Lächelnde Elefanten: Systemische und Integrative Bewegungslehre. Theorie und Praxis 978-3200024052, 3200024054

In diesem Buch lernen Sie die Wurzeln und die Entstehungsgeschichte der SIB und die Menschen die dazu beigetragen haben,

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Lächelnde Elefanten: Systemische und Integrative Bewegungslehre. Theorie und Praxis
 978-3200024052,  3200024054

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LÄCHELNDE ELEFANTEN SYSTEMISCHE UND INTEGRATIVE BEWEGUNGSLEHRE® THEORIE UND PRAXIS

Nurit Sommer | Gertraud Pantucek \ Elisabeth Mayr

IMPRESSUM

A lle im Buch gezeigten Bewegungs- und Berührungssequenzen dienen ausschließlich der Illustration. Sie sind keinesfalls dazu geeignet, sie ohne entsprechende Vorkenntnisse und Sch ulun g auszuprobieren und anzuwenden. Die Autorinnen übernehmen dam it in Zusam m enhang keinerlei Haftung.

Diese Publikation wurde dankenswerter Weise durch die U nterstützung der niederösterreichischen Betriebe „Beste G esundheit“ , Frohnleitner Therapiezentrum und K linikum Theresienhof und P R IV A T P E R S O N E N erm öglicht. A lle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, sind den Herausgeberinnen Vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, M ikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne sch riftlich e Genehm igung der Herausgeberinnen reproduziert oder unter Verwendung elektronischer System e gespeichert, verarbeitet, vervie lfältigt oder verbreitet werden.

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SYSTEM ISCHE UND INTEGRATIVE BEW EGUNGSLEHRE® ww w .isib.org

COPYRIGHT 2011 HERAUSGEBERINNEN GRAFISCHE GESTALTUNG FOTOS LEKTIONEN NATURFOTOS FOTOS ALON TALMI FOTO ELEFANTENSCHÄDEL VERLAG DRUCK ISBN

Herausgeberinnen und Autorinnen N urit Sommer, Gertraud Pantucek, Elisabeth Mayr baba grafik & design Peter und Bärbl Weissensteiner sim onsom m er@ m e.com und Christoph.stobl@ querschuss.at Dieter M ittelsten-Scheid Sabine Kaiser Eigenverlag Holzhausen Druck G m bH, Printed in Austria, 1. Auflage 2011 9 7 8 -3 -2 0 0 -0 2 4 0 5 -2

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INHALT

Vorwort Vorwort Einladung

1. 1.1 1.2 1.3

2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.3

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von Guni Baxa von Siegfried Essen der Herausgeberinnen

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Theorie und Bedeutung der S 1 B - Nurit Sommer

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Was ist die S 1 B? Der Körper und die Psyche in der S 1 B Die Ausbildung zur S 1 B-Pädagogin

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Geschichte und Entstehung der S 1 B - Nurit Sommer

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Ursprung der S 1 B Alon Talmi - Leben und Wirken Alons Werdegang Alon und Moshe Feldenkrais - Weggefährten und Konkurrenten Alons Lektionen und die Prinzipien der S 1 B Zusammenfassung von Alons Arbeit Nurit Sommer begegnet Alon Talmi

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Gründung der S 1 B

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Rückblick von Nurit Sommer Auslösende Impulse Weiterentwicklung der S 1 B: Vom Systematischen zum Systemischen Rückblick von Gudrun Schreiner Impulse/Auslöser für Mitwirkung und Gründung von S 1 B Systemische Interventionen Lösungsfokussierte Gesprächsführung Aufstellungsarbeit Zusammenschau: Verbindung Körperarbeit und Aufstellungsarbeit

57 57 62 67 67 71 71

10 13

75 78

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4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

5. 5.1 5.2

6.

Berichte aus der S 1 B-Praxis

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SI B im Dialog mit dem Atem, der Stille und dem Körpergedächtnis - Nurit Sommer S 1B im Dialog mit Spiraldynamik - Elisabeth Mayr S 1B im Dialog mit traumatisierten Klientinnen - Gudrun Schreiner Der Psyche-Soma-Dialog: Den Körper zu mir nehmen - Judith Kovacs S 1B im Dialog mit einer Klientin und ihren „Wurzeln“ - Edith Schmölz S 1B und Geburt - Edith Schmölz Schritt für Schritt zu S 1 B - Sabine Kaiser

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Von S 1 B inspirierte Zugänge

192

S 1 B im Dialog mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen - Leni Hießmanseder S 1 B im Dialog mit ganzheitlichem Tanz - Sabine Parzer

192

Übung für den Alltag

204

198

„Begegnung mit dem lächelnden Elefanten“ - Nurit Sommer

7.

Nachworte der Herausgeberinnen

209

Nurit Sommer - Gertraud Pantucek - Elisabeth Mayr

Anhang

Literaturliste Alon Talmi kommt zu Wort - Zitate seiner Artikel Herausgeberinnen Autorinnen Dank

214 220 242 244 246

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VORWORT

Vorwort von Guni Baxa Unser Körper, die Seele, der Geist: Was sind sie uns? Haben und besitzen wir den Körper wie ein Ding? Setzt sich unser Körper - ohne Inneres - aus einer Summe von Teilen zusammen, wie bei einer Maschine? Existieren Seele und Geist unabhängig und getrennt vom Körper, wie Descartes meinte? Wir Menschen verfügen über die fundamentale Möglichkeit, uns von uns selbst zu distanzieren. Das bedeutet, wir können unseren Körper wie von außen, wie ein Objekt betrachten. Der Körper zählt dann zum anderen. Er ist gleichsam zu einem Teil der Umwelt geworden. Besonders in der Moderne haben wir gelernt, den Körper wie ein Ding wahrzunehmen. Wir verfügen über ihn als ein Instrument für Arbeit, Lust oder andere Zwecke. Der „Body“ soll funktionieren; wir wollen ihn schöner und besser haben, wir trainieren, bestrahlen, stylen ihn u. v. m. Doch ist der Körper neben seiner Objekthaftigkeit nicht gleichzeitig und vor allem das lebende Ganze, das wir sind? Die Stätte unserer Bewegungen, Empfindungen, Gefühle und Gedanken? Das, was wir unmittelbar erfahrend wahrnehmen? Das, was wir im Deutschen mit „Leib“ umschreiben? Der Leib als der Ort der Begegnung von Seele und Körper, der beseelte Körper? „Die Seele gleicht dem Wind und der Körper dem Sand" schreibt Bonnie Bainbridge-Cohen, eine der sehr schöpferischen Körpertherapeutinnen der Gegenwart. „Wollen wir wissen, wie der Wind weht, brauchen wir nur auf den Sand zu schauen. “ Während der vergangenen 40 bis 50 Jahrzehnte gehört zu den wohl wichtigsten Entwicklungen im Bereich von Gesundheit und ganzheitlicher Heilung die Wiederaneignung des Leibes. Des Körpers als des Ortes, der „unsere Verankerung in der Welt darstellt" (Merleau-Ponty). Die SYSTEMISCHE UND INTEGRATIVE BEWEGUNGSLEHRE (S I B) schließt sich dieser Wiederaneignung auf innovative und wirksame Weise an. Lächelnde Elefanten - der lächelnde Körper: „In dem Lächeln liegt Wissen“ , schreiben die Herausgeberinnen. Ein Lächeln, in dem das „Glück des Lebendigseins liegt, das Glück unseres grundlegenden Eingebundenseins, unserer schöpferischen Freiheit und Lebenskraft“ . Es ist ein Wissen, das nicht auf Konzepten und Strategien beruht. Nurit und ich gestalten seit Jahren Seminare, die um das Zusammenspiel von S I B und Aufstel­ lungsarbeit kreisen. Dabei berührt uns immer wieder neu die Beobachtung, dass über das unmittelba­ re Mithineingenommensein in einen S I B-Prozess oder in eine Aufstellung Einsichten aufscheinen, die wir zuvor niemals hätten sagen können. Wir fühlen uns hineingenommen in eine Dynamik, die uns zu der Erfahrung führt, dass Nicht-Wissen eine andere Art des Wissens möglich macht. Dass es weniger darum geht, Menschen etwas beizubringen, als vielmehr darum, ein Feld zu schaffen, das

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öffnet und lehrt. Dass es darum geht, gemeinsam in das Feld einzutauchen, in dem Weisheit sich selbst sucht. S I B wird von deren Gründerinnen, Nurit Sommer und Gudrun Schreiner, seit vielen Jahren praktiziert und gelehrt. Ein Bild, das wohl den Beginn dieser Entwicklungsreise zu einem selbstständigen Verfahren beschreibt, ist mir deutlich vor Augen. Nach Nurits 2. oder 3. Ausbildungs­ seminar mit Alon Talmi saßen wir an einem warmen Sommertag zusammen und plauderten. Doch dann blickte Nurit eine Weile wie gedankenverloren auf ihre Hände, berührte sie behutsam und sagte (in etwa): „Das ist es, was ich ab jetzt machen werde. Mit den Händen kommunizieren. Mit den Händen berüh­ ren, zuhören, lauschen auf die Intelligenz, die jedem Körper innewohnt. Diesen empfindenden, füh­ lenden, wissenden Körper ermutigen, sein eigenes Heilpotenzial zu aktivieren. “ Diesem Ruf folgte ein jahrzehntelanger Weg mit Schritten des Lernens und Schritten des Übergangs zum Lehren. Mit Gudrun und Nurit verbindet mich eine langjährige Freundschaft. So durfte ich manchmal näher, manchmal etwas ferner viele der Entwicklungsschritte und Ausweitungen der Anfänge zu einem so differenzierten und ganzheitlichen Verfahren miterleben. Unsere bereichernde und anregende Freundschaft und Zusammenarbeit trägt Früchte in Form neuer Einsichten und Vorgehensweisen. Oder auch in Form eines mit weiteren Kolleginnen organisierten Kongresses. Für S I B zeigte sich bald, wie fruchtbar sie in verschiedenen Bereichen angewandt werden kann. Neben ihrer Eigenständigkeit als Methode kann S I B besonders gut in Körper-Geist-Disziplinen miteingebracht werden. Das sind beispielsweise Sport, Tanz und unterschiedliche Körperarbeitsansätze, Yoga, Pädagogik, physikalische Medizin und Psychotherapie, Gesang, Musik und bildende Kunst, Beschäftigungs- Bewegungs- und Sprachtherapien u. a. m. Viele Wegstrecken in Entwicklung und Ausdifferenzierung von S I B sind gemeistert. Doch wir halten immer wieder Ausschau nach weiteren, größeren Zusammenhängen und erkennen immer wieder, wie neue und auch scheinbar gegensätzliche Erfahrungen einander modulieren. So vermute ich, dass die Veröffentlichung des Buches einen wesentlichen Meilenstein für S I B darstellt, doch die Reise selbst sicherlich nicht ganz abgeschlossen ist. Es freut mich, die „Lächelnden Elefanten“, über die S I B nun einem breiteren Kreis an Interessier­ ten zugänglich wird, mit diesem kleinen Vorwort begrüßen zu dürfen. Das Buch erscheint mir als ein Wegweiser für alle, die mit S I B vertraut sind und/oder damit arbeiten wollen. Es gewährt jedoch auch denjenigen einen guten und detaillierten Überblick, die diesen Ansatz kennenlernen wollen. Ich wünsche den „Lächelnden Elefanten“ ein gutes Eintreten in die Welt. Möge deren Heilkraft seine Wirkung entfalten und vielen Menschen zur Verfügung stehen.

Dr. Guni Baxa ist Psychotherapeutin, Supervisorin und Lehrtherapeutin für Systemische Familientherapie im ÖAGG; sie unterrichtet weltweit; www.apsys.org.

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VORWORT

Vorwort von Siegfried Essen Es ist, als drehe sich unser Leben und unser Denken um die Verknüpfung und Unterscheidung von zwei Wahrheiten: dass wir einen Körper haben, und dass wir Körper sind. Wie ein roter Faden zieht sich dies durch alle praxisorientierten religiösen und philosophischen Erkenntnistheorien, es gibt kein Bewusstsein außerhalb oder über dem Körper. Bewusstsein entwickelt sich nur in Materie und Materie braucht Bewusstsein. Die Menschheit hat von Anfang an die Aufgabe übernommen, Bewusstheit in die Materie zu bringen. Die Spitze dieser Entwicklung bilden einerseits die bewusstseinsorientierte Körperarbeit und anderer­ seits die systemische (und spirituelle) Verkörperungsarbeit.1 S I B. verbindet beides miteinander. Wer es erlebt hat, weiß, was ich meine! Diese Arbeit - vielleicht sollte man besser Spiel, Begegnung oder Tanz dazu sagen - bringt die Materie zum Blühen. Und sie dankt uns dafür durch Aufrichtung, Gesundheit und Energie. Lebensfreude entsteht nicht durch Genuss, sondern durch bewusstes Sein. Und alles wird zu Aktivität. Es ist nie zu spät, den eigenen Körper, das eigene Leben, das eigene Schicksal zu wählen. Mir geht es in einer Sitzung S I B wie in einer Aufstellungsarbeit ganz ähnlich: Ich bin überrascht von der Resonanzfähigkeit und dem inneren Wissen meines Körpers und genau diese Überraschung ist der göttliche Funke, der mich begeistert. Darin geschieht fortdauernde Schöpfung, die Erweiterung des universalen Bewusstseins geschieht in mir, wenn ich anderen Menschen im Gewahrsein körper­ lich begegne. Aus Bewegung und Unterscheidung entstehen Raum, Empfindung, Wahrnehmung und Bewusstsein. Damit ist die Funktion des Körpers und der Materie überhaupt im Schöpfungsprozess umschrieben. Ein Buch wie LÄCHELNDE ELEFANTEN kann diese Praxis des Körperseins - „den Weg der Achtsamkeit, der gegenwärtigen Wahrnehmung und der liebevollen Hinwendung“ (s. S. 14) - . zwar nicht ersetzen, aber auf sie hinweisen, sie unterstützen, sie in Erinnerung bringen und damit solch wertvolle Erfahrungen in gewisser Weise wiederholbar machen.

1: Vgl. Essen, S. (2011): Selbstliebe als Lebenskunst. Ein systemisch-spiritueller Übungsweg. Heidelberg, Auer. Siegfried Essen ist Psychotherapeut und Lehrtherapeut für Systemsiche Familientherapie m it Schwerpunkt spirituell- systemischer Aufstellungsarbeit; www. siegfriedessen, com

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EINLADUNG

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Einladung der Herausgeberinnen Sie haben unser Buch ausgewählt, halten es jetzt in Händen und spüren es. Über die tief in der Haut liegenden Rezeptoren können Sie den Umschlag wahrnehmen, das Gewicht und die Lage des Buches im Raum. Das Muster der Hautfalten Ihrer Hände ist einzigartig: Ihnen angeboren - es macht Sie unverwechselbar. Ihre Hände benötigen ein Drittel Ihrer Hirnmasse, die für Bewegungssteuerung aller Teile Ihres Körpers zur Verfügung steht. Ca. 40 verschiedene Muskeln, 22 davon im Unterarm ange­ legt, könnten jetzt aktiv sein. In den Händen sind insgesamt 54 Knochen - so feine wie gleichzeitig kräftige Strukturen. Das Bild links zeigt eine andere knöcherne Struktur aus dem Inneren eines Elefantenschädels, der uns auf geheimnisvolle Weise gezeigt wurde, kurz nachdem die unten folgen­ de Geschichte fertig erzählt war. In diesem Buch geht es um unerwartete Zusammenhänge, um Lebendigsein, Empfindungsfähigkeit und Beziehungsgestaltung. Es stellt eine Methode vor, die das Zusammenspiel von Berühren, Spüren und Verstehen, vom Raum zwischen „Haut und Knochen“ , von Muskeln und Nerven, von Bindege­ webe und Zellmembranen beinhaltet. Es ist ein vielschichtiges Geschehen, auf das die Methode der SYSTEMSICHEN UND INTEGRATIVEN BEWEGUNGSLEHRE® S I B verweist: Die Verbindung und Gestaltung der Beziehungen von Körper, Seele, Geist, der Welt und den Systemen, in denen wir uns befinden. S I B ist eine bewegungspädagogische Methode mit therapeutischer Wirkung. Sie ist eine alternative und vielschichtige Gesundheitsvorsorge, die vergessene Körperintelligenz nutzt, Regeneration durch Selbstwirksamkeit anregt, heilsame Lernvorgänge ermöglicht und Bewusstsein für sich und die Welt schafft und erneuert. S I B geht davon aus, dass Menschen über das Bewusstwerden von Bewegung und mit Hilfe „intelligenter, achtsamer Berührung“ die Qualität ihres Lebens auch in Schmerzzu­ ständen wesentlich verändern und verbessern können. Erkenntnisse über eigene Potenziale, Glück, Kreativität und Selbstwertschätzung sind dabei unausweichliche Begleiter. Bei der Arbeit mit Menschen beginnt jeweils eine Reise, die zu unbekannten Welten führt. S I B ist solch eine Reise zu Menschen und ihren „Verkörperungen“1. Der Körper und Arten von „Verkörperun­ gen“ stehen im Fokus von S I B. Wie vor jeder Reise bedarf es einer guten Vorbereitung und eines Einlassens auf Neues und zunächst Fremdes. Dabei ist es sinnvoll, dem zu begegnen, was zugrunde liegende Übereinkünfte und Bilder für Denken und Handeln sind. Als Hinführung zum Verständnis von S I B laden wir Sie, geschätzte Leserin und geschätzter Leser, zu einer Reise nach Indien ein. Bei dieser Reise und der folgenden Geschichte bewegen wir uns symbolhaft zu dem S I B zugrunde liegenden Menschenbild.

1: S. dazu: N urit Sommer (2004): Komm wie Wasser, geh wie Wasser, in: Baxa, G., Essen, Ch., Kreszmeier, A .: Verkörperungen. Wiesloch 2004, Carl Auer Verlag

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DER LÄCHELNDE ELEFANT

DER LÄCHELNDE ELEFANT: KÖRPER UND BEW USSTSEIN - Nurit Sommer Der indische Holzschnitzer Ramesch Anapalli Gobinath, genannt der Biswas, vollzieht in seiner nach Hölzern, Spänen und Farben duftenden Werkstatt ein Reinigungsritual: Speisen, einige Blüten, eine kupferne Kanne mit Wasser, bedächtig gesprochene Gebete. Er benötigt Holz für eine neue Skulptur. Am Ende hält er seine von der Arbeit starken und doch so empfindsamen Hände über ein kleines, rauchendes Feuer und führt sie bedächtig und achtsam über die Flammen. Dem Feuer sind verschie­ dene Kräuter des Waldes beigefügt. Er bittet den Geist des Baumes, ihm sein Holz zu schenken, und um Segen für die bevorstehende Arbeit. Dann steht er auf, schürzt seinen Doti - das gebundene Tuch - , nimmt sein speziell für das Fällen von Bäumen geschliffenes Haumesser und bricht auf, um im Wald den Baum wiederzufinden, den er schon Tage davor ausgesucht hat. Der Waldboden ist weich und die ersten Sonnenstrahlen fallen durch das dichte Geäst. Der Schnitzer erfreut sich an der Vielfalt der Bäume - jeder hat seine eigene Schönheit, trägt auf seine Weise zur Atmosphäre des Waldes bei. Gekrümmt oder gerade, stark oder klein und zögerlich wachsen die Bäume und bieten anderen Lebewesen Platz, Nahrung und Schutz. Biswas sucht eine Stelle in einem von einem kleinen Bach durchflossenen Tai. Dort stehen einige Bäume, deren Holz besonders geeignet ist. Auf seinem Weg fliegen Vögel auf und etwas weiter entfernt hört er das Trompeten eines Elefanten. Er könnte zur Herde gehören, die hier immer wieder vorbeizieht, um im weiter entfernten Wasserloch zu baden. Nach einer Weile nähert sich Biswas der Stelle mit den besonderen Bäumen. Er geht, mit den Händen die Rinde befühlend, von einem zum anderen - sehr aufmerksam, vielleicht ein wenig ange­ spannt. Schließlich steht er vor dem beeindruckend gewachsenen Baum, berührt ihn mit beiden Händen. Er weiß genau, dass dieser und kein anderer für seine Skulptur geeignet ist. In einer gewissen Weise ist dieser Baum auch zu Biswas gekommen. So bittet er schließlich den Geist des Baumes um Entschuldigung für die Störung und darum, an einen anderen Ort „zu übersie­ deln“ . Dafür bringt er den Wesen des Baumes kleine Gaben, um sich zu bedanken, dass er das Holz dieses erhabenen Baumes für seine Arbeit verwenden darf. Nach einer Weile zückt er das Haumesser und beginnt mit der Arbeit des Fällens. Schließlich nimmt der Schnitzer ein entsprechend großes Stück Holz mit in seine Werkstatt. Dafür hat er eigens starke Seile und ein Brett mitgebracht, mit deren Hilfe der Transport gelingen kann.

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Bei seiner Werkstatt angelangt, beginnt er nach einer kurzen Stärkung schließlich mit seiner Arbeit. Er verwendet Schnitzmesser, die schon sein Vater und sein Großvater hergestellt und immer wieder verbessert haben. Schon als Kind konnte er sehen, wie dies geschah. Bedächtig setzt er seine Arbeit fort, immer wieder sehend, spürend, was und wie das Holz selbst ihm den Weg weist. Manche Maserung benötigt eine bestimmte Messerführung, manche Teile des Holzes erfordern beson­ dere Achtsamkeit. Es beginnt ein behutsamer und dichter Dialog zwischen dem Schnitzer und dem vor ihm liegenden Holz, das eine eigene Lebendigkeit, eine innere Bewegung, ganz individuelle Strukturen mitbringt. An manchen Stellen tritt die Geschichte des Baumes und seines Wachstums besonders zu Tage. Dabei ist es nötig, dass der Schnitzer auf die Möglichkeiten dieses Holzes achtet, seine Grenzen respektiert und die eigenen schöpferischen Ideen auslotet. Manchmal betrachtet er ganz versunken, was unter seinen Händen entsteht, manchmal huscht ein geheimnisvolles Lächeln über sein Gesicht. Vorbei kommende Besucherinnen fragen ihn: „Was schnitzt du denn da? Ich sehe einen Rüssel!“ „Ja“ , antwortet Biswas, „es wird ein Elefant!“ Nach mehreren Tagen hat der Elefant seine Gestalt angenommen. Wunderschön sind die einzelnen Körperteile modelliert und glänzend poliert. Er wird eingeölt und steht dazu in der Sonne vor der Werkstatt. Der geschnitzte Elefant strahlt ein sanftes Lächeln aus und jede/r der Vorbeikommenden beginnt zu lächeln und lobt die Arbeit des Schnitzers. „Wie hast du das gemacht?“ , fragt die Enkelin den Biswas. Er antwortet: „Der Elefant kam zu mir!“ Jede/r betrachtet den Elefanten, wird erfüllt mit diesem eigenen Lächeln und niemand denkt mehr an das Holz, den Baum oder an den Wald. All dies lebt jetzt im und durch den Elefanten. Diese Geschichte ist ein Symbol für das Glück unseres Lebendigseins, unser grundlegendes Eingebundensein und die schöpferische Freiheit und Lebenskraft, die in uns wohnt - auch wenn wir unsere Ursprünge oft vergessen haben. Jede/r „geschnitzte Elefantin“ ist verschieden; jede/n kennen­ zulernen oder zum Lächeln zu bringen ist ein Prozess der Beziehungsgestaltung! Es beinhaltet einen gegenseitigen, intensiven Lernprozess!

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DER LÄCHELNDE ELEFANT

Elefanten sind in vielen Kulturen Symbole für Glück: wegen ihrer Langlebigkeit, ihres „Elefanten­ gedächtnisses“, ihrer Weisheit und spielerischen Neugierde, ihrer Gelassenheit, ihrer Gutmütigkeit und ihrer körperlichen Kraft. Elefanten haben ein erstaunliches Gedächtnis - sie erinnern sich über viele Generationen hinweg an uralte Wasserquellen und die dorthin führenden Wege. Sie erinnern sich auch an Menschen, die sie verletzt oder aus ihren ursprünglichen Territorien vertrie­ ben haben. Ihre Empfindsamkeit sieht man ihnen nicht gleich an, die Feinheit ihres Gedächtnisses auch nicht. Wissen Sie, dass Elefanten an steilen Berghängen auf Zehenspitzen gehen können? Sie können sich auch völlig geräuschlos fortbewegen und dabei nicht die kleinste Spur hinterlassen. Mit seinem Rüssel kann ein Elefant sogar einen Dorn aus seinem Körper ziehen. Und: Haben sie schon einmal beobachtet, wie eine Elefantenkuh mit ihren riesigen Vorderbeinen behutsam sein kann, wenn sie ihr Neugeborenes nach der Geburt reinigt? Haben Sie die großen Tränen gesehen, die Elefantenmütter in freier Wildbahn weinen, wenn ein Junges gestorben ist?

Sie bemerken beim Lesen: Elefanten haben viele Eigenschaften, die wir Menschen gut kennen. Mit dieser Geschichte zu Beginn dieses Buches wollen wir eine Brücke bauen von unseren lebendi­ gen Ursprüngen voller ungeahnter Möglichkeiten zu einem Weg der Achtsamkeit, der gegenwärtigen Wahrnehmung und der liebevollen Hinwendung. Einen Weg zu bewusster, einfühlsamer Berührung und Bewegung unseres „lächelnden Elefanten“ , unseres Körpers. Ihn begreifen wir oftmals als „unser Schicksal", als unsere Gewohnheiten und unsere lieb gewonnenen, unbeweglich machenden Ein­ schränkungen, die sich manchmal als chronischer Schmerz und Krankheit manifestieren. Im Lächeln der Elefanten liegt Wissen. Es trägt die Erinnerung an unsere Ursprünge und an das Vergnügen, lebendig zu sein, an das Spiel des Lebens und die Freude darüber, dass wir die Möglich­ keit haben, in unserem Leben das UNS ADÄQUATE zu finden; das, was wir im Leben tatsächlich tun WOLLEN.

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„Lächelnde Elefanten“ verweisen als empfindsame und doch so starke und arbeitsame Wesen auf Potenziale in uns, auf Möglichkeiten von Ausdruck und Zusammengehörigkeit. Das Lächeln baut Brücken dorthin und es ist unerlässlich für alle Vorgänge des Lernens! All das ist in unserem Körper und seinem Nervensystem fühlbar, erinnerbar, es lebt darin. Gibt es eine Möglichkeit, diese Quelle für heilsame Lebensvorgänge zu nutzen? Dieses Buch über die Systemische und Integrative Bewegungslehre® S I B erzählt über die Vielfalt des menschlichen Körpers in Verbindung mit unserem Fühlen, Bewegen, Denken und Handeln. Es berichtet über seine Lern- und Empfindungsfähigkeit, seine Gesundheitserhaltung und -förderung, seine Selbstheilungsmöglichkeiten durch Bewusstheit und Selbstwahrnehmung und seine große Kreativität dabei. Es berichtet über die Wichtigkeit, den Körper und sein Wissen in die Gestaltung unserer Beziehungen, der Beziehung zu uns selbst und zu anderen Menschen, auf vielleicht ganz neue Weise, mit einzubeziehen. Mit diesem Buch lernen Sie die Wurzeln und die Entstehungsgeschichte von S I B kennen und erfah­ ren persönliche Hintergründe jener Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten viel zur Entstehung von S I B beigetragen haben. Das sind: Alon Talmi in Verbindung mit seiner langjährigen Zusam­ menarbeit mit Moshe Feldenkrais, Nurit Sommer und Gudrun Schreiner. Es berichtet über viele verschiedene Facetten dieser Arbeit mit den Erfahrungsberichten der S I BPädagoglnnen. Damit führen wir zu den vielen Möglichkeiten, S I B einzusetzen. Das Buch beinhaltet auch Anregungen, Ihren ganz persönlichen „Elefanten“ zum Lächeln zu bringen.

Viel Freude beim Lesen!

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

1. Theorie und Bedeutung der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre® - S I B - Nurit Sommer 1. 1 Was ist die SYSTEM ISCH E UND INTEGRATIVE BEWEGUNGLEHRE® - S I B? S I B ist ein Weg des „heilsamen Lernens", ein „SOMATO-PSYCHISCHER DIALOG“ , der mit Körper und Seele gleichermaßen geschieht. Vorwiegend sind es führende Hände, die durch ganz spezielle, präzise Berührung und Bewegung den Körper und vor allem das Nervensystem eines Menschen ansprechen. Damit geschieht tief greifendes Umlernen und Bewusstwerden der ganzen Person. S I B hat sich auf die Lösung von vorwiegend aus dem Bewegungsapparat kommenden Einschrän­ kungen spezialisiert. Nicht jede Bewegungseinschränkung oder „Störung“ hat allerdings ihre Ursache tatsächlich auf körperlicher Ebene, sondern oft liegen ihr einschränkende Lebensumstände oder bspw. Familiendynamiken, und -muster, Glaubenssätze etc. zugrunde. Umgekehrt haben oft psychische Belastungszustände ihre Ursache in körperlichen Dynamiken. S I B versucht dieser Tatsache gerecht zu werden, indem derartigen Wechselwirkungen auf zweifache Weise begegnet wird: einerseits durch „die genau führende Sprache der Hände“ , den „nonverbalen Dialog“ über Berührung und Bewegung; anderseits durch verbal genaue und achtsame, ressourcenorientierte, systemische Sprache und Interventionen. S I B ist eine spezialisierte Bewegungs- und Berührungslehre am Menschen, die mit systemischen Grundannahmen1 arbeitet. Ziel ist es, die Körperwahrnehmung zu stärken und mit Hilfe von verbes­ serter Körperbewusstheit Einschränkungen und Verletzungen des Körpers und der Seele zu lösen. S I B besteht aus einer Kombination von Bewegungs- und Berührungslektionen der Funktionalen Integration®2, in spezieller Weise von Univ.-Prof. Alon Talmi entwickelt, die Nurit Sommer und Gudrun Schreiner mit lösungsorientierten systemischen, verbalen Interventionen anwenden und unterrichten. Verstärkt wird die Wirkung durch verbal angeleitete Körperbewusstseins-Lektionen und energiereiche Bewegungsweisen der Kampfkunst des „Weißen Kranichs - Silat“ .

1: Systemische Grundannahmen sind bspw. Ressourcenorientierung, Vernetzung, kontextbezogene Wirksamkeit, Wechselwirkungen zw i­ schen Denk- und Bewegungsmustern. Genaueres siehe Kapitel 3. 2: Funktionale Integration® ist ein Begriff von Moshe Feldenkrais für die Einzelarbeit der nach ihm benannten Methode.

Bedeutung kommt S I B in der Gesundheitsprävention gleichermaßen zu wie in der Rehabilitation und vor allem im ganzheitlichen, körperorientierten Lernen und in allen damit verbundenen Heilungsprozessen. S I B geht von einem dynamischen Menschenbild, von stetem Wandel und dem großen Lernpotential und der Veränderungsfähigkeit des Menschen aus. Es wird über die Verfeinerung der Bewegungs- und Empfindungsqualitäten der behandelten Person eine Veränderung der Beweglichkeit, des Handelns und Denkens ermöglicht. Individuelle Ressourcen können so bestmöglich genutzt werden. Dabei wird mit Prinzipien gearbeitet, die der Körper und die Seele selbst vorgeben und lehren. Bei diesem ganzheitlichen Weg wird der Mensch als spürender, fühlender und empfindender Raum gesehen. Durch S I B werden das Wissen um Regeneration und das Körper-Gedächtnis aktiviert. Viele dieser Prinzipien wurden von Moshe Feldenkrais1 entwickelt und sind in zahlreichen Büchern von ihm genau erklärt. S I B hat einen den heutigen Bedürfnissen von Menschen, die Verbessernngs- und Heilungsprozesse suchen, angemessenen Weg entwickelt und nutzt einige dieser Grundlagen. S I B wird in Einzelarbeit angewendet und findet großteils auf einer Liege in verschiedenen Positio­ nen statt. Aber auch Stühle, verschieden große Rollen und Bälle werden für unterschiedlichste Körperpositionen, Berührungs-, Bewegungsweisen verwendet. Anwendungsbereiche für S I B sind: alle Einschränkungen des Bewegungsapparates, Wirbelsäulen­ syndrome, Haltungsschäden, Atemprobleme, Migräne, Muskelverspannungen, stressbedingte Symp­ tome, psychische und physische Belastungszustände, Geburtsvorbereitung, Rehabilitation nach Unfällen, Verbesserung des künstlerischen Ausdrucks u. a. S I B wird in dreijährigen berufsbegleitenden Fortbildungen vom Institut für Systemische und Integrative Bewegungslehre (www.isib.org) auch unterrichtet.

LERNEN UND VERBESSERUNGEN AN BIETEN Erstarrte Körperhaltungen und erstarrtes Denken und Fühlen zeigen Ausschnitte aus der Geschichte eines Menschen. Das meiste, was wir im Laufe unseres Lebens erfahren, ist in frühen Beziehungen, Familienmustern und Reaktionen ERLERNT. Es erzählt über An- oder Überforderungen oder über traumatische Ereignisse, denen ein Mensch ausgesetzt war oder ist. Es erzählt über Lust- und Glückserfahrung gleichermaßen wie über Leidvolles.

1: Dr. Moshe Feldenkrais (1904-1884), Physiker und Begründer der Feldenkrais-Methode®, die Gesundheit, Wissenschaft und Wirksamkeit in seiner Bewegungslehre verknüpft. Die Methode wird weltweit gelehrt.

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

Beides sind große Quellen unseres Lebens. Sie sind „der Stoff, aus dem wir gewebt sind“ . So werden in der S I B auch die mitgebrachten Diagnosen als Ressourcen wertgeschätzt. Gleichzeitig wird aller­ dings die Tatsache in den Vordergrund gestellt, dass Haltungen, sowohl körperliche als auch innere, veränderbar sind. Den aktuellen Wünschen und Bedürfnissen von Klientinnen entsprechend, können Verbesserungen angeregt und integriert werden. Symptome werden als im Leben oftmals beziehungsgestaltend thema­ tisiert und werden daher in diesem Kontext als wichtig und veränderbar angesehen.

„M A N C H M A L B E R Ü H R S T DU M ICH M IT EINEM WORT, A LS W ÄR E ES D EIN E H A N D “ (J. S ch ütting, in: Liebesgedichte, Salzburg, Residenzverlag, 1982)

Ein Erstgespräch am Beginn öffnet den Kontext und klärt ab, welche derzeitigen Möglichkeiten, Wünsche und Ziele im Rahmen der S I B stattfinden sollen/können. Dabei wird der Sprache viel Aufmerksamkeit geschenkt. Neugierde, Neutralität und Gegenwärtigkeit bahnen sowohl sprachlich, als auch in den ersten „Hands-on“- Erfahrungen den Weg.

RESSOURCENORIENTIERUNG Ein wichtiger Aspekt von S I B sind ressourcenorientierte, systemische Interventionen. Hier wird das Augenmerk auf die Lebensgeschichte und die gegenwärtige Lebensform mit all den bekannten und verborgenen Wünschen und Bedürfnissen, aber auch auf vorhandene, nicht bewusste Ressourcen gerichtet. Ziel ist, die gegenwärtige Situation des/der Behandelten anzuerkennen und gleichzeitig Veränderungen und neue Wege anzuregen.

BEI SICH LANDEN Neben einem genauen, auf der Grundlage von systemischen Frageweisen geführten Erstgespräch, mit Abklärung von Wünschen, Zielen und bekannten Ressourcen, beginnt ein Hinführen zum „Bei-sichselbst-Landen“ . Das Fühlen der Auflagefläche und des Kontakts mit der Unterlage ermöglicht ein erstes „Ankommen“ . Der Mensch beginnt sich selbst mit der Art und Weise einzelner Körperteile und ihrer Beziehungen zueinander spürend zu begegnen. Eine Erinnerung an evtl. ganz frühes Erfahren von vertrauensvoller „Begegnung mit der Erde“ , die am Beginn jeder Bewegungsentwicklung steht,

A lle Klientinnen und Schülerinnen für S I B werden darüber informiert, dass S I B als Einführung in die optimale Verwendungsmöglichkeiten ihres Bewegungsapparates angelegt ist. Sie wissen, dass dies keine Behandlung für medizinische Notfälle ist und auch keinen Ersatz für medizinische Verfahren, die von einem Arzt/einer Ärztin vorgeschlagen wird, darstellt. Sie sind sich bewusst, dass das, was von einer S I B-Pädagogin gesagt wird, weder eine medizinische Diagnose darstellt noch als Ersatz für solche gewertet werden kann und auch nicht als solcher bewertet wird.

„versichert“ das Nervensystem. Es verdeutlicht zu Beginn meist auch, wo der Kontakt unterbrochen wurde und welche Stellen nicht mehr „fühlbar anwesend“ sein können.

MIT AUFM ERKSAM K EIT UND ACHTSAM K EIT FÜHREN Mit den Händen berührend und auf der Grundlage der jeweiligen Möglichkeiten eines Menschen erfolgt ein vielfältiges Bewegen und Berühren einzelner Teile. Dabei ist der Bezug zu den vorhande­ nen Ressourcen wichtig. Jede Berührung und weiterführende Schritte sind auch Suchbewegungen, die den Körper und seine Anatomie natürlich gut kennen. Die Art und Weise, wie ein Mensch die einzelnen Teile allerdings tatsächlich „gebraucht“ und welche Bewegungsmuster er/sie ausgebildet hat, ist dafür ein - oft erst in der Tiefe erfahrbares und in Wechselwirkungen sich erschließendes - Feld. „Berührung senkt den Spiegel der Stresshormone. Ohne Nebenwirkung ist sie zugleich Diagnose und Therapie.“ (Alon Talmi)

DAS LERNEN NEU LERNEN In der S I B wird die grundlegende Lernfähigkeit des Menschen benützt. Sie muss manchmal erst „wieder ausgegraben“ werden, um einen freudvollen Zugang zu sich selbst und seine ganz individuel­ len Fähigkeiten und einzigartigen Möglichkeiten zu entdecken. S I B-Pädagoglnnen fördern und schu­ len dies kontinuierlich und nachhaltig über Empfindung und Bewegung. Wichtig dabei ist, das Nervensystem neugierig zu halten um lernen zu können! „Empfindung und Bewegung sind die beiden zentralen Prozesse unseres menschlichen Systems. Wir können nichts anderes fühlen als Bewegung. “ (Thomas Hanna)

KLÄREN VON FUNKTIONEN Körperliche und seelische Symptome werden in der S I B als beziehungsgestaltend angesehen. Wir entwickeln keine Gewohnheiten und Bewegungs- und Denkmuster, ohne dass diese einen Grund haben und einen, oft nicht gleich offensichtlichen, Zweck erfüllen. So begeben sich S I B-Pädagoglnnen mit den Klientinnen auf die Suche nach den versteckten Botschaften oder dem „versteckten Gewinn“ , den die jeweils gebildeten (Bewegungs-) Muster bein­ halten. Wofür dienen sie eigentlich und was ist bisher ihre Aufgabe? Was verhindern sie und was ermöglichen sie dadurch? Wir fragen auf der physischen Ebene ebenso mit dem „nonverbalen Dialog“

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welche Teile miteinander kommunizieren und welche ausgeschlossen sind, obwohl sie funktional Zusammenhängen. In welche Richtungen und mit welcher Intensität gibt es Vorlieben, WIE wird gehalten? Welche Teile sind auf welche Weise vielleicht über- oder unterversorgt? Was wird gar nicht gespürt oder wahrgenommen? Was benötigt ganz direkte „Entkoppelung“ , damit ein grundlegendes Spüren wieder ermöglicht wird? Wo braucht es Grenzen? Und in all dem: Wie kann der Weg gebahnt werden, damit er bestmöglich die vorhandenen Ressourcen einlädt? Das sind nur einige der Fragen, die das Handeln in der S I B leiten.

GEGENW ÄRTIGKEIT Die Präsenz der S I B-Pädagoglnnen ist wichtiger Bestandteil dieses Lernens. Es beinhaltet ungeteilte Aufmerksamkeit. Angespannte Körperteile werden damit bewusst gemacht und behutsam und spiele­ risch gelöst. Den dahinter liegenden Ursachen wird Raum gegeben durch die Genauigkeit, Geduld, Langsamkeit, den Rhythmus der Bewegungen und Berührungen und durch die verbalen Interventionen und Fragen. Dadurch können Schmerzen reduziert und Zugänge zu sich selbst verän­ dert werden. Der empfindende, wahrnehmende, der sog. kinästhetische Sinn1 wird aktiviert. Wer sich selbst mehr spürt, spürt eigene Bedürfnisse genauer und verändert damit die Wechselwir­ kung zwischen sich und seiner Umgebung. Präsenz wird gefördert. Es beginnt damit auch ein Prozess der Suche nach Übersetzung der Erfahrung von freierem und gelösterem Spüren des Körpers ins eige­ ne Leben. Entspannte, gelöste Muskeln erlauben schmerzfreies Bewegen und ökonomische Hand­ lungsweisen, aber auch manche unangemessenen Beziehungsmuster benötigen neue Wege.

BEHUTSAM KEIT Die Qualität der Berührung ist sanft, gewährend, nicht bewertend, oft langsam, geduldig und genau führend, damit der ganze Mensch mit all seinen/ihren Ressourcen und auch den die Bewegungs­ freiheit verhindernden Bewegungs- und Denkmustern Neues erlernen kann. Das Nervensystem benö­ tigt genügend Zeit für diesen Prozess des Umorganisierens und Neubahnens.

UNSER NERVENSYSTEM HAT DIE AUFGABE, DAS CHAOS ZU ORGANISIEREN (Alon Talmi) Sanfte Züge, Rotationen, Drehungen, sanfte Druckbewegungen setzen feinste Stimuli von außen und reorganisieren damit ganz tiefe Schichten der tragenden (knöchernen), bewegenden (muskulären) und steuernden (Nervenbahnen und Gehirn betreffenden) Teile des Menschen.

1: Vgl.: Literaturliste: J. Bauer, A. Singer

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

Die in der S I B verwendeten Lektionen sprechen den Körper auf der Grundlage von innewohnenden Ordnungssystemen in all ihren Grenzen und Freiheiten an. Knöcherne Strukturen, muskuläre Funk­ tionen, das Nervensystem, die Systeme der Selbstregulation und die sog. „Neuroplastizität“1 spielen zusammen und werden angeregt. Achtsamkeit, Respekt, Offenheit und Kompetenz sind die Mitge­ stalter eines abgerundeten Prozesses.

WENIGER IST MEHR Oft ist es sehr erstaunlich, mit wie wenigen, dafür aber sehr präzisen Berührungen große Veränderun­ gen der Haltung und des Ausdrucks geschehen. Nicht die Menge an Impulsen ist wichtig, sondern die Genauigkeit, mit denen sie gegeben werden und so das Nervensystem „verstehen lernt“ . Es verdeutlicht auch immer wieder, wie wenig es einerseits benötigt, um dieses fein gestimmte Nervensystem zu verstören, gleichermaßen wie es zeigt, wie die „Entstörung“ oder Verbesserung geschehen kann! Die Spezialität der Lektionen, die von Alon Talmi entwickelt wurden, liegt in ihrer feinen Präzision! Dazu später.

UNTERSCHIEDE, DIE EINEN UNTERSCH IED MACHEN Über das Spüren von Unterschieden von Auflage, innerem Gefühl zu einzelnen Körperteilen, ihrer Größe, Länge, ihrem Gewicht etc., werden Impulse so lange gegeben, bis das Nervensystem einen tatsächlichen und deutlichen Unterschied wahrnehmen kann. Damit schulen wir das Körperbewusstsein in einer Weise, die viel präventive Wirkung beinhaltet. Ein Mensch, der sich gut spürt, weiß auch früher, wann ein Symptom Aufmerksamkeit, bewusste Eigen­ bewegung oder Unterstützung benötigt, und wird diese früher suchen.

BEWUSSTMACHEN, WAS JE TZT DA IST In der S I B ist ein wichtiges Prinzip, dass wir zuerst klären, welche als Einschränkung oder Schmerz erlebten Gewohnheiten sich tatsächlich spüren lassen. Sehr oft weisen diese den Weg aus der einsei­ tigen Haltung. Wenn zuallererst wahrgenommen werden kann, WIE etwas derzeit tatsächlich gemacht wird, kann auch der Weg zu besserem „Selbstgebrauch“ , zu physiologisch mehr angemessenen Bewegungs- und Verhaltensweisen gebahnt werden.

1: S. Manfred Spitzen Nervensachen. Geschichten vom Gehirn, Suhrkamp, 2005

1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

Oftmals wird das, was sich als Bewegungsmuster tatsächlich etabliert hat und störend für andere Telle Ist, zunächst verstärkt, um es zu verdeutlichen und von dieser Erfahrung neue Wege zu bahnen. Die berührenden und bewegenden Hände gestatten den daran beteiligten Gelenken, Muskeln und Knochen und dem gesamten Nervensystem, sich empfindsam und in klarer Qualität so variantenreich aufeinander zu beziehen, dass eine „Neuorganisation“ erlebt werden kann. Bewusstmachen eines Vorgangs ist Grundlage für das Bewusstwerden der Möglichkeit, es anders zu tun.

KÖRPERGEDÄCHTNIS Was immer der Körper empfunden hat, der Körper erinnert sich. Das ist ein Reichtum in uns, der nicht verloren gehen kann! Der Weg führt nicht über das Wissen, sondern über das Wahrnehmen und Empfinden, das über den ganzen Körper angesprochen wird. Die o. a. Berührungsqualitäten gestatten oftmals ein (Wieder-)Erinnern der Momente des Lebens, in denen Einschränkungen, Verletzungen oder Schweres geschehen ist. Manchmal findet dies Ausdruck in Form von (starken) Emotionen, manchmal „huscht“ es momentweise vorbei, gerade lange genug, um ins Bewusstsein zu gelangen und erkannt zu werden, und wird in neue Bewegungsmöglichkeiten umgesetzt. Manches wandelt sich ganz unspektakulär von erstarrter Bewegungsweise zu Geschmei­ digkeit und zu neuem Bewegungsrepertoire. Jedenfalls wird dieser Prozess des Wahrnehmens und des Ausdrucks von S I B-Pädagoglnnen behutsam begleitet und unterstützt in Hinblick auf Anliegen und Lösungsmöglichkeiten. Achtsamkeit, Respekt, Offenheit und Kompetenz sind die Mitgestalter dieses Prozesses!

WANDLUNG UND ENTW ICKLUNG Diese Sichtweise in der S I B bezieht sich auch auf gegenwärtige Glaubenssätze, Konstrukte von Gedanken, Sichtweisen, Emotionen, Annahmen und Denkweisen. Werden wir in all dem tatsächlich gesehen, wahrgenommen und auch wertgeschätzt, müssen Symptome nicht verschwinden, sondern dürfen sich in Veränderung begeben und verwandeln. Der Vorteil, diese Veränderung über den Körper zu bahnen, besteht darin, dass - wenn der Körper Neues lernt und umsetzt - wesentlich mehr neuronale Netzwerke im Gehirn aktiviert werden, als dies bei nur sprachlichen Interventionen der Fall ist. Diese angeregten Netzwerke führen wiederum zu tat­ sächlich nachweisbaren Neubahnungen. Damit wird Einsicht in bewusstes und empfundenes Erleben und damit direkt zu Integrationsmöglichkeit im Handeln bewegt.

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RESSOURCEN STÄRKEN DURCH W AHRNEHM EN DER VORHANDENEN MÖGLICHKEITEN Ein Mensch wird so an ursprüngliche Ordnungen erinnert oder zu ihnen geführt. Die dabei verwende­ ten Lektionen sprechen eine klare Sprache: vom Einfachen zum Komplexen, vom Ganzen zum Teil und zum Ganzen zurück, vom Begreifbaren zum Fühlbaren, vom unbewussten Bewegen undifferen­ zierter Teile zu bewusster Bewegung, von Einschränkungen zu Variationsreichtum.

BEW USSTHEIT UND DIFFERENZIERUNG In diesem Vorgang steht eine Bewegungs- und Berührungsqualität im Vordergrund, die ZEIT GIBT, neue Impulse aufnehmen und integrieren zu können, damit das Nervensystem lernen kann. Wichtig dabei ist in der S I B, das Dechiffrieren von Bewegungen die oftmals mit zu viel Anstrengung und unbewusst mit physiologisch gar nicht nötigen Teilen ausgeführt werden. Dadurch entsteht oft chroni­ sches (Ver-)Halten. In der S I B wird dieses „Zuviel“ in einzelne Bewegungssequenzen „zerlegt“ , die nachvollziehbar und für das Nervensystem einprägsam sind. Wenn die einzelnen für eine Bewegung nötigen Teile gut funktionierend Zusammenwirken, vergrößert sich der Bewegungsumfang ganz von alleine! Wir müssen dann nicht trainieren oder Muskeln stärken. Bei diesem Differenzierungsvorgang tauchen oft ÜBERRASCHUNGEN auf, die zu ganz unerwarteten (Handlungs-)Spielräumen führen. Die neuen Möglichkeiten erschließen sich nicht durch vorweggenommenes Wissen, sondern durch Vielfalt, Reversibilität und nachvollziehbare Klärung. Dabei muten wir „Verstörung“ des gewohnten (Bewegungs-)Musters zu, und wir erlauben einer vorübergehenden „Verunsicherung“ , ihren Beitrag zur Veränderung und Bewusstwerdung zu leisten. Der Moment der Wahrnehmung einer großen Verunsicherung ist der Moment des Lernens und Umlernens! Bewegung ist immer dann frei, wenn wir noch nicht wissen, wohin es geht!

KÖRPER UND PSYCHE G LEICH ZEITIG W AHRNEHM EN UND BEHANDELN Oft erleben wir, wie notwendig der gleichzeitige Blick auf körperliche wie auch auf seelische Gege­ benheiten für die Lösung von Fragestellungen ist. Ambivalenzen beispielsweise, die von Klientinnen als schwierig erlebt werden und oft zu inneren Konflikten führen können, haben ihre Ursache in Wir­ belsäulenskoliosen (seitliche Wirbelsäulenkrümmungen) und deren Bedingungen, welche die Orientie­ rung im Raum abverlangt.

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

Unbewusst wird dabei mit permanenter Anstrengung Ausgleich von Nacken-, Augen- und Schulter­ muskulatur hergestellt und viel Lebensenergie dafür verwendet. Das Gefühl der Überlastung, des raschen Ermüdens wird als beständiges Erschöpftsein erlebt und als „Depression“ diagnostiziert, ohne die Ursache, nämlich die körperlich einseitige Belastung zu thematisieren, zu behandeln und damit zu verbessern. Beginnt ein Prozess der Wahrnehmung dieser physischen Voraussetzung und, so wie wir in der S I B es gestalten, eine Wertschätzung und auch ein Herausarbeiten der damit verbundenen besonderen Qualitäten, wie bspw. die Fähigkeit etwas jeweils „sowohl als auch“ rasch zu erkennen oder Gegen­ sätze zulassen zu können, so entsteht tiefe Entlastung. Vor allem wenn gleichzeitig an einer Entlastung der zu viel arbeitenden Muskeln gearbeitet wird und die Fixierungen als lebendig und wandelbar erlebt werden. Damit wird eine erstaunliche Menge an Lebenskraft wieder freigesetzt.

Z EIT NEHMEN Die Behandlungseinheiten mit S I B dauern zwischen einer Stunde und 90 Minuten. Sie werden bewusst so lange gewählt, weil diese vielschichtigen Qualitäten von Bewusstheit und Berührung für ein „neuronales Umlernen“ zwischendurch auch kleine Sequenzen von Pause, Ruhen, Unterschiede zum vorher Gespürten etc. für nachhaltige Integration benötigen. Das Lernen, selbst für die Gesun­ dungsprozesse zuständig zu sein, braucht diese Zeit.

SCHULUNG DES SELBSTBILDES Durch die angebotenen Berührungs- und Bewegungslektionen und die sprachlichen Interventionen schult sich der sog. „propriozeptive Sinn“ . Das ist der sog. „6. S inn"1 des Menschen, die Raum­ wahrnehmung. Es entsteht mehr Übereinstimmung von Eigenwahrnehmungen bzw. den „gemeinten“ Bewegungsumfängen, -richtungen und -großen und den tatsächlich im Raum ausgeführten Bewe­ gungen und ihren Qualitäten. Diese differieren zu Beginn oft sehr. Mit dem sog. „Mehr-kongruent-Werden“ in der Raumempfindung geht auch oft das Gefühl, stärker, größer, schöner und liebenswerter etc. als bisher zu sein, einher. Ein Mensch wächst sozusagen in seine tatsächliche Größe oder in eine im übertragenen Sinn. Er /sie richtet sich auf und aus, fühlt sich „geerdet“ oder mehr „verbunden“ und beginnt oft staunend die neuen Eigen-Wahrnehmungen in ihren Auswirkungen auf die Umgebung und in den Beziehungen zu erleben.

1: S. Deane Juhan (1992): Knaur Verlag, S 492 ff.

STILLE In der S I B wird während der Arbeit oft durch lange Sequenzen nicht gesprochen, um der „Intelli­ genz des Körpers“ und der heilsamen Kraft des Spürens und „Sich-selbst-fühlen-Könnens“ genügend Möglichkeiten der Entfaltung zu geben. Soma und Psyche führen einen „nonverbalen Dialog“ (Alon Talmi). Dabei wird manchmal auch „nachgebahnt“ , was in frühen Kindertagen vermisst wurde1. Alle heutigen Hirnforscherinnen weisen auf die große Wichtigkeit der Berührung für die Bahnung von Vertrauen, Selbstwert und Sicherheit im Leben hin.

WECHSELWIRKUNG In der S I B schulen wir die Wahrnehmung für ein differenziertes Empfinden einzelner Körperteile und ihres Zusammenspiels mit den umgebenden funktioneilen Teilen. Oft wird damit erst deutlich, dass bestimmte Muskeln die Arbeit tun, für die eigentlich die Knochen zuständig wären. Wird ein Teil zu mehr Freiheit geführt und bewegt, so ändern sich alle Teile mit. Es wird aber auch die Tatsache beachtet, dass alles, was sich im Körper verändert, auch seelischen Wandel bewirkt. Das Erschließen neuer Bewegungsspielräume bedeutet fast immer auch mehr Zugang zu „inneren Räumen“ . Was benötigt dieser geöffnete Zugang zu sich selbst? Was stärkt? Wo und wie kann es noch leichter, müheloser und einfallsreicher werden? Was benötigt Unterstützung? Wie wirkt sich Erlerntes auf die Umgebung der/des Klientin aus? Das sind Fragen, die das Handeln in der S I B leiten. Auch Unwie­ derbringliches und schwerste Erkrankungen können mit S I B zu friedvollem Erfahren, leichterem Annehmen- und Loslassen-Können führen.

STAUNEN ÜBER DAS SPÜREN VON KNOCHEN Entsteht durch diese Körperbewusstseinsschulung Entkoppelung von unnötig angestrengten Muskeln, so können diese in angemessener Weise funktionelle Bewegungen (wieder) ausführen. Durch den genauen Schulungsprozess erleben Klientinnen, dass sie dann ganz genau ein inneres Bild ihrer Knochen entdecken. Damit können sich Menschen ganz anders bewegen, denn dieses innere Bild ist bedeutsam für die Steuerung von Bewegungen im Raum: für das Timing und die Koordination einzelner Teile, für die Geschmeidigkeit und für Mühelosigkeit.

1: S. dazu auch: Joachim Bauer (2007): Körpergedächtnis, München, Piper Verlag, S 70. Stille hat aber auch Bedeutung zur Hinführung in das, was wir als wesenhaft zu uns gehörend erfahren können und was sich kognitiven Prozessen entzieht.

AUGENGLANZ UND FUSSSOHLE Nach dieser Art der Erfahrungen berichten Klientinnen oftmals, dass sie zuvor nie Gespürtes fühlen, beobachten oder empfinden können. Das Nervensystem knüpft an ursprünglich vorhandene Fähig­ keiten an oder moduliert für gegenwärtig nötige Bewegungsweisen um. Das beinhaltet oft große Überraschungen, Staunen und Freude über unerwartet Erlebbares, über eben vom Körper Gelerntes. Eine Klientin brachte es auf den Punkt nach einer Stunde in der es sehr um ihre Füße und deren Bezug zum Boden ging, nachdem sie sich im Spiegel sah. Sie sagte: „Jetzt weiß ich, was mein Glanz in den Augen mit meinen Fußsohlen zu tun hat!"

LAUSCHEN Menschen aufmerksam und still zuzuhören, ihren Sprechweisen, aber vor allem den Körper und seine momentanen Bewegungsmöglichkeiten und Reaktionen genau fühlen zu können sind besondere Qualitäten der S I B. Dieses Begleiten erfordert ein hohes Maß an Eigenarbeit und -reflexion. Was wir in uns selbst als S I B-Pädagogln lösen und erfahren, erlaubt auch jeweils wieder größere Wahr­ nehmungsfähigkeit und neue Zugänge für unsere in der S I B zu setzenden Impulse. Es ist ein le­ benslanges, freudvolles Lernen, in dem auch dem Nichtwissen und der Unvorhersehbarkeit Bedeutung zukommt.

EIGENVERANTW ORTUNG Wie aus manchem bisher Gesagten hervorgeht, werden die Menschen, die zur S I B kommen, vielfach in das Geschehen eingebunden: mit den genauen Fragen eines Erstgespräches, über die Sprache der Flände im nonverbalen Dialog, mit systemischen Interventionen, mit dem Schulen des Kör­ perbewusstseins, mit dem Spürenlassen von Unterschieden usw. Damit schulen wir eine Neugierde, die zum Wesen jedes Menschen grundlegend gehört. Sie ist es, die uns als Kinder alles lernen lässt. Da wir ausschließlich über Bewegungen und Empfindungen unsere Umwelt erfahren lernen und die gesamte emotionale Entwicklung mit der Bewegungsentwicklung gekoppelt ist, ist Neugierde grundle­ gend in uns angelegt. Oft wird sie überlagert durch unangemessene Lernzwänge, die den Rhythmen und Vorlieben von Kindern nicht entsprechen. Sie bleibt aber meist lebenslang erhalten. In der S I B wird sie oft wieder geweckt und erinnert, damit sie für diese Neubahnungsprozesse zum besseren „Selbstgebrauch“ aktiv werden kann. Die meisten Menschen sind froh, wenn sie eingebun­ den werden und darüber hinaus ihre Eigenkompetenz erleben für die Veränderung schmerzhafter

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

Zustände. Zuständig sein für die eigene Gesundheit ist ein Bedürfnis von Menschen, wenn es ent­ sprechend unterstützt wird!

BEWEGUNGEN ZUM SELBSTTUN In diesem Sinn geben wir unseren Klientinnen manchmal auch kleine Bewegungsabläufe zum SelbstAusführen mit. Diese sind abgestimmt auf den Verlauf und die Entdeckungen, die in den Einzelstun­ den bedeutsam waren. Mit diesen kleinen Bewegungssequenzen wollen wir die Integration des Erlern­ ten fördern und Anregungen zur weiteren Erkundung von Spielräumen geben.

VORSTELLEN In der S I B wird oft angeregt, bestimmte Bewegungen nur in der Vorstellung auszuführen und zu bemerken, dass dies einen beträchtlichen Effekt und heilsame Wirkung zeitigt. Dieser Vorgang beruht auf der Tatsache, dass durch die Vorstellung alleine in der motorischen Hirnrinde direkte Anregung und Verstärkung der Areale geschieht. Wir benutzen dabei die physiologische Tatsache, dass jeder Gedanke einen sensomotorischen und einen emotional-vegetativen Anteil hat. Dieser Vorgang ist aller­ dings nur dann wirksam, wenn das vorgestellte Bewegungsmuster noch „abrufbar“ ist und z. B. zuvor an der anderen Seite tatsächlich ausgeführt wurde, um erinnerbar zu sein. Wir können gerade damit in der Rehabilitation unvermutete Erfolge erleben.

HUMOR Diese Vorgänge des „Neubahnens“ , Umlernens, Rückführens lassen oft Momente entstehen, in denen Lachen und Paradoxes entsteht, weil wir in den Momenten die „Wirksamkeit“ beinhalten, auch erle­ ben, wie oft unnötigerweise viel Mühe für etwas aufgewendet wird, was anders ausgeführt ganz ein­ fach geht! Das Lachen ist für das Lernenkönnen wesentlich!

„Wenn Du in einem Zustand des Lächelns bist, das jederzeit in ein Lachen führen kann, ist der Moment des Lernens gegeben!“ (M. Feldenkrais)

Mit den behutsamen Angeboten aus den Lektionen und den systemischen Interventionen wird der Raum für „das Lächeln des Elefanten“ eröffnet.

