieren beginnen. Diese beeinträchtigen ihre Arbeit als Therapeutin zunehmend: Sie fühlt sich seit Wochen körperlich stark angespannt, innerlich unruhig, schon vormittags müde, kann sich nicht mehr gut konzentrieren, verliert in der therapeutischen Beziehung zu ihren Klienten öfters die Distanz, reagiert zunehmend gereizt, aggressiv-impulsiv oder gehemmt-resignativ. Ebenso belastet ist die Beziehung zu ihrer pubertierenden Tochter, die zunehmend Autonomieansprüche geltend macht, die die genannten

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Symptome von Frau Schmitt noch verstärken. Nachdem die Gespräche mit ihren Freundinnen nicht wirklich zu einer Verbesserung der Situation geführt haben, überlegt sich Frau Schmitt, ob sie eine psychotherapeutische oder eine supervisorische Hilfe in Anspruch nehmen soll. Sie entscheidet sich für eine Supervision mit dem Ziel, ihre eigene Position zu den bevorstehenden Veränderungen ihrer Arbeitssituation deutlicher werden zu lassen und – möglicherweise verändert – aktiv und möglichst zielführend in die Auseinandersetzungen mit dem Träger einzubringen. Sie schließt einen Kontrakt mit dem Supervisor – sagen wir mal Herrn Kerber, der sich von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen inspirieren ließ.

Fünf Grundsatzpositionen eines neurowissenschaftlich angereicherten systemisch-konstruktivistischen Supervisionskonzepts Herr Kerber geht nun von folgenden fünf neurowissenschaftlichen Positionen aus, die er pragmatisch in sein systemisch-konstruktivistisches Supervisionskonzept integriert: 1. Denken, Fühlen und Handeln des Menschen werden maßgeblich durch neuronale Verschaltungsmuster, synaptische Verbindungen sowie neurochemische und neurohormonelle Prozesse im Gehirn bestimmt (Hüther, 2004a, 2004b). 2. Das Gehirn ist zeitlebens durch die Art der gemachten Erfahrungen und durch die Art der Nutzung veränderbar und erweist sich daher als »plastisch«. Psychosoziale Erfahrungen werden neuronal verankert. Je nach Intensität, Häufigkeit und Vielseitigkeit von Erfahrungen entstehen neuronale Spuren oder Bahnen, die wiederum nutzungsabhängig unterschiedlich tief in die Gehirnstruktur eingebrannt sind. Aufgrund dieser biografischen Erfahrungs- und Nutzungsabhängigkeit kann das biologische Gehirn als »soziokulturelles Organ« oder »Beziehungsorgan« (Fuchs, 2008) verstanden werden. 3. Neuronale Entwicklungen bzw. Veränderungen im Gehirn erfolgen insbesondere durch interpersonelle Beziehungs- und Bindungserfahrungen, die »unter die Haut gehen«. Daraus folgt, dass auch emotional intensiv erlebte supervisorische

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Beziehungserfahrungen und Interventionen die Gehirne der an der Supervision beteiligten Personen in Form modifizierter Aktivierungsmuster verändern (Spitzer, 2002; Hüther, 2004b; Grawe, 2004). 4. Supervision als andragogischer Lehr-Lern-Prozess (Krapohl, 1987) bietet einen geschützten Reflexions-, Übungs- und Lösungsraum für solche Gehirnveränderungsprozesse zur Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit (Reich, 2005). Erfolgreiches supervisorisches Lernen heißt dann: auf der Basis günstiger Lernbedingungen die Plastizität des Gehirns zu nutzen, um neue positive Erfahrungen zu machen, die in veränderten neuronalen Verschaltungsmustern im Gehirn verankert werden. 5. Chronischer Stress und Angst können erfolgreiches Lernen erschweren oder sogar verhindern (Hüther, 2004a; Spitzer, 2004). Sie sind daher besonders supervisionsrelevant. Durch die Beachtung der Wechselwirkungsprozesse zwischen Stress oder Angst auslösenden Stimuli aus der Umwelt und den intrapersonalen neuronalen Aktivierungs- und Verarbeitungsmustern der Supervisanden können solche Lernerschwernisse festgestellt und zum Positiven verändert werden.

Die Supervision von Frau Schmitt aus »neuro-systemischer« Perspektive – ein Interpretationsversuch Wie finden sich diese Positionen in der Supervision von Frau Schmitt wieder? Zunächst einmal entwickelten Frau Schmitt und Herr Kerber in ihrer Biografie jeweils eine individuelle, erfahrungsabhängige, identitätsstiftende neuronale Struktur. Diese biologische Struktur steht in Wechselwirkungszusammenhängen zu den ebenfalls biografisch entstandenen, individuellen Verhaltens-, Erlebens- und Realitätskonstruktionsmustern der beiden. Sowohl die Wahl der Supervision als solcher (anstatt Psychotherapie) als auch die Wahl eines männlichen Supervisors sind das zumindest vorläufige Ergebnis eines inneren Entscheidungsprozesses von Frau Schmitt, welcher nicht nur

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durch bewusste, sondern vor allem durch implizite, emotionale Determinanten zustande kam (Singer, 2004). Auch die Art der Beziehungsaufnahme von Frau Schmitt und Herr Kerber, systemisch ausgedrückt über anschlussfähige strukturelle Koppelungsprozesse, ist durch entsprechende Muster determiniert, die einen einzigartigen Beziehungsraum, ein Beratungssystem im Setting der Supervision co-kreieren. Ein positives Ergebnis solcher Koppelungsprozesse lässt sich metaphorisch ganz passend ausdrücken: Die Supervision kann gelingen, wenn »die Chemie zwischen den beiden« stimmt. Neurobiologisch ausgedrückt: wenn die chemischen Reaktionen ihrer Neurotransmitter und ihre somatischen Marker (Damásio, 2000), das sind implizite erfahrungsassoziierte Körperempfindungen, ein emotionales und körperliches Erleben von Zuversicht, Vertrauen und Zustimmung vermitteln – natürlich am besten auf beiden Seiten. Daher dient die erste Begegnung im supervisorischen Setting nicht nur der Abfrage von Anliegen und Zielsetzung oder der Klärung formaler Bedingungen der Supervision, sondern der in der Hauptsache impliziten, das heißt unbewussten Suche nach möglichst vielen Anschlusspunkten in der Beziehung zwischen Supervisor und Supervisandin. Solche Anschlusspunkte bestehen vor allem aus nonverbalen Signalen wie Stimmlage, Mimik, Gestik, Körperhaltung und Körperempfindungen, die zum Beispiel das Gefühl von Sympathie oder Passung und die Erfahrung von Empathie moderieren (Lamacz-Koetz, 2007). Nach dieser ersten, in unserem Beispielfall geglückten Beziehungsaufnahme wird Herr Kerber von der Vorstellung ausgehen, dass die äußeren Stressfaktoren aus der aktuellen beruflichen und familiären Belastungssituation von Frau Schmitt, wie dem drohenden Arbeitsplatzverlust, dem schwelenden Konflikt mit ihrem Vorgesetzten, den offenen Konflikten mit ihrer Tochter oder den Erfahrungen aktueller therapeutischer Insuffizienz bei ihr innere biologische Prozesse in Form von »Unruhe« (Hüther, 2006) in der neuronalen Struktur ihres Gehirns ausgelöst haben. Unruhe, weil sie bei Frau Schmitt wahrscheinlich auf neuronal verankerte Vorerfahrungen mit gleichen oder ähnlichen, schwer bewältigbaren und damit bedrohlichen Situationen trafen: zum Beispiel die Situation der Trennung von ihrem Mann. Wird eine aktuelle bedrohliche Erfahrung mit einer früheren Erfahrung

