Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus Band IV [1 ed.] 3787335390, 9783787335398

Der vierte Band der Reihe »System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus« nimmt die Entwicklung der Systembegri

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Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus Band IV [1 ed.]
 3787335390, 9783787335398

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Systeme In Bewegung Systembegriffe Um 1800-1809
I. Fichte: Die Wissenschaftslehre Nach 1800
»ein Ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung Des Absoluten Als Wissen Beim Mittleren Fichte
Expanding the Wissenschaftslehre 1799-1802. Strategie Makeover or Neubau?
Fichtes Begründung Der Erscheinungslehre Im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804
II. Schelling: Vom System Zum Ungrund
Der »sinn, Mit Dem Diese Art Der Philosophie Aufgefaßt Werden Muß!«. Zur Problematik Des Systemabschlusses In Schellings (1800)
Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809
>Philosophielogische< Potenziale in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801)
Von der Negativität zum Ungrund
III. Hegels Jenaer Systemexperimente
System, Subjekt Und Die Idee Der Absoluten Wissenschaft Bei Hegel
Hegels Begriff Der Substanz 1804/05 In Absetzung Von Kant, Fichte Und Spinoza
Die Anerkennung Der Arbeit. Bemerkungen Zu Hegels Praktischer Philosophie Ausgehend Von Der Philosophie des Geistes von 1805/1806
IV. Hegel: Das Werden Des Systems
Die Systematische Stellung Der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk
Selbstkonstruktion des Absoluten und Spannungen im System. Hegels Systemkonzept im Werden
>Ich< als Prinzip der Philosophie.Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken
V. Jacobi Und Reinhold Nach 1800
System Und Zeitlichkeit. Jacobi Im Streit Mit Hegel Und Schelling
Denken Statt Vorstellen. überlegungen Zu Reinholds Parteinahme Für Ein System Des Rationalen Realismus
VI. Schlegel Und Schleiermacher: Die Systemkonzeption In Der Romantik Nach 1800
Friedrich Schlegels Theorie Des Bewusstseins In Den 1804/05
Das Systematische Reale Und Seine Ideale Darstellung. Zum Systembegriff In Schleiermachers
Schleiermachers Systemgedanke Und Der Deutsche Idealismus
Personenverzeichnis

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Violetta L. Waibel | Christian Danz Jürgen Stolzenberg (Hg.)

Systembegriffe um 1800-1809 Systeme in Bewegung

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System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 4

SYST E M DER V E R N U N F T KANT UND DER D E U T S C H E I D E AL I S M U S

Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Jürgen Stolzenberg Violetta L. Waibel Band 4

Kant-Forschungen Band 24

F E L I X M EI N E R V ERLA G H AM BU RG

S Y S T E M B E G R I F F E UM 1800-1809 S Y S T E M E IN B E W E G U N G

Herausgegeben von VIOLETTA L. W A IBEL CHRISTIAN DANZ UND JÜRGEN STOLZENBERG

F E L I X M EI N E R V ERLA G HAMB URG

Bibliographische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-3539-8 ISBN eBook 978-3-7873-3540-4 © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. Alle Rechte, auch die des auszugs­ weisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Überset­ zung, Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertra­ gung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Reemers Publis­ hing Services GmbH, Krefeld. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Ge­ druckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

IN H A LT

Vorwort Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

Einleitung: Systeme in Bewegung........................................................

1

L FICHTE: DIE W ISSENSCHAFTSLEHRE NACH 1800 Günter Zoller

»Ein ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren F ich te.........................................................................................

11

Daniel Breazeale

Expanding the Wissenschaftslehre 1799-1802. Strategie Makeover or Neubau? ............................................................

31

Stefan Lang

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 .............................

59

II. SCHELLING: VOM SYSTEM ZUM UNGRUND Hans Feger

Der »Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß!«. Zur Problematik des Systemabschlusses in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800)...............................

81

Christian Danz

Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809...................

97

VI

Inhalt

Peter Gaitsch

>Philosophielogische< Potenziale in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801)........

117

Philipp Schwab

Von der Negativität zum Ungrund: Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift ..

131

III. HEGELS JENAER SYSTEMEXPERIMENTE Klaus Erich Kaehler

System, Subjekt und die Idee der absoluten Wissenschaft bei H e g e l...........................................................................

157

Violetta L. Waibel

Hegels Begriff der Substanz 1804/05 in Absetzung von Kant, Fichte und Spinoza.....................................

183

Othmar Kästner

Die Anerkennung der Arbeit. Bemerkungen zu Hegels praktischer Philosophie ausgehend von der Philosophie des Geistes von 1805/1806 .....................................

IV.

215

HEGEL: DAS WERDEN DES SYSTEMS

Jean-Frangois Kervegan

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk...........................................................................................

245

Jörg Dierken

Selbstkonstruktion des Absoluten und Spannungen im System. Hegels Systemkonzept im W erden......................................................

265

Holger Gutschmidt

>Ich< als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken___

283

Inhalt

VII

V. JACOBI UND REINHOLD NACH 1800 Birgit Sandkaulen

System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling............................................

299

Martin Bondeli

Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme für ein System des Rationalen Realismus........................................................

317

VI. SCHLEGEL UND SCHLEIERMACHER: DIE SYSTEMKONZEPTION IN DER ROMANTIK NACH 1800 Jure Zovko

Friedrich Schlegels Theorie des Bewusstseins in den Kölner Vorlesungen 1804/05..........................................................

341

Andreas Arndt

Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre..........................................................

353

Ulrich Barth

Schleiermachers Systemgedanke und der Deutsche Idealismus...

369

PERSONENVERZEICHNIS

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VORWORT

Mit diesem Band liegt der vierte der Reihe »System derVernunft - Kant und der Deutsche Idealismus« vor. Die Bände dokumentieren die Er­ gebnisse von Internationalen Tagungen, die seit 1997 an der Universität Wien stattfinden. Die Reihe verfolgt das Ziel, das mit Kants System ein­ setzende, durch die nachkantischen Denker vorangetriebene, äußerst dichte Aufkommen von philosophischen Systembildungen in diachroner und synchroner Perspektive zu untersuchen. Während der erste Tagungsband dem Verhältnis von Architektonik und System in der Phi­ losophie Kants gewidmet ist, geht der zweite Band den Systemkonzep­ tionen im Frühidealismus im Verhältnis zur Systematik Kants nach. Der dritte Band untersucht die unterschiedlichen Systembegriffe um 1800. Der vorliegende vierte Band der Reihe nimmt die Entwicklung der Systembegriffe nach 1800-1809, fokussiert auf das Thema >Systeme in BewegungPhilosophielogische< Poten­ tiale in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie< (1801) Schel­ lings Systemkonzeption von 1801 zu und arbeitet im Anschluss an Eric Weil eine Rekonstruktionsperspektive aus, welche deren Architektur erschließt. Die paradoxale Pointe von Schellings Identitätssystem liege darin, dass das als absolute Identität konstruierte Absolute zwar seine Darstellung fordert, jedoch als solches selber nicht dargestellt wer­ den kann. Erst aus dieser Interpretationsperspektive kann Schellings Selbsteinschätzung der Schrift von 1801 angemessen gewürdigt wer­ den. Philipp Schwab geht in seinem Beitrag Von der Negativität zum Ungrund. Hegels >Phänomenologie des Geistes< und Schellings >Freiheitsschrift< den Nachwirkungen von Hegels Schelling-Kritik in der Vorrede der Phäno­ menologie des Geistes sowie in der Freiheitsschrift nach. In beiden Werken, so Schwabs These, werde auf unterschiedliche Weise »die Struktur des Absoluten aus einer Theorie der Differenz konzipiert«. Im ersten Teil des Beitrags wird Hegels Konzept der Negativität mit Blick auf Schellings Identitätsphilosophie untersucht, daran anschließend wird Schellings Bestimmung des Gottesgedankens in der Freiheitsschrift als Antwort auf die Kritik seines Jugendfreundes expliziert. Im Unterschied zu Hegel Systemkonzeption werde das Absolute von Schelling allerdings als Ent­ zug gefasst.

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

3. Hegels Jenaer Systemexperimente Der Beitrag System, Subjekt und die Idee der absoluten Wissenschaft bei Hegel von Klaus Erich Kaehler rekonstruiert Stationen des Weges, der zu Hegels Idee eines Systems der Philosophie geführt hat, wie sie in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes formuliert wird. Vor der Folie des Kont­ rastes zwischen der antiken Auffassung vom Logos als Seiendem, der adäquat nur dem göttlichen Nous zugänglich ist und der neuzeitlichen Auffassung von einer sich selbst begründenden Vernunft lässt sich He­ gels Weg zur Idee eines Systems der Philosophie als der Weg verste­ hen, der, vermittelt über seine Kant- und Fichte-Kritik, zu der Einsicht führt, dass die Vernunft sich selbst als universales Prinzip dessen, was in Wahrheit wirklich ist, begreifen muss. Das bedeutet, dass die Ver­ nunft die Unterscheidungen, die die Sphären des Wirklichen konstitu­ ieren, als diejenigen Differenzen begreifen muss, in denen sie sich sel­ ber darstellt und realisiert. Die Jenaer System entwürfe sind als Stufen der Ausarbeitung dieser Idee zu verstehen. Deren Ausdruck ist Hegels Begriff des Geistes, dessen Wirklichkeit die »absolute Wissenschaft« ist. Violetta L. Waibel rekonstruiert in ihrem Beitrag Hegels Begriff der Sub­ stanz 1804/05 in Absetzung von Kant, Fichte und Spinoza Hegels Konzep­ tion der Substanz in seinem Jenaer Systementwurf von 1804/05. Offen­ kundig orientiert sich Hegel hier zu allererst an Kants Kategorie der Substanzialität, gleichwohl steht bereits eine deutliche Dynamisierung der Substanz im Blick, die sich nicht zuletzt auch der Abarbeitung an Fichtes früher Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre verpflichtet weiß. Kant und Fichte entgegen hat Hegel bereits einen Entwurf im Blick, wo­ nach die Vereinzelung der Elemente von der Philosophie überwunden werden müsse zugunsten eines lebendigen Ganzen. Das hat in der Be­ gründung einer echten spekulativen Synthesis zu geschehen; sie muss aus dem Zusammenhang heraus gewonnen werden, in dem die einzel­ nen Elemente wirken. Die Untersuchung betont Hegels Überlegungen zur Verknüpfung der Substanzialität mit den Modalkategorien in den Systementwürfen von 1804/05, mit denen der von Kant intendierte enge systematische Zusammenhang von Kausalität und Notwendigkeit im System der Grundsätze in ein neues Licht gerückt wird. Gleichwohl zeichnet sich schon hier im Systementwurf von 1804/05 die Konver­ genz von Substanz und Subjekt ab, die in der Phänomenologie des Geistes prominent werden wird. Hegels Begriff der Arbeit stellt schon früh eines der systematischen Zentren seiner praktischen Philosophie dar. Er begegnet in den Jenaer