1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

1. 2. Der Körper und die Psyche in der S I B Die Basis für unser physisches, emotionales, mentales und spirituelles Sein ist unser Körper. Mit diesen Verknüpfungen arbeitet S I B. S I B ist ein Zugang zur Gesundheit, der den ganzen Menschen und sein lernfähiges Nervensystem und eben nicht nur entweder den Körper oder die Psyche - in den Mittelpunkt stellt, bewegt und berührt. Die umgebenden sozialen Systeme und Hintergründe sowie die Familiengeschichten eines Menschen fließen durch systemische Fragestellungen in den Behandlungsprozess ein und finden neben Körperenergie und Körpergedächtnis Berücksichtigung. Sie alle spielen eine große Rolle für die Fähigkeiten und die Möglichkeiten, die ein Mensch finden kann, um sich in sich selbst einerseits „beheimatet“ zu fühlen, anderseits flexibel und lebendig den Herausforderungen des Lebens begeg­ nen zu können. Bewusstheit für den Körper im Sinn von S I B beinhaltet tiefgehende Beschäftigung mit der mensch­ lichen Existenz, ihren Ressourcen an Kreativität und Neuschöpfung, an Selbstheilung und vor allem an Lernvermögen. Bewusstheit ist die Fähigkeit, tatsächlich anwesend zu sein bei dem, was wir jeweils tun. Dazu ist es nötig, zu erfahren, wie wir etwas tun. Moshe Feldenkrais fasst es zusammen: „ Wenn Du weißt, was Du tust, kannst Du tun, was Du willst!" Flüssiges, dynamisches Bewegen ist im Menschen angelegt. Kinder zeigen uns durch die unendlich vielen kleinen lustvollen und unermüdlichen Versuche, wie Bewegung erlernt und modifiziert wird. Doch dabei kann es schon sehr früh zu ungünstigen Beeinflussungen kommen. Frühe seelische Trau­ mata, Überforderung oder diverser Mangel an Zuwendung und falsche oder fehlende motorische Förderung kann diese Entwicklung von Beginn an empfindlich stören und beeinflussen. „Reifestörungen der sensomotorischen Funktionen des aufrechten Standes und Ganges sind bei fast allen Menschen der westlichen Zivilisation zu beobachten. Mangelnde Balance in der Haltung, Sei­ tenasymmetrie, gebeugte oder starre Haltung, mangelnde Koordinationsfähigkeit in der zeitlichen Abstimmung bei der Durchführung von Bewegung sind bei allen Bewegungsstörungen zu finden und führen im Laufe der Zeit zu Schmerzen oder Schäden am Bewegungsapparat. Solche Störungen sind immer auch als Lösungen der Person für bestimmte Lebensphasen zu sehen. "1 Diese - ursprünglich als Lösungen für bestimmte Lebensphasen gestalteten Bewegungsweisen - wer­ den oft lange und unbewusst in spätere Lebensphasen übernommen und bilden in der Folge oftmals chronische oder schmerzhafte Bewegungsmuster und Haltungsgewohnheiten.

1: Ch. K. Krassnig: Die menschliche Bewegungsentwicklung, Vortrag zum 11. Symposium für die Integration behinderter Menschen in Innsbruck, Ju n i 1996

„Bedeutsam ist die Tatsache, dass mit den erwähnten Einschränkungen auch unsere Denkgewohnhei­ ten, die uns innewohnende Kreativität und Lebensfreude reduziert werden. Eine Loopingschleife von Erleichterung und Verschlechterung, von immer wiederkehrenden Schmerzen ist die Folge.“ 1 S I B bezieht die vielen Erfahrungen eines Menschen in die Vorgänge des Lernens bewusster Be­ wegung mit ein: die emotionalen, kognitiven und sozialen Aspekte der Lebensgeschichte, ihre Ur­ sprünge und ihre Ressourcen. Können diese Erinnerungen und Erfahrungen aus dem Körper heraus in ihre Eigenbewegung finden, erlauben sie, aus der Einschränkung in neue Bewegungs- und Sicht­ weisen zu gelangen. S I B benützt dazu nicht nur die körperliche Bewegung und Berührung, sondern verwendet in den verbalen Interventionen, die diesen Prozess der Reifung oder Selbstentfaltung begleiten, die Techniken der systemischen Arbeitsweisen. In diesen sind den Bewegungsweisen ana­ loge sprachliche, beziehungsgestaltende Elemente von großer Bedeutung. Die verbalen Interventionen verfolgen das Ziel, dass ein Mensch Bewusstheit darüber erlangt, dass er/sie ein in Wechselwirkungen lebendes Wesen ist. Jede/r kann sich weiterentwickeln und reifen mit entsprechenden sinnstiftenden Unterstützungen und Interventionen, die bspw. in der S I B entwickelt wurden. Jede/r kann lernen, mit Bedingungen des Lebens und seinen Abhängigkeiten kreativ und spielerischer umzugehen, anstatt zu erstarren und sich klein zu machen. Und jede/r vermag damit auch selbst zu gestalten, welche Qualitäten Beziehungen benötigen, damit sie förderlich sind.

Was lehren und lernen wir nun zusammenfassend im Rahmen der Einzelarbeit der S I B? In der S I B lernen wir unsere Körperhaltungen, unsere individuelle Art und Weise, wie wir unseren Körper gebrauchen, wirklich kennen. Wir lehren/lernen wahrzunehmen, wie und wo wir uns hemmen und störende Bewegungsmuster entwickelt haben. Wir lehren/lernen, diese zu dechiffrieren, zu ver­ wandeln und unseren Wünschen und gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechend zu verbessern sowohl auf der physischen als auch auf der psychischen Ebene. Wir lehren/lernen aber ebenso, wie die Zusammenhänge zwischen inneren und äußeren Haltungen, zwischen Wahrnehmen, Spüren, Denken und Bewegen gestaltet sind. Wir erfahren, wie aus neuem Eigenempfinden neue Denk- und Bewegungsweisen entstehen können und unser Dasein konstruktiv verändern. Wenn wir gelernt haben, auf uns, unseren Körper, auf seine Ressourcen, aber auch auf seine Grenzen zu lauschen, wenn wir auf das „Flüstern des Körpers“ hören und es verstehen lernen, erlernen wir etwas Grundsätzliches: dass wir die Macht und Möglichkeit besitzen, mit uns selbst in lebendigen, bewegten und erquickend vielfältigen Gestaltungsprozessen zu leben. Wir lernen dieses Wissen präventiv zu benützen.

1: ebenda

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1. TH EO R IE UND BEDEUTUNG

1. 3. Die Fortbildung zur/zum S I B-Pädagogln1 Die Fortbildung zur/zum S I B-Pädagogln ist eine dreijährige eigenständige Berufsausbildung. Lehrinhalte sind: die Berührungslektionen von Alon Talmi, in der Gruppe angeleitete Bewegungsabläufe (sog. ATM-, Awareness through Movement®-Stunden, systemische Arbeitsweisen und Interventionen sowie Elemente aus der Kampfkunst „Weißer Kranich - Silat“ .2 Dabei werden Verständnis und Kompetenzen erworben zu den Themen Aus- und Aufrichtung, Erdung, Ausgleich, Balance und den grundlegenden Funktionen des menschlichen Organismus wie Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen, Rollen, Drehen usw. Die Berührungslektionen werden im Kapitel über Alon Talmi reflektiert (s. S. 42). Wesentlich dabei ist, dass diese Lektionen, um dem dynamischen Menschenbild gerecht zu werden, einerseits ein sehr kompaktes „pädagogisches Material“ darstellen. Andererseits werden sie in ihren vielfältigen Zugangsweisen und Kombinationen genau dosiert und für ein Individuum mit seinen Vor­ lieben, Mustern und Gewohnheiten von Bewegungen in der Praxis gerecht. Sie ermöglichen auf eine fein strukturierte Art für die Fortbildungsteilnehmerinnen einen „roten Faden“ in ihren eigenen Reorganisations- und Um lern prozessen. Dieser gestattet, sich im „Dschungel des Gehirns" zu orien­ tieren und in all den vielschichtig gleichzeitig stattfindenden neuen Sichtweisen auch Sicherheiten zu entwickeln. Die Lektionen werden so gelehrt, dass sie zunächst ohne Erklärungen demonstriert werden und Teil­ nehmerinnen (TN) ausschließlich Zusammenhänge, Rhythmen, Reaktionen und Auswirkungen beob­ achtend erleben können. Wichtig dabei ist, dass die TN in ganz eigener Weise und auf Grundlage des individuellen Körpererlebens und -Verständnisses lernen dürfen. Dabei geht es zunächst weniger um anatomisches Wissen als um Entwicklung eigener Erlebens-, Bewegungs- und Sichtweisen. Während der Demonstration sind alle „anwesenden Nervensysteme“ hochaktiv in ihrem Umlernpro­ zess! Oft kann dabei auch erlebt werden, wie sich Emotionen der „Demonstrationsmodelle" ausdrükken und wie diese dann begleitet werden. Erst in einem zweiten Schritt und manchmal erst nach dem ersten gegenseitigen Üben und Auspro­ bieren kommen alle kognitiv nötigen Informationen dazu: anatomische, physiologische und neurologi­ sche Zusammenhänge. Dazwischen werden Bewegungsabläufe passend zu den Lektionen unterrich­ tet, damit der „Selbstgebrauch“ und die eigene Körperbewusstheit verbessert werden. Sowohl die sog. ATM-Stunden als auch die Silat-Abläufe werden einerseits genau auf die Lektionen und ihre

1: Informationen zur Ausbildung: www.isib.org. 2: S. dazu den Beitrag über Silat, siehe Seite 64 ff

Schwerpunkte und andererseits auch auf die jeweiligen Gruppenteilnehmerinnen und ihre momenta­ nen Lernmöglichkeiten abgestimmt und unterrichtet. Dosierungen in Aufbau und Ablauf sind in der S I B-FortbiIdung wesentlich, damit diese vielschichtigen Zusammenhänge nachvollziehbar und inte­ grierbar sind. Auch Gesprächsrunden, in denen in ressourcenorientierter Weise auf das Erleben der TN eingegangen wird, geben viel Gelegenheit, Genauigkeit der Sprache und systemisches Vorgehen in ihrer Wirkung zu erfahren. Gleichermaßen wird das Begleiten von Entwicklungsprozessen reflektiert und geübt. Angehende S I B-Pädagoginnen entwickeln neben Kompetenzen in Körperarbeit auch Kompetenzen in systemisch-lösungsfokussierter Gesprächsführung, die sie befähigt, die psychischen und sozialen Prozesse ihrer Klientinnen behutsam zu begleiten. Sie lernen, sich selbst und ihre Grenzen einzuschätzen und bei welchen Personen und/oder Anliegen psychotherapeutische oder andere Begleitung zusätzlich oder statt S I B zu empfehlen ist. Im Rahmen der S I B-Ausbildung, in der die Körperbewusstseinsschulung an erster Stelle steht, wurde eine Auswahl von Methoden des Fragens getroffen, die in der S I B-Praxis zur Anwendung kommen. Sie zu lernen setzt die Bereitschaft voraus, sich der eigenen Denkweisen und Überzeugun­ gen bewusst zu werden. Probleme als Konstruktionen zu entlarven, die nur in bestimmten Kontexten Bedeutung haben und über kontextuelles Schauen eine gänzlich andere Bedeutung bekommen kön­ nen, bringt eine tief greifende Änderung der Sicht auf sich selbst, auf die Umgebung und die Welt. Den Blick auf schlummernde Ressourcen, auf Lösendes und Visionen zu richten anstatt in den Symptomen zu erstarren, ist für manche Ausbildungsteilnehmerinnen sehr ungewohnt und bedeutet einen wichtigen Lernprozess. Er verbindet sich mit dem Vorgang, den Ausbildungsteilnehmerinnen beim Erlernen und Erfahren der Berührungslektionen durchschreiten: Selbstbilder, Handlungs- und Bewegungsmuster werden infrage gestellt und durch die Schulung der Empfindung angereichert und inspiriert. Sie beginnen sich dadurch neu zu organisieren und zu ordnen und damit allmählich Sichtund Handlungsweisen zu verbessern und zu verändern. Vor allem für den Umgang mit Symptomen/Problemen innerhalb der S I B ist der systemisch-lösungsorientierte Ansatz von Bedeutung. Symptome werden als beziehungsgestaltend gesehen, als Botschafter zwischen sich und dem eigenen Körper, aber auch zwischen sich und den Mitmenschen. Diese Sichtweisen und Erfahrungen werden auch durch die Methode der Systemaufstellungen im Verlauf der S I B-Ausbildung unterstützt und ergänzt.

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2. GESCH ICH TE UND EN TSTEHUN G DER S I B

2. Geschichte und Entstehung der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre® - Nurit Sommer 2. 1. Ursprung der S I B Univ.-Prof. Dr. Alon Talmi steht am Beginn der Arbeit der Systemischen und Integrativen Bewegungs­ lehre® S I B. Die von ihm aus der Feldenkrais-Methode entwickelten Lektionen bilden den Grund­ stock der dreijährigen berufsbegleitenden Ausbildungen und der Methode. Mit seiner Genauigkeit und Geduld erkannte er wesentliche Zusammenhänge des menschlichen Körpers und der Seele. Dr. Moshe Feldenkrais entwickelte in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Methode mit Erkenntnissen über das menschliche Lernen, die heute von Neurophysiologen1 bestätigt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass unser gesamter Erfahrungsschatz, unsere Erlebens- und Über­ lebensstrategien - also unsere Lernprozesse - in unserem Nervensystem verknüpft, analysiert und ge­ speichert wurden und werden. Die Nervenzellen sind untereinander vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig durch feuernde und hemmende Aktivitäten. Für unser gewohntes Verhalten werden „Leit­ pfade“ , die wir rasch abrufen können, bevorzugt verwendet. In diesen Mustern, die wir sehr früh in der Kindheit anlegen, denken wir und analog zu diesen Denkweisen bewegen wir uns - physisch und mental. Wir formen unser Verhalten aufgrund unserer Sozialisation, unseres individuellen Erlebens beeinflusst von genetischen und familiären Grundbedingungen. Doch unser Nervensystem besitzt eine strukturelle Plastizität, d. h., wir können lebenslang umlernen, modifizieren und neu gestalten. Zwei wesentliche Fähigkeiten am Beginn unseres Lebens sind die Grundlage für diese kontinuierlichen „Umbauprozesse“ in unserem Gehirn und Nervensystem.15 1. Die Fähigkeit des Wachstums. Denn wir wachsen von Lebensbeginn an permanent über alle unsere Fähigkeiten hinaus, um alles Nötige zu erlernen.

2. Die frühe Empfindung von Verbundensein (im Mutterleib) und damit verknüpft unsere Bedürfnisse nach Bindung: Wird die erste oder die zweite Grundlage „verstört“ , empfindet ein Mensch tiefen Mangel. Diesen zu heilen benötigt behutsames „Nachnähren“ . Dazu ist es nötig, dass uns bestimmte

1: S. dazu Gerald Hütter und Alfred Singer. 15: Gerald Hütter: Vortrag über körperorientierte Therapieverfahren, Heidelberg, 2008

Mechanismen unserer Gewohnheiten bewusst werden, um überhaupt zu spüren, was wir tatsächlich tun und wie sich dieser Ausdruck der Bedürfnisse von Wachstum und Bindung überhaupt wahrneh­ men lässt bzw. wie er sich - manchmal selbstschädigend - auswirkt. Dies ist die Grundlage für jegli­ che Veränderungsmöglichkeit. Und dies ist auch die Grundlage der S I B.

2. 2. Alon Talmi - Leben und Wirken (Nurit Sommer) 2. 2. 1. Alons Werdegang Alon wurde unter dem Namen Radler-Feldmann geboren - sein Großvater hieß Radler, die Großmutter Feldmann Alons Vater war unter dem Namen „Rabbi Binyamin“ bekannt. Er war ein bekannter jüdischer Schriftsteller und Journalist (der u. a. auch in Wien publizierte) und ein - in seiner spiritu­ ellen Welt - viel beschäftigter, nach Alons Worten, „davon absorbierter“ Mensch. Seine Mutter unter­ stützte den Vater in jeglicher Weise. Als ab 1948 alle Staatsbürgerinnen hebräische Namen verwenden sollten, entschied sich Alon für den Namen „Talmi“ . „Talmi“ kommt vom Wort „tellem“ , das „Furche“ heißt. Das Wort „Furche“ er­ scheint in Zusammenhang mit der Arbeit, die Alon entwickelte - mit seiner speziellen Weise der „Funktionalen Integration“ - sehr passend. Er hinterließ ein Erbe, das „Furchen zieht“ oder imstande ist, neue Verschaltungen in unseren Gehirnen zu bahnen, die uns freier und lebendiger werden lassen! Alon lebte die meiste Zeit seines Lebens in Israel. Als Kind musste er große Herausforderungen be­ wältigen, da seine Eltern durch die schriftstellerische Arbeit des Vaters häufig ihren Wohnsitz wech­ selten. Damit musste er öfters neue, für ihn fremdsprachige Schulen besuchen und vermisste ein sta­ biles Zuhause und Freunde. Er verbrachte zwei Jahre in Wien bzw. in Baden bei Wien, reiste nach Prag, Warschau, Berlin und München. Ab seinem 15. Lebensjahr lebte er in einem Kibbuz in Herzeliya. Er engagierte sich politisch und entschied sich für ein Studium der Chemie. Später lebte er vier Jahre in Paris und sechs Jahre in San Francisco. Kürzere Aufenthalte führten ihn nach Warschau, London, New York und München. Im Laufe seines Lebens hatte Alon viele verschiedene Berufe: Er arbeitete als landwirtschaftlicher Arbeiter in einem Kibbuz, als Mechaniker, als IBM-Techniker und als Diplomat. Er war Israels erster wissenschaftlicher Attache in Paris. Jedoch widmete er die meiste Zeit seines beruflichen Lebens der Chemie; zuerst in der Industrie, wo er Leiter einer Abteilung von Israels größtem chemischem Unter­

2. GESCH ICH TE UND EN TSTEHUN G DER S I B

nehmen war, danach in akademischen Institutionen. So begründete und leitete er das chemische Institut der Universität von Tel Aviv, wo er als Professor der Chemie 20 Jahre lang lehrte. Seine besonderen Stärken waren seine Präzision, seine Großzügigkeit, sein scharfer Geist, seine Sprachgewandtheit mit dem Talent, druckreif zu sprechen, und seine Sanftheit und sein Humor. „H is deep linguistic interest had to do with his curiosity in human expression over all. His was very strict in finding the real right word in the specific language, not just one word to make himself under­ stood. His was looking for the perfect word, for this sentences, now. Sometimes I got the impression that when he was doing his Functional Integration work (FI-work) he was exact and precise in the same way he talked. His verbal talking and his talking with the nervous system through the language of his feeling hands were really one. When he was giving his specific way of FI-work, it never was „like this or that connection in the body-system" - it should be exactly the right one in that specific moment for that specific person. And it definitely was, as every one of you, who felt his hands on his/her own body will agree. With his incredible patience and humble compassion he really touched people in the most effective way. Once he told me, that M. Feldenkrais mentioned to him: „ If I would be as patient as you are, I would prefer the way you do FI-work!"1

Wie kann Alon als Mensch und in seiner Arbeitsweise beschrieben werden? 1: Alon war Chemiker. Er war, so könnte man es formulieren, auf das fein abgestimmte Mischen von chemischen Substanzen in höchstem Maß eingestimmt. Er wusste sehr genau, dass minimale Verän­ derungen in einer Dosierung völlig andere Wirkungen erzeugten. Ihm war der Umgang mit Versuchen, richtige Dosierungen für gewünschte oder gesuchte Wirksamkeit zu erzielen, sehr vertraut. Als Forscher und erfolgreicher Chemiker musste er, neben seinem fachlichen Wissen, auch großes Gespür für unvorhersehbare Möglichkeiten, Intuition und Erfindungsgeist haben. Alon stand im Aus­ tausch mit führenden Wissenschaftler!nnen seiner Zeit. Er korrespondierte bspw. mit Albert Einstein und Sigmund Freud. Besonders wichtig war für ihn der Austausch mit Linus Pauling, einem zweifa­ chen Nobelpreisträger2 gemäß dessen jahrzehntelangen Forschungsergebnissen über vitaminreiche Ernährung sich Alon bis zu seinem Lebensende versorgte. Als Naturwissenschafter war ihm der Vorgang von „Fragenstellen", „Versuch und Irrtum“ und allen Veränderungen von Mengenverhältnissen zueinander eine kontinuierliche Herausforderung. Er orien­ tierte sich an „Wirksamkeit“ . Etwas, das im Verhältnis zu seiner Wirkung viel Aufwand benötigte, musste verbessert, verfeinert und eben wirkungsvoller werden. Er war Meister darin, Unnötiges wegzu­ lassen. Alon war ein auf große Präzision eingestimmter forschender Mensch und ein präziser

1: aus: N urit Sommer: Rede zu Alon Talmis Memorial Day in Israel, 2002. 2: 1954 für Chemie und 1956 Friedensnobelpreisträger. Sein Engagement führte zu einem ersten Verbot von Atomwaffenversuchen in der Atmosphäre.

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Analytiker. In den von ihm geleiteten Ausbildungen beantwortete er manchmal Fragen mit „Das weiß ich nicht!“ - um darüber so lange nachzudenken und zu forschen, bis er oft Monate später zu dieser Frage zurückkam, mit einer Antwort, die umfassendes Wissen beinhaltete. Einen aus dem Stehgreif gehaltenen Vortrag über die Alexander-Technik, formulierte er so präzise, dass er Jahre später ohne viele Korrekturen abgeschrieben und gedruckt werden konnte.1 2. Alon war ein überaus neugieriger Mensch. Er begegnete seiner eigenen Scheu vor Personen mit einer äußerst genauen und analytischen Weise, Individuen zu beobachten und zu beschreiben. Jede/r, die/der ihn kannte und längere Zeit mit ihm verbrachte, wusste das. Davon zeugen auch seine minuti­ ös geführten Tagebücher, die er mit einem eigenen - sehr durchdachten - Index führte, um Infor­ mationen, oft nach Jahren, wieder zur Verfügung zu haben oder zu ergänzen. So wusste er z. B. über * Ausbildungsteilnehmerinnen Details aus ihrer Lebensgeschichte, die oft zu völlig unvermuteten Fragen und neuen Kontexten und Sichtweisen im genau richtigen Moment führten. 3. Alon war ein begnadeter Pädagoge. Er entwickelte als Universitätslehrer die Gabe, Studentinnen von völlig anderen Studienrichtungen als der Chemie für dieses Fach zu begeistern. So war er bekannt dafür, dass seine Vorlesungen von Studentinnen vieler Fachrichtungen gehört wurden. Seine Art der Darstellung von Zusammenhängen begründete sich auch auf ein großes literarisches und sprachliches Wissen. Er sprach neben Hebräisch fließend Englisch, Französisch und Deutsch, konnte sich auf Italienisch gut verständigen, ebenso wie auf Polnisch und Russisch. Dazu kam ein unglaub­ lich trockener Humor, der - manchmal ausweglos scheinende - Situationen in ein Gelächter verwan­ delte und in einer Paradoxie des Augenblicks heilsam wurde. Alon verfeinerte Moshes Arbeit in Hinblick auf Lehrbarkeit, Anwendbarkeit und Effektivität. Anders als Moshe war Alon davon überzeugt, dass die Gruppenarbeit „Bewusstheit durch Bewegung“ , in welcher der/die Lernende nur verbale Anleitungen durch den/die Lehrerin erhielt, für junge, in ihren Bewegungsmustern nicht eingeschränkte Menschen und auch für solche, die durch die indivi­ duelle Einzelarbeit in „Funktionaler Integration®“ von ihren einschränkenden Bewegungsmustern befreit wurden, ein exzellentes Medium für das Bewusstwerden der Bewegungsspielräume im Körper ist. Hingegen meinte Alon, dass genau diese Art der Gruppenarbeit für andere Menschen, die unbe­ wusst ihre chronisch eingeschränkten Bewegungsmuster benützten, diese im Rahmen der Gruppenarbeit verstärken und man sich darin auch verletzen könnte. Diese Gefahr sah er vor allem in großen Gruppen.

4. Alon war äußerst empfindsam, reagierte auf ganz unmerkliche Veränderungen von Stimmlagen oder von Gesichtsausdrücken, fühlte die Atmosphäre eines Raumes, die Stimmung und das eigentli-

1: Dieser Vortrag erschien in der Zeitschrift für Körperpsychotherapie H eft 19 und 20, 1999, Hrsg.: C. u. G. Bartuska, Wien

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che „Fragenfeld“ . Er hatte eine große Geduld und Stille in der Arbeit. Seine ganze Aufmerksamkeit galt im Unterricht dem/der Behandelten. Seine Gegenwärtigkeit und die geduldig führenden Hände erzeugten ein spezielles Wirkungsfeld, in das bald alle im Raum miteinbezogen wurden. Während des Arbeitens an einer Person fühlten sich viele Teilnehmerinnen im Raum auch selbst „behandelt“ . All dies bewirkte einen abwechslungsreichen, spannenden und sich aus vielfältigen Quellen nährenden Unterrichtsstil.

2. 2. 2. Alon und Moshe - Weggefährten und Konkurrenten Als Alon mit Moshe Feldenkrais in Kontakt kam, war er inmitten einer wissenschaftlichen Karriere. Die beiden trafen sich 1949, als Alon in wissenschaftlicher Mission für das Land Israel in Paris war. Moshe und er wurden bald nahe Freunde.1 In eines seiner Bücher, die Moshe an Alon schickte, schrieb er die Widmung: „Für meinen Freund Alon Talmi, dessen Gespräche mir für die Klärung mei­ ner Gedanken weit mehr geholfen haben, als ich zuzugeben bereit bin. " Alon trug wesentlich dazu bei, dass Moshe zurück nach Israel kam und dort erfolgreich Alons Bruder behandelte.2 1968 begann Feldenkrais sein erstes Training in Tel Aviv. Alon war einer der zwölf „auserwählten“ Teilnehmerinnen. Feldenkrais wählte sechs Männer und sechs Frauen, die aus verschiedenen Beru­ fen, Altersgruppen und sozialen Hintergründen kamen, um herauszufinden, ob seine Lehrmethode von allen gleichermaßen angenommen werden konnte. Alon war der älteste und renommierteste Wissenschaftler. Eli Wadler war der jüngste und damals als Physiotherapeut tätig.3 Moshe war Alons Hauptinspirator, aber Alon hatte auch hunderte von individuellen Sitzungen mit Alexander-Lehrerinnen, Rolferinnen, Reflexologlnnen, Akupunkteurlnnen und anderen. Er hatte selbst Klientinnen in Israel, den USA, Deutschland, Österreich, der Schweiz und England, leitete Trainings in Israel, den USA, Deutschland, Österreich und Italien. Anders als Moshe und die meisten seiner Schülerinnen lehrte Alon die individuelle Arbeit („Funk­ tionale Integration“) in kleinen Gruppen von acht bis 16 Schülerinnen. Wesentlich dabei war, dass jede/r einzelne Schülerin persönlich Alons Arbeit am eigenen Körper erfahren konnte und unter seiner besonderen Supervision stand, wenn sie/er an anderen Schülerinnen oder später an Klientinnen zu arbeiten lernte. Zusätzlich „behandelte“ auch jede/r Schülerin Alon und bekam seine Rückmeldungen.

1: S. dazu: „F irst Encounters with Feldenkrais; A Reminiscence“, in: Somatics, 4 (1 ), 6 0 -6 1 , 1980; s. Übersetzung im Buch. 2: S. dazu: Talmi, Alon: „Functional Integration in psychiatric treatment", in: Somatics, 3 (2), 4 8 -4 9 , (1981, Spring/Summer); s. Übersetzung im Buch. 3: N urit Sommer absolvierte ihre zweite Feldenkrais-Ausbildung bei ihm.

Moshe Feldenkrais und Alon Talmi

Alon legte großen Wert auf die Wichtigkeit einer präzisen wissenschaftlichen Formulierung der Prinzipien, welche in dieser „Technik“ Verwendung finden, obwohl er die große Bedeutung der Intuition für diese Arbeit nie unterschätzte. Er hatte das Material zusammengefasst, das er von Feldenkrais und anderen Lehrerinnen lernte, und entwickelte daraus und aus seinen eigenen Forschungen und Erkenntnissen sogenannte „Berührungslektionen“ . Jede dieser Lektionen befasst sich mit dem ganzen Körper der behandelten Person, lenkt aber die Aufmerksamkeit jeweils auf einen speziellen Aspekt der körperlichen Muster in einzelnen Körperteilen der Klientinnen. Alon wurde zum Rektor der Universität von Tel Aviv berufen, als er das erste Training bei Moshe Feldenkrais absolvierte und war damals, als er in die Arbeit mit und von Moshe einstieg, ein renom­ mierter, anerkannter Wissenschaftler. Er erlernte die Grundlagen der Arbeit von Moshe und ging dabei - wie es seine Gewohnheit war forschend vor. Alon wollte damit keinerlei Karriere machen, sondern die Wirksamkeit dieses Vorgehens ergründen und vertiefen. In gewisser Weise war Feldenkrais selbst - als Person - ein Forschungsprojekt für ihn. Moshe Feldenkrais seinerseits bemühte sich, dass dieser neue Weg des Lernens anerkannt, bekannter und seinem großen Wert entsprechend - vor allem in der medizini­ schen wissenschaftlichen Welt - wahrgenommen wurde.

Alon erzählte, dass er sich im ersten Training von Moshe über folgende Fragen minutiöse Aufzeichnungen machte: • Welche Anwendung wirkt tatsächlich? • Bei wem und unter welchen Bedingungen? • Gibt es so etwas wie Wiederholbarkeit? • Welche Voraussetzungen gibt es? • Was sagt, zeigt und lehrt Moshe einem „Modell“? • Welche Meinung hat der/die Behandelte darüber im Anschluss an die Stunde? • Was erlebt er selbst dabei als Beobachter und als Teil des beobachteten Vorgangs? • Gibt es so etwas wie den „Moment von Wirksamkeit“? Aus all diesen Fragestellungen und Aufzeichnungen begann Alon selbst zu experimentieren. Er baute viele Berührungslektionen, die in Hinblick auf die Wirksamkeit sehr gut strukturiert, man könnte sagen, „mit den Händen ganz klar formuliert“ , und auch lehrbar sind.

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2. GESCHICHTE UND EN TSTEHUN G DER S I B

2. 2. 3. Alons Lektionen und die Prinzipien der S I B Die Lektionen sind so aufgebaut, dass sie die Grundbedingungen schaffen, einen Menschen und sein Nervensystem auf neue Lernvorgänge einzustimmen und sie ermöglichen, einen sogenannten „soma­ tischen Dialog“ (W. Kraus). Die Lektionen erlauben durch klare Bezugnahme auf die körperlichen Fragestellungen ein genaues Empfinden der Lösungsmöglichkeit. Schritt für Schritt gestalten die füh­ renden Hände das Bewusstwerden von mehr Beweglichkeit. Alon hat ein spezifisches didaktisches und auch sehr systematisches Konzept entwickelt, um diese Arbeit überhaupt unterrichten zu können. Er schaffte Kriterien und Referenzrahmen für ihre Anwendbarkeit. „Diese Lektionen stellen keine starre Struktur dar und müssen sich, da jeder Mensch verschieden ist, den individuellen Bedürfnissen anpassen. Durch Veränderungen der aufgewendeten Kraft, der Dauer und der Richtung, durch Weglassen einiger Elemente und das Dazunehmen von anderen kann und soll eine Lektion den jeweiligen Mustern und (Fehl-)Haltungen des Klienten/der Klientin angepasst werden und ihm/ihr eine angemessene Art der Bewegung lehren bzw. ihn/sie aus der Fehlhaltung her­ ausführen. Auch die Kombination der verschiedenen Lektionen ist auf die jeweilige Person und ihre Bewegungsmuster abgestimmt.“ (Alon Talmi im Text zu den Videos.) Die Bedeutung dessen, was Alon in seinen Lektionen kreierte und fand, wird besser verstehbar, wenn man weiß, wie komplex, vielschichtig und wechselseitig der Vorgang von Wahrnehmung, Muster­ unterbrechung und -neufindung von Bewegungsabläufen, von Denk- und Handlungsweisen verläuft.1 Einige von Alons Lektionen haben Nummern, andere tragen den Namen von Personen, für die sie entwickelt wurden. Alon benötigte für die Klärung einer Fragestellung wenige Behandlungseinheiten, weil die Lektionen so gebaut wurden, dass ihre nachhaltige Wirksamkeit bald einsetzt. Er arbeitete dafür aber pro Ein­ heit länger - eineinhalb, manchmal auch zwei Stunden. Die Lektionen sind für das Erlernen der Me­ thode gleichermaßen gedacht wie für die individuelle Körperarbeit mit den Klientinnen. Sie ermögli­ chen zunächst durch ihre Wiederholbarkeit im Ablauf, die verschiedensten Halte- und Fixierungs­ gewohnheiten von den Menschen, mit denen man die Lektionen ausführt, kennenzulernen. Gleichzeitig erwirbt ein/e Klientin oder ein/e Schülerin der Methode Wissen durch das Spüren, wie diese Strukturen und Funktionen individuell genutzt werden können. Das beinhaltet auch eine große Palette des Kennenlernens von „Verstellungen“ , „Missverständnissen“ und unnötigem Kraftaufwand

1: S. Publikationen zu Feldenkrais, Literaturliste

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in der Verwendung der einzelnen Körperteile. Erfahrbar wird in welchen Teilen des Körpers oberfläch­ lich „Freiheit“ , Beweglichkeit, Empfindsamkeit fühlbar ist, und wo in der Tiefe jedoch große Span­ nung von Teilen der Muskulatur, tatsächliche freie, d. h., der Anatomie gemäße, Bewegung verhin­ dert. Sehr oft stellen sich Verbindungen zu weit entfernten Körperstellen her, die fundamental an einer Spannung oder einem Halten beteiligt sind. Durch die Vielfalt an Fragemöglichkeiten, die in den komplexen Lektionen für die verschiedensten Körperteile angelegt sind, lernt ein/e Klientin und/oder ein/e Schülerin sich zu orientieren und selbst gut im Körper zu organisieren, um aus dem bekannten, gewohnten Bewegungsrepertoire, das oft schmerzhafte Auswirkungen hat, zu Verbesserungen dieser Gewohnheiten zu führen. Dazu bedarf es einer fein abgestimmten Empfindungs- und Wahrnehmungsschulung, deren Grundlage in den Lektionen liegt.

Drei Aspekte der Lektionen: Nonverbaler Dialog, Atmung, Prinzip der äußeren Kraft. 1. NONVERBALER DIALOG Die Hände führen einen nonverbalen Dialog. Sie sprechen mit dem ganzen Menschen auf eine Weise, die tief im Nervensystem „verstanden“ wird. Sie werden nicht müde, auf verschiedenste Weise ihre Impulse zu wiederholen. So lange, bis der Mensch gelernt hat, dass diese Variante der (Un-)Beweglichkeit schädigend war und sich auch auf andere Teile des Organismus negativ auswirkt. Gleichzeitig werden die neuen Bewegungsmöglichkeiten fühlbar und als für das Nervensystem ange­ messener erkannt. Damit werden die alten Muster in ihrer Ausschließlichkeit unterbrochen und Ideen für eine neue Haltung gegeben. Dafür braucht es viel Geduld und es entsteht oft ein Prozess der Ambivalenz zwischen dem alten, aber vertrauten (Schmerz-)Bewegungs-Muster und dem neuen, noch unvertrauten Bewegen. Ambivalenz, Unterbrechung des Gewohnten sind Voraussetzung für die Veränderung. Diese wird mit den Händen geführt, manchmal verbal begleitet und oft entladen sich dahinter liegende Emotionen. Die Hände geben Erlaubnis, halten den Rahmen klar, gewähren Respekt und begleiten mit Akzeptanz und Milde. Langsam, behutsam und sicher führend, begleiten die Hände in diesem Dialog, bis das Nervensystem die möglichen Erschütterungen, den „Wirbelsturm“ oder den „sanften Regen“ , den „Vulkanausbruch“ oder die Erinnerung an tiefen Schmerz oder einfach nur den tiefen Atem wieder freigeben kann.

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2. GESCHICHTE UND EN TSTEHUN G DER S I B

Vorbereitende Berührungen und Bewegungen zur sog. 11. Kompression

Die Beweglichkeit vom Kopf in Beziehung zu Hals- und Brustwirbelsäule wird erkundet durch sanften Druck und seitli­ ches Rollen des Kopfes.

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Wichtig dabei ist, dass „Kontrolle“ in einer Weise erfahrbar wird, die mit Bewusstheit des/der Klien­ ten/in gekoppelt ist und wissen lässt: „Ich verliere mein altes Muster nicht, ich lerne nur ein neues dazu. Jetzt ahne ich den Weg, habe die Wahl, bin nicht mehr Opfer meiner Gewohnheiten. Das Neue, Unbekannte darf dazukommen, darf vielleicht mehr werden und wird weniger schädigend für mich sein. Es macht freier, vielleicht auch spielerischer und natürlich beweglich. Es zeigt mir neue Möglichkeiten des Fühlens und Handelns.“

2. ATMUNG Der Atmung wird in der S I B viel Aufmerksamkeit gegeben. Sie ist zentrale Lebensfunktion und steu­ ert Lebenskraft, Bewegungs- und Haltungsgewohnheiten und ist damit für alle Prozesse der Schulung von Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit von essentieller Bedeutung.1 Durch unsere Geburt und den damit verbundenen ersten Atemzug erfahren wir gleichzeitig auch die Wirkung der Schwer­ kraft und damit unseres Körpers auf der Erde. Bis zum Erlernen des Gehens durchläuft ein Kind eine sehr komplexe Organisation zwischen den Muskeln, die für die Atmung, für die Stabilität und für die Mobilisierung nötig sind. In den damit verbundenen Erfahrungen bilden sich bereits Gewohnheitsmuster und „Selbstgebrauch“ heraus. Störungen dieser Abläufe führen oft später zu Einschränkungen der Möglichkeiten, die von den Funk­ tionen zwischen Lunge und Zwerchfell, Brustkorb und Lenden- bzw. Bauchbereich und Beckenboden gegeben sind. Natürlich wirken sich auch spätere Schockerfahrungen, Unfälle, psychische Traumata u. a. in ihrer Auswirkung oft nachhaltig, viele Körperteile unbewusst einschränkend, aus. Die Erinnerung an ursprüngliche Atemweisen trägt ein Mensch oft Jahrzehnte lange ungeahnt noch in sich. Damit arbeitet SIB. Der Atem ist vor allem die wunderbare Verbindung zwischen der Innen- und Außenwelt.

1: S. dazu: Ilse M iddendorf (1992); Der erfahrbare Atem. Eine Atemlehre, Junfermann Verlag

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Rainer Maria Rilke fasst in seinen Sonetten an Orpheus auf poetische Weise zusammen, was sich über den Atem sagen und - jenseits des Verstehens - erfassen lässt:

„Atem, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren Allmähliches Meer ich bin; Sparsamstes Du von allen möglichen Meeren, Raumgewinn ...“ 1 In den meisten Therapiemethoden, in den Kampfkünsten, in allen asiatischen Bewegungslehren wird dem Atem besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Unzählige Atemtechniken und -schulen werden gelehrt. Für die S I B hat der Atem besonders im oben erwähnten Sinn des „Raumgewinns“ Bedeutung und lässt sich am besten beschreiben mit dem japanischen Wort „ikioi“ , einem Wort, das „Haltung“ oder wörtlich übersetzt „die Form, in der der Atem steht“ heißt. Darin kommt die Verbindung von Körper­ haltung und den Gewohnheiten des Atmens, die diese mitsteuern, zum Ausdruck. Im ersten Kontakt mit einem/einer S I B-Klientln wird sowohl der Körperhaltung als auch der Verbindung zum Atem viel Aufmerksamkeit geschenkt. „Meisterschaft im Atmen führt zur Meisterung von Emotionen. Eine Person, die ängstlich ist, atmet flach und schnell. Eine Person, die ruhig ist, atmet tief und langsam. Es ist schwierig, Emotionen direkt zu beeinflussen, aber durch die Schulung des Atems kann man Stabilität und Perspektiven sogar während Krisensituationen bewahren. Normalerweise atmet eine Person zwischen zwölf und 18 Mal pro Minute2 und nur mit einem kleinen Teil ihrer Lungenkapazität. Die Atemfrequenz muss redu­ ziert und das Atemvolumen vergrößert werden. Die Aufmerksamkeit sollte darauf liegen, die Ausatmung lang und gleichmäßig werden zu lassen. Die Einatmung sollte natürlich, von selbst auftreten. Wenn die Ausatmung vollständig ist, wird die Lunge mit Luft gefüllt, wie Wasser eine Tropfvorrichtung füllt, wenn ein Tropfen abgefallen ist. Atmen sollte vom Hara (dem Energiezentrum ca. 2 cm unterhalb des Nabels) aus erfolgen, das heißt, dem Teil des Körpers, der aus Bauchraum, Hüften und Lendenwirbelsäule besteht.

1: R. M. Rilke (1974): Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, Insel Taschenbuch 80. 2: Diese Atemfrequenz erscheint ein wenig hoch gegriffen.

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2. GESCH ICH TE UND EN TSTEHUN G DER S I B

Physiologischerweise synchronisiert tiefes und ruhiges Atmen die Körperfunktionen, sodass ein Maximum an Arbeit mit einem Minimum an Aufwand bewältigt werden kann. Metaphysisch synchro­ nisiert es dein Wesen mit den Schwingungen des Universums.“ 1 Wir lenken in der S I B kontinuierlich unsere Aufmerksamkeit auf die Art und Qualität des Atems, sowohl bei uns selbst als S I B-Pädagoglnnen als auch bei unseren Klientinnen. Der/die Behandler/in stellt im Rahmen der Behandlungsfolgen Fragen in Form von sanften Manipulationen, durch Druck, Zug, Rotation und deren Kombinationsbewegungen, und der/die Klient/in antwortet muskulär - durch Bewegung, Entspannung oder Atem. Für den/die Behandlerln ist die Atmung die wichtigste Form der Antwort auf die im nonverbalen Dialog gestellten Fragen der Hände. Auf eine Atemreaktion wird oft lange gewartet, teilweise 20 Sekunden oder länger. Bleibt sie aus, war die Manipulation entweder zu sanft und zu klein, sodass sie von dem Klienten/der Klientin nicht als Frage „verstanden“ wurde, oder die Empfindsamkeit war noch zu gering, sodass diese „Frage“ noch nicht wahrgenommen werden konnte, um darauf Antwort geben zu können. Eine andere Variante könnte sein, dass die Manipulation zu stark war, der/die Klientin Schmerz emp­ findet und deshalb den Atem anhält, bis er wieder vorbei ist. Möglich ist auch, dass der/die Klientin eingeschlafen ist. Dagegen wird der/die Behandlerln nichts tun, denn die Klientinnen reagieren auch schlafend, nur benötigt das mehr Zeit. Wir arbeiten mit verschiedenen behutsamen Bewegungen, um die Atmung ins Bewusstsein zu holen und ihre Gewohnheit zu entschlüsseln. Diese werden bereichert durch neue Möglichkeiten des Atmens. In diesen Prozessen suchen wir möglichst alle für den Atem zuständigen Bereiche des Körpers anzuregen und eine umfassende Atemweise zu etablieren. Wir sprechen dabei von einer sog. „globalen Atmung“2. Vor allem in der jeweiligen eine Behandlungseinheit beendenden Sequenz sind wir sehr bedacht, dass der Atem tief und entspannt fließen kann. Dabei entstehen grundlegende Erfahrungs- und Veränderungsprozesse. Ist der Atem neu erfahrbar und integriert, so beginnt eine gewohnte Körper- oder innere Haltung sich „nachhaltig“ aus alten Gewohnheiten zu befreien und zu verwandeln.

1: William S. Leigh (1994): Bodytherapy®, Unterrichtshandbuch, S. 3 2: Der Begriff „globale A tm ung" wurde von Alon Talmi geprägt.

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3. PRINZIP DER ÄUSSEREN KRAFT Ein sehr wichtiges Prinzip in Alons Lektionen ist das „Prinzip der äußeren Kraft“ . Dieses besagt, wenn äußere Kräfte die Arbeit verspannter Muskeln tun, können diese sich entspannen. Das Prinzip folgt dem sogenannten Weber-Fechner’schen Gesetz, bei dem Reiz und Reizreaktion auf einem logarithmischen Verhältnis basieren. Ein Mensch mit großer muskulärer - manchmal chronisch gewordener - Anspannung braucht ein höheres Maß an „äußerer Kraft“ für das Spüren und Lösen dieser Spannung. Es handelt sich dabei um äußere Kraft vom Standpunkt des/der Behandelten, zu der auch die Schwerkraft zählt, mit der in dieser Methode viel gearbeitet wird.

2. 2. 4. Zusammenfassung von Alons Arbeit Alon Talmi und Moshe Feldenkrais waren zwei sehr unterschiedliche Forschertypen, die einander begegneten, bereicherten und die sich auch wieder voneinander trennten und wahrscheinlich trennen mussten, um das jeweils Eigene entwickeln zu können. Heute können wir diese beiden Zugänge zusammenführen. Je freier wir selbst im Umgang mit diesem Wissen werden, je mehr eigene Nuancen durch tiefe Auseinandersetzung mit den verschiedenen „Materialien“ wir zu unserer Arbeit hinzufügen können, desto besser werden wir Menschen und ihre (inneren) Haltungs- und Bewegungsmuster verstehen lernen. Moshe Feldenkrais hat gesagt: „Ein Genie ist einer, der die Prinzipien einer Disziplin nehmen und in einer anderen anwenden kann.“1 Dies tat Alon mit der Entwicklung seiner Lektionen. Er nutzte sein Wissen aus der Chemie, der feinstofflichen Zusammensetzung, um sie auf das Arbeiten am menschli­ chen Körper mit Hilfe des organischen Lernens zu übertragen. Diese Prinzipien lernte er bei Moshe Feldenkrais, der diese wiederum aus dem Wissen der Chassidim und vielen anderen Quellen, wie z. B. der Kampfkunst des Judo, entwickelte. S I B, wie sie von Nurit Sommer und Gudrun Schreiner entwickelt, gelehrt und praktiziert wird, beruht auf diesem Wissen und basiert auf dem Weiterforschen, den Praxis- und Lehrerfahrungen und vielen eigenen Entwicklungsschritten.

1: S. dazu: David Kaetz (2007): Making connections. Hasidic Roots and resonance in the teachings o f Moshe Feldenkrais, River Center Publishing, S. 95

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2. GESCHICHTE UND EN TSTEHUN G DER S I B

Illustration der sog. 11. Kompression: Der Kopf wird sanft angehoben, sodass der Hinterkopf leicht überstreckt ist, dann erlaubt sanf­ ter Druck beider Hände auf der Stirn eine Öffnung der Brustatmung.

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Dies geschieht im Kontext mit vorange­ gangenen, hier nicht gezeigten Interven­ tionen. Hier sinkt der Nacken durch ganz spezielle seitliche, streichende und sanft ziehende Bewegung mit Hilfe der Schwerkraft und verlängert die Halswirbelsäule.

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Die damit verbundene Atmung bewirkt oft sehr tiefe Entspannung und innere Aufrichtung.

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2. 2. 5. Nurit Sommer begegnet Alon Talmi Mein Wissen über Alon Talmi bezieht sich auf eine 14-jährige Freundschaft, die sich im Anschluss an meine Ausbildung und nachfolgende Assistenztätigkeit bei ihm entwickelte. Unzählige Gespräche, häufige Treffen in unserem Haus in Wien und Besuche bei ihm in Tel Aviv und Herzeliya - dort lebte er in den letzten Jahren seines Lebens im Beth-Protea-Haus - ergänzen die Erfahrungen. Ich telefo­ nierte viele Jahre mindestens zwei Mal wöchentlich mit ihm, half ihm bei der Publikation seiner Artikel: „5 Frauen“1 und über die Alexander-Technik. Ich reiste mit ihm zu diversen einschlägigen Kongressen und Veranstaltungen, wurde Zeugin der wunderbaren Freundschaft zwischen Alon, Dub Leigh und Audrey Nakamura - den Begründerinnen der „Zen Bodytherapy®“ - die sich in unserem damaligen Wiener Haus über ihre Arbeitsweisen in einer von einzigartigem Respekt, Humor und Neugierde gegenüber einander geprägter Atmosphäre gestaltete. 1991 erklärte sich Alon bereit, seine Lektionen auf Video aufzunehmen, um sie als Dokumentation seiner Arbeit auch nachfolgenden Generationen zugänglich zu machen. Diese Videos organisierte ich. Er arbeitete daran - im Alter von 78 Jahren - gemeinsam mit mir insgesamt 14 volle Tage. Er demonstrierte nicht nur fast alle seine Lektionen, er bestand auch darauf, sie anschließend im Studio in tagelanger Sichtungsarbeit zu kommentieren, damit die Intimität der Behandlungen nicht gestört wurde. Diese Videos sind eine wunderbare Quelle seines Schaffens. Weiters zählen zur Dokumentation seiner Arbeit auch viele - derzeit unveröffentlichte - Briefe, die Alon mir in seiner Genauigkeit geschrieben hat. Er sagte mir einmal auf meine Frage, was seine Motivation für die Entwicklung der Lektionen war, halb im Scherz: „Weißt du, in Israel hatten die Menschen wenig Geld und wenig Zeit. Also musste ich einen Weg suchen, mit meiner Arbeit beiden Tatsachen gerecht zu werden. Voila! Das sind die Lektionen!“ Meine „Reise“ mit Alon begann bezeichnenderweise auf einem Bahnhof: in Florenz. Dort holte er mich gemeinsam mit Batya Schwartz, die unsere Ausbildung in Poci/Toskana organisierte, ab. Wir beschlossen, als Erstes einen Rundgang durch Florenz zu unternehmen. Bald landeten wir vor den Skulpturen von Michelangelo Buonarotti und ich - als gelernte Kulturanthropologin und Kunst­ historikerin im Nebenfach - begann mit viel Feuer über diesen großen Künstler zu erzählen. Ich stell­ te Zusammenhänge zu vielen seiner Werke her, bemühte mich, alles Interessante aus seiner Lebens­ geschichte aus meinem Gedächtnis hervorzuholen, und freute mich über diese wundervollen Skulpturen, die ich auch schon früher gesehen hatte.

1: 5 Frauen. Wie individuelle Feldenkraisarbeit hilft, psychologische Probleme zu lösen, in: H. Milz, M. Varga v. Kibed: Beseelter Leib, verkörperter Geist

Alon erzählte mir später, dass er während meiner kunsthistorischen Ausführungen auch meine Bewegungen und meine Körperhaltung genau studiert hatte. Die Fragen, die er sich stellte, bezogen sich auf die Ursprünge meiner damaligen mich klein machenden Körperhaltung. Er fragte mich über meine Familie, meinen Werdegang, über meine Beziehungen, mein Studium. Er stellte mir sehr per­ sönliche Fragen, die mich erstaunten. Ich erinnere mich noch sehr genau an die so einfache, aber sehr wohl überlegte Art seiner Fragen, die er mit seiner sonoren Stimme in einem wunderschönen Deutsch stellte. Mit Batya sprach er Englisch und wechselte mühelos zwischen den Sprachen. Mit dem Ober, der uns im Cafe bediente, sprach er dann auf Italienisch. Sprache war für Alon fundamental. Für ihn war es wichtig, sich in einer der vielen Sprachen, die er konnte, so ausdrücken zu können, dass auch feine Zwischentöne und Differenzierungen möglich waren. Genauso erlebte ich seine Art der Berührung in seiner Arbeit mit den Fländen, die er lehrte. Alon war ein guter Freund, der mich während seines Lebens uneingeschränkt unterstützte und mir für alle Fragen der Arbeit jederzeit zur Verfügung stand. Er war aber auch mit meiner Familie sehr ver­ bunden. Seine Aufmerksamkeit richtete sich später auch auf Simon, unseren Sohn. Alon sah es für wichtig an, dass Kinder in einer ganz natürlichen Weise aufwuchsen. Er wiederholte, dass es bedeut­ sam sei, vor allem Kinder im Verlauf ihres Aufwachsens regelmäßig zu behandeln, um ihnen gröbere Haltungseinschränkungen zu ersparen und sie zu ihren Ressourcen zurückzuführen. Ich verdanke ihm viel - vor allem die große Freiheit, meine eigenen Wege mit seiner Arbeit erforschen und finden zu können, wach und neugierig zu bleiben und darin auch von seinem Lebenswerk auszu­ gehen. Sein großes Vertrauen, seine Liebe zu dieser Arbeit und die Stille und Geduld, mit der er sie tat, haben mein Tun sehr geprägt. Ich habe mich mit großer Dankbarkeit von ihm verabschiedet und glaube, dass seine Arbeit, die er zur Weitergabe in meine Hände gab, in der S I B respektvoll und in seinem Sinn weitergeführt wird!

„The ship of my life Is moving lightly On the sea of wonder On waves of yearning; A dreaming lad holds the helm And there is a group of musicians on deck.“ (Alon Talmi, 1997)

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3. GRÜNDUNG VON S I B

3. GRÜNDUNG VON S I B 1991 wurden der Name, die Methode und das Institut für Systemische und Integrative Bewegungslehre, S I B, von Nurit Sommer und Gudrun Schreiner gegründet. Gudrun Schreiner, systemisch ausgebildete Psychotherapeutin, wirkte in der ersten Ausbildung als Assistentin mit dem Auftrag der psychotherapeutischen Begleitung der Gruppe mit und ab der zwei­ ten Ausbildung lehrten Nurit Sommer und Gudrun Schreiner gemeinsam. Im Laufe der Jahre wurde das S I B-Ausbildungscurriculum weiterentwickelt und durch die Erfahrun­ gen und Reflexion in den Ausbildungen angepasst und erweitert. Wesentlich war dabei, individuelle Prozesse zu ermöglichen, aber auch „Gruppenlernen“ . Beides musste in stabilisierende Verarbei­ tungsprozesse geführt werden. Die Freude und Intensität des Suchens, intensiver Dialog aus unter­ schiedlichen Zugangsweisen und Persönlichkeiten, ständiges Verbessern und Feinabstimmen kenn­ zeichneten die Aufbaujahre.

Das Ziel des S I B-Curriculums ist, die nötigen Grundlagen der Körperwahrnehmung zu lehren: • mit den vielen verschiedenen Zugängen zu Berührung und Bewegung • mit den Strukturen der Lektionen • mit den eigenen Entschlüsselungs- und Muster-UnterbrechungsVorgängen der Lernenden • mit der nötigen Offenheit für beständiges Weiterlernen • mit einer immer wieder aufs Neue nötigen Rückkopplung zu Eigenerfahrung und Integration der Lernenden • mit der Aufgabe, kinästhetisch Empfundenes und Erspürtes auch entsprechend zu formulieren • mit einem guten Maß an wissenschaftlichen (neurophysiologischen/anatomischen/ psychologischen und systemtheoretischen) Grundlagen • mit der Erlernen systemischer, ressourcenorientierter Sprache und Interventionstechniken • mit einer kontinuierlichen Hinführung zu lebenslangen, lustvollen Möglichkeiten des Lernens, Umdenkens, Neuschöpfens und Muster- und Kontexterweiterns und mit all dem eine Bewusstheit für Prävention und Gesundheitsförderung zu schaffen.

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3. 1. Rückblick von Nurit Sommer 3. 1. 1. Auslösende Impulse ... ... als Ethnologin Als Kultur- und Sozialanthropologin habe ich bei meinen Feldstudien im Norden von Pakistan und in Südostasien Prägendes gelernt. In meine pädagogische Arbeit - zuerst über außereuropäische Kulturen, später in der Entwicklung der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre®, S I B - ist vieles davon eingeflossen, vor allem wesentliche Prinzipien des Lernens, die so anders waren als das Lernen in europäischem Kontext. Für die Klärung meiner diesbezüglichen Gedanken hat mir ein Artikel des Kultur- und Sozialanthropologen Tirmiziou Diallo zum Verständnis sehr geholfen.1 Die von ihm herausgearbeiteten Prinzipien des Lernens sind: Wertneutralität, Unvoreingenommenheit, Vernetzung, Weitergabe von Werten in handlungsorientierter Weise und eine Vorstellung vom Menschen als von Beginn an vollständiges Wesen. Ich habe erfahren, dass ich als Europäerin als „Gleich-Wertige“ , man könnte sagen, „Gleich-Gültige“2 angesehen wurde, obwohl ich viel Unwissen über traditionelle Werte und Umgangsweisen mitbrachte. Mir wurde niemals ein Verhalten aufgezwungen. Ich wurde auch nicht beschämt, wenn ich mich nicht ganz dem Verhaltenskodex entsprechend verhielt. Es gab keine Vorstellung davon, dass ich mich verbessern oder „entwickeln“ müsste. Ich habe gelernt, dass ich als Teil der Gemeinschaft mit allen anderen in Verbindung stehend betrachtet wurde und Teil des ganzheitlichen Geschehens der Gemeinschaft war. Ich existierte nicht isoliert und unabhängig von anderen oder vom Geschehen der Gemeinschaft, sondern lebte bezogen darauf. Ich habe gelernt, dass es Philosophie im Sinne einer praktischen Anleitung für den unmittel­ baren Umgang von Menschen untereinander und in der Beziehung zur Umgebung, zur Umwelt oder Außenwelt geben kann. Das geistige Wissen hatte sozusagen einen praxisbezogenen Handlungs- und Orientierungskodex. Danach wurden auch Kindern in der Gemeinschaft Werte vermittelt. Sie wurden nicht „erzogen“ , son­ dern begleitet. Da es keinen Begriff, kein Wesen gab, das „Böses“ verkörperte, konnte auch kein Kind „böse“ sei; ebenso wenig wie es „als unbeschriebenes Blatt“ auf die Welt kam, sondern als vollstän­ diges Wesen, das an das eigene Bewusstsein und an seinen (vorgeburtlichen) Ursprungsgrund von Erwachsenen erinnert und darin bestärkt werden sollte.3

1: Tirmiziou Diallo: Traditionelle Erziehung bei den Fulbe in West-Afrika. Reflexionen zum Phänomen der Globalisierung. S. 123-136. 2: ebenda; 3: ebenda

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All diese Erfahrungen haben es mir ermöglicht, mit Schülerinnen, die an unseren damaligen muse­ umspädagogischen Projekten im Rahmen des „...lebenden museums...ethnologie...“ teilnahmen, das ich damals1 mitbegründete, in einer diesen Prinzipien folgenden Weise umzugehen. Die begleitenden Lehrerinnen versicherten uns, dass in dieser Arbeit in vielen Kindern bis dahin nicht gekannte Ressourcen auftauchten, dass diese Seiten von sich zeigten, die überraschend und oftmals auch sehr berührend waren. Manche Lehrerinnen kamen immer wieder mit verschiedenen Klassen, weil sie lernen wollten, wie wir das machten.

„Lernen heißt für mich das Unbekannte zu begreifen“ (M. Feldenkrais) Viele dieser Prinzipien fand ich später in den Büchern von M. Feldenkrais im Kontext seiner Methode, beim Erlernen der „Lektionen“ bei Alon Talmi und später auch in der interkulturellen syste­ mischen Familientherapieausbildung bzw. in Prinzipien des Aufstellens wieder.

... als Schülerin von Alon Die schlichte Eindrücklichkeit der von Alon gefundenen Lektionen und ihre Wirkung auf mein Dasein (siehe dazu: Artikel A.Talmi: 5 Frauen, in: Milz, Kibed) waren für mich „revolutionär“ . In nicht ganz zwei Stunden wurde mein ganzes Wesen aus den psychisch hemmenden Anteilen, die sich körperlich in meiner mich ständig klein machenden Haltung niedergeschlagen hatten, nachhaltig gelöst. Ich war verwandelt, aufgerichtet, mit klarer Perspektive und mit überraschter Freude anwesend. Mein Handeln war unkompliziert und leicht geworden, keine störenden Gedanken hinderten es mehr. Das Erstaunlichste daran war für mich die Tatsache, dass dies ohne ein gesprochenes Wort geschah. Die führenden Hände, die ganz genau wussten, welche Körperteile in bessere Beziehungen zueinan­ der geführt werden sollten, die klare Grenzen und gleichzeitig liebevollen Halt gaben, „sprachen“ mit mir in diesem konstanten, nonverbalen Dialog. Sie fragten, regten an, zeigten auf, beruhigten, erlaub­ ten, schützten und vermittelten etwas ganz Spielerisches und Leichtes, das sich nach und nach in mein Wesen einschrieb, mich erinnerte und aufforderte, diesem Spüren mehr und mehr Raum zu geben, um die Verwandlung zu erlauben. Nach dieser beeindruckenden Behandlung erlebte ich während meiner Ausbildung bei Alon ein „Landen im Körper“ . Ich fühlte, WIE mein gesamter Organismus organisiert war, sah nach den ver­ schiedenen Körperlektionen ganz klar die Struktur meines Skeletts vor mir, ich konnte Musik völlig

1: Diese Projektgruppe arbeitete in den frühen 1980er Jahren, einer Zeit, in der in Österreich museale Vermittlungsarbeit für Kinder und Jugendliche so gu t wie noch nicht existierte. Z iel war qualitätsvolle, den damaligen neuesten Erkenntnissen über das Lernen entsprechende Arbeitsweisen zu entwickeln. Diese hatte ich durch Aufenthalte im Amsterdamer Tropenmuseum, aber auch an verschiedenen skandinavischen und deutschen Museen kennengelernt.