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aufgrund von Übereinstimmungsmerkmalen assoziiert, werden die früheren somatischen und emotionalen Reaktionen in Form somatischer Marker aktiviert. Bei Frau Schmitt könnten solche Marker in der körperlichen Müdigkeit, Anspannung und inneren Unruhe bestehen, die nun ihrerseits mit einer Aktivierung der limbischen Netzwerke, des weit projizierenden assoziativen Kortex wie auch bestimmter globalisierender Transmittersysteme in Frau Schmitt’s Gehirn einhergehen. Diese stimulieren eine neuroendokrine Stressantwort, die zu einem Anstieg des Glukokortikoidspiegels führt (Hüther, 2004a, S. 249 ff.). So entstehen bestimmte Feedback-Schleifen, in denen die genannten Systeme Einfluss auf das Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Erinnern, Reflektieren, Entscheiden und Handeln haben, die ja für die aktuelle berufliche Tätigkeit von Frau Schmitt und damit für die Supervision von hoher Bedeutung sind. Zur Bewältigung der angesprochenen beruflichen Schwierigkeiten greift Frau Schmitt zunächst auf spezifische, handlungsleitende Problemlösungsmuster zurück, die ebenfalls in ihrem Leben erfahrungsabhängig entstanden sind. Sie spricht beispielsweise mit ihren Freundinnen, holt sich dort Rat. Da sich ihre Situation dadurch allerdings nicht entschärft, reagiert sie nunmehr mit unspezifischen Strategien, zunächst mit aggressiv-impulsivem Annäherungs- oder mit gehemmt-resignativem Vermeidungsverhalten. Das Ziel, damit die angstauslösenden Stressoren zu kontrollieren oder zu beseitigen, gelingt offenbar ebenfalls nicht so recht. Daher ist die Entscheidung für einen professionellen »social support« in Form von Supervision ein konsequenter Schritt – für Frau Schmitt eine Chance, ihre Krise als Herausforderung zu bewerten und damit möglichst viel an Selbstwirksamkeit und Kohärenz über das Erlernen neuer Problembewältigungs- oder -beseitigungsmuster zu erhalten oder zu stärken (Hüther, 2004a, S. 249 f.). Das wäre eine gute Basis, um zu einer nachhaltigen und erfolgreichen Lösung ihrer aktuellen Probleme und dadurch zur beruhigenden Modifikation ihrer in Unruhe geratenen neuronalen Struktur zu gelangen. Neurobiologisch ausgedrückt möchte Frau Schmitt die Plastizität ihres Gehirns nutzen, um Neues zu lernen (Hüther, 2004b). Für solche Lernprozesse stellt Herr Kerber einen geschützten Reflexions-, Übungs-, Beziehungs- und Lösungsraum zur Ver-

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fügung, in dem eine behutsame, möglichst stressfreie, wohlwollende und stabilisierende Atmosphäre herrscht, um nicht diejenigen oft angstbesetzten und damit stressrelevanten neuronalen Verschaltungen zu aktivieren, die letztlich zur Problementstehung und Problemstabilisierung bei Frau Schmitt führten. Denn »Angst und Stress sind die Gegner von Lernen« (Krapohl, 2008, S. 176). Daher besteht das übergeordnete Ziel der Supervision darin, das Vertrauen Frau Schmitts zu fördern. Und zwar das Vertrauen, dass sie ihre schwierige Situation 1. alleine oder 2. mit anderen Menschen, zum Beispiel zusammen mit dem Supervisor, bewältigen kann und dass 3. letztlich alles gut wird. Für Hüther (2006) sind das die drei vertrauensstiftenden Ressourcen – die Basis für öffnende Lernprozesse. Die Grundhaltung dabei ist: Es gibt Probleme im Leben, aber es wird letztlich immer wieder gut. Mit dieser Haltung können mögliche Ängste vor Misslingen abgebaut werden, die die Kreativität und den Innovationsgeist von Frau Schmitt lähmen. Letztere benötigt sie gerade für optionserweiternde Lernprozesse besonders (Hüther, 2006). Damit ist die spezifische Qualität der Supervisionsbeziehung angesprochen, einer von drei wesentlichen Erfolgsfaktoren von Supervision. Der erste, wichtigste Faktor ist eine vertrauensvolle, fördernd-unterstützende, positiv motivierende Beziehung, in der sich beide, Supervisor und Supervisandin, »voneinander beeindrucken lassen«, wie Hüther (2004b, S. 245) es formuliert. Das ist die Grundlage dafür, dass es zweitens durch geeignete Interventionen über die Umsetzung neuer, effizienter Problemlösungs- oder -beseitigungsstrategien zu öffnenden und erweiternden Lernprozessen in der neuronalen Gehirnstruktur von Frau Schmitt kommen kann. Durch entsprechende Erfahrungen werden vorhandene neuronale Bahnen oder Spuren überformt oder sogar neue gebildet (Hüther, 2004b). Die Ausbildung neuer Bahnen ist jedoch auch davon abhängig, wie viele individuelle Problembewältigungsstrategien zur Verfügung stehen und wie tief diese bereits neuronal verankert sind. Spitzer (2005) spricht von Gedächtnisspuren als »Autobahnen«, wenn nur wenige oder gar nur eine einzige Bewältigungsstrategie für verschiedene Probleme zur Verfügung stehen. Diese ist oder sind dann tief in die neuronale Struktur eingebaut. Und drittens ist der Erfolg der Super-

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vision natürlich auch davon abhängig, wie bewältigbar an sich die externen beruflichen Stressoren sind. Im Beispielfall gibt es weder Hinweise auf unbewältigbare berufliche Stressoren noch auf »Autobahnen« in Frau Schmitt’s Gehirnstruktur. Wenn also die Beziehungsaufbauphase gelingt, sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Supervisionsprozess recht günstig. Herr Kerber wird nun in einem weiteren Schritt der Hypothesenbildung herausfinden müssen, welche Qualität die aktuelle Belastungssituation für Frau Schmitt hat. Also, ob sie die Stressoren subjektiv noch als kontrollierbar oder bereits als unkontrollierbar mit einer destabilisierenden Eigendynamik erlebt (Hüther, 2004a, S. 249 f.). Bewertet sie die Situation als noch kontrollierbar, geht es darum, einen Lernprozess zu initiieren, der es Frau Schmitt ermöglicht, zu einer adaptiven Modifikation ihrer inneren neuronalen Struktur zu kommen. Das bedeutet, dass sie die neuen Lernerfahrungen in die vorhandene Struktur assimilativ integriert, welche sich dadurch erweiternd verändert. Im alternativen Falle einer bereits eingetretenen Unkontrollierbarkeit der inneren oder äußeren Dynamik muss Herr Kerber mit den damit zusammenhängenden Risiken, zum Beispiel einer psychischen Dekompensation, rechnen und abwägen, ob die Supervision noch das passende Setting darstellt oder ob eher eine Krisenintervention oder Psychotherapie angezeigt ist. Hier ist diagnostische Sorgfalt und ein Verständnis klinisch relevanter psychischer Störungsprozesse und -bilder hilfreich. Im Falle von Frau Schmitt wird er diese Optionen bereits in der Anfangsphase der Supervision offen ansprechen, wohl wissend, dass sich Frau Schmitt selbst schon Gedanken über die Alternative Psychotherapie gemacht hat. Das Thema der Indikation kann Herr Kerber damit als anschlussfähige Ressource nutzen, um Frau Schmitt über die psychophysiologischen Stress- und Angstbewältigungsmechanismen aufzuklären. Die offene, undramatische Thematisierung möglicher Risiken, aber auch der Chancen der momentan schwierigen beruflichen und familiären Situation von Frau Schmitt verstärkt im Allgemeinen die Beziehungssicherheit zwischen Supervisor und Supervisandin, weil damit Grenzen und Verantwortlichkeiten markiert werden. Das wiederum entlastet den Supervisionsprozess, in dem sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Angst- und Stressbewältigungsstrategien der