Einleitung: Systeme in Bewegung

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Vorlesungen zur Philosophie des Geistes von 1803/04 und 1805/06, sodann prominent in der Phänomenologie des Geistes und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Beitrag von Othmar Kästner zum Thema Die Anerkennung der Arbeit. Bemerkungen zu Hegels praktischer Philosophie aus­ gehend von der Philosophie des Geistes von 1805/06 analysiert Hegels Be­ griff der Arbeit in der Philosophie des Geistes von 1805/06. Hier sind zwei Bedeutungen leitend: Arbeit des Geistes ist für Hegel zunächst die in­ tentionale Tätigkeit der Benennung von Dingen mit Namen. Arbeit ist

aber auch das praktische Verhalten, das sich im Erzeugen und Gestal­ ten von Dingen realisiert. Damit wird Arbeit zur Ermöglichung von Freiheit. In dieser Konzeption ist Hegels Kritik der romantischen Auf­ fassung von Freiheit als Freisein von Arbeit begründet, die, wie Käst­ ner deutlich macht, in Eichendorffs spätromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts eine dichterische Darstellung gefunden hat. Auf der Grundlage des aus dem Begriff der Arbeit zu gewinnenden Kon­ zepts der Anerkennung einer Person als arbeitender Person plädiert Kästner am Ende gegen Hegel für die Anerkennung häuslicher Tätig­ keiten als Arbeit.

4. Hegel: Das Werden des Systems Von Anfang an war die Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels System der Philosophie nicht eindeutig, und auch Hegels Programm, dass das System der Philosophie die Selbsterkenntnis des Geistes dar­ stellen soll, hat mehrere Interpretationen erfahren. Mit Blick auf die aktuelle Forschungslage geht der Beitrag Die systematische Stellung der >Phänomenologie des Geistes< von Jean-Frangois Kervegan den damit verbun­ denen systemlogischen Fragen noch einmal genauer nach. Schon früh hat unter anderem der Umstand für Irritation gesorgt, dass Hegel im Geist- und Religionskapitel Teile seiner Philosophie des Geistes aufge­ nommen hat, was mit der Funktion einer Einleitung kaum vereinbar scheint. Kervegan zeigt, dass sie deswegen integrale Teile der Phänome­ nologie des Geistes sind, weil sie als »Gestalten des Bewusstseins« defiziente Formen der Geiststruktur sind, deren Wahrheitsanspruch kritisiert und überwunden werden muss. Hegels These, die Phänomenologie sei die Voraussetzung des Systems, sollte in der Sicht Kervegans mit Blick auf ihre Stellung in der Enzyklopädie aufgegeben werden, wenngleich die Aufgabe der Phänomenologie, den Dualismus des Bewusstseins zu überwinden, für Hegel weiterhin relevant geblieben ist.

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

Mit Blick auf die oft wiederholte Kritik gegenüber Hegels geschlos­ senem philosophischen System plädiert Jörg Dierken in seinem Beitrag Selbstkonstruktion des Absoluten und Spannungen im System Hegels. System­ konzept im Werden für die Vereinbarkeit von systemischer Totalität und

einer »Offenheit für Anderes«. Dies geschieht zum einen durch eine Erinnerung an die Grundstruktur von Hegels Geistbegriff, die als »rei­ nes Selbsterkennen im absoluten Anderssein« bestimmt ist, zum ande­ ren mit Verweis auf Hegels Konzeption einer prozessualen Rationalität. Beide Aspekte sind in Hegels Begriff eines Systems der Philosophie, wenngleich auf problematische Weise, verbunden. Im Ausgang von He­ gels Systemfragment von 1800, das hinsichtlich der Bestimmung des Be­ griffs des Absoluten den Primat der Religion vor der Philosophie ver­ tritt, aber die Trennung von Reflexion und Leben nicht zu überwinden vermag, erscheint die von Hegel in der Differenzschrift skizzierte Idee einer Selbstkonstruktion des Absoluten und die ihr zugrundeliegen­ de operative Grundfigur einer selbstbezüglichen Negation als Über­ windung dieser Problematik. Spannungen ergeben sich indessen aus der unvermittelten Differenz zwischen dem Absoluten und den For­ men des Wissens. Auch die Jenaer Systementwürfe gelangen hinsicht­ lich der Explikation des Absoluten in der Form eines Systems nicht zu einem befriedigenden Ergebnis. Aufgrund der inhaltlichen Leere der absoluten Idee in Hegels Wissenschaft der Logik, in der die Unterschiedenheit des Endlichen nicht mehr erkennbar ist, plädiert Dierken im Anschluss an die Konzeption der Phänomenologie für eine Philosophie des Geistes, die als eine offene Selbstdarstellung des Geistes in den Gestalten von Subjektivität, Sozialität und symbolischer Darstellung zu konzipieren ist. Der Beitrag »Ich« als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer Systemdenken von Holger Gutschmidt geht von dem Be­ fund aus, dass der Einigkeit darüber, dass Hegel in seiner Jenaer Zeit das Projekt einer Theorie metaphysischer beziehungsweise absoluter Subjektivität verfolgt hat, kein Konsens über die Bedeutung zentraler Begriffe wie Subjektivität und Geist und der damit verbundenen Ausdrü­ cke wie Subjekt, Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein und Ich entspricht. Die Verständigung über die vielfältigen Weisen, über Subjektivität zu sprechen, ist daher eine notwendige Bedingung für das Verständnis von Hegels Jenaer subjektivitätstheoretischer Konzeption. Auf der Grundla­ ge einer diesbezüglichen Analyse zeigt Gutschmidt, dass Hegel in den Jenaer Systementwürfen III von 1805/06 mit Bezug auf die Philosophie als letzter und höchster Form der Selbsterkenntnis des Geistes den Aus-

Einleitung: Systeme in Bewegung

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druck »Ich« verwendet, der eine konkrete, ihrer selbst bewusste Per­ son bezeichnet, die mit dem Wissen des Absoluten identisch ist und dies auch weiß. Im Jenaer Systementwurf III verbindet Hegel die Theo­ rie der Selbsterkenntnis des Absoluten ausdrücklich mit Sachverhal­ ten menschlicher Subjektivität. Das individuelle, seiner selbst bewusste Subjekt erscheint hier zum ersten Mal als diejenige Instanz, die es er­ laubt, die Wirklichkeit des Geistes und seiner Selbsterkenntnis auszu­ sagen. Das bedeutet, dass die Selbsterkenntnis des Menschen vollstän­ dig nur unter der Form desjenigen philosophischen Systems möglich ist, das Hegel in der Folge entwickelt hat.

5. Jacobi und Reinhold nach 1800 Die zentrale Bedeutung Friedrich Heinrich Jacobis für den Gang der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant ist in der Forschung erst relativ spät erkannt worden. Der Beitrag von Birgit Sandkaulen: System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling bietet einen Ein­ blick in die Debatte zwischen Jacobi, Hegel und Schelling über die Möglichkeit einer philosophischen Theorie der Zeit, insbesondere der Zeitlichkeit der endlichen menschlichen Existenz. Bezugspunkt dieser Debatte ist die Ethik Spinozas und die in ihr entwickelte Theorie der Zeit. Im Ausgang von einer argumentationslogischen Darstellung der verschiedenen Positionen und ihrer Spinoza-Interpretationen sucht der Beitrag zu einer Entscheidung über die Berechtigung der Positio­ nen und ihrer polemischen Bezüge zu gelangen. Dabei zeigt sich zum einen, dass Hegels prominente Jacobi-Kritik in Glauben und Wissen, derzufolge Jacobi das zeitliche Entstehen und Vergehen für etwas an sich Wirkliches halte, was es in Wahrheit nicht sei, ebenso verfehlt ist wie seine Spinoza-Interpretation, die Spinozas Unterscheidung zwischen einer realen, ewigen Existenz der Substanz und der aktualen Existenz der Modi nicht berücksichtigt. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Hegel auch Jacobis eigene Spinoza-Kritik nicht wahrgenommen hat. Zum anderen zeigt sich, dass Hegels verfehlte Jacobi-Kritik und Spi­ noza-Interpretation Schellings Identitätsphilosophie verpflichtet sind. Unter dieser Perspektive ist es bemerkenswert, dass Hegel in der Phä­ nomenologie des Geistes Schelling mit Argumenten entgegentritt, die den­ jenigen Jacobis auffallend ähnlich sind. Und wie ein Eingeständnis der Fehleinschätzung von Jacobis Insistieren auf einer selbständigen Be­ gründung der Zeitlichkeit menschlicher Existenz erscheint Schellings

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

späteres Wort, dass die Zeit »der Anfangspunkt aller Untersuchungen in der Philosophie« sei. Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme fü r ein System des Rationalen Realismus lautet der Beitrag von Martin Bondeli.V on

»Systemen in Bewegung« zu sprechen, ist auch mit Blick auf die phi­ losophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds angemessen und sinnvoll. Die Phasen der Bewegung in Reinholds Philosophieren sind die frühe Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, die den Gang der Philosophie nach Kant bekanntlich entscheidend geprägt hat, sodann Reinholds Anschluss an die Fichte'sche Wissenschaftslehre, ge­ folgt von seiner Sympathie für die Philosophie Jacobis, die durch die Verteidigung von Bardilis Rationalem Realismus in den Jahren nach 1800 abgelöst wird, und schließlich das späte sprachphilosophische Projekt einer Synonymik. Der Beitrag von Martin Bondeli konzentriert sich auf Reinholds Plädoyer für Bardilis Rationalen Realismus.Vör dem Hintergrund von Reinholds philosophischer Entwicklung und mit Blick auf die zeitgenössische Theorielage geht Bondeli unter anderem der Frage nach, wie Reinholds Übergang vom Paradigma des Vorstellens zu dem eines objektiven Denkens, dem sogenannten »Denken des Denkens«, zu beurteilen ist und wie sich dieser Schritt zur Philoso­ phie Kants verhält. Bondeli zeigt, dass hier entscheidende Motive in Reinholds Interpretation der kantischen Ideenlehre auszumachen sind. Reinholds Konzeption, die für den Rationalen Realismus grundlegend ist, der zufolge Denkbestimmungen im Sinne von Hypothesen auf ein normatives Prinzip der Identität von Denken und Sein zurückgeführt werden, ergibt sich aus einer Uminterpretation der regulativen Funk­ tion von Kants Ideenbegriff zu einem als Ideal verstandenen erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Identitätsprinzip. Es ist Ausdruck des Gedankens, dass wahres Wissen sich auf einen Sachverhalt bezieht, der von subjektiven Vorstellungen unabhängig für sich besteht.