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neu hören und empfand wie meine Knochen dabei „mitschwangen“ und die Klänge weiterleiteten; ich empfand, wie sich „Aufrichtung“ und „Erdung“ anfühlte; ich hatte ein ganz klares und tiefes Empfinden für das „Eingebundensein in alles Lebendige“ , fühlte mich verbunden mit den Menschen und doch sehr gut und klar abgegrenzt. Ich empfand ein ungeahntes Ausmaß an Lebenskraft, ein Potenzial, das ich jederzeit wählen und richten konnte.1 Mein Grundgefühl war Lebensfreude ohne „Wenn und Aber“ .

... als Assistentin Aus der eigenen Erfahrung wollte ich die nachhaltig wirkenden Lektionen bekannt machen. Ich habe die Arbeit einerseits mit Herz und Körper gefühlt (besser wäre es vielleicht zu sagen, dass sie mich zutiefst berührt hatte!), aber ich wollte auch verstehen, wie das eigentlich funktioniert. Ich war wis­ senschaftlich geschult, jung, neugierig und meine Begeisterung führte mich. Daher fragte ich Alon, ob er seine Ausbildung auch in Österreich anbieten würde. Er stimmte unter der Bedingung zu, dass ich ihm assistierte. Ich stimmte nach kurzem Zögern zu. Ich habe als Assistentin vertieftes Wissen zu den Lektionen und ihren Demonstrationen erhalten und den Wert der stillen Gegenwärtigkeit und des dadurch entstehenden Raumes von Aufmerksamkeit und Führung erkannt. Humor, Unbeirrbarkeit, Weglassen von Unnötigem, Weigerung, Fragen sofort zu beantworten, stattdessen deren Zurückspiegelung ... oder das Schaffen neuer Fragen ... all das leitete mich. Da Alon nicht anwesend sein wollte, wenn das erste Mal nach den Demonstrationen seiner Lektionen geübt wurde, war ich mit der Gruppe jeweils alleine. Dort kamen dann die nicht vor „dem großen Meister“ gezeigten Anteile der Teilnehmerinnen zum Vorschein, viele Emotionen, die sich durch die intensive Körperarbeit lösten, viel Dynamik der Gruppe untereinander und jede Menge Fragen über das Wie und Warum der Arbeit. Ich war damals auch gleichzeitig in einer Feldenkrais-Ausbildung bei Eli Wadler und wollte die neu erlernten ATMs2 mit der Gruppe ausprobieren, um ihr diese Erfahrung auch zu ermöglichen. Alon selbst lehrte höchst selten einige ATM-Stunden. So war ich plötzlich in der Situation einer Assistentin und gleichzeitig einer Lehrenden. Ich musste meine eigenen Ressourcen finden und konnte dabei auf meinen pädagogischen Erfahrungen aufbau­ en. Es war erstaunlich, wie einfallsreich und lustvoll das vor sich ging. Ich war selbst Lehrende und Lernende gleichzeitig.

1: Moshe Feldenkrais spricht vom „potenten S elbst“. S. dazu: Literaturangaben: Das starke Selbst. 2: ATM = Awareness through Movement: in der Gruppe angeleitete achtsame Bewegungsabläufe

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Bei den Artikeln von Alon Talmi (s. Anhang) ist zu erkennen, dass er an den psychologischen Fragestellungen, mit denen Klientinnen zu ihm kamen, interessiert war. Er löste vor allem Fälle von „anonymer Angst“ auf seine Weise (siehe v. a. Artikel: F. I. in psychiatrischer Behandlung). Für mich war es bemerkenswert, dass Alon in den Ausbildungen, die ich mit ihm erlebte, wenn emo­ tionale Reaktionen auftauchten, sehr still blieb, sich verbal nicht viel äußerte, aber in großer Gegenwärtigkeit den jeweiligen Prozess „bezeugte“ . Er war einfach anwesend. Ganz anders, als ich es von oft ziemlich dramatischen psychotherapeutischen Interventionen der damaligen Zeit, der frühen 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, kannte. Nach den emotionalen Ausbrüchen war er jederzeit zu einem Gespräch bereit und stellte sehr genaue Fragen, die hilfreich waren und weiterführten. Da tauchten sehr oft Familienthemen oder traumati­ sche Erinnerungen auf. Es wurde dem inneren Geschehen viel Raum gegeben, ohne von außen zu intervenieren. Das, was tatsächlich auftauchte, konnte sich entfalten und sich in seiner Klarheit zeigen. Es war damit ganz unmissverständlich und zweifelsfrei, weil es körperlich gefühlt war. Alon blieb aber lebenslang auf der Suche nach psychologischen Methoden oder Interventionen, die zu den Prinzipien der von ihm entwickelten Lektionen der Funktionalen Integration® passen könnten. Er selbst betonte immer wieder, dass dies nicht mehr seine Aufgabe wäre. Er behandelte Menschen fast bis zu seinem Tod mit 86 Jahren. Seine Arbeit wurde immer wirksamer. In zahlreichen Dialogen mit ihm diskutierten wir lebhaft diverse Erfahrungen und Methoden der damals immer mehr aus Amerika nach Europa kommenden sog. humanistischen Psychotherapie. Er dachte auch, dass im NLP oder in der Arbeit von Wilhelm Reich manches zu finden sein könnte, was für seine Fragestellungen relevant war. Bevor ich selbst mich mit Reichs Schriften zu beschäftigen begann, wollte ich vor allem selbst mit dieser Arbeit Erfahrungen sammeln. Bioenergetische Sitzungen, Orgon-Tank etc. halfen mir zu verschiedenen lösenden Erfahrungen und Einsichten, hatten allerdings nie die nachhaltige Wirkung, wie ich sie durch die Arbeit mit Alon und seinen Lektionen erlebt hatte (s. dazu: Artikel: 5 Frauen, Kibed/Milz). Auch meine gestalttherapeuti­ sche Eigentherapie erlebte ich nicht als derart nachhaltig wie die für mich so direkt und unzweifel­ haft wirkende Fl-Arbeit.

... als Lehrende und Gründerin Es entstanden zwei zentrale Fragen, denen ich sehr direkt nachgehen wollte:

„ZWEI ZEN TRALE FRAGEN“

1. Wie kann ich mit Klientinnen in eine ressourcenorientierte Gesprächsführung kommen? Ein Formulieren, das es möglich macht, das, was auf körperlicher Ebene an ressourcenorientierter Anregung, an Veränderung, Bewusstheit oder Empfindung geschieht, in einer adäquaten Weise mit den Prinzipien der Fl-Arbeit von Feldenkrais in der speziellen Form von Alon dabei in sprachliche Erfahrung führen? Für mich war eine Brücke gefragt vom kinästhetischen und sensomotorisch so ver­ netzten Lernen zu den kognitiven Lernvorgängen, die auch gedanklich nachvollziehbar, „verstehbar“ werden konnten und die Bewegungen der Seele betreffen, ohne dabei einen zu großen intellektuellen Wechsel der Ebenen für die/den Klientin zu bedeuten.

2. Wie kann ich selbst - damals noch als Funktionale Integration Praktizierende in meiner guten Kraft bleiben? Ich beschäftigte mich bei der Einzelarbeit so sehr mit Genauigkeit, Achtsamkeit, Geduld und Wechselwirkungen, dass ich nach der Arbeit oft das Bedürfnis verspürte, meinen kraftvollen, schnel­ len, feurigen und spontanen Bewegungen und Gefühlen nachzugehen. Ich benötigte dringend eine Unterstützung, die - anders als die ATMs - dieses Bedürfnis befriedigte und gleichzeitig in ähnlich körperintelligenter Weise Verbindung zu meinem Tun und der Schulung meines Bewusstseins hatte. Die ATMs waren eine gute Grundlage, aber nicht genug für ein energie­ reiches, dynamisches Bewegen. Das war für mich notwendig - heute würde man es wohl BurnoutPrävention nennen. Diese Fragen führten mich zur Weiterentwicklung von Alons Arbeit.

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3. 1. 2. W eiterentwicklung der S I B: Vom System atischen zum System ischen

Zur ersten Frage; Wie kann ich mit Klientinnen in eine ressourcenorientierte Gesprächsführung kommen? Alon Talmis Lektionen waren zwar enorm klar in der nonverbalen Kommunikation - wie aber konnte dazu eine Verbindung in die kognitive und/oder emotionale Ebene mit Klientinnen hergestellt werden? Das systematische Vorgehen, die Lösungen auf struktureller und funktionaler Ebene schienen so deut­ lich, wie konnte hier ein sprachliches, ebenso ressourcenorientiertes Modell gefunden werden? Wie Alon in seinem Artikel „Notizen zur Funktionalen Integration II“ formulierte, sollte mit „allen wichtigen Aspekten der psychophysischen Zustände von Menschen, die in die Praxis des/der F.I.Practitioners/-in kommen, umgegangen werden können.“ Nicht nur deren Körper sollten „entfaltet“ werden, sondern auch die verschiedenen Belastungen und die Kontexte, in denen körperliche und/oder seelische Belastungen auftreten, sollten erörtert und begleitet werden können. Das war in meiner eigenen Praxis dringend nötig und die Wechselwirkungen zwischen körperlichen und seelischen Kontexten waren offensichtlich. Die unten zusammengefassten Tatsachen über Körper-Energien haben mich zunächst zu weiteren Aus- und Fortbildungen veranlasst, (s. Personenbe­ schreibung am Ende des Buches). Die Wechselwirkungen von der eigenen körperlichen und seelischen Gestimmtheit, der eigene Ener­ giestatus und seine Auswirkungen auf die Fl-Arbeit faszinierten mich immer mehr. Je höher mein eigener Energielevel war, desto eher gab es lösende, einfache und direkte Interventionsmöglichkeiten. Ich konnte viel eher erkennen „worum es eigentlich ging“ , wenn Klientinnen ihre Anliegen formulier­ ten, und wurde immer weniger in den Problemsog mit hineingenommen. Ich erkannte, dass es keine Symptome gab, die nicht auch in irgendeiner Weise auf einer anderen Ebene für die/den Klientin von Nutzen waren. All dies schien vernetzt und notwendigerweise für Lösungen auf nicht sprachlicher Ebene eine Rolle zu spielen. Meine Fragen und Zugangsweisen, mehr auf all die noch vorhandenen Ressourcen anstelle von einem Mangel, der durch ein Symptom entstanden war, zu schauen, verstärkten sich. Lösungen schienen sehr direkt aufzutauchen. Mit meinen Händen versuchte ich immer klarer, die Frage zu stellen: „Wofür ist diese oder jene Einschränkung für dich (als Klientin) gut?“ anstatt die Frage: „Wie tust du genau das?“

Ich klärte sehr deutlich die Frage „WIE geschieht diese oder jene .Verstellung' einer Funktion?“ eine zentrale Fragestellung in der Feldenkraismethode anstelle mich lange mit dem „Warum“ zu quälen. Dadurch entwickelte sich in der Arbeit oftmals ein tiefer und heilsamer Flumor. Für mich war als nächster Impuls der Vorgang der systemischen Familien-Aufstellungen ein Schlüsselerlebnis. Ich sah plötzlich „in den Raum gestellt", was ich so nicht hätte formulieren kön­ nen, nämlich das, was ich bei der Fl-Arbeit oft erlebte: dass sich durch ganz gezielte Interventionen Ordnungen „wie von selbst“ , auf fast magische Weise einstellten und dass sich in diesen Lösungen Fleilsames, Versöhnliches und Ordnendes oder oftmals Erlösendes über Sprache und über räumlich empfundene Neuordnungen erleben ließ. Das Miteinbeziehen von Familiengeschichten, die oftmals übernommenen Symptome, die Belas­ tungen, die nonverbal in (Familien-)Systemen kommuniziert werden, das stellvertretende Ausagieren ebendieser, das Wirken des „Familienkörpergedächtnisses“ u. v. a. m. waren überdeutlich im Kontext dieses Geschehens. Natürlich spielen dabei Körperhaltungen und physische Symptome und ihre Veränderungen im Verlauf des Aufstellens eine wichtige Rolle. Ich begab mich in eine Fortbildung zur interkulturellen systemischen Familientherapie. Diese ent­ sprach meinen Bedürfnissen als Ethnologin ebenso wie die Suche nach Möglichkeiten, dieses Wissen für S I B zu benützen. Das wurde erst durch Gudrun Schreiner als gelernte Psychotherapeutin mög­ lich. Sie brachte viele differenzierte und erweiternde Sichtweisen und anderes Wissen dazu für die Weiterentwicklung von S I B ein (s. dazu ihren Buchbeitrag)! Vor allem die behutsame Abstimmung was im Rahmen einer Fortbildung beim gleichzeitigen Erlernen der Körperarbeit angemessen ist, gelang ihr in feiner Weise! Viele der o. a. neuen Einsichten wurden für mich später auch in der Zusammenarbeit mit Guni Baxa1 noch wesentlich intensiviert. Faszinierend für mich waren auch die querdenkerischen Fragestellungen, die vor den Aufstellungen im Kontext mit dem möglichen „Ziel“ , mit der „Was wäre, wenn dies oder das gelöst wäre“-Frage, also der sog. „Wunderfrage“ , erkennbar waren, oder auch die andere Sichtweise auf Symptome, die sog. „Zielarbeit“ u. v. a. m. Es erschien mir wie die magische Versprachlichung dessen, was ich auf nonverbaler Ebene mit meinen Fländen durch bewusste und genaue Berührungen und Bewegungen gemäß der Arbeitsweise von Alon tat.

1: Wir gestalten seit ca. 15 Jahren Seminare unter dem Titel „Körperseele - Seelenkörper", in denen wir Körperarbeit m it Aufstellungsarbeit verbinden; s. dazu: www.apsys.org

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Systemische Sichtweisen und systemisches Denken schienen mir den Schlüssel für meine vielen Fragen in die Fland zu geben. Es zeigte sich für mich, dass das Entscheidende, der Moment der Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention zwischen den beteiligten Personen entsteht und unwiederbringlich ist. Es war ähnlich wie in der Körperarbeit: Ich wusste nie, wann etwas Wirksamkeit zeigte, es musste nur der genaue, richtige Impuls zur richtigen Zeit sein und das „Werkzeug“ , die Lektionen, bahnten den Weg dorthin. Gleichzeitig war klar, dass die Sprache, die im Rahmen des „nonverbalen somatischen Dialogs“ mit den Pländen durch Berührung und Bewegung gesprochen wurde, durch die im Anschluss daran gesprochenen Worte nicht logisch verstehbar war, ähnlich wie der Vorgang des Aufstellens „nicht übersetzbar“ , nicht verallgemeinerbar. Beide beziehen sich auf ein Feld, das durch eine klare Struktur und von Leiterinnen und Teilnehmerinnen gleichermaßen gestaltet und geführt wird. Darin bahnt sich ein „empfindendes Verstehen“ den Weg.

Zur zweiten Frage: Wie kann ich selbst - als damals noch Funktionale Integration® nach Alon Talmi Praktizierende - in meiner guten Kraft bleiben? Als ich 1991 zu einer mehrwöchigen Fortbildung „Feldenkrais und Weißer Kranich - Silat“ vom Feldenkrais-Lehrer Patrick Douce nach Bali eingeladen wurde, erlebte ich dieses „Missing Link“ zur ersten oben gestellten Frage. Ohne damals zu wissen, dass sich Moshe Feldenkrais ursprünglich viel mit Kampfkunst beschäftigt hatte und Judomeister gewesen war, kehrte ich - wie ich es später empfand - zu den Ursprüngen sei­ ner Methode zurück. Feldenkrais bezog sich sehr selten und meines Wissens in keinem seiner Bücher selbst explizit auf dieses Wissen in Verbindung mit der Fl-Arbeit, obwohl er ein Buch über Judo ver­ fasst hatte. (Ich vermute, dass dies damit zu tun hat, dass zur damaligen Zeit alleine das Wort „Energie“ Skeptiker auf den Plan gerufen hätte und Feldenkrais Zeit seines Lebens sehr bemüht blieb, seine Methode wissenschaftlich und medizinisch abzusichern.)

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Ich erlernte also allmählich den „Weißen Kranich - Silat“ und fand dabei heraus, dass • im Weißen Kranich - Silat mit den körpereigenen Energien bewusst gearbeitet wurde • das Wissen über die Meridiane als Mittler zwischen Emotionen, Organen und den Funktionen (Muskeln) und Strukturen (Knochen) durch Bewegungen gezielt und bewusst eingesetzt wurde • die nötige Freiheit der Gelenke für die nötige Wahlfreiheit sowohl in den mentalen wie in den physischen Bewegungen als essenziell angesehen und gelehrt wurde • wir in allen Bewegungen, die wir verlernt haben (rollen, fallen, springen etc.) oder die eingeschränkt sind, unseren Widerständen begegnen können • je freier die Bewegungen selbst wurden, desto mehr gedankliche Blockaden abnahmen und desto weniger emotional einseitig oder neurotisch ich auf Ereignisse des Alltags reagierte • die Ursprünge dieser Einschränkungen im Körpergedächtnis erkennbar wurden. Es tauchten Vorbilder für Bewegungen auf, bestimmte Muster aus der Familie wurden erkennbar, diverse traumatische Erlebnisse gab der Speicher im Körper-Flirn-Seele-Gedächtnis frei. • über Emotionen nicht oder nur wenig gesprochen wurde, dass diese aber in Bewegung geführt und damit in den Raum bewegt und nonverbal sichtbar und veränderbar wurden • die Zunahme von freieren, fließenden Bewegungen dazu führte, dass das Denken über bestimmte Ereignisse, Zustände und Erfahrungen abnahm und sich damit • Leichtigkeit, Freude und Zufriedenheit einstellten Die Silat-Bewegungen hatten bei mir ähnliche Effekte wie manche ATMs. Sie erlaubten mir aber zusätzlich zu den ATMs, in einen energiereichen, gut geerdeten und sehr ausgerichteten Gesamt­ zustand zu kommen. Sie lehrten mich etwas ganz Neues: in Bewegung zu denken und zu fühlen. Dieses dem Silat innewohnende Wissen, das sich erst im Laufe der Zeit, in der ich es jahrelang prak­ tiziere, entschlüsselte und nun in der vorliegenden Form formulieren lässt, hatte für mich große Parallelen zu den Prinzipien von Alons Lektionen, wie sich schon durch meine vorangehenden Ausführungen erkennen lässt.

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Es gab aber auch einige Unterschiede, vor allem diesen: Während sowohl Alon Talmi als auch Moshe Feldenkrais das Wort „Energie“ in ihrem Sprachgebrauch vermieden, weil es ihnen als präzise Naturwissenschaftler möglicherweise als zu vage erschien, hatte dieser Begriff von „Lebensenergie“ (Chi) im Weißen Kranich - Silat nicht nur verschiedenste Namen, Formen und Ausprägungen, sondern er war von zentraler Bedeutung: • Mit Energie ist alles, was lebt, erfüllt (was in Bali unschwer zu erleben ist!) • Energie ist das, was Leben ermöglicht und uns als lebendig erleben lässt • Energie kann bewusst eingesetzt werden: gelenkt, verstärkt, abgeschwächt, auch übertragen und vor allem für alle Prozesse der Existenz genutzt werden. Sie spielt in heilsamen Vorgängen eine zentrale Rolle (wie ich Jahre später bei einem Zusammentreffen mit dem Begründer der SilatSchule in Bogor, Java, Suhu Radja, beim Beiwohnen bei einem Fleilungsprozess einer Querschnittsgelähmten selbst erleben konnte) • Energie spielt bei jeder Form der Berührung und Bewegung eine zentrale Rolle. Ohne weiter in die Details von Silat1 als Kampfkunst eingehen zu wollen, erscheint es mir angemes­ sen, diese von mir erfahrenen Erkenntnisse als wichtigen Baustein von S I B in den Ausbildungen zu nennen. Auch weil einzelne Bewegungen sich sehr gut für bestimmte Klientinnen und ihre lösenden Prozesse eignen. Im Einverständnis mit Flora Bardet und ihrem damaligen Mann Kent Waters begann ich in der ersten von mir geleiteten S lB -l—Fortbildung im Jahr 1993, Grundbewegungen des Silat in unseren täglichen Ausbildungsablauf zu integrieren. Dies ist eine wichtige Möglichkeit für angehende S I B-Pädagoglnnen, das eigene Körperbewusstsein zu schulen und in der späteren Praxis mit sich selbst weiter zu arbeiten und Erdung, Ausrichtung, Präsenz, Beweglichkeit und Gelassenheit in die alltägliche Arbeitsroutine einfließen zu lassen. In der Zwischenzeit hat auch Alexandra Dietrichsteiner als Co-Trainerin in der S I B-6- Fortbildung diese Silat-Grundbewegungen in sehr schöner Weise zu den jeweils demonstrierten Lektionen unter­ richtet.

1 S. dazu: www.pgb-austria

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3. 2. Rückblick von Gudrun Schreiner 3. 2. 1. Impulse/Auslöser für Mitwirkung und Gründung von S I B ... als Lehrerin und Leiterin in einer Projektschule1 Anfang der 80er Jahre unterrichtete ich in Volksschulen, die letzten sieben Jahre davon mit großem Interesse in der Grazer Projektschule. Die Arbeit unterschied sich wesentlich von der „Regelschule“ , die mir zu sehr von Kontrolle und Pragmatismus durchzogen war und die ich mit Freuden verlassen hatte. Wie schon Jahre davor als Mitbegründerin eines innovativen Kindergartens machte ich in der Projektschule weitere Erfahrungen mit Konzeptentwicklung und dem Erproben und Reflektieren neuer Lehr- und Lernkonzepte. Es gab erste Seminare für Gestaltpädagogik, die die Entwicklung des Kindes als Individuum und Teilnehmerin einer Gruppe mindestens gleich bewertete wie das Erfüllen eines Lehrplanes. Die Kinder der Projektschule hatten viele Spielräume, auch im wörtlichen Sinn. Klettern, Spielen und Forschen mit Wasser, Gartenarbeit, das Hinführen zu einem liebevollen und verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur waren integrierter Teil des Unterrichts in dieser Schule. Es war uns damals bereits klar, dass kognitives Lernen nur nachhaltig möglich war, wenn die sogenannten Lerninhalte in bewegtes Tun und in größere Kontexte eingebunden waren. Entwicklung durch pädagogisches Tun, reflektieren, begründen, verwerfen, Neues wagen u. a. förderte nicht nur die Kreativität aller Beteiligten. Ich erwarb selber wichtige Ressourcen, den Unterricht didaktisch aufzubereiten. Ganzheitliche Pädagogik forderte Bewusstheit, Mündigkeit, Mut und Krea­ tivität von allen Beteiligten und sollte auch gesellschaftlichen Veränderungen und der Friedensent­ wicklung dienen. Als Lehrerinnen im Schulversuch „Ganztagsschule mit verbaler Beurteilung“ waren wir gefordert, die Schritte des jeweiligen Kindes wohlwollend zu beschreiben. Den Blick primär auf Gelungenes zu lenken war für mich selbst ein heilsamer Prozess und stellt aus heutiger Sicht einen wichtigen Baustein für eine Ressourcen-fokussierte Grundhaltung dar. Weitere Beobachtungen beeinflussten mein pädagogisch-therapeutisches Handeln nachhaltig, wie bspw. dass Schwierigkeiten der Schülerinnen, sich einzugliedern, aggressives Konfliktverhalten, Konzentrationsprobleme usw. Hinweise auf verletzte Kinderseelen und gestörte Ordnungen im Familiensystem oder in der Kindergruppe waren. Im Rahmen von 14-täglichen Elternabenden erhielt ich Einblicke in Familiendynamiken, die mich lehrten, dass Symptome, im größeren Kontext betrachtet, immer Sinn machten und zugleich Lösungsversuche waren.

1: Projektschule Reinthal, Graz

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Ebenso erhielt ich Einblicke in das vielfältige Zusammenwirken von Lernverhalten, Motivation, Zuge­ hörigkeit zu einem familiären Verband, den dort tradierten Denkweisen und Glaubenssätzen, und sozialem Eingebunden-Sein der Familien meiner Schülerinnen. Mein besonderes Interesse für systemische Zusammenhänge war richtungsgebend für eine Nachdenk­ pause und meine spätere Entscheidung für systemische Psychotherapie. Ich legte meine Pragmati­ sierung (definitive Anstellung für die gesamten Dienstjahre) zurück und begab mich auf neues Terrain.

... Der Weg zeigt sich durch das Gehen Mein Wunsch, Menschen in ihrer Würde zu stärken, sie zu motivieren, ihre Potenziale zu erforschen und auch zu gebrauchen, verstärkte sich. In welchem Feld sollte sich mein „Freigeist" weiter entfal­ ten, ohne den Boden zu verlieren? Rückblickend sehe ich einen Weg, der sich Schritt für Schritt ent­ faltet hat. Ich lernte Tai Chi, Chi Gong, begann zu meditieren, besuchte mein erstes FeldenkraisSeminar. Seminare in humanistischer Psychotherapie, Atem- und Stimmarbeit waren bereits erste Schritte zur Körperarbeit. Aus der Fülle der Angebote wählte ich als Ausbildung zuerst das, was mir auch am besten zur Exis­ tenzsicherung erschien: Klassische Massage. Das theoretische Lernen von physiologischen Zusam­ menhängen faszinierte mich zwar, die Massagetechniken schon weniger. Kurzlebige Entspannung, die keine Inspiration enthielt, - nein, das konnte es nicht sein! Ich vermisste, dass sich die Klientinnen für Vorgänge interessierten, dass sie Neues hinzunehmen wollten, dass es ein Miteinander-Erforschen gab, nicht nur, um die Verbesserung von Schmerzzu­ ständen zu erreichen, sondern um über sich zu lernen. In dieser Zeit war Nurit Sommer bereits in der Ausbildungsgruppe bei Alon Talmi. Sie besuchte im­ mer wieder Graz, die Stadt vieler Freunde, an denen sie die Berührungslektionen üben konnte. Ich stellte mich für dieses Experiment gerne zur Verfügung. Ich erinnere mich deutlich an die 1. Berüh­ rungslektion, an den Zustand von Bewusstheit, Neugierde und tiefer Entspannung zugleich. Mein Befinden danach würde ich als „beglückt, wohlig in meinem Körper, erstaunt, geöffnet, aber vor allem neugierig“ bezeichnen. Ich warfest entschlossen, jede Möglichkeit zu nutzen, um die Methode zu lernen, die Auswirkungen dieser Art zeigte. Einige Jahre musste ich noch warten, bis Alon Talmi die erste und einzige Ausbildung mit Nurit als Assistentin in Österreich anbot.

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... Erste Erfahrungen mit „Bewusstheit durch Bewegung“/ATM der Feldenkrais-Methode Als ich die ersten Male „Bewusstheit durch Bewegung“®-Lektionen nach der Anleitung eines Feldenkrais-Lehrers machte, war ich nicht nur erstaunt von der Auswirkung auf mein Körperbild und die Leichtigkeit, die in meine Bewegungsabläufe kam. Es beeindruckte mich auch, wie sich meine Gemütsstimmung veränderte. Immer wieder war ich nach nur 45 Minuten kleinteilig angeleiteten Bewegungsabfolgen mit mir selbst in unterschiedlichster Weise konfrontiert. Die einladende, wohlwollende und durchwegs positive Formulierung in den Bewegungsanleitungen ermöglichte mir einen neuen Zugang zum Lernen. Gespeicherte Erfahrungen von Zwang, Zielorien­ tierung, Eile, Strenge zu mir selbst, Bewertung nach gut und schlecht, richtig und falsch wurden frei­ gesetzt. Die Sichtweise der Feldenkraismethode, nicht zu bewerten, Zeit zu geben, Bewusstheit zu schaffen und den Weg als Ziel zu sehen, begann meine Sichtweisen auf das Leben zu verändern. Was ich später in Büchern von Moshe Feldenkrais lesen konnte und was heute durch die Gehirnfor­ schung bewiesen ist, war damals für mich eine aufregende Ahnung, nämlich, dass ich es mit einem zutiefst systemischen Ansatz in der Wahrnehmungs- und Körperbewusstseinsschulung zu tun hatte.

... als Schülerin von Alon Talmi Ich begebe mich in die Anfänge meines Lernens bei Alon Talmi und davor. Wie bin ich zu meinem heutigen Wissens- und Erfahrungsstand gekommen? Auf welchen Erfahrungen und Erkenntnissen beruht meine heutige Überzeugung, dass die Verbindung von Alon Talmis Berührungslektionen, zusammengeführt mit dem Werkzeug der systemisch-lösungsfokussierten Gesprächsführung sowie der Erfahrung mit Aufstellungsarbeit, eine Methode ist, die Menschen in ihrem persönlichen Bewusstwerdungs- und Entfaltungsprozess optimal unterstützen kann? Ich nahm am Training für Funktionale Integration® bei Alon Talmi teil. Auch wenn sich Alon in seiner Art zu sprechen nicht um „lösungsfokussiert oder nicht“ kümmerte, auch wenn er sich auf die Psychoanalyse und andere nicht-systemische psychotherapeutische Verfahren bezog, so erschienen mir seine Berührungslektionen schon damals als ein durch die Hände geführter, nonverbaler Dialog, der bei mir Assoziationen zu systemisch-lösungsfokussierten Vorgehensweisen hervorrief. Es zeigte sich etwas, das ich noch nicht begreifen konnte, geschweige denn, dass ich Sprache dafür hatte. Aber Leidenschaft und Entdeckerfreude machten sich bemerkbar, die von mir vermuteten

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Analogien zwischen systemisch-nonverbaler Berührungsarbeit und systemisch-verbalen Zugängen zu erforschen. Die Rolle der Systematik und Logik der Berührungslektionen sollte sich erst später für mich entschlüsseln. Ich erinnere mich noch genau: Alon demonstrierte gerade eine der Berührungslektionen an einer Teilnehmerin (ich nenne sie im Folgenden „Modell“). Die Ausbildungsteilnehmerinnen saßen rund um das Behandlungsbett. Für uns bedeutete dies, ohne vorherige Erklärungen etwa 1,5 Stunden im Schweigen zu beobachten, wie er achtsam und mit Präzision Teile des Körpers miteinander in Verbindung brachte. Jede Berührung und Bewegung an einer Stelle zeigte Auswirkungen im ganzen Körper, oft so klein, dass sie kaum zu sehen waren. Wir lernten, eine sehr genaue Wahrnehmung für kleine Unterschiede zu entwickeln. Zugleich wurde unsere Fähigkeit geschult, Details immer auch in einem größeren Kontext zu sehen. Wie ist das Modell vorher gelegen, wie nachher? Wie haben sich Atem, Gesichts­ ausdruck, Stimme, der Kontakt zu Liege oder Boden, das Feuer in den Augen verändert? Die tiefgreifende Wirkung der Berührungslektionen führte bei den „Modellen“ immer wieder dazu, dass Gefühle freigesetzt wurden, die in tiefliegenden Spannungen gebunden waren. Alon schrieb nie einem Köperteil, einer Spannung oder Haltung eine bestimmte Bedeutung zu. Er interpretierte nicht und kommentierte wenig. Wenn Tränen flössen, Trauer oder Wut sich den Weg nach außen bahnten, erlebte ich ihn als Beglei­ ter, der den Prozess des/der ihm Anvertrauten geschehen ließ, ohne zu drängen, zu bremsen oder durch Worte zu unterbrechen. Er ließ die Kompetenz für Lösungen beim/bei der Klientin und vertrau­ te in die Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu organisieren. Durch diese Haltung und Vorgangsweise ermöglichte er sowohl den „Modellen“ als auch der Gruppe, geborgen und ungestört dem zu folgen, was sich zeigen wollte, ohne Druck, ohne Zwang. Dieser Zugang stärkte meine Gewissheit, dass wir selbst die „Expertinnen“ sind und dass Heilung von innen kommt - übrigens eine der wichtigsten Grundsätze der systemischen Therapie. Für mich wur­ den einige Grundhaltungen des systemisch-lösungsorientierten Arbeitens sichtbar: kontextbezogenes Schauen und Handeln, Vertrauen in den/die „innere/n Expertin“ für Lösungsansätze in jedem Men­ schen, das In-Frage-Stellen von Bedeutungen und die Idee, dass Bewusstheit zu Veränderung führt. Meine Jahre in der Ausbildung für systemische Psychotherapie vertieften mein Interesse, die Analogien der beiden Ansätze eines Tages zu erkennen und beschreiben zu können.

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3. 2. 2. Systemische Interventionen 3. 2. 2. 1. Lösungsfokussierte Gesprächsführung Noch während meines Trainings bei Alon Talmi begann ich mit der Ausbildung für systemische Psychotherapie. Ich vertiefte mich in die Kernfragen der systemischen Therapie wie bspw. Fragen wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, wie Überzeugungen unsere Sichtweise determinieren, Fragen der Kausalität und Zirkularität in Systemen, Sichtweisen zu Problem/Krankheit/Diagnose und dem systemisch-lösungsfokussierten Umgang damit (siehe auch Literaturverzeichnis oder Schweitzer/Schlippe). Besonders interessant wurde für mich, was unser gesprochenes Wort über unsere soziokulturell und familiär bedingten Denkansätze verriet. Nicht nur unsere alltägliche Sprache, auch medizinische oder psychotherapeutische Fachsprache waren und sind bis heute von Fest- und Zuschreibungen beherrscht, deren Ziel und Absicht es ist, kausale Zusammenhänge zu finden. Heute wird immer mehr akzeptiert, dass sich die Annahme von Linearität in Heilungs- und Bewusstwerdungsprozessen zugunsten der Annahme von Zirkularität verändert. Im Zentrum eines systemisch-lösungsorientierten Gespräches steht die Dekonstruktion von festgefah­ renen Denk- und Lebenshaltungen durch verschiedenste Formen des Fragens und Anregens. Es wer­ den immer auch verschiedene Lebens- und Zeitkontexte in der Exploration eines Problems/Symptoms mit berücksichtigt. Dadurch können neue Sichtweisen geschaffen werden, die das ursprüngliche Problem in einem neuen Licht erscheinen lassen und so zu einer Ressource zur Verbesserung der Lebensqualität verwandeln. Zum Beispiel: Ein Umstand, der vorerst als Problem bewertet wird, kann sich als Lösungsversuch eines Individuums, einer Familie oder Organisation herausstellen, um Zusammenhalt zu gewährleis­ ten, Traditionen zu wahren etc. Wird also erforscht, welchen Sinn ein Problem/Symptom bisher mach­ te, wird es als Lösungsversuch gewürdigt. Der Blick kann sich auf das verborgene Bemühen um eine Lösung richten und auf den bisher damit verbundenen Verzicht, Neues zu wagen, richten. Eine häufige Herausforderung, vor die uns Symptome stellen, ist, das Tempo zu reduzieren, Symptome auch anzunehmen und sich neu zu organisieren. Das wird anfangs oft als unwillkommen erlebt. Entsteht jedoch Bewusstheit über die Zusammenhänge und werden die Ressourcen für Selbstbewusstheit gestärkt, geschehen die lösenden Schritte wie von selbst.

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3. GRÜNDUNG VON S I B

Dazu ein Beispiel aus meiner Praxis: Elisabeth

Eine Zusammenfassung der Gespräche zeigt, wie ein körperliches Symptom stellvertretend für ver­ borgene Fragestellungen gesehen und behandelt werden kann. Die Gespräche waren Teil einer S I B-Behandlung und bedurften einer klaren Führung.

Anamnese Elisabeth, Studentin, 23 Jahre. Sie lebt mit Eltern und jüngeren Brüdern im Familienverband. Sie leidet immer wieder unter anfallsartigen Schmerzen im Lumbalbereich, ist dann einige Tage depri­ miert, kann nicht studieren, hat im gesamten Rücken Schmerzen, die zur Unbeweglichkeit führen. Medizinische Untersuchungen hatten bisher kein krankheitswertiges Ergebnis gebracht, Therapien nur kurzfristige Erleichterung.

Problemkontext und Lösungskontext: Das unzertrennliche Paar Der aktuell starke Schmerz führt uns zuerst zum Erfragen des Problemkontextes, wodurch auch der Grund ihres Besuchs in meiner Praxis gewürdigt wird. Ich frage nach der bisherigen Dauer der Schmerzanfälle, nach Umständen, die Elisabeth mit dem Aufflammen des Schmerzes verbindet, nach Auswirkungen ihrer Bewegungsunfähigkeit im Akutzustand, nach Rückzugsbedürfnis oder Kontaktbedürfnis u. a. Erst nach und nach lässt sich Elisabeth auf Fragen ein, die ihr ihre eigenen Ressourcen bewusst machen: Was vitalisiert sie, was macht Freude? Das Erfragen des familiären Kontextes interessiert besonders. Beziehungen zu Eltern und Geschwistern, wann sie Verantwortung übernimmt, was die Familie zusammenhält. Was empfindet Elisabeht als störend? Was fördert ihr Bedürfnis nach Klarheit? Bei der Ertragung ihrer persönlichen Ziele und Visionen blüht die junge Frau eine Zeitlang auf. Ihr Wille, nach dem Studium ins Ausland zu gehen und Feldstudien für ihre Dissertation zu machen, war eigentlich ungebrochen. Sie würde für ihr Leben gern von zu Flause ausziehen! Aber ...

Hindernisse auf dem Weg zur Symptom-Freiheit: Die fatale Überzeugung „Ohne mich würde die Familie zerbrechen“ Nicht nur die Angst vor Hilflosigkeit beim nächsten Schmerzanfall hinderte sie. Bei elterlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen müsste sie ihre Mutter schützen, die Brüder hätten Lernpro-

bleme, sie würde ihnen nicht mehr helfen können. „Alles fällt ohne mich auseinander, die Familie würde zerbrechen“ , so Elisabeths Worte. Die Last auf ihren Schultern wurde sehr deutlich. Die Erschütterung über ihre eigene Überzeugung ebenso.

Die Kraft von Bewusstheit - die Kraft der Umdeutung Durch konsequentes Fragen zeigt sich, dass Elisabeths Schmerzen unter anderem auch dazu die­ nen, die Gedanken an ihren Auszug von zu Flause gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ihre Kör­ persprache ist eindeutig und bestärkt mich darin, mit ihr die „möglichen, guten Absichten des Symptoms" zu erforschen. Der Weg zur Erkenntnis, dass das Symptom unter anderem der Loyali­ tät zur Mutter und den Brüdern und dem Zusammenhalt der Familie dient, ist ein erster wichtiger Schritt Das Symptom hat eine wichtige Würdigung erhalten. Und es schien für diese Fragestellung auch entschlüsselt.

Die langsame, aber stetige Verwandlung des Symptoms in eine Ressource Die Schmerzanfälle werden seltener und nicht mehr dramatisch. Elisabeth fühlt sich nach eigenen Aussagen wieder mehr „in ihrem Körper zu Flause“ und erlebt auch wieder Wohlbefinden. Sie beginnt mit Spaziergängen, geht auf die Uni und das Studium macht Freude. Die Eltern werden eine Zeit lang nicht erwähnt und ich frage nicht nach ihnen. Das Symptom tritt in den Hinter­ grund, das Interesse an Bewegungsfreiheiten nimmt zu. Elisabeth ist erstaunt, wie genau sie Unterschiede spüren kann. Sie verleiht ihrer Freude Ausdruck, wenn sie nach einer SIB-Stunde sehen kann, wie sie sich aufrichtet und spüren kann, wie sicher sich der Boden unter den Füßen anfühlt. In der zehnten S I B-Behandlung berichtet Elisabeth von Veränderungen ihres Verhaltens den Eltern gegenüber. Die Körperarbeit hilft ihr, ihre Grenzen deutlicher zu spüren. Sie erlaubt sich, in Streitsituationen das Flaus zu verlassen. Sie hat nur mehr „Erinnerungen an Schmerzen“ , auf die sie durch unsere Gespräche zu reagieren gelernt hat. Wir beenden in der 13. S I BBehandlung die regelmäßigen Treffen. In einem E-Mail berichtet sie, dass sie eine kleine Wohnung bezogen hat. Dieses Beispiel zeigt in eindrücklicher Weise, wie hilfreich es sein kann, „verborgene gute Ab­ sichten“ eines Symptoms herauszuarbeiten. Natürlich haben nicht alle Symptome, denen wir in der systemischen und Integrativen Bewegungslehre begegnen, einen so komplexen Hintergrund. Wenn jemand an Folgen von Flaltungsschäden leidet, die u. a. mit schlechten Schulmöbeln oder Bewegungsmangel in Verbindung stehen, wird die systemische Arbeit nicht so große Bedeutung und Auswirkung haben.

Über den Gewinn der lösungsfokussierten Sprache in Ausbildungszeit und S I B-Praxis Wenn der Dialog von Seiten der S I B-Pädagogin durch lösungsorientierten Sprachgebrauch geprägt ist, setzt das bei Klientinnen einen „Fluss in Gang“ , bringt emotionale Bewegung und erweitert Den­ ken und Fühlen. Diese Erfahrungen führten dazu, dem Erlernen lösungsorientierten Denkens und Sprechens zunehmend Raum innerhalb der S I B-Ausbildung zu geben. Die gut abgestimmte Anwendung beider Zugänge gibt der S I B eine zusätzliche Ausrichtung und för­ dert die Integration der neuen Muster in das alltägliche Leben. Dazu schreibt Nurit Sommer im vor­ deren Teil des Buches. Die systemische und lösungsfokussierte Gesprächsführung war ursprünglich nicht konzeptueller Bestandteil der S I B-Ausbildung. Fragestellungen, die sich aus den persönlichen Prozessen beim Üben der S I B-Berührungslektionen herauskristallisierten, wurden zwar behandelt und die Fortbil­ dungsteilnehmerinnen (FT) konnten Kraft und Auswirkung durch die systemischen Interventionen kennenlernen und erleben. Die FT hatten damit jedoch noch kein Werkzeug in Fländen, das sie befä­ higte, diesen erweiterten Kontext in ihre Arbeit mit einzubeziehen. So entschieden Nurit und ich, den FT Werkzeug und Grundlagen der verbalen systemisch-lösungsfokussierten Gesprächsführung zu vermitteln. Diese Vorgehensweisen sind nicht nur für zukünftige Klientinnen der SIB-Praxis sinnvoll. Für die S I B-Pädagoglnnen bedeutet diese Form der Gesprächsführung immer auch ein Stück per­ sönliche Entwicklung und Integration und vor allem eine geeignete Form der Psychohygiene. Das gesprochene Wort bewusst einzusetzen bedeutet, ein Gespräch „führen“ zu können und es als Intervention zu verwenden. Dieser Lernprozess beinhaltet auch, aktiv zuhören zu lernen. Wir sehen bewusstes, lösungsorientiertes Sprechen als ein Instrument an, das schützt, sich vom Problemsog der Klientinnen verwirren zu las­ sen. Systemisch-Iösungsfokussiertes Arbeiten schafft eine Haltung des Respekts, der Achtung und des Mitgefühls sowohl für Klientinnen als auch für S I B-Pädagoglnnen sich selbst gegenüber.

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3 . GRÜNDUNG VON S I B

3. 2. 2. 2. Über den Wert der systemischen Aufstellungsarbeit innerhalb der Ausbildung und in der S I B-Praxis Stellte sich im Training bei Alon Talmi die Frage meines Selbst- und Körperbildes in Zusammenhang mit „meinen“ Emotionen, so beschäftigten mich bereits damals auch mein Eingebunden-Sein in ver­ schiedenen Systemen und die Frage der Ordnungen, die in Systemen wirken. Ich hatte in dieser Zeit bereits erste Erfahrungen mit Formaten der Aufstellungsarbeit gemacht (Hellinger, Varga von Kibed, Baxa, Essen, Blumenstein-Essen u. a.). Ich sehe systemische Aufstellungsarbeit als einen lösungsorientierten Prozess, der auf der differen­ zierten Wahrnehmung der Stellvertreterlnnen aufbaut und Phänomene von Bindung und Ordnung in Systemen thematisiert. Durch das Erfahren und Üben der Berührungslektionen während der S I BFortbiIdung gehen die Teilnehmerinnen in einen tiefen Prozess der Re- und Neuorganisation des „Somas“ (vgl. Thomas Flanna, Literaturverzeichnis). Vieles scheint neu und ungewohnt. Die Unterbre­ chung von Gewohnheitsmustern bedeutet ja nicht nur die Unterbrechung von Bewegungsmustern. Somatische Veränderungen bewirken ebenso Veränderungen im Denken, Fühlen, Handeln, im Kon­ taktverhalten und bei Grenzsetzung u. a. Mitunter stellt sich ein neuer Blick der Fortbildungsteil­ nehmerinnen auf die eigene Geschichte ein, was oft auch verunsichernd ist. Wofür kann also Aufstellungsarbeit hier nützlich sein? Unsere Erfahrung zeigt, dass die ordnende Kraft der Aufstellungsarbeit in besonderer Weise unterstüt­ zend und integrierend für die Fortbildungsteilnehmerinnen wirkt. Persönliche Problemstellungen in einem weiteren Blickwinkel zu sehen und in einen lösenden Prozess zu führen beantwortet oft viele Fragen, die durch die intensive Arbeit im Rahmen einer Ausbildungsgruppe aufgeworfen werden. Jede systemische Aufstellung, sei es nun eine Familien- oder eine Strukturaufstellung, gibt Einblick in vielschichtige und generationsübergreifende Dynamiken von Symptomen, Schicksalen von Einzelnen oder ganzen Sippen. Systemische Aufstellungen ermöglichen emotionalen Ausdruck von Schmerz, Trauer, Wut und Bindung, und die Erleichterung nach der Rückgabe von Übernommenem. Gleichzeitig bedeutet das Dabeisein der Fortbildungskolleginnen auch, dass vertieftes Vertrauen untereinander entsteht und dabei oft auch sich einstellendes Konkurrenzverhalten reduziert! In ihrem Artikel „Eigenwilliger Bruder Esel“ schreibt Eva Madelung: „In Anbetracht der zentralen Rolle der Körperwahrnehmung in dieser Methode (Familienstellen, Anm. d. Autorin) könnte man das

3 . GRÜNDUNG VON S I B

Familienstellen zu den ,körperorientierten' Therapien rechnen. Sie unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Punkten von den körperorientierten Methoden im üblichen Sinne, seien sie nun „abre­ aktiv“ (wie z. B. Bioenergetik) oder „konzentrativ“ (wie z. B. die Feldenkrais-Methode). In ihnen gilt der Körper als Speicher früher Erinnerungen oder als Repräsentant einer inneren Weisheit, die den Weg zur Gesundung zeigt. Im Familienstellen erweist sich der Körper als Instrument systemischer Wahrnehmung. Das heißt, der Körper Ist nicht nur „Innere Weisheit“ bezüglich der eigenen Person, sondern auch Instrument der Wahrnehmung von Beziehungsordnungen, in die wir alle eingebunden sind. ‘q Wir nutzen in der S I B den Körper als Möglichkeit des Lernens und Erweiterns mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und Spielräumen. Den Körper als Speicher von Erfahrungen jeder Art anzuerken­ nen ermöglicht, ihn auch als Instrument von systemischer Wahrnehmung zu nutzen. In meiner lang­ jährigen Tätigkeit als System-Aufstellerin zeigt sich, dass mit diesem Würdigen des Körpers als Infor­ mationsträger von persönlichen biografischen Erfahrungen gleichzeitig auch die eigene Identität un­ terstützt werden kann. Umgekehrt beobachte ich, dass sich die Wahrnehmungsfähigkeit sowohl für Vorgänge und Sensationen im eigenen Körper als auch als Stellvertreterin eines Systems bei häufiger Teilnahme als Repräsentantin bei Aufstellungen enorm verbessert. In der S I B-Ausbildung wird daher nicht nur die Selbstwahrnehmung geschult, sondern auch die systemische Wahrnehmung, und im Laufe der Jahre wurde die systemische Aufstellungsarbeit zu einem festen, jedoch flexibel gehandhabten Bestandteil. Wir sahen dafür mehrere Gründe: 1. Systemische Aufstellungen sind eine zusätzliche Entwicklungsmöglichkeit, eine Form, sich selbst in verschiedensten Rollen und Prozessen zu erfahren. Sie ermöglichen Bewusstwerdung und Integration von nicht gelebten Anteilen und Gefühlen. Sie erweisen sich als besonders geeigneter Weg, durch die Körperbewusstseinsarbeit ausgelöste Prozesse zu integrieren und zu transformie­ ren. 2. Sie verbessern sowohl die individuelle als auch die systemische Wahrnehmungsfähigkeit. Der Lernprozess des „kontextuellen Schauens“ unter Miteinbeziehung der Grundannahme der Aufstellungsarbeit, dass gestörte Ordnungen über mehrere Generationen weiterwirken, ermöglicht in der späteren Praxis eine erweiterte Sichtweise. 3. S I B-Pädagoglnnen haben sich die Voraussetzungen erworben, ihre Klientinnen auf die Wirksamkeit von Familiendynamiken hinzuweisen, die vielleicht für den individuellen Heilungsprozess hinderlich sind.

1: In: Baxa, Essen, Kreszmeier: Verkörperungen, S. 22

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3. GRÜNDUNG VON S I B

3. 3. Zusammenschau: Verbindung Körperarbeit und Aufstellungsarbeit Die Zusammenhänge zwischen Körperarbeit und Aufstellungsarbeit wurden in einem Beitrag von Nurit Sommer1 zusammengefasst. 1. In der Körperarbeit wie durch die Erfahrungen beim Aufstellen in den Ausbildungen lernen Ausbildungsteilnehmerinnen auf ein System als Ganzes zu schauen und alle dazugehörenden (Körper-)Teile in ihren Beziehungen und Interaktionen zueinander zu erfassen. 2. Probleme und Hindernisse aller Art, seelische und körperliche Symptome können als ein interakti­ ves Geschehen gesehen werden. 3. In beiden Arbeitsweisen liegt der Fokus auf Präsenz, auf dem Sichtbar- und Spürbarmachen dessen, was da ist.

4. Das in Systemen notwendige Wechselspiel von Autonomie und Bindung der einzelnen Elemente benötigt einerseits größtmögliche Autonomie und Bewegungsfreiheit. Andererseits geht es auch um das Beachten des gleichzeitig nötigen Eingebunden seins ins größere Ganze. 5. Verändern wir einen Teil, verändert sich das Ganze. Wird bspw. im Rahmen einer FamilienAufstellung der Platz eines Familienmitgliedes verändert, so hat das auch Auswirkungen auf ande­ re Beteiligte. Auch in der Körperarbeit kann bspw. die Arbeit an einem Bein die gesamte Körperhaltung verändern. 6. Die Ressourcen für einen möglichen „nächsten Schritt“ , für eine Lösungsrichtung, die in beiden Zugängen benützt werden, liegen jeweils im System selbst: im Körper bzw. in der Familie oder im Arbeitssystem und der darauf gerichteten Energie. 7. Selbstorganisation spielt bei beiden Zugängen eine große Rolle.

1: Sommer, Nurit: Komm wie Wasser, geh wie Wasser. Systemisches und Integratives Bewegen und Berühren und die Kunst des Stehens, Wiesloch, 2004. In Baxa, Essen, Kreszmeier: Verkörperungen, S. 173-175

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8. Sowohl beim Aufstellen als auch in der Körperarbeit der S I B geht es darum, dass einzelne Teile eines Systems den ihnen entsprechenden „Platz einnehmen“ und die ihnen innewohnende Funktion ausüben. Übernimmt bspw. ein Kind für seine Eltern elterliche Funktionen im Rahmen des Familiensystems, führt dies zu einer Verunsicherung über den eigenen Platz und zu einer per­ manenten inneren und manchmal auch im Außen erlebbaren Überforderung. Analog könnte man es auch bei der Körperarbeit sehen, wenn Muskeln Aufgaben übernehmen, die eigentlich dem Skelett zustehen, und umgekehrt. Damit wird ursprüngliche (Bewegungs-)Freiheit jeweils einge­ schränkt, es tauchen Verhärtungen, Versteifungen und diverse Chroniken auf. Das Lösen - sei es auf körperlicher Ebene oder eben mit Hilfe von Aufstellen - eröffnet Potenzial für die Weiterentwicklung und richtet Körper und Seele auf. 9. Wie in neurophysiologischen Forschungen, vor allem in Zusammenhang mit Traumatherapie,1

bestätigt wird, erfolgt nachhaltiges Lernen, also Integration von Veränderungserfahrung, vor allem durch den empfindenden kinästhetischen Sinn. Je mehr dieser stimuliert oder wieder integriert wird, desto reicher werden die neuronalen Netzwerke im Gehirn, die es erlauben, nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Sowohl die S I B als auch das Aufstellen benützen dieses Wissen und führen zu solchen Erfahrungen. „Es wird in beiden Vorgängen erlebbar, wie es sich anfühlt, sich an der Grenze von .bekannt' und .unbekannt' zu bewegen. Die Körperarbeit vermittelt durch sensomotorische Erfahrungen eine tiefe Würdigung der Existenz. Dieses ,Spür nur, nimm den Spielraum vom Beginn einer Bewegung wahr, geh damit nicht gleich an oder über eine Grenze' erlaubt eine tiefe Verankerung eines ,lch bin', eine Zentrierung, die zweifelsfrei wird. Auch der Perspektivenwechsel und die Wahlmöglichkeiten in Aufstellungen und durch Körperarbeit schaffen offene Neugierde und stimulieren die Bereitschaft, den eigenen Spielraum immer neu zu fühlen und zu füllen!“2

1: Peter Levine (1998): Trauma-Heilung. Unsere Fähigkeit traumatische Erfahrungen zu transformieren; Babett Rothschild (2002): Der Körper erinnert sich: Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung 2: Sommer, Nurit: Komm wie Wasser, geh wie Wasser. Systemisches und Integratives Bewegen und Berühren und die Kunst des Stellens, Wiesloch, 2004. In Baxa, Essen, Kreszmeier: Verkörperungen, S. 17 3-17 5

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4. BERICH TE AU S DER S I B-PRAXIS

4. Berichte aus der S I B-Praxis Die folgende Praxisberichte geben einen Einblick in die Vielfalt der praktischen Arbeit mit S I B. Jede der folgenden Autorinnen berichtet über ihre Herangehensweise und ihre spezifische Form der Berührungsarbeit mit S I B.

4. 1. S I B im Dialog mit der Stille, dem Atem und dem Körpergedächtnis (Nurit Sommer) Mir ist wichtig, dass in diesem Buch neben Erklärungen und Beschreibungen einer Lektion auch der Aspekt „zu Wort“ kommt, was S I B in meiner nunmehrigen 25-jährigen Arbeit wesentlich macht. Dafür wurde der „Prolog“ geschrieben. Es ist ein Versuch, zum „Nichtsprachlichen“ eine Brücke zu bauen, „Heilsames“ im Kontext von Persönlichem zu begreifen und das Schöpferische unseres Tuns mit S I B zu benennen. Im 2. Teil meiner Ausführungen beschreibe ich eine berührende Begegnung mit einer Klientin, eine sog. „Fallgeschichte“ . Dabei helfen viele Fotos, um mein Arbeiten mit Lektionen zu illustrieren.

4. 1. 1. Prolog: Stille und Spüren Die eigentliche Wirksamkeit der S I B erfahre ich - neben all den vielen verschiedenen Arbeitsmetho­ den, die ich zusätzlich erlernte - , durch den Raum der Stille und die in ihr entstehende Resonanz, die das ermöglicht, was als heilsam erlebt wird. Diese Erfahrungen schenkten mir die vieljährige Arbeit mit den Lektionen und der Austausch mit Menschen, von denen ich gelernt habe. Sie nähren sich auch von meiner Liebe zur Erde, die ich als einen erweiterten Körper erlebe. Ähnlich der Körper­ intelligenz und dem Zellgedächtnis trägt die Erde ein Wissen, das an manchen Stellen dieses Plane­ ten sehr nahe an der Erdoberfläche zugänglich ist und heilsame Erfahrungen mit und in der Stille ermöglicht.

STILLE UND SPÜREN S I B geschieht, wie vorne schon beschrieben, im „somato-psychischen Dialog“ oft über längere Sequenzen, ohne zu sprechen. Stille, Unvoreingenommenheit und Resonanz ermöglichen dem Ge­ dächtnis des Körpers Erinnerungen freizugeben. Durch die zuvor beschriebenen Berührungsquali­ täten, durch Sanftheit, Verstärkung vorhandener Muster und deren Begleitung ins Neue fühlt der

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ganze Mensch Angenommensein und Wertschätzung für Geschichte und Gegenwart des Daseins. Darin geschieht die Erlaubnis, schlummernde Erinnerungen, die schwer, schmerzhaft oder verstörend waren, freizugeben. Die Stille bleibt davon unberührt. Sie vermittelt Sicherheit und „will nichts“ . Sie gewährt. Muskeln können nachgeben, Atem beginnt zu „ahnen“ , dass „mehr möglich ist“, Bewegungen verdeutlichen ihre räumliche Wirklichkeit und ahnen Erweiterung, Emotionen nehmen ihren Lauf. Die Stille bleibt und führt. In ihr ist alles gehalten und gewusst. Nichts muss sich ändern, manches tut es wie von selbst. Auch Sprache, die aus einer Stille kommt, wirkt auf eigene Weise. Sie beinhaltet eine Qualität, die sich als „wissendes Feld“ des Körpers eine Brücke vom Verstand zur „Geschichte“ , zum Erlebten eines Menschen baut. Sie „begreift“ , „erfasst“ und fühlt, was darin lebt und neue Räume erschließen will. Darin finden sich die Worte, die sich für den jeweiligen Moment als heilsam erweisen. Bonnie Bainbridge-Cohen, die große Körperlehrerin, sagte in einem ihrer Seminare: „I do not know basically. But: I care. And this is very powerful!“

SPÜREN WIR UNS SELBST, SO SPÜREN WIR DIE WELT! Unsere Eigenempfindung beginnt mit unserer Geburt, sich außerhalb des bergenden Mutterleibs wei­ ter zu entfalten. Über Gewicht, Auflagestellen, über den Atem und die verschiedenen Rhythmen und Pulse, die wir als Neugeborene und Kleinkinder spüren, beginnen wir die Welt, die uns umgebenden Räume zu erfahren. Vor allem Berührung und deren verschiedene Qualitäten erschließen uns die Welt der Liebe, des Vertrauens, der Unterscheidung zwischen dem, wer wir, die anderen, die Welt außen und unser Eingebettetsein im großen Ganzen sind. Manches dabei wird früh gestärkt, manches ver­ stört. Wir finden und suchen bewusst und unbewusst lebenslang. Wir lernen als Kleinkinder ununter­ brochen und ganz selbstverständlich unsere jeweiligen Grenzen zu erweitern. Dieser Impuls des Ler­ nens und des Forscherinnendrangs strömt durch uns. Wir wollen das Leben selbst erfahren und begreifen. Wir lernen unter allen nur möglichen Bedingungen: solchen, die förderlich für unser Wesen sind, und auch solchen, die wir uns selbst nicht aussuchen würden. Manche Lernerfahrungen beinhalten große Flerausforderungen: Überforderung, Stress oder ein Zuviel oder Zuwenig, uns nicht gerecht werdende Rhythmen oder Geschwindigkeiten, die uns abverlangt werden, die uns einschränken oder sogar be­ hindern. Wir lernen zunächst, ohne zu bewerten, weil wir es als Kinder eben nicht anders kennen, beginnen wir uns zu entwickeln und Muster von Bewegen, Denken, Fühlen und Flandeln zu entfalten und zu verbinden. In all dem bleibt Neugierde die große treibende Kraft unserer Existenz! Sie würzt das Leben mit so ungemeiner Komplexität.

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4. BERICH TE AU S DER S I B-PRAXIS

„Die menschliche Seele nimmt desto mehr an der Ewigkeit teil, je mehr der Körper zu Vielem geeignet ist!“ (Spinoza) Die Neugierde lässt uns manchmal „zu viel des Guten“ tun, wir beginnen uns anzustrengen, um den Vorstellungen unserer Umgebung mehr und mehr entsprechen zu können. Die natürliche Neugierde wird dann oft gekoppelt mit Belohnung und/oder unangenehmen Gefühlen. Und so entwickeln wir damit oft uns selbst schädigende Bewegungs-, Gefühls- und Denkmuster. Als Erwachsene benötigen wir später Wege, dies zu erkennen und zu unterbrechen und für uns angemessene Stile und Qualitäten für unser Fühlen und Handeln zu finden. S I B ist so ein zu den ursprünglichen Quellen rückführender Weg, in dem S I B die natürlichen Quellen des Lernens selbst benützt.