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Beteiligten widerspiegeln. Ein solches Spiegelungsphänomen könnte beispielsweise darin bestehen, dass sich die vergangenen Trennungserfahrungen, die Frau Schmitt mit ihrem Ex-Mann gemacht hat, und die aktuellen Trennungsängste im Kontext des Konflikts mit ihrem männlichen Vorgesetzten auch auf die Beziehung zu Herrn Kerber als männlichen Supervisor auswirken könnten. Herrn Kerber wird bewusst sein, dass sich solche lebensgeschichtlichen, emotionalen Trennungserfahrungen in Form von tieferen Spuren in die neuronale Struktur von Frau Schmitt eingebrannt haben könnten. Solche Spuren laden nun ihrerseits dazu ein, im aktuellen Beziehungsgeschehen bevorzugt aktiviert und in einem selbstreferentiellen Prozess wiederum bestätigt zu werden (Spitzer, 2005). Aus diesem Grunde ist Herr Kerber besonders achtsam bei Interaktionen mit Frau Schmitt, die einladend in eine solche Richtung weisen. In diesem Sinne ist Supervision als ständiges Beziehungsangebot an Frau Schmitt zu begreifen, mit Herrn Kerber andere, eben nicht auf erneute Trennung hinauslaufende Beziehungserfahrungen zu machen. Damit lernt sie, den Unterschied von Vergangenem und Gegenwärtigem zu markieren. Wenn dieser Lernprozess erfolgreich ist, dann hat sich auch die neuronale Struktur im Gehirn von Frau Schmitt stabilisierend verändert. Dafür wird Herr Kerber günstige Lernbedingungen schaffen. Neurowissenschaftlich günstige Lernbedingungen sind nach Hüther (2004a) dann gegeben, wenn Erfahrungen selbst und umfassend gemacht werden können – wenn sie also emotional erlebbar und mit einer Aktivierung möglichst vieler Sinnesmodalitäten verbunden sind. Dann kann es zu einer erweiterten Nutzung der komplexen Verschaltungen im Gehirn kommen, die wiederum kreative Prozesse auslösen, die über die bisherigen Problemlösestrategien hinausweisen. Die aus solchen Lernerfahrungen entstehenden neuen Erkenntnisse oder Strategien sollten, wenn sie sich als passend und effizient erweisen, durch Wiederholung und Training neuronal verankert werden. Und zwar auch wieder möglichst umfassend: Das heißt, dass die den Lernvorgang begleitenden Kognitionen, Emotionen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen wiederum miteinander verknüpft abgespeichert und verankert werden. Zur Initiierung solcher umfassenden Lernerfahrungen steht Herrn Kerber in

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seinem Werkzeugkoffer supervisorischer Interventionen eine breite Palette an methodenübergreifenden Techniken zur Verfügung, die er, passend zur jeweiligen Situation, gezielt einsetzt. Herr Kerber achtet zwar auf die Anschlussfähigkeit an bereits bestehende Problemlösebahnen oder -spuren Frau Schmitts, fährt aber auf diesen nicht mit. Er lässt sich beispielsweise nicht in eine Problemtrance einbinden, sondern lädt seinerseits dazu ein, neue, lösungsbezogene Wege zu bahnen und zu begehen, auch wenn das Terrain noch unbekannt ist. Dabei nutzt er verschiedene Techniken. Mit zirkulären Fragen aktiviert er Frau Schmitts Spiegelneuronensystem (Rizzolatti u. Sinigaglia, 2008) als neuronale Grundlage ihrer »theory of mind« (Förstl, 2007), ihres Empathievermögen in andere Menschen, zum Beispiel in ihre Tochter oder in ihren Vorgesetzten. Mit kreativen Techniken der Visualisierung oder szenischen Darstellung ihrer beruflichen Situationen fördert er das freudige, spielerische Ausprobieren oder Einüben alternativer Bewertungs-, Verhaltens- oder Erlebensmuster. Das können zum Beispiel Skulpturen, Aufstellungen, psychodramatische Inszenierungen oder der künstlerischkreative Einsatz von Materialien wie Farbe, Fotos, metaphorische Gegenstände sein, die Frau Schmitt emotional erreichen. Über diese vielseitigen Medien und kreativen Szenen werden nicht nur einzelne, sondern viele Bereiche des Gehirns von Frau Schmitt aktiviert und verschaltet. Allerdings führen einmalige positive Problembewältigungs- oder -beseitigungserfahrungen noch nicht zwangsläufig zu einer stabil gebahnten neuronalen Repräsentation. Daher ist ein wiederholtes Einüben oder ein systematisches Training notwendig. In diesem Sinne braucht Supervision Zeit, um nachhaltige (neuronal wirksame) Effekte zu erzielen. Und sie benötigt eine Übereinkunft zwischen Supervisor und Supervisandin, nicht nur neue Wege zu gehen, sondern die erfolgreichen davon auch immer wieder zu trainieren. Damit wird die Transparenz über das supervisorische Vorgehen immer wichtiger. Aus dem Kontext traumatherapeutischer Verfahren ist bekannt, dass Psychoedukation, beispielsweise die Aufklärung des Patienten über Sinn und Zweck des therapeutischen Vorgehens, eine wesentliche kooperative und stabilisierende Funktion übernimmt (Reddemann, 2004). Die Patienten erhalten dadurch eine explizite Kontrollmöglichkeit und können sich über die Wahr-

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nehmung der Kontrolle im therapeutischen Setting als selbstwirksam erleben, salutogenetisch ein wichtiger Resilienzfaktor. Diese Erfahrung kann auch für die Supervision genutzt werden, indem Herr Kerber Frau Schmitt über die für den supervisorischen Prozess relevanten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und deren Praxisrelevanz aufklärt und hierüber versucht, Frau Schmitt in ihrer Eigenverantwortlichkeit noch stärker einzubinden – ebenfalls ein wichtiger Aspekt eines gelingenden Supervisionsprozesses.

Facetten einer »gehirngerechten« Supervision Das aufgeführte Fallbeispiel steht exemplarisch für eine um neuronale Vorgänge erweiterte supervisorische Perspektive, welche den Blick öffnet für ein verändertes, handlungsleitendes Verständnis der Wechselwirkung von äußeren psychosozialen Erfahrungen und inneren neuronalen und psychischen Verarbeitungsprozessen. Das vorläufige Ergebnis meines eigenen Auseinandersetzungsprozesses um die Frage der Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die supervisorische Praxis weist über das dargestellte Fallbeispiel hinaus. In einem umfassenderen Sinn ziehe ich daher abschließend ein vorläufiges und natürlich subjektives Fazit dieses Prozesses, indem ich (m)ein Bild einer »gehirngerechten« Supervision zeichne, das sich durch zehn »neuro-supervisorische« Orientierungslinien in Anlehnung an Grawe (2004, S. 434ff.) ausweist. 1. Orientierung an neuronalen Strukturen: Ein neurowissenschaftlich inspirierter Supervisor fokussiert nicht nur die Wechselwirkungsbeziehungen zwischen den äußeren beruflichen Situationsvariablen und den inneren Denk-, Erlebens-, Konstruktions- und Handlungsmustern seiner Supervisanden, sondern nimmt zusätzlich die neuronalen Faktoren ins Visier, die diesen Mustern zugrunde liegen. Verändern sich im Kontext der Supervision die Problembewältigungs- oder -beseitigungsmuster der Supervisanden, verändern sich auch die ihnen zugrunde liegenden biologischen Korrelate, insbesondere durch

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sich wiederholende Erfahrungen. In diesem Sinne versteht sich der Supervisor auch als Initiator und Mitorganisator von Gehirnveränderungsprozessen, als Wegbahner und Co-Trainer neuer neuronaler Verschaltungsmuster: »Change the mind and you change the brain« (Paquette et al., 2003). 2. Beziehungsorientierung: Ein neurowissenschaftlich inspirierter Supervisor weiß, dass in der supervisorischen Beziehung die Bindungs- und Beziehungsbedürfnisse aller Beteiligten implizit aktiviert sind. Entscheidend ist, dass die Supervisanden positive Beziehungserfahrungen machen und introjizieren können, indem der Supervisor Wärme, Zuversicht, Kompetenz, Handlungsbereitschaft, ungeteilte Aufmerksamkeit und Vertrauen ausstrahlt. 3. Motivationsorientierung: Der Supervisor achtet auf positiv formulierte Veränderungsziele und setzt bei jenen an, für die die Supervisanden die höchste motivationale Bereitschaft und die besten Ressourcen mitbringen. Es ist nicht wirklich sinnvoll, Veränderungsziele anzustreben, für die sich die Supervisanden nicht wirklich einsetzen und Interventionen durchzuführen, für die die Supervisanden nicht wirklich motivierbar sind. 4. Ressourcenorientierung: Der Supervisor verfährt nach dem Ressourcenprinzip: Du sollst, was du erfolgreich kannst – und das wiederholt. Dazu führt er eine genaue Analyse der individuellen und sozialen Ressourcen und Kompetenzen seiner Supervisanden durch und arbeitet mit ihnen. 5. Lösungs-, Bewältigungs-, Klärungsorientierung: Der Supervisor bereitet jede Problemaktivierung durch ein Annäherungspriming vor, indem er positive Gefühle, Ziele, Motive aktiviert, also positive Gegenwelten zu den Problemen aufbaut. Diese Aktivierung ist die Basis für neue Bewältigungs- oder Klärungserfahrungen, die das bisherige Repertoire an Strategien der Supervisanden erweitern im Sinne des von Foerster’schen Imperativs: Handle stets so, dass die Anzahl der Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten – und damit der neuronalen Bahnen und Verschaltungen – wächst (von Foerster, 1985, S. 60).