6. Schlegel und Schleiermacher: Die Systemkonzeptionen in der Romantik nach 1800 Jure Zovko untersucht in seinem Beitrag Friedrich Schlegels Theorie des Bewusstseins in den ,Kölner Vorlesungen' 1804/05 die Kritik am Systembe­ griff, die Friedrich Schlegel in eben diesen Vorlesungen ausgeführt hat,

in einer werkgeschichtlichen Perspektive. Diese Vorlesungen, welche in eine Übergangsphase von Schlegels Denken fallen, arbeiten eine

Einleitung: Systeme in Bewegung

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Theorie des Bewusstseins aus, die das faktische Leben in der Vielfäl­ tigkeit seiner Formen erkunden soll. Mit diesem Verständnis verbindet sich eine Kritik an der idealistischen Philosophie, deren Systemgedan­ ke wesentliche Motive der am Ding-Gedanken orientierten vorkriti­ schen Ontologie fortschreibt. Aus diesem Grund ersetzt Schlegel das Selbstbewusstsein als Prinzip durch das Selbstgefühl, welches seinen entsprechenden Ausdruck in der Sprache findet. Andreas Arndt rekonstruiert in seinem Beitrag Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers G ru n d ­ linien einer Kritik der bisherigen Sittenlehm Schleiermachers Begriff des Systems vor dem Hintergrund von dessen Reden Über die Religion. Ob­ wohl die Reden keinen Systembegriff explizieren, vertritt Schleierma­

cher dennoch nicht wie Friedrich Schlegel die These von einer Parado­ xie des Systems der Systemlosigkeit. Erst in den Grundlinien, die rein negativ verfahren, arbeitet Schleiermacher einen Begriff von Systematizität des Systems aus. Dabei bleibt das ideale System derVernunft auf das reale bezogen, wobei Letzteres allein ideal dargestellt werden kann. In einer umfassenden problemgeschichtlichen Perspektive rekon­ struiert schließlich Ulrich Barth in seinem Beitrag Schleiermachers Sys­ temgedanke und der Deutsche Idealismus Schleiermachers Verständnis des Systems in einem dreifachen Zugriff. Zunächst wird Schleiermachers Systemgedanke der Glaubenslehre in die Entfaltung des Systembe­ griffs seit der altprotestantischen Theologie eingezeichnet. Sodann wird der methodische Systembegriff der Dialektik sowie der Philosophischen Ethik vor dem Hintergrund der Kontroversen über die Begründung und Entfaltung der Systeme bei Kant, Reinhold und Fichte untersucht. Auf dieser Grundlage arbeitet Barth schließlich drittens die These aus, dass Schleiermachers dogmatische Beschreibung des christlichen Bewusst­ seins in der Abfolge von Christologie, Soteriologie und Pneumatologie als Übertragung von Fichtes Auffächerung des Prinzipiengedankens der frühen Wissenschaftslehre zu verstehen sei.

I. FICHTE: DIE W ISSENSCHAFTSLEHRE NACH 1800

G ü n te r Z oller

»Ein ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte Die Systeme scheinen, wie Gewürme, durch eine generatio aequivoca, aus dem bloßen Zusammenfluß von aufgesammelten Begriffen, anfangs verstümmelt, mit der Zeit vollständig, gebildet worden zu sein [..J.1

Der Beitrag erörtert die eigentümliche Bewegtheit der nachkantischen Systeme und speziell die Systembewegung Fichtes in den Jahren 1800 bis 1807 im Rückgriff auf die zeitgenössische organische Modellierung der systematischen Philosophie. Der erste Abschnitt behandelt die Be­ wegung philosophischer Systeme in der Perspektive der emergierenden Biologie des späten achtzehnten Jahrhunderts. Der zweite Abschnitt ex­ poniert die spezifisch philosophische Bewegung der klassischen deut­ schen Systeme in der doppelten Perspektive von Systementwicklung und Systemkonkurrenz. Der dritte Abschnitt beschreibt die Systembe­ wegung des mittleren Fichte mit den Mitteln der epigenetischen Auf­ fassung von organischer Entwicklung.

1. Die Bewegung philosophischer Systeme Zu behaupten, wie es der Titel des vorliegenden Bandes im Hinblick auf seinen Gegenstand tut, dass philosophische Systeme in Bewegung sind, heißt - dem physikalischen Begriff der Bewegung zufolge dass die Systeme äußerlich ihren Ort und innerlich die Lage ihrer Bestand-1

1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. JensTimmermann. Hamburg 1998, A 835/B 863.

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Günter Zoller

teile zueinander in der Zeit verändern. Es könnte dies zunächst als eine bloße fagon de parier erscheinen. Einem geistigen Gebilde werden in metaphorischem Sprachgebrauch und insofern nur uneigentlich und nicht ganz im Ernst Eigentümlichkeiten und Eigenschaften zugespro­ chen oder zugeschrieben, die streng genommen nur auf das räumlich­ zeitliche Verhältnis zwischen materiellen Gegenständen zutreffen und die deshalb eigentlich auch nur von Dingen im Raum und in der Zeit ausgesagt werden können. Zu begründen wäre die vorgenommene Übertragung dann etwa im Hinblick auf die charakteristischen oder typischen Veränderungen, denen das menschliche Denken unter Ein­ schluss des philosophischen Denkens generell unterliegt. Erkenntnisse erfahren Revision, Einsichten Korrektur, Ansichten Verbesserung. Sol­ che Prozesse späterer Einsicht, nachträglicher Korrektur und verbes­ serter Ansicht finden in der Zeit statt und dies so, dass die neueren und verbesserten Erkenntnisse an die Stelle der älteren und vorherigen treten. Die Änderung von Einsichten, die Veränderung von Erkenntnis­ sen, die Verbesserung von Ansichten bringt sozusagen Bewegung in das Denken und seine Leistungen, darunter auch in die denkerischen Gipfelleistungen philosophischer Systematik. Doch die Rede von den >Systemen in Bewegung< besagt mehr und Spezifischeres als die Übertragung der in der Zeit verlaufenden Verän­ derungen des Denkens auf den Zeitcharakter, die zeitliche Verfasstheit oder die Zeitlichkeit des Gedachten und speziell des philosophischen Gedankens. Mit der Auszeichnung philosophischer Systeme - und spe­ ziell der philosophischen Systeme im ersten Jahrzehnt des neunzehn­ ten Jahrhunderts - als in Bewegung befindlich, wird die dynamische Verfassung philosophischer Systeme im Allgemeinen und die spezifi­ sche Systemdynamik der Philosophie im genannten Zeitraum im Be­ sonderen zum Ausdruck gebracht. Die Kennzeichnung der Bewegtheit des philosophischen Denkens unter der Gestalt philosophischer Sys­ teme entspringt nicht äußerer, späterer, retrospektiver philosophiege­ schichtlicher Beschreibung, sondern reflektiert das Selbstverständnis systematischen philosophischen Denkens, insbesondere von dessen Stand und Gang zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Die den Systemen für die Zeit von 1800 bis 1809 zuzuschreibende spezifische Bewegung gründet in der generischen Bewegung, die dem systematischen Philosophieren als solchem zukommt. Die Systeme der Philosophie unterliegen nicht erst nachträglich und zusätzlich der Be­ wegung, insofern sie der Veränderung und dem Wechsel unterliegen. Vielmehr sind die Systeme als solche von Bewegung geprägt, und dies

Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte

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sowohl in ihrem ursprünglichen Zustandekommen wie in ihrer fort­ gesetzten Entfaltung. Allerdings ist die genaue Art der intrinsischen Bewegtheit philosophischer Systeme mit dem metaphorisch herange­ zogenen Begriff der Bewegung nur erst annäherungsweise erfasst. Im Selbstverständnis der Hauptvertreter systematischen Philosophierens um 1800 tritt in der metaphorisch artikulierten Methodenreflexion zum physikalischen Bewegungsbegriff der Ortsveränderung in der Zeit zu­ sätzlich die Kennzeichnung der systematischen Bewegung als selbstän­ dig, als selbstgewirkt und selbstbezüglich hinzu. Damit erweitert sich der zunächst rein kinetische Bewegungsbegriff des systematischen Philosophierens um 1800 zu einem Konzept von systematischer Bewegung und bewegend-bewegter Systematik, das in der Tradition biologischen und speziell zoologischen Denkens steht. Aristoteles hatte den auszeichnenden Charakter der Lebewesen, ge­ nauer: der Tiere (zoa), in deren Befähigung zu eigeninitiierter Ortsver­ änderung gesehen und damit den Unterschied der Tierwesen sowohl von den örtlich fixierten Pflanzen wie von den gänzlich unbelebten Dingen angegeben. Tiere sind nicht nur beweglich, sondern bewegend, indem sie sich selbst in Bewegung setzen und über eigene Bewegung auch anderes, etwa Unbelebtes, in Bewegung zu setzen fähig sind. Mit der rapiden und radikalen Fortentwicklung der Theoriebildung über die Lebensprozesse, die das achtzehnte Jahrhundert zum Säkulum der Biologie avant la lettre werden lässt, verändert und vertieft sich auch das quasi-biologische Selbstverständnis philosophischer Systematik und systematischen Philosophierens. Die emergierenden Lebenswissenschaften des achtzehnten Jahrhunderts liefern mit ihrer kontrovers ausgestalteten Theorie der Keime ein wissenschaftliches Modell für den Entwicklungsprozess der philosophischen Systeme aus vorstrukturierten minimalen Ausgangszuständen zu komplett artiku­ lierten Gebilden. Der ontogenetischen Entwicklung des Lebewesens vom scheinbar ungestalten Keim zum adulten Exemplar entspricht so die Entwicklung des philosophischen Systems vom keimhaften Ur­ sprung zur kompletten Ausprägung. Als besonders tragfähig für die biologische Modellierung philosophi­ scher Systeme erweist sich im späten achtzehnten Jahrhundert die neuar­ tige epigenetische Auffassung der Generation und Maturation von Lebe­ wesen. Der zuvor dominierende Präformationismus hat die Fortpflanzung und das Wachstum tierischer Lebewesen auf vorgeformte Keime zurück­ geführt, die das erwachsene Tier en miniature schon vollständig ausgebil­ det enthalten. Auf phylogenetischer Ebene führt die Präformationslehre