„WHEN YOU STOP WORKING SO HARD AND RELAX INTO A TRUE SENSE OF YOURSELF, TH AT IS TR U E POW ER!“ 1 Wir unterstützen in der S I B diese Suche im einzig wirklichen Zuhause, in unserem Körper, der uns auf vielschichtige Weise zusätzlich zu unseren Denkmodellen beständig unsere ganz individuellen, eigenen inneren Landschaften erkunden lässt. Er spürt, fühlt und modelliert ständig neu, was an Erfahrungen von Empfindung und Bewegung zur Verfügung gestellt wird. Er lässt uns auch „begreifen“ , wie sehr wir in große Zusammenhänge der Existenz eingebunden sind, indem wir Raum- und Sinneserfahrungen ausweiten können. Die Kraft der Gedanken und ihre Wirk­ samkeit für Handlungen werden wesentlich mitbestimmt vom Eigenempfinden und der Qualität, „in sich selbst zu wohnen“ .

SEE THE LAND ... HEAR TH E LAND ... FEEL TH E LAND ... Jede/r, die/der zu mir kommt, wird gesehen als Wesen, das Schätze von Erfahrung hütet, die gleicher­ maßen Verwandlung und/oder Ausdruck suchen. Ich gehe davon aus, dass ein Mensch jeweils in sei­ ner Ganzheit, d. h. des gelebten, vergangenen, seines gegenwärtigen und auch zukünftigen- also des gewünschten, erhofften, erahnten Lebens anwesend ist. Jede/r trägt all das in sich, was Fragen zu Antworten werden lassen kann. Ich würdige in tief verbundener Weise diese Schönheit in der Existenz der Anwesenden. Meine Arbeit besteht darin, neben all den gesprochenen, erzählten und erinnerten Dimensionen, rückzuführen auf ein viel älteres Wissen, das im jeweiligen Menschen lebt und darauf wartet, in Schwingung versetzt zu werden. Oft kommt diese Suche durch körperlichen Schmerz zum Ausdruck.

1: Thomas Hanna: in: Somatics, Autmn/Winter 1992/93, vol. IX, No 1, s 24

Aber auch seelischer Schmerz entsteht oft, wenn die innere Vielschichtigkeit bewusster wird und damit auch manchmal Angst auftaucht und unsere Vieldimensionalität am liebsten gleich wieder vergessen machen möchte. Die Arbeit öffnet aber auch oft Räume, die bewusst machen, dass der Körper in unermesslicher schöpferischer Fülle lebt, die nichts mit Religion, Dogma jeder Art oder Glauben zu tun hat und eingebettet ist in ein umfassendes Wissen und Geborgensein, das tatsächlich trägt und das der Körper selbst vermitteln kann. Dieses hat keinen (oder auch viele) Namen und keine (oder viele) Formen, es ist aber im jeweiligen Moment schöpferisch und zugänglich für uns. Es lässt sich oft durch größere körperliche Bewusstwerdung spüren. Es erschließt manchmal ganz neue Dimensionen des Seins. Und: Es entwickelt sich oft aus einem stillen, zutiefst empfundenen Raum. Damit erleben wir Rückbindung zu ureigener, natürlicher Kreativität.

Das Stoffliche birgt Nutzbarkeit. Das Unstoffliche wirkt Wesenheit. (Lao Tse)

In diesem Raum und im daraus Berührt- und Bewegt-Werden bahnt sich die Selbstwahrnehmung und damit verbunden die Selbstliebe ihren Weg. In ihr werden vergessene Räume wieder belebt, Lebens­ freude gefunden; Selbstachtung und Selbstliebe erhalten gute Plätze, langgehegte Lebenswünsche tauchen manchmal auf. Auch sie benötigen manchmal längere Begleitung zu ihrer Umsetzung! Selbstliebe in diesem Sinn gestattet auch ein „Sich-mit-anderen-verbunden-Fühlen“ und daraus „Wirksam-handeln-können“ . Der scheinbare, in unserer Kultur praktizierte Gegensatz oder Zwiespalt zwischen innen und außen, zwischen Körper und Seele kann überwunden werden, wenn es ein Gegenüber gibt, aus dem heraus Lernen aus der Gewissheit der oben beschriebenen tragenden Stille möglich ist. In ihr entsteht die Resonanz der Eigenempfindung, in ihr werden die Saiten des Menschen zum Schwingen gebracht, die uns lernen lassen über uns selbst. In ihr wird die Empfindung von Getrenntsein beseitigt und Erfahrung eigener Vollständigkeit geboren. „ Wenn sich die Seele im Körper erholt, ist es, als ob ein Dschungel sich am Zwitschern seiner Vögel erfreut. “ (TV. Sommer) So wie jedes gute Gedicht nicht von sich selbst spricht,1 so gelingen heilsame Interventionen oder musterunterbrechende Einsichten und Lernerfahrungen, wenn Vertrauen und Glaube entstehen, dass

1: S. Ceronetti, zit. in Schrott, S. 19

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4. BERICHTE AU S DER S I B-PRAXIS

Verbesserung oder Heilung „durch Hilfe von außen“ geschieht, obwohl völlig klar ist, dass die eigent­ liche Heilung nur über erlebte Zustimmung zum eigenen Inneren erfahren werden kann. Dieses erfährt Trost, Erweiterung oder Erinnerung durch zusätzliche Verknüpfungen, Gewissheiten und Rahmen, denen ein Mensch auf konstruktive, sinnstiftende Weise begegnen kann. Dies ist der Grund, warum es in allen Kulturen auch Geschichten, Metaphern und Analogien gibt, mit deren Hilfe Orientierung, Ordnung und auch Heilung geschieht. Diese werden oft erzählt, wenn der Körper in Bewegung gerät, Trance-Erfahrungen erlebt oder durch erschöpfenden Tanz sich andere Sinneskanäle öffnen. Also: auch wenn der ganze Körper mit-er-leben kann.

ÄNDERT SICH DIE EIGEN-W AHRNEHM UNG, SO ÄNDERT SICH DIE WELT Klientinnen erleben sich nach S I B-Stunden oft sehr verändert! Ihre Auf- und Ausrichtung, ihre Art des Stehens, die Haltung einzelnen Körperteile zueinander, die Beziehung zum Boden, Bewegungen des Beckens, Atem oder Stimmlage sind oft sehr verändert! Sehr oft erleben wir, dass sich nach S I B-Stunden die Sprache und die Sprechweise im Verlauf der Behandlungen auf ganz natürliche Weise ändert. S I B-Pädagoglnnen sowie -Klientinnen werden in ihren Zustandsbeschreibungen und Wahrnehmungen oft sehr poetisch! Ein Klient stand von der Liege auf und meinte: „Ich spüre zum ersten Mal, dass alle meine Bewegungen dann .richtig' sind, wenn sie aus meinem Bauch und von meinem Herzen kommen!“ Poesie nimmt der Sprache ihre Schärfe und erlaubt daher auch schwierige Zusammenhänge zu begreifen auf eine Weise die ein inneres Begreifen ermöglicht. Sie öffnet analogem Wissen die Türe und bringt Resonanz hervor, die unvorhersehbar und hochwirksam wird! Der australische Aboriginal-Lehrer Max Dulumunmun Harrison beschreibt drei Wahrheiten, die für das traditionelle Wissen seiner Kultur im Austausch mit anderen wichtig sind. Sie hier vorzustellen baut vielleicht eine Verständnisbrücke zum vorher Gesagten und zu meinem Tun in der Praxis:

„See the land ... the beauty; Hear the land ... the story; Feel the land ... the spirit.“ 1

1: S.: Dulumunmun, Max und McConchie, Peter (2009): My People's Dreaming

SEE THE LAND ... TH E BEAUTY Mein Arbeitsraum ist ein stiller Resonanzraum. Viele meiner Klientinnen bemerken sofort, dass sie sich wohl fühlen und entspannen, wenn sie eintreten. Dort beginne ich meine Arbeit vor dem Kom­ men der Klientinnen. Einerseits mache ich meine Silat-(= indonesische Kampfkunst-)-Bewegungen. Sie erden mich, zentrieren mich, machen mir Spaß und bringen mich in die Präsenz. Ich aktiviere damit meine Ausrichtung. Andererseits stimme ich mich auf die Menschen, die zu mir kommen, ein. Ich erwarte Menschen in neutraler, wertschätzender Haltung. Ich höre ihnen beim Formulieren ihrer Anliegen sehr genau zu - im Wissen um die bereits vorhandene, jedoch noch nicht aufgetauchte Lösung oder einen Weg dorthin. Ich bewerte nicht. Ich sehe ihrem Potenzial zu. Ich beobachte sehr genau: Haltung, Bewegungen, Muster, die sich dabei zeigen, die Art des Sitzens, Schauens, Sprechens, die Stimme, Wortwahl etc. Wie zeigt sich der Atem, wie Kopf, Nacken und Rumpf-Verbindungen, Verbindungen ins Becken, zu den Beinen, Füßen. Geerdet-Sein, energetische Anwesenheit, Haut- und Muskeltonus, Farben. Gibt es irgendwo eine Resonanz zu Stille? Wie zeigt sich Weichheit, wie Spannung?

HEAR THE LAND ... TH E STORY ... Alles spricht zu mir, hat Geschichte, zeigt sich. Fast immer kann ich ohne eigene Wünsche oder inne­ re Meinung bleiben. Ich lausche in so etwas wie „den Raum zwischen den Worten“ , „zwischen dem Gesagten“ . Ich höre dem Leben zu, wie es sich vor mir momentan entfaltet. Aus diesem gegenwärti­ gen Lauschen, einer sich innerlich entwickelnden Stille, aus Fühlen und Schauen entwickelt sich mein Tun. Bei Joseph Rael, einem wissenden und heilenden nordamerikanischen Pueblo-Indianer, der auch bildender Künstler, Maler und vor allem Heiler und Bewusstseinsforscher ist, habe ich gefunden, was gut beschreibt, was ich erlebe: „... picking up vibrational messages before the messages become crystallized energy or perceptional form that can be articulated by the brain ... In that process of listening, the voice of guidance is found. This is the place where inspiration hides. At this level of vibration, one receives direct knowing. Decisions which are made are right decisions for that moment because the energy that is being tap­ ped is the voice of the intuitive vibration.“

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So erlaubt dieses innere Stillsein das gemeinsame „Dialogfeld“ und entfaltet seine Wirkung im Raum von Intuition und „Nichtwissen“ . Mit diesem Nichtwissen meine ich den Raum, der in der Stille ent­ steht, sich immer erst im Nachhinein beschreiben lässt und der eigentlich das möglich macht was zu (er-)lösender Erfahrung führt. Ich weiß in meiner Arbeit nie vorher, was entstehen wird! Diesem Nichtwissen traue ich; gemeinsam mit einer unabgelenkten Aufmerksamkeit entwickeln sich Vertrauen und Wirksamkeit. „Es wird uns ja von der Natur alles in die Hände gegeben. Wir müssen es nur sehen und begreifen oder es ein klein wenig wieder sichtbar machen. Sonst ist es ja nichts!“ , sagte der große österreichi­ sche Bildhauer Karl Prantl im Sommer 2009 in einem Gespräch über seine und meine Arbeit.

FEEL THE LAND ... TH E SP IR IT ... Wenn ich sage, ich „schaue dem Leben zu, wie es sich vor mir entfaltet“ , meine ich damit, dass ich aus meinem ganzen Wesen, aus den Erfahrungen, die ich in all meinen vielen Ausbildungs- und Fort­ bildungsjahren gemacht habe (und dieser Prozess ist niemals abgeschlossen), schaue, höre und fühle. Sie haben mich gelehrt, Körper, Seele, Geist, Emotionen, Gedanken, Visionen, Erd- und Le­ bensgeschichten als Einheit zu erleben, zu erkennen und zu würdigen und im richtigen Moment mit der jeweiligen Ebene in Kontakt zu gehen. Ich fühle aus meinem „Körper-Seelen-Wesen“ im Wissen um diese Einheit in meinem Gegenüber. Ich benütze die S I B-Lektionen und die systemischen Interventionen, um diese Einheit, wenn sie verloren gegangen oder „aus der Ordnung herausgefallen“ ist, wieder zu sortieren, physisch wahr­ nehmbar werden zu lassen. Damit kann ganz unmissverständlich „empfindendes Erkennen“ e rs e t­ zen, Erinnerung an eigenes Ganzsein auftauchen, Bewusstwerden des eigenen Selbst mit all seinen Facetten möglicher Einsicht oder Selbstliebe. Dafür ist der somato-psychische Dialog, dieses stille Berühren und Bewegen, ein sehr schöner Weg. Ich arbeite vor allem in Verbindung mit dem Einssein und der Fülle des Lebendigen. Dies läuft meist wie eine Art Hintergrundfilm ständig mit. „Ein endloses Netz von Fäden durchzieht die Welt. Die horizontalen Fäden sind Raum, die vertikalen Zeit. Wo immer sich die Fäden kreuzen, befindet sich ein Lebewesen. Und jedes Wesen ist ein juwe­ lengleicher Knoten. Das Licht des Seins beleuchtet jeden dieser Kristalle, und jeder von ihnen reflek­ tiert nicht nur das Licht, das die anderen Kristalle reflektieren, sondern auch jede Reflexion der Reflexion im ganzen Netzwerk.“ 1

1: Buddhavatamskara Sutra, die auch so schön heißt: Die Sutra der Girlande der Buddhas

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Hier wende ich den sogenannten „Gegenzug“ an. Er dient dazu, den gerundeten Rücken und die Tendenz der vorgezogenen Schultern in ihren ausschließlichen Haltungen zu verändern. Dabei wird der Rücken flacher durch sanfte Züge an den Händen und Armen in jeweils gewohnheitsverstärkenden Richtungen.

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Die haltenden und fixierenden Muskeln werden allmählich durch das „Prinzip der äußeren Kraft“ - dazu verleitet, ihre Haltegewohnheiten aufzugeben. Nachdem der Kopf relativ hoch gelagert ist und die beiden Schulterblätter vorbereitet worden sind, beginnen diese Züge in verschiedenen Winkeln, die allmählich vergrößert werden. Die Schwerkraft unterstützt diesen Vorgang des Rückenerweichens!

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4. 1. 2. Beispiel aus der Praxis Im nun folgenden Beispiel möchte ich beschreiben, wie durch die S I B Lösendes entstanden ist, das ursprünglich als Problem des Atems erlebt wurde. Die Ursache lag allerdings in einer zwei Generationen zurückliegenden Traumatisierung, die in den Körperzellen und ihrem Gedächtnis abruf­ bar geblieben waren! Eines der vielen offenen Geheimnisse des Lebens! Eine 41-jährige Frau, Nora (Name geändert), die in einem Gesundheitsberuf tätig ist, kommt zu mir mit dem Wunsch, es möge sich ihr Atem verbessern. Sie verspürt sehr oft, dass sie nicht durchatmen kann, schnell außer Atem kommt oder Druck empfindet, der sie ängstlich werden lässt. Schulmedizinisch wurde alles dazu abgeklärt. Sie ist verheiratet und trotz eines großen Kinderwun­ sches kinderlos geblieben. An ihrer Körperhaltung bemerke ich, dass sie so sitzt, als würde sie sich um einen Stab winden: die Beine sind unter der Stuhlfläche „verschraubt“ , der Brustkorn hinter den vor der Brust verschränkten Armen, einseitig zusammengesunken und leicht nach links verdreht, ihr Kopf wackelt beim Sprechen hin und her - so als wüsste er nicht, wohin er gehört. Das Kinn wirkt suchend nach vor gestreckt und verursacht eine deutlich wahrnehmbar verstärkte Krümmung der Fialswirbelsäule. Ihre Füße stellt sie zwischendurch so auf, dass nur die Zehenspitzen mit dem Boden Kontakt haben. Sie spricht mit weicher Stimme, manchmal wirkt es, als wäre sie den Tränen nahe.

„Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare“ (Christian Morgenstern): Sie hat sich schon viel mit Veränderungsprozessen beschäftigt, Psychotherapie gemacht und ist jetzt in einer körperorientierten Ausbildung, um ihre berufliche Kompetenzen zu erweitern. Sie berichtet mit großer Empathie über ihre Arbeit und darüber, dass dabei der Atem wichtig ist und dass sie selbst sich so blockiert fühlen würde. Tatsächlich muss sie manchmal ihren Redefluss unter­ brechen, um richtig tief durchzuatmen. Das gelingt dann beim zweiten oder dritten Versuch auch. Ihre Ausstrahlung ist weich und offen und die Art, wie sie erzählt, sprunghaft und wenig strukturiert. Auf meine Frage, was denn anders wäre, wenn sie so atmen könnte, wie sie es sich wünscht oder vor­ stellt, antwortet sie, dass sie dann besseren Kontakt zu sich selbst, aber auch zu anderen hätte, sich mehr trauen würde; und: Sie würde auch sehen „was wirklich ist“ .

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Im Verlauf des folgenden Gesprächs wird klar, dass es einen sehr scheuen, „kleinen“ Teil in ihr gibt, den wir einladen zur gemeinsamen Arbeit. Er erhält - zu meiner Verblüffung - den Namen eines ger­ manischen (!) Ritters. Mir fällt deutlich auf, dass ihr Beckenraum wie „zurückgezogen“ ist, gleichzei­ tig fühle ich, dass dort große Energie gebunden ist. Die Familiengeschichtserhebung beschließe ich in einer der folgenden Stunden nachzuholen, weil ich Zeit genug haben möchte, um das Zusammenspiel aller für die Atmung nötigen Teile im gesamten Kontext zu erkunden. Danach beginne ich mit einer sehr sanften Arbeit auf der Liege in Seitlage, um Wirbelsäule, Rippen, Zwerchfell und Brustbein spürbarer werden zu lassen und um zu verdeutlichen, wie sich diese Teile anfühlen. Ich bemerke, dass es Körperstellen gibt, die sich danach sehnen, ganz klar und strukturiert berührt zu werden, und gleich daneben ist manchmal eine sehr „vorsichtige, scheue“ Stelle, die große Sanftheit benötigt. An den Stellen, die Verbindung zwischen Zwerchfell und Wirbeln haben, beginnt sie zunächst stark zu husten und befreit damit Spannung, die ein leichteres Atmen verhindert. Außerdem erfahre ich durch die fortfahrende Arbeit in Rückenlage, dass sich Nora beim Einatmen jeweils in gegenteiliger Bewegung zwischen Ober- und Unterkörper wie „aufbäumt“ . Ein sehr anstrengendes und energieraubendes Atemmuster. Ihr selbst fällt das plötzlich auch auf und sie berichtet, dass sie „als blaues Baby“ zur Welt kam. Sehr sanft probieren wir verschiedenste Arten des Atmens aus, in dem ich die am weitesten entfernte Stelle, den Kopf, in die Ein- und Aus-Atembewegung mit einbeziehe. Plötzlich bricht Nora in Tränen aus, beginnt ganz tief zu schluchzen. Ich begleite sie dabei still, sie am Ilium berührend. Dann liegt eine meiner Hände auf ihrem Bauch, die andere hält ihre rechte Hand. Sie fühlt sich geschützt und unterstützt. Die Erfahrung beginnt all­ mählich den ganzen Körper zu erfassen und ich nehme die Stellen wahr, die am wenigsten mit Energie versorgt sind. Dorthin lenke ich ihre Aufmerksamkeit mit meinen Berührungen. Nach und nach kommt Leben auch in „unterversorgte“ Teile. Das Schütteln lässt nach, das Schluchzen verebbt. Nachdem diese „Entladung" zu Ende ist, seufzt sie ganz tief, atmet dabei durch und spürt, dass es tatsächlich keinen Zwang zu atmen gibt; dass „das Leben kommt und geht, ohne dass etwas zu tun ist“, wie sie es beschreibt. Während des Weinens ist sie in Seitlage gerollt und liegt nun am Ende der Stunde eingerollt und zufrieden wie ein Baby. Meine Hände haben sie dabei still begleitet.

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In der Seitlage fiel mir zuvor auch die Verschiedenheit ihrer beiden Rückenseiten auf. Sie lag auf der rechten Seite wesentlich entspannter, als ich ihr ein kleines Kissen zur Unterstützung in der Höhe des Übergangs von Brust- zur Lendenwirbelsäule unterschob. Ich nehme eine seitliche Wirbelsäulenkrümmung wahr. In der 2. Stunde erzählt Nora, dass sie diese Art des Atmens von der letzten Stunde immer wieder „herholen“ konnte, dass es jedoch noch nicht selbstverständlich sei, so zu atmen. Sie erzählt mir, dass ihre Mutter zwei - wie sie es nennt - „behinderte“ Geschwister gehabt hat und große Angst in der Schwangerschaft mit Nora hatte, dass auch bei ihrem Kind „etwas nicht stimmen könnte“ . Nora berichtet, dass sie selbst manchmal Angst hat, verrückt zu werden. Sie erzählt weiter, dass sie eine umgelernte Linkshänderin sei und in der Schule große Probleme damit hatte. Sie konnte auch nicht gut lernen und hat keine lange Schulausbildung gemacht. Darunter würde sie manchmal auch leiden. Wir arbeiten diesmal im Sitzen und ich führe sie in ein Bewusstwerden des Zusammenspiels von Brustkorb (Rippen, Brustbein, Wirbelsäule) und Schultergürtel. Sie beginnt im Verlauf der Stunde sehr zu husten und bemerkt, wie sehr sie die Tendenz hat, die Schultern nach vor zu ziehen, um damit die Rippen zu fixieren, und wie sich diese Haltung auf ihre Atmung auswirkt. Nach der Stunde sitzt Nora erstmals nicht mit verschränkten Armen und eine Einseitigkeit in ihrer Wirbelsäule zeigt sich deutlicher. In der Schulmedizin würde man von einer Skoliose, einer seitlichen Wirbelsäulenkrümmung sprechen. Nachdem ich diese unter dem entsprechenden Sitzbein so unterlagert habe, dass es einen Ausgleich gibt, erfährt sie wieder dieses „zwanglose“ Atmen. Sie geht sehr still weg. Die 3. Stunde findet zunächst auf einem großen Ball statt und lässt Nora erleben, wie dieser die von mir ausgeführten Bewegungen und Berührungen zum Ausgleich ihres (einseitig gebahnten) Thorax unterstützt. Auf verschiedenste Weise beginnt ihr ganzer Körper zu verstehen, dass er so etwas wie eine Mitte (Wirbelsäule und Brustbein) hat, die lebendig und beweglich ist. Ich beginne die von ihrem Organismus vorgegebenen „Verschraubungen“ zu nutzen und daraus spür­ bar zu machen, dass es darin auch gegenteilige Richtungen gibt und dass diese Verschraubungen damit auch „Verlängerungen“ werden können. Danach benutze ich den sog. „Gegenzug“ zur Unterstützung der zuvor gebahnten Empfindungen.

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Nach einem sehr ausführlichen Schlussteil steht Nora auf und wirkt größer. Sie beginnt spontan einen sehr feinen Tanz im Raum, der mich berührt und zeigt, welche Lebendigkeit in ihr ist. Dabei ist der Atem kein Thema: Völlig frei bewegt sie sich. In den folgenden zwei Stunden und der Arbeit am Becken kommen wir zu sehr früh, durch die schwere Geburt gebahnten „Verdrehungen“ . Dabei lösen sich sehr tief diese gegenläufigen Tendenzen zwischen Brustkorb und Becken, die wiederum die Atmung verbessern. Gleichzeitig taucht allerdings auch wieder diese Angst vor dem Verrücktwerden auf. Immer wenn sie in Rückenlage die tiefe Atmung erlebt, entsteht so eine Angst. Die nächste, die 6. Stunde widme ich der „Sicherung“ von Nora und benutze dazu ganz klar Rahmen gebende Berührungen und danach frühe Krabbelbewegungen, um einerseits weiter Vertrauen zu ver­ ankern, denn die Bauchlage ist eine Position, in der sich viele Menschen sehr geborgen fühlen. Andererseits sprechen die früh in der kindlichen Bewegungsentwicklung gebahnten uni- und heterola­ teralen Krabbelbewegungen auch die Beweglichkeit der Wirbelsäule an, die Möglichkeiten, Hände und Füße ganz sicher zur Fortbewegung einsetzen zu können. Sie schulen auch die Koordination zwischen Wirbelsäule, Kopf - und Augenbewegungen. Dabei stel­ len sich die einseitigen Verdrehungstendenzen als wahre Fundgrube für Bewegungsmöglichkeiten für Nora heraus. Durch die in den vorangegangenen Stunden wiedererinnerten „Schraubbewegungen“ erlebt Nora jetzt eine Integration und auch viel Spaß, den sie sich lange nicht mehr zugetraut hat. Wir lachen viel in dieser Stunde. Ich rege sie an, einen kleinen Teil von Krabbelbewegungen auch zu Hause zwischen­ durch weiterzuführen. Nora geht beschwingt aus der Stunde und bemerkt erstmals auch, dass es bei ihrem Gehen so etwas wie einen echten „Hüftschwung“ gibt. Nora besuchte danach eine Aufstellungsgruppe, in der sie sich ausführlich mit ihrer Familienge­ schichte beschäftigte. Sie empfand dabei vieles als sehr lösend und heilsam. Ich gehe bewusst hier nicht auf diese Vorgänge ein, da es in diesem Kontext von der Darstellung ablenken würde. Die Auf­ stellungsarbeit hat mit Sicherheit vorgebahnt, was in der nächsten Stunde geschah. So arbeite ich schließlich in der nun folgenden Stunde im Sitzen, in der Absicht, ihr in dieser Posi­ tion ihre z. T. noch alten, aber auch schon neu gebahnten Atembewegungsmuster zu verdeutlichen. Wir nennen in unserer S I B-Sprache die von mir angewendete Lektion „ORA B “ (siehe dazu: Fotoserie im Anschluss).

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Sie benutzt Oberkörper- und Beckenbewegungen und dabei auch die Funktionen des Zusammen­ spiels von Schulter-, Hüftgelenk und Wirbelsäule bzw. Kopf. Um sie zu stabilisieren, gebe ich wieder ein kleines Kissen unter ihr rechtes Sitzbein, sodass es einen Ausgleich gibt. Im Verlauf der Arbeit, in dem Moment in dem sich die Becken- und Thoraxbewegung zu befreien und ein feines Zusammen­ spiel beginnt, beginnt sie herzzerreißend zu schreien und zu weinen. Sie schüttelt ihre Arme und Beine und gerät in einen Zustand in den der ganze Körper einbezogen wird. Ich bleibe ganz klar mit einer Hand auf ihrem Kreuzbein, während die andere Hand überall dort hinführt, wo es mir nötig erscheint, um ihr ihre Grenzen und einen Beistand zu vermitteln, der DA ist, um sie zu führen. Ich übernehme sozusagen eine „Wächterlnnenposition“ , in der sich entladen kann, was sich neue Wege bahnt, ohne dass es ein Zuviel gibt Die gesamte Erinnerung an die verstorbenen Geschwister ihrer Mutter taucht explosionsartig aus den Beckenbewegungen auf. Diese wurden in der Nazizeit als „unwertes Leben“ mit Lungenentzündungsbakterien absichtlich infiziert und getötet. Sie „sieht“ ganz klar vor sich, wie dies geschah - so als wäre sie dabei gewesen. Diese Einsicht droht sie momentweise zu überwältigen und ist schwer aushaltbar. Ich selbst spüre die Fassungslosigkeit und erlaube diesem „geerbten“ Trauma seine lösenden Bewegungen, indem ich sie überall dort halte, wo es nötig erscheint, damit sie nirgends „überladen“ wird. Ich selbst verbinde mich sehr tief mit der Erde. Es dauert eine Weile bis sich diese Mischung aus Verzweiflung, Wut, Hilflosigkeit und „Erkennen, was wirklich war“ (siehe Anfang!) in Tränen tiefen Mitgefühls wandelt. Am schlimmsten empfindet Nora die Tatsache, dass es niemanden gibt, der die­ ses Geschehen auch erinnert... Nachdem sich Nora beruhigt hat, nehme ich einen Stein aus meinem großen Zimmerbrunnen und sie gibt das, was da noch erinnert werden will, symbolisch in diesen Stein. Es verdeutlicht, dass dies von ihr weggegeben wird. Am Ende dieser Stunde liegt sie ruhig und atmet frei mit einer tief gesunkenen Auflage des ganzen Rückens, entspannt und erschöpft. Erstmals ruht der ganze Rücken, ohne die vorgewölbte Tendenz. Der Stein liegt neben ihr. Sie beschließt, diesen beiden Verstorbenen in ihrem Garten einen Erin­ nerungsplatz zu gestalten, in dem auch der Stein, den sie mitnehmen wird, wichtig ist.

Es benötigte dann noch einige Stunden, bis sich Nora einer dauerhaften tiefen Atmung anvertrauen konnte. Aber die grundlegende Einsicht, das Lösen dieses „Familiengedächtnisses“ und die verschie­ denen unterstützenden Interventionen führten sie aus der Scheu und Skepsis, die sie dem „tiefen, globalen Atem“ gegenüber noch hatte, heraus. Sie erfuhr, dass der verbesserte Atem ihr auch neue Erfahrungen in ihrer Sexualität gab und sie be­ gann allmählich auch, ihre so hingebungsvolle Arbeit selbst mehr wertzuschätzen. Das Gefühl, „nicht genug gelernt“ zu haben, begann sich zu verwandeln in ein Wissen, dass ihre Quellen nicht im „Schulwissen“ liegen, sondern in ihrem Wesen.

Through silent resonance You invoke the spirit of change. Through fearlessness You give birth to beauty. Through joy You create your true being. (7V. Sommer)

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Die Fotos zeigen die vorbereitenden Bewegungen der sog. Lektion „ORA B“. Zuerst werden über sanften Druck und Zug des jeweiligen Knies Spielräume im Hüftgelenk und Beweglichkeit der gegenüberliegen­ den Schulter aus­ gelotet.

Das rechte Knie wird in Verbindung zum rechten Hüft­ gelenk bewegt. Tief im Becken­ raum sitzende Spannungen können entlastet werden, der PsoasMuskel wird „ange­ sprochen“, ebenso wie die tief liegen­ den Bauchmuskeln und die Muskula­ tur des unteren Rückens.

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Dann werden die glei­ chen Bewegungen auf der linken Seite pro­ biert. Ist die Bewe­ gung hier selbstver­ ständlicher, leichter, größer, fließender, wei­ ter ...?

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Die Fotos zeigen das Zusammen­ spiel von Hüfte, Sitzbeinen und Becken. Hier Klärung zu schaf­ fen bedeutet an fundamentalen Aufrichtungs­ gewohnheiten zu arbeiten. Sichtbar wird hier, wie der Nacken verlängert wird.

Verbale Anregung, das rechte Sitzbein selbst mehr ins Spiel der Hüftge­ lenksbewegungen zu bringen.

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Allmählich lernt der Nacken, die unnötige Kontraktion zu verringern.

Das Foto zeigt, wie durch die Beuge und Streck­ bewegungen des Thorax in Verbin­ dung mit dem Rollen der Sitz­ beine und des Beckens allmäh­ lich zur Klärung über neue Auf­ richtung geführt wird. Man beob­ achte den Nacken bis zum Ende der Bildserie!

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Herausfinden der augenblicklich passendsten Sitzposition und Aufrichtung des Thorax in Verbindung mit dem Becken durch Eigenbewegung.

Der Nacken beginnt klarer und länger zu werden. Er beginnt seine eigentliche Funktion - die Verbindung zwischen Kopf und Brustkorb müheloser, weniger „kompensatorisch“ zu gestalten.

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4. 2. S I B im Dialog mit Spiraldynamik - Elisabeth Mayr Wenn M enschen sich selbst „begreifen“ , erspüren und sich schätzen lernen, ist der Weg fü r die H eilung freigelegt. (E. Mayr)

Berührung ist ein zentrales Element für uns Körpertherapeutinnen. Meine Hände wurden im Laufe der Jahre zu sehenden, haltenden, verstehenden, begreifenden Helfern und die „Rührung“ blieb nicht aus. Berührende und mobilisierende Körperarbeit ist für mich eine Therapieform, die den gan­ zen Menschen und seine Einbettung in sein soziales Netzwerk betrifft. Durch die besondere Achtsamkeit in der S I B entstand für mich eine Art Paradigmenwechsel in der Arbeit mit Menschen. Ich konnte und durfte Prozesse begleiten, die mir zeigten, welches Lern- und Bewusstseinspotential in Menschen steckt, wenn sie beginnen, ihre Panzerungen zu lösen, und lernen, sich selbst mit Neugier und Offenheit zu begegnen. Durch die Prinzipien von S I B wird bei meinen Klientinnen und Patientinnen ein emotional kognitiver Prozess in Gang gesetzt, der weit über lokal physiotherapeutische Maßnahmen hinausgeht. In meinem Artikel beschreibe ich die für mich zentralen Prinzipien von S I B und welche Berührungs­ impulse dabei durchgeführt werden. Dann lade ich Sie ein, zwei zentrale Teile der S I B-Lektionen kennenzulernen: den sog. „X-Teil“ und den „Y-Teil“ . Danach beschreibe ich die Lernschritte meiner Klientinnen, die ich beobachten konnte. Mein Anliegen ist es, die Unterschiede zur Physiotherapie und das Gemeinsame, das ich speziell in der Spiraldynamik gefunden habe, hervorzuheben und gleichwertig nebeneinander stehen zu lassen. Dabei fokussiere ich die Auswirkungen von S I B auf die funktionell-anatomische Struktur im menschlichen Körper, da die systemischen Zusammenhänge und die psychisch-emotionale Ebene in anderen Artikeln und Beispielen (vergl. Sommer und Schreiner) schon ausführlich behandelt wurden. Was ist Spiraldynamik? Die Spiraldynamik ist ein modernes physiotherapeutisches Ganzkörperkonzept. Namensgebend sind die Spirale als strukturgebendes Bauelement und die rhythmische Veränderung der Welle, die beide als Grundelemente des Lebens gesehen werden. Viele der wichtigsten und gut erforschten strukturel­ len Grundprinzipien einer physiologischen Bewegung, wie sie auch von Piret und Beziers1 und Larson2 beschrieben wurden, habe ich im logischen Aufbau der Lektionen von Alon Talmi wiederge­ funden.

1, 2: S. Literaturliste

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Persönlich habe ich die Spiraldynamik vor ungefähr zehn Jahren entdeckt. Ich war fasziniert, wie klar und logisch die Spiraldynamik den menschlichen Bewegungsapparat erklärt und wie exakt dabei die Strukturen, also Knochen, Muskeln, Gelenke, Bänder und Faszien in Ruhe und in Bewegung erforscht wurden. Wie dieses feinabgestimmte Muskel- und Gelenkspiel im menschlichen Körper ineinander greift, ist von der Fußverschraubung bis hin zur Gesamtaufrichtung des Menschen Thema der Spiraldynamik. Doch erst der spezielle Zugang mit S I B hat mir den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit näher­ gebracht und die Facetten der Wirklichkeit gezeigt. Ich habe erkannt und gelernt, wie entscheidend dieser Zugang zum Menschen den Pleilungsprozess beeinflusst. Am Anfang stand das Wissen um physiologische Normen Der bewegte Körper hat mich schon immer sehr fasziniert. Zuerst als junges Mädchen im Leistungs­ sport, später als Physio- bzw. Tanztherapeutin, und heute als S I B-Pädagogin und Anbieterin der Spiraldynamik. Verschiedenste Techniken, die sehr in die Tiefe der anatomischen Strukturen gehen, wie die manuelle Medizin und die Tuina-Therapie haben meinem Berufsleben Farbe verliehen. Die Physiotherapie und die Spiraldynamik versuchen zu analysieren, Abweichungen von der Norm zu erkennen und zu reparieren. Fragen, die dabei therapeutisches Handeln bestimmen, sind: • Stimmt der Muskeltonus? • Welche Muskeln und Muskelgruppen zeigen eine Verkürzung? • Welche Muskeln und Muskelgruppen sind abgeschwächt? • Wie ist das Gelenksspiel? • Sind die Gelenkspartner zentriert? • Kann der Patient/die Patientin isolierte Bewegungen durchführen? • Wie ist das Körperbewusstsein? • Stehen die Gelenkspartner physiologisch zueinander? • Was stimmt nicht? Und vor allem: • Wie drückt sich diese Fehlfunktion im Körper/in der Haltung/im Schmerz aus? Wie in der Schulmedizin lernte ich meinen Blick auf das Kranke und auf das Abweichen von der Norm zu fokussieren. Hatte ich dann das Mängelwesen Mensch begriffen und waren die oben stehen­ den Fragen beantwortet, so begann ich zu mobilisieren, zu zentrieren, zu dehnen, zu kräftigen, ener­ getisch auszugleichen, an der Aufrichtung zu arbeiten, und versorgte meinen Patienten/meine Patien-

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tin mit einem Heimprogramm. Diese Herangehensweise macht in bestimmten Situationen nach wie vor Sinn, doch wenn es um ganzheitliche Veränderungsprozesse geht und auch darum, dass Menschen erkennen, welches Heilungspotenzial in ihnen schlummert, dann wähle ich S I EiPrinzipien, die ich im Folgenden kurz beschreibe (s. dazu auch Kap.l).

Prinzipien der S I B1 und meine persönliche Herangehensweise Wertneutrales und ressourcenorientiertes Handeln

Der Ausgangspunkt meiner Therapieschritte ist nicht die Fehlfunktion und Abweichung von der Norm, sondern wie ich und wie sich mein Klient/meine Klientin selbst wertneutral wahrnehmen. Ich versu­ che eine Momentaufnahme, also ein Standbild im Hier und Jetzt zu bekommen. Weniger mit dem Ziel, eine physiologische Verbesserung zu erreichen, sondern mehr mit der Idee, den Klientinnen das Vertrauen zurückzugeben, dass ihr Körper, so wie er ist, okay ist, und dass es vor allem darauf ankommt sich wieder spüren und loslassen zu lernen, alles andere stellt sich dann über unser kinästhetisches Lernvermögen ein. Offenes und unvoreingenommenes Begleiten

Diese Wertneutralität zeigt sich in meiner unvoreingenommenen Haltung zu dem Menschen, der mir sein Vertrauen schenkt. Ich selbst bin offen, neugierig und lasse Normen und Regeln los, um ein neues „Spielfeld“ zu eröffnen. Ich werde dadurch zu einem Begleiter und wir werden neugierig auf versteckte oder vergessene Ressourcen. Gemeinsam machen wir eine Entdeckungsreise in das verbor­ gene Potenzial seines/ihres Körpers. Berührt wird immer der gesamte Mensch, es findet keine Konzentration auf den „kranken“ Körperteil statt. • G anzheitlichkeit durch system ische Befragung

Der oben beschriebene Prozess wird durch systemisch orientierte Fragestellungen und Interviews begleitet. Fragen nach dem Krankheitsgewinn oder nach eigenen Wünschen oder nach eigenen Stärken schärfen von Beginn an die Sicht auf das Gesunde und auf eigene Ressourcen. • Lernen durch „Loslassen, Neugier und O ffen h e it“

Im Vertrauen, dass es eine Art Körperintelligenz gibt, wird der/die Klientin von Beginn an über das behutsame „Betten“ ganzheitlich wahrgenommen und in einem wohlwollenden, unterstützenden

1: S. dazu Kap. 1.1. 46: Die dazu gehörigen Lektionen werden in der S I B-Ausbildung auf spezielle Weise, gelehrt. S. dazu: Kap. 1.3. und zur S I B-Ausbildung S. 2 8 ff

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Berührungsdialog über meine Hände begleitet und nie überfordert. Bewegungsgrenzen und Schmerz werden ernst genommen. * Verstärken, „was ist“

In der Physiotherapie wird erkannt, welche Muskeln verkürzt sind und diese werden im Selbsttraining oder gemeinsam mit dem/der Klientin gedehnt. Diese Dehnungen dürfen leicht schmerzen. Bei S I B wird immer zuerst die schmerzfreie, widerstandsfreie Richtung des/der Klientin unterstützt. Ebenso verhält es sich bei der Lagerung des/der Klientin. Das Vertrauen, gehalten zu sein, beinhaltet das Potenzial, loszulassen. Ich verstärke mit einer Auswahl von verschiedensten Polstern Vorhandenes, also auch vorhandende „Fehlhaltungen“ , und dadurch entsteht das Gefühl, nicht mehr „halten“ zu müssen. Sind bspw. die Schultern weit nach vorne gezogen, unterstütze ich genau diese Tendenz des Einrollens mit kleinen Schulterpölsterchen. Der Körper nimmt wahr: „Hier bin ich gehalten, es ist nicht mehr notwendig, Spannung aufzubauen ..." „Akzeptiere, was ist - und lege dein therapeutisches Wissen erst mal in eine Schublade“ war ein Leitspruch in unserer S I B-Ausbildung. Dies war und ist für mich eine große Herausforderung. Ich musste lernen, meine zu diesem Zeitpunkt schon sehr weit entwickelte professionelle Herangehens­ weise zu modifizieren. Es bedeutet inneres Zurücknehmen des eigenen Fachwissens und auf die Lernschritte des/der Klientin zu vertrauen und zu warten. Zu Beginn der Ausbildungszeit merkte ich, dass ich oft große innere Widerstände gegen diese neue Herangehensweise und gegen die gelebte Langsamkeit aufbau­ te. Denn meine eigene Sozialisation in unserem Bildungssystem war völlig anders und in einer viel größeren Geschwindigkeit gestaltet. Doch ich konnte die Erfahrung machen, dass die sehr entspannte, oft auch humorvolle Atmosphäre mich auf eine andere Art und Weise berührte, als ich es gewohnt war. Mitunter wird schon am Beginn einer Sitzung bei der anfänglichen Wahrnehmungsreise gestaunt und auch gelacht. Manchmal herrscht jedoch auch bedrückte Stimmung, bspw. wenn Menschen sich abwerten oder sich nicht mehr spüren können. Im Selbsterleben kommt Krankhaftes, Falsches, Komisches, auch „Blödes“ zum Ausdruck.

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„Heute liege ich wieder so komisch-blöd da“ oder „Was soll ich spüren - stimmt etwas nicht mit mir?“ Erst wenn ich erkläre, welche Wichtigkeit die Wahrnehmung und die neutrale offene Haltung hat, und dass es nicht um Abweichung und Abwertung geht, beginnen viele Klientinnen neugierig auf sich selbst zu werden, sich zu spüren. Beim Vergleich der Körperseiten werden Unterschiede bewusst. Angenehmes und Unangenehmes kann in einer neutralen Form angesprochen werden. Manchen Menschen fällt es schwer, sich auf sich selbst einzulassen. Es kann sein, dass Ungeduld zum Ausdruck kommt. Auf die Frage „Wie fühlt sich heute Ihre Auflage an?“ kommt: „Passt eh, ich liege nicht so schlecht.“ Oft spüre ich den dahinter liegenden Wunsch der modernen „Reparaturmedizin“ : „Spüren will ich nicht, sondern tu etwas mit mir, damit ich wieder heil werde, währenddessen mein Geist diesen Raum verlässt!“ Menschen, auch Therapeutinnen, stehen oft unter massivem Zeitdruck und wollen anfänglich nicht die kostbare Zeiteinheit mit Spüren und Auf-sich-Einlassen vergeuden. Doch eben auch die Zeit, eine Sitzung bei mir dauert mindestens 60 Minuten, schafft eine neue Art der Beziehung. Die einzelnen Berührungsschritte werden sehr langsam, sanft auf das Bewegungspo­ tenzial des/der Klientin abgestimmt. Wir haben Zeit, Gefühle, die während einer Sitzung entstehen, anzusprechen. Im Behandlungsraum, dem sogenannten „Bernsteinzimmer“ , herrscht eine wohnliche Atmosphäre. Es dominieren gelbliche und orangebraune Farben. Es liegen ausreichend Decken, Kissen, Rollen und auch Taschentücher bereit. „Wenn ich Ihre Räumlichkeiten betrete, beginne ich loszulassen.“ Mit diesem Satz betreten viele Menschen das Bernsteinzimmer. Sie tragen bequeme Baumwollkleidung, da die Berührung durch diese Kleidung stattfindet und nicht, wie bei vielen physiotherapeutischen Methoden, direkt auf der nackten Haut durchgeführt wird. Erstaunlicherweise wird die Berührung trotzdem als sehr „nahe“ wahrgenommen und gleichzeitig schätzen es viele Menschen, durch ihr Gewand einen gewissen Schutz um sich zu haben. Es entste­ hen weniger Schamgefühle.

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Berührungsimpulse der S I B (s. dazu N. Sommer, Kap. 2. 2. 3. Alons Lektionen und die Prinzipien der S I B) Im Dialog der Berührung werden verschiedenste Impulse in einer besonderen Art und Weise durchge­ führt. Ich nenne es „Prinzip der Achtsamkeit“ . Dieses setzt eine besondere Konzentration voraus und erlaubt kein gedankliches Abschweifen des/der Behandlerln. Um eine Vorstellung von der Arbeit zu geben, beschreibe ich einige dieser Berührungs- und Mobilisationsimpulse. Kompressionen und Züge

Diese werden oft an und über hervorstehenden knöchernen Strukturen, Weichteilen oder Extremitäten ausgeführt, bspw.: • an den Armen und Beinen • an den Darmbeinkämmen • an den Sitzbeinen • am Hinterhaupt, Kopf • an den Schultern • am Brustkorb und an den Rippen Kreisende oder rotierende Bewegungen

Diese werden immer zuerst in die Richtung, die der/die Klientin zulassen kann, durchgeführt: • an den Schultern • an den Armen und Beinen • an den Zehen, Finger • am Kopf Gegenläufige Verschraubungen

Diese erinnern an spiralige, gegenläufige Bewegungen: • an Schultergürtel/Becken • an Becken/Rumpf und Rippen • Anhaken und Rotationsimpulse an den Quer- und Dornfortsätzen • translatorische Bewegungen mit Kompression am Schulterblatt • beckenaufrichtende Kompressionsimpulse an den Darmbeinkämmen

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Die Ausführung der Impulse

Die Ausführung der Impulse prägt die Antwort des/der Klientin und beeinflusst damit dessen/deren Lernmöglichkeit. • Die Impulse haben Dialogcharakter und werden immer in Bezug zu dem/der Klientin gesetzt. • Impulse starten in der Körpermitte des/der Behandlerin und werden nicht nur über die Hände ausgeführt • In der Impulsrichtung und der Impulsstärke werden die Grenzen des/der Klientin respektiert und ernst genommen • Wartend auf die Reaktion des/der Klientin werden die Reizimpulse verstärkt oder reduziert • Es wird ausreichend Zeit gegeben, den Impuls wahrzunehmen und zu verarbeiten. • Die Atemantwort benötigt Zeit und bleibt immer im Fokus des/der Behandlerin (siehe Sommer, Kap. 2.2.3.).

Der nonverbale Dialog der Berührung beginnt: der „X-Teil“ » Ankommen

Nachdem der/die Klientin gut angekommen ist, sich wahrgenommen hat, Unterschiede an sich ent­ deckt hat, durch systemisches Befragen die ersten Zusammenhänge verstanden hat, möchte ich den sog. „X-Teil“ näher beschreiben. • Erstkontakt in Seitlage

Mit dem Wirbelsäulengang in Seitlage, dem sog.„X-Teil“ , beginnen viele Sitzungen. • Rotationsimpulse an den Dornfortsätzen

Ich versuche Dornfortsatz für Dornfortsatz mit einem kleinen Rotationsimpuls, der in Richtung Zimmerdecke ausgeführt wird, aus der muskulären Panzerung zu lösen. Dabei achte ich auf den Bewegungsspielraum und auf die Grenzen meines Klienten/meiner Klientin. Dort, wo meine Finger ein Halten spüren, wird mein Bewegungsin put weniger, manchmal genügt es, dass ich mir den Bewegungsimpuls vorstelle. Ich bleibe dort, wo ich Schmerzen erkennen bzw. erspüren kann. Loslassen - spüren - zulassen.

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Im Fluss der Atmung sind die (un-)ausgesprochenen Aufträge für Klientinnen und Therapeutinnen. Für mich entsteht so etwas wie ein harmonischer Tanz, der mich an den Argentinischen Tango erin­ nert. Im Vertrauen, dass der/die Tanzpartnerin folgt, werden in voller Konzentration aufeinander schwierigste Schrittfolgen (Bewegungssequenzen) mit eleganter Leichtigkeit ausgeführt. Der Bewegungsimpuls nimmt seinen Anfang in meiner Mitte - in meinem Becken - und richtet sich nach meiner Bewegungsdurchlässigkeit. Je leichter ich in den gewünschten Bewegungsfluss starte, desto leichter und selbstverständlicher setzt er sich bei meiner/meinem Patientin fort. Aus meiner Sicht erfährt die Wirbelsäule dadurch eine Lösung der Wirbelbogengelenke. Die kleinen tiefliegenden autochthonen Rückenmuskeln, die zwischen den Dorn- und Querfortsätzen liegen, werden gelockert und entspannt. An den oft schmerzenden Bandansätzen verbessere ich die Durchblutung. Die Wirbelsäule wird beweglicher und die Tonisierung normalisiert sich, ein „Eutonus“ entsteht. Klientinnen lernen den richtigen physiologischen Tonus zu finden. • Züge und Kompressionen am Becken

Unser „Tango“ wird im Becken fortgesetzt. Durch einen dreidimensionalen Kompressions- oder Stauchungsimpuls, den ich über den oben liegenden Sitzbeinhöcker ausführe, bringe ich die Beckenschaufel, die ich mit der zweiten Hand führe, nach vorne oben innen. Die Lordose in der Lendenwirbelsäule verstärkt sich leicht. Dies entspricht nach spiraldynamischer Sicht einer „Innen­ spirale“ . Die Bewegung entspricht der Spielbeinphase des Gangbildes. Danach ziehe ich das Darm­ bein (Beckenschaufel) in die Gegenrichtung - also nach hinten unten außen. Daraus ergibt sich eine spiralförmige Drehung des Beckens, die der Gangbeinphase entspricht. In der Spiraldynamik wird diese Bewegung „Außenspirale“ genannt. Beide Richtungen führe ich eine Zeit lang fließend und mit unterschiedlichem Rhythmus durch. In dieser Bewegungseinheit spürt der/die Behandelte die Bewegungsvielfalt, nennen wir es „die Leben­ digkeit des Beckens“ . Verspannte Muskeln im Kreuzbereich und Hüftbereich lösen sich, die Gelenke zwischen Darm- und Kreuzbein werden frei und Schmerzen in dieser Region verschwinden. Ein freies Becken hat erstaunliche Auswirkungen auf das äußere Erscheinungsbild und auf das „Gangbild“ des Menschen. Angedeutete gegenläufige Verschraubungen

Ich ziehe wieder am oberen Darmbein (Außenspirale).Durch einen flächig ausgeführten Griff mit der zweiten Fland an den unteren Rippen begleite ich diese in die Gegenrichtung nach vorne oben und

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folge den Atembewegungen. Wenn es der Klient/die Klientin zulassen kann, führe ich mit den Rippen eine leichte Drehung, eine gegenläufige Verschraubung nach vorne aus. Wieder erinnert diese Ver­ schraubung an das Gehen mit dem von der Wirbelsäule eingeleitetem Armpendel. Dabei wird ein gehaltenes Zwerchfell frei und die Lungen werden gut belüftet. Ich wiederhole diese Bewegungen fließend und sanft. Bei meinem Klienten/meiner Klientin spüre ich, wie schrittweise Gehaltenes frei wird und der ursprünglich starre Brustkorb zu schwingen be­ ginnt. Die vergessenen Atemräume beginnen sich locker mitzubewegen und werden wieder belüftet. Mit einem leichten Zug (Traktion) über das oben liegende Darmbein und einem leichten Anheben der Dornfortsätze der Brust- und der Lendenwirbelsäule öffne ich nochmals den Raum zwischen Rippen und Becken. Ich sitze auf einem Hocker seitlich zur Therapieliege mit meinem Blick in Richtung Kopfende. Da­ durch ist es mir möglich, den Traktionsimpuls über mein Becken zu starten. Mit mitschwingenden Vor- und Rückbewegungen ordnet sich mein Körper in den Bewegungsfluss ein. Die Bewegung geht mühelos vor sich. Wieder zurück in der Rückenlage spüren meine Klientinnen welches „Loslasspotenzial“ in ihnen schlummert. Die beiden Seiten fühlen sich asymmetrisch an. „Meine bearbeitete Seite ist viel länger, meine Lendenwirbelsäule hat Kontakt, obwohl ich ein Hohlkreuz habe." oder „Die gesamte Körperseite ist warm, hell und liegt gut auf - ich spüre die Entspannung bis in mein Gesicht, bis in meine Haarwurzeln", „Mein Brustkorb und meine Rippen können sich beim Atmen öffnen, die Seite fühlt sich leicht an", "Ich fühle mich unendlich lang." Oft sind diese neuen Körperwahrnehmungen von starken Emotionen begleitet (auf die in den Beiträgen von Gudrun Schreiner und anderen näher eingegangen wird). In der S I B werden immer beide Körperhälften -de r gesamte Mensch - behandelt. Meistens hat die eine Körperhälfte schon von der anderen gelernt und profitiert. Auch in der Physiotherapie gewinnt die Körperwahrnehmung - das Spüren - zunehmend an Bedeutung. Dazu haben Methoden wie die Osteopathie, die cranio-sacrale Therapie, die Spiraldynamik, die Alexandertechnik, die JakobsonMethode und die Feldenkraismethode - um einige zu nennen - einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich wiederhole die einzelnen Schritte bei der anderen Körperhälfte und lasse den Klienten/dieKlientin wieder die Unterschiede in Rückenlage spüren. Dann schiebe ich eine große mittelweiche Rolle unter die Kniegelenke. Abgehobene Schultern unterstütze ich durch Pölsterchen in Keilform. Ich prüfe nochmals die Kopfauflage, um sie eventuell mit einem flachen Polster zu unterstützen.

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Rotationsimpulse an den Querfortsätzen

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Die Verbindung der Körperhälften in Rückenlage - Y-Teil Um ein gutes Gefühl für Symmetrie zu bekommen, gibt es im Anschluss an die Arbeit mit den Körperhälften einen Abschlussteil, auch „Y-Teil“ genannt. • Rotationen und Drehungen, Anhaken der Querfortsätze

Zuerst teste ich in der Rückenlage mit meiner Hand an der Stirn des Klienten/der Klientin, ob sich der Kopf leicht drehen lässt. Nachdem ich diesen behutsam angehoben habe, beobachte ich dessen Bewegungsfreiheit mit sehr kleinen Kreisbewegungen. Hier kann ich gut die Beweglichkeit der beiden oberen Kopfgelenke spüren. Die sanften Kreise erinnern mich an die liegende Achterbewegung der Spiraldynamik. Frei bewegliche Kopfgelenke runden rhythmisches lockeres Gehen ab. Durch sanftes Anhaken und Ziehen an den Dornfortsätzen der Halswirbelsäule verlängere ich diese und löse dabei die oberflächigen und tiefen Nackenmuskeln. Die austretenden Nerven bekommen in ihrem Nervenkanal wieder mehr Raum, Gefühlsstörungen und Schmerzen in den Armen verbessern sich dabei häufig. Die neu gewonnene Bewegungsfreiheit beobachte ich wieder durch das zuvor beschriebene Anheben des Kopfes. • Kopfkompressionen

Nun beginne ich mit den verschiedenen Kopfkompressionen bei aufgestellten Beinen. Die Kompressionen werden von mir 1. 2. 3. 4.

horizontal - d. h. über den Hinterkopf axial, Richtung Brustkorb, schräg - d. h. immer auf einer Seite des Hinterkopfs mit Handwechsel, seitlich - d . h. in Rotationsstellung mit Handwechsel und nochmals schräg und horizontal

durchgeführt. Bei meinem Klienten/meiner Klientin kann ich gut die Bewegungsdurchlässigkeit der Wirbelsäule spüren. Wir fühlen beide genau, wo der Kompressionsimpuls ankommt - bzw. wie weit er sich im Körper fortsetzt. Manchmal lässt sich der Impuls bis ins Steißbein weiterverfolgen. Ich begleite die Kompressionen immer mit einer sehr zarten entlastenden Traktion. Dadurch entsteht eine Art „schwingende“ Körper. Neben der entspannenden Wirkung auf die gesamte Muskulatur bekommt sie den schon erwähnten Eu-Tonus. Nochmals verstärke ich die entspannende Wirkung auf

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den M. trapezius, indem ich ihn beidseits drücke. Dabei bleibe ich auch auf den schmerzhaften Punkten, bis ich spüre, dass sich die Spannung auflöst. • Rippenzüge

Ich öffne mit den Rippenzügen ein weiteres Mal die Thoraxhälften, indem ich die Rippen von der gegenüberliegenden Bettseite aus zu mir ziehe. Hier wiederhole ich die spiralige Verschraubung der Rippen, die oft durch hörbar genüssliche Atemzüge beantwortet werden. • Aufrichtende Beckenkompressionen

Für die jetzt stattfindende Beckenkompression nehme ich mir ausreichend Zeit. Das Finden der Mitte zentriert den Menschen. Ich setzte einen Kompressionsimpuls an den Darmbeinkämme mit einem leichten Rotationsimpuls, wodurch sich das Becken aufrichtet. Mein Klient/meine Klientin spürt nochmals intensiv die Auflage seiner/ihrer Mitte und die Freiheit seines/ihres Beckens. • Kompressionen, Züge, kreisende Bewegungen

Mit einer Rolle unter den Knien wird erst ein Bein und dann das andere komprimiert und gezogen. Wieder kann ich die Bewegungsdurchlässigkeit gut beobachten. Anschließend bewege ich kreisförmig die Hüft-, Knie- und Fußgelenke. Manchmal lasse ich mich auch hier zu kleinen Achterbewegungen verleiten. Hier zeigt sich nochmals, ob der/die Klientin das Loslassen gelernt hat. Jetzt lege ich eine kleine, etwas härtere, doch mit Schaumstoff überzogene Bambusrolle unter den Nacken, komprimiere und ziehe den Klienten/die Klientin nochmals von den Füßen über die gestreck­ ten, angehobenen Beine. Dadurch kann er/sie die Bewegungsdurchlässigkeit bis in den Nacken und Kopf spüren. Dieses Schwingen beende ich mit einem größeren Zug, bis der/die Klient/in von der Nackenrolle rutscht. Sofort werden beide Beine aufgestellt. Rüttelnd ziehe ich an seinen/ihren Ober­ schenkeln, dabei legt sich sein/ihr Rücken wieder gut auf der Liege ab. Ich dehne nun auch die Arme und bewege sie rotierend durch. Die Lektion endet mit neuerlichen Lockerungen und Kompressionen am Kopf, die Beine liegen wie­ der auf der Rolle. Meistens gebe ich den Klienten/der Klientin noch einen flächigen Kontaktimpuls an den Fußsohlen, manchmal zeige ich den Füßen die gegenläufige Spiralbewegung der Fußver­ schraubung, da für mich die Füße und die dadurch stattfindende Erdung ein besonderes Anliegen sind.