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6. Orientierung an positiven Lernerfahrungen: Der Supervisor ermöglicht Selbstwert erhöhende Erfolgserlebnisse und verhält sich fehlerfreundlich. Er stärkt die protektiven Faktoren und damit die Resilienz der Supervisanden. 7. Emotionsorientierung: Der Supervisor ermöglicht Erfahrungen, die »unter die Haut gehen«, die Freude, Stolz, Lust, Interesse vermitteln. Er vermeidet Erfahrungen, die Angst, Zwang oder übermäßig belastenden Stress erzeugen, welche das Lernen erschweren (Spitzer, 2002, S. 157 ff.). 8. Erlebnis- und Körperorientierung: Der Supervisor arbeitet mit aktivierenden Methoden, mit denen Erfahrungen spielerisch selbst erlebt werden können. Dafür nutzt er möglichst vielfältige sinnliche, körperliche, emotionale, intellektuelle, soziale Zugänge für explizites und implizites Lernen, damit vielerlei neuronale Vernetzungen stattfinden können (Buer, 2004; Kersting, 2002b, S. 166 ff.; Schweitzer u. Schlippe, 2007; Brandau u. Schüers, 1995). 9. Partizipationsorientierung: Der Supervisor lässt die Supervisanden an seinen Hypothesen, Entscheidungen oder Interventionsstrategien bewusst teilhaben, in dem er sein Vorgehen im Sinne einer Psychoedukation transparent macht. 10. Gemeinschafts-, Kooperationsorientierung: Der Supervisor fördert kooperatives Verhalten in den sozialen Bezügen der Supervisanden ebenso wie in der Supervision selbst, um das Vertrauen in andere Menschen und somit in die Wirksamkeit des social supports zu stärken. Abrunden möchte ich dieses Bild einer »gehirngerechten Supervision« mit einem Zitat des Hirnforschers Spitzer: »Die Gehirnforschung zeigt nicht nur, dass wir zum Lernen geboren sind und gar nicht anders können, als lebenslang zu lernen. Sie zeigt auch Bedingungen glückenden Lernens und [. . . ] ermöglicht uns damit ein besseres Selbstverständnis im besten Sinne des Wortes. Es ist an der Zeit, dass wir dieses Verständnis unserer selbst für die Gestaltung von Lernumgebungen bzw. Lernsitua-

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tionen nutzen. Wir können es uns einfach nicht länger leisten, die wichtigste Ressource, über die wir ökonomisch verfügen: die Gehirne der Menschen, zu behandeln, als wüssten wir nichts über deren Funktion! [. . . ] Nicht anders sollte man in der Pädagogik verfahren. Es gilt nicht nur, die Grundlagen von Lernprozessen mit Hilfe der Gehirnforschung aufzuspüren, sondern auch, die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen auf ihre Anwendbarkeit, Wirksamkeit, und vielleicht auch Nebenwirkungen hin [. . . ] in der Praxis des Lehrens, zu überprüfen. [. . . ] Es gilt, das heute bereits Machbare auch tatsächlich umzusetzen, um uns allen[. . . ] besseres Lernen und damit ein besseres Leben zu ermöglichen« (Spitzer, 2004, S. 10 f.).

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Jochen Schweitzer

Hirngespinste systemischer Organisationstheorie

Einführung Systemische Organisationstheorie kann etwas für einen Verband außerordentlich Praktisches sein. Dies soll gezeigt werden mithilfe einiger Konzepte, wie sie etwa Niklas Luhmann (2000), Hellmut Willke (1993, 1995, 2006) und Fritz Simon (2007) bekannt gemacht haben. Ich will diese Konzepte jeweils auf die DGSF als Verband anwenden und mit Ihnen schauen: Auf welche Fragen stoßen wir, wenn wir uns als Verband selbst zum Gegenstand systemtheoretischer Betrachtung machen? Mein Beitrag wird vorwiegend Fragen aufwerfen und nur gelegentlich Antworten anbieten. Ich möchte eingangs die DGSF als neuronales Netzwerk darzustellen versuchen. Dabei werden unsere Gremien, Funktionäre und Mitglieder zu Zellen, die Kommunikationswege zwischen ihnen zu Axonen und Dendriten. Und die Synapsen – das sind die Orte, wo es auch in einem Verband immer wieder funkt. Ausgehend vom Organigramm sei hier das neuronale Netzwerk der DGSF in seinem aktuellen Zustandsbild Mitte 2008 aufgezeichnet (siehe Abbildung 1), in dem ich nacheinander die Mitglieder und die Mitgliederversammlung, dann die Gremien und Funktionäre des Verbandes in der historischen Reihenfolge ihres Entstehens und schließlich die Dichte der Verbindungen zwischen diesen einzublenden versuche.

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Vorstand

DGSF-Mitgliedschaft

Kassenprüfer Geschäftsstelle

Vermittlungsausschuss

Weiterbildungsausschuss

Ethikbeirat

DGSF Instituteversammlung

Gemeinsame Sprecher DGSF+SG - Berufspolitik - EFTA - „Expertise“ / WBP - (Beratung)

Zeitschrift Kontext

Regionalgruppen

Außenausschuss

- Nord - Nordbayern Fachgruppen - Süd - Süd-West - Berlin-Brandenburg - Köln-Bonn

Instituterat

InnenAusschuss

- Aufsuchende Familientherapie - Systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie - Systemische Kinder- und Jugendhilfe - Coaching und Organisationsberatung - Systemische Mediation - Systemische Onlineberatung - Systemische Arbeit mit alten Mensche - Systemische Sozialarbeit

Wissenschaftl. Beirat

-Hochschule -Sucht -Systemische Konzepte im Gesundheitswesen

Abb. 1: Das DGSF-Organigramm als neuronales Netzwerk (Stand Sommer 2008)

Sinnsuche: Wozu sind wir da? Die DGSF hat nicht an und für sich einen bestimmten »Sinn«. Vielmehr kann man ihr unterschiedliche Sinngebungen zuweisen und vermutlich liegt ihr Sinn für die meisten von uns auf mehr als einer Dimension. Man kann die DGSF auffassen als (siehe Abbildung 2): − »Konversationsclub« für den fachlich und menschlich bereichernden, meist herrschaftsfreien Austausch untereinander. Das geschieht auf den Jahrestagungen und den Mitgliedertagen, das geschieht in den Regionalgruppen und teilweise in den Fachgruppen. − »Service Provider«, der den Mitgliedern wichtige Dienstleistungen kostengünstig bereitstellt. Solche Dienstleistungen sind Jahrestagungen, die Fachzeitschrift Kontext, die Online-Therapeutenliste www.familientherapie.org, die DGSFMailingliste und, für viele Institute und Weiterbildungsteilnehmer am wichtigsten, die Zertifizierungen. − »Soziale Bewegung«, die gesellschaftliche Ziele, in unserem

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Hirngespinste systemischer Organisationstheorie

„Lobby“

„Closed Shop“

DGSF

Das systemische Denken

„Freiwillige Selbstkontrolle“

„Konversationsclub“

„Service Provider“

„Soziale Bewegung“

Abb. 2: Mögliche Sinngebungen der DGSF

Falle die Weiterentwicklung des systemischen Denkens, »von unten her« durch kollektive Aktion anstrebt. − »Freiwillige Selbstkontrolle«, die Qualitätskriterien für das Verhalten einzelner Mitglieder definiert und überprüft (das tut z. B. der Weiterbildungsausschuss) oder die ethischen Standards für das professionelle Verhalten ihrer Mitglieder in Ethikrichtlinien festlegt und durch eine Ethikkommission das beklagte Fehlverhalten einzelner Mitglieder überprüft. − »Closed Shop«: Sie kann als Oligopolist auftreten, der um einen knappen Markt herum Zäune errichtet und dafür sorgt, dass möglichst wenig Konkurrenten über diesen Zaun kommen. Das geschieht in der DGSF nach meiner Wahrnehmung nicht. − »Lobby«: Sie kann materielle Interessen der Mitglieder durch berufspolitische Repräsentanz in der Politik, in anderen Verbänden oder in der Öffentlichkeit vertreten. Dafür haben wir berufspolitische Sprecher(innen). Verbände müssen aber gar nicht immer einen Sinn haben. Einmal zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes gegründet, können sie später als autopoietische, also sich selbst aufrechterhaltende Systeme grundsätzlich auch geraume Zeit ohne einen Sinn weiterleben, der den Mitgliedern noch bewusst wäre.