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Günter Zoller

zur Annahme multipler ineinander geschachtelter präformierter Keime, die in der Abfolge der Generationen sukzessive zur Entfaltung kommen sollen. Der konkurrierenden epigenetischen Theorie zufolge enthalten die Keime nicht schon das vollausgebildete Lebewesen, sondern nur erst die strukturellen Vorgaben für die spätere Herausbildung seiner Teile und von deren funktionsfähigem Verhältnis zueinander. In der Art eines ge­ netischen Codes regulieren die Keime das Wachstum eines Lebewesens. Die konstitutiven Teile des Lebewesens (Organe) samt deren Verhältnis zueinander liegen nicht immer schon aktuell vor, sondern werden aller­ erst hervorgebracht auf der Grundlage von spezifischen Dispositionen für die Entstehung und das Wachstum des Lebewesens. Unter den systematischen Philosophen des achtzehnten Jahrhun­ derts hat niemand das szientifische Potential des Epigenetizismus gründlicher erforscht und umfassender genutzt als Immanuel Kant. Schon früh ergänzt Kant im Rahmen seiner Arbeiten zur physischen Geographie und pragmatischen Anthropologie2 die anfängliche me­ thodologische Orientierung seines philosophischen Denkens auf die (euklidische) Geometrie und (newtonische) Physik um den Rekurs auf den disziplinären Wegbereiter der nachmaligen Biologie, die Naturge­ schichte (historia naturalis), speziell auf die Theoriebildung zur ontound phylogenetischen Entwicklung von Lebewesen. Dabei ergreift er mit methodologischen Gründen Partei gegen den Präformationismus und für den Epigenetizismus in der Theorie der Keime.3 Der naturge­ schichtliche Epigenetizismus dient Kant zudem als Modell für die Er­ fassung und die Auffassung von Entwicklungsvorgängen aller Art, die so als Prozesse von genuiner Ausdifferenzierung und von Generation eines je Neuen erscheinen, das nicht zufällig hinzutritt, sondern geziel­ ter Anbahnung und Vorbereitung entspringt, ohne auf diese Vorbedin­ gungen seines Eintretens und Auftretens reduziert werden zu können.4

2 Vgl. Immanuel Kant: Vorlesungen über die Physische Geographie, in: ders.: Kant's ge­ sammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern. Berlin, später Berlin/NewYork 1900 ff. Bd. 26, Teil 1. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Bandnummer und des Teilbandes in arabischen Zah­ len; Kant: Vorlesungen über Anthropologie, AA 25.1 und 25.2. 3 Vgl. Kant: Recension von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit, AA 8, 43-66 und ders.: Bestimmung des Begriffs der Menschenrace, AA 8, 89-106. Vgl. auch Günter Zoller: Eine »Wissenschaft fü r Götter«. Die Lebenswissenschaften aus der Sicht Kants, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 3 (2011), 877-892. 4 Zur Rolle des organischen Denkens in der Entwicklung der kritischen Philoso­ phie Kants vgl. Jennifer Mensch: Kant's Organicism. Epigenesis and the Development of Critical Philosophy. Chicago 2013.

Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte

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Der Kulminationspunkt von Kants langwieriger und weitreichen­ der Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte der Tiere unter Ein­ schluss des Menschen sind die Überlegungen im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, zur eigentümlichen zweckmäßigen Verfassung der Lebewesen (organische Zweckmäßigkeit) und zur methodologisch-wissenschaftstheoretischen Einschätzung der konkurrierenden Theoriebildungen über Fortpflan­ zung und Wachstum. Mit Blick auf die zeitgenössische Konkurrenz in der Theorie der Keime zwischen Präformationismus (»System der [...] Präformation«) und Epigenesis (»System der Epigenesis«) gelangt Kant dabei zu einer differenzierten Einschätzung der Epigenesis als »generische[r] Präformation«, insofern das spätere Lebewesen in den Kei­ men zwar nicht individuell und aktuell vorgegeben, aber doch gene­ risch und virtuell vorgebildet ist.5 Wichtiger noch als die von Kant vorgenommene kritische Reduktion von Epigenesis auf (generische) Präformation ist aber für das kantischnachkantische Junktim von Philosophie und System die in der ProtoBiologie der dritten Kritik unternommene Auffassung der Lebewesen als zweckmäßig organisierter Systeme. Kant dehnt dabei den System­ begriff, den er zunächst in der Bedeutung von »Lehrbegriff« verwendet und für die Theorieebene reserviert,6 auf die Objektebene aus und ver­ wendet den Organisationstitel »System« zur Kennzeichnung zweckmä­ ßig verfasster Ordnungs- und Funktionsverhältnisse zwischen Teilen und Ganzen, die nach der Art eines lebendigen Organismus vorgestellt oder modelliert werden.7 Bei dem Wechsel im Verständnis des Systembegriffs von der doktrinalen Bedeutung einer partikularen Lehre (»Lehrbegriff«) zur szientifischen Bedeutung einer Ganzheit von Erkenntnissen rekurrieren Kant und seine Nachfolge auf die teleologische Strukturanlage und Funktionsweise von Lebensprozessen und Lebewesen, die ihrerseits am Musterfall verständiger Zwecksetzung und willentlicher Zweckver­ wirklichung bei endlichen praktischen Vernunftwesen (vulgo: uns Men­ schen) ausgerichtet sind. Die praktische Zweckmäßigkeit versteht Kant als eine Form der Kausalität, bei der die Vorstellung eines Zwecks als Ursache von dessen angestrebter oder erreichter Verwirklichung fun­ giert. Bei der Übertragung des Modells praktischer Zweckmäßigkeit auf die spezifischen Organisationsformen von Lebewesen entfällt nun 5 Vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5,165-485, hier: 423. 6 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 491/B 519. 7 Vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5, 425-434.

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zwar das Doppelmoment von Verständigkeit in der Zwecksetzung und Willentlichkeit in der Zweckverwirklichung. Es erhält sich aber, nach Kants ebenso origineller wie einflussreicher Analyse, das Abfolgever­ hältnis zwischen präliminarem, idealem Grund und sukzedierender, realer Folge im Zustandekommen des jeweiligen Gegenstandes.8 Der Zweckfunktion ohne Zweckintention in lebendigen Organismen entspricht in der Entwicklung philosophischer Systeme die prinzipielle Differenz zwischen Konzeption (»Idee«) und Ausführung.9 Der prälimi­ nare Begriff strukturiert das auszuführende System. Das ausgeführte System realisiert die zugrundeliegende Idee. Die Bewegung von der System-Idee zum realisierten System entspricht dabei dem Werdepro­ zess adulter Lebewesen aus Keimen. Das System entwickelt sich wie ein lebendiger Organismus durch Zuwachs an Teilen und Zunahme an Größe, gesteuert von der zugrundeliegenden Konzeption des allererst zu entwickelnden Ganzen. Die über die Analogie mit dem Organismus vermittelte gedankliche Nähe philosophischer Systematik zu dem lebendigen Organismus be­ kundet sich bei Kant auch in der Angleichung der künstlich-künstle­ rischen Verfertigung von philosophischen Systemen an die praktische Zweckmäßigkeit bei der Errichtung von Gebäuden (»Architektonik«).10* Ganz so wie die bauliche Tätigkeit einem Plan folgt, der die Herbei­ bringung und Zusammenstellung der Teile zu einem geordneten Gan­ zen bestimmt, dirigiert und instrumentiert die Kunst der Systeme als Ideen-Architektonik den Aufbau von geordneten Erkenntnissen aus einem zugrunde gelegten Grund (Prinzip).11 Der Analogie von System­ bau und Hausbau entnehmen Kant und seine Nachfolger insbesonde­ re die Merkmale von Stellung, Lage und Vollständigkeit der Elemente eines Systems. Während die architektonische Systemanalogie vorwiegend den artisanal-artifiziellen Charakter des Systems als Gedankengebäude zum Ausdruck bringt, manifestiert die organologische Modellierung des Systems eher den kreativ-kreatürlichen Grundzug philosophischer Systeme, die sich - nach Kants, im Motto dieses Beitrags wiedergege8 Zur Funktion der Vernunft in Kants Lehre organischer Zweckmäßigkeit vgl. Günter Zoller: Reflexion und Regulation. Kant über Begriffe und Prinzipien der Vernunft in der Kritik der Urteilskraft, in: Worauf die Philosophie hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie. Hrsg. v. Bernd Dörflinger/Günter Kruck. Hildesheim/NewYork 2012, 31-48. 9 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860. 10 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860-A 851/B 879. u Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860-A 851/B 879.

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zwar das Doppelmoment von Verständigkeit in der Zwecksetzung und Willentlichkeit in der Zweckverwirklichung. Es erhält sich aber, nach Kants ebenso origineller wie einflussreicher Analyse, das Abfolgever­ hältnis zwischen präliminarem, idealem Grund und sukzedierender, realer Folge im Zustandekommen des jeweiligen Gegenstandes.8 Der Zweckfunktion ohne Zweckintention in lebendigen Organismen entspricht in der Entwicklung philosophischer Systeme die prinzipielle Differenz zwischen Konzeption (»Idee«) und Ausführung.9 Der prälimi­ nare Begriff strukturiert das auszuführende System. Das ausgeführte System realisiert die zugrundeliegende Idee. Die Bewegung von der System-Idee zum realisierten System entspricht dabei dem Werdepro­ zess adulter Lebewesen aus Keimen. Das System entwickelt sich wie ein lebendiger Organismus durch Zuwachs an Teilen und Zunahme an Größe, gesteuert von der zugrundeliegenden Konzeption des allererst zu entwickelnden Ganzen. Die über die Analogie mit dem Organismus vermittelte gedankliche Nähe philosophischer Systematik zu dem lebendigen Organismus be­ kundet sich bei Kant auch in der Angleichung der künstlich-künstle­ rischen Verfertigung von philosophischen Systemen an die praktische Zweckmäßigkeit bei der Errichtung von Gebäuden (»Architektonik«).10* Ganz so wie die bauliche Tätigkeit einem Plan folgt, der die Herbei­ bringung und Zusammenstellung der Teile zu einem geordneten Gan­ zen bestimmt, dirigiert und instrumentiert die Kunst der Systeme als Ideen-Architektonik den Aufbau von geordneten Erkenntnissen aus einem zugrunde gelegten Grund (Prinzip).11 Der Analogie von System­ bau und Hausbau entnehmen Kant und seine Nachfolger insbesonde­ re die Merkmale von Stellung, Lage und Vollständigkeit der Elemente eines Systems. Während die architektonische Systemanalogie vorwiegend den artisanal-artifiziellen Charakter des Systems als Gedankengebäude zum Ausdruck bringt, manifestiert die organologische Modellierung des Systems eher den kreativ-kreatürlichen Grundzug philosophischer Systeme, die sich - nach Kants, im Motto dieses Beitrags wiedergege8 Zur Funktion der Vernunft in Kants Lehre organischer Zweckmäßigkeit vgl. Günter Zoller: Reflexion und Regulation. Kant über Begriffe und Prinzipien der Vernunft in der Kritik der Urteilskraft, in: Worauf die Philosophie hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie. Hrsg. v. Bernd Dörflinger/Günter Kruck. Hildesheim/NewYork 2012, 31-48. 9 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860. 10 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860-A 851/B 879. u Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860-A 851/B 879.