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Öffnen des Raumes zwischen Rippen und Becken

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Das Schlussritual: Spüren, vergleichen, die gewonnene Bewegungsvielfalt bei Alltagsbewegungen wahrnehmen

Es ist für meinen Klient/meine Klientin und mich wichtig, einen guten gemeinsamen Ausklang zu erleben. Wie zu Beginn wird dieses Spürerleben mit verschiedenen Fragen begleitet. „Wie spürt sich Ihr Körper jetzt an? Können Sie Unterschiede wahrnehmen?“ Meist bedarf es weniger Worte, da das Spürerlebnis sehr intensiv ist. Es kommen blumige, bunte Erklärungen eines neu entdeckten Körper­ gefühls, das auch von starken Emotionen begleitet sein kann. „Jetzt fühl ich mich wie ein ausgedehntes Reis-Sackerl.“ „Ich habe das erste Mal Kontakt mit meiner Lendenwirbelsäule und der Spannungszustand, die Schmerzen sind weg - es ist, wie schwerelos zu sein. “ „Es ist wunderbar, ohne Schmerzen am Rücken zu liegen, wie neu geboren zu sein. “ Wir beobachten das Aufstehen und den Stand: „Das Stehen fühlt sich irgendwie leicht an, anstrengungs­ los ist meine Wirbelsäule gestreckt - bin ich größer?“ „Es fällt mir fast schwer, meinen Buckel wieder einzunehmen. “ Ein wichtiges Ziel für mich ist, dass aus diesem unbewussten Lernen Bewusstheit für den Körper ent­ steht. Dauerhafte Veränderungen benötigen Beschäftigung mit sich selbst. Meine Klientinnen und Patientinnen bekommen ein kleines Bewegungsritual als Hausübung mit. Ich fordere sie auf, öfters am Tag innezuhalten und den Nacken wahrzunehmen oder zu spüren. Wenn er/sie dann seine/ihre hochgezogene Schultern erkennen kann, dann fordere ich sie auf, diese Spannung erstmals zu verstärken. Meist nehmen sie dann wahr, dass in diesem Moment dann auch die Atmung gehalten ist. Manchmal können sie eine erhöhte Herzfrequenz beobachten. Wenn dann im Anschluss das Lösen sich wie von selbst einstellt, hat ein wichtiger Lernschritt stattgefunden. Ich lasse meine Klientinnen auch gerne benennen, wie sie sich in ihrer neuen Aufrichtung erfahren, wie sich das auf ihr Mann-/Frau-Sein auswirkt und ob eine Veränderung auch von ihren Familien und Freunden wahrgenommen wird. Was ist passiert - Lernprozesse durch SIB

Für mich lösen sich mit SIB - vor allem durch Rotationsimpulse, Traktionen und Kompressionen blockierte Gelenke, in unserem Beispiel an der Wirbelsäule, den Wirbelbogengelenken, den Gelenken zwischen Rippen und Wirbelsäule oder dem Kreuz-Darmbein-Gelenk. Durch das Mitgehen des Thera­ peuten/der Therapeutin und die vertrauensfördernde Sanftheit der Methode entsteht eine behutsame Schwingung, die auf unbewusste Weise die Entspannung stark verspannter Muskelgruppen herbei­

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führt. Durch Drücken verschiedener Punkte und dreidimensionale Massagetechniken wird diese Wirkung verstärkt. Das Lockern der kleinen Gelenke und auch der tiefliegenden Muskeln löst innere Blockaden. Dies wirkt sich befreiend auf innere emotionale Blockaden aus und Menschen lernen dadurch innere Zusammenhänge zu erkennen. Durch die Fähigkeit, differenziert loszulassen und Bewegungen ohne Widerstand zuzulassen, entsteht ein neues Körper- und Bewegungsbewusstsein, dass sich durch Leichtigkeit und Ästhetik auszeichnet. Diese Leichtigkeit in der Bewegung überträgt sich auch in den Alltag. Schweres, Belastendes kann dadurch verabschiedet werden. Aus spiraldynamischer Sicht wird der Abstand zwischen den beiden Polen, Becken und Kopf, physio­ logisch vergrößert, wodurch schmerzhafte Stauchungseffekte verschiedenster Strukturen positiv beein­ flusst werden. Dem Prinzip der Spirale - als Urform menschlicher Bewegung - wird durch das Setzen von dreidi­ mensionalen Kompressions- und Traktionsimpulsen in physiologischer Weise Rechnung getragen. Die Richtung der gesetzten Impulse fördert die innere Auf- und Ausrichtung. Pädagogisch-psychologisch wird durch die Akzeptanz des momentanen Zustands ein Bewegungs- und Denkpotenzial freigesetzt. Zirkuläres Befragen (siehe Artikel Gudrun Schreiner) unterstützt diesen Effekt und lässt ein Nachdenken über sich selbst und das eigene Umfeld in anderer Weise zu. Klientinnen erinnern sich plötzlich in emotionaler Weise an vorsprachliche seelische Traumata und an lang zurückliegende Verletzungen und Kränkungen. Diese verlieren dadurch häufig ihren schmerzhaf­ ten Charakter und kleinere Wunden können in der gemeinsamen Reflexion aufgearbeitet werden. Bei schwerwiegenden psychischen Verletzungen empfehle ich meinen Patientinnen, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Ich persönlich habe durch die Systemische und Integrative Bewegungslehre viel über menschliches Lernen, die menschliche Wahrnehmung und das Selbstwertschätzen gelernt. Sie hat meine Heran­ gehensweise zu Menschen, egal mit welcher Methode ich sie therapiere, nachhaltig in positiver Weise beeinflusst. Ich habe meine eigene Geschwindigkeit und die Kraft der Langsamkeit wieder entdeckt. Das Zu­ sammenführen des spiraldynamischen Ansatzes mit der Systemischen und Integrativen Bewegungs­ lehre hat die Qualität meiner Arbeit entscheidend verbessert. Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit bei Dr. Nurit Sommer und Gudrun Schreiner für dieses wertvolle Konzept, ihre fachliche Kompetenz und ihre menschlichen Impulse herzlich bedanken!

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4. 3. S I B im Dialog „m it traumatisierten Klientinnen/ Verein Z E B R A “ - Gudrun Schreiner Heimat im Körper wiederfinden: S I B in einem Therapiezentrum für Opfer von Krieg und Folter

Ziel des Beitrags Ich habe mich für dieses Interview entschieden, weil ich Menschen eine Stimme verleihen möchte, die zu den vergessenen Gruppen in unserem Land gehören. Ich bin dankbar, dass ich mit S I B eine Methode zur Verfügung habe, die den Heilungsprozess nach Kriegstraumen unterstützen kann. Ziel des Beitrages ist, neben der Wirksamkeit von S I B über den kulturellen Hintergrund, die Lebens­ bedingungen und die Notwendigkeit von Behandlung von Menschen mit sequenzieller Traumatisie­ rung zu informieren.

Der Verein ZEBRA/Rahmenbedingungen Der Verein ZEBRA wurde 1987 in Graz gegründet und betreibt ein Rehabilitations- und Therapie­ zentrum für Opfer von Krieg, Folter und anderen Arten von Gewalt. Das Angebot dieses Therapiezent­ rums ist interdisziplinär und besteht aus rechtlicher, sozialer, medizinischer, psychiatrischer und psy­ chotherapeutischer sowie körpertherapeutischer Unterstützung. Zielgruppen sind: Kriegs- und Folter­ opfer, Asylwerberlnnen, Konventionsflüchtlinge und deren Familienangehörige. Innerhalb eines EU-Projektes mit interdisziplinärem Konzept beschäftigt das Therapiezentrum zum Zeitpunkt des Interviews fünf Psychotherapeutinnen, einen Feldenkrais-Bewegungspädagogen, eine S I B-Bewegungspädagogin (Gudrun Schreiner), eine Sozialarbeiterin, eine Juristin, eine Konsiliarpsychiaterin und Dolmetscherinnen in allen Sprachen der Herkunftsländer der Klientinnen. Die Hauptbezugsperson für die Klientinnen ist die jeweilige Psychotherapeutin. In Absprache mit dem Team werden Klientinnen nach bestimmten Kriterien zur „Körpertherapie“ empfohlen. Dem kul­ turellen Hintergrund und den traumatischen Erfahrungen entsprechend werden Frauen eher der weib­ lichen und Männer dem männlichen Körpertherapeuten zugeordnet. Zum Informationsaustausch zwi­ schen Psychotherapie, Sozialarbeit und Rechtsberatung dienen Team- bzw. Intervisionssitzungen. Diese Sitzungen sind nicht nur für die gute Zusammenarbeit und das Abstimmen der therapeutischen Interventionen wichtig, sie dienen auch der Psychohygiene des therapeutischen Personals.

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Die Klientinnen sprechen in der Regel kein oder nur sehr wenig Deutsch. Während Psychotherapie nur mit Dolmetscherin möglich ist, arbeiten die Körpertherapeutinnen meist nur beim Erstkontakt mit Übersetzung, im Laufe der Behandlungsphase dann je nach Anlass Gudrun Schreiner im Interview mit Elisabeth Schwarzbauer1

Gudrun, du arbeitest schon seit langem mit der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre (S IB) in deiner Praxis und seit fünfJahren auch im Team des Therapie- und Rehabilitations­ zentrums. Zur Zielgruppe gehören Menschen, die durch Krieg, Folter und andere Formen von Gewalt traumatisiert sind. Fasse bitte zusammen, was unter Traumatisierung verstanden wird. Ein Trauma ist eine psychophysische Erfahrung des extremen Schreckens, der Bedrohung des eige­ nen Lebens oder nahestehender Menschen mit schweren Folgen. In der Fachsprache werden die Folgen als posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichnet (vgl. Rothschild u. a.). Was genau bedeutet PTBS?

In ihrem Buch „Der Körper erinnert sich" schreibt Babette Rothschild: Als PTBS bezeichnet man anhaltende Symptome erhöhten „Arousals“ im autonomen Nervensystem. Sie beschreibt das wie folgt: „PTB S beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit der Betroffenen. Sie macht es schwer, alltägliche Bedürfnisse zu erfüllen und ihren wichtigsten Pflichten nachzukommen. PTBS ist eine komplexe psychobiologische Störung, die infolge lebensbedrohlicher Ereignisse eintreten kann, wenn die psychi­ schen und somatischen Stressreaktionen noch lange nach Ende des traumatischen Ereignisses an­ dauern. "2 PTBS kann als Folge von real wahrgenommenen Bedrohungen des Lebens oder körperlicher Unversehrtheit auftreten, bei Miterleben von Gewalttaten, denen andere Menschen zum Opfer fallen und bei Benachrichtigung über Gewalterlebnisse oder über den Tod nahestehender Menschen, nach Ereignissen wie Gewalt, Geiselnahme oder Gefangenschaft, Terrorismus, Folter, Naturkatastrophen etc.3 Mit PTBS assoziierte Symptome sind bspw. Flashbacks (Wiedererleben der Ereignisse in unterschied­ lichen sensorischen Formen), das Vermeiden aller Dinge, die an das Trauma erinnern, chronische Übererregung des autonomen Nervensystems, bspw. beschleunigte Flerzfrequenz oder Plerzrasen, Aus­ bruch von kaltem Schweiß, beschleunigter, flacher Atem, Atemlosigkeit, übertriebene Schreckreak­ tionen.

1: Elisabeth Schwarzbauer arbeitet als Psychotherapeutin in Graz. 2: Vgl. Rothschild 2008: S. 85 3: Vgl. Rothschild 2008: S. 24 ff

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Bei Chronifizierung kann es zu Schlafstörungen, Appetitverlust, Konzentrationsverlust, sexueller Dysfunktion u. v. m. kommen. Ich erlebe sehr häufig, dass meine Klientinnen bei ZEBRA unter star­ ken, fast nie endenden Kopfschmerzen leiden, wie wenn ihr „Kopf bald platzen würde“ , aber auch unter Taubheit von Gefühlen und Empfindungen. Sie stehen häufig unter Einfluss von Schmerzmitteln und Psychopharmaka sind oft unerlässlich. Ich erlebe sequenziell traumatisierte Menschen, das sind jene, die über längere Zeiträume immer wieder traumatische Erfahrungen gemacht haben, als verängstigt und verunsichert. Sie haben sprichwörtlich den Boden unter den Füßen verloren und sind aus dem Gleichgewicht. Hier drückt sich durch die Sprache schon aus, was psycho-physiologisch geschehen ist. Flüchtlinge fühlen sich auch heimatund zukunftslos.

Kannst du eine kurze Beschreibung der Lebensbedingungen geben? Welche Umstände wirken aktuell in die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen hinein? Die Heimatlosigkeit der Klientinnen ist ja nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine Tatsache. Das Land, aus dem sie kommen, ist zwar ihr Herkunftsland, aber sie würden sich an den Orten des Schreckens nicht mehr heimatlich fühlen können, im Gegenteil. Sie können das Land, in dem sie jetzt sind, nicht als Heimat wahrnehmen, noch nicht, vielleicht nie. Viele der Klientinnen bei ZEBRA sind noch keine anerkannten Flüchtlinge, sie befinden sich noch im Asylwerberstatus. Sie sind in Pensionen untergebracht und leben dort in sehr engen Wohnverhältnissen. Sie wohnen meist mit Familien aus anderen Nationen, mit denen sie sich nicht verständigen können. Und sie leben weit unter der Armutsgrenze. Konflikte und Stressreaktionen sind beinahe vorprogrammiert. Es ist, als würden sich die Erfahrungen immer in abgeänderter Form wiederholen: die Situation, nicht entkommen zu können, nicht erwünscht zu sein, „keinen Platz“ zu haben. Das sind auch Faktoren, die zu Re-Traumatisierung hier in unserem Land beitragen. Unsere Kultur ist ihnen fremd, sie kennen die Sprache nicht, die Lern- und Konzentrationsfähigkeit ist herabgesetzt, Anpassung an die neuen Bedingungen stellt anfangs eine schier unüberwindbare Hürde dar. Und solange Flüchtlinge keinen positiven Aufenthaltstitel in Händen haben, stehen sie unter der oft unerträglichen Spannung, abgeschoben zu werden. Die noch nicht integrierten Erfah­ rungen von Traumatisierung und Flucht erzeugen massiven Druck, der sich in den vorhin beschriebe­ nen Symptomen zeigt.

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Was könnte ein Zuhause-Fühlen möglich machen, wenigstens ansatzweise? Wie können die Klientin­ nen angesichts der beschriebenen Symptome den Gegenwartsstress bewältigen? Was motiviert, über­ leben zu wollen? Sehr oft halten sie nur die Verpflichtung und Liebe gegenüber den Kindern am Leben. Suizidgedanken und stationäre Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik sind nicht selten bei unseren Klientinnen.

Angesichts der überwältigend komplexen Problemlage frage ich mich, was ihr konkret als therapeutisches Team bewirken könnt. Stabilisierung und Lebensfähigkeit im neuen Land stehen an erster Stelle. Wir stellen einen geschütz­ ten, sicheren Rahmen und „Containment“ zur Verfügung. Wir Therapeutinnen und auch die Dolmet­ scherinnen werden zu Zeuginnen, zu Mitwisserinnen, wir zweifeln nicht ander Erfahrung deserlitte­ nen Leides. Es ist oft ein langer Prozess, den Menschen zu vermitteln, dass sie - obwohl Opfer in der Vergangenheit - jetzt Verantwortung für ihr Leben, für ihre Genesung übernehmen sollen.

Was kannst du angesichts der erlittenen Demütigungen mit der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre bewirken? Die Psychotherapeutinnen haben andere Aufträge als die SIB-Pädagogin. Über Psychotherapie für traumatisierte Flüchtlinge gibt es viel Literatur, dieses Thema würde den Rahmen unseres Gespräches sprengen. Durch S I B bewirken wir viel und vor allem Grundlegendes, und das meist unspektakulär. Selbst­ verständlich bieten wir Klientinnen Bedingungen an, sich sicher und angenommen zu fühlen. Das Empfinden von Sicher-Sein hat in der S I B wie in jeder therapeutischen Arbeit fundamentale Be­ deutung. Für die Zielgruppe von ZEBRA, die in einer generell unsicheren Situation lebt, gilt das in besonderem Maße. Der Aufbau von Vertrauen ist wie in jeder anderen Therapiesituation unerlässlich, Vertrauen darf nicht gebrochen werden.

Du hast jetzt den Sicherheit gebenden Rahmen besprochen. Wie gestaltet sich das während einer S IB-Behandlung? Mit S I B kann ich eine grundlegende Erfahrung ermöglichen: sich im eigenen Körper wenigstens ein bisschen zu Hause zu fühlen, ihn wieder zu bewohnen und „in Besitz zu nehmen“ , vielleicht nur für Momente. Schmerzfreie, zustimmende Berührung und Bewegung bewirken, sich als Ganzheit zu emp­ finden und den Körper als wiedergewonnene Ressource wahrzunehmen.

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Dadurch, dass die Aufmerksamkeit des/der Klientin hier und jetzt in den Körper gelenkt wird, kann das Gefühl von Wohlbefinden, Frieden und Verbundenheit entstehen. Diese Fähigkeit nutze ich für die S I B-Arbeit, um neue Freiheiten in der Beweglichkeit zu erproben und Impulse für neue Bewegungsvarianten zu geben. Durch meine Flände rege ich das Gehirn zur neuronalen Vernetzung von neuen, positiv besetzten Erfahrungen an. Die Klientin lernt, ihre wieder erwachende Kreativität für Wohlbefinden, Heilung und für Lösungen auf verschiedenen Ebenen zu nutzen. Neues ist nur aus dem Raum von Sicherheit möglich, ansonsten verweigert der Körper oder reagiert mit Überforderung, Verwirrung oder Regression in alte Muster. Dies gilt besonders für traumatisierte, verunsicherte Klientinnen.

Hat das Gefühl von Sicherheit etwas damit zu tun, sich innerlich „heimatlich“zu fühlen, über das wir vorhin gesprochen haben? Ich würde eher den Begriff „sich im Körper zu Flause fühlen“ verwenden. Fleimat ist für die meisten Klientinnen unwiederbringlich. Flier berühren wir einen weiteren Aspekt der S I B. Wohlwollende, zustimmende Berührung, verbun­ den mit behutsamer Bewegung, ermöglicht unseren kriegstraumatisierten Klientinnen durch die in den Körper gelenkte Aufmerksamkeit ihre physischen Grenzen wieder wahrzunehmen. Auf diese Achtung, die hier zum Ausdruck kommt, mussten sie durch ihr Schicksal schmerzlich ver­ zichten. Zerstörte Integrität kann nun in der S I B auf der kinästhetischen Ebene wieder aufgebaut werden, in kleinsten Schritten, möchte ich betonen. Und immer mit begleitender Psychotherapie. Die Klientin ist durch richtige, dem individuellen Körper entsprechende Lagerung am Behandlungs­ bett, durch die Achtung der augenblicklich möglichen Bewegungsspielräume und durch den langsa­ men Rhythmus eingebettet. Die Erfahrung von Sicherheit, Respekt, Behutsamkeit und dem angepasst langsamen Rhythmus ist meiner Meinung nach essenziell „not-wendig“ für traumatisierte Klientinnen. Diese Qualitäten schaffen wieder Strukturen für Selbstwahrnehmung. Die immer differenzierter wer­ dende Selbstwahrnehmung verbessert die Orientierung in Raum und Zeit, die bei starker, sequenziel­ ler Traumatisierung oft verloren gegangen ist.

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Wenn ich dir richtig folge, schafft Sicherheit und „Sich-in sich-zu-Hause-Fühlen“ überhaupt erst die Voraussetzung für die Fähigkeit zu lernen im ganzheitlichen Sinn. Inwiefern fördert S I B die Lernfähigkeit deiner Klientinnen? Der Weg geht über die Schulung von Empfindungsfähigkeit. Mir ist wichtig, die Systemische und Integrative Bewegungslehre als eine Form der somatischen Erziehung zu begreifen. Thomas Hanna schreibt darüber sehr ausführlich: Empfindungen sind physische Phänomene, die unsere Erfahrung bereichern und vertiefen. Sie wahrzunehmen heißt, mit der Aufmerksamkeit innen zu sein. Die Empfindungsfähigkeit bei traumatisierten Menschen ist stark reduziert und meist „schmerzseitig“ determiniert. Wiedergewonnene Empfindungsfähigkeit halte ich für die wichtigste Ressource am Wege der Reintegration abgespaltener Anteile und Erfahrungen. Wir nutzen sie als Ressource für das Erinnern an ein Verbunden-Sein mit sich selbst, an Balance, an Beweglichkeit, die ein Mensch in sei­ ner Kindheit zur Verfügung hatte. S I B hat in diesem Kontext nicht das explizite Ziel, Traumen erinnerbar zu machen, obwohl das manchmal geschieht. Neben der Schulung von Empfindungsfähigkeit ist das Ziel, durch sanfte, ge­ zielte Berührungen und Bewegungen das Nervensystem zu beruhigen und Ordnungen im Körper wie­ derherzustellen. Ordnung schafft Sicherheit und Struktur. Auf natürliche Weise wird erfahrbar, wie wohltuend es ist, wenn die verschiedenen Systeme des Körpers in ein besseres Zusammenspiel finden. Der Prozess, aus einem erstarrten, sich „wie tot“ anfühlenden Zustand in einen mit Leben und Bewegung gefüllten zu kommen, findet ansatzweise in jeder S I B-Behandlung statt. Und dies ist ein intensiver, die Lebendigkeit fördernder Lernprozess, wenn man Lernen als ein Hinzunehmen und Integrieren von neuen Erfahrungen sieht. Eine Klientin sagte zu mir: „Jetzt werde ich wieder lebendig, ich habe wieder einen Körper.“

Das klingt, als könnte durch die S IB auch der Boden für das Aushalten, das Ertragen und in der Folge für das Erinnern geschaffen werden. Ist das bereits der Lernprozess? Ja. Es braucht Schutz und Sicherheit, ein gewisses Maß an Wohlbefinden, damit traumatisierte Men­ schen sich getrauen, innezuhalten. Erst in diesem Zustand wird Lernen möglich. Das ist eine neurophysiologische Tatsache. S I B fokussiert Lernen über den Weg der Erweiterung von Bewegungsspielräumen. Durch kinästhetische Impulse meiner Hände wird die augenblickliche und auch chronische Bewegungsorganisation

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angesprochen, die bei anhaltendem Arousal sehr gestört ist Ein Beispiel: Indem ich den Verzerrungen des Körpers nicht entgegenwirke, sondern sie ganz im Gegenteil anfangs sogar verstärke, bspw. eine vorgezogene Schulter noch ein wenig mehr nach vorne bewege, entlaste ich die Muskulatur bereits und unterbreche unbewusste und schmerzhaft gewordene Bewegungs- und Haltungsmuster. Dieser sehr komplexe Prozess wird mit jeder kleinen Intervention und in jeder S I B-Behandlung von Neuem in Gang gesetzt. Es sind die unendlichen vielen neuronalen Verknüpfungen, die stimuliert werden und den umfassenden Lernprozess ausmachen, aus Erstarrung in Bewegung und Lebendigkeit zu finden.

Siehst du Erstarrung ausschließlich als Folge von langanhaltender Traumatisierung? Im Grunde ja, wenngleich wir natürlich nicht alle Phänomene auf Traumatisierung zurückführen. Es gab ja ein Leben d avor... Ich finde die Ausführungen von Babette Rothschild hier sehr hilfreich. Sie führt dazu aus, dass, unser Nervensystem in einer akut lebensbedrohlichen Situation drei Reflexvarianten zur Verfügung hat: fliehen, kämpfen oder erstarren. Dies sind augenblickliche, instinktive Reaktionen auf eine lebensbedrohliche Situation. Im Falle einer Bedrohung registriert das limbische System im Gehirn, ob Kraft, Zeit und Raum ausreichen, um zu fliehen. Wenn ja, dann setzt sich der Körper in Bewegung. Scheint Flucht unmöglich, reicht aber die Kraft, beginnt der Körper zu kämpfen. Scheint weder Flucht noch Kampf im Bereich des Möglichen, während das Leben bedroht ist, erstarrt der Körper. Als PTBS bezeichnen wir, wie ich früher schon gesagt habe, den Zustand eines Menschen, bei dem der Erregungszustand nach der traumatischen Erfahrung aufrechterhalten bleibt, auch nachdem die Gefahr vorbei ist. Das bezieht sich natürlich auf Herz-Kreislauf genauso wie auf den muskulären Zustand. Was ist geschehen? Durch großen Schrecken und Bedrohung, besonders wenn der Umstand über längere Zeit andauert, werden biologische Rhythmen im Nervensystem unterbrochen. Der Sympathikus, der bei Stresszuständen wie Schreck, Wut, Verzweiflung etc. aktiviert wird und für die nötige Kraft fürs Überleben zuständig ist, bleibt aktiviert. Der parasympathische Zweig, zuständig für Ruhe, Entspannung, Glück, Traurigkeit etc., bleibt inaktiv. Das Wechselspiel ist unterbrochen. Der Erregungszustand kann nicht zurückgehen. Herz und Atem geraten aus dem Rhythmus und die Erregung bleibt, obwohl es keinen Anlass mehr gibt. Diese

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Erstarrung wird auch tonische Immobilität genannt. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Menschen bewegungsunfähig sind. Aber z. B. kann Bücken oder Drehen sehr eingeschränkt bis unmöglich sein. Die Beine können kaum gehoben werden und alle aktiv ausgeführten Bewegungen erfordern hohen Energieaufwand. Das Zusammenspiel der Antagonisten im Muskelsystem ist gestört.

Wenn ich das richtig verstehe, beeinflusst ihr durch Berührung und Bewegung das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus? Wie geschieht das? Ein wichtiger Effekt von behutsamer, gezielter Berührung und Bewegung ist die Verlangsamung. Der langsame, stetige Rhythmus und die muskelrelaxierende Wärme der Hände aktivieren den parasympa­ thischen Zweig des autonomen Nervensystems. Die Atmung vertieft sich. Die Alarmhaltung, die die permanente Aktivierung des sympathischen Zweiges darstellt, kann zurückgehen. Durch die Umlenkung der Aufmerksamkeit auf die Körperempfindungen und die daraus folgenden angenehmen Zustände kann der Druck der Dauererregung abfließen. Wir nennen diese sanfte Auf­ merksamkeit einen Zustand des „Gewahr-Seins“ . Dieser Prozess setzt die natürlichen Steuerungsmechanismen wieder in Gang. Auch wenn das eine für diesen Rahmen sehr kurz gefasste Erläuterung ist, kommt doch zum Ausdruck, dass Traumen im Körper stattfinden und bei PTBS im Körper aufrechterhalten werden. Daher ist es in meinen Augen naheliegend, dass die psychotherapeutische Behandlung durch körpertherapeutische Maßnahmen unterstützt wird.

Ich bekomme den Eindruck, dass sequenziell traumatisierte Klientinnen durch Therapie und S IB sehr gute Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen. Wie gelingt der Prozess, dass sie mehr und mehr Verantwortung für ihr Leben hier in dieser neuen Kultur entwickeln können? Ich stelle mir das schwierig vor, nachdem sieja Opfer von aggressivem Verhalten an sich selbst oder durch Miterleben geworden sind. Das ist eine komplexe Frage, die ich hier explizit für die Körperarbeit beschreiben möchte. In gewis­ ser Weise hat die Entwicklung von Eigenverantwortung bereits mit der Entscheidung, das Herkunfts­ land zu verlassen, begonnen. Und wichtig: Es gibt Ressourcen aus der Zeit davor, auf die durch die verschiedenen Behandlungsformen wieder zugegriffen werden kann. Ich treffe für die S I B-Behandlungen Vereinbarungen, die den Lernprozess der Eigenverantwortung fördern. Dabei geht es vorrangig darum, Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen überhaupt wieder zu

bemerken, ernst zu nehmen und auszudrücken. Wir müssen bedenken, dass die Menschen, die in das Rehabilitationszentrum kommen, ausnahmslos aus anderen Kulturen kommen, viele aus anderen Kontinenten, aus familiären Strukturen, die anders funktionieren als hier. Es ist zu bedenken, dass der Status von Männern und Frauen in den Herkunftsländern anders ist, dass Bindungen und Beziehungen in der Fremde und auf der Flucht oft stärker wirken. Für uns Therapeutinnen selbst ist dies oft schwer nachzuvollziehen. Ich denke bspw. an eine weibliche Klientin, die abgesehen von ihren bitteren Kriegserfahrungen hier in Österreich der Gewalt ihres Mannes ausgesetzt ist. Sie nimmt in der Not und aus der Sozialisierung in ihrem Heimatland sehr viel in Kauf. Sie hat keine Vision und sehr geringe Möglichkeiten, sich gegen die Gewalt zu stellen. Lässt sie sich hier scheiden, verliert sie ihren Aufenthaltsstatus. Dieses österreichische Gesetz halte ich für eine Katastrophe! Auf ihrer Suche nach Hilfe sind das Therapeutlnnen-Team und die Sozialarbeiterin in ihrer Zusammen­ arbeit gefordert, gemeinsam mit der Klientin einen gangbaren Weg zu erarbeiten.

Was ist in so einem Fall deine Funktion als S I B-Pädagogin? Ich sehe als Funktion der Körperarbeit, das Wesen der Frau zu erreichen und, wie vorhin beschrieben, die Selbstwahrnehmung zu verbessern und ihre Ressourcen zu stärken. Berührung, wie wir sie in S I B verstehen, eignet sich dazu in anderer Weise als Psychotherapie. Therapie- und S I B-Behandlungen haben eine Modellfunktion.

Was meinst du damit? Mit Modellfunktion meine ich das Verhältnis, das sich zwischen mir und Klientinnen aufbaut. Vertrauen, Respekt, Achtung, Würdigung, Ebenbürtigkeit sind Haltungen, die die Klientinnen hier erfahren. Jede kleine Erfahrung hinterlässt Spuren.

Das alles giltja ganz allgemein für therapeutische Beziehungen. Wie funktioniert das speziell für die StB? Bei Erstgespräch und Übergabe durch die Bezugstherapeutin exploriere ich Beschwerden und, wenn möglich, das Anliegen der Klientin an die Körperarbeit. Ich informiere sie auch über Grundsätzliches der S I B, bspw. dass Berührung und Bewegung, in Form von Zügen, Rotationen oder Kompressionen, keine Schmerzen verursachen sollen, die die Klientinnen nicht selbst auch als lösend erleben.

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Ich implementiere eine verbale Kommunikationsschiene. Sie ist gedacht, für Grenzen einzustehen. Wegen der meist sehr mangelhaften Deutschkenntnisse beschränken wir uns auf einfache, transkultu­ rell benutzte Worte wie bspw. „Aua“ für akzeptierten, lösenden Schmerz oder „Stopp“ für das Zuviel. Diese Intervention ruft die Klientin auf, bewusst zwischen akzeptiert und unerwünscht auf der kinästhetischen Ebene zu unterscheiden. Für Menschen, deren Grenzen brutal verletzt wurden, ist das meiner Auffassung nach ein wesentli­ cher Lernprozess. Es geht um Würdigung der Grenzsetzung der Klientinnen, aber auch darum, dass sie selbst bestimmen, was ihnen noch wohl tut und was nicht. Der Weg ist hier das Ziel. Auf diesem Weg spielt natürlich auch der kulturelle Hintergrund der Klien­ tinnen eine Rolle. Einerseits sind wir Therapeutinnen Autorität für sie, anderseits bauen wir eine ebenbürtige Kommunikation auf. Du siehst also, wie komplex der Prozess der Eigenverantwortung ist.

Fällt dir vielleicht ein praktisches Beispiel ein, an dem wir sehen können, wie sich ein Prozess gestalten kann? Hier könnte ich viele Beispiele nennen. Ich werde eines bringen, an dem du vielleicht die vielen klei­ nen Schritte sehen kannst, die in S I B-Behandlungen gegangen werden: Frau S. litt nach mehrfacher Vergewaltigung durch Soldaten während des Krieges in Tschetschenien unter PTBS. Vergewaltigung bedeutete Ausgrenzung, Ächtung und Beschämung. Sie hatte arge Schmerzen im Beckenbereich und entlang der Beine. Als ich mit ihrem Einverständnis während des Vorgesprächs ihren Rücken abtastete, bemerkte ich schon, wie schreckhaft sie war. Sie hatte dem Vorschlag, zusätzlich zur Psychotherapie auch zur S I B zu kommen, zwar zugestimmt, vermutlich aber wie die meisten unserer Klientinnen vorwiegend in der Hoffnung, ein wenig Linderung der Schmerzen zu erfahren. Die neue Situation bei mir brachte sie gehörig in Stress. Sie hatte Angst. Frau S. äußerte den Wunsch, sich mit Decke bedeckt auf das Behandlungsbett zu legen. Dem stimmte ich zu, wenngleich dadurch zahlreiche Bewegungsabläufe nicht möglich waren und ich kleine Veränderungen in der Atembewegung kaum sehen konnte. Frau S. wählte die Rückenlage, zu meinem Erstaunen, muss ich sagen, denn meist wählen die Klientinnen anfangs die Seitlage mit abgewinkelten Beinen, die mehr Geborgenheit vermittelt. Die Rückenlage gewährte ihr jedoch Überblick über meine Bewegungen im Raum. Ihre Knie waren mit

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einer Knierolle unterlegt. Sie hielt die Augen offen und beobachtete ganz genau, wo ich war und was ich tat. Die Kommunikation während der ersten Stunde mit mir lief trotz der Code-Worte „Stopp oder Aua“ über Zuckungen, wo immer ich sie berührte. Für mich war das auch ein Zeichen, dass Frau S. ganz mit ihrem kinästhetischen Empfinden beschäftigt war. Angst, Schreck, Nervosität waren nicht wegzuleugnen. Beinahe alle Interventionen durch meine Hände, die sie nicht beobachten konnte, schienen Alarm bei ihr auszulösen. Also sorgte ich dafür, in ihrem Gesichtsfeld zu bleiben. Nach und nach beobach­ tete ich leicht vertiefte Atemzüge. Unser Code-Wort wurde „okay?“ , um ihre Zustimmung immer wie­ der einzuholen. Nach einigen S I B-Behandlungen - Frau S. legte sich immer noch mit langem Rock auf die Liege brauchte sie die Decke nur noch mehr von der Körpermitte bis zu den Füßen. Und vor allem: Sie ließ keine Stunde aus. Ich interpretierte das so, dass sich „ein Teil“ , wie wir das in der systemischen Ter­ minologie nennen, nur zaghaft diesen Vorgängen näherte, ein „anderer Teil“ aber entschlossen war und wohl auch die wohltuende Wirkung der Sicherheit und des Angenommen-Seins nach Wiederho­ lung suchte. Ich drängte Frau S. in keiner Weise. Sie lehrte mich wie viele andere Klientinnen bei ZEBRA, Vor­ stellungen von Erfolg oder Zielerreichung loszulassen. Immer wieder musste ich zum Anfang zurück­ kehren, verlor oft selbst den Blick für die kleinen Veränderungen, die sich in ihrem Körper vollzogen. Im Laufe von einigen S I B-Behandlungen wurde es möglich, etwas außerhalb ihres Blickfeldes zu tun, bspw. unter ihre Schulterblätter zu greifen. Auch die Seitlage begann sie zu interessieren, nach­ dem ich mich als Modell auf das Behandlungsbett gelegt hatte, um ihr diese Position vorzuschlagen. Es wurde damit also selbstverständlich, dass ich hinter ihr stehend oder sitzend zu arbeiten beginnen konnte. Nachdem die Muskulatur anfangs Flochspannung und Schreck signalisiert hatte, wurde Frau S. immer vertrauensvoller, schloss ihre Augen immer wieder, atmete manchmal entspannt und nickte manchmal sogar ein. Es dauerte übrigens nicht mehr lange, bis die Klientin eine bequeme Flose (ihrer Tochter) mitbrachte, „damit das Arbeiten für mich leichter würde“ , wie sie sagte ... Die Schmerzen im Becken waren jeweils einige Tage nach einer S I B-Behandlung wesentlich besser, danach begannen sie Frau S. langsam wieder zu beeinträchtigten. Die Themen hinter ihren Schmer­ zen waren offensichtlich. Ich bemerkte im Laufe der S I B-Behandlungen eine kontinuierliche Stärkung des Selbstwertgefühls. Der Gang hatte sich verändert. Frau S. kam schon festen Schrittes

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zur Tür herein, die Schultern waren weniger vor- und hochgezogen. Die anfänglichen Schmerzen im Lendenwirbelbereich kamen in ihren Beschreibungen nicht mehr vor. Ihre Psychotherapeutin hob in ihren Beschreibungen hervor, dass Frau S. ruhiger und kongruenter wurde. Es fiel ihr leichter, Gefühle auszudrücken. Sie begann, die traumatischen Situationen in Sprache zu bringen.

Nach welchen Kriterien werden die Klientinnen für die S I B ausgewählt? Der Überweisungskontext ist tatsächlich bedeutend anders als in der freien Praxis. Der Vorschlag zur Körperarbeit kommt von den Therapeutinnen, die meist gleich zu Beginn der Therapie erfahren, unter welchen Beschwerden Klientinnen leiden. Atemeinschränkungen, rasende Kopfscherzen, Nacken- und Schulterbeschwerden und, wie vorhin beschrieben, Schmerzen in Becken und Beinen gehören zu den häufigsten Symptomen. Wenn Klien­ tinnen dissoziiert sind, das heißt, von ihren Empfindungen und Gefühlen abgespalten und/oder ihren Körper nur sehr wenig oder gar nicht spüren, kommt der Auftrag nur von den Therapeutinnen. Die Klientinnen vertrauen in der Regel und folgen den Vorschlägen der Therapeutinnen.

Sind Schmerzzustände die einzigen Kriterien? Die Einschätzung des/der Therapeutin, dass der Kontakt zu den Gefühlen, das Wieder-Erleben von Integrität in der Phase des therapeutischen Prozesses hilfreich wäre, spielen bei der Überweisung ebenso eine Rolle.

Welche Aufträge bekommst du von den Klientinnen? Das ist schon schwieriger. In meiner privaten Praxis außerhalb von ZEBRA steht die Auftragsklärung immer am Beginn. Dort kann ich auch mit den Klientinnen Visionen entwickeln, nämlich wie es sich anfühlen würde und welche Auswirkungen es hätte, wenn sich die zugrunde liegenden Probleme gelöst hätten, u. a. Dort spielen Lösungsorientierung und Gespräch mit Körperarbeit eng zusammen. Bei schwer traumatisierten Flüchtlingen ist jedoch eine Auftragsklärung zu Beginn nur sehr selten möglich. Linderung der Schmerzen als vorerst einziges Ziel ist hier genug.

Menschen in Würde und Selbstvertrauen zu stärken gehört zu den schönsten Aufgaben in meiner Tätigkeit als S I B-Pädagogin und Psychotherapeutin.

Was ist deine ganz persönliche Motivation, im Rehabilitationszentrum als S IB-Pädagogin zu arbeiten?

Es gab m ehrere Ebenen, die ausschlaggebend waren:

1. Mein Interesse, die Wirksamkeit von S I B für die Behandlung von kriegstraumatisierten Menschen zu erforschen. Die Wirksamkeit bestätigt sich immer wieder. 2. Der interdisziplinäre Zugang zum Thema Trauma. Ich kann viele Erfahrungen machen, wie hilfreich das Zusammenspiel von Psychotherapie und S I B sein kann und wie unumgänglich dieses Zusammenspiel bei schwer belasteten Menschen ist. 3. Wir leben in einem Land, das selbst durch grausame Machenschaften und Krieg vor erst 65 Jahren immer noch Zeichen von Traumatisierung aufweist. Die Menschen dieses Landes haben nach dem Krieg sehr viel Hilfe bekommen. Das sollten wir nicht vergessen. Wir sollten diese Bereitschaft auch haben. 4. Dieses Land Österreich gehört zu den reichsten Ländern dieser Erde. Ich sehe es als Verpflichtung an, Menschen in Not und auf der Flucht in ihrem Heilungsprozess zu unterstützen, meine Kompetenz, meine Energie und meine Liebe zur Verfügung zu stellen. 5. Das Rehabilitationszentrum des Vereins ZEBRA ist derzeit die einzige Einrichtung in Österreich, die Körpertherapie für Flüchtlinge anbietet. Dieses Projekt möchte ich nach meinen Möglichkeiten unterstützen. Flüchtlinge werden von unseren Behörden teilweise sehr geringschätzig behandelt und mit „Nichtwahrnehmung“ gestraft. Als Mitglied dieses Teams kann ich den Schmerz und die ohnmächtige Wut darüber besser handhaben.

Danke für das Gespräch.

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4. 4. Der Psyche-Soma-Dialog: „Meinen Körper zu mir nehmen“ - Judith Kovacs Mit diesem Fallbeispiel wird versucht, mögliche und neue Erlebensweisen von Abgrenzung und Verbindung darzulegen; es wird um Gegensätze gehen und wie diese zusammenspielen sowie um Fragen zu Identifikation, Nähe und Distanz. Ober die dem Körper innewohnende Berührbarkeit, Empfindsamkeit und Beweglichkeit als verlässliche Referenzwerte werden für den Klienten/die Klientin ungeahnte Wahlfreiheiten erlebbar. Es wird ihm/ihr ermöglicht, körperlich nachzuvollziehen, wie stark innere wie auch äußere Fixierungen Gedanken, Flandlungen, Entwicklung und Lebendigkeit behindern. Hier ist der kleinteilige Verlauf eines Weges zu zeigen, der - ausgehend von mangelnder Kontaktbezogenheit eines Menschen - geprägt von Starre und Selbstverurteilung - durch Berührt-Werden, annehmende Zuwendung und spürende Selbstwahrnehmung die Richtung zu einer Verbundenheit weist, die für den Betroffenen nun spürbar auf eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gründet. Es sollen weniger „technische“ Details als die grundsätzliche Haltung in der Begleitung aufgezeigt werden. Erste Schritte m it Am elie bei ihrer Suche nach dem „B leib en -K ö n n e n “

Vor einigen Monaten ist die Läuferin Amelie über eine Kollegin, Fachärztin für Psychiatrie, Gestalt­ therapeutin und Leiterin der psychosomatischen Abteilung einer Krankenanstalt, an mich überwiesen worden. Die Anfrage der Ärztin war zunächst, ob ich mir vorstellen könnte, mit einer schwierigen Patientin, die eine große Scheu vor Kontakt und Berührung habe, zu arbeiten. Sie drückte Zweifel darüber aus, ob ihre Patientin überhaupt in der Lage sein wird, körperliche Nähe zuzulassen. Sie wäre aber, nach drei Jahren wöchentlicher Psychotherapiesitzungen, mit ihr an einem guten Punkt angelangt. Eine gleichzeitige Begleitung auf der Körperwahrnehmungsebene für weitere Schritte und für die Integration der vorangegangen Prozesse könnte aus ihrer Sicht von großem Nut­ zen sein, zumal noch weiterhin starke dissoziative Tendenzen im Verhalten der Patientin festzustellen wären. Die Patientin hätte jedenfalls ihre Zustimmung gegeben. Zuweisungskontext

Wie im klinischen Arbeitskontext üblich, erhielt ich die allerersten Informationen über Amelies Zu­ stand über die psychiatrische Diagnose: Die Patientin leide an „Anorexia athletica“ , einer Form von

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Essstörung, die bei Sportlerinnen auftritt und definiert wird als die bewusste Verringerung des Kör­ pergewichts. Es entstünden je nach Art und Schwere der Gewichtsreduktion die üblichen Folgen einer Essstörung für Körper und Psyche. Die Grenze zwischen dem Vorteil der geringen Masse und dem Nachteil der zu schwachen Muskeln bei größerer Verletzungsanfälligkeit kann sehr leicht verschwim­ men. Nach der psychoanalytischen Theorie ist das zentrale Thema bei Essstörungen das Streben nach Autonomie und die Loslösung von einer als stark erlebten Abhängigkeit von der Mutter und deren Kontrolle. Für die Patientin sei die Magersucht in erster Linie eine Abwehr von Fremdbestimmung. Die Kontrolle über das Gewicht und den eigenen Körper sei eine Form der Ohnmachtsbewältigung, worin das Bestreben liege, den Selbstwert zu stabilisieren und eine unabhängige Identität zu erlan­ gen. In ihrer persönlichen Geschichte gab es eine depressive Mutter, die Amelie in der Jugend viel in ver­ dunkelten Räumen in ihrer Nähe zurückhielt, anstatt sie draußen spielen und wachsen zu lassen. Die Hypothese meiner Kollegin war, dass ihr Laufen unter freiem Himmel als ein überlebenswichtiger Befreiungsakt oder als ein Davonlaufen vor einer bedrückenden und lebensbedrohlichen Situation gesehen werden kann. Ich erfuhr auch, dass die Patientin während des kontinuierlichen schnellen Laufens in einen Zustand geraten könne, der sie, wie sich herausgestellt hat, „ermächtige“ , auch größte Anstrengungen auf sich zu nehmen und körperliche Alarmsignale für erreichte Grenzen und einhergehende Schmerzen einfach auszublenden. Ebenso seien Amelies Hungern und eiserne Disziplin Ausdruck ihres existen­ ziellen Bedürfnisses, das Leben völlig unter Kontrolle zu halten, nichts zu brauchen und von nichts und niemandem abhängig zu sein. Jedes Abweichen von dieser Linie würde die Patientin als persönli­ che Schwäche und Versagen werten. Ein zwanghaft leistungsbezogener und harter Umgang mit sich selbst und das Fehlen von emotional verlässlichen Beziehungen und körperlicher Nähe seit ihrer Kindheit hätten zur Folge gehabt, dass für Amelie sinnliches Empfinden, Ausdruck von Gefühlen und spontanes Umsetzen ihrer Lebenskraft unzugänglich geworden waren. Ihr Verhalten stelle den Versuch dar, diese durch rationale Mittel der Orientierung zu ersetzen. Amelie hatte tatsächlich ihr Leben über viele Jahre auf professioneller Ebene dem Marathonlauf gewidmet. In den vergangenen fünf Jahren jedoch war Amelie durch multiple Knie- und Sprung­ gelenksoperationen regelrecht „in die Knie“ gezwungen worden.

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In der Folge war sie, vor nunmehr drei Jahren, aufgrund weiterer extremer „Laufrückfälle“ und Operationen von den Orthopäden als unbehandelbar und unter höchstem Druck und Androhung der „schlimmsten“ Folgen (des nahenden Rollstuhls) beinahe aufgegeben worden, hätte sie nicht hoch und heilig versprochen, das Laufen endgültig aufzugeben. So ergab sich, dass Amelie - die schließlich übergangslos aus der Tagesroutine einer Spitzen­ sportlerin (das hieß: sechs Stunden Lauftraining am Tag unter strengster Diät) - herausgefallen und aufgrund schwerer Depressionen und Magersucht für acht Wochen auf der psychosomatischen Ambulanz bei meiner Kollegin gelandet war. Dort wurde sie sofort medikamentös eingestellt und intensiv psychotherapeutisch betreut. Die Psycho­ therapie werde bis zum heutigen Tag im wöchentlichen Rhythmus fortgesetzt, das Essverhalten hätte sich so weit recht gut stabilisiert, sie stünde weiterhin unter kontinuierlicher orthopädischer Betreu­ ung, ihre Sprung- und Kniegelenke seien jedoch nach wie vor in einem äußerst „bedenklichen“ Zustand. Eine erste Frage form t sich langsam in m ir: Wo ist der Mensch Amelie?

Wo, hinter all dem Gesagten, ist das atmende, lebendige Wesen? Ich merke, ich habe noch gar kein Bild von ihr. Der Wunsch taucht auf, mich von all diesen Konzepten wieder leer zu machen, damit ich ihr neu begegnen kann. Ich möchte erleben können, wie sie mir im Jetzt entgegentritt - und das einfach auf mich wirken lassen. Ich möchte wissen, was ich spüre, wenn sie mich anschaut, wenn sie sich bewegt, und welche Fragen sie hat. Was macht wohl ihr Wesen aus, wer ist sie als Frau? Woraus schöpft sie Kraft und Inspiration, was und wen liebt sie? - Meine erste Bezugnahme geschieht an­ scheinend über etwas Ursprüngliches und auch Schützenswertes in Amelie. Ich habe die Flerausforderung, mit ihr (unter ärztlicher Begleitung) zu arbeiten, angenommen. Als Amelie zum ersten Mal meine Praxis betritt, sehe ich eine sehr anmutige junge Frau um die drei­ ßig, mit ausdrucksstarken dunklen Augen und von auffallend schmalem, knabenhaftem Körperbau. Sie hat einen dynamisch-sportlichen Gang. Irgendwie wirkt sie auf mich optimistisch und zugleich sehr ernst. Ihr Fländedruck ist stark, entschlossen und herzlich. Nachdem sie ihre Laufschuhe ausgezogen hat, atmet sie auf: „Gott sei Dank, ich hatte gerade so ein gutes Gefühl auf der Fahrt zu Ihnen: schon durch Ihre Stimme am Telefon, die mir vertraute Wohn­ gegend, und jetzt scheint sich alles zu bestätigen: hier ist es so offen und von den Farben her so freundlich. Ich halte es in einer dunklen Umgebung nicht wirklich lange aus, das beengt mich erfah­

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rungsgemäß!“ (Ich nicke zustimmend, wir finden ein Einverständnis über unseren Sinn für Räume und lebendige Farben - eine erste gemeinsame Grundlage; ich bemerke ihr feines Spürvermögen und ihre Hoffnung, bei jemandem, der genügend Platz hat, auch gut zu landen). Gegenseitiges Finden

Ich heiße sie herzlich willkommen, biete ihr einen bequemen Stuhl an und beschließe, zunächst mich und die Grundzüge meiner Arbeit vorzustellen, damit sie ein wenig Zeit hat, sich auch über meine Sprache annähern und orientieren zu können. Wichtig erscheint mir, ihr zu versichern, dass wir beide diese erste Sitzung dazu nützen wollen zu sehen, ob uns eine Zusammenarbeit und welche Herangehensweise wirklich im Moment stimmig und möglich erscheint und dass sie sich zu gar nichts verpflichtet zu fühlen braucht. Dann bitte ich sie zu erzählen, ob sie schon Erfahrungen mit Körperarbeit gemacht hätte, warum sie meint, dass so ein Weg jetzt für sie passen könnte, und vor allem, wie sie sich im Moment fühlt. (Wesentlich erscheint mir, die Freiwilligkeit ihres Kommens zu überprüfen, und sie soll ganz frei ent­ scheiden können, wie viel sie von sich preisgeben möchte. Ich beziehe mich auf das Hier und Jetzt mehr als auf Vergangenes). Beim Sprechen sitzt sie zurückgelehnt, ihre Füße sind in X-Stellung, vom Boden fast weggezogen. Die Schultern sind stark nach vorne und hochgezogen. Ihr Kopf erscheint mit viel Kontrolle hochgehalten und „stark“ , im Verhältnis dazu wirkt der restliche Körper auf mich beinahe „haltlos“ und unbeteiligt. Ihre Atmung ist kurz und flach. Amelie umreißt von sich aus offen und recht sachlich ihren Werdegang. Sie erläutert, dass sie im kör­ pertherapeutischen Feld nur Erfahrung mit Cranio-Sacraltherapie gemacht habe, die sie beängstigt und verwirrt hätte. Sie meint, dass sie persönlich bei jener Art von Berührung nie nachvollziehen konnte, was da eigent­ lich geschehe, und sie darauf vertrauen musste, dass die Therapeutin hoffentlich wisse, was sie tat, ohne sich jemals als Person dabei eingebunden und in Kontakt mit sich zu fühlen. Was bringt Freude in Am elies Leben?

Als sie nun das Laufen thematisiert, kommt etwas Lebendigkeit in ihre Sprache und ihren Blick. Bald richtet sie Kopf und Augen zu Boden und meint: „Ich bin da so zerrissen, mir gibt das Laufen so viel Selbstbestätigung, erhebt mich irgendwie über alles - da kann ich meinen hohen Ansprüchen gerecht

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werden, mich unabhängig und frei fühlen - gleichzeitig fühl’ ich mich ohnmächtig, weil sich immer wieder in mir so etwas wie ein Schalter umlegt, ich spüre dann gar nichts mehr, verliere mich. Es ist wie ein Sog. Doch das darf nicht mehr sein! Ich liebe das Laufen, die Bewegung, aber ich zerstöre mich dabei. Meine Gelenke sind völlig kaputt Ich muss es ohnehin sein lassen.“ (Mir fällt auf, dass sie vom Laufen im Präsens spricht. Sie ver­ sucht nicht im Geringsten, sich als „geheilt davon“ darzustellen.) „Aha, wenn ich Sie richtig verstehe, gibt es Momente beim Laufen, die Sie lieben und die Sie nicht missen möchten, und andere, die sich Ihrer Kontrolle entziehen, die Sie nicht so mögen. Sie würden gerne .handlungsfähig’ bleiben?“ „Oh ja, das wäre mein großer Wunsch!“ Des Weiteren beschreibt sie sich selbst als ziel- und orientierungslos und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Sie sei überzeugt, dass vieles schieflaufe, weil sie keinen Bezug zu ihrem Körper hätte, und sie würde sich dafür schämen. Sie meint, sie könne generell schlecht mit ihren Gefühlen umgehen und diese auch nur schwer ausdrücken, dabei käme sie sich richtig hilflos vor. So würde sie nur we­ nig Kontakte zu Menschen aufrecht halten, ihre Eltern meide sie völlig, sie hätte nur noch eine gute Freundin, die sie ab und zu sieht. „Ach, ich würde so gerne lernen, mich selbst, meinen Körper zu akzeptieren, auch wenn er eben nicht funktioniert und spurt, ihn irgendwie zu mir zu nehmen, merken zu können, was ihm gut tut einfach so - auch im Alltag; mich nicht immer als Versager zu fühlen oder innerlich abzuhauen, wenn ich belanglose Dinge tue. Halt nur mal zu genießen!“ Als ich Amelie mit Bewunderung darauf anspreche, wie klar und bewusst sie so vieles über sich und auch Schambehaftetes - benennen könne, meint sie, sie würde es tatsächlich als großen Schritt werten, überhaupt etwas über sich erzählen zu können. Das hätte ihr ihre Therapie ermöglicht. (Ich bin aufmerksam darauf geworden, dass sie Sehnsüchte und Wünsche äußert, und möchte erkunden, ob sie auch in anderen Bereichen - außer dem Laufen - etwas gerne macht und was sie damit ver­ bindet.) „Ja, ich gehe seit einem Jahr trommeln und kann mich dort manchmal richtig in den Rhythmus, das Schlagen der Hände, in die Vibrationen hineinbegeben und mag es, dass ich dabei wirklich da bin, auf der Erde.“ „Ja, das klingt für mich gerade, als wäre es eine genussvolle Tätigkeit für Sie!“ , sage ich. Sie schmunzelt: „Ja, eigentlich kann ich dort in sicherem Rahmen ein wenig von einer Freiheit spüren.“

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(Amelie unterscheidet anscheinend klar in ihrem Inneren zwischen „diszipliniertem“ Funktionieren, dem „Abgespaltet-Sein“ - dem Verlust von Kontrolle - und einem ersehnten Zustand, in dem sie sich frei und doch verbunden fühlt. Erstmals taucht in mir über Amelies evidentem Zugang zu sinnlichem Genuss und zur Frage der Verbundenheit die Idee auf, dass die Körperarbeit Zugänge bieten könnte, in ihr auch die Möglichkeit zu „bewusster Hingabe“ anzufragen: Es könnte möglich sein, dass sie einen spürbaren Zusammenhang dazu über Kontakt und das gleichzeitige Erleben von „Zulassen, Loslassen und Geschehenlassen“ im Bewegt-Werden hersteilen kann. Physisch erfahrbar über das Überlassen-Können des eigenen Körpergewichts an die Schwerkraft. Hingabe könnte erlebt werden als ein selbstregulatives Phänomen im Körper (es geschieht einfach und ich kann es zulassen) oder als ein völlig neuer Aspekt von Freiheit - die „bewusste Kontrolle“ als die bewusste Entscheidung für etwas. - Ein innerliches „Ich kann, ich will“ anstatt „Ich muss“.) Soeben fällt mir auf, dass Amelie bei ihrer Beschreibung auf dem Sessel vorgerutscht ist, nun breit­ beinig, mit beiden Füßen fest am Boden - als würde sie ihre Trommel mit den Beinen festhalten und mit erhöhtem Körper-Tonus dasitzt. (Ich beschließe spontan Amelies Offenheit, ihre momentane körperliche Präsenz und ihr Geerdet-Sein sogleich als „gute“ Grundlage zu nehmen, um uns noch ein wenig bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem „tabuisierten“ Laufen, aufzuhalten). Mir geht es darum, mich bewusst dem Bereich zuzuwenden, aus dem sie Sinnhaftigkeit, Wert und Freude schöpft; und es erscheint mir wichtig, dies auch zu würdigen. Es würde nun ein Raum entste­ hen, hier und jetzt, unter gesicherten Bedingungen, geführt achtsam und ohne Angst dabei „heraus­ zukippen“ , damit erstmalig in Beziehung zu gehen. (Durch Vorschläge und Fragen z. B. bezüglich der Qualität eines Vorgangs kann sie eine neue Art der Zuwendung erfahren - hier z. B. ein fokussiertes Nachvollziehen des Lauf-Vorgangs an sich - sie definiert ihr Tun und Handeln ja ausschließlich über Quantität und Leistung - und zu weiteren, meist vermiedenen, dadurch unerforschten, aber ihr den­ noch innewohnenden Qualitäten Zugang finden.) „ Wie ist es für Sie, Amelie, wenn Sie laufen, was bedeutet es für Sie?

Würden Sie es mir beschreiben?“ Es folgen nach einigen Momenten der Stille ihre Worte: „Es gibt nichts Schöneres, als Schritt für Schritt in diese runde Bewegung hineinzufinden; wenn - wie von selbst - die Koordination, meine Kraft - mit so großer Leichtigkeit - wie harmonische Abläufe ineinandergreifen - nach und nach dann das Tempo dazukommt; wenn ich eintauchen kann in die Schönheit der Bewegung, weg von den Menschen - ganz mit der Natur verbunden bin!“

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Ihre Stimme hat zu einer tieferen Farbe gewechselt, ich sehe, wie nun ihre Augen leuchten und dass sie zunehmend lebendiger wird. (In diesem Moment wird mir auch bewusst und ich bin berührt davon, dass sie mich gerade an einen besonderen, fast magischen Ort mitgenommen hat.)

Das Spüren des Körpers wiederentdecken Ich wiederhole langsam einige ihrer Worte und füge mit Zustimmung hinzu: „Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Dieses Gefühl von Eins-Sein und Flarmonie aus der Bewegung heraus - ich habe selbst über viele Jahre intensiv getanzt. Amelie, mich erreicht durch Ihre Beschreibung etwas sehr Kraft- und Freudvolles. Ich muss sagen, so ein Vorgang zeugt auch von hoher Kunstfertigkeit!“ (Amelie atmet tief durch, sie wirkt wie erleichtert, als würde in ihrem Inneren „das Kunstvolle“ end­ lich erkannt worden sein. Amelies Körper hat sich indessen vollkommen aufgerichtet, ihre gestreckten Arme sind auf ihren Schenkeln aufgestützt, sie strahlt für mich absolute Kompetenz und Kraft aus. Es folgt eine Pause, dabei stelle ich fest, dass sie gerade ihre Augen geschlossen hat, mir also signa­ lisiert, dass sie gerne noch so verweilen würde): „So habe ich eigentlich noch nie darüber erzählt“ , sagt sie leise. Ich kommentiere dies nicht (unter­ breche nicht ihren Bewusstseinsprozess), sondern lade sie zur Vertiefung nur sanft ein, jetzt über Füße und Becken ihren Kontakt mit dem Boden und ihrem Stuhl zu fühlen. Sich zu erlauben, sich einfach noch ein wenig Zeit zu nehmen, um bei ihrem momentanen Erleben, bei dem Fluss der Bewegungsabläufe, der Schönheit und dem Genuss zu verbleiben. (Der wesentliche Unterschied, der ihr nun eine neuartige Erfahrung ermöglicht, besteht in ihrem Aufgerichtet-Sein, ihrer Verbundenheit mit dem Boden und dem Umstand, dass sie ihre Aufmerksam­ keit nun nach innen gerichtet hat und sich einlassen möchte. Über mein wertfreies und ungeteiltes Interesse spannt sich auch ein Raum zwischen uns beiden auf und bietet einen sicheren Rahmen, um bewusst bei etwas so Kraftvollem, das in ihr pulsiert, verweilen zu können. Sich selbst aufmerk­ sam verspürend - körperlich - darin nochmals zu erleben; all das nun in einem Raum, in dem keine Furcht vor Beschädigung oder Kritik herrscht, wo einfach alles gut und wichtig ist, was jetzt da ist.) Mit noch geschlossenen Augen meint sie nach einer Pause: „Ah, ich merke, dass meine Füße und Hände jetzt gar nicht kalt sind - wie sonst immer - dass mir eigentlich überall warm ist. Ich sitze fest und schwer auf dem Stuhl. Mein Herz pocht aufgeregt, eigentlich bis in meine Arme und Beine hinein.“ - „Ja, ist es ein angenehmes und sicheres Gefühl für Sie, wenn sie Ihren Körper jetzt so spüren?“ - „Ja, sehr!“

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Mit meinem Fokus bleibe ich weiterhin ganz bei Amelies Erleben, wenn sie die Augen öffnet, werde ich einfach da sein. Es brauchte nichts weiter gesprochen oder erklärt werden. Dann, die Augen wieder öffnend: „Mir fällt gerade der Unterschied so deutlich auf, wie schrecklich isoliert ich eigentlich bin, wenn ich ,abhebe‘ und in diesen anderen Zustand gerate, so weit weg von mir selbst; wie kalt es dort ist ... was für ein Unterschied! Genau so ist es oft auch, wenn ich alleine zuhause bin, viel zu oft.“ Wir schweigen ein paar Momente lang, ich halte dabei ihren jetzt unstet suchenden Blick. (Amelie hat hier die Erkenntnis gewinnen können, dass die Verschmelzungs-Erlebnisse, die sie im Laufen erlebt, in kaltes Isoliert-Sein und weg vom körperlichen Erleben führen. Hier tat sich die Möglichkeit auf, ihr jenen Unterschied mit neuen Mitteln des Selbst-Erlebens zugänglich zu machen, dass ein inneres Verbundenheitsgefühl an positive, lebendige und lustbetonte Empfindungen gekop­ pelt sein kann. Als Qualitäten, die am eigenen Leib erfahrbar wurden - eine Grundlage für tiefgreifen­ de Veränderung. Der Punkt ist: Freiheit war für Amelie bislang gleichbedeutend mit der Erlösung von - und nicht der Verbindung mit - eigenen Empfindungen und Bedürfnissen. Ein Freiheitskonzept, das fixiert blieb in Amelies beharrlicher Suche im Außen.) Bestätigend füge ich an: „Bemerken Sie bitte, dass Sie soeben nicht ,wie verloren', sondern als akti­ ver Beobachter dort waren, dass Sie Ihre Füße fest auf dem Boden behalten haben, während Sie die Kälte und die Einsamkeit spüren konnten. Es ist Ihnen anscheinend gelungen, etwas Wesentliches zu unterscheiden: Sie konnten spüren: ,Ah, das ist angenehm!', und ,Dort ist es kalt', und Sie konnten entscheiden: ,Nein, kalt mag ich nicht!', und sind am Boden geblieben! - Das hat Ihnen soeben Ihr Körper ermöglicht.“ - Pause.