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System-Umwelt-Grenzen: Wen wollen wir unter uns haben? Systeme können wir uns allgemein vorstellen als eine Ansammlung von Elementen, durch Beziehungen untereinander verbunden und durch eine Grenze von ihrer Umwelt unterschieden (siehe Abbildung 3). System

Umwelt

Abb. 3: Elemente – Relationen – Grenze

Dabei folgen die Beziehungen untereinander, je länger sich das System entwickelt, um so mehr bestimmten, immer wiederkehrenden Regelmäßigkeiten (die nennen wir Beziehungsmuster), die die Eigenlogik des Systems formen. Die Grenze hingegen markiert, was alles zur Innenwelt des Systems gehört und was draußen vorbleibt. Das Spannende an der Grenze ist, dass die Frage, wer drinnen ist und wer draußen bleibt, wiederum viel über das Sinnverständnis dieses Systems ausdrückt. An der Innen-/Außengrenze der DGSF können wir Folgendes beobachten: Anders als z. B. bei den meisten psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen und auch gesprächstherapeutischen Verbänden sind in der DGSF nicht nur Psychologen und Mediziner organisiert, sondern auch viele Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiterinnen, Lehrer, Theologen und andere Berufe. Die DGSF ist ein berufsgruppenübergreifender Verband. Dies macht die DGSF sehr resistent gegen berufspolitische Krisen in einzelnen dieser Berufsfelder. Anders als in der Systemischen Gesellschaft (SG) hat die DGSF auch Mitglieder ohne abgeschlossene Weiterbildung. Unter an-

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Systemische Szene DGSF SG Absolventen Andere

Absolventen und Andere

Abb. 4: System-Umwelt-Grenzen: Breiter oder exklusiver?

derem deshalb ist die DGSF deutlich größer als die SG. Gleichzeitig ist sie insofern weniger exklusiv (siehe Abbildung 4). Sowohl Einzelmitglieder wie auch Weiterbildungsinstitute sind gleichermaßen Mitglieder im Systeminneren. Und sie sind weniger als in der SG durch ein »Zwei-Kammern-Modell« voneinander separiert. Viele Mitglieder kennen die Konflikte, die damit anfangs einhergingen und schließlich mit der Etablierung der Instituteversammlung gelöst wurden. Aber ich bin überzeugt, dass wir zugleich die beobachtbare Dynamik der DGSF dem Umstand verdanken, dass wir kein Zwei-Kammern-System haben. Langfristig kann es interessant sein zu überlegen, wie vorteilhaft unsere derzeitigen Grenzziehungen sind. Man kann über die Grenzen zwischen DGSF und SG nachdenken. Man kann fragen, ob die systemischen Unternehmensberater im Profitbereich stärker eingeladen werden sollten, ob wir einerseits mehr systemisch orientierte Juristen, Politologen, Betriebswirte und Ingenieure oder andererseits mehr systemisch orientierte Pflegekräfte oder Lehrer unter uns haben wollen (siehe Abbildung 5).

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Umwelt

DGSF Psychologen Mediziner

?

Sozialpädagogen / -arbeiter

Unternehmensberater, Juristen, Politologen, Betriebswirte, Ingenieure

Leherer Theologen

?

Pflege

Abb. 5: System-Umwelt-Grenzen: Die DGSF als berufsgruppenübergreifender Verband

Komplexität: Welche Fülle von Prozessen kann ein Verband »verdauen«? Die Innenwelt eines Verbandes stärker zu bevölkern, kann aber sehr riskant sein. Nicht nur, dass es drinnen eng werden und man sich auf den Füßen herumstehen könnte. Auch kann leichter der Überblick verloren gehen und Chaos entstehen. Systemtheoretisch ausgedrückt: Je mehr Elemente, je mehr Vernetzungen es dazwischen gibt und je mehr Folgen Entscheidungen in einem Bereich für die anderen Bereiche im Verband haben, um so mehr muss diese Komplexität durch Selektionsentscheidungen wieder bewältigt werden. Man kann an der DGSF sehr schön verfolgen, wie ihr Wachstum von 1.300 auf über 2.800 Mitglieder binnen acht Jahren beständig den Aufbau neuer interner Strukturen erforderlich gemacht hat, damit diese Komplexität übersichtlich reduziert wird. Regionalgruppen sind ein Weg, Fachgruppen ein anderer, die zunehmende Differenzierung der Geschäftsstelle ein dritter (siehe Abbildung 6).

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Regionalgruppen Fachgruppen

Institutversammlung

Andere

Abb. 6: Komplexität durch interne Strukturen reduzieren

System-Umwelt-Beobachtungen: Wer gehört auf unsere Umweltlandkarte? Systeme beobachten einerseits ihre Umwelt daraufhin, was von dem, was dort draußen geschieht, für sie drinnen wichtig ist und worauf sie reagieren müssen Dies nennen wir Fremdreferenz. Andererseits beobachten sie ihr internes Geschehen, häufig auch im Wissen um die Vorgänge draußen. Das nennen wir Selbstreferenz. Beschränken wir uns auf die Fremdreferenz und fragen wir uns: Welche Umwelten beobachtet eigentlich die DGSF und wo schaut sie nicht hin? In folgender Landkarte (siehe Abbildung 7) – ich nenne sie die Umweltlandkarte der DGSF – habe ich einmal alle diejenigen Gremien, Verbände etc. in Deutschland hineingeschrieben, die m. E. potentiell für die DGSF von Interesse sein könnten. Kursiv markiert sind davon diejenigen, welche die DGSF nach meiner sehr beschränkten Kenntnis nach auch tatsächlich beobachtet, d. h. zu denen sie Kontakt hat und von denen sie etwas erfährt. Dass nur ein Bruchteil der potentiell möglichen Umwelten von uns tatsächlich auch beobachtet wird, ist gut so. Denn mehr würde uns bislang überfordern. Wollten wir z. B. berufspolitisch etwa im Suchtbereich oder in der Lehrerbildung oder in der Justiz als Verband stärker aktiv werden und dort mitmischen – ja, dann müssten wir als DGSF

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Ausland SGS: Schweizer Ges. für Systemische Therapie und Beratung ÖAS: Österreichische Arbeitsg. für systemische Therapie und Systemische Studien IFTA: International Family Therapy Assocation, EFTA/ NFTO: European Family Therapy Association AFTA: American Family Therapy Academy, AAMFT: American Association for Marriage and Family Therapy Jugendhilfe und soziale Arbeit Ministerium: BMJF Landesjugendämter Trägerorganisationen: Caritas, Diakonisches Werk, DPWV, AWO Verbände: AFET e.V.; AGJ; BKE; Bundesforum Familie Bündnis für Familien BVkE; DBSH; DJHT; DV; EREV; IGfH; IKJ; Verbändekonferenz Jugend- u. Familienhilfe Verbändetreffen gegen sexuellen Missbrauch

Gesundheitswesen Ministerium: BMG, Landesgesundheitsministerien Krankenkassen Ärztekammern BPtK; LandesPsychotherapeutenkammern; WBP; G-BA: Verbände: AZA-KJP; BAPt; GK II DGPGG; DGPM; DGPPN; DGVT; DVP; GwG; IAG; NaSPro; VVP