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bener, Einschätzung und auch nach Ansicht seiner Nachfolger - der präliminaren Planung immer auch wesentlich entziehen und Beispie­ le quasi-natürlichen Wachstums und spontaner Entwicklung abgeben. Oft erhellen sich erst im Nachhinein das ganze Potential einer zugrun­ de gelegten System-Idee sowie das volle Ausmaß und die genaue Be­ schaffenheit des der Idee von ihm korrespondierenden Systems. Philo­ sophische Systeme sind nicht - oder jedenfalls niemals nur - souverän kontrollierte Gedankengebäude, sondern - immer auch und wohl wesentlich so - frei sich entwickelnde Gedankenkörper, szientifische Organismen, die wuchern und wimmeln, aber auch schrumpfen und schwächein können, bis sie, vielleicht, endgültige Gestalt annehmen. Das Paradebeispiele des quasi-organischen Werdens philosophischer Systeme diesseits von erschöpfender Intention und umfassender Kont­ rolle durch den philosophischen Autor ist die Genese des kritischen Sys­ tems, das Kant zunächst glaubte mit der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) geliefert und abgeschlossen zu haben, bevor sich das weitere sys­ tematische Erfordernis einer eigenen Vermögensbestimmung der prakti­ schen Vernunft im Hinblick auf deren Einheit mit der theoretischen Ver­ nunft als Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und sodann das abschließende Erfordernis einer selbständigen Leistungsermessung der reflektierenden Urteilskraft als Gegenstand der Kritik der Urteilskraft (1790) ergaben. Erst in der retrospektiven umfassenden Perspektive der dritten Kritik und speziell ihrer Einleitung sowie in deren nicht in die Druckfassung aufgenommener Erstversion fügen sich die drei Kritiken, samt der ihnen jeweils zugrundeliegenden Gemütsvermögen (Erkennt­ nisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust sowie Begehrungsvermögen) und den diese prinzipiierenden Vernunftvermögen (Verstand, Urteilskraft und Vernunft), in eine komplexe und komplette Einheitsgestalt, die mehr mit einem lebendigen und fortlebenden Organismus als mit einem fer­ tiggestellten Gebäude gemeinsam hat.12

2. Die philosophische Bewegung der Systeme Die biotische Bewegtheit philosophischer Systeme manifestiert sich bei Kant und seinen Nachfolgern in einem doppelten Entwicklungsverlauf. Beim einzelnen Autor - sozusagen ontogenetisch - kommt es zur suk-

12 Vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5,171-198 und ders.: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, AA 20,193-251.

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zessiven Entfaltung des System-Keims in das aufkeimende System. In der Abfolge der Autoren - sozusagen phylogenetisch - vollzieht sich ein intergenerationeller Entwicklungsverlauf, der ebenso frühere und spä­ tere Ausgestaltungen desselben Systemprinzips wie die Entwicklung alternativer und miteinander konkurrierender Systemprinzipien und der ihnen zugehörigen Systeme umfasst. In beiden Unternehmungen steht nicht so sehr der Abschluss der respektiven Entwicklung im Vor­ dergrund der philosophischen Bestrebungen als die Entwicklungsbe­ wegung vom Keim zum System und von einer aufkeimenden System­ konzeption zur anderen oder nächsten. Systematisches Philosophieren ist für Kant und seine Nachfolger nicht das Verfertigen von philoso­ phiegeschichtlich bezugsfertigen Gedankengebäuden, sondern die Ge­ neration eines philosophischen Systems - der (pro-)kreativ initiierte und methodisch kontrollierte Fortgang vom generierenden Prinzip zum generierten Prinzipiierten. Bei der ontogenetischen Systementwicklung steht die Fortbewegung vom Prinzipiengrund zum kompletten Prinzipieninbegriff im Mit­ telpunkt der kantisch-nachkantischen Bemühungen. Bahnbrechend und wegweisend ist hier Kants Rekurs auf das synthetisch-apriori­ sche Einheitsprinzip des möglichen allgemeinen Selbstbewusstseins (Apperzeption).13 Kants systematisches Interesse gilt dem Übergang vom apperzeptiven Grundcharakter des (endlichen) Verstandes zu den pluralen Grundformen apperzeptiv-objektiver Einheitsbildung. Die Entwicklung des Kategoriensystems aus dem Apperzeptionsprinzip erfolgt nicht analytisch, als bloße Entfaltung einer latent bereits vorlie­ genden Differenzierung. Vielmehr erwächst dem Prinzip der Apper­ zeption die differentielle Fortbestimmung zu den zwölf kategorialen Einheitsmodi aus der Zusammenführung der zwölf Urteilsformen mit der gegenstandstheoretischen Auffassung der Apperzeptionsleistung.14 Die Kategorien sind die in das gegenständliche Denken nach Maß­ gabe des Prinzips der transzendentalen Apperzeption überführten Ur­ teilsformen. Auch der den Kategorien zuzuschreibende notwendig-all­ gemeine Erkenntnisbezug auf Gegenstände ist nicht immer schon in den Kategorien enthalten und mit diesen selbst gegeben. Erst das strikt geregelte Hinzutreten von reinen anschaulichen Formen und speziell 13 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 131-142. Vgl. auch Günter Zoller: Arti­ kel Apperzeption und Selbstbewusstsein, in: Kant-Lexikon. Hrsg. v. Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/Georg Mohr et al. Berlin/New York, Bd. 1, 145-150 und Bd. 3, 2065-2070. 14 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 66/B 91-A 83/B 116.

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von apriorischen Zeitgestalten (transzendentale Schemata) lässt die Ka­ tegorien zu Grundformen der Erkenntnis von sinnlich gegebenen oder doch gebbaren Gegenständen werden, durch deren Anwendung auf das in den sinnlichen Formen bereitgestellte Material die Erfahrung samt ihren Gegenständen zustande kommt. Kant selbst hat die eigen­ tümliche Wachstumsbewegung des Erkenntnisvorgangs, die wesentlich einen Zuwachs darstellt, unter den der Theorie der Keime entlehnten Begriff der Epigenesis gebracht und als »Epigenesis der reinen Ver­ nunft« ausgewiesen.15 Die Überführung der Apperzeptionslehre in die Elementarphiloso­ phie durch Karl Leonhard Reinhold markiert nur formell einen Schritt über Kant hinaus,16 fällt jedoch in der Sache hinter den bereits erreich­ ten Stand des systematischen Philosophierens zurück. Der von Reinhold lancierte »Satz des Bewußtseins« entspricht zwar dem Desiderat eines allerersten Prinzips,17 ist aber in seinem konstitutiven Rekurs auf Tat­ sachen des Bewusstsein und einem Verfahren nach der »analytischen Methode« eher Ausdruck einer Verlegenheit bei der Suche nach dem primum movens des philosophischen Systems als eine tragfähige Alter­ native zum genetisch-deduktiven Methodenprogramm für das Verhält­ nis von Systemprinzip und prinzipiiertem System.18 Erst die an Reinhold kritisch anschließende Systemkonzeption des frühen Fichte vollzieht den fälligen Fortgang von der Apperzeption als spezifischer Grundform des gegenständlichen Erkennens zum reinen Ich als Grund von Wissen wie Wollen samt der in solchem ichlich verfassten Wissen und Wollen er­ kannten und bezweckten Welt der Nicht-Iche und Mit-Iche. Doch auch Fichte vermag die Faktizität des endlichen Verstehens und Wollens nur zu minimieren, nicht aber zu eliminieren. An die Stelle von Kants Ding an sich als anonym-inskrutablem Ursprung materia­ ler Bestimmtheit tritt bei Fichte der die unendlich-spontane Tätigkeit

15 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 167 (Hervorhebung im Original); vgl. dazu Günter Zoller: Kant on the Generation o f Metaphysical Knowledge, in: Kant. Analysen Probleme - Kritik. Hrsg. v. Hariolf Oberer/Gerhard Seel. Würzburg 1988, 71-90 sowie ders.: From Innate to A Priori. Kant's Radical Transformation o f a Cartesian-Leibnizian Le­ gacy, in: The Monist 72 (1989), 222-235. 16 Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstel­ lungsvermögens. Prag/Jena 1789. Nachdruck Darmstadt 1963. 17 Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band. Hrsg. v. Faustino Fabbianelli. Hamburg 2003,113. 18 Zur Differenz von »analytischer Methode« und »synthetischer Lehrart« in der Philosophie vgl. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, AA 4, 253-383, hier: 263.