Die Zuordnung von Gefühlen ermöglichen „Ja, erstaunlich, Ich habe auch keinen Sog dorthin gespürt, es war mir widerwärtig.“ -S tille . Meine Frage nun an Amelie: „Amelie, ist es für Sie denkbar, dass sich, womöglich durch eine neue Qualität von Kontakt zu sich selbst oder zu einem Gegenüber, auch Ihr Bedarf an Isolation verändern könnte?“

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Sie lächelt etwas verlegen: „Ja, eindeutig, ich merke jetzt auch, wie groß meine Sehnsucht danach ist, wieder irgendwo eingebunden zu sein, arbeiten zu gehen und etwas Kreatives, Sinnvolles zu machen!“ (Hier schien es, als hätte Amelie über das „In-Kontakt-Sein“ mit ihrem Körper Bezug nehmen können auf etwas „Wirkliches“ in ihr: auf ihre Sehnsucht, in Beziehungen zu leben. Als würde hier ein akti­ ves Verfahren, ein Prozess angeregt worden sein, der das eigene Schöpferische ins Spiel bringt. Irgendwie ist sie veranlasst worden, Eigenes hinzuzufügen - selbst etwas zum Vorgang der Perzeption beizutragen).

Das Erkennen neuer Räume Ein körperorientierter Weg kann solche „Geschenke“ ganz unerwartet - über ein gefühltes Wort, eine Berührung, eine Bewegung oder über das Da-Sein in „gutem“ Bodenkontakt - zum Vorschein brin­ gen: Diese erscheinen wie neue Räume, die sich öffnen. Sie werden lebendig, sowie der Klient sich diesen unvoreingenommen mit Aufmerksamkeit zuwendet. Erläuternd fasse ich zusammen: „Etwas Kreatives zu machen ... Nun, wie sich gezeigt hat, bringen Sie eigentlich viele Voraussetzungen dazu schon mit: Feingespür, eine scharfe Beobachtungsgabe, Ihren Sinn für Schönes, Stimmiges, Sie wissen um Ihren hohen Anspruch und um Ihre Fähigkeit, wirklich an etwas dranzubleiben. Das ist doch eine schöne Basis, würde ich sagen. Wie Sie selbst merken konnten, ist ja alles, was Sie suchen, in Ihnen auch verfügbar. Mit Ihrer Zustimmung und meiner Begleitung könnten Sie in Zukunft auch weniger bekannte Bahnen .begehen' - übend Schritt für Schritt. Auf der Ebene unseres Handelns und unserer Verhaltensweisen möchte ich folgende Parallele zu unserem Bewegungsapparat heranziehen: Manche unserer Muskeln werden stark und oft .benützt', geben Kraft und Sicherheit, und andere, die lange Zeit vernachlässigt wurden, werden .atrophisch', sind nicht so verlässlich. Jene würden ja nur besondere Sorgfalt und ein besonderes Training brau­ chen, um im ausgeglichenen Maße zum Einsatz kommen zu können. Bei dieser Art von Körperarbeit, als .Trainings'-Ansatz, würde es viel mehr darum gehen, wie ich etwas tue, wie sich etwas anfühlt und wie ich etwas geschehen lassen kann - als was ich tue und wie viel ich leiste. Ein Vorteil wäre dabei: Sie könnten selbst behutsam und spielerisch mittels erkennenden und vergleichenden Beobachtens mit dieser Umgangsweise experimentieren, dabei auch Orientierung und Klarheit bezüglich eigener Grenzen gewinnen.

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Wie gerade eben könnten Sie am eigenen Körper erfahren, dass Sie die Verbindung zu Ihrem gefühl­ ten Erleben nicht immer zwingend abbrechen müssen; dass Sie rechtzeitig selbst bestimmen können, wie viel Abstand Sie zum jeweiligen Geschehen brauchen, und damit ein Werkzeug in die Hand be­ kommen, wie Sie Ihrem Bedürfnis nach der nötigen Distanz in jedem Moment nachkommen könnten. Das würde bedeuten, dass Sie schließlich eine besonders fein abgestimmte Kontrolle über die Vor­ gänge entwickeln würden. Im Nervensystem geschehen dabei wertvolle neue Vernetzungen, die, wenn sie einmal aktiviert wurden, für Sie nachhaltig abrufbar bleiben!“ Amelie nickt, atmet tief aus, ist ganz mit sich; sie sagt dann mit fast „milder“ Stimme: „Ehrlich gesagt, ich dachte immer, für mich sei es einfach schon zu spät, weil vieles in mir völlig verkümmert oder gar nicht vorhanden ist. Ja, endlich auf meine Grenzen achten können, sanfte Kontrolle über die Vorgänge haben - das wär’s genau!“ Im Erstkontakt ist jene Phase, in der sich die Beziehungsebene zwischen Klient und Therapeut formt, entscheidend für weitere mögliche Entwicklungswege. Amelie und ich wissen hier beide, dass Körper­ arbeit und Berührung Elemente unseres Austausches sein werden und sammeln implizite Hinweise, ob und wann es sich für uns sicher und stimmig anfühlt, miteinander dorthin zu gehen. (Amelie berichtete mir nach der ersten Sitzung, dass sie an diesem Punkt unseres Gespräches schon innerlich ihr „OK“ dazu gegeben hatte: „Ich wusste irgendwie, dass Sie mit meinen Gelenken auch achtsam umgehen würden und dass ich Sie an meinen Körper,lassen' kann. Ich war sogar neugierig darauf geworden, wie es wohl sein wird, wenn sich Ihre Sprache nur über die Berührung der Hände und Bewegungsimpulse vermittelt.“) Im Rahmen der heutigen ersten Sitzung passt es gut, noch Amelies Körperaufrichtung in den Fokus zu nehmen, und ich teile Amelie mit, dass ich mir zum Abschluss noch gerne ein Bild von ihren Gelenken im Stehen und im Gehen machen würde. Sie nickt bereitwillig. Ich bitte Amelie aufzustehen und ein wenig, ganz in ihrem Tempo, in der Länge des Raumes auf und ab zu gehen. Ich frage mich, was nun im aufrechten Gang, in der Dynamik eines Menschen zu erken­ nen sein wird, der so stark mit Bewegung identifiziert ist, und was sie an sich selbst wahrnehmen kann.

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(Mein Augenmerk liegt im Besonderen auf Art und Weise der Verlagerung ihres Körperschwerpunkts im Raum, auf Verteilung des Körpergewichts, das Schwingen um die vertikale Körperachse und ob das Verhältnis zwischen Energieaufwand und Effekt der Bewegungsabläufe im Sinne der Naturgesetz­ lichkeit der Ökonomie, d. h. ohne zweckfremder Behinderungen, gegeben ist.) Bemerkenswert er­ scheint mir gleich, dass ihr Körper sehr starr anmutet. Auffallend ist auch eine Steifheit von ihrem linken Fuß bis zum Scheitel hinauf, als würde ein Stock durch sie hindurch gehen, um welchen sich der restliche Körper „blockartig“ dreht; der Kopf, der Blick nach links zu Boden geneigt, die rechte Schulter ist sehr hoch-, ihre Schulterblätter sind zuein­ ander gezogen. Die Arme sind seitlich leicht vom Körper weggestreckt. Ich sehe viel Unsicherheit im Halten des Gleichgewichts, wenn der Gang an Tempo verliert oder zum Stillstand kommt. Ihr Becken scheint ohne Impulskraft zu sein. Es ist, als hielten ihre Füße nicht den Kontakt zum Boden, als wollte sie sich von ihm wegziehen. Meine erste Frage, während ich Amelie ermutige, ganz in ihrem Tempo einfach weiterzugehen: „Könnten Sie mal schauen, woher für Sie die Kraft für die Bewegung kommt? Welcher Körperteil führt diese an, lässt Sie vorwärts gehen?“ „Meine Gesäßmuskeln, meine Oberschenkel und mein Kopf. Ich spüre was ab da: (sie zieht zwei Linien mit ihrer Hand, eine unter der Leistengegend und eine entlang dem Halsansatz), mein Becken ist nicht beteiligt, dieses gibt es gar nicht.“ „Würden Sie nun bitte ein wenig das Tempo erhöhen?“ Ihr Kopf richtet sich plötzlich auf, ihr Körper organisiert sich etwas mehr nach der rechten Seite und sie meint: „Ah ja, jetzt spüre ich mich mehr „als Ganze“ gehen, jetzt fühl ich mich stabiler, siche­ rer!“ „Gibt es eine Körperseite, die Sie als stärker oder dominanter als die andere bezeichnen wür­ den? „Ja, die linke, eindeutig!“ (Es ist die Seite, die sie wie einen Stock, eine „Krücke“ gebraucht.) Amelie kann im Moment nicht spüren, dass ihre gesamte Wirbelsäule kaum Verschraubungen in den Wirbelgelenken zulassen kann, dass sie im „Bärengang“ geht und ihre Schultern versuchen, den Körper vom Boden hochzuziehen; sie merkt aber, dass sie ihr Becken nicht „dabei hat“ , weil sie es nicht (!) spürt. Im Einbeinstand verspürt sie einen leichten Schmerz im rechten Sprunggelenk und kann ohne starkes Zittern die Position nicht halten. „Schrecklich“ , meint sie, „das wird nicht besser!“ Sich so (als Sportlerin) zu zeigen, ist ihr merklich unangenehm. „Das würde ich mir später noch genauer anschauen! Aber jetzt bitte ich Sie, noch kurz auf der Liege sitzend (in einer für sie stabileren Position) Platz zu nehmen.“

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Seitlich zu ihren Schultern (und in ihrem Blickfeld) stehend, frage ich sie nun nach ihrer Zustim­ mung, den Bereich zwischen ihren Schulterblättern (der für mich sichtlich sehr viel Spannung auf­ weist) tasten zu dürfen (kündige also die Stelle der ersten Berührung genau an, bin sachlich, be­ stimmt und „führe“ sie in einen völlig neuen Prozess.) Amelie ist ruhig, nickt und willigt klar ein. Nun, durch den präzisen, verstärkenden Druck meiner Finger an kontrahierten Stellen der Mm. rhomboidei und des M. trapezius entlang ihrem rechten Schulterblattrand (gleichzeitig bewege ich mit meiner anderen Handfläche ihr rechtes hochgezogenes Schulterblatt aufwärts in Richtung Halswirbelsäule - verstärke dabei exakt die Kontraktion ihres M. levator scapulae - und begleite es immer wieder im sanften Zurückgleiten), ermögliche ich ihr das gesamte Spannungsfeld ihres Schul­ ter- und Nackenbereiches über diese Bewegungsimpulse wahrzunehmen und erstmalig meine Hände zu spüren. Sofort meldet sie zurück, nach einem tiefen Atemzug, dass sie jetzt erst ihre hochgezogenen Schul­ tern bemerkt hat, weil die Spannung irgendwie nachgelassen hätte und die Schultern merklich tiefer gesunken seien (chronisch verkürzte, verhärtete Strukturen sind aus dem Wahrnehmungsfeld oft „völ­ lig ausgeblendet“ und ohne äußere „Anstöße“ von benachbarten Körperbereichen nicht unterscheid­ b a r - unterliegen einer „sensorischen Amnesie“). „Puh, Sie haben da eine für mich altbekannte, sehr bedürftige Stelle genau getroffen. Ich hatte sie schon so lange aus den Augen verloren. Ich dachte, es gäbe sie nicht mehr. Wie konnten Sie das wis­ sen?“ , meint sie zustimmend. Ich weiß nun, dass ich „dranbleiben“ darf, wiederhole, mehrere Rich­ tungen prüfend, die vorangegangenen Bewegungsimpulse, die Haltestrukturen lassen merklich nach, bis sich ihre rechte Schulter in der Höhe der linken völlig angeglichen hat. (Wenn eine äußere Kraft die Arbeit eines Muskels übernimmt, meldet das sensorische Nervensystem an das motorische zu­ rück, dass die Arbeit gerade verrichtet wird, und der jeweilige Muskel erhält den Befehl, die Kon­ traktion zu lösen und kann sich wieder verlängern.) Unser allererster Berührungskontakt ist erfreulicherweise fließend verlaufen und Amelie konnte meine Vorschläge und die Verläufe mit Interesse an sich beobachten, also auch die Kontrolle bewahren. Hier schien es, als hätte sich nun auch die Türe zur Berührungsarbeit für uns beide geöffnet. Ich betone erneut Amelies besondere Gabe zur Selbstbeobachtung, was sie wiederum in freudvolles Erstaunen versetzt. Nun bitte ich Amelie erneut, ein paar Schritte im Raum auf und ab zu gehen.

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(Der Wahrnehmungs-Prozess erfolgt immer über den direkten Vergleich: Das heißt: Die Person soll ihren körperlichen Ist-Zustand wahrnehmen und beschreiben - es folgt die Differenzierungsphase unter veränderten Bedingungen - und dann den „neuen Zustand“ mit dem ersten vergleichen.) Sie tut es mit den Worten: „Als würden jetzt meine beiden Schultern auf .ihren Platz' fallen, es ist irgendwie leichter geworden. Sie müssen richtig .eingerollt' gewesen sein! Mein Brustkorb ist jetzt viel offener, weiter und im Gehen bekomme ich viel mehr Luft zum Atmen. Das ist befreiend. Oh, jetzt kann ich umso deutlicher spüren, wie steif mein Becken ist!“ Das war unsere erste Sitzung. Amelie ist sehr zufrieden, dass sie, wie sie sagte, nicht gemerkt hätte, wie schnell die Zeit vergangen sei und dass sie an keinem Punkt „weglaufen“ wollte. Sie möchte gerne mit mir, wenn ich sie wirklich nehmen würde, einen Fixtermin pro Woche ausmachen. Es ist mir bewusst, dass ich von Amelie hier ein Einverständnis bekommen habe, womöglich die Person in ihrem Leben sein zu dürfen, mit der sie eine neue Form von Kontakt zulassen und erleben wird. Vielleicht war es mir so weit gelungen, ihr zu verstehen zu geben, dass ich vertrauensvoll den Versuch wagen möchte, mit ihr gemeinsam einen neuen Zugang zu ihrem Körperwissen zu suchen. In Form einer sehr behutsamen Annäherung, in der gewiss sowohl ihr außerordentlicher bisheriger Lebensweg als auch Amelie in ihrer Einzigartigkeit gesehen und gewürdigt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Amelie jedenfalls die Einsicht gewonnen, dass sie viel Neues an sich selbst entdecken kann und dass sie für den Weg hinaus in ein andersartiges, aber selbstbestimmtes Leben wirklich ihren Körper brauchen wird - und vor allem: dass sie das jetzt will.

Amelies Rückmeldungen zu Beginn unserer zweiten Sitzung „Meine Schultern waren beim Zähneputzen, beim Kochen und beim Lesen kontinuierlich damit befasst, diese angenehme, mühelose Position wiederzufinden, die sie letztens hier entdeckt hatten. Immer wenn sie wieder hinaufgewandert waren, habe ich es gleich gemerkt, vor allem, wenn ich in unangenehme Situationen gekommen bin, z. B. als meine Mutter zu Besuch war, waren sie auch gleich wieder wie eingerollt! Weil ich aber merken konnte, dass ich dabei weniger Luft bekomme, wollte ich nicht in diesem Zustand bleiben und es ist mir (als sie wieder weg war) auch gleich gelun­ gen. Es hat mich sehr beschäftigt, wie viel Signale doch der Körper den ganzen Tag über gibt! Ich habe so klar gespürt, wie sehr mich der Kontakt mit meiner Mutter im Nacken und in den Schultern verspannt. Erstaunlicherweise habe ich erstmalig wieder ihre Einladung zum Essen zwar annehmen,

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aber diesmal im Vorhinein klar auf eine Stunde beschränken können, und als ich das getan habe, sind sie wieder abgesunken, wie von alleine. Ich wusste, länger würde ich es in meinem Elternhaus ohne die alte Beklemmung nicht aushalten und müsste danach gleich wieder laufen gehen!“ (Mir fällt auf, dass gerade die Körperstellen, die in der ersten Sitzung von mir berührt wurden, in besonderem Maße ins Feld ihrer Aufmerksamkeit gerückt waren und dass sie wirklich gerne damit experimentiert hat.)

„Haben Sie vielans Laufen gedacht?“ „Nein, weil ich inzwischen begonnen habe, meine Wohnung neu zu gestalten, Farben für meine Wände auszusuchen usw. Mir ist so stark bewusst geworden, wie wichtig mir meine eigenen vier Wände sind. Ein Grund, warum ich die Einladung meiner Eltern angenommen hatte, war, dass ich ihnen sagen wollte, wie wohl ich mich in meiner Wohnung fühle und sie haben mir zugesichert, dass ich für immer hier bleiben kann. (Die Immobilie ist im Besitz der Eltern.) Ich möchte nichts von ihnen erbitten müssen, aber so klar konnte ich bislang noch nie definieren, dass es eine existenziell wichtige Tatsache für mich darstellt, einen so schönen Platz zu haben, in dem ich mich zurückziehen kann.“ Folgendes war passiert: Amelie hat einerseits ihrem Bedürfnis nach Weite und Atemfreiheit vertrauen und Folge leisten können (körperlich nachvollziehbare Phänomene durch das entstandene Engegefühl in der Brust durch körperliche Nähe der Mutter) und noch ein weiterer Schritt war aus diesem „Zulassen-Können“ aus ihr hervorgegangen: Sie hat merken und wertschätzen können, dass sie als Voraussetzungen für ihr Sicherheitsgefühl eine bestimmte Rückzugsmöglichkeit im Leben brauchtund artikulieren können, dass ihr das wichtig ist. Es hat zweifellos Sinn für sie gemacht, nun selbst für die Optimierung dieser Bedingungen zu sorgen.

Einschätzungen, Verständnis und Anregungen mit S I B Nach meiner Einschätzung bestand ein wesentliches Problem für Amelie nicht darin, dass sie sich nicht spüren konnte, sondern vielmehr darin, dass sie ihre Selbstachtung ausschließlich aus ihren extremen und einseitigen Leistungen bezog. Es ist auch zu bedenken, dass das Laufen und das streng kontrollierende Essverhalten die einzigen Angelpunkte, die „sichere“ Struktur, in ihrem Leben darstellten. Die Tatsache, eine extreme Einzelkämpferin zu sein, verlieh ihr überdies eine Sonder­ stellung, die möglicherweise auch sehr bedeutsam für sie war.

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Ich konnte nachvollziehen, dass ihr Leben ohne das Laufen, ohne ihren „fixen“ Zeitplan und ohne neue Beziehungen im Außen für sie „haltlos“ und sinnentleert erscheinen musste. Auf einer rationa­ len Ebene war ihrem Lebenskonzept nichts entgegenzusetzen. Jedoch entstand bei mir das Bild, dass Amelie neben der kognitiven Stärke auch große Sehnsucht nach Lebendigkeit und außerdem Interesse mitbringt, mit physiologisch nachvollziehbaren Informationen genährt zu werden. So gilt es für mich im nächsten Schritt in erster Linie - über Kontakt in annehmender Haltung und über neue feine Bewegungsqualitäten - sowohl ihre rigiden Strukturen als auch gegensätzliche Qualitäten, die „weicheren“ , noch „verschütteten“ Stärken, als Teile ihres schöpferischen Potenzials für Amelie unterscheidbar und erlebbar zu machen. Deutlich war für mich (das brachte Amelies Depression zum Ausdruck), dass sie für nachhaltige Ver­ änderungen genügend Zeit brauchte - war sie doch in ihren momentanen Zustand gezwungen wor­ den. Womöglich könnte sie über einen sanften Körper-Weg neue Anhaltspunkte und zu neuer Orien­ tierung finden, indem sie in Beziehung zu einer verlässlichen Quelle in ihrem Innerem geht, mit dem sie in kontinuierlichem Austausch bleiben kann. Der Gewinn könnte sein, gleichzeitig größtmögliche Unabhängigkeit von äußeren Gegebenheiten zu erlangen. Der gemeinsame Weg mit Amelie und somit die nächste Phase über Berührung und Kontakt ist nun etabliert. Wir treffen die Vereinbarung, dass sie mir immer rückmelden würde, sobald eine Position nicht stimmig oder wenn für sie womöglich der Druck oder der Zug an irgendeiner Stelle zu stark, zu schwach oder unangenehm sein sollte. (Sie muss die Gewissheit haben, dass für mich ihre Entschei­ dungen wesentlich sind und dass sie in die Vorgänge immer eingebunden bleibt.) Sie nickt erwartungsvoll und bestätigt mein Gefühl, dass die gemeinsame Vertrauensbasis so weit für die nächste kurze Phase im Liegen etabliert sein müsste.

Was kann ihr nun für den nächsten Schritt die Körper- und Berührungsarbeit bieten? Ich möchte folgendermaßen vorgehen: Zunächst gilt es, alles mir Erdenkliche anzubieten, was Amelies Erleben von Sicherheit fördern kann (ihre Gewohnheit ist es ja, in unangenehmen Situationen zu dissoziieren, sich zu entfernen.) Ich möchte sie vorerst verbal unterstützen, ihre Aufmerksamkeit zu sich zu lenken und ihr Interesse und ihre Neugierde über Erlebnisse von Neuem, „Ungewohntem“ , mehr Leichtigkeit und über Variantenreichtum zu nähren.

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Sicherheitsempfinden stärken Im Liegen bewusst machen, dass sie von einer großen stabilen Unterlage (Liege) getragen wird: über ihren Körper, über sein Gewicht das Wirken der Schwerkraft, den Bezug zur Erde zugänglich machen. Das hieße für sie, körperlich spüren zu können, dass da etwas ist, etwas Verlässliches für sie da ist, das, wie ein Naturgesetz, sie trägt und wodurch sie sich gleichzeitig in ein größeres Ganzes eingebun­ den fühlen kann.

Körpereigene Grenzen spüren lassen Hier über ihre Körper-Konturen klar und deutlich ihre äußere Grenzen wahrnehmen lassen, zum Beispiel ihre Körpergrenzen mit Decken einzufassen, die auch einen sicheren Halt geben.

Eigenwahrnehmung schulen Amelie anzuleiten, ihre Auflage auf der Liege bei sich zu beobachten: Welcher Teil liegt deutlich auf, welcher ist momentan gar nicht spürbar? Wie schwer liegt welcher Körperteil? Wie ist es mit der Symmetrie: Links-rechts-Vergleich? Es hieße, über diese Ausgangsposition die unterschiedlichen Körperbereiche in ihren Qualitäten zu erforschen und zu prüfen, ob sie sich z. B. leicht, schwer, warm, kalt, lang, kurz, eng, weit, dicht, gelöst, fixiert, oberflächlich, tiefliegend, hart, weich, beweglich, starr, angespannt, unangenehm, woh­ lig, verschlossen, verschwimmend oder taub, nicht zugehörig, fremd usw. anfühlen. Jedes „Hin-Spüren“ und der Versuch, etwas davon zu benennen, bewirken, dass wir unsere Wahrneh­ mungsebene von einer nach außen und zielgerichteten mit Leichtigkeit auf eine nach innen - zu uns selbst gerichteten - wechseln. Wenn wir hingeführt werden, unsere Aufmerksamkeit auf Erlebensqualitäten zu richten, geschieht es meistens, dass wir vorerst mit Verwunderung feststellen, wie viele Nuancen uns zur Verfügung stehen. Auf diese Weise können wir auch unserer Atmung und des Herzschlags gewahr werden, die in den tiefsten und innersten Bereichen unseres Körper beheimatet sind, und merken, dass für ihr Funk­ tionieren nichts aktiv zu tun und auch nichts zu kontrollieren ist. Nun bitte ich sie, die für sie angenehmste Lage im Liegen auszusuchen (Seit-, Rücken- oder Bauch­ lage), sie wählt die Rückenlage. Ich biete ihr eine Unterlage für den Kopf an, lasse sie verschiedene

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Stärken ausprobieren, bis die Höhe für sie genau richtig ist im Hinblick auf möglichst wenig Anspannung, Schmerz oder unnötige Haltearbeit ihrer Nacken- und Halsmuskulatur. Bei jedem Schritt wird ihre Kompetenz angefragt; nicht ich entscheide, was für sie am besten ist. (Jede diese kleinen Gesten hilft ihr auch, sich immer wieder fragen zu müssen, was denn jetzt gut oder besser für sie wäre - was ja exakt ihrem Anliegen entsprechen würde.) Ebenso verfahre ich mit einer großen Rolle für ihre Knie und einer kleineren, auf der ihre Sprungge­ lenke zu liegen kommen. Ich habe den Impuls, Amelie eine Decke anzubieten, frage aber vorher an, wie sie ihre Körpertemperatur empfindet. Sie kann so feststellen, dass sich ihre Füße und Hände nun kalt anfühlen. Schließlich bittet sie mich um eine Decke. (Ich vermeide fürsorgliche Gesten, die eine „bemutternde“ Komponente haben könnten.) Ein wesent­ licher Fokus dieser Arbeit liegt im Erfahrbarmachen von Wahlmöglichkeiten auf allen Bewusst­ seinsebenen. Auf der Beziehungsebene soll von Beginn an deutlich werden, dass Amelie und ich auf gleicher Augenhöhe stehen, dass ich als ihre Begleiterin meinen Kompetenzbereich habe, wir jedoch nur gemeinsam diesen Weg gestalten können. Ich führe ihr Erkennen, was sie jetzt braucht, auf eine geglückte Vorbereitungsphase zurück, und werte es als weiteren Vertrauensbeweis, dass sie hier den Mut aufgebracht hat, ein Bedürfnis auszu­ sprechen, anstatt es - wie gewohnt - als Schwäche abzutun. Nun biete ich Amelie als Referenzpunkt an, dass sie einerseits die Erlaubnis geben kann, nach und nach das Gewicht ihrer Beine, ihres Beckens, Rumpfes, Arme und Kopfes in die Unterlage sinken zu lassen, und dass, wenn ich einen Körperteil (z. B. ihr Bein) anheben und bewegen werde, sie darauf achten könne, ob sie auch dabei das jeweilige Gewicht der Bewegung überlassen hat oder ob sie aktiv hält, mitmacht oder mir entgegenkommt. Dazu kündige ich eine kurze Probe an. Ich versuche, nun systematisch, in der Berührungsqualität, im „Griff“ klar und strukturierend vorzugehen. Amelie soll genügend Zeit haben, sich an die Sprache meiner Hände und an diese Art des Kontakts zu gewöhnen. Ich bin achtsam, ob ihr Atem fließt oder ins Stocken gerät, auf ihre Mimik und jede auch nur geringste Reaktion, die auf Vorsicht oder Widerstand hinweisen könnte.

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Ich hebe ihr linkes angewinkeltes Bein, halte es sichernd unter Knie und Ferse und beginne mit klei­ nen Rotationsbewegungen von kaum drei Millimeter Durchmesser, bleibe fragend, kreisend exakt in­ nerhalb ihrer momentanen Bewegungsspielräume und der Grenzen, die mir ihr Hüftgelenk zeigt. Ich biete dem äußeren Bereich ihres Knies mit meiner Hand einen sicheren Halt und signalisiere Amelie, dass die Hand verlässlich da ist, würde ihr Knie nach außen fallen. Merklich „hält“ Amelie das Bein sehr steif. Durch die fragenden Bewegungen kann sie aufmerksam bleiben und es gelingt ihr, über das spürbare Fehlen von Beweglichkeit, ihre Starre im Hüftgelenk zu identifizieren und im nächsten Schritt das Gewicht ihres Knies, ein wenig nach außen sinkend, meiner Hand zu überlassen. Wir forschen beide weiter, wie groß die Kreisbewegungen im Hüftgelenk wohl jetzt mit Leichtigkeit, rund und frei aus­ führbar sind. Immer wieder zeige ich ihrem Knie, dass es weiter sinken kann, weil es gehalten wird. Sie konnte nun beobachten, wie sie nachher beschreibt, dass die Bewegungsspielräume, die sie Schritt für Schritt freigibt, die Vielfalt der Richtungen und Größe der Kreise erhöht, und dass es spielerisch und genussvoll ist, in diesem Gelenk, das so lange starr gehalten war, wieder Bewegung zu spüren. Nach dieser kurzen Sequenz lege ich ihr Bein wieder vorsichtig auf der Knierolle ab. Amelie atmet auf, sie lächelt, es gefällt ihr. Wir freuen uns beide über unsere geglückte wortlose Verständigung. „Ja, wunderbar“ , meine ich nur bestätigend. Ich nehme das andere Bein auf gleiche Weise und weite die Rotationsbewegungen auf das Kniege­ lenk aus, indem ich das Knie fixiere und den Unterschenkel an der Ferse haltend, vorsichtig prüfend Kreise beschreiben lasse. Die Bewegungen sind fein abgestimmt auf die Größe, die ihr Kniegelenk fließend und rund zulässt, immer fragend, gewährend, nie mechanisch, nur lauschend, das Tempo und Richtungen variierend. Indessen hat mir Amelie das Gewicht ihres Beines völlig überlassen. Schließlich führe ich einige ganz langsame kleinstteilige Drehbewegungen, mit beiden Händen sicher umschließend, an der heikelsten Stelle, an ihrem Sprunggelenk, aus. Ich spüre keinen Widerstand von Amelies Seite. Als ich zu ihrem Kopf blicke, merke ich, dass sie die Augen geschlossen hat. Amelie hat sichtlich an Vertrauen gewonnen und weiß, worum es geht.

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Zuletzt führe ich sanfte Kompressionen mit dem gestreckten Bein in Richtung ihres Hüftgelenks und Kopfes aus und schließe mit einem sanften Beinzug über ihre Ferse, welcher mit einem großen Auf­ atmen von Amelie begrüßt wird. Es folgen wieder, wichtig für den Vergleich, einige rasch ausgeführte Drehbewegungen auch an diesem Sprunggelenk. Dann lege ich ihr Bein auf den Rollen ab und begleite die feine Auf-Ab-Bewegung des Fußes, die ich Amelie ganz zu Beginn gezeigt habe. Ihr Fuß hat den doppelten Spielraum dafür freigegeben. Amelie kann den Unterschied zu vorher genau wahrnehmen, sie schüttelt zufrieden den Kopf. Amelie beschreibt im Anschluss an diese Sequenz, dass für sie die Art der Bewegungen wohltuend und nachvollziehbar waren; dass sie richtig „bedürftig“ danach war, an die Vielfalt der Bewegungs­ richtungen ihrer Beine erinnert zu werden. Sie habe das Gefühl, durch die vorangegangenen Züge nun wieder ein wenig „Luft“ zwischen ihren „eingekeilten“ Gelenken zu spüren. Sie sagt, dass es für sie unfassbar sei und dass sie glücklich ist, dass so viel schmerzfreie Bewegung in ihrem Sprunggelenk möglich war. Sie hätte das nicht für möglich gehalten. Diese wären doch seit den Operationen wie „einbetoniert“ gewesen. Sie habe Hoffnung geschöpft, dass sie ihre Beine doch noch eine „Chance“ hätten. Ich habe diese Form des Einstiegs gewählt, weil ich annahm, dass Amelie über Bewegungsvorschläge leichter als über andere, statischere Berührungsvarianten, erreichbar sein würde und vielleicht sogar ihr Interesse zu gewinnen wäre, wenn sie dabei den Zustand ihrer Gelenke auf neue Art selbst über­ prüfen kann. Ins Staunen versetzte mich jedenfalls, dass Amelie während der ganzen Stunde nicht mit der Prob­ lematik der Berührung, also dem Nähe-Distanz-Thema befasst war. Es wurden ihr anscheinend die passenden Bedingungen geboten, einfach bei sich selbst bleiben zu können. In den weiteren Sitzungen werden verschiedene Schwerpunkte, immer bezugnehmend auf von ihr bereits im Verlauf wahrgenommene Einschränkungen, gesetzt und zugänglich gemacht. Die linke, „stockartig“ versteifte Körperseite durch Kompressionen über die linke Fußsohle deutlich spüren zu können ermöglichte es Amelie erst, auch die extrem hohe Haltearbeit ihrer Nacken­ muskulatur zu erkennen und letztlich auch die starke Kontrollfunktion ihres Kopfes und ihrer Augen.

Sie konnte mit zunehmenden Impulsen üben, den sanften Bewegungsimpulsen, die über die Periphe­ rie ihres Körpers kamen, einfach nachzugeben und zu spüren, wie es sich anfühlt, wenn der Kopf nicht unablässig gehalten werden muss, sondern schwingen und rollen kann. Wenn ihr das gelang, wurde ich oft mit einem anerkennenden Lächeln ihrerseits (bei geschlossenen Augen) belohnt. Nach und nach entstand mehr Weichheit in ihrem Nacken, auch ihr Gangbild verän­ derte sich merklich zur Körpermitte hin und in Richtung wachsenden Stabilitätsempfindens ihrer­ seits. Als weitere wichtige Weggabelung auf unserer Landkarte erwies sich das achtsame und kleinteilige Lösen des hohen Tonus im ihrem gesamten Beckenbereich. Durch gewährendes Zulassen von Bewe­ gungen über die knöchernen Strukturen im Lendenwirbelbereich, Femur und zuallerletzt auch durch sicherndes (zuvor immer verbal angekündigtes) Halten der beiden Darmbeinschaufeln in der Rücken­ lage - über viele Atemzüge lang. Hierbei gelang Amelie bspw. eine erste tiefgreifende Erfahrung von „bewusster Hingabe“ zu machen. Ihr Feedback: „Ich weiß nicht, ich habe nur versucht, das Gewicht meiner Hüfte absinken zu lassen, während Sie sie so sicher gehalten haben. Ich kann's nicht fassen, dass ich es geschafft habe! Mein rechtes Hüftgelenk ist zum ersten Mal seit langem frei! Ich lechze förmlich danach, noch einmal so loslassen zu können!!“ In der darauffolgenden Stunde kam Amelie mit der Bitte, die Hüftsequenzen heute zu wiederholen, und berichtete tief berührt, dass einige Tage zuvor ihr Beziehungswunsch „erwacht“ war und auch ihre Hoffnung auf eine winzige Chance, ihre Weiblichkeit vielleicht doch noch leben zu dürfen. In unerwarteter Weise erwächst aus der differenzierten „Körper-Kompetenz“ eines Menschen auch das Vermögen, an seine persönlichen inneren Werte anzuknüpfen und diese von fremdbestimmten Glaubenssätzen deutlich zu unterscheiden; sie erweist sich sogar als Grundlage, sich selbst als das einzigartige Wesen, das er ist, mit Achtung zu begegnen.

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4. 5. S I B im Dialog mit einer Klientin und ihren „W urzeln“ - Edith Schmölz Dieser Artikel beschreibt eine Behandlungsserie mit einer Klientin, die zum ersten Mal mit S I B in Kontakt kam. Abwechselnd werden die Klientin Frau Sonntag (kursiv) und die S I B-Pädagogin Edith Schmölz ihre Erfahrungen beschreiben. Die Vorgeschichte: Vor 20 Jahren bin ich schon einmal für mehrere Wochen aufgrund einer HalluxValgus-Operation gehbehindert gewesen. Die Fehlstellung meiner Füße kam jedoch nach dieser Ope­ ration teilweise wieder. Insbesondere war mein linker Fuß davon betroffen. Aufgrund der Schmerzen konsultierte ich meine Orthopädin, die zu mir sagte: „Also, mit sechs Wochen Gips müssen Sie schon rechnen. " Die Aussicht, wieder an den Füßen operiert zu werden, deprimierte mich ein wenig. Zum Glück habe ich gute Freundinnen, die immer hilfreiche Ideen haben. So auch Claudia, die auf­ grund meiner etwas jammernden Erzählung meinte, warum gehst du nicht - bevor du dich unters Messer legst - zu einer Osteopathin oder Physiotherapeutin und lässt dich beraten. Gesagt, getan. Und so kam ich über Umwege zu Frau Schmölz, die sich meine Erzählung sehr auf­ merksam anhörte und mir einmal den Unterschied zwischen Physiotherapie und Systemischer und Integrativer Bewegungslehre erklärte. Da ich zum damaligen Zeitpunkt der Meinung war, „Schlimmer kann es eh nicht mehr werden", überlegte ich nicht lange und entschied mich für die Systemische und Integrative Bewegungslehre. Rückblickend weiß ich, dass es nicht besser für mich hätte kommen können. Frau Sonntag kam das erste Mal im Sommer 2005 zu mir. Ihr größtes Anliegen war die Linderung der Schmerzen im linken Fuß, die durch eine Hallux-Valgus-Fehlstellung (Schiefstellung einer Zehe) bedingt waren. Da sie schon Flallux-Operationen hinter sich hatte, wollte sie es diesmal anders angehen. Weitere Schmerzzonen waren die Lenden- und Halswirbelsäule, die laut Röntgenbefund abge­ nützt waren. Auf mich wirkte Frau Sonntag sehr wach, interessiert, etwas mit ihrem Körper zu tun und selber etwas zu einer Veränderung beizutragen, aber aufgrund der Schmerzen ein bisschen verzagt. Im Stehen war gut sichtbar, dass beide Fußgewölbe abgesunken und die Beinachsen etwas nach innen geknickt waren. Somit schauten ihre Knie nach innen. Der Oberkörper wirkte in sich zusammen

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gesunken, die Schultern waren nach vorne gezogen und die Nackenbiegung war verstärkt. Der Kiefer wirkte angespannt. Die Klientin erzählte mir, dass sie als Psychologin in der Jugendberatung arbeitete und in letzter Zeit viel Stress hatte, wodurch sie gar keine Zeit mehr für ausgleichende Bewegung hatte. Zu Beginn bat ich Frau Sonntag, mir zu beschreiben, wie sie ihren Körper in der Rückenlage auf der Behandlungsliege wahrnehmen konnte. Sie tat sich sehr schwer, Unterschiede der rechten und linken Körperhälfte zu spüren, die ich von außen gut sehen konnte. Sie merkte auch nicht, dass ihr Kopf zur Seite geneigt war, sodass das rechte Ohr näher zur Schulter war als das linke. Das ist ein Phänomen, das sehr oft am Beginn einer Behandlungsserie vorkommt, wenn die Bewusstheit für die Körperwahrnehmung noch nicht so ausgereift ist. Ich weiß noch, wie schwer es am Anfang für mich war, mir meine Wirbelsäule vom Gesäß bis zum Kopf vorzustellen, deren Verlauf, und wie sich meine Halswirbelsäule anfühlt: z.B. leicht geschwun­ gen, gerade aufliegend oder leicht schräg. Auch über die Art und Weise, wie ich stehe, wie ich gehe, wie sich dies anfühlt und wie mein Körper auf einem Behandlungstisch aufliegt, habe ich bis zum damaligen Zeitpunkt noch nie nachgedacht. Die Stunden der Systemischen und integrativen Bewegungslehre fühlten sich angenehm an. Obwohl es sich Bewegungslehre nennt, gab es meiner Ansicht nach kaum etwas zu tun, außer sich einmal auf die andere Seite zu drehen und mein Körperlageempfinden immer wieder einmal mitzuteilen. Zum damaligen Zeitpunkt war ich beruflich sehr unter Druck, und daher fand ich es einfach entspan­ nend, kaum etwas selber tun zu müssen. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, dass diese Art der „Behandlung“ mein Problem mit meinem schmerzhaften linken Fuß, der bei jedem Schritt weh tat, lösen könnte. Da sich aus meiner Sicht im Schultergürtel, Nacken und Kiefergelenk die meiste Spannung zeigte, behandelte ich zunächst diese Teile des Körpers. Außerdem ist es gut, sich einem so akuten Schmerz im Fuß besser von einem anderen Bereich des Körpers anzunähern. Ich begann die erste Behandlung mit der Schulterlektion im Sitzen. Als ich versuchte, eine Schulter von Frau Sonntag zu heben, wurden mir und der Klientin selber bewusst, welch große Anspannung im Schultergürtel vorhanden war. Nach einigen Behandlungsschritten konnte ich die Schulter schon besser heben und bewegen, und Frau Sonntag spürte, wie eine Last, die sie lange getragen hatte, beginnen konnte, von ihren Schultern abzufallen. Im weiteren Behandlungsverlauf stellte ich Bezüge

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zwischen dem Schultergürtel und dem Kiefergelenk her, was ihren Hals länger werden ließ, am Ende der Behandlung ließ ich sie noch durch Kompressionen vom Kopf zum Becken im Liegen die Verbindung vom Kopf in die Wirbelsäule spüren. Nach der ersten Stunde, als ich die Praxis von Frau Schmölz verließ, hatte ich kurzzeitig mehr Schmerzen in meinem Fuß als vorher. Hätte Frau Schmölz mich nicht darauf aufmerksam gemacht, dass dies so sein könnte, ähnlich wie bei der Homöopathie, es hätte damals meine leichte Verzweif­ lung noch gesteigert, da ich bei jedem Schritt in meinem linken Fuß, zwischen großer Zehe und nachfolgender Zehe, starke Schmerzen spürte. Dass man dort auch Bindegewebe hat, das man durch Übungen beeinflussen kann, war mir bis zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst. Bindegewebe hatte ich immer nur mit straffem oder nicht straf­ fem Bauch in Verbindung gebracht. Bei ihrem nächsten Besuch machte ich die Beckendrehung in der Seitenlage. Bei dieser Lektion konnte Frau Sonntag spüren lernen, dass ihre Oberschenkel verschieden druckempfindlich waren, das Becken auf den beiden Seiten unterschiedlich rollte und die Verbindung zum Schultergürtel auf einer Seite deutlicher war als auf der anderen. Nach den ersten zwei Behandlungen konnte Frau Sonntag eine Veränderung in der Auflagefläche wahrnehmen, sie fühlte sich lang und dünn. Außerdem war nach dieser Stunde der Schmerz im Fuß verschwunden, was für die Klientin sehr erstaunlich war. Als ich nach der zweiten Behandlung die Praxis verließ, fiel mir nicht gleich auf, dass ich keine Schmerzen mehr hatte. „Ein Wunder!“ An dieses Glücksgefühl kann ich mich heute noch erinnern. Ich habe es gut abgespeichert. Uns beiden wurde deutlich, dass die Lösung des Nackens, des Kiefers und des Beckenbereiches eine Lösung von Verspannungen in anderen Teilen des Körpers bewirkte. Durch das Integrieren dieser Ver­ änderung konnte ich am Ende dieser zwei Behandlungen dem Körper neue Möglichkeiten der Aus­ richtung zeigen. Diese wiederum verursachten einen anderen Stand, die Beinachsen waren gerade gerichtet, die Füße gleichmäßig innen und außen belastet - diesmal eben ohne Schmerzen. Durch meine Fragen konnte Frau Sonntag lernen, die Unterschiede vor und nach der Behandlung wahrzunehmen, und die Funktionen, die sich verändert hatten, im Nervensystem integrieren. Wie bereits kurz erwähnt, fragte mich Frau Schmölz vor und nach jeder Stunde und öfters auch zwi­

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schendurch nach dem Geh-, Steh- oder Lageempfinden meiner Wirbelsäule, wie sich meine Füße anfühlten, welche Unterschiede ich rechts und links empfände, was sich nach den Behandlungen verändert habe und dergleichen. Im Nachhinein weiß ich, dass diese Fragen eine sehr gute Körper­ schulung für mich als sehr kopflastigen Menschen waren. Ich weiß jedoch auch noch, dass ich dies nicht gleich nach der ersten Stunde empfand. Frau Sonntag kam noch weitere acht Behandlungen zu mir. Ihr wurde bewusst, wann sie durch Belastungen ihre Schultern wieder mehr nach vorne und oben zog oder wann sie durch Stress wieder mehr Nackenverspannungen bekam. So konnte sie in Zukunft besser auf ihren Körper hören und etwas verändern, bevor die Schmerzen zu stark wurden. Ich fand es etwas seltsam, zu einem Schmerzpunkt hin zu atmen. Doch ich wollte keine „Spielver­ derberin“ sein, und so tat ich es einfach. Prinzipiell probiere ich gerne Neues aus. Als ich jedoch die Entspannung dieser Schmerzpunkte spüren konnte, hatte ich offensichtlich etwas in puncto Körper­ empfinden dazugelernt. Faszinierend fand ich nach einiger Zeit die Verbindung von Schmerzpunkten an meinen Füßen und Beinen und die Lösung von Anspannungen an meiner Halswirbelsäule. Wenn ich mein Becken locker­ te, entspannte sich auch mein Kiefer. Das war auch faszinierend. So bewusst hatte ich meinen Körper noch nie wahrgenommen. Als besonders angenehm empfand ich das „Langziehen“ meiner Halswirbelsäule und meines ganzen Körpers. Subjektiv hatte ich das Gefühl, mindestens um 10 cm gewachsen zu sein, und ich empfand mich danach als rank, schlank und leicht schwebend. An eine Stunde kann ich mich rückblickend auch noch gut erinnern, da wollten meine Füße offen­ sichtlich in unterschiedliche Richtungen. Als das zur Sprache kam, war mir auch klar, was mir mein Körper sagen wollte. Beruflich und privat musste sich einiges verändern. Seit der abgeschlossenen Behandlung bei Frau Schmölz kam der Schmerz in meinem linken Fuß nicht wieder. Den Gips und viele andere Unannehmlichkeiten konnte ich mir sparen. Was ich mir jedoch nicht spare, sind einige wenige Übungen täglich, die mir Frau Schmölz zeigte. Zu einerweiteren Behandlungssequenz kam Frau Sonntag, weil sie Schmerzen in der Lendenwirbel­ säule hatte. Ich kann mich erinnern, dass es nur wenige Behandlungen benötigte, um der Klientin wieder die größere Bewusstheit für den Körper in Erinnerung zu rufen. So erzählte sie mir einmal, dass sie bei Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, die sie durch Stress bei einer großen Veranstaltung

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bekommen hatte, selber hinatmete hat und so durch die gesteigerte Aufmerksamkeit und Entspan­ nung die Schmerzen bald besser wurden. Nach einer Pause kam ich wieder zu Frau Schmölz, weil ich Schmerzen in meiner Lendenwirbelsäule hatte. Meine Orthopädin hatte mittels Röntgenbild festgestellt, dass die Lendenwirbel schon abge­ nützt sind. Aus dem Mund meiner Orthopädin klang das wie eine Hiobsbotschaft des nahenden Alters. Die Systemische und Integrative Bewegungslehre habe ich immer nur im Zusammenhang mit meinen Füßen gesehen. Konnte diese auch wirken, wenn die Lendenwirbel schon sehr abgenützt waren? Abgenützt ist abgenützt, oder? - dachte ich mir damals. Aber auf zu Frau Schmölz! Das Prozedere war mir ja schon bekannt. Als ich so auf der Liege lag und die erste Behandlung bekam, wurde mir sehr schnell klar, warum mir die Lendenwirbelsäule weh tat: der Stress im neuen Job. Mehr an Last zu tragen, als mir gut tat. Hier wurde Frau Sonntag das Zusammenspiel von körperlicher Veränderung und emotionaler Aus­ wirkung bewusst, welches sie sehr gut in ihren Alltag integrieren konnte.

Abschließende Worte Ich achte nun noch mehr darauf, was mein Körper mir sagt. Das geht ganz gut. Wenn meine Len­ denwirbelsäule sagt: „ Vorsicht, Überlastung", dann atme ich gleich einmal hin und überlege mir, wie ich es mir im Leben wieder etwas leichter machen kann. Bei Frau Schmölz möchte ich mich für ihre ruhige Art bedanken. Auch die Anfrage, ob ich einen kurzen Artikel über meine Erfahrungen mit der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre schreiben möchte, hat mich wieder angeregt, mehr auf meine Körperbefindlichkeit und Körperempfindlichkeit zu lauschen und zu achten. Ein Dankeschön an dieser Stelle. Am Beispiel von Frau Sonntag wird deutlich, wie viel es ausmacht, wenn eine Klientin sich aktiv an der Behandlung beteiligt. Sie hat sich darauf eingelassen, zu spüren, was Veränderungen in ihrem Körper bewirken, und aufmerksam wahrgenommen, was diese Veränderungen in ihrem Alltag ausmachen können. Für mich ist es immer wieder schön, so einen Prozess der Bewusstwerdung zu begleiten.

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4. 6. S I B vor und nach der Geburt: Von innen heraus dem Körper Leben schenken - Edith Schmölz Bevor ich selber schwanger wurde, hatte ich bereits das Glück, in meiner Arbeit mit der Systemi­ schen und Integrativen Bewegungslehre schwangere Frauen vor der Geburt zu begleiten. Die häufigs­ ten Themen waren die durch das Gewicht überlasteten Bereiche, die Vorbereitung auf die bevorste­ hende Öffnung und Weitung sowie durch eine vertiefte Atmung Entspannung zu bewirken.

Ein Behandlungsbeispiel Als Frau M. zu mir kam, war ihr Bauch aufgrund des achten Schwangerschaftsmonats schon sehr groß. Frau M. klagte über Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, im Schultergürtel und im Scham­ bein. Sie hatte das Gefühl, dass sie das Gewicht ihres Bauches nicht mehr halten konnte, und ver­ mutete, dass ihre schwachen Bauchmuskeln der Grund dafür waren. Sie machte sich große Vorwürfe, dass sie nicht vor der Schwangerschaft mehr trainiert hatte. Von der Seite gesehen war ihr Becken gegenüber dem Rest des Körpers weit aus der Mittellinie nach vorne gezogen. Das Gewicht des Bauches und die überdehnten Bauchmuskeln, die nicht mehr in der gewohnten Art und Weise arbeiten konnten, nahmen das gesamte Becken mit in diese Position. Mein erster Eindruck war, Frau M. schiebt ihr Kind vor sich her, als wäre es ein Ausstellungsstück und nicht ein Teil von ihr. Für mich war klar, dass dieses „ausgelagerte“ Gewicht an der Lenden­ wirbelsäule zog, der Brustkorb und Schultergürtel dagegenhalten mussten und der Druck auf die Schambeinfuge enorm gewesen sein muss. Während der Schwangerschaft ist es ein normaler Zustand, dass die Bauchmuskeln sehr überdehnt werden, wenn das jedoch Beschwerden macht, entstehen sie meist daher, dass das Becken und der Bauch nicht mehr gut mit den umliegenden Teilen des Körpers Zusammenarbeiten. Frau M. sagte auch, dass sie den Bauch so isoliert „vorne dranhängen“ spürt, und so wollte ich mit ihr an der bes­ seren Verbindung des Beckens mit den Beinen und dem Brustkorb/Schultergürtel arbeiten. Wir vereinbarten drei Behandlungstermine zu je 90 Minuten. In der ersten Behandlung widmeten wir uns den Zusammenhängen zwischen den Beinen, dem Becken und dem Brustkorb. Vor allem die Muskeln, die das Becken mit den Oberschenkeln verbinden, zeigten einige Verspannungen. Während ich an diesen Muskeln arbeitete, konnte Frau M. spüren, welche Spannung sich da aufgebaut hatte.

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Ich leitete sie an, wie sie durch eine vertiefte Atmung diese Anspannungen verringern konnte. Sie konnte wahrnehmen, dass sich ein warmes Gefühl in den Beinen hinunter breitmachte, als würde die Durchblutung angeregt worden sein. Ich arbeitete noch kurz an der Wirbelsäule; als sie sich danach aufsetzte, war ihr Schultergürtel deutlich entlastet. Auch im Stehen konnte Frau M. einen Weg finden, wie sie ihr Becken mehr in die Mittellinie bringen konnte, weil ihre Beine flexibler waren und so das Gewicht anders verteilen konnten. Das schwere Gefühl des Bauches war verschwunden. In der zweiten Sitzung behandelte ich ihren Schultergürtel eingehender. Da zwischen den zwei Be­ handlungen nur zwei Tage lagen, konnte ich optimal an die Erfahrungen der letzten Stunde anknüp­ fen und das gespeicherte Körperwissen von vor drei Tagen nützen. Frau M. war nach wie vor in der Lage, im Stehen das Gewicht des Beckens besser zu verteilen. Als ich dann im Sitzen ihren Schultergürtel bewegte und sie dadurch spüren konnte, in welche Rich­ tungen das leicht möglich war und wo schwerer, konnte ich sie durch meine Berührungen anleiten, wie sie ihren Schultergürtel anders halten und bewegen konnte. So hatte sie nach der Behandlung einer Seite das deutliche Gefühl, dass diese Schulter nun weiter nach unten sinken konnte. Sie musste sich nicht mehr so anstrengen, den oberen Brustkorb aufrecht zu halten, da dieser jetzt gut auf dem Becken ruhen konnte. Nach der Behandlung der zweiten Seite merkte sie neben der Entspannung der Schulter, dass ihr Gewicht gut nach hinten auf die Sitzbeine sinken konnte. Dadurch war auch ihre Lendenwirbelsäule entlastet, weil diese nicht mehr in der Position einer Hyperlodose war. Frau M. wurde klar, wie sehr die Lendenwirbelsäule und der Schultergürtel Zusam­ menhängen und wie sie mit der Entspannung des einen andere Teile des Körpers beeinflussen konn­ te. Außerdem spürte sie jetzt ganz deutlich, wie es ihr leichter war, die Bauchmuskeln als Stütze ein­ zusetzen, da das Becken eine andere Stellung zum Brustkorb hatte. Während der letzten Behandlung lenkte ich die Aufmerksamkeit auf die Vertiefung der Atmung und die Weitung des Beckenraumes. Ich arbeitete im Sitzen mit Teilen der Lektion ORA-B, wonach eine Entspannung im Flüftbeuger mehr Raum im Becken brachte. Da dieser Muskel auch für die Stellung der Lendenwirbelsäule verantwortlich ist, konnte Frau M. noch einmal mehr spüren, wie beweglich ihr Becken trotz des großen Bauches noch war. Beim Rollen des Beckens nach hinten und vorne konnte ich ihr auch gut erklären, welche Position während der

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Geburt sinnvoll war, da durch die Rundung der Lendenwirbelsäule zugleich der Geburtskanal besser hergestellt wird. Frau M. konnte spüren, wie sie die Atmung gut in Richtung ihres Kindes bringen konnte, was auch für die Geburt eine wichtige Übung war. Frau M. hatte nach diesen drei Behandlungen das Gefühl, ihr Kind mehr bei sich tragen zu können und es nicht vor sich her zu schieben. Sie meinte, auch der Kontakt zum Kind sei dadurch besser geworden. Wie sie mir nachher berichten konnte, wirkte sich dieses bessere Miteinander äußerst posi­ tiv auf die Geburt aus und sie konnte die Beckenbewegungen und die tiefe Atmung gut einsetzen.

Verlauf meiner Schwangerschaft Zwei Jahre nachdem diese Klientin bei mir war, wurde ich schließlich selber schwanger. Ich konnte durch Behandlungen vor und nach der Geburt am eigenen Körper selber Neues erfahren. Ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat hatte ich immer wieder Beschwerden in der Brust- und Halswirbelsäule, ebenso bekam ich schlecht Luft und tat mir mit dem tiefen Durchatmen schwer. In den fünf Behandlungen, die ich im siebenten Monat von Kolleginnen bekommen habe, arbeiteten wir viel an der Beweglichkeit zwischen Brustwirbelsäule, Rippen und Brustbein, um mehr Raum im Brustkorb zu schaffen. Ich kann mich noch sehr gut an den Zustand erinnern, als ich nach der zweiten Behandlung eine große Freiheit spürte. Einerseits durch den vergrößerten Atemraum, andererseits durch das Gefühl, endlich wieder diese leblos geglaubten Teile meines Rückens zu spüren und sie in weiterer Folge mit mehr Bewegung beleben zu können. Durch den Zug an den Rippen und die Arbeit am Zwerchfell war der Druck zu meinem Kind hin weni­ ger geworden. Durch die Entspannung der Zwischenrippenmuskeln konnte ich die Rippen bei der Atmung wieder mehr einsetzen und die Rückenmuskeln konnten sich reflektorisch entspannen. In einer weiteren Einheit arbeiteten wir an Armbewegungen, die schon im Schultergürtel beginnen und dadurch die Armmuskulatur nicht überlasten und eine Mitbewegung des Schultergürtels ermögli­ chen. Ich hatte durch das erhöhte Gewicht, das ich zu tragen hatte, und die Sorgen wegen der neuen Verantwortung, meinen gesamten Schultergürtel festgehalten. Am Beginn der Stunde war es mir nicht möglich, den Arm gemeinsam mit dem Schultergürtel zu bewegen. Ich hatte das Gefühl, dass ich umfallen würde, wenn ich die Anspannung unter den

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Schulterblättern aufgeben würde. Stück für Stück klärten wir den Bezug vom Brustkorb zum Schul­ terblatt. Die Entspannung der Muskeln unter dem Schulterblatt bewirkte eine bessere Beweglichkeit desselben. Als ich dann den Arm bewegte, merkte ich, wie das Schulterblatt über den Brustkorb gleiten konnte. Auch wenn sich diese Bewegung noch ungewohnt anfühlte, spürte ich doch, dass sie mit weniger Anstrengung verbunden war als meine „früheren“ Armbewegungen. Durch das bessere Zusammenspiel der Muskeln gab es nicht nur mehr Flexibilität, Bewegungen auf verschiedene Arten und mit einem größeren Spielraum auszuführen, ich spürte auch mehr Stabilität in der Wirbelsäule und im Brustkorb. Zwischen den Behandlungen konnte ich mir selber das „Beatmen“ der verschiedenen Körperteile in Erinnerung rufen. Ich habe mir auch oft vorgestellt, wie meine Zellen in Muskeln und Gelenken stän­ dig in Bewegung sind. All das habe ich dazu benutzt, die Körperteile, die zu Verspannungen neigen, immer wieder zum Leben zu erwecken und sie in meine Bewegungen mit einzubeziehen.

Die Geburt Als die Wehen starteten, ging vieles intuitiv vor sich. Ich spürte, dass ich eher im Fluss des Öffnens bleiben konnte, wenn ich die Wehenschmerzen als Wegweiser benutzte, in welche Richtung ich die Atmung lenken sollte. Ich überließ mich diesem Fluss und entspannte immer wieder verkrampfte Körperteile. Weiters wurde mir bewusst, dass mein Körper während der Behandlungen vieles integriert hatte, wor­ auf ich automatisch zurückgreifen konnte. Ganz deutlich spürte ich während der Geburt, wie mir Berührungen von meinem Partner halfen, den Stresspegel zu senken und damit auch die Schmerzen erträglicher zu machen.

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Nach der Geburt Nach der Geburt und den nachfolgenden Verspannungen durch die ungewohnten Positionen beim Stillen und Herumtragen ist mir in weiteren zwei Behandlungen einmal mehr bewusst geworden: Bevor ich Muskeln wieder mehr bewegen kann, muss die Anspannung nachlassen. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, was da nicht lebt in mir, wenn mein Brustkorb und Schultergürtel unbeweglich und ohne Leben sind. Ich fühlte mich erstarrt, war in meinen Sichtweisen eingeschränkt, der Fluss des Lebens ist in diesem Bereich an mir vorbeigeronnen. Gespräche über festgefahrene Gedanken, Ängste und meine neue Verantwortung machten mir klar, dass die muskulä­ re Anspannung mit ein Grund ist dafür und umgekehrt. Wenn ich jedoch auf der Körperebene beweglich und offen für viele Möglichkeiten war, ich alle Teile meines Körpers bewusst spüren und gebrauchen konnte, alles mitschwingen konnte in mir, dann war ich aufmerksamer und offener. Die Selbstliebe war größer, ich konnte besser auf mich achten und dadurch gelangte ich mehr in den Fluß des Lebens. In diesem Zustand der Selbstachtung/liebe ist meiner Meinung nach keine Verspannung möglich. Auf der anderen Seite tue ich mir schwer, Liebe zu spüren und zu geben, wenn mein Körper leblos und starr ist. Erst durch den freien Fluss im Körper kann auch die Liebe frei fließen. Ich wünsche allen Gebärenden, dass sie das Vertrauen in sich selbst so stärken können, dass die Geburt ein selbstbestimmtes Erlebnis wird und dass sie loslassen und entspannen können, denn so können sie neues Leben schenken. Ich möchte Dr. Nurit Sommer und Gudrun Schreiner für ihre Behandlungen in dieser Zeit danken, und darüber hinaus für diese wundervolle Methode, die sie beide gegründet haben. Ein weiterer Dank geht an meinen Partner, ohne den es weder Anna und unsere später geborenen Zwilllinge, noch diesen Artikel geben würde.