Rehabilitation Ministerium: BMAS Deutsche Rentenversicherung DHS FDR BUSS CaSu GVS FVS

Presse und Öffentlichkeitsarbeit Informationsdienst Wissenschaft, Fachpresse (Psychotherapie, KiJu/Sozial, Gesundheit), überreg. Zeitungen, Agenturen, interessierte Journalisten (nach Erstkontakt)

DGSF Familienpolitik/Allgemeinpolitik Adressaten: Ministerien, politische Parteien Kooppartner: Fam.verbände, Gewerkschaft, Kirchen, Sozialforscher Bildung (Schule, Hochschule, Weiterbildung) Ministerium: BMBF Landeskultusministerien AHPGS DGSP

Forschung Ministerium: BMBF Forschungsförderer/ Stiftungen: DFG: BMBF, Bosch, VW, Bertelsmann, Hertie, viele kleine Stiftungen

Beratung, Coaching, Supervision Organisationsberatung, Mediation ANSE BAFM DGfB DGfC DGOB DGSv Verbändeforum Supervision: 8 Verbände

Sonstiges Justiz Ministerium: BMJ Verwaltungsgericht Oberlandesgericht

Abb. 7: Umweltlandkarte mit aktualisierten und nicht aktualisierten Umwelten

in unserem Inneren ähnlich komplex aufgebaut sein wie Umwelten, die sie beobachten will. Das erfordert eine bestimmte Zusammensetzung – anfangs der Mitgliederschaft, danach der Fachgruppen, ab einem bestimmten Wachstumsniveau vielleicht sogar des Vorstandes und der Fachreferenten.

Storytelling: Welche Geschichten erzählt ein Verband über sich selbst? Sie alle kennen Max Frischs Bonmot, dass sich Menschen oft eine Geschichte erzählen, die sie dann für ihr Leben halten. Auch Verbände erzählen sich bestimmte Geschichten über sich selbst und oft leben sie dann auch ihr Verbandsleben gemäß dieser Geschichten. Ich komme in der DGSF nicht genug herum und bin andererseits zu sehr Teil von ihr, als dass ich diese Geschichten

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prägnant vortragen könnte. Ich kann nur einige Fragen dazu formulieren. Welche Geschichten erzählt die DGSF über sich selbst? Beschreibt sie sich z. B. selbst als einen lebendigen, lustigen Haufen, in dem das Dabeisein Spaß macht, oder als eine anstrengende Veranstaltung, die es durchzustehen gilt? Beschreibt sie sich selbst als eine Gruppe von Außenseitern am Rande des Mainstreams, von den herrschenden Kreisen ausgegrenzt und marginalisiert, oder als eine Avantgarde auf dem Weg ins Zentrum der Gesellschaft? Man könnte weiter fragen: Wer erzählt innerhalb des Verbandes seine Geschichten über den Verband und wer behält sie für sich? Wessen Geschichten werden gehört, wessen Geschichten gehen unter oder verhallen? Beides sind Fragen nach der Chancengleichheit im Verband. Oder: Welche Geschichten setzen sich im Verband durch, welche Geschichten werden unterdrückt oder gar zensiert? All dies betrifft das verbandsinterne Storytelling. Genauso spannend scheint mir: Welche Geschichten verbreitet ein Verband nach außen? Ich glaube, die Art, wie wir bestimmte Geschichten erzählen, macht einen riesigen Unterschied für deren künftige Fortsetzung. Es folgen zwei Beispiele dazu. Sagen wir: »Die systemische Therapie ist in Deutschland wissenschaftlich nicht anerkannt« oder sagen wir: »Sie ist derzeit noch auf dem Weg zur Anerkennung«? Sagen wir: »Die Verhaltenstherapeuten wildern im Steinbruch der systemischen Therapie« oder sagen wir: »Die Faszination systemischen Arbeitens hat inzwischen auch zahlreiche Verhaltenstherapeuten erfasst«? Ich hoffe, eines ist in meinen Fragen und Beispielen deutlich geworden: Die Geschichten, die wir uns im Verband erzählen, und die Art dieser Erzählungen haben enorme Auswirkungen auf die Stimmung, auf die Energie, auf die Geistesblitze, die im Verband möglich werden. Und sie entscheiden auch darüber mit, wie wirksam wir nach außen werden können.

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Verbandssteuerung: Mit welchem Mix aus Ideen, Beziehungsarbeit, Macht und Geld steuert sich ein Verband? Nach außen hin in seine Umwelten hinein kann ein Verband theoretisch über mindestens vier Wege Einfluss nehmen: − Öffentlich-rechtlicher Einfluss: über Entscheidungsbefugnisse, die ihm gesetzlich oder durch öffentliche Einrichtungen eingeräumt sind. Gesetzlich können z. B. die Kassenärztlichen Vereinigungen oder die Psychotherapeutenkammern Einfluss nehmen. Öffentliche Instanzen privilegieren oft bestimmte Expertengruppen, z. B. im Wissenschaftsbereich, so sehr, dass diese wie Oligopole auftreten können, an denen keiner vorbeikommt. An der erfolgreichen Klage eines DGSF-Institutes beim OVG Münster gegen die Bedeutung des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie für die Zulassung zur Psychotherapieausbildung kann man aber sehen, dass man auch solche fast gesetzlich erscheinenden Befugnisse infrage stellen kann. − Einfluss durch Marktposition: Wer ein begehrtes Gut anbietet, nach dem hohe Marktnachfrage besteht, der kann über die Steuerung des Angebotes Einfluss nehmen. Das trifft derzeit für zertifizierte Weiterbildungen in systemischer Therapie, Beratung oder Supervision zu, und genau hier übt die DGSF auch alltäglich Einfluss aus. − Einfluss durch soziale Bewegung: Viele Menschen, wenn sie gut genug vernetzt sind, können sich um eine zündende Idee scharen und diese durch kollektive Aktion voranbringen. Das führt zu der Frage: Wie zündend ist die Idee des systemischen Ansatzes derzeit? Mobilisiert sie Menschen, bringt sie sie zusammen, treibt sie vorwärts zu neuen Entwicklungen? Wenn das bejaht werden kann, kommt die leichtere zweite Frage: Kann man diese begeisterten Menschen so zusammenbringen, dass sie aus ihrer Begeisterung etwas Neues zustande bringen? − Einfluss durch Geld: Geld als das am breitesten generalisierbare Tauschmittel ist ein potentes Steuerungsmittel.

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Mir scheint, die DGSF verfügt über zündende Ideen und in der Weiterbildung über eine relativ gute Marktposition. Sie hat so gut wie keinen öffentlich-rechtlichen Einfluss und ist in den Oligopolen der Macht nur selten beteiligt. Ihr Geld reicht zu einer professionellen internen Steuerung, nach außen für einiges an Öffentlichkeitsarbeit, Expertisen und Berufspolitik. Es würde nicht reichen, um attraktive Schmiergelder an korrupte Funktionäre zu zahlen, wenn es solche gäbe. Unsere Stärken liegen also in der zündenden Idee, in der Vernetzung und in der Marktposition der Marken »systemisch« und »DGSF«– diese gilt es gut zu nutzen.