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des Ich verendlichende und vergegenständlichende »Anstoß«.19 Den faktizitär begründeten Satz des Bewusstseins ersetzt der frühe Fichte seriatim durch die Trias unbedingter Selbstsetzungsakte des Ich bei der Konstitution seiner selbst wie seines Gegenübers (Nicht-Ich)20 und durch das unbedingte Postulat möglichen Selbstbewusstseins.21 In bei­ den Versionen des Ich-Prinzips bedarf es der schrittweisen Erweiterung des Ich-Keims um zunehmend konkrete Bedingungen ichlichen Selbstund Weltbezuges, damit das prinzipiell mögliche Ich in eine faktisch­ konkret verfasste Form von Subjektivität überführt werden kann. Der erste Ansatz Fichtes - mit dem Prinzipiengefüge von setzendem Ich, gesetztem Ich und gesetztem Nicht-Ich und von teilbar gesetztem Ich wie Nicht-Ich - generiert ichlich-nichtichliche Widerspruchsver­ hältnisse, die unter Rückgriff auf zusätzlich eingefügte Mittelbegrif­ fe schrittweise gelöst werden müssen, bevor der Rekurs auf ein prak­ tisches Datum den fortlaufenden Regress faktizitär zum Abschluss bringt.22 Der zweite Ansatz Fichtes unterzieht das nur erst postulatorisch eingeführte Selbstbewusstsein zum Zweck seiner Maturation in ein voll funktionsfähiges, sozusagen adultes selbst- wie weltbewusstes praktisches Vernunftwesens einer narrativ entfalteten Genese über zu­ nehmend komplexe und konkrete Bewusstseinsstufen.23 Die von Fichte programmatisch entwickelte »pragmatische Geschichte des menschli­ chen Geistes« wird dann zusammen mit der im ersten Ansatz Fichtes dominierenden Dialektik des Ich die Methodik des Übergangs vom Prinzip zum System,24 vom Ich zum Gegenstand und vom Geist zur Welt auch bei seinen Nachfolgern Schelling und Hegel bestimmen. Doch ebenso prägend wie die dialektische und die genetische Model­ lierung des dynamischen Verhältnisses von Systemprinzip und philoso­ phischem System ist die von Fichte und Schelling praktisch zeitgleich 19 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: ders.: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962-2012. Abt. I, Bd. 2,173-451, hier: 355. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 20 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 255-282. 21 Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4,167-281, hier: 271-281. 22 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 362-365. 23 Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4,205-208. Vgl. dazu Günter Zoller: Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft, in: Kant und der Frühidealismus. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007,129-151. 24 Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 365.

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vorgenommene Eröffnung der systematischen Alternative von Idealis­ mus und Realismus in der nachkantischen Philosophie. Kant hatte das realistische Gegenmoment seines kritischen Ansatzes als empirischen Realismus dem transzendentalen Idealismus durch Subordination zu integrierten versucht.25 Durch das alternative vernunftkritische Projekt Friedrich Heinrich Jacobis26 war der kantische Rekurs auf Dinge an sich als inkonsequentes und inkonsistentes Relikt eines transzendenta­ len Realismus enttarnt und vor die Alternative eines rein subjektiven Idealismus (»spekulativer Egoismus«) oder eines objektiven, absoluten Realismus gestellt worden.27 Die fällige realistische Komplettierung des transzendentalen Idea­ lismus versucht Fichte zunächst Idealismus-intern zu bewerkstelligen, durch die Konstruktion eines äquipromordialen Real-Idealismus und Ideal-Realismus.28 Doch unter dem Eindruck des frühen Schelling, der Kritizismus (Idealismus) und Dogmatismus (Realismus) zu gleichbe­ rechtigten Systemalternativen erklärt,29 konzediert Fichte die forma­ le Gleichursprünglichkeit von Ding-Philosophie und Ich-Philosophie, freilich nicht ohne - gegen Schelling - den materialen, existentiell-mo­ ralischen Vorsprung und Vorzug des Idealismus als Freiheitsphiloso­ phie gegenüber dem Realismus als Unfreiheitsphilosophie zu rekla­ mieren.30 Das Neben-, Mit-, Gegen- und Durcheinander von Idealismus und Realismus sollte die Fortentwicklung der nachkantischen Systeme nachhaltig und langfristig bestimmen - als interne Dialektik der bei­ den Systemformen bei Fichte, als Parallelität von Geistphilosophie und Naturphilosophie bei Schelling, aber auch als anti-idealistischer NeoDogmatismus und -Realismus bei Jacobi, Bardili und Reinhold. Charakteristisch für die teils interne, teils externe Konfrontation von idealistischen und realistischen Systemen ist der Rekurs auf außer-, vor- oder proto-philosophische Evidenzen zum Zweck der Begrün­ dung sowohl der idealistischen Einhegung des Realismus wie der re-

25 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 28/B 44, A 35-36/B 52, A 369-371, A 490491/B 518-519. 26 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. Nachdruck NewYork/London 1983. 27 Jacobi: David Hume über den Glauben, 229. 28 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 412. 29 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich Au­ gust Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856-1861. Bd. I, 283-341. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 30 Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA 14,194-195.

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alistischen Einschränkung des Idealismus. Speziell Jacobi und Fichte überbieten einander im Rekurs auf Gefühl, Glaube und Leben bei der prädiskursiven, außerlogischen Letztbegründung ihrer Systempräfe­ renzen. In die nachkantische Bewegung der Systeme gelangt damit ein existentiell-konkretes Moment, das den Ursprung und die Entwicklung eines philosophischen Systems zusätzlich zu spezifisch philosophi­ schen Ressourcen an die Authentisierung durch extra- oder vielmehr proto-philosophische Instanzen anbindet, die dem systematischen Phi­ losophieren allererst die gehörige Fundierung und Orientierung ver­ leihen sollen. Mit den Worten Fichtes ausgedrückt erweist sich damit das philosophische System als etwas, das nicht einen toten Hausrat darstellt, sondern eine vitale Funktion besitzt und in dem sich ein per­ sonales präliminares Selbst- und Weltverständnis manifestiert und ar­ tikuliert.31 Die Bewegung der Systeme wird dadurch zu einem denk­ biographischen Bewegungsverlauf innerhalb der Systementwicklung eines einzelnen Autors wie in dessen Auseinandersetzung mit konkur­ rierenden Systemen und ihren Autoren.

3. Die Bewegung von Fichtes philosophischem System Unter den Autoren der systematischen philosophischen Bewegung, die alternativ unter den Kennzeichnungen deutscher Idealismus und klassische deutsche Philosophie firmiert, kommt Fichte eine besondere Stellung und ein ganz eigenartiger Charakter zu. Fichte hat zu Beginn der neunzi­ ger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts praktisch im Alleingang die dramatische Bewegung der Systeme im Rückgriff auf Kant und unter dem Eindruck der Kant-Kritik von Friedrich Heinrich Jacobi, Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus-Schulze) und Salomon Maimon in Gang ge­ setzt.32 Und er hat in der Entwicklung seines eigenen philosophischen Systems über zwei Jahrzehnte hinweg gezielt die denkerische Bewe­ gung über das Ergebnis, die Fortentwicklung über den Abschluss und die produktive Unruhe über den saturierten Stillstand gestellt. So sind von seinem transzendentalphilosophischen Grundprojekt einer gegen­ über Kant um die praktische Philosophie erweiterten Transzendental­ philosophie, der von ihm sogenannten Wissenschaftslehre, aus dem 31 Vgl. dazu Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 194-195. 32 Vgl. dazu Peter Baumanns: Fichtes Wissenschaftslehre. Probleme ihres Anfangs. Mit einem Kommentar z u § l der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«. Bonn 1974,17-56.

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Zeitraum von 1794 bis 1814 nicht weniger als achtzehn verschiedene Fassungen oder Darstellungen dokumentiert, einige davon fragmenta­ risch, aber praktisch alle erhalten und durch die abgeschlossene Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissen­ schaften ebenso mustergültig wie endgültig erschlossen.33 Die konstitutive Mobilität von Fichtes systematischem Philosophie­ ren behandelt das philosophische System als Projekt, dem es sich in immer neuen Anläufen unter jeweils spezifisch bestimmten und cha­ rakteristisch veränderten Bedingungen zu nähern gilt. In Aufnahme der Organismus-Analogie und unter Berücksichtigung ihrer epigene­ tischen Favorit-Version lässt sich die Entwicklungsbewegung des fichteschen Systems auffassen als sukzessive Hervorbringung von neuen Teilen (Gliedern) und von deren Verhältnis zueinander durch Wachs­ tum und Zuwachs auf der Grundlage von Ausgangsprinzipien - den philosophischen Keimkonzepten sozusagen - und unter dem prägen­ den Einfluss ambienter Faktoren, speziell des sich rapide wandelnden philosophischen Klimas. Die epigenetische Entwicklungsbewegung des fichteschen Systems resultiert, so betrachtet, aus der produktiven Inter­ aktion von intrinsischen Motiven und extrinsischen Motivationen. Sie ist ebenso sehr Ausdruck vom inneren und eigenen »Geist« der Philo­ sophie Fichtes wie von dessen äußerer Entfaltung unter Bedingungen der Konfrontation und Kontestation durch konkurrierende Systeme und Anti-Systeme.34 Als invarianter Kern oder Keim des fichteschen Philosophierens, diesseits seiner diversen sukzessiven wie diachronen Ausprägungen als Ichlehre, als Freiheitslehre, als Wahrheitslehre oder als Erscheinungs­ lehre wäre wohl am ehesten die Zusammenführung von Freiheit und System im Subjekt- und Strukturbegriff des Wissens auszumachen.35 Das System hat Freiheit zum Prinzip; die Freiheit erfordert das Sys­ 33 Für eine Auflistung der dokumentierten Darstellungen der Wissenschaftsleh­ re und den Aufweis deren formaler Parallelität mit dem Quartettschaffen Ludwig van Beethovens siehe Günter Zoller: Parallelleben. Fichte und Beethoven, in: Fichte und die Kunst. Hrsg. v. Ives Radrizzani/Faustino Oncina Coves. Amsterdam/New York 2014, 279-301 . 34 Zur methodischen Funktion des Geistbegriffs bei Fichtes vgl. Günter Zoller: Die Sittlichkeit des Geistes und der Geist der Sittlichkeit. Fichtes systematischer Beitrag, in: Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. Hrsg. v. Edith Düsing/Klaus Düsing/Hans-Dieter Klein. Würzburg 2009, 217-238. 35 Zur Selbstinterpretation von Fichtes Philosophie als System der Freiheit vgl. Günter Zoller: Das »erste System der Freiheit« in Fichtes neuer Darstellung der Wissen­ schaftslehre, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stol­ zenberg. Hamburg 2011,13-28.