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4. 7. Schritt für Schritt zu S I B - Sabine Kaiser Als ich hörte, dass ein Buch über S I B geplant ist, war ich begeistert. Nun wird diese wunderbare Methode einer breiteren Öffentlichkeit nähergebracht; aber wie soll man S I B nur erklären?

Mein Weg zur S I B-Ausbildung Eine jahrelange Arbeit in einem Büro und an einem Computer machte mir trotz jungen Alters körper­ lich zu schaffen. Ich war ständig am Sprung, musste schnell und flexibel sein und ein „Fünf-Dingegleichzeitig-Können“ war die Voraussetzung: Zwischen der rechten Schulter und dem Ohr war der Telefonhörer eingeklemmt, mit der rechten Hand schrieb ich Notizen nieder, mit der linken suchte ich die Unterlagen für die nächste Aufgabe und mit den Augen blickte ich gestresst in alle Richtungen. Schließlich war der Blick auf die Uhr gerichtet, wie lange ein Gespräch noch dauern möge, da ich wieder am Sprung in ein Meeting war. So kam es, dass ich mit Mitte 20 chronische Schulter- und Nackenschmerzen hatte, gestresste und gerötete Augen, völlig hin- und hergerissen und keineswegs - das sage ich aus jetziger Sicht - geer­ det war! Ich wusste, dass dies nicht mein Leben sein konnte, irgendetwas machte mich unglücklich und unzu­ frieden. Ich sperrte mich, die Karriereleiter zu besteigen, wusste aber auch nicht, was ich ansonsten machen sollte, in welche berufliche Richtung ich gehen sollte. Ich entschied mich, aus diesem Berufsfeld auszusteigen. Als mir eine Freundin die S I B-Ausbildung nahelegte, zweifelte ich anfangs. Ich hatte keine Erfah­ rung mit Körperarbeit und mich noch nie damit beschäftigt. Doch je öfter ich darüber nachdachte, desto mehr keimte in mir der Wunsch, S I B zu praktizieren.

Meine S I B-Ausbildung Die drei Ausbildungsjahre waren sehr ereignisreich. Ich konnte nicht nur an mir selbst, sondern auch an den Kolleginnen deutliche Veränderungen wahrnehmen: Ein Strahlen, ein aufrechteres und be­ wusstes Dasein, ein Funkeln in den Augen, mehr Bewegungsfreiheit und mein Nacken genoss immer mehr an Weichheit.

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Während der Ausbildungsjahre bekam ich ein klareres Bild von meinem Körpers, meiner Bewegungs­ freiheit und -einschränkung. Vor allem aber gewann ich Respekt und Vertrauen in die inneren Hei­ lungsprozesse und in das vorhandene Wissen unseres Körpers. Der Begriff „Psychosomatik“ wurde mir bewusst und erfahrbar gemacht. Unser Körper ist das Spie­ gelbild unseres Innenlebens und zeigt an, wie ich mich fühle, welche Lebenserfahrungen ich ge­ macht habe, welche Traumata mich prägen und in welchem Teil meines Körpers diese ruhen. Eine Erinnerung dazu: An einem Vormittag im zweiten Ausbildungsjahr bekam ich plötzlich Schmer­ zen am Oberarm. Morgens hatte ich noch nichts gemerkt. Im Laufe des Vormittags schwoll eine ca. drei Zentimeter große Beule auf meinem Oberarm an. Es schmerzte stark und schränkte mich ein. Meine Ausbildnerin nahm es wahr und behandelte mich. Diese Berührung löste starke Emotionen und ich brach in Tränen aus. Tränen und Schwellung kamen in derselben unerwarteten Geschwindigkeit, wie sie auch wieder verschwanden. Irgendetwas wurde in mir berührt, das gesehen werden wollte. Was mich persönlich am meisten bewegte, war die Neugierde, die sich in mir zeigte. Kaum war ich in der Ausbildung, konnte ich nicht genug davon kriegen. Ich sog alles wie ein Schwamm auf, egal ob eine Stunde oder acht, ich war jede Minute dabei, ohne müde zu werden. Die Aufmerksamkeit, wel­ che hier erwachte, war mir neu.

Eine mich prägende Geschichte zum Thema Lernen: Ich hatte als Kind Schwierigkeiten in Mathematik und ich hatte Textaufgaben nie verstanden. Diese waren mir zu schwierig, zu verworren. Eines Tages vertraute ich dies meiner Mutter an. Ich war ver­ zweifelt. Sie gab mir den guten Rat: „Sei aufmerksam, schau die Lehrerin an, auch wenn du die Aufgabe nicht verstehst. So wird sie zumindest merken, dass du Interesse hast“ . Gesagt, getan: Da saß ich als Neunjährige am nächsten Tag in der Mathestunde und die Lehrerin erklärte wieder eine Textaufgabe. Ich musste diese arme Frau dermaßen angestarrt haben, dass sie nervös wurde, sogleich das Ende der Angabe erklärte und meinte: „Die Sabine wird uns das jetzt an der Tafel vorrechnen. Da sie mich mit so großen Augen ansieht, kann sie es sicher kaum erwarten.“ Ich aber, vor lauter Konzentration, dass ich die Lehrerin nur ja nicht aus den Augen lasse, konnte zugleich nicht hören was sie da eigentlich erzählte. Dementsprechend stand ich dann an der Tafel.

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Fast schon ein Trauma, oder? Die Folge war, dass ich ab diesem Zeitpunkt Lehrerinnen nicht mehr ansah, in der Hoffnung, sie würden mich nicht sehen, um mich an die Tafel zu holen. Diese peinliche Situation, „vor der Gruppe zu stehen und nichts zu wissen“ , wollte ich unbedingt vermeiden. Fast 20 Jahre später ging ich wieder in eine Schule, besser gesagt in eine Ausbildung, und das war S I B. Ich ging hinein und sah meine Lehrerinnen natürlich wieder nicht an. Doch ich beobachtete sie, ich konnte sie unbemerkt ansehen und zugleich verstehen was sie erzählten, und noch besser: Ich konnte das Gehörte und Gesehene verbinden und auch umsetzen! Eine Art Aufmerksamkeit, eine Neugierde und ein „Immer-mehr-wissen-Wollen“ stellten sich ein. Und das Beste: Es ist nicht nach zwei Wochen verschwunden, wie ich es ja von früher kannte. Es ist jetzt noch lebendig. Denn es geht nicht nur darum, dass ich von der Methode S I B begeistert bin, sondern von der Neugierde, die in jedem von uns steckt, uns um den Willen, um das Vertrauen, um ein „Sich-Zeigen“ . Die Neugierde am Leben und ein kindliches Entdecken erwachten wieder in mir. S I B ist für mich eine Wahrnehmungsschulung in jeglicher Hinsicht. Körper und Geist werden ge­ weckt. Ich finde es schade, dass diese Wahrnehmung wieder geweckt werden muss, da wir alle es doch schon einmal als Kind in uns hatten. Ich bin jetzt wieder dabei, mich zu bewegen, wenn mir danach ist. Meine Schultern zu kreisen und mit dem Atem meinen Oberkörper aufzurichten, den Kopf auf dem Rumpf zu wissen und zu korrigieren, wenn mein Blick wieder zu sehr am Boden heftet. Wenn mir heute jemand erklärt, er/sie wäre zu alt, der Rücken würde ihm/ihr zu schaffen machen, dann tut mir das von Herzen weh. Ich möchte helfen, damit er/sie versteht, dass es viele Möglich­ keiten gibt sich und dem Rücken Gutes zu tun. Gleichzeitig bin ich daran gebunden, dass alles seine Zeit benötigt, bis etwas und auch wie viel zugelassen werden kann. Thomas Hanna erklärt dies in seinem Buch „Beweglich sein, ein Leben lang“ : „Ich könnte meinen Klienten sagen - Können Sie nicht sehen, dass Sie sich dies selbst antun? Hören Sie auf, Ihre Mus­ keln zusammenzuziehen, und der Schmerz wird vergehen! Ich könnte es ein ganzes Jahr, 10 Jahre lang sagen, ohne dass es mehr bewirkte, als sie zur Verzweif­ lung zu treiben. Sie können ihre Muskelkontraktion nicht mit ihren Ohren wahrnehmen, durch mich sie müssen es in ihrem eigenen Körper spüren.“

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S I B ist eine wunderbare Methode, sich selbst wieder spüren zu lernen, Freude an sich selbst zu erleben, und es bewegt uns von der Zelle über unsere Muskeln bis in unseren Geist hinein. Oder umgekehrt?

Meine Arbeit als S I B-Pädagogin Ich bin seit meinem Abschluss als Bewegungspädagogin in freier Praxis tätig. Seit geraumer Zeit arbeite ich auch mit körperlich beeinträchtigten Menschen zusammen, als persönliche Assistenz und als S I B-Pädagogin. Ich konnte die letzten Jahre in diversen Bereichen Erfahrungen sammeln und ich habe schöne Erfolge mit S I B machen können. Auch in der Wohngemeinschaft, in der ich seit ein einem Jahr mit schwerstbehinderten Menschen (d. h. mit körperlichen sowie geistigen Behinderungen) arbeite, finde ich es faszinierend, wie positiv und heilend auf Berührung reagiert wird. Ohne Verbalisierung findet dennoch eine klare Kommunikation statt. Die Grenzen sind klar und werden sofort gezeigt. Das schätze ich sehr. In meiner Arbeit als S I B-Pädagogin versuche ich, so viel wie möglich an Körperberührung zu geben: Ich bin stets in Kontakt, großflächig, aber auch feinfühlig annähernd, gerade am Beginn einer Klien­ tinnenbeziehung. Das Vertrauen zueinander ist Voraussetzung für eine erfolgreiche und gute Zusam­ menarbeit. Für meinen derzeitigen Arbeitgeber, welcher durch seine Krankheit (multiple Sklerose) viel Erfahrung mit diversen Therapien hat, ist die Arbeit mit S I B eine große Neuentdeckung. Sobald ich ihn berührte, gerade an den Beinen, kam ein spastischer Schub und die Beine zogen sich verkrampft zum Körper hin. Mittlerweile bekommt er seltener Schübe während der Behandlungen. Er freut sich auf jede Behandlung, lässt sich sicher und freudig auf den Boden legen (er ist zuvor kaum auf dem Rücken geschweige denn auf dem Bauch gelegen da er sofort eine Linksdrehung machte und spastisch die Beine anzog). Er erfährt eine „Reise im Inneren“ durch meine Berührungen, wie er es einmal formulierte, und hat Vertrauen in meine Arbeit. Es tut ihm gut, er hat gelernt, schmerzfrei auf dem Rücken zu liegen und kann so wieder den Kontakt mit der Schwerkraft aufnehmen und sich fallen lassen. Er ist nach den Behandlungen aufrechter, angenehm müde und entspannt.

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Was genauso begeisternd für ihn ist, konnte er noch nicht klarer formulieren. Ich denke, es ist jene Schwierigkeit, von welcher ich in der Einleitung sprach: Es ist schwer, S I B zu erklären. S I B ist so vielfältig, so individuell und feinfühlig. In meiner Arbeit als S I B-Pädagogin nehme ich mir Zeit, taste mich instinktiv vor, beachte den Men­ schen als Ganzen und meine Behandlungen sind nie dieselben. Jeder/jede von uns ist anders geprägt, programmiert und wir haben alle guten und nicht so gute Tage. Danach versuche ich mich zu richten. Also, wie soll ich das nun erklären? S I B = Bewusstsein und Aufmerksamkeit in Verbindung mit Berührung?

Fazit Mein Körper ist in den letzten Jahren zu meinem Freund geworden. Ich schätze ihn und höre ihm zu, wenn er etwas zu sagen hat. Er meldet mir, wenn etwas zu viel für ihn war. Ich habe durch die Arbeit mit S I B ein großes Repertoire an Bewegungsvielfalt erhalten und kann meinen Körper durch kleine, feine Übungen meist wieder beruhigen. Es sind beinahe zehn Jahre vergangen und ich bin jetzt in einer körperlich besseren Verfassung als mit Mitte 20. Wenn ich heute vor meinem Computer sitze, achte ich darauf, dass ich beide Beine am Boden habe. Ich achte auf meine Sitzbeine und auf entspannte Schultern, mein Rücken ist aufrecht und lehnt an der Lehne oder an einem kleinen Ball, der den Rücken weich macht und mich daran erinnert, dass ich mich zurücklehnen kann. Ich denke auch daran, aufzustehen und eine Atemübung durchzuführen, mich zu recken und zu strecken und auch die Augen nicht zu überfordern. Mit meinem Körper in einer harmonischen Beziehung zu leben ist nicht einfach, aber dennoch möglich. Dazu bedarf es Aufmerksamkeit und einer guten Wahrnehmung und genau das wird durch die Arbeit mit S I B geschult. Danke an all jene, welche mich während und nach der Ausbildung begleitet haben! Danke auch an all meinen Klientinnen für ihr Vertrauen! Vor allem möchte ich meinen Ausbildnerinnen Nurit Sommer und Gudrun Schreiner für ihre Geduld, Liebe und Weisheit danken, welche mich einen großen Schritt in meinem Leben weitergebracht hat. Schritt für Schritt ...

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5. VON S I B IN SPIRIERTE ZUGÄNGE

5. Von S I B inspirierte Zugänge 5. 1. S I B im Dialog mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen - Leni Hießmanseder Zu meiner Klientel In der Behindertenwerkstatt, in der ich drei Vormittage pro Woche als Bewegungspädagogin angestellt bin, arbeite ich hauptsächlich mit Menschen mit mehrfacher Behinderung, die einen erhöhten Pflegeaufwand haben. Die Medizin, Psychologie und die Pädagogik versuchen den Begriff Behinderung zu kategorisieren, und z.B. primär zwischen „geistiger“ und „körperlicher“ Behinderung zu unterscheiden. Sie beschrei­ ben Krankheitsbilder und Auffälligkeiten, die von einer allgemein akzeptierten Norm abweichen. Gerade bei „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ , wie es im Fachjargon auch heißt, wird deut­ lich, dass jeder Mensch im Kontext seiner/ihrer Lebensgeschichte, seiner gesammelten Erfahrungen verstanden werden muss. Keine Historie gleicht der anderen. Es macht bspw. einen großen Unter­ schied, ob ein junger Mensch in einer liebevollen Umgebung seiner/ihrer Familie aufwächst und inte­ griert ist, oder von einer Institution in die andere, von einem Heim zum anderen wandert und keine stabilen Bezugspersonen hat.

Körperarbeit In der Körperarbeit mit Behinderten werden diese „besonderen Bedürfnisse“ auch besonders deut­ lich. Wie sehen diese Anforderungen nun aus? Wie muss sich meine Körperarbeit von einer „her­ kömmlichen“ S I B-Arbeit mit Klientinnen, die im Normalfall in der Lage sind, sich in einer liegen­ den Position auf eine Behandlung einzulassen, unterscheiden? Wie weit kann ich die Prinzipien von S I B in meiner speziellen Arbeit anwenden? Und vor allem: Wie weit kann ich die Struktur einer Behandlung gekoppelt mit einem Reflexionsgespräch, wie wir es in der Ausbildung gelernt haben, überhaupt anwenden, wenn meine Klientinnen nicht die kognitive Voraussetzung haben, verbal über ihren Körper zu reflektieren, und sie meist keine Ruhe finden, sich für eine Stunde auf einer Liege zu entspannen, wenn sie die Nähe und Berührungen einer Behand­ lung in einer ganz besonderen Intensität wahrnehmen?

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In dieser Auseinandersetzung mit völlig unterschiedlichen Anforderungen stoße ich hier auf die Basis, oder den Kern, von S I B als Körperarbeit, auf eine Arbeit des Berührens, auf einen Dialog auf der Ebene des Spürens. Die Klientinnen, mit denen ich arbeite, verständigen sich meist „nonverbal“ , das heißt, sie haben zwar ein gewisses Sprachverständnis, mit dem sie einfache verbale Aufforderungen verstehen, können sich selbst aber mittels Sprache schwer oder gar nicht ausdrücken. Es gibt in der Behindertenpädagogik schon viele Körpertherapien wie bspw. die Basale Stimulation (A. Fröhlich), die die Sinneswahrnehmung von schwer behinderten Menschen fördern. Sie verwenden Lichtreize, Massage mit duftenden Ölen, verschiedenen Materialien als Stimuli auf der Haut. Insge­ samt arbeitet die Behindertenpädagogik mit vielen Therapieformen.

Trotz allem sind die behinderten Menschen zum größten Teil in einem schlechten körperlichen Zustand. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Ursachen: • Wenn eine körperliche Behinderung wie z. B. eine spastische Lähmung oder eine starke Verkrümmung der Wirbelsäule nicht so früh wie möglich und regelmäßig therapiert wird, ver­ schlechtert sich der Zustand im Alter stark. Zu wenig körperliche Betätigung hat eine Auswirkung auf Muskelfunktionen und Knochenbau. • Eine lebenslange Abhängigkeit von Medikamenten (mit starken Nebenwirkungen), wie z. B. Psychopharmaka, hat einen großen Einfluss auf sämtliche Körperfunktionen und beeinträchtigt die Selbstwahrnehmung. • Übergewicht und ein hypertoner (zu hoher) oder hypotoner (zu niedriger) Muskeltonus erschwe­ ren ebenfalls eine aktive Körperarbeit. Dies ist nur eine knappe Auflistung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Von meiner S I B-Ausbildung inspiriert, fokussiere ich zunächst meinen Blick auf die Besonderheiten in der Körper- und Reizwahrnehmung meiner Klientinnen. Wie schon erwähnt, haben viele meiner Klientinnen eine sehr verzerrte Reizwahrnehmung und oft einen sehr schwierigen Zugang zu ihrem Körper. Die Spanne reicht zwischen extremen Berührungsängsten bis zu einem erhöhtem Bedarf an Stimuli, um den eigenen Körper überhaupt wahrzunehmen (was sich oft in Autoaggression äußert, also z. B. im Schlagen des Kopfes gegen die Wand, nur um sich zu spüren).

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5. VON S I B IN SPIRIERTE ZUGÄNGE

Praktische Beispiele meiner Arbeit Wie sieht nun konkret meine Arbeit mit den Klientinnen aus? Zu Beginn jeder S I B-Behandlung geht es zunächst darum, ein gemeinsames Ziel zu definieren. Es ist eine große Herausforderung, realistische Ziele zu formulieren. Wir alle suchen Behandlungen mit Körpertherapie auf, einfach um uns wieder beschwerdefrei, leichter bewegen zu können. Doch diese Ansprüche sind bei Menschen mit Behinderung in vielen Fällen aus unterschiedlichen Gründen schwer oder gar nicht erreichbar. Ich muss in ganz anderen Kategorien denken bzw. meine Ansprüche anders setzen, um ein optimales und gleichzeitig realistisches Ziel einer regelmäßigen Behandlung überhaupt definieren zu können. Natürlich ist es allgemein in der Behindertenarbeit wichtig, individuelle Entwicklungsziele zu setzen und regelmäßig aufs Neue zu betrachten. Eine Verbesserung der körperlichen Zustandes ist als Ziel zwar leicht gefunden, für einen nach unseren Maßstäben messbaren Erfolg bedarf es aber viel Zeit und Geduld. So wie bei einer S I B-Behandlung zu Beginn üblich, geht eine erste Annäherung an einen Klienten/eine Klientin über eine einfache Betrachtung des körperlichen Zustandes hinaus. Ich befasse mich mit seinem/ihrem Krankheitsbild, seiner/ihrer Historie und seiner/ihrer momentanen Lebenssituation. Ich kann mit meiner Arbeit nur dort ansetzen, wo sich der/die Klientin gerade befindet, das heißt, abhängig davon, welche Möglichkeiten und Fähigkeiten er/sie hat und wie groß seine/ihre Bereitschaft ist, eine „Beziehung“ einzugehen.

Beispiel 1 und 2: Frau Maria L. und Herr Paul T. Bei vielen Klientinnen ist der erste Schritt in der Behandlung oft einfach, eine mögliche Optimierung ihrer Lagerung zu finden: Hat z. B. Klientin Maria L., eine Frau im Rollstuhl mit einer extremen Ver­ krümmung der Wirbelsäule und spastischen Beinen, auch den richtigen Halt im Rollstuhl? Wie muss der Rückenpolster, die Sitzunterlage beschaffen sein, und welche Hilfsmittel brauche ich, wenn ich sie für eine Behandlung aus dem Rollstuhl nehmen möchte? Ich hatte das Glück, in der Werkstatt für Maria L. (und für einige andere Klientinnen) ein Wasserbett anschaffen zu können. So kann ich sie sogar auf dem Rücken liegend lagern, eine an sich sehr stabi­ le Lage, die sie von sich aus als Schlafposition auf einer herkömmlichen Matratze gar nicht einneh­ men kann. So kann ich ihre Arme frei bewegen und behandeln, Dehnübungen mit ihren spastischen

Beinen machen, ihre Füße massieren, sie einfach „im Wasser“ leicht schaukeln, ihr Becken bewegen. Schließlich setze ich mich so auf das Bett, dass ich ihren Kopf leicht in beiden Fländen halten kann, und fordere sie einfach auf, das Gewicht des Kopfes in meine Flände fallen zu lassen, und bewege ihn ganz sanft, und streife über die Fialswirbel. Und siehe da: Diese sonst so energische Person mit einem großen Mitteilungsbedürfnis (sie kommuniziert in kurzen Zwei- bis Drei-Wort-Sätzen) und einer starken Körperspannung kann so ohne Probleme in die Stille gehen und schläft bei diesem Abschluss regelmäßig ein. Menschen wie sie sind es oft nicht gewohnt, auf diese Weise berührt und bewegt zu werden. Meine größte Freude ist es, wenn Maria mit ihrem Rollstuhl mir auf dem Gang entgegenkommt und mit Gesten und Rufen eine Behandlung von mir einfordert. Es ist für mich spannend, wenn ich jemanden neu kennenlerne, als Klientin aufnehme und zu spüren beginne, wie viel Berührung er/sie zulässt. Bei manchen Klientinnen beginne ich mit gemeinsamen Spaziergängen und dem Sammeln von Gegenständen aus der Natur. Bei manchen Klientinnen, denen das Gehen schwerfällt oder für die die Umwelt nicht allzu sehr interessant ist, finde ich z. B. einen Zugang über das Element Wasser. Klient Paul T., ein Mann, der Jahre seines Lebens in der Psychiatrie verbracht hat, liebt es, jede Woche von mir gebadet und mit einer Massagebürste fest abgeschrubbt zu werden. Im Wasser kann er sich entspannen und bleibt 20 Minuten bei sich, anstatt sich autoaggressiv den Kopf zu schlagen oder getrieben durch die Werkstatt zu laufen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass ich nicht einer konventionellen S I B-Behandlung folge, aber nach den Grundlagen einer achtsamen Körperarbeit und den allgemeinen Prinzipien von S I B verfahre.

Beispiel 3: Herr Peter S. Ein anderer Klient wiederum reagiert bereits auf geringe Stimuli minimaler Bewegung und sanfter Berührung sehr stark. Ich möchte als Beispiel einen Klienten schildern, mit dem ich drei Stunden in der Woche arbeiten kann. Peter S., 50 Jahre, bewegt sich selbständig mit einem elektrischen Roll­ stuhl. Seit Kindheit leidet er unter einer infantilen spinalen Muskelatrophie. Das ist eine Erbkrankheit, bei der Nervenleitungen zugrunde gehen und sich infolgedessen die Muskulatur zurückbildet. Sein Bewegungsausmaß hat sich im Laufe seines Lebens so stark verringert, dass er nun nur noch mit Hilfe kleiner Bewegungen seiner Finger und Hände den Schaltknüppel sei­ nes Rollstuhls bewegen kann. Den Rest seines Körpers kann er nicht mehr selbstständig bewegen. Er muss gefüttert und gepflegt werden, mit einem Hebegerät in sein Bett gelegt und nachts mehr­ mals umgelagert werden. Untertags verrichtet er kleine Arbeiten am Computer, indem seine linke

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Hand auf die Computermaus gelegt wird. Durch leichten Klick an der Maus kann er eine optische Tastatur am Bildschirm betätigen und somit sogar schreiben. Dies eröffnet ihm die gesamte Welt der elektronischen Kommunikation. Er organisiert so seine Freizeit, schreibt SMS, bestellt sich Kleidung und DVDs online. Er geht mit Freundinnen ins Bad oder Kino, macht Ausflüge, besucht Einkaufs­ zentren und hat sich eine unvorstellbare Freiheit und Selbstständigkeit erarbeitet und erhalten. Als man mich vor über zwei Jahren gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zu arbeiten, war es einer der Fälle, bei dem ich anfänglich gezögert habe, ja zu sagen. Ich wusste nicht, wie ich sei­ nen körperlichen Zustand verbessern könnte, denn so lautete mein offizieller Auftrag. Ich wusste, wie hoch sein Schmerzempfinden bei Bewegung war, wie verspannt seine Muskulatur (verkürzte Sehnen schränken seinen Bewegungsradius ein, seine Wirbelsäule ist bereits sehr steif). Ohne mein ganzheitliches Wissen, das ich durch mein Heilpädagogikstudium und meine S I B-Aus­ bildung gewonnen habe, hätte ich wahrscheinlich keine erreichbaren Ziele gefunden und schwer einen Zugang gefunden. Mehr als bei allen anderen Klientinnen waren mir hier deutliche Grenzen gesetzt. Um es vorweg in einem kurzen Satz salopp zusammenzufassen: Der „starke 100-Kilo-Mann“ liebt es, sanft an den Armen massiert und am Kopf „gestreichelt“ zu werden, und spürt jede Berührung und Bewegung sehr intensiv. Ich arbeite zunächst ausführlich an der vorhandenen Mobilität seiner Hände. Da sie oft lange in ein und derselben Position verharren, tut es ihm gut, wenn ich sie in meine Hände nehme und mit einer Creme einreibe und ausführlich massiere und bewege. Bei seinen Armen darf ich etwas fester angrei­ fen und bewege und massiere sie ebenfalls so stark, wie es sein Schmerzempfinden und seine Be­ weglichkeit zulassen. So gehe ich seinen ganzen Körper durch. Manche Zonen wie die Füße und Unterschenkel lassen nur ein behutsames Abtasten zu. Ein wichtiger Körperteil für uns ist sein Kopf geworden, das „Zentrum seiner Aktivitäten“ . Ein Kör­ perteil, der, so glaube ich, aber von allen Menschen, mit denen er zu tun hat (außer der alltäglichen Hygiene im Bad) am wenigsten berührt und beachtet wird. Als mir das bewusst geworden ist, habe ich begonnen, mit einem dünnen Massagehandschuh durch seine kurzen Haare zu streifen. Als ich es das erste Mal getan habe, fing Peter an zu lachen und beschrieb eine „Gänsehaut, die bis in die Zehen geht“ . Durch diese intensiven Stimuli der Nerven auf der Kopfhaut kann ich seinen gesamten Körper erreichen! Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist das Gespräch. Auch wenn er „nur“ einen Sonderschulab­ schluss hat und sich im verbalen Ausdruck manchmal schwer tut, „gefangen in seinem Körper“ lässt

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er gerne seinen Geist frei und „philosophiert“ auf seine Weise mit mir über sich und seine Welt. Bereitwillig beantwortet er mir seine Fragen über seine Kindheit, seine große Familie, seine Freundin­ nen, die ihm sehr wichtig sind, seine Wünsche und Träume. Ich höre seine Verzweiflung über seinen Zustand, teile mit ihm seine Freude, wenn es ihm gelungen ist, z. B. eine große Geburtstagsparty auf die Beine zu stellen, und ermutige ihn weiter zu kämpfen, wenn er meint, an seine Grenzen gestoßen zu sein. In manchen Stunden mache ich mit ihm kleine Reisen durch Zeit und Raum, phantasiere mit ihm, wie und wo er gerne leben würde, z. B. in welchem Jahrhundert. In manchen Stunden wiederum bleiben wir aber am harten Boden der Realität, und er schildert mir seine Kindheit im Heim, seine Probleme bei der Bewältigung seines Alltags etc. Auch wenn er selber über unsere Arbeit nicht bewusst reflektiert, freue ich mich über das Vertrauen, das er mir schenkt. Dieses Vertrauen ist für mich nicht selbstverständlich. Es ist für mich auch ein großer Erfolg, dass er bei mir eine weiche, verständnisvolle Seite zeigen kann, die er in seiner Unge­ duld mit anderen Menschen oft nicht preisgibt. Ich glaube, hier wird es deutlich, wie wichtig die ganzheitliche Betrachtung, die bewusste gleichzeiti­ ge Beleuchtung mehrerer Aspekte einer Person ist.

Fazit Auch wenn ich in meiner Tätigkeit nicht direkt mit den S I B-Lektionen arbeite, die wir in unserer Ausbildung als Handwerk gelernt haben, sind die Art und Weise, wie ich mich den Klientinnen nähe­ re, und der allgemeine Ansatz der gleiche. S I B ist für mich mehr als eine Abfolge von Lektionen, mehr als eine physikalische Behandlung zur Lösung von körperlichen Symptomen wie Verspannungen oder Haltungsschäden. Ich konzentriere mich in meiner Arbeit auf die Essenz der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre, auf die „Kunst des Berührens“ . Ich versuche einen Raum zu schaffen, in dem der/die Klientin seine/ihre Bedürfnisse wahrnehmen kann. Einen Raum, in dem er/sie seine/ihre Kompetenzen erweitern kann, um seine/ihre Ziele zu erreichen. Dies muss nicht immer über die kognitive Ebene des Reflektierens über seine/ihre Handlungs- und Bewegungsmuster gehen. Manchmal geht der Weg einfach über die Ebene des Spürens, des Erforschen seines/ihres Körpers mit seinen/ihren Bewegungsabläufen.

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5. 2. S I B im Dialog mit ganzheitlichem Tanz - Sabine Parzer Der Fluss der Bewegung In meiner Arbeit als Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin entwickelte ich nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit dem Körper und Bewegung das Bedürfnis, mein Körperwissen über meine Hände anderen Menschen zukommen zu lassen. Nach zehn Jahren intensiver professioneller Tanztätigkeit im Ausland begann ich 2001 in Wien die SIB®-Ausbildung. Während der Ausbildung wurde mir klar, dass die beiden Arbeitsfelder, Tanzpä­ dagogik und SIB®-Körperarbeit sich gegenseitig befruchten, unterstützen und neue Dimensionen eröffnen. Ich arbeite seit 1999 mit Menschen nach Arbeits- und Verkehrsunfällen in einem Rehabilitations­ zentrum mit den Schwerpunkten Schädel-Hirn-Polytraumen und neurologische Erkrankungen, seit 2005 mit S I B in privater Praxis und leite Workshops für Laien und Profitänzer im In- und Ausland. In den Jahren meiner ganzheitlichen Tanzpädagogik habe ich einen Zugang entwickelt, der kontem­ plativen, zeitgenössischen Tanz mit den Inhalten der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre® verbindet. Die Systemische und Integrative Bewegungslehre® ist eine wunderbar achtsame Bewegungsmethode. Den eigenen Körper in seiner Vielfältigkeit wahrzunehmen, neue Bewegungsmuster kennenzulernen und Freiheiten im Körper und Geist zu erfahren sind die wesentlichen Bestandteile der Methode, die sowohl die Klienten als auch die Behandelnden erfahren dürfen. S I B bietet Lektionen mit verschiedenen Schwerpunkten an. So wie jeder Mensch immer wieder auch anders ist, so ist auch jede Behandlung anders. Als Tänzerin arbeite ich seit vielen Jahren mit dem Schwerpunkt Improvisation, mit der Offenheit, Impulse wahrzunehmen und sie ausdrücken zu können. Auch als S I B-Pädagogin gebe ich mir die Erlaubnis, zu improvisieren, zu schauen, was ist, wo der Fluss des Atems und der Bewegung sich zeigt. Manchmal beginne ich die Behandlungen mit der Erlaubnis, im Stehen zu spüren, wie sich der Körper anfühlt, wie das Gewicht in Richtung Boden fällt und wo es Stresspunkte gibt. Viele meiner Klientinnen nutzen diese Einladung, um ins freie Bewegen zu gehen, sich zu strecken, zu dehnen, in einen tiefen Ausdruck - auch mit der Stimme - zu kommen. Je nachdem wie tief das Bedürfnis ist,

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diesem individuellem Ausdruck Platz zu geben, und je nachdem wie viel Erfahrung der/die Klientin damit hat, dauert es bis zu einer halben Stunde, bevor der/die Klientin auf die Liege gebettet wird. Meine Erfahrung ist, dass die Körperarbeit danach leichter angenommen wird, da zu Beginn eine selbstbestimmte „Aufwärm-Ausdrucksphase“ war und sich Spannungen im Körper lösen durften. Dieser Zugang kommt aus der Methode des Authentic Movement, einer kontemplativen Tanzform, die auch in der Tanztherapie verwendet wird. Im Authentic Movement gibt es die Bewegenden („mover“), die ihrem inneren Bewegungs- und Ausdrucksimpuls lauschen und sich daraus im Raum bewegen. Für jede/n Bewegende/n gibt es eine/n Zeugin („witness“). Der/die Zeugin befindet sich in einem nichtwertenden Wahrnehmungsraum und beobachtet sein/ihr inneres Geschehen beim Zusehen. In dem Moment des freien Ausdrucks und auch als S I BPädagogin bin ich diese Zeugin. Allgemein lässt sich in der zeitgenössischen Tanzpädagogik eine Veränderung zu neuen Bewegungs­ qualitäten beobachten, die durch den Einfluss von alternativen Bewegungsmethoden (Yoga, Tai Chi, Feldenkraismethode®, Alexander-Technik® ...) inspiriert wurden. Sanftes, fließendes und ganzheitli­ ches Bewegungsvokabular bestimmt mittlerweile das Bild der meisten zeitgenössischen Choreogra­ phien. Der Fokus in der S I B auf Körperausrichtung, auf Leichtigkeit im Bewegen und Sein und auf die Verbindung mit einem inneren Geschehen erweiterte meinen Zugang zum Tanz. Was ich für mich in meiner Ausbildung und Praxis mit S I B gelernt und in meine Tanzpädagogik integriert habe, ist systemisches Denken und Wahrnehmen und die Fähigkeit, Menschen in emotiona­ len Prozessen begleiten zu können. Konkret heißt das, dass meine Tanzpädagogik auf die innere Wahrnehmung, auf den inneren Körper und nicht auf das Erlernen von tänzerischen Fähigkeiten ausgerichtet ist. Der Körper ist das wunder­ barste Instrument, um uns selbst auf vielen Ebenen kennenzulernen und in immer tiefere Schichten einzutauchen. Ich möchte jedem/jeder die Möglichkeit geben, sich selbst in seinem/ihrem authentischen Ausdruck zu erfahren und nicht die Bewegungen eines anderen Körpers nachzuahmen.

Auch habe ich mehr Sicherheit im Umgang mit Menschen in den verschiedensten, oft herausfordern­ den Lebenssituationen bekommen durch „Tools“ wie „Reframing“ und „lösungsorientierte Gespräche“ .

Der Wirbelsäulentanz In einer einfachen Tanzübung, die ich Wirbelsäulentanz nenne und sowohl bei Menschen mit schwe­ ren Verletzungen als auch bei Profis verwende, lade ich den/die Bewegende/n ein, im Sitzen oder Stehen mit geschlossenen Augen den Gedankenfokus nach innen wandern zu lassen und den Atem zu spüren. Der Atem ist wie der Treibstoff, der unser Bewusstsein in die verschiedenen Körperregionen leitet. Sowohl in der Körperarbeit als auch im Tanz erlaubt uns der bewusste Atem, innen mit außen zu ver­ binden. Danach richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Kraft der Erde und wie sie durch die Schwerkraft unseren Körper ausrichtet. Wir können spüren, wie die Muskeln hängen dürfen und die innere Struktur, das Skelett, den Körper aufrecht hält. Dadurch entsteht eine tiefe Entspannung auch im Stehen und Sitzen und oft verändert sich die Ausrichtung, das Alignement. Wir stellen uns vor, dass die Füße einen Abdruck in der Erde machen, und beobachten, wie sich das Gewicht verteilt. Mehr auf einem Fuß oder dem anderen, mehr auf der Innen- oder der Außenkante etc. Die Erde sendet ihre Kraft über unsere imaginären Wurzeln über die Beine zurück in den Körper in die Wirbelsäule. Von dort darf sich ein kleiner, feiner Tanz entwickeln. Dieser Tanz entsteht aus dem inneren Bewegungsimpuls, der minutiös sein kann oder kräftig expressiv. Ich leite Klientinnen an, sich durch verschiedene Körperteile bewusst zu bewegen, bis sich ein ganzer Bewegungsfluss ergibt. Dieser Tanz kann fünf bis 45 Minuten dauern. Zum Abschluss kommt der Körper wieder langsam in die Mitte zurück, um zu spüren, wie sich das Gewicht auf den Füßen verteilt, und um wahrzuneh­ men, wie er/sie sich jetzt fühlt. Das tiefe Wahrnehmen, Bewegen und Bewegtwerden, mit dem Atem in Kontakt zu kommen und kör­ perliche Vorgänge mit inneren „Seelenbewegungen“ in Einklang zu bringen, diese Elemente verbin­ den den ganzheitlichen Tanz mit der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre.

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6. ÜBUNG FÜR DEN ALLTAG: „BEGEGNUNG M IT DEM LÄCHELNDEN ELEFAN TEN “ - N U R IT SOMMER

6. Übung für den Alltag: „Begegnung mit dem lächelnden Elefanten“ - Nurit Sommer EINE W AHRNEHM UNGSREISE MIT ÜBERRASCHUNGEN UND OHNE NEBENW IRKUNGEN „Gebrauchsanweisung“ • Sie können die Übung alleine oder auch zu zweit machen und sich gegenseitig und abwech­ selnd ganz langsam und mit ausreichend Zeit zum Spüren der Anregungen vorlesen. • Sie benötigen für diese Begegnung mit dem lächelnden Elefanten kein Vorwissen. • Sie müssen dazu auch das Buch nicht gelesen haben. • Telefon und Computer benötigen Sie dafür nicht. • Sie benötigen dazu nur einen ruhigen Raum und die Entscheidung, sich selbst eine Überraschung bereiten zu wollen. Auch die Bereitschaft, aus Ihren Schuhen und evtl. auch aus Ihren Socken zu schlüpfen und die Füße bequem auf den Boden zu stellen, brauchen Sie. Wenn Sie nicht stehen können, probieren Sie es im Sitzen, während Sie sich bewusst auf Ihren beiden Sitzbeine niederlassen. • Nehmen Sie sich für alle Anregungen ausreichend Zeit, um sie umzusetzen und zu fühlen, und machen sie die Bewegungen langsam! Nichts dabei soll über Ihre eigenen Grenzen hin­ ausgehen, alles soll ohne Anstrengung sein und damit leicht bleiben. Sie können auch immer wieder pausieren oder innehalten und danach wieder beginnen. Sie sind es, die /der die Bewegungen steuert. • Probieren Sie aus, ob Sie besser spüren können, wenn Ihre Augen offen oder geschlossen sind. Beides ist gleich förderlich, je nachdem wie Sie am besten unabgelenkt mit sich sein und sich gut spüren können.

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Wahrnehmung Lebendiger Körper Erlauben Sie sich, mit den beiden Fußsohlen die Art und Weise zu fühlen, wie Sie den Boden, Teppich oder die Unterlage wahrnehmen können. Ist es für Ihre Fußsohlen ein angenehmes Gefühl? Warm oder kühl? Weich oder hart oder anders? Gibt es Stellen der Sohle, die ganz deutlich Kontakt zum Untergrund haben, und solche die ganz klar weggehalten sind? Gibt es auch solche Stellen, die Ihnen ganz undeutlich sind, obwohl etwas in Ihnen weiß, dass es sie gibt? Sind mehr Stellen in Kontakt mit dem Boden oder sind mehr Stellen weggehalten? Wenn Sie an die Schwerkraft denken, gibt es Stellen in Ihrem Körper, die sich dagegen wehren, Gewicht an Sie abzugeben? Wo spüren Sie das am meisten? Fühlen Sie, dass das Stehen Sie anstrengt? Und wenn ja: an welchen Stellen?

Lebendige Erde Stellen Sie sich jetzt vor, dass unter dem Boden eine lebendige Erde ist, „Mutter Erde“ , die Sie trägt und auf der Sie alle Schritte Ihres Lebens vollziehen. Lassen Sie sich ein wenig einsinken in diese Vorstellung und erlauben Sie sich, mit Ihrem Gewicht hineinzusinken in dieses Gefühl des Getragen­ seins. Lassen Sie sich wissen, dass Sie nie alleine sind, auch wenn es in Ihrem Leben Schwieriges oder Kompliziertes gibt: Von der Erde werden Sie immer getragen. Wo in Ihrem Körper entsteht da eine Resonanz? Sinkt ein Teil etwas mehr ein, wird weicher, gibt nach? Löst diese Erinnerungen etwas bei Ihnen und lässt Sie leichter werden?

Lebendiger Raum Jetzt fühlen Sie, wie Sie sich im Raum befinden, ohne die Augen zu öffnen: Was nehmen Sie vor sich wahr? Können Sie wahrnehmen, wie weit es bis zum nächsten im Raum befindlichen Gegen­ stand ist? Wie weit nach vor ist es ganz einfach, den Körper zu spüren? Geht das über die Körper­ grenzen hinaus? Machen Sie dies mit allen Flimmelsrichtungen und ebenso mit oben und unten. In welche Richtung ist ihre Aufmerksamkeit leicht und wohin fallen Vorstellung und Spüren schwerer? Bewerten Sie nicht. Stellen Sie nur fest, wie es bei Ihnen jetzt eben ist.

Atem Wie fühlen Sie Ihren Atem? Gibt es da im Körper Bereiche, die ganz fein mitbewegen? Und solche, die sich gehalten anfühlen? Ist bei Ihnen mehr Atembewegung im Bauchraum oder im Brustkorb?

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6. ÜBUNG FÜR DEN ALLTAG: „BEGEGNUNG M IT DEM LÄCHELNDEN ELEFAN TEN “ - N U R IT SOMMER

Verstärken Sie nichts, machen Sie alles mühelos und nur mit Hilfe Ihrer Aufmerksamkeit, ohne Anstrengung.

Elefant Jetzt lassen Sie die Vorstellung zu, dass Sie auf einem ganz ganz großen Elefantenrücken stehen wür­ den. Ein Elefant, mit dem Sie eine liebevolle Beziehung hätten, den Sie kennen würden und der Sie kennt. Sie stehen auf seinem Rücken und verlagern ganz sanft Ihr Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen. Damit beginnt Ihr ganzer Körper in Bewegung zu gehen. Beobachten Sie einfach, wie Ihre Beine, die Hüften, der Rumpf, Nacken, Arme und Kopf allmählich teilnehmen an dieser Bewegung. Da der Elefant dies spüren wird, wird auch er sich sanft bewegen. Sie reagieren auf seine Bewegun­ gen und beginnen diese Resonanz in Ihre Bewegungen einzubauen. Lassen Sie zu, dass es größere und ganz kleine Bewegungsimpulse an verschiedenen Stellen Ihres Körpers gibt. Das Gleiche gilt für die Elefantenbewegungen. Fühlen Sie, wie sich Ihre Bewegungen verändern? Wo und wie in Ihrem Körper kommt ein Bewegungsimpuls an und wie ist Ihr „Echo“ dazu? Reagiert auch der Atem darauf? Gehen Sie weiter in Bewegung und lassen Sie sich bewegen. Erlauben Sie, wenn der Elefant Schritte macht und eine seiner weichen Fußsohlen hinter der anderen aufsetzt, mitzuschwingen in Ihrer Wei­ se, in Ihrem Tempo. Fühlen Sie, ob Sie die Bewegung führen - oder ist es der Elefant? Oder wech­ seln Sie ab: Manchmal übernehmen Sie und dann lassen Sie sich führen? Was ändert das an der Qualität Ihres Tuns? Was davon bevorzugen Sie? Erlauben Sie sich, diesen feinen „Tanz auf dem Rü­ cken des lächelnden Elefanten“ zu genießen. Spielen Sie mit allen Ideen, die Ihnen dazu einfallen. Irgendwann in diesem Tanz bemerken Sie, dass es genug ist, und auch der Elefant hält inne. Sie las­ sen die Bewegungen nachschwingen und fühlen wieder Ihre Art des Stehens. Vergleichen Sie mit dem Beginn dieser kleinen Reise. Wie stehen Sie jetzt? Was hat sich verändert? Wie ist die Beziehung zum Untergrund jetzt? Wie erleben Sie sich im Raum in alle Richtungen? Ist etwas klarer geworden? Fühlen Sie sich mehr ausgerichtet oder leichter? Wo spüren Sie mehr Auflage der Fußsohlen? Wie ist Ihre Stimmung? Gibt es ein kleines Lächeln auf Ihren Lippen? Gaben Sie diese Übung möglichst oft an möglichst viele Menschen weiter mit einem Gruß von S I B, dem Weg des lächelnden Elefanten!

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7. NACHWORTE DER HERAUSGEBERINN EN

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7. Nachworte der Herausgeberinnen Nachwort/Nurit Sommer Visionen zum Gesundheitssystem Mit der Entwicklung von S I B steht ein Zugang des körperorientierten Lernens, Verbesserns und Heilens und gleichzeitig der Prävention zur Verfügung, der bemüht ist, die Vielschichtigkeit menschli­ cher Erfahrung mit Hilfe der uns allen innewohnenden Ressourcen zu nutzen. Empfindungsfähigkeit, Körpergedächtnis und Körperweisheit sind kraftvolle und schöpferische Kräfte in uns! Ich selbst bin durch meine 25-jährige Arbeit mit tausenden von Klientinnen und durch meine vieljäh­ rige Ausbildungstätigkeit davon überzeugt, dass mit der Arbeitsweise der S I B eine tatsächliche Grundlage für die Veränderung unseres so oft beklagten Gesundheitssystems möglich wäre. Vor allem wird dies deutlich bei allen Einschränkungen des Bewegungsapparates, die, wie viele der ausgeführ­ ten Beispiele zeigen, oftmals viel komplexere Hintergründe haben! Ich stelle mir vor, wie ein Gesundheitssystem aussehen würde, wenn die meisten Ärztinnen tatsäch­ lich selbst in Körperbewusstsein geschult wären, also im tatsächlichen Spüren des eigenen Körpers, in Körperwahrnehmung und in ressourcenorientierter Fragestellung; wenn die Kräfte und das Wissen, die Menschen über sich selbst mitbringen, für Diagnostik ernst genommen und als Teil von therapeu­ tischen Prozessen einen guten Platz bekommen würden. Die meisten Menschen schätzen es sehr, wenn sie mit einbezogen werden in ihren Heilungsprozess und selbst etwas dazu beitragen können. Dazu benötigt es klare Unterstützung und Führung, Neugierde und Geduld. Damit könnten Millionen Euro eingespart werden und Menschen in einer sehr tiefen Weise zu Gesundheit angeregt und rückgeführt werden. Die Grundlagen dafür gibt es, das Wissen, sie zu schaffen, auch. Möge alles in diesem Buch Ge­ schriebene offene Ohren finden und mehr und mehr umgesetzt werden können: in der Ausbildung von Medizinerinnen, im Schulwesen als Grundlage für Gesundheitserziehung, in therapeutischen und sozialen Netzwerken, in der Krankenpflege, als Selbsthilfe für Helferinnen aller Art etc. Dieses Wissen kann ganz ohne „Beipackzettel“ angewandt werden. Möge es seine Wirkung entfalten!

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7. NACHW ORTE DER H ERAUSGEBERINN EN

Nachwort/Gertraud Pantucek „Sagen, was ist, auch aus Sorge um sich selbst“ 1 Die Überschrift zu diesem Nachwort beschreibt für mich, meine Motivation und meinen wichtigsten Beweggrund, mich mit der Methode S I B seit nunmehr gut zehn Jahren praktisch und theoretisch zu beschäftigen. S I B bringt mich in Bewegung, wenn ich mich erstarrt fühle, S I B lässt mich spüren, wie ich mich in der Welt befinde, welche Seiten von mir dominant sind und vielleicht auch härter, als sie sein müssten, und worauf ich im Moment oder schon länger zu wenig achte. S I B als SYSTEMISCHE UND INTEGRATIVE BEWEGUNGSLEHRE bringt mir neue Impulse und Einsichten, vorerst über mich selbst. Ich bin gefordert, mich und meine Möglichkeiten und Grenzen in den Mittelpunkt und in das Zentrum meines Lebens zu geben. Das ist für mich nach wie vor die größte Herausforderung, an die mich S I B gezielt erinnert. Nach S I B-Behandlungen hatte ich den Eindruck und das befreiende Gefühl, wieder gut zwischen mir und den anderen unterscheiden zu können, meine eigenen Konturen klar zu sehen und auch das, was ich möchte und was mir angenehm ist. Ich bin seit nunmehr 30 Jahren im Sozialbereich tätig. Lange Zeit war ich Sozialarbeiterin, dann auch Sozialanthropologin und Supervisorin. Nun bin ich seit einigen Jahren Studiengangsleiterin für die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen. Die Stärkung und Entwicklung von Menschen, die sich in Krisen befinden, Überforderung erleben, Neues entdecken möchten und mehr über sich und ihre Möglichkeiten erfahren, war mir dabei immer ein Anliegen. Ich habe versucht, Unterstützungsprozesse anzuregen, so wie bei S I B ebenfalls üblich, die Lage(n) von Menschen einzuschätzen und sie zu animieren, sich auch selbst zu sehen, so wie sie gerade sind, für sich und für ihr Umfeld. „Nobody (kein Körper!) is perfect“ , kein Mensch steht nur für sich alleine und vieles wirkt mit bei dem, was gerade Ausdruck finden kann und im Vordergrund zu sehen ist. Skelett, Rückgrat, Knochen, Muskeln, Fleisch, Haut, Haare, Nägel, Poren, Membrane, Gefühle, Stimmungen, Verdauung, Speicherungen, Schmerzen, Wohlbefinden, Zufriedenheit u. v. m. kennzeichnet Menschen aufgrund ihrer jeweils individuellen körperlichen Strukturen und ihrer Persönlichkeiten. Aufstehen,

1: Ursula Kubes-Hofmann (H g.)(1994): Sagen, was ist. Zu r Aktualität Hannah Arendts. Michel Foucault (1989): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3.

sich behaupten, sich fallen lassen, Kontrolle über sich und andere ausüben, unterstützen, sich gestört fühlen, benachteiligt sein, andere beneiden, mehr erreichen wollen, koste es was es wolle, sich selber spüren, verbunden und angenommen sein ... Das kleine Land Österreich, in dem ich zu Beginn des 3. Jahrtausends lebe, ist offiziell mein Zuhau­ se in dieser Welt. Es hat mir viele Möglichkeiten und auch Privilegien eröffnet und es legt mich auch fest und schränkt mich ein. Meine Herkunft generell gibt mir Möglichkeiten und schränkt mich ein, Gleiches gilt für meinen Körper. S I B ist eine wunderbare Methode, um zwischen Möglichkeiten und Grenzen gut unterscheiden zu können und eigene Entwicklungen „step by step“ zu vollziehen. Ich kann es jedem/jeder empfehlen, der/die sich selbst genießen und wohlfühlen will, über sich hinauswachsen und wieder zurückfinden will und an Neuem interessiert ist. Gut für sich selbst zu sorgen stärkt die Fähigkeit, für andere zu sorgen und auch für die Welt gesamt!

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Nachwort/Elisabeth Mayr Abschlussgedanken Was sich im Verlauf der Gestaltung des Buches gezeigt hat, ist, dass die Prinzipien, die in S I B immer wiederkehrend sind und für mich persönlich einen sehr großen Wert haben, diejenigen Prinzipien sind, die Nurit Sommer als Ethnologin ursprünglich am meisten bewegt hatten und die dann in Verbindung mit Körperarbeit gebracht wurden: eine spezielle Sichtweise und Wertschätzung in der Begegnung mit Menschen; die wertfreie Anerkennung des Gegenübers, die Achtung vor der mitgebrachten Lebensgeschichte, die Liebe zum Leben und zum Lebendigen in seiner Vielfalt. Die klaren Strukturen, die in den Lektionen von Alon Talmi gegeben wurden, und der Pfad des Systemischen, der von Gudrun Schreiner immer mehr verfeinert wurde, geben eine Sicherheit, um je nach individuellem Kontext, in dem S I B angewendet wird - , das Eigene entfalten zu können. Wie die vielen Beispiele des Buches zeigen, kann damit die Vielfalt des allem Lebendigen Innewohnenden zum Ausdruck kommen. Damit kann aber auch das, was der Name der Methode - Systemische und Integrative Bewegungs­ lehre® - ausdrückt, tatsächlich erfüllt werden. So war es mir als Physiotherapeutin möglich, mein strukturelles Denken zu behalten und gleichzeitig hinzunehmend den Menschen als Ganzheit in meiner Arbeitsweise noch vielschichtiger, feinfühliger und ressourcenorientiert behandeln zu können. Neu kam dazu, den Patientinnen ein großes Geschenk machen zu können: ihnen Körperbewusstsein und damit Selbstachtung und Selbstwert­ schätzung mitzugeben. Mein Wunsch und meine Hoffnung zu unserem Buch und der S I B ist, dass dieses Wissen mit dem innewohnenden Paradigmenwechsel in der Betrachtung und Begegnung des Menschen, in der medi­ zinischen Welt Eingang und im Speziellen in der Physio- und Körpertherapie seinen Widerhall findet.

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A N H A N G / L IT E R A T U R L IS T E

Anhang/Literaturliste

Körperarbeit und Feldenkraismethode Alon, Ruthy (1995): Besser leben ohne Rückenschmerzen. Berthoz, Alain (2000): The Brain's Sense of Movement. Feldenkrais, Moshe (1968): Der aufrechte Gang. (1977): Abenteuer im Dschungel des Gehirns. Der Fall Doris. (1978): Bewusstheit durch Bewegung. (1985): Die Entdeckung des Selbstverständlichen. (1989): Das starke Selbst. Anleitung zur Spontaneität. (1990): Die Feldenkraismethode in Aktion. (1994): Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens. (Hg. Robert Schleip) Hanna, Thomas (1990): Beweglich sein - ein Leben lang (2003): Das Geheimnis gesunder Bewegung. Wesen & Wirkung Funktionaler Integration. Die Feldenkrais-Methode verstehen lernen.

Juhan, Deanne (1999): Körperarbeit. Die Soma-Psyche-Verbindung. Ein Lehrbuch. Larsen Christian (2007): Die zwölf Grade der Freiheit. Mayr, Elisabeth/Udier, Elisabeth (2005): Broschüre: Der Beckenboden: Energie für Mann und Frau. Mayr, Elisabeth (2009): Zeigt her Eure Füße. In Latritsch-Karlbauer, Andrea: Haltung fertig los. Pikier, Emmi (1988): Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen.

Piret, Suzanne/Beziers, Marie-Madeleine: La coordination motrice: aspect mecanique de l'organisation psycho-motrice de l'homme.

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Selver, Charlotte/Brooks, Charles V. W. (2007): Reclaiming Vitality and Presence. Sensory Awareness as a practice for life. The teachings of Charlotte Silver & Charles V. W. Brooks.

Sommer, Nurit (2004): Komm wie Wasser, geh wie Wasser, in: Baxa G./Essen Ch./Kreszmeier A. (Hg.): Verkörperungen.

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Alon Talmi kommt zu Wort - Zitate seiner Artikel Erste Begegnungen mit Feldenkrais (Alon Talmi) Artikel in Englisch: First Encounters with Feldenkrais: A Reminescence, in: Somatics 4 (1), S. 60,61,1980. Deutsche Übersetzung von Lisa Gaupmann. Ein informeller Bericht der Begegnung zweier außergewöhnlicher Männer und der Beginn der Funktionalen Integration. Ich traf Moshe zum ersten Mal im Jahr 1949 in Paris. Zu dieser Zeit repräsentierte ich einige israeli­ sche wissenschaftliche Institutionen in Frankreich. Eine von diesen zeigte Interesse an einer be­ stimmten Methode der experimentellen Physik. Als ich meine französischen Freunde nach einem Experten auf diesem Fachgebiet fragte, sagten sie, Dr. Moshe Feldenkrais - der zu dieser Zeit in London lebte - sei einer der besten. Der Name Feldenkrais war mir nicht unbekannt. Ich hatte sein Buch über Autosuggestion gelesen, eine Übersetzung und Erweiterung des berühmten Buches von Emile Coue. Ich hatte auch sein Buch über Selbstverteidigung gelesen, aber ich wusste fast nichts über seine anschließende Karriere als Physiker, welche dazu führte, dass er ein Assistent von Joliot-Curie am College de France wurde. Ich lud ihn ein, mich in Paris zu treffen. Er war einverstanden, und wir trafen uns in seinem Hotel in der Nähe des Place du Theatre Francais. Damals war ich 35 und Moshe war, glaube ich, 45. Ein gut aussehender Mann, athletisch, energisch, aber gelassen, mit einer lebhaften Intelligenz und einem markanten, charmanten Sinn für Humor. Als ich ankam, saß er in der Hotellobby und sah Korrekturfahnen eines neuen Buches durch. Ich fragte ihn, wovon dieses Buch handelte, und er sagte, es wäre eine neue Herangehensweise zur Psychologie oder etwas Ähnliches. Ich kann mich nicht mehr an seine genauen Worte erinnern. Ich muss gestehen, dass ich mir damals anmaßte, in Psychologie und psychologischen Methoden durchaus belesen zu sein. Ich hatte Freuds Gesammelte Werke auf Deutsch gelesen und mein Bruder hatte einen langen und unglücklicherweise frustrierenden Prozess einer Psychoanalyse durchgemacht. Ich hatte Alfred Adlers Individualpsychologie studiert. Ich hatte sogar damit begonnen, eine eigene psychologische Theorie zu entwickeln, die einige Jahre lang in einem kleinen Kreis aus engen

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Freunden durchaus verbreitet war. Ich hatte einen Doktortitel in physikalischer Chemie und Erfahrung in industrieller Chemie. Aufgrund meines Interesses an Psychologie und Psychiatrie arbeitete ich nebenberuflich mit Professor Henri Baruch, dem berühmten französischen Psychiater, in seinem psychiatrischen Krankenhaus in Charenton nahe Paris. Obwohl ich töricht genug war, mich als Autorität in Psychologie und psychiatrischen Methoden zu erachten, war ich auch großzügig genug, oder zumindest höflich genug, um Interesse an Feldenkrais’ psychologischen Ideen zu zeigen. Er versprach mir, eine Kopie seines Buches zu senden, wenn es publiziert werde. Wir beendeten unsere Arbeit an experimenteller Physik in einem oder zwei Tagen, danach kehrte Feldenkrais nach England zurück. Nach einiger Zeit kam sein Buch an - Body and Mature Behavior. Ich las das Vorwort und es gefiel mir überhaupt nicht. Ich legte das Buch weg und vergaß darauf. Einige Zeit später hatte ich eine ernsthafte Ischias-Attacke. Mein französischer Arzt schlug vor, Prokain in meine Wirbelsäule zu injizieren. Glücklicherweise hatte ich dafür keine Zeit, da ich zu einem dringenden wissenschaftlichen Einsatz nach England musste. Als ich zu diesem ersten Besuch nach London kam, war mein physischer Zustand nicht beneidenswert: Ich hatte durchgehend Schmerzen, konnte kaum gehen, und Treppensteigen war praktisch unmöglich. Dazu kam, dass sich der Job, für den ich nach England geschickt wurde, als wenig zufriedenstellend herausstellte. Ich konnte den Sinn des Jobs nicht verstehen - ich konnte hingegen verstehen, dass sich all die Versprechen von Hilfe in Geld- und Personalangelegenheiten auflösten. Also war ich hier in England, das damals dem jungen Staat Israel gegenüber eher feindlich eingestellt war, krank - fast unfähig, mich zu bewegen - und versuchte, eine unmögliche Mission zu meistern. Eines Tages aß ich mit Feldenkrais in einem chinesischen Restaurant in der Shaftesbury Avenue zu Mittag. Er sah, wie sehr ich litt, und schlug vor, dass er versuchen würde, mir zu helfen. Dies klang natürlich vollkommen lächerlich, aber Feldenkrais versicherte mir, dass ich nicht an seine Methode glauben musste und dass kein Element der Suggestion, Schmerz oder Bezahlung involviert war. Daraufhin willigte ich gnädig ein, mich für dieses Experiment zu opfern, das für mich etwas absurd klang. Wenn ich mich nicht irre, war ich Moshes zweiter Fall von Funktionaler Integration. Wir verbrachten einige Tage damit, zu arbeiten, zu reden, zu diskutieren. Die Arbeit fand auf einem Sessel oder dem Boden statt und nicht auf einem Tisch, so wie es heute der Fall ist.