Wie wird entschieden: Nach Geschäftsordnung, nach Beratung aller mit allen, durch Einzelne? Entscheidungsprämissen legen den Spielraum fest, innerhalb dessen frei entschieden werden kann. Die drei wichtigsten sind: − Programme = Erwartungen, die für mehr als nur eine Entscheidung gelten: Es gibt Konditionalprogramme (»Wenn . . . der Fall ist, dann . . . «) und Zweckprogramme (»Um das Ziel . . . zu erreichen, muss . . . getan werden«). Beispiele: Gesetze, Handbücher, Gebrauchsanweisungen. In der DGSF sind dies unsere Satzungen. − Kommunikationsabläufe/Prozeduren für weniger programmierbare Entscheidungen: »Fragen Sie den Fachexperten, eine höhere Instanz/den Chef. Suchen Sie den Konsens aller Beteiligten . . . « In der DGSF sind dies die Aushandlungsprozesse in und zwischen den Gremien. − Personen: Man überlässt einzelnen Personen die Entscheidung. Damit wird Unvorhersehbarkeit eingeführt. Deshalb ist die Einstellung neuen Personals, speziell von Führungskräften, für jede Organisation mit einem Risiko verbunden. Das hat die DGSF ja nun seit einem Jahr auch mit mir als neuem erstem Vorsitzenden erlebt. Fritz Simon hat als eine Faustregel formuliert: Wo die Organisation weiß, was sie zu erwarten hat, sind Programme sinnvoll einsetzbar. Wo sie mit viel Nichtwissen konfrontiert ist, ist

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Verantwortungsübertragung an Personen meist effektiv. Wahrscheinlich sichert eine Gleichberechtigung aller drei Prämissen das Überleben der Organisation am besten. Für die DGSF ergeben sich daraus m. E. einige Schlussfolgerungen. Ich denke, wir brauchen klare Satzungen und Richtlinien, damit 90 % der Masseentscheidungen schnell getroffen werden können. Wir müssen bereit sein, diese relativ zeitnah wieder zu verändern und flexibel zu interpretieren, wenn sie sich als Bremsklötze oder Dauerfrustspender erweisen, also vom Mittel zum Selbstzweck werden. Wir müssen die Kommunikationsabläufe zwischen den Gremien leicht und flüssig gestalten, damit wir schnell und auf angenehme Weise zu befriedigenden Entscheidungen kommen. Und schließlich brauchen wir manchmal Vertrauen in einzelne Personen, dass sie es schon richtig machen werden. Wenn wir hinterher denken, dass sie Mist gebaut haben, dann sollte in einem fehlerfreundlich orientierten Verband noch genug Zeit zur Korrektur sein.

Zweckrationalität, Systemrationalität und Organisationskultur: Wie viel investiert ein Verband in äußere Erfolge und in innere Selbstpflege? Auch Verbände erzeugen sich als autopoietische, strukturdeterminierte und operational geschlossene Systeme sozusagen als Produzent ihrer eigenen System-Umwelt-Unterscheidungen immer wieder selbst. Sie sind soziale Systeme, die »Geschichte schreiben«, sich an Vergangenheit erinnern und Fantasien für Zukünfte entwickeln. In diesem Sinne erhalten sich Verbände (durch Kommunikationen) selbst aufrecht. Hat ein Verband einmal das Licht der Welt erblickt, braucht er ab da nicht mehr zwangsläufig einen Sinn »an sich«. Er kann damit zufrieden sein, einfach weiter zu überleben. Mit Dirk Bäcker können wir daher einen Verband auch als ein »vagabundierendes Problemlösemittel auf der Suche nach passenden Problemen« beschreiben. Verbände können »als Mittel zum Zweck« verstanden werden. Das nennen wir ihre »Zweckrationalität«. Aber sie können ja Mittel zu unterschiedlichen, oft konkurrierenden und manch-

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mal sich sogar gegenseitig ausschließenden Zwecken sein. Systemrationalität im Gegensatz zu Zweckrationalität ist die Frage, wie der Verband in der Kommunikation mit unverzichtbaren Umwelten einfach nur überleben kann. Manchmal ist es dafür nützlich, so zu tun, als erfülle man noch einen Zweck.

Der Verband und seine Mitglieder: Wie pflegt ein Verband seine Akteure und sein Wissen? Mitglieder sind notwendige Umwelten der Organisation, aber nicht konstituierende Bestandteile der Organisation. Sie kommen nicht »ganzheitlich« in der Organisation vor, sondern »nur« mit ihren Beiträgen zum Verbandsgeschehen. Mitglieder, auch Vorstände, sind prinzipiell austauschbar. Deshalb können Verbände vieles leisten, was Personen nicht zuwege bringen – und sie können (müssen aber keineswegs) potentiell länger leben. Die Seelen, die Köpfe und die Körper von Mitgliedern sind Umwelten des Verbandes. Sie sind für das Funktionieren des Verbandes absolut unentbehrlich, aber austauschbar. Das hat Vorteile. Es entlastet einen Verband, sich mit den meisten privaten Themen seiner Mitglieder nicht beschäftigen zu müssen. Und die Mitglieder haben gegenüber ihrer Organisation eine gewisse Distanz aus der Perspektive des außenstehenden Beobachters. Die Differenz zwischen Verband und Mitgliedern ist wichtig für die Frage, wie intelligent ein Verband sein kann. Jeder Verband muss eine sorgsame Personalpolitik betreiben. Das beinhaltet zum einen eine gute Personalauswahl und noch mehr Personalförderung. Die Qualitäten der in einem Verband zentral tätigen Personen und wie deren Potentiale genutzt werden, begrenzen oder erweitern sozusagen die Potenziale der Organisation. Jedoch werden die Kompetenzen der einzelnen Mitglieder nicht zwangsläufig zu Kompetenzen des Verbandes. Ein Verband kann »blöder« werden als die Summe seiner Mitglieder. Dies zu verhindern, braucht ein gewisses Wissensmanagement. Wo aber sitzt in der DGSF das relevante Wissen? Ich würde sagen: erstens in den Köpfen der Mitglieder und Funktionäre; zweitens in den Geschichten, die auch hier in Essen wieder auf

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den Fluren und bei abendlichen Festen erzählt werden; drittens in den Satzungen mit all ihren durchlebten Revisionen; viertens seit 2007 in der Jahresbroschüre »DGSF intern«. Manches heute relevante Wissen veraltet schnell, manche uralten Erinnerungen können schnell wieder wichtig werden. Wie sorgen wir dafür, dass neues Wissen in die DGSF hineinkommt, dass aktuelles Wissen durch die Kommunikationskanäle der DGSF strömt, dass olle Kamellen in den Langzeitspeichern abgelegt werden und dass wertvolle Erinnerungen gut zugänglich archiviert werden?

Das neuronale Netzwerk einer DGSF im Jahr 2018 – einige Spekulationen in die Zukunft Prognosen sind etwas Riskantes, oft kommt es anders, als man denkt. Sie können aber unsere oft diffusen Bestrebungen in bestimmte Richtungen konzentrieren. Die DGSF könnte, schriebe man die jetzige Wachstumskurve noch eine Weile linear fort und geriete dann an die »Grenzen des Wachstums«, deutlich über 4000 Mitglieder haben und damit zu den großen psychosozialen Fachverbänden gehören. Ich glaube: Sie wird weiterhin berufsgruppenübergreifend organisiert sein und andere stärker berufsständische Verbände werden dieses Erfolgsmodell übernommen haben. Sie wird strukturell − bei den Fachgruppen weiter ausdifferenziert sein, neben den heutigen Fachgruppen besonders in den Bereichen Sucht, Schulpädagogik und Unternehmensberatung; − mindestens zwei Institutekammern haben (Weiterbildungsinstitute, Versorgungseinrichtungen) und dafür unterschiedliche Zertifizierungsrichtlinien; − neben Geschäftsführer und berufspolitischern Sprecherinnen weitere spezialisierte Fachreferenten anstellen. Um bei dieser Größe dennoch auch emotional eine »Heimat« für die Mitglieder zu sein, wird das Herz des Verbandes stärker als heute in Regionen und Regionalgruppen schlagen. Neben der weiterhin großen Zusammenkunft im Herbst wird es im Frühjahr regionale Mitgliedertage in Nord, Ost, West, Mitte und

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Vorstand

DGSF-Mitgliedschaft

Kassenprüfer Geschäftsstelle

Vermittlungsausschuss

Weiterbildungsausschuss

Ethikbeirat

DGSF Instituteversammlung I Weiterbildung

Gemeinsame Sprecher DGSF+SG - Berufspolitik - EFTA - „Expertise“ / WBP - (Beratung) -Psychotherapie -Jugendhilfe -Beratung -Europa -Wissenschaft

DGSF Instituteversammlung II Versorgung Zeitschrift Kontext

Regionalgruppen

Außenausschuss

- Nord - Nordbayern Fachgruppen - Süd - Süd-West - Berlin-Brandenburg - Köln-Bonn - Hamburg - Saarbrücken - Leipzig - Freiburg - Dresden - Tübingen - Frankfurt - Magdeburg