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tem als Form; und die Seinsform der systematisch verfassten Freiheit ist das Wissen - in dessen Intension als Gewissheit theoretischer wie praktischer Art und in seiner Extension als gewusste Welt von Perso­ nen und von Dingen. War in der Frühphase von Fichtes Entwicklung der Wissenschaftsleh­ re die kritisch-metakritische Auseinandersetzung mit Kant, den Kan­ tianern und den Anti-Kantianern bestimmend und wegweisend, ist es in späteren Jahren vor allem die Kritik an Fichtes eigenem philosophi­ schen System und dessen alternativen Präsentationen, die den Fort­ gang zu weiteren, veränderten Fassungen der Wissenschaftslehre ini­ tiiert und orientiert. Von besonderer Bedeutung für den Schritt von der frühen, Jenaer Wissenschaftslehre zu ihrer späteren, Berliner Identität ist der sogenannte Atheismusstreit um die angeblich gottesleugnerischen moraltheologischen und religionsphilosophischen Äußerungen Fichtes im Journal-Aufsatz Ueber den Grund unsers Glaubens an eine gött­ liche Weltregirung (1798).36

Die von kirchlicher Seite lancierte Affäre kostet Fichte nicht nur die Jenaer Professur, sondern auch das Ansehen als autorisierter Nachfol­ ger Kants, der sich im Umfeld der publizitären Kampagne gegen Fichte von der Wissenschaftslehre und ihrem Autor öffentlich distanziert.37 Mit der Radikalkritik am transzendentalen Idealismus Fichtes als einer Form von »Nihilismus«, die alles Sein zur Erscheinung, alle Erschei­ nung zum Schein und alles Dinglich-Wirkliche zum Bildlich-Fingierten erklärt, hatte auch Jacobi Fichtes Unternehmen öffentlichkeitswirksam in Misskredit gebracht.38 Fichtes Reaktion auf die Anfeindungen und Abgrenzungen war zum einen die Verteidigung der zuvor eingenommenen Position in Form von Erläuterung und Rechtfertigung,39 zum anderen die affirmative Auf­ nahme von Konzepten und Doktrinen ausgewählter Opponenten in die Fortbildung des eigenen philosophischen Systems. Letzteres gilt vor allem für Fichtes Verhältnis zu Jacobi und dessen Invokation von Glau­ 36 Vgl. Fichte: Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 318-357, hier: 347-357. 37 Vgl. Kant: Erläuterung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, AA 12, 370-371. 38 Vgl. Fichte: Briefe vom 3ten März 1799 bis 6. April 1799, GA III 3, 224-320. Dazu Ives Radrizzani: Presentation, in: Friedrich Heinrich Jacobi: Lettre sur le nihilisme et autres textes. Paris 2009, 7-38. 39 Vgl. Fichte: Der Herausgeber des philosophischen Journales gerichtliche Verantwor­ tungsschriften gegen die Anklage des Atheismus, GA I 6,1-26; ders.: J. G. Fichtes als Ver­ fasser des ersten angeklagten Aufsatzes, GA I 6, 27-89; ders.: Fr. 1. Niethammers als Mithe­ rausgebers des philosophischen Journals Verantwortungsschrift, GA I 6, 91-144.

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be, Gefühl und Leben gegenüber dem angeblichen einseitig szientifischen, rationalistischen und spekulativen Grundzug der Wissenschafts­ lehre.40 Speziell mit der als Erbauungsschrift angelegten Bestimmung des Menschen (1800),41 die in weiten Teilen Jacobis Fichte-Kritik reproduziert und dessen alternative Position als die eigene zitiert, unternimmt es Fichte, seiner Lehre eine äußere Gestalt zu geben, die zeitgenössische Empfindlichkeiten und Empfänglichkeiten ebenso respektiert wie ins­ trumentalisiert. Weit davon entfernt, Jacobis anti-kantischer Gefühls- und GlaubensNicht-Philosophie zuzustimmen, rekurriert Fichte auf den jacobischen Diskurs, um mit dessen Mitteln die eigene transzendental-idealistische Position publikumskompatibel und konsensfähig zu artikulieren. Bei dem im Zweiten Buch der Bestimmung des Menschen seiner Unzuläng­ lichkeit überführten Wissen handelt es sich nicht um Fichtes eigenen umfassenden Wissensbegriff, sondern um den von Jacobi, fälschlich, Fichte zugeschriebenen verkürzten Begriff bloß theoretischen Wissens, dessen fällige und von Fichte längst vorgenommene Komplettierung und Fundierung durch einen spezifisch praktischen Wissensbegriff im Dritten Buch der Schrift in der Maske des von Jacobi übernommenen und von Fichte für sich selbst reklamierten Glaubensbegriffs vorge­ nommen wird. Man könnte versucht sein, Fichtes Anpassung an den von ihm auf­ richtig verehrten und doch auch inständig bemängelten Jacobi als op­ portunistische Assimilation, Akkomodation oder Adaption - naturge­ schichtlich gesprochen als Mimikry - einzuschätzen und abzuwerten, so als ob der des Unglaubens und der Gottesleugnung überführte Fich­ te eingeknickt wäre, sich religiös bekehrt und philosophisch gewendet hätte. Angemessener wäre es aber wohl, in Fichtes affirmativer Über­ nahme des jacobischen Diskurses eine kommunikative Strategie zu sehen, die sich das persuasive Potential einer konkurrierenden, ja ei­ gentlich konfligierenden philosophischen Position für die modifizierte Präsentation der eigenen Position zu Nutzen macht, und dies nicht so 40 Für einen Vergleich von Jacobis und Fichtes Glaubensbegriff vgl. Günter Zoller: »Das Element aller Gewißheit«. Jacobi, Kant und Eichte über den Glauben, in: Fichte-Studien 14 (1998), 21-41 sowie ders.: »[D]as Element aller Erkenntniß und Würksamkeit«. Friedrich Heinrich Jacobi über David Hume über den Glauben, in: David Hume (1711-1776) nach 300 Jahren. Hrsg. v. Heiner Klemme. Hamburg (im Erscheinen). 41 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6,145-311, hier: 181-311. Vgl. dazu Günter Zoller: »An Other and Better World«. Fichte's The Vocation o f Man As a TheologicoPolitical Treatise, in: Fichte's Vocation o f Man. New Interpretative and Critical Essays. Hrsg, v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Albany, NY 2013,19-32.

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sehr, um Jacobi - martialisch gesprochen - mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, als vielmehr, um mit dessen Waffen in eigener Sache und für die eigene Sache weiterzukämpfen zu können. Alternativ, nautisch ausgedrückt, geht es Fichte nicht darum, Jacobi den Wind aus den Se­ geln zu nehmen, sondern im Kreuzen Jacobis Gegenwind nach dem Debakel des sogenannten Atheismusstreits wieder zu voller Fahrt auf­ zulaufen. Philosophisch interessant an Fichtes windigem Wendemanöver im Jahr 1800 ist deshalb auch nicht die Moral, Politik oder Rhetorik ihres Autors, sondern das Ausmaß an systematischer Bewegung, das zwi­ schen dem Jenaer Fichte, genauer: dem späteren frühen Fichte der fragmentarisch publizierten Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/88)42 sowie von deren in Nachschriften erhaltener vollständi­ ger Version als Wissenschaftslehre nova methodo (1796/99),434und dem frü­ hen Berliner Fichte, genauer: dem Fichte der Bestimmung des Menschen (1800), zu verzeichnen ist. Hier erweist ein historisch-systematischer Vergleich der Texte und der in ihnen manifesten Positionen, dass der spätere Text die früheren Fassungen eher resümiert und reformuliert als sie zu transformieren oder gar zu transzendieren. Insbesondere ist die im Dritten Buch der Bestimmung des Menschen , betitelt »Glaube«, vorfindliche theologisch-religiös artikulierte Lehre von der Einheit und Vielheit des Willens eine popularphilosophische Repräsentation und Repetition der moralisch-praktisch vereinheitlichten intelligiblen Ordnung (»Geisterwelt«) aus der Wissenschaftslehre nova methodo 44 Von einem Umschwenken, Einschwenken oder Einlenken Fichtes auf jacobischen Fideismus, Emotismus und Theismus kann keine Rede sein. Eher schon wäre ein wirklicher Wandel in der Denkbewegung Fich­ tes nach 1800 und speziell in den späteren Darstellungen der Wissen­ schaftslehre auszumachen. Doch auch die eigens so genannte Darstel­ lung der Wissenschaftslehre von 1801/0245 bewegt sich nur erst tastend und zögernd weg von der früheren Entwicklung der Wissenschafts42 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4,183-281. 43 Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, ca. 1796-99, Nachschrift nach den Vorle­ sungen Hr. Pr. Fichte, GA IV 2,1-267, hier: 17-267 und Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, WS 1798/99, Nachschrift Krause, GA IV 3, 307-535, hier: 323-535. 44 Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, ca. 1796-99, Nachschrift nach den Vorlesungen Hr. Pr. Fichte, GA IV 2, 242-261 und ders.: Vorlesungen über die Wissen­ schaftslehre, Nachschrift Krause, GA IV 3, 509-519. Vgl. dazu Günter Zoller: Fichte's Transcendental Philosophy. The Original Duplicity o f Intelligence and Will. Cambridge 1998. Cambridge 2002,110-126. 45 Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA I I 6,107-324, hier: 129-324.

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lehre und ihrem systematischen Kern und Keim als Prinzipientheorie des Wissens im doppelten Hinblick auf dessen Träger (Subjekt) und Gegenstandsbereich (Welt). Wegweisend für die weitere Entwicklung von Fichtes philosophischem System ist dabei vor allem die Rekon­ figuration des unbedingten Grundes von Wissen, der ineins als Wis­ sensgrund und als Grundwissen figuriert, unter dem Programmtitel »absolutes Wissen«.46 Eher wäre die gezielte Fortbewegung des fichteschen Systems, die wenn nicht vom Jenaer Entwicklungsstand weg, so doch in Fortsetzung einer schon vorgegebenen Richtung, über ihn hinausführt, in zwei an­ deren, miteinander verknüpften Entwicklungen auszumachen. In me­ thodisch-architektonischer Hinsicht kommt es ab 1801/02 und bis 1807 durchgängig zur Limitation der Wissenschaftslehre auf die prinzipien­ theoretische Grundlegung des Wissens (»Wissenschaftslehre in spe­ cie«) unter weitgehendem Ausschluss der sogenannten angewendeten Wissenschaftslehre,47 speziell der Rechts- und Sittenlehre, vom Am­ bitus der Systempräsentation. Im Zuge dieses Revirements kommt es zur Delegierung der angewendeten Philosophie an die popularphilosophische Behandlung von Geschichts-, Religions- Gesellschafts- und Erziehungslehre (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Die Anwei­ sung zum seeligen Leben, Reden an die deutsche Nation, Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit).48 In doktrinal-

substantieller Hinsicht kommt es im Zeitraum von 1804 bis 1807 zur Fokussierung der einander rapide sukzedierenden sieben separaten Darstellungen der Wissenschaftslehre auf die Theorie des Unbedingten (»Absolutes«) und seiner Manifestation (»Erscheinung«).49 Die erste der beiden bei Fichte zu verzeichnenden Systembewe­ gungen reflektiert als extensionale Restriktion der Wissenschaftslehre Fichtes veränderte gesellschaftliche Position. Die Entwicklung der Wis­ senschaftslehre im öffentlichen Vortrag ist nach dem Verlust der Jenaer Professur (1799) und vor dem Antritt der Professur an der allererst zu gründenden Berliner Universität (1809/10) auf privat organisierte, au46 Vgl. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6,143-206. 47 Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA I 8,191-396, hier: 376. 48 Vgl. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA I 8; ders.: Die Anwei­ sung zum seeligen Leben, GA I 9, 47-212; ders.: Reden an die deutsche Nation, GA I 10, 99-298; ders.: Ueber das Wesen des Gelehrten, GA I 8, 57-139. 49 Vgl. Fichte: Vorlesung der W.L. im Winter 1804, GA II 7, 66-235; ders.: Die Wis­ senschaftslehre 1804/2, GA II 8, 2-420; ders.: Ster Cours der W.L. 1804, GA II 7, 301-368; ders.: Die Principien der Gottes- Sitten u. Rechtslehre, GA II 7,378-489; ders.: 4ter Vortrag der Wissenschaftslehre, GA II 9,179-311.