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Allmählich ließen meine Schmerzen nach und innerhalb von vier oder fünf Tagen verschwanden sie gänzlich. Ich konnte nicht nur gehen, sondern sogar laufen, Treppen steigen - ich konnte das Laufen und Treppensteigen genießen! Natürlich war ich mir sicher, dass diese Verbesserung nichts mit Moshes Arbeit an mir zu tun hatte. Als ich ihm sagte, dass die Verbesserung wahrscheinlich dank des Wetters passiert war, lächelte er und sagte, dass das vielleicht wirklich der Fall war. Dann fiel mir eine große und überraschende Veränderung in meiner Einstellung gegenüber dem Job, den ich in London ausführte, auf: Während ich ihn zuvor als eine unmögliche Last angesehen hatte, hatte ich jetzt begonnen, ihn als eine sehr aufregende Herausforderung zu begreifen - weil die Be­ dingungen äußerst schwierig waren, weil keine Hilfe in Sicht war, weil sogar der Sinn des Jobs nicht wirklich nachvollziehbar war. Eben diese Faktoren waren von einer Last zu einer Herausforderung geworden! Eines Morgens kaufte ich eine zweite Ausgabe von Body and Mature Behavior, und dieses Mal las ich das Buch mit großer Konzentration und großem Interesse, mit viel Vergnügen und mit etwas Einsicht fertig. Ich begann, Moshe zu verstehen. Zu dieser Zeit bemerkte ich eine radikale Veränderung meiner Anschauung: Ein paar Wochen zuvor hatte ich mich wie ein Mann mittleren Alters gefühlt, als ob ich 40 oder 50 wäre; ich hatte äußerst große Zweifel, jemals dazu fähig zu sein, etwas Interessantes, Kreatives im Bereich Chemie oder Psy­ chologie oder Psychiatrie zu machen. Ich hatte mich mit einer relativ langweiligen Familiensituation abgefunden. Nun begann ich mich jung zu fühlen, als ob ich 20 oder 25 wäre. Ganze Horizonte von neuen kreativen Möglichkeiten taten sich vor mir auf. Etwas Fundamentales musste sich in mir verändert haben. War es möglich, dass es etwas mit Moshes Arbeit zu tun hatte? Inzwischen hatte sich die Beziehung zwischen Moshe und mir verändert. Wir wurden Freunde. Nun verbrachten wir jeden Tag viele Stunden zusammen. Manchmal zwölf Stunden oder sogar mehr. Wir arbeiteten, redeten, gingen spazieren. Ich weiß nicht, was Moshe in mir fand. Vielleicht eine aktive Neugier bezüglich wissenschaftlicher Gebiete, an denen er interessiert war und wo er sich bis dahin relativ einsam gefühlt hatte. Vielleicht eine gewisse Nachfrage nach und eine Fähigkeit zu einer prägnanten Rezeptur. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was ich in ihm gefunden habe. Eine große Hoffnung, eine mögliche Antwort auf eine Frage, die mich viele Jahre lang gequält hatte: Wie wird man seine Neurosen los? Ich fand heraus,

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dass es unendlich viel leichter war, die eigenen psycho-physischen Komplexe zu bewältigen und die eigenen Widerstände zu überwinden, indem man mit dem Körper an fängt anstatt mit der Psyche. Eine einschneidende Möglichkeit, dieses enorme Potenzial zu beweisen, tauchte bald auf. So verließ ich England und kam nach Israel als ein anderer Mann zurück: viel jünger, viel unterneh­ mungslustiger, viel gescheiter. Ich entschloss mich, mein Leben den Feldenkrais-Techniken zu wid­ men. (Die Begriffe „Bewusstheit durch Bewegung“ und „Funktionale Integration“ waren damals und noch viele Jahre danach unbekannt.) Ich denke, ich verkaufte Moshes Techniken sehr gut, und ich schaffte es, als eine der ersten Per­ sonen Professor Aharon Katzir - ein großartiger wissenschaftlicher Berater und damals enger Freund des Premierministers von Israel, David Ben-Gurion - für diese zu interessieren. Wie ich zuvor erwähnt habe, hatte mein Bruder eine sehr ausgedehnte und erfolglose Psychoanalyse durchgemacht. Als ich im Jahr 1950 nach Israel zurückkam, fand ich heraus, dass sein Psycho­ analytiker, eine der Koryphäen der israelischen Psychoanalyse, nach neunjähriger Arbeit mit diesem jungen Mann zum Entschluss kam, dass organisch etwas mit seinem Patienten nicht stimmte, und verwies ihn an einen Psychiater, der ihn zuerst mit einem Insulinschock und dann mit Elektroschock behandelte. Die elektro-konvulsive Methode war in einer Hinsicht effektiv: Da der Psychiater nicht wusste, wie er es richtig machte, schaffte er es, während der Behandlung den Brustwirbel des Patienten zu brechen, und das gab mir die Chance, zu verlangen, dass die elektro-konvulsive Behandlung sofort gestoppt werde und dass Feldenkrais eingeladen werde, von London herzukommen, um meinen Bruder zu behandeln. Es war ein sehr schwieriges Unterfangen: Nicht nur war Feldenkrais kein Psychiater, er war überhaupt kein Arzt. Er war in Israel völlig unbekannt, was medizinische Behandlung betraf. Es gab einen schwierigen Kampf mit den Ärzten, aber am Ende setzte ich mich durch. Feldenkrais war so freund­ lich, nach Israel zu kommen und drei oder vier Wochen mit meinem Bruder zu verbringen (ohne Geld zu verlangen).

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Am Ende war der Patient vollkommen geheilt, ging wieder zur Arbeit und führte mindestens 15 Jahre lang ein ungewöhnlich glückliches, produktives Leben sowohl im persönlichen als auch im berufli­ chen Bereich. Mein Freund Aharon Katzir war so beeindruckt von den Erfolgen von Moshe in der phy­ sischen und psychologischen Behandlung, dass er David Ben-Gurion, den Premierminister von Israel, überzeugte, Moshe an ihm arbeiten zu lassen. Ben-Gurion brauchte seine Behandlung dringend, er befand sich in einem sehr schlechten physischen Zustand, und konventionelle Techniken hatten ver­ sagt. So begann Feldenkrais eine Reihe von Einheiten mit Ben-Gurion, die den Mann vollkommen veränderten. Die Behandlung drehte ihn um zehn Jahre zurück, machte ihn flink, dynamisch und jung. Dies ver­ schaffte dem Ansehen von Moshe und seinen Techniken natürlich einen großen Aufschwung. Nun kamen viele Menschen zu seinen Gruppen der Bewusstheit durch Bewegung und in seine kleine pri­ vate Klinik für Funktionale Integration. Jedoch brauchten ich und ein Dutzend andere Freunde einige Jahre, bis Moshe sich überhaupt dazu bereit fühlte, im Herbst 1968 unseren ersten dreijährigen Kurs in Funktionaler Integration zu unter­ richten. Was meine persönliche Entwicklung betraf, veränderten sich seit diesem schicksalhaften chinesi­ schen Mittagessen in der Shaftesbury Avenue allerdings die Dinge rasch. Innerhalb eines Jahres wur­ de ich in Paris zu Israels wissenschaftlichem Attache bestellt, und in ein paar Jahren wurde ich - bis­ her ein unbedeutender Chemiker der Forschung - Leiter der chemischen Abteilung des größten che­ mischen Gewerbes meines Landes, entwickelte eine Reihe von neuen Prozessen und veröffentlichte eine Reihe von Forschungsarbeiten. Nach ein paar Jahren gab ich diese Position auf, um das Chemie-Department der Universität Tel Aviv zu gründen und zu leiten, wo ich seit 18 Jahren mit Freude aktiv bin. Jedoch ohne meinen zahlrei­ chen Engagements zu widerstehen; als der erste Funktionale-Integration-Kurs 1968 begann, war es mir möglich, einen sehr aktiven Part darin einzunehmen und somit meinen langgehegten Traum zu realisieren: Funktionale Integration zu praktizieren.

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Funktionale Integration in psychiatrischer Behandlung - Alon Talmi Artikel in Englisch: Functional Integration in psychiatric treatment; in: Somatics 3 (2), S. 48,49, 1981. Deutsche Übersetzung von Lisa Gaupmann. Thea N., eine Frau Mitte zwanzig, wurde von ihrem Leibarzt in mein Büro in Tel Aviv gebracht. Sie hatte ein paar Wochen zuvor versucht, sich umzubringen, wurde gerettet und von einem bekannten Psychiater behandelt. Die Diagnose war akute manische Depression. Die psychiatrische Behandlung machte keine guten Fortschritte und der Psychiater plante, Thea ins Krankenhaus einliefern zu las­ sen. Dies vergrößerte ihre Angst sehr und sie wollte nichts mehr mit Psychiatern zu tun haben. Als sie zu mir gebracht wurde, war Theas Angst so groß, dass sie unfähig war, ein einziges Wort zu sprechen. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut. Erst nach unserer ersten FunktionaleIntegration-Sitzung, als der Psychiater, der sie zu mir gebracht hatte - und bei der Sitzung anwesend war - sie fragte, ob sie mehr solcher Sitzungen mit mir haben wollte, sprach sie ihr erstes Wort in meinem Büro: „Ja. “ Während der folgenden drei Wochen hatte ich zehn Funktionale-Integration-Sitzungen mit Thea. Ein gutes Verhältnis wurde aufgebaut und sie begann mit mir zu reden, aber ihre Angstattacken ließen nur teilweise nach und sie war noch immer unfähig, mein Büro alleine in einem Bus oder einem Taxi zu erreichen. Allerdings vertraute sie mir nun so weit, dass sie damit einverstanden war, mit mir zu einer Untersuchung durch meinen Freund, den angesehenen Neurologen und Psychiater Shlomo Bracha, zu kommen. (Dr. Bracha war ebenfalls ein Absolvent des Kurses in Funktionaler Integration von 1968 bis 1971.) Nachdem er mit Thea gesprochen und eine gründliche neurologische Untersuchung durchgeführt hatte, verordnete Dr. Bracha ihr eine Reihe von Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln und empfahl, dass sie ihre Funktionale-Integration-Sitzungen mit mir fortsetze. Wir hatten wieder zehn Sitzungen und etwa zwei Monate nach ihrem Besuch bei Dr. Bracha konnte Thea ihre Medikation absetzen und ihre Arbeit als Künstlerin fortsetzen. Dies war vor acht Jahren. Seitdem ist Thea psychisch stabil und führt ein sehr glückliches Familienund Berufsleben. Vor ein paar Wochen stieß sie zufällig auf die Herbstausgabe von „Somatics“ aus dem Jahr 1980 und las meine Erinnerung an die ersten Begegnungen mit Moshe Feldenkrais.

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Dies veranlasste sie, mir einen langen Brief zu senden, in dem sie unter anderem schrieb: „ ... Als Sie mit mir gearbeitet hatten, fühlte ich mich entspannt und ruhig, mein Körper war rein und bereit für einen Neustart... Ich erinnere mich, dass ich mich buchstäblich sehr lang fühlte, und dachte, dass ich, wenn ich in der Tat so lang war, beträchtliches Potenzial in mir haben muss. Ich konnte nicht einfach ein wertloses Nichts sein . .. " Die alte Geschichte: eine bessere Verteilung des Muskeltonus, ein Gefühl, lang zu sein, ein Gefühl der Ruhe, der Klarheit und Leistungsfähigkeit. Dies wurde durch den vernünftigen Einsatz von medi­ zinisch-ernährungstechnischen Mitteln in Kombination m it Funktionaler Integration erreicht. Dieselbe Kombination kann auch sehr effektiv in der Behandlung von - am besten bezeichnet mit - „anony­ mer Angst“ sein. Dies ist ein Zustand, in dem eine Person eine sehr starke Angst fühlt, aber nicht die leiseste Ahnung hat, wovor sie sich fürchtet. Das übliche psychiatrische Gespräch deckt nicht viel auf: Die körperliche Gesundheit des Patienten, seine finanzielle Sicherheit, sein soziales Ansehen, sowohl in der Arbeit als auch außerhalb, seine emotionale und körperliche Beziehung mit seiner Ehefrau - all dies erscheint durchaus zufriedenstellend zu sein. Die Angst ist real und akut, aber anonym. Wie ein anonymer Brief, man bekommt ihn, weiß aber nicht, woher er kommt. Solch eine Angst kann sehr wohl in eine anonyme Depression abgleiten, eine Depression, die ohne jeglichen Bezug zu den äußeren Lebensumständen des Patienten zu sein scheint. Viele Psychiater nennen diese Depression „endogen“, eine angeborene Eigenschaft implizierend. Andere neigen dazu, die Anonymität durch Verdrängung zu erklären. Laut ihnen wird die anonyme Angst von einem intensiven Konflikt verursacht, dessen sich der Patient nicht bewusst ist, da er vom Bewusstsein verdrängt wurde. Während das Angeborensein ein Vorwand für die Unfähigkeit des Psychiaters ist, wenn es darum geht, mit einer akuten anonymen Angst umzugehen (natürlich lösen sich manche Probleme selbst, während die Angst des Patienten durch Beruhigungsmittel gemildert wird), Ist die Verdrängung eine Rechtfertigung für ausgedehnte analytische Archäologie. Ich würde gerne eine dritte Interpretation anbieten: Die anonyme Angst resultiert aus einer Ansammlung einer Reihe von kleinen Belastungen, die verschiedene wichtige Lebensbereiche eines Individuums betreffen. Jede einzelne dieser Belas­ tungen kann praktisch unbedeutend sein, aber ihre Summe kann sehr wohl die Balance kippen. Zum Beispiel: Während der körperliche Gesundheitszustand der Person generell zufriedenstellend ist, hat sie von Zeit zu Zeit mit rätselhaften, jedoch nicht unerträglichen Schmerzen an bestimmten Stellen ihres Körpers zu tun. Ihre finanzielle Lage ist grundsätzlich gut, aber eine ihrer Investitionen hat sich

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als problematisch herausgestellt. Diese ist nicht ausschlaggebend, da - sogar wenn diese Investition völlig vergeudet wäre - ihre gesamte Finanzlage zufriedenstellend bleiben würde, - jedoch ist es noch immer eine Belastung. Die Umstände in der Arbeit sind exzellent, aber eine gewisse Anspannung hat sich zwischen der besagten Person und einer ihrer Kollegen oder Untergebenen oder Chefs, entwikkelt. Unsere Person ist noch immer in ihre(n) Partner(in) verliebt und ihr Sexleben ist ausgezeichnet, aber Eifersuchtsszenen sind kürzlich zu einer häufigen Erscheinung geworden. Und so weiter und so fort. Bitte denken Sie daran, dass das emotionale Gewicht von jeder der oben erwähnten Belastungen nicht aus der Sicht eines objektiven Zaungastes bewertet werden sollte, sondern aus der oft höchst neurotischen Sicht des Patienten. Und nochmals: Jedes dieser Probleme für sich mag dem Patienten nicht bedrohlich erscheinen und daher ist das Bild, das sich durch das psychiatrische Gespräch ent­ wickelt, ganz und gar nicht alarmierend - es ist ihre Ansammlung, die den Patienten jenseits der Grenze der Angst bringen kann.

Die anonyme Angst sollte früh behandelt werden, bevor die Person in eine ernste Depression verfällt. Dies kann erfolgreich bewerkstelligt werden, indem man simultan in drei Hauptrichtungen arbeitet: a.) Die chemische Umgebung des Nervensystems zu verändern, manchmal durch Medikation, aber meist durch adäquate Ernährung (siehe z. B. Mega-Nutrition von Richard A. Kunin, McGraw-Hill, 1980. Dr. Kunin, ein Psychiater und Ernährungswissenschaftler, ist der Vorsitzende der Orthomolekularen Medizinischen Gesellschaft.) b.) Den Patienten durch eine kurze Reihe von Funktionale-Integration-Sitzungen vorzubereiten (siehe z. B. The Body of Life von Thomas Hanna, A. Knopf, 1980), um einer Bewusstheit-durch-Bewegung-Gruppe beizutreten, und ihn zu lehren, wie er die so erworbene Erfahrung im Alltag an sich selbst nutzt, besonders in Stresszeiten. c.) Die Ruhe, die Klarheit, den Optimismus und die Energie, die durch (a) und (b) erreicht wurden, zu nutzen, um die Probleme, die dem Patienten in verschiedenen Bereichen seines derzeitigen Lebens begegnen, zu enthüllen und um sie effektiv aufzulösen. Meiner Erfahrung nach werden üblicherweise ein paar Wochen koordinierte Arbeit neben diesen kom­ binierten chemisch-ernährungstechnischen und neuromuskulären Anteilen sogar schwere Fälle von anonymer Angst bewältigen.

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Notizen zu Funktionaler Integration - Alon Talmi Wirksamkeit und Freude in der funktional integrierten Bewegung. Artikel in Englisch: Notes on Functional Integration, in: Somatics 4(1), S. 19, 20 FaiiA/Vinter 1982. Deutsche Übersetzung von Lisa Gaupmann. Der Begriff „Funktionale Integration“ hat eine Reihe von Bedeutungen. In diesen Notizen möchte ich eine der einfacheren Interpretationen behandeln. Nahezu jede menschliche Aktivität ist mit der Bewegung mehrerer Gelenke verbunden. Wenn man seinen Kopf zur Seite dreht, um etwas anzusehen, findet Bewegung in mehr oder weniger großem Ausmaß in mehreren Wirbelsäulengelenken statt, und oft auch in anderen Körperteilen. Wenn man ein Glas zu den Lippen führt, findet Bewegung in mehr als einem Gelenk des Armes statt. Die Ge­ samtbewegung ist das Produkt der Integration aller Komponenten, eine vom Nervensystem ausgeführ­ te Integration. Da man das gleiche äußerliche Ergebnis durch eine unendliche Anzahl von Bewegungskombinationen der Gelenke erzielen kann - z. B. sehen, was neben einem ist, oder das Glas mit den Lippen in Kontakt bringen, kommt die Frage auf: Welche Kombination ist unter gegebenen Umständen die beste? Es leuchtet ein, dass die beste Bewegung die ist, bei der die Hauptlast von den größeren, stärkeren Muskeln getragen wird, während sich die kleineren, schwächeren Muskeln hauptsächlich mit der Feinabstimmung beschäftigen. Solch eine Integration würde den Gesamtaufwand minimieren und die Bewegung leicht, einfach und anmutig machen. Solch eine Integration ist funktional, das heißt, sie ist ein wirksamer Weg, um das ersehnte Endergebnis zu erhalten. Warum ist es so, dass sich nur ein geringer Anteil der Menschen, die wir beobachten, mühelos und graziös bewegt? Warum ist es so, dass wir, wenn wir eine anmutige Bewegung beschreiben wollen, dazu neigen, auf die Tierwelt zu verweisen, auf die Bewegung der Katze oder der Gazelle zum Bei­ spiel? Warum bewegen wir, die intelligenteste Spezies auf Erden, uns allgemein in einer unpassenden und ungeschickten Art, besonders, wenn wir älter werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen unserer Intelligenz und der Ungeschicklichkeit unserer Bewegungen?

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Es gibt gewiss eine Beziehung. Dank unserer Intelligenz beinhaltet unser Verhalten gelernte, erworbe­ ne Muster in einem viel größeren Ausmaß als das Verhalten jeder anderen Spezies. Während unsere Intelligenz uns zur dominanten Spezies auf Erden gemacht hat, es uns sogar möglich gemacht hat, andere Planeten zu erforschen, macht es uns eben diese Intelligenz auch möglich, falsche Gewohn­ heiten und gesundheitsschädliche Verhaltensmuster zu lernen und uns anzueignen (aufgrund dieser Intelligenz sind wir auch dazu fähig, diese Muster beizubehalten, ohne unser individuelles Überleben ernsthaft zu gefährden). Die meisten Menschen bewegen sich nicht locker und anmutig, integrieren ihre Bewegungen nicht funktional, da in einer großen Anzahl ihrer Gelenke die Bewegung durch unwillkürliche, unbewusste Muskelkontraktionen eingeschränkt ist. Die meisten Menschen „lernen“ für gewöhnlich in ihrer Kindheit nicht nur, ihren Muskeleinsatz falsch zu verteilen, das heißt, ihre schwächeren Muskeln zu viel Anteil von dieser Anstrengung tragen zu lassen und unbewusst permanent oder fast permanent Muskeln, die nichts mit der gewünschten Bewegung zu tun haben, zu kontrahieren. Bei den meisten Menschen beinhaltet Bewegung „parasitä­ res“ muskuläres Zusammenziehen. So sehen wir Menschen mit permanent hochgezogenen oder nach vor gehaltenen Schultern, Men­ schen, deren Kinn übertrieben nach vor gehalten wird (nur weil sie ihre Nackenmuskeln zusammen­ ziehen), um nur einige Beispiele zu nennen. Viele dieser muskulären Kontraktionen sind nicht nur unnötig, sondern sie sind viel ärger: Sie sind genau gegensätzlich zu den Bewegungen gerichtet, die der Mensch eigentlich ausführen wollte. Hier ein kleines Beispiel: Bitten Sie Ihre Freunde, sich auf dem Boden auf den Rücken zu legen, mit den Armen an ihrer Seite. Dann sollen sie ihren Kopf heben, so, als wollten sie zu ihren Füßen sehen, und in dieser Position bleiben, bis sie klar irgendwo einen lokalen Schmerz spüren. Dann bitten Sie sie darum, Ihnen zu sagen, wo in ihrem Körper dieser Schmerz konzentriert ist. Viele, wenn nicht die meisten, werden Ihnen sagen, dass sie ihn hauptsächlich an der Rückseite ihres Nackens spüren. Nun, das ist absurd. Die Muskeln, die den Kopf Richtung Brust ziehen, wenn man auf dem Rücken liegt, befinden sich an der Vorderseite des Nackens. Warum wird die Anstrengung an der Rückseite des Nackens gespürt? Die Antwort ist diese: Wenn Sie Ihre Freunde darum bitten, ihre Köpfe zu heben und auf ihre Zehen zu blicken, stellte ihr Gehirn nicht eine, sondern zwei Anweisungen aus. Eine - der sie sich bewusst waren - wies die Muskeln an, sich vorne am Nacken zusammenzuziehen

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und so den Kopf zu heben und das Kinn näher zur Brust zu bringen. Die andere, deren sie sich voll­ kommen unbewusst waren, wies die Muskeln an, die Rückseite des Nackens zusammenzuziehen, folglich wurde das Heben des Nackens schwieriger gestaltet! Als Folge davon hatten die Muskeln vorne am Nacken nicht nur mit dem Gewicht des Kopfes zu tun, was nicht allzu schwierig sein sollte, sondern auch damit, den Widerstand der kontrahierten Muskeln an der Rückseite des Nackens zu bewältigen. Daher die Schwierigkeit, den Kopf in der gehobenen Position für einige Minuten zu halten. Daher auch der Schmerz am hinteren Nacken - wann immer kontrahierte Muskeln durch energisches Strecken gedehnt werden, gibt es Schmerz!* Dies sind offensichtlich Fälle von dysfunktionaler Integration. Bei Bewegungen funktionaler Integration wird die Hauptanstrengung von den stärkeren Muskeln ausgeführt und es gibt weder störende noch entgegenwirkende Kontraktionen. Das lernen wir unseren Klienten in Funktionale-lntegrationSitzungen. Wir machen dies durch systematische und sanfte Beeinflussung ihrer verschiedenen Gelenke in vielen verschiedenen Körperzusammenhängen. Nachdem sie in einer Reihe von verschiedenen Zusammen­ hängen die Wirksamkeit, die Erleichterung und die Freude an der funktional integrierten Bewegung erleben und neu erleben, übernehmen ihre Nervensysteme automatisch die adäquateren, neu erwor­ benen Muster. Ein wichtiger Aspekt dieses Umerziehungsprozesses ist die Entspannung unwillkürlicher Muskelkon­ traktionen. (Manche der hochentwickelten Methoden, die wir zu diesem Zweck anwenden, werden Gegenstand eines anderen Artikels sein.) Sogar die obige grob vereinfachte Interpretation von Funktionaler Integration macht es möglich, einige der „übernatürlichen" heilenden Auswirkungen dieses Ansatzes zu verstehen. Lassen Sie mich zwei Beispiele geben. Eine Frau Mitte 30 kam in mein Büro in Tel Aviv, um sich mit mir über einen heftigen Schmerz in ihrem linken Knie abzustimmen. Der Schmerz hatte einige Monate zuvor begonnen, als Folge einer raschen, achtlosen Bewegung. Nun war das Knie fürchterlich geschwollen und sie war unfähig, Trep­ pen zu steigen oder zu laufen, sie konnte kaum gehen. Ärzte in den USA und in Israel hatten keinen Weg gefunden, ihr zu helfen. Sie war gezwungen wor­ den, ihren Job aufzugeben, der das Erteilen von Tanzstunden umfasste. In letzter Zeit hatte auch ihr rechtes Knie begonnen, zunehmend weh zu tun. Ich sagte ihr, dass ich ihr vielleicht helfen konnte, ohne ihre Knie zu berühren, indem ich sie lehre, wie die Freiheit in anderen Gelenken vergrößert wer­

* Siehe Fußnote S. 234

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den kann, die beim Gehen, Treppensteigen etc. - z. B. die Bandscheibengelenke in der Lendenwirbelsäule, die Hüftgelenke, die Sprunggelenke und die zahlreichen Fußgelenke - involviert sind. Ich erklärte ihr auch die Gründe dieser Herangehensweise: Wenn sie diese anderen Gelenke mit grö­ ßerer Freiheit nutzen könnte, müssten ihre Knie einen kleineren Teil der gesamten Anstrengung tra­ gen und der Heilungsprozess hätte eine bessere Chance. Sie war dazu bereit, es zu versuchen. Nach nur einer Sitzung verschwand der Schmerz im rechten Knie völlig und als ich Israel verließ, um in die USA zu reisen, nachdem ich ihr acht Sitzungen gegeben hatte, war die Schwellung im linken Knie weg, sie konnte ohne Schwierigkeit gehen, sogar ein paar Treppenfluchten steigen. Ein anderes Beispiel ist mit einem Arzt Mitte 50 verbunden, der starke Schmerzen in seinem linken Schultergelenk hatte. Nun, wenn man seine Hand seitwärts bis auf Höhe der Schulter hebt und sie auf dieser Höhe zur Vorderseite des Körpers bewegt, wird man feststellen, dass vorwiegend zwei Gelenke beteiligt sind - die Bewegung des Arms im Schultergelenk und die Bewegung des Schulterblattes. Ich beobachtete, dass mein Klient dazu neigte, nur das erste Gelenk zu benutzen, während die Bewegung seines Schulterblattes von starker Muskelkontraktion behindert wurde. Als ich ihm bei­ brachte, wie er die Freiheit seines Schulterblattes vergrößern konnte, ließ sein Schmerz nach. Dies wurde in einer einzigen Sitzung erreicht. Diese Erklärung ist natürlich nur einer der einfacheren Aspekte der Funktionalen Integration. (Aus einer Vorlesung am Esalen Institut, April 1981.)

* Wenn Sie Ihre Freunde darum bitten würden, ihre Zehen zu betrachten, wenn sie aufrecht stehen, würden die meisten dies einfach finden. Dies ist natürlich der Beweis, dass die Schwierigkeit in der Rückenlage nicht das Ergebnis einer „natürlichen“ Kürze der hinteren Nackenmuskeln ist, sondern ihrer unwillkürlichen entge­ genwirkenden Kontraktion in dieser Position. Die Kontraktion findet in der Liegeposition statt und nicht im Stand, denn das Heben des Kopfes in der erstgenannten Position, gegen die Schwerkraft, stellt eine Heraus­ forderung dar und das selbstbestimmte Muster, das viele Menschen aktivieren, wenn sie m it einer Heraus­ forderung - besonders in der Öffentlichkeit - konfrontiert sind, umfasst eine unwillkürliche, unbewusste Mussolini-artige Kontraktion der hinteren Nackenmuskeln. Zufälligerweise ist dies der Grund, warum F. M. Alexander seine Stimme während öffentlicher Vorträgen verlor, bevor er seine patentierte Methode zur Unterbindung der Aktivierung des Musters entwickelte.

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Notizen zu Funktionaler Integration II - Alon Talmi Artikel in Englisch: Notes on Functional Integration 2, in: Somatics 4(4), S. 33-35, 1983. Deutsche Übersetzung von Lisa Gaupmann. Können Neurosen sowohl „ körperlich " als auch „ psychologisch“ sein? Hier sind einige anregende Reflexionen zu dieser Frage. „Nach unserer ersten Sitzung fühlte Ich eine erhebliche Erleichterung, aber es dauerte nur einige Stunden, bis der Schmerz zurückkam. Nach der zweiten Sitzung dauerte die Erleichterung etwas län­ ger an - ich konnte sogar mit meinem Sohn Ball spielen - aber dann kam der alte Schmerz wieder zurück. Weist dies nicht darauf hin, dass Funktionale Integration nicht das richtige Verfahren für mich ist?" Dies sagte ein Klient, der für seine dritte Sitzung zu mir kam. Ich bin sicher, dass jeder von uns Fachleuten für Funktionale Integration und andere, die direkt mit Menschen und ihren Problemen arbeiten, gelegentlich solchen Zweifeln begegnen. Aber ich versuche, die Frage zu beantworten, indem ich zwei kurze Geschichten erzähle. Die erste Geschichte ist erfunden und vielleicht hilft sie mir, meine Ansicht zu verdeutlichen: Sie gehen einen Gehsteig entlang. In einem kurzen Abstand vor Ihnen geht ein Mann auf demselben Gehsteig in der­ selben Richtung. Er erscheint normal, aber als ein Taxi, das hinter Ihnen kommt, abrupt stehen bleibt, um einen Fahr­ gast aussteigen zu lassen, und aus irgendeinem Grund die Bremsen besonders schrill quietschen, sind Sie erstaunt, den Mann zu Boden fallen zu sehen, wie er versucht, seinen Kopf in die Ecke zwi­ schen der Straße und der Bordsteinkante zu verstecken, sein Körper zittert! Sie besinnen sich und sagen zu sich selbst: Dieser Mann muss kürzlich unter Artilleriebeschuss ge­ wesen sein, und das Quietschen der Bremsen muss für ihn wie ein sich nähernder Panzer geklungen haben. Also wirft er sich auf den Boden und versucht, seinen Körper, besonders seinen Kopf, vor den Panzerteilen zu verstecken. Wir haben hier eine irrationale komplexe Reaktion. Sie ist komplex, da sie aus einer Reihe von Elementen besteht - das Hinfallen, das Verstecken des Kopfes etc. Sie ist irrational, da sie unter den gegenwärtigen Umständen unpassend ist - es gibt rundherum keine Schlacht. (Sie fragen vielleicht mit Recht: Wer bestimmt die Angemessenheit oder sonstiges Verhalten einer Person unter gegebenen

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Umständen? Ist es nicht eine Tatsache, dass eine Handlungsweise in einer Kultur höchst löblich ist, während sie in einer anderen manchmal ein Dorn im Auge ist? Um der gegenwärtigen Diskussion wil­ len: Das Verhalten einer Person sollte von den Standards ihres oder seines Milieus beurteilt werden.) Es ist klar, dass die komplexe Reaktion unseres Mannes ein gelerntes, erworbenes Muster ist; es ist auch klar, dass es in der Situation, in der es erworben wurde - lassen Sie sie uns die originale Situa­ tion nennen - möglicherweise das beste zur Verfügung stehende Reaktionsmuster für diejenige Person war. Im eben behandelten Fall wären wir dazu geneigt, unserem Mann zu „vergeben“, und wir würden zögern, sein Verhalten durch irgendeinen psychiatrischen Fachbegriff zu erklären. Wer hat schließlich noch nicht von den Alpträumen an der Front gehört oder gelesen oder sie im Fernsehen gesehen? Aber trägt nicht eine große Anzahl von Menschen komplexe Reaktionsmuster mit sich, die sie in ihren persönlichen Schlachtfeldern erworben haben, von denen wir Außenseiter - wenn überhaupt sehr wenig wissen? Wenn ein solches Reaktionsmuster unter Umständen, die es nicht in irgendeiner Art rechtfertigen, aktiviert wird, neigen wir dazu, es als eine neurotische Reaktion zu erachten. Lassen Sie mich für einen Augenblick zu unserem Mann zurückkehren. Der Stimulus, der ihn dazu bewogen hat, sich auf den Boden zu werfen, als ob er unter Artilleriebeschuss wäre, war das Brems­ geräusch, das für ihn das Heulen eines nahenden Panzers bedeutete. Das ist typisch: In einer neurotischen Reaktion ruft die Entstehung eines Teiles der originalen Situation das gesamte komplexe Reaktionsmuster hervor. Meine zweite Geschichte ist unglücklicherweise wahr. Ein junger Forschungschemiker, der vor vielen Jahren mit mir gearbeitet hatte, wurde nach dem Verlust seiner Mutter von intensiven Angstattacken übermannt. Sein Leiden war so groß, dass er zwei oder drei Tage nach ihrem Begräbnis Selbstmord beging. Nun, wenn ein Baby mit Angst reagiert, wenn es von seiner Mutter alleine gelassen wird, gibt es in der Reaktion etwas Vernünftiges, da sein physisches Wohlbefinden, manchmal sogar sein bloßes Überleben, in hohem Maße von ihrer Fürsorge abhängt. Jedoch waren das körperliche Wohlbefinden und das Überleben meines jungen Kollegen objektiv gesprochen überhaupt nicht davon abhängig, dass seine Mutter lebte.

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Das alte Infantile Verhaltensmuster von Intensiver Angst war unter neuen Umständen irrational wieder in Kraft gesetzt, unter denen es absolut unpassend war. Ein solches Verhalten ist offensichtlich neu­ rotisch. Hätte ich damals gewusst, wie man Methoden der Funktionalen Integration in der Behandlung von Neurosen im Allgemeinen und Angstneurosen im Speziellen nutzen kann (siehe „Funktionale Inte­ gration in Psychiatrischer Behandlung“, Somatics, Frühling/Sommer 1981), hätte ich vielleicht mei­ nen jungen Freund retten können. Da es relevant ist, erwähne ich vielleicht beiläufig, dass ich in diesem Artikel unter anderem die „anonyme Angst“ diskutiert habe, bei der „eine Person eine sehr starke Angst fühlt, jedoch nicht die leiseste Ahnung hat, wovor sie sich fürchtet". Ich wagte die Hypothese, dass eine solche Angst vielleicht „aus einer Ansammlung einer Reihe von kleinen Belastungen" resultiere, „die verschiedene wichtige Lebensbereiche eines Individuums betreffen". Nun finde ich in Hans Selyes großartigem Buch The Stress of Life (überarbeitete Ausgabe, 1976), was mir eine schöne biologisch-medizinische Untermauerung meiner Hypothese zu sein scheint. Beachten Sie die folgenden Punkte aus diesem bemerkenswerten Buch. 1: Eine der wichtigsten Komponenten von Stress (die Erscheinungsform von Belastungen des Organismus) im Anfangsstadium („Alarm “) ist eine beträchtliche Vergrößerung der Nebennierenrinde (Kapitel 2). 2: „ Wie kann eine Person wissen, dass sie übermäßigen Stress erfährt, bevor sie offenkundigen Schaden erleidet, mit offensichtlichen Adaptierungskrankheiten wie einem Nervenzusammenbruch, einem Magendarmgeschwür oder einem Herzinfarkt?" fragt Selye (Kapitel 9), und antwortet mit der Beschreibung einer Reihe von medizinischen Symptomen und auch einer Reihe von „selbst-beobachtbaren Zeichen“ (S. 173). Unter den Letzteren führt er „ ,Schwebende Angst' an, das heißt, wir fürchten uns, obwohl wir nicht genau wissen, wovor wir Angst haben". (Vielleicht umfasst nicht jeder Fall von exzessivem Stress die Entstehung dieses Symptoms, aber wahrscheinlich indiziert jede Entstehung des Symptoms exzessiven Stress).

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3: In Kapitel 5 sagt er: „ Wir haben zum Beispiel gesehen, dass, wenn eine Ratte einem intensiven Geräusch, eine andere heftiger Kälte, und wieder eine andere einer Verbrühung einer Pfote ausge­ setzt ist, es in jeder von ihnen zu einer mäßigen Nebennierenvergrößerung kommt. Es gibt eine bestimmte Grenze für die Nebennierenstimulation, die von jedem Erreger ausgelöst werden kann, nehmen wir an, das Verbrühen eines kleinen Bereiches, egal wie schwer. Andererseits, wenn eine Ratte einem Geräusch, der Kälte und einer Verbrühung gleichzeitig ausgesetzt ist, wird die Neben­ nierenvergrößerung viel größer als die von einem dieser Stressoren ausgelöste sein. Daher kann eine Reihe von verschiedenen Stressoren, wenn sie simultan agieren, eine besonders aus­ geprägte Nebennierenvergrößerung auslösen, während jeder einzelne von ihnen nicht dazu fähig ist! Eine ausgesprochen ausgeprägte Nebennierenvergrößerung weist auf besonders starke Belastung hin, die sich unter anderen Symptomen in Form von starker „schwebender“ (= „anonymer“) Angst mani­ festiert. Natürlich reagiert die weitgehende Mehrheit der Menschen, die unter Artilleriebeschuss standen, nicht so, wie unser Mann auf das jaulende Geräusch reagiert hat, das manchmal das plötzliche Brem­ sen eines Autos begleitet. Die überwiegende Mehrheit der Menschen begeht auch nicht Selbstmord, wenn sie ihre Mutter verliert. Es muss etwas m it der Erfahrung und vielleicht auch m it der Erbanlage eines Menschen zu tun haben, die ihn dazu bringen, ganz und gar mit dem alten Verhaltensmuster zu reagieren, wenn auch nur ein Teil der originalen Situation auftritt. Was ist das Wesen dieses „Etwas“? Eine Antwort kann im Kapitel „Konditionale Reflexe und Gewohnheiten“ von Moshe Feldenkrais’ Body and Mature Behaviour (Routledge & Kegan Paul, 1949) gefunden werden. Wie kann die objektiv gesehen ungerechtfertigte Erhebung eines im Vorfeld durch nur einen Teil der originalen Situation erworbenen vollständigen Verhaltensmusters uns helfen, das Wiederauftreten von Symptomen bei unseren Funktionale-Integration-Klienten während der Anfangsphase unserer Arbeit zu verstehen, und wie können wir diese Anfangsphase am besten verkürzen? Fachleute Funktionaler Integration, wie Alexander-Teacher, Rolfer und andere, meinen, dass die mei­ sten Menschen ihre Körper missbrauchen, dass viele physische Schwierigkeiten aus diesem Miss­ brauch resultieren und dass eine Behandlung nicht auf die schmerzenden Körperteile gerichtet sein sollte, sondern auf die gesamte natürliche Person. Wenn ich sage, dass die meisten Menschen ihre Körper missbrauchen, meine ich, dass, wenn sie irgendeiner körperlichen Aufgabe begegnen, sogar

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eine relativ einfache, wie sich aus einem Sessel erheben, eine kurze Distanz gehen etc., die meisten Menschen ihre Muskeln falsch mobilisieren. Ihre Mobilisierung schafft es nicht nur nicht, dem Zweck der Bewegung am sparsamsten energetisch zu dienen, sie erschwert auch häufig die Durchführung und verursacht Schmerz (siehe z. B. „Notizen zu Funktionaler Integration, I “, Somatics, Herbst/Winter 1982). Der falsche Gebrauch des Körpers besteht darin, in der Vergangenheit erworbene Muster der Körper­ haltung und der Bewegung zu reaktivieren, wenn nur ein Teil der originalen Situation präsent ist. Lassen Sie mich ein einfaches Beispiel geben. Nehmen Sie an, Sie treten auf ein Stück Glas und zie­ hen sich eine schmerzvolle Wunde an der rechten Sohle zu. Automatisch verlagern Sie den größeren Teil Ihres Gewichtes auf Ihren linken Fuß. Wenn die Wunde lange Zeit braucht, um zu heilen, wird diese ungleiche Verteilung Ihres Gewichtes zur Gewohnheit, eine Gewohnheit, die unter Umständen erworben wurde, als sie ihre beste Alter­ native war. Nachdem die Wunde verheilt ist, bleibt die Gewohnheit möglicherweise bestehen, manch­ mal mit schädlicher Wirkung auf Ihr Becken und Ihre Wirbelsäule. Wenn wir bei der Definition einer neurotischen Reaktion bleiben als eine, in der ein im Vorfeld erwor­ benes Muster unpassend wieder in Kraft gesetzt wird, wenn nur ein Teil der originalen Situation prä­ sent ist, haben wir hier einen Fall von neurotischem Verhalten. Unsere Definition scheint vage zu sein. Feldenkrais fügt hilfreich eine signifikante Einschränkung hinzu: Im voll entwickelten Menschen wählt die Bewusstseinskontrolle unter vorher vorhandenen Mustern, die in früheren Erfahrungen ausgebildet wurden, jenes aus, das zu den gegenwärtigen Umständen am besten geeignet ist. Er irrt sich möglicherweise in der Beurteilung der Eignung der Reaktion. Er wird die Reaktion jeweils ändern, wenn die Situation wiederholt wird. ... Ein Mensch, der beobachtet, dass sich trotz seiner Bewusstseinskontrolle unerwünschte Muster aus früheren Erfahrungen wiederholt wieder in Kraft setzen, benimmt sich neurotisch (ebd., S. 52). Dem obigen Beispiel zufolge sind Sie ein Neurotiker, wenn Sie zwar ihr Gewicht richtig verteilen kön­ nen, aber daran scheitern, es tatsächlich zu tun, da Sie den Mechanismus der Wiederinkraftsetzung nicht überwinden können.

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Die korrekte Gewichtsverteilung kann sowohl durch genügend unterschiedliche ungeplante Erfah­ rungen - besonders, wenn man jung genug ist - oder durch geplante Erfahrungen, z. B. Funktionale Integration, wiederhergestellt werden. Um unsere Klienten dazu anzuleiten, reife Menschen zu werden, sollten wir idealerweise mit allen wichtigen Aspekten ihrer psychophysischen Zustände umgehen, z. B. nicht nur mit ihren Körpern arbeiten, sondern mit ihnen auch die verschiedenen Belastungen zu erörtern, denen sie unterliegen, und, wenn notwendig und wenn die Klienten einverstanden sind, ihre Familien, Arbeitgeber etc. ein­ schalten. Um dies zu tun, würden wir natürlich die richtige Vorbereitung benötigen. Vor vielen Jahren erlebte ich mit, wie Feldenkrais dies mit drastischer Wirkung demonstrierte, als er mit meinem Bruder arbei­ tete (siehe „Erste Begegnungen mit Feldenkrais“, Somatics, Herbst 1980). Hingegen wenn wir mit relativ stabilen Menschen zu tun haben und wenn das Hauptleiden physisch ist, beobachten wir oft, dass die rein körperliche Funktionale Integration - wenn sie richtig ausgeführt wird - so wirksam ist, dass unsere Klienten, nachdem sie eine gewisse Bewusstheit ihrer Körper er­ reicht haben, auch ein gutes Verständnis ihres Problems erreichen können und damit beginnen, es selbst zu lösen, ohne irgendein Gespräch der Selbstanalyse mit uns: Einer meiner Klienten fand heraus, dass er dazu neigte, seine Schulterblätter in Richtung Wirbelsäule zu ziehen, wenn er Angstattacken durchmachte, die daraus resultierten, dass er sich von einem geliebten Menschen sitzengelassen fühlte. Ein anderer Klient, ein zwanghaft pünktlicher Mensch, fand heraus, dass sich seine Rückenmuskeln immer dann heftig zusammenzogen, wenn er einen Bus, einen Lift etc. erreichen musste und Angst hatte, zu spät zu kommen. Mit meiner Hilfe lernten beide, die entsprechenden Muskeln zu beherr­ schen, und ihre Ängste verschwanden. Richtig ausgeführte Funktionale Integration beinhaltet systematische Arbeit an allen Gelenken des Körpers des Klienten, in so vielen Körperhaltungen wie möglich. Mit Klienten, die zum Beispiel an Schmerzen im unteren Rücken leiden, arbeite ich normalerweise zumindest in der Rückenlage, in der Bauchlage, sitzend und knieend, ebenfalls in der Seitenlage des Klienten.

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Nur dadurch können wir hoffen, dass wir den Klienten die ausreichend verschiedenen Erfahrungen geben können, die sie brauchen, um alte Muster zu verwerfen, indem sie neue, eher passende über­ nehmen. Glücklichere „normale“ Menschen bekommen die notwendige Erfahrung, wenn auch in einer willkürlichen, zufälligen, unsystematischen Art und Weise, hauptsächlich in ihrer Kindheit. Der Prozess, wodurch der Klient während des Ablaufs von Funktionale-Integration-Sitzungen „reift", ist ein Lernprozess, der den allgemeinen Gesetzen des Lernens unterworfen ist. Zum Beispiel hinsichtlich des Abstandes der Sitzungen ist klar, dass - wenn möglich - die Zeitinter­ valle zwischen den Sitzungen am Anfang kurz sein sollen, idealerweise 24 Stunden (dies kann eine finanzielle Belastung für den Klienten bedeuten, aber normalerweise zahlt es sich langfristig mehr als aus). Je länger die Erleichterung vom Schmerz andauert, desto mehr können die Intervalle vergrößert wer­ den, bis die Symptome gänzlich verschwinden und unsere Funktionale Integrationsarbeit abgeschlos­ sen ist. In diesem Stadium sollte der Klient dazu ermutigt werden, einer „Bewusstheit durch Bewegung“-Gruppe beizutreten. Schließlich muss den Klienten im Laufe der Funktionalen Integration wiederholt die Gefahr bewusst gemacht werden, das Ausmaß ihres Fortschrittes falsch einzuschätzen. Häufig macht die Erleichte­ rung vom akuten Schmerz sie so euphorisch, dass sie eine angestrengte Aktivität ausführen, bei der sie vor Kurzem noch vorsichtig gewesen wären, sie zu vermeiden und für die sie noch nicht ausrei­ chend vorbereitet sind. Eine Frau Mitte 40, die zu mir mit einem schweren Ischiasfall gekommen war, fühlte sich nach ihrer dritten Sitzung so jung und dynamisch, dass sie - unfähig, der Verlockung zu widerstehen - zum Eisläufen mit ihrem Sohn hinausging: sie stürzte, verletzte sich am Rücken und brauchte ein paar Zusatzsitzungen. Viel ernster war der Fall eines Mannes mittleren Alters, der sich - befreit von lang andauernden psycho-physischen Belastungen - so jung und attraktiv fühlte, dass er sich entschied, sich von seiner Familie zu trennen, was in seinem Fall absolut ungerechtfertigt war. Die psychologische Strafe wurde von seinen Kindern bezahlt. Wenn er oder sie solche Möglichkeiten befürchtet, wäre der Fachmann bzw. die Fachfrau gut beraten, das Tempo zu reduzieren.

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HERAUSGEBERINN EN

Herausgeberinnen

Mayr Elisabeth, Mag.a Pädagogin, Physio-, Tanztherapeutin, S I B-Pädagogin und Diplomierte Assistentin für Spiraldynamik. Weiterbildungen in Manueller Medizin, Sportphysiotherapie, Funktioneller Bewegungslehre, Muskel-Balance, Tuina-Therapie, Cranio-Sacral-Therapie, Biofeedbacktherapie und Bioenergetik. Lehr- und Seminartätigkeit im LKH Villach und LKH Klagenfurt, Frauengesundheitszentrum Kärnten, Magistrat Villach, sowie in der Bundesverwaltungsakademie in Wien. Gründerin und Leiterin des Physiocircles Paulapromenade in Villach.

www.physiocircle.at; [email protected]

Pantucek Gertraud, Mag.a Kultur- und Sozialanthropologin, Diplomsozialarbeiterin, Supervisorin, akad. Referentin für feministische Bildung und Politik, Lehrbeauftragte und Studiengangsleiterin, Bereich Soziale Arbeit, FH St. Pölten. Ausbildung in S I B.

www.fhstp.ac.at; [email protected]

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Sommer Nurit, Dr.in Kultur- und Sozialanthropologin, Körpertherapeutin, Mitbegründern der S I B. Mutter eines erwachsenen Sohnes: Simon Ausbildungsleitung Lehrtrainerin in den dreijährigen S I B-Fortbildungen im Rahmen des ISIB (Institut f. Systemische und Integrative Bewegungslehre), Einzel- und Gruppenarbeit, seit 1989 in freier Praxis tätig. Mitarbeit an zahlreichen gesundheitsfördernden Projekten (z. B.: WHO: Gesundes Krankenhaus), seit 2008 Dozentin an der Wr. Schule f. Osteopathie Ausbildungen: Feldenkraismethode® (Alon Talmi, Eli Wadler), Triggerpoint Anatomy® und Zenbodytherapy® (Dub Leigh und Audrey Nakamura) Fortbildungen: bei zahlreichen Feldenkraislehrerlnnen: Arnos Hetz: Bewegungsstudien, Bones for Life® (R. Alon), Sounder Sleep® (M. Krugman), The Embodied Life® (Russell Delman) bei Miriam Pfeffer, C. Ginsburg u. a. und in verschiedenen Methoden der humanistischen

Psychotherapie: Interkulturelle Familientherapie, Aufstellungsarbeit, NLP, Psychosynthese sowie Atem- und Stimmarbeit Seit 1991 praktiziere ich die asiatische Kampfkunst „Weißes Kranich Silat“ Publikationen: s. Literaturliste

www.isib.org;[email protected]

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AUTORIN NEN

Autorinnen

Hießmanseder Magdalena, Mag.a Jahrgang 1968. Studium der Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien Weitere Ausbildungen: Bewegungsanalytische Tanzpädagogik (Methode Cary Rick), Systemische und Integrative Bewegungslehre 2002-2005, laufend weitere ergänzende Fortbildungskurse im Bereich Tanz, Bewegung, Therapie, seit 2000 als Bewegungspädagogin bei der Lebenshilfe Wien angestellt.

[email protected] Kaiser Sabine Bewegungspädagogin in Systemischer und Integrativer Bewegungslehre® Gebürtige Salzburgerin (Bad Gastein), Jahrgang 1976, seit 1996 in Wien. Jahrelange Tätigkeit in der Werbebranche, Marktforschung, Arbeit bei einem Zeitungsverlag und diverse Büroarbeiten. Seit 2008 bin ich nur mehr im sozialen und Gesundheitsbereich tätig. Ich konnte in den letzten Jahren gute Erfahrungen mit körperlich beeinträchtigten Menschen in Verbindung mit SIB-Arbeit sammeln. Ich arbeite seit 2008 mit SIB in eigener Praxis.

www.bewegungslehre.com - [email protected] Kovacs Judith Jahrgang 1962. Seit 2001 in freier Praxis in Wien tätig als zert. Bewegungspädagogin in Systemischer und Integrativer Bewegungslehre. 15-jähriges Tanztraining in Modern Dance, klassischem und spanischem Tanz, Brazilian- and Cuban Dance. Studium Stimmbildung und Gesang an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Zehnjährige Tätigkeit an internationalen Opernhäusern und als Schlüsselstelle im internationalen Kunst-, und Kulturmanagement. Psychotherapeutin in Ausbildung (personzentrierte Psychotherapie/C. Rogers). Fortbildung zur Focusing-Beraterin (körperzentrierte Psychotherapie/G. Gendlin). Dreijährige Tätigkeit als Leiterin von Selbsthilfegruppen für Menschen mit Depression und Angststörungen. Ausbildung in Spiraldynamik (C. Larsen, Schweiz), myofaszialen Techniken. Zahlreiche Fortbildungen in der Feldenkrais-Lehre (C. Ginsburg, M. Pfeffer, Mia Segal ...) Yoga-Lehrerin nach EYB-Richtlinien (Hatha/Desikachar)

[email protected]

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Magdalena Hießmanseder

Parzer Sabine Tänzerin, Choreographin, ganzheitliche Tanz- und Bewegungspädagogin. Internationale künstlerische und therapeutische Tätigkeit seit über 20 Jahren in den USA, Europa, Israel und Südamerika. Gründerin und Leiterin des Instituts für ganzheitliche Tanz- und Bewegungspädagogik.

Sabine Kaiser

www.holistic-dance.com www.sabfab.com Schmölz Edith Ich arbeite in der Praxis meistens mit orthopädischen und neurologischen Klienten. Durch meine Grundausbil­ dung als Physiotherapeutin kann ich gezielte therapeuti­ sche Übungen in die Behandlungen einfließen lassen. Assistenz- und Unterrichtstätigkeit mit Dr. Nurit Sommer.

Judith Kovacs

[email protected] Schreiner Gudrun Jahrgang 1950, Psychotherapeutin für Systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie, zertifizierte Systemaufstellerin (Österreichisches Forum Systemaufstellungen), Supervisorin, Körperbewusstseinslehrerin für Systemische und Integrative Bewegungslehre in freier Praxis. Mitbegründerin und Lehrtrainerin im Institut für Systemische und Integrative Bewegungslehre/ISIB. Funktionale Integration® (Prof. Alon Talmi) Zenbodytherapy® (Dub Leigh, Audrey Nakamura) Fortbildungen: Hypnotherapie, Atem- und Stimmarbeit, Feldenkrais, Weißes Kranich Silat seit 1993. Praxis: Plüddemanngasse 1, 8010 Graz.

[email protected]

Sabine Parzer

Edith Schmölz

Gudrun Schreiner

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A N H A N G / D AN K VON N U R IT S OM M ER

Dank von Nurit Sommer Zu danken ist Alon Talmi, dessen Wissen S I B-Pädagoglnnen bis heute vielfach beschäftigt, inspiriert und ermutigt. Er hat die Grundlage zu dieser Arbeit geschaffen. Seine Großzügigkeit und sein Wissen, dass ein/e gute/r Lehrerin eine/r ist, dessen/deren Schülerinnen über sein/ihr eigenes Wissen hinaus­ gehen, hat die Entwicklung der Systemischen und Integrativen Bewegungslehre® erst ermöglicht. Es ist mir gelungen, mit ihm (fast) alle seine Lektionen auf Video zu dokumentieren. Damit gehen sie auch weiteren Generationen in ihrer Originalität nicht verloren. Sie werden in den S I B-Trainings und vor allem zur Fortbildung der S I B-Pädagoglnnen eingesetzt. Gudrun Schreiner, meiner langjährigen Mitstreiterin, danke ich herzlich für all ihr Wissen aus dem systemisch-familientherapeutischen Arbeiten, ihre Ausdauer und Beharrlichkeit, für ihren Humor und ihre Bodenständigkeit. Ohne sie wäre S I B nicht, was sie geworden ist. Ganz besonders zu danken ist den beiden Mitherausgeberinnen Gertraud Pantucek und Elisabeth Mayr für ihr Wohlwollen, ihre Geduld und ihre Bereitschaft, die vielen zur Verfügung stehenden Texte zu ordnen und unermüdlich Stringenz einzufordern! Ohne ihre Ermunterung und Ausdauer hätten die meisten meiner Texte ihr Leben in meinem Datenspeicher gefristet! Herzlichen Dank an Frau Roswitha Baba für die schöne grafische Gestaltung und Ihre Bereitschaft unsere vielen Änderungswünsche so kreativ umzusetzen. Vielen Dank Frau Wawerda für das Lektorat. Ebenfalls Dank an Lisa Gaupmann: Von ihr wurden Alon Talmis englische Originaltexte erstmals ins Deutsche übersetzt. Bärbl und Peter Weissensteiner möchten wir ganz besonders danken für die schönen Fotos der Lektionen, die sie in unvergleichlicher Atmosphäre von Gastfreundschaft und Professionalität gemacht haben! Ein herzliches Danke an Simon, meinen Sohn, für die spontane Bereitschaft, die Naturaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Christoph Stobl, mein Neffe, hat drei sehr prägnante Fotos beigesteuert. Ich danke unseren beiden Co-Trainerinnen des S I B-6-Trainings Alexandra Dietrichsteiner und Edith Schmölz für jeweils sehr verschiedene Verbesserungen in den Ausbildungen, die sie mit zusätzlichem

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anatomischem Wissen auf anschauliche Weisen unterrichtet haben, und auch für viele wunderbare Bewegungsstunden! Danke an Sabine Kaiser, unsere derzeitige S I B-Sekretärin, die selbst S I B praktiziert und die für die derzeitige S I B-interne Kommunikation und Organisation so wichtig ist! Mein herzlicher Dank gilt auch allen unseren Schülerinnen, die im Rahmen von mittlerweile sechs jeweils dreijährigen Fortbildungskursen in bisher 18 Jahren mit uns gelernt haben. Jede/r hat in eigener Weise durch das uns geschenkte Vertrauen, durch die Vielfalt der Schätze des mitgebrachten Lebens allen Beteiligten Möglichkeiten des Lernens, der Bewusstwerdung und Erweiterung erlaubt. Danken möchte ich auch allen Klientinnen, die durch ihre vielen Anliegen und Fragestellungen, die oftmals an Grenzen führten und darüber hinaus zu immer weiteren Fragen und Antworten und neuen Fragen ... Ein Danke geht auch an Martina Büwendt aus der ersten S I B-Gruppe, die in Zeiten, als es noch keine PCs gab, sich unermüdlich für Kommunikation unter den S I B-Pädagoglnnen eingesetzt hat durch die Fierausgabe des sog. ConText, eines S I B-internen Rundbriefs. Ein großes Dankeschön an Michaela Strobl und Katharina Scholz-Manker, die Teile des Textes genau gelesen und kommentiert und manchen Verlauf der Arbeit auf verschiedenste Weise unterstützt haben! Brigitte und Ernst Reepmaker danken wir ganz herzlich für das zur Verfügungstellen ihres wunderbaren Seehauses, in dem es sich besonders kreativ schreibt! Auch Elisabeth Mayr hat ihr Flaus am See und in der Stadt Villach für viele Treffen, Diskussionen und Arbeiten am S I B-Buch sehr gastfreundlich geöffnet und gemeinsam mit Gertraud Pantucek immer wieder zum Weiterarbeiten eingeladen und den Prozess weitergeführt. Und last but not least: einen innigen Dank an Dich, Rupert. Durch Deine unermüdliche Unterstützung und unvergleichliche Umsicht auf vielen Ebenen ist dieses Buch möglich geworden!

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Wo dieses Tier war, führt eine breite Spur. Dennoch ist es gutmütig, es versteht Spaß. Es ist ein guter Freund, wie es ein guter Feind ist. Sehr groß und schwer, ist es doch auch sehr schnell. Sein Rüssel führt einem enormen Körper auch die kleinste Speise zu, auch Nüsse. Seine Ohren sind verstellbar: Er hört nur, was ihm passt. Er wird auch sehr alt. Er ist gesellig, und dies nicht nur zu Elefanten. Überall ist er sowohl beliebt als auch gefürchtet. Eine gewisse Komik macht es möglich, dass er sogar verehrt werden kann. Er hat eine dicke Haut, darin zerbrechen Messer; aber sein Gemüt ist zart. Er kann traurig werden. Er kann zornig werden. Er tanzt gern. Er stirbt im Dickicht. Er liebt Kinder und andere kleine Tiere. Er ist grau und fällt nur durch seine Masse auf. Er ist nicht essbar. Er kann gut arbeiten. Er trinkt gern und wird fröhlich ... B ert B re ch t

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Dieses Buch beginnt mit einer Geschichte über Elefanten. Es erzählt über die Empfindsamkeit des menschlichen Körpers, des „lächelnden Elefanten". Die darin innewohnende Körperweisheit und das Körpergedächtnis bauen ressourcenreiche Brücken zu Lern- und Selbstheilungsmöglichkeiten. Bewusste Berührung, Bewegung, Sprache und Wahrnehmung zeigen Wege der unermesslichen Kreativität dabei. Es ist ein Buch über SYSTEMISCHE UND INTEGRATIVE BEWEGUNGSLEHRE® (SIB). SIB wird dieser uns allen innewohnenden Vielfalt gerecht in gesundheitsfördernder, innovativer und ganzheitlich heilsamer Weise. Sie lernen die Wurzeln und Entstehungsgeschichte dieser Methode und die Menschen, die dazu beigetragen haben, kennen: Alon Talmi, früher Weggefährte von Moshe Feldenkrais, Nurit Sommer und Gudrun Schreiner. Ein anschaulicher Praxisteil macht Sie mit den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von SIB vertraut.

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