Instituterat

InnenAusschuss

- Aufsuchende Familientherapie - Systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie - Systemische Kinder- und Jugendhilfe - Coaching und Organisationsberatung - Systemische Mediation - Systemische Onlineberatung - Systemische Arbeit mit alten Mensche - Systemische Sozialarbeit

Wissenschaftl. Beirat

-Hochschule -Sucht -Systemische Konzepte im Gesundheitswesen -Schulpädagogik -Pflege 22 -Unternehmensberatung -Politikberatung

Abb. 8: Die Zukunft der DGSF

Süd geben. Da die Mobilität zumindest im deutschen Sprachraum weiter zunimmt, werden die Kontakte zu den schweizerischen und österreichischen Systemikerverbänden dichter sein als bisher. Wie wird die Grenze zur SG aussehen? Einerseits könnten DGSF und SG sich über konträre Sinngebungen wieder stärker voneinander abgrenzen. Andernfalls könnten sie einen dicht kooperierenden Verbände-Verband oder gar einen gemeinsamen Verband entwickeln – was derzeit noch nicht aktuell erscheint. Ich glaube, dies alles wird nur dann so geschehen, wenn die Weiterentwicklung des systemischen Denkens als die zündende Idee, als das intellektuelle und emotionale Zentrum des Verbandes, als seine Zweckrationalität lebendig fortschreitet. Eine professionelle Verbandsorganisation scheint mir extrem wichtig, aber zweitrangig. Wichtiger sind clevere Hirngespinste, zirkulierende Ideen und neugierige Querdenkerei in einem respektvollen und freundschaftlichen Kontext. Dass die DGSF ein solcher Kontext sei – daran lassen Sie uns gemeinsam arbeiten.

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Literatur Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schweitzer, J. (2005). Organisationen systemisch in Schwung bringen – einige handlungsorientierte kreative Methoden. Kontext, 36 (4), 324–340. Simon, F. B. (2007). Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg: Carl Auer. Willke, H. (1993). Systemtheorie (4. Aufl.). Stuttgart: Gustav Fischer. Willke, H. (1995). Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Stuttgart: Gustav Fischer. Willke, H. (2006). Einführung in das systemische Wissensmanagement. Heidelberg: Carl Auer.

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Die Autorinnen und Autoren

Jörg Baur, Dr. phil., Diplom-Psychologe, Diplom-Sozialpädagoge, Psychologischer Psychotherapeut, Familientherapeut, Traumatherapeut, (Lehr-)Supervisor und Lehrtherapeut, ist Professor für Klinische Psychologie und Supervision an der Katholischen Hochschule NordrheinWestfalen, Abt. Aachen. Reinert Hanswille, Diplom-Pädagoge, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Traumatherapeut, Paar- und Familientherapeut sowie Lehrtherapeut und Lehrsupervisor, ist Institutsleiter des ifs (Institut für Familientherapie, systemische Supervision und Organisationsentwicklung) in Essen. Alexander Korittko, Diplom-Sozialarbeiter, ist Paar- und Familientherapeut in einer kommunalen Beratungsstelle sowie systemischer Lehrtherapeut und Weiterbildungsreferent beim Institut für Systemische Praxis Hamburg und beim Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen. Hans Markowitsch, Diplom-Psychologe, Dr. rer. nat., ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Frank Natho, Religionspädagoge, evangelischer Theologe, Familienund Lehrtherapeut, systemischer Supervisor und Lehrsupervisor, Diplom-TZI-Trainer, Gründer und Leiter des Instituts für Fortbildung, Supervision und Familientherapie (FST) Halberstadt, ist seit 1996 in eigener familientherapeutischer Praxis tätig. Martina Piefke, PD Dr., ist Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Kognitive Neurowissenschaften an der Universität Bielefeld. Wilhelm Rotthaus, Dr. med., ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bergheim bei Köln und war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF).

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Autorinnen und Autoren

Günter Schiepek, Dr. phil., ist Professor an der der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg, Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung, sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gastprofessor an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und an der Donau-Universität Krems. Geschäftsführer des Center for Complex Systems (Stuttgart/Salzburg) und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Academia Europaea). Jochen Schweitzer, Prof. Dr. rer. soc., Diplom-Psychologe, leitet die Sektion Medizinische Organisationspsychologie im Zentrum Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Helm Stierlin Institut. Rainer Schwing, Diplom-Psychologe, approbierter Psychotherapeut, ist systemischer Lehrtherapeut, Supervisor und Geschäftsführer von »praxis – institut für systemische beratung« in Hanau sowie freiberuflich als Psychotherapeut, Supervisor, Organisationsberater und Coach tätig.

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Systemische Theorie und Praxis Eine Auswahl aus unserem Programm, mehr finden Sie unter www.v-r.de

Freda Eidmann Trauma im Kontext Integrative Aufstellungsarbeit in der Traumatherapie Mit einem Vorwort von Ulrich Sachsse. 2009. 329 Seiten mit 8 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-40153-8

Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemisches Handwerk Werkzeug für die Praxis 3. Auflage 2009. 352 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45372-8

Jürgen Hargens Aller Anfang ist ein Anfang Gestaltungsmöglichkeiten hilfreicher systemischer Gespräche Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe 3. Auflage 2008. 160 Seiten mit 2 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46195-2

Helga Brüggemann / Kristina Ehret-Ivankovic / Christopher Klütmann Systemische Beratung in fünf Gängen Buch und Karten 2. Auflage 2007. 150 Seiten mit 25 Karten und 16 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49098-3

Jan Bleckwedel Systemische Therapie in Aktion Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren 2008. 314 Seiten mit 25 Abb. und 26 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49137-9

Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung Mit einem Vorwort von Helm Stierlin 10. Auflage 2007. 333 Seiten mit 20 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45659-0

Jochen Schweitzer / Arist von Schlippe Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II Das störungsspezifische Wissen 2. Auflage 2007. 452 Seiten mit 13 Abb. und 29 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46256-0

Wolf Ritscher Soziale Arbeit: systemisch Ein Konzept und seine Anwendung Unter Mitarbeit von Jürgen Armbruster, Elsbeth Lay und Gabriele Rein 2007. 180 Seiten mit 22 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49101-0

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Geistes- und Neurowissenschaften Gerald Hüther Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn

Gerhard Roth / Klaus-Jürgen Grün (Hg.) Das Gehirn und seine Freiheit

8. Auflage 2009. 139 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01464-6

Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie

Gerald Hüther übersetzt die neuesten, faszinierenden Erkenntnisse der Neurobiologie in eine verständliche Sprache und zeigt dem Leser auf, wie er konkret für sein eigenes Leben daraus profitieren kann.

3. Auflage 2009. 168 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49085-3

Gerald Hüther Die Macht der inneren Bilder Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern 4. Auflage 2008. 137 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-46213-3 Eingängig und mit gewohnter Leichtigkeit seiner Sprache eröffnet uns Gerald Hüther eine faszinierende Welt: die der inneren Bilder und ihrer Kraft in unserem Leben.

Norbert Matejek / Thomas Müller (Hg.) Neurobiologie der Psychosen Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 19. 2008. 107 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45120-5 Die pharmakologische und neurobiologische Forschung propagieren bahnbrechende Erfolge für die Behandlung psychisch erkrankter Patienten. Was bedeutet das für die psychoanalytische Psychosentherapie?

»Es handelt sich um ein lesenswertes Buch, das auf wenigen Seiten Aktuelles mit viel Sachverstand zu einem spannenden und brisanten Thema darstellt.« Nenad Vasic, Nervenheilkunde

Klaus-Jürgen Grün / Michel Friedman / Gerhard Roth (Hg.) Entmoralisierung des Rechts Maßstäbe der Hirnforschung für das Strafrecht 2008. 192 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49131-7 Wie kann das Strafrecht ohne das Konzept der Willensfreiheit funktionieren?

Stephan Schleim / Tade Matthias Spranger / Henrik Walter (Hg.) Von der Neuroethik zum Neurorecht? 2009. Ca. 265 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40414-0 Werden Erkenntnisse der Neurowissenschaften unser Menschenbild und Rechtssystem erschüttern?

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