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ßerakademische Vorlesungen reduziert, die Fichte nicht mehr die Gele­ genheit zur mehrsemestrigen Entfaltung des Systems und speziell der angegliederten Systemteile Gelegenheit bieten. Fichtes Darstellung der Wissenschaftslehre beschränkt sich unter diesen Umständen auf deren Kernanliegen. Die zweite der beiden zwischen 1801/02 und 1807 zu verzeichnenden korrelierten Systembewegungen bei Fichte reflektiert die intensionale Selbstbeschränkung der Wissenschaftslehre auf eine minimale »Wahr­ heitslehre« (Grundbestand: das Sein, das Absolutes oder Gott ist) und eine eher skizzierte zweistufige »Erscheinungslehre« oder Phänome­ nologie (Grundbestand:50 das Wissen ist die Erscheinung des Abso­ luten, und die Welt ist die Erscheinung des Wissens). Der vormalig subjekttheoretisch artikulierte Wissensgrund (reines oder absolutes Ich oder reines Selbstbewusstsein) wird dabei in mentalistischer Aus­ drucksweise und epistemologischer Terminologie gefasst: als absolu­ tes Wissen. Der faktische Hintergrund für die Änderungsbewegung in Fichtes Orientierung - vom absoluten Ich zum absoluten Wissen - ist die fortgeführte Auseinandersetzung Fichtes mit der fortentwickelten Philosophie Schellings. Die Naturphilosophie des frühen Schelling aus der zweiten Hälfte der 1790er Jahre war noch als Komplement und Supplement der Wissen­ schaftslehre ausgegeben und aufgenommen, das System des transzenden­ talen Idealismus von 1800 gar von Fichte selbst als lobenswerte Reinszenierung des Idealismus der Wissenschaftslehre begrüßt worden. Doch mit dem Übergang Schellings zu einer der Dualität von Idealismus oder Wissenschaftslehre und Realismus oder Naturphilosophie vorgängigen Urgestalt von Philosophie (»System der Identität«),51 insbesondere der Rückführung des Gegensatzes von Natur und Geist auf ein indifferentistisches Urprinzip, das den Grund von beiden in ein prädisjunktives Unbedingtes (»Absolutes«) verlegte, drohte die Fortbewegung der phi­ losophischen Systeme ab 1801 der Wissenschaftslehre den Rang der prima philosophia streitigzumachen. Vorbereitet durch eine gründliche kritische Auseinandersetzung mit Schellings Identitätsphilosophie52 und zeitgleich mit Schellings Fort­ entwicklung seines systematischen Denkens in den Schriften Philosophie 50 Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, 228. 51 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW IV, 107-212. 52 Vgl. dazu Günter Zoller: Das Absolute und seine Erscheinung. Die Schelling-Rezeption des späten Fichte, in: Recht - Moral - Selbst. Gedenkschrift für Wolfgang H. Schräder. Hrsg. v. Marion Heinz/Klaus Hammacher. Hildesheim 2004, 311-328.

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und Religion und Bruno53 präsentiert Fichte in der Wissenschaftslehre von 1804 , vor allem in deren monumentalem zweiten Vortrag, die Wissen­

schaftslehre in Übernahme von Schellings Ausgang vom Absoluten als Doppellehre vom Absoluten und von dessen Erscheinung als Wissen. Doch anders als Schelling versagt sich Fichte jede nähere Kennzeich­ nung des Absoluten (»Seyn«),54 das so primär über seine Prinzipien­ funktion für das Wissen und damit letztlich als absoluter Wissensgrund nach Art des absoluten Ich in der frühen Wissenschaftslehre ist. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen dem Stand der Systementwicklung bei Fichte und bei Schelling im Jahr 1804 liegt in der faktizitär-kontingenten Auffassung des Verhältnisses von Abso­ lutem und Erscheinung bei Fichte wie Schelling. Doch betont Schel­ ling dabei eher die prinzipielle und permanente Differenz zwischen Absolutem und Erscheinung, indem er den Übergang vom Absolu­ ten zur Erscheinung in theologischer Ausdrucksweise als »Abfall« charakterisiert,55 während Fichte komplementär zur originären Des­ zendenz des Absoluten in das Wissen und zum Wissen die finale Aszendenz des Wissens zu seinem absoluten Ursprung herausstellt. Das Wissen ist so für den mittleren Fichte ineins die Verwirkung und die Verwirklichung des Absoluten.56 Dem Theologoumenon vom Sündenfall, das beim frühen mittleren Schelling im Zentrum der Philosophie des Absoluten steht, stellt Fich­ te schließlich in der Wissenschaftslehre von 1807 (»Königsberg«)57 die soteriologisch inspirierte Vorstellung von der »Offenbarung« des Abso­ luten (»Gott«)58 in dem, durch das und als das Wissen entgegen. Der prinzipiellen Differenz von Absolutem und Erscheinung, der zufolge das Wissen zwar die Erscheinung des Absoluten bildet, aber eben auch nur dessen Erscheinung , trägt Fichte dadurch Rechnung, dass er Gott nicht als schon erschienen oder je erschienen, sondern als immer nur erscheinend und die Offenbarung Gottes als die Offenbarung seiner

53 Vgl. Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 11-70 und ders.: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge, SW IV, 213-332. 54 Vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, 242. 55 Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 38. 56 Zu Abstand und Nähe zwischen Fichte und Schelling im Jahre 1804 vgl. Günter Zoller: Fichte, Schelling und die Riesenschlacht um das Sein, in: Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis. Hrsg. v. Ursula Baumann. Hannover 2006, 93-110. 57 Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg, GA I I 10,111-202. 58 Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg, GA I I 10,171.

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als nicht offenbarbar ausgibt.59 In der Sache entspricht dies dem IdeenStatus des reinen Ich in der Frühfassung der Wissenschaftslehre und dem konstitutiv praktischen, selbstbewegt-bewegten Charakter des ichlich verfassten Wissens beim frühen Fichte.60 Im Hinblick auf den mittleren Fichte wird man so die Bewegung seines philosophischen Systems nicht als Richtungsänderung auffassen wollen,61 eher schon als fortgesetzte Bewegung in einer längst eingeschlagenen Richtung, allenfalls verbunden mit einem Wechsel im Bewegungstempo, das aus dem Stürmer und Dränger, dem transzendentalphilosophischen Jako­ biner der Jenaer Jahre, den klassisch beruhigten Mediator des Wissens­ absoluten hat werden lassen.

59 Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg GA II 10, 171. Zum Gottesbegriff des späten Fichte vgl. Günter Zoller: Ex aliquo nihil. Fichtes Antikreationismus, in: Der Eine oder der Andere. »Gott« in der klassischen deutschen Philosophie und im Denken der Gegen­ wart. Hrsg. v. Christoph Asmuth/Kazimir Drilo. Tübingen 2010, 37-54. 60 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 391-392; ders.: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 265-266. 61 Zur methodisch-systematischen Differenz von mittlerem und spätem Fichte vgl. Günter Zoller: Denken und Wollen beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 17 (2000), 283-298; ders.: Leben und Wissen. Der Stand der Wissenschaftslehre beim letzten Fichte, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs/Marco Ivaldo/Giovanni Moretto. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 307-330; ders.: »On revient toujours ...«. Die transzendentale Theorie des Wissens beim letzten Fichte, in: Fichte-Studien 20 (2003), 253-266.

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Expanding the W issenschaftslehre 1799-1802. Strategie Makeover or N eubau ? Among the perennial problems of Fichte scholarship is that of his socalled »veränderte Lehre«d No one would deny that there are striking differences, at least with respect to terminology and external form, be­ tween the earlier (or Jena) and later (or Berlin) versions of the Wissen­ schaftslehrer as well as differences between distinct presentations with­ in each of these two broad periods. There is, however, a long-standing controversy concerning the meaning and substance of these differences and whether the Wissenschaftslehre underwent any fundamental alter­ ation in conception, aim, and content over the two decades in which Fichte strove to articulate it. More specifically, was there or was there not a major Wende or turning point in the years immediately follow­ ing his departure from Jena in the spring of 1799? According to some well-qualified judges, the differences between the later and earlier ver­ sions of this system are global and profound, whereas for many oth­ ers - including, notably, Fichte himself12 - the changes in question are 1 See HartmutTraub: Transzendentales Ich und absolutes Sein. Überlegungen zu Fichtes »veränderter Lehre«. In: Fichte-Studien 16 (1999), 39-56. 2 »So Jemand will, so mag er eine solche Arbeit auch für die Erfüllung des vor Langem gegebenen Versprechens einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre nehmen; welcher Erfüllung ich mich übrigens, weil mir immer deutlicher geworden, daß die alte Darstellung der Wissenschaftslehre gut und vorerst ausreichend sei, schon längst entbunden hatte, und jetzt sie weiter hinausschiebe. Wie es mir aus den öffentlichen Aeusserungen dieser Erwartung wahrscheinlich geworden, hoffte man besonders, daß durch die neue Darstellung das Studium dieser Wissenschaft bequemer werden sollte; welcher Hoffnung zu entsprechen ich weder ehemals noch jetzt große Fähigkeit oder Geneigtheit in mir verspüre. Da ich so eben die ehemali­ ge Darstellung der Wissenschaftslehre für gut und richtig erklärt habe, so versteht sich, daß niemals eine andere Lehre von mir zu erwarten ist, als die ehemals an das Publikum gebrachte. Das Wesen der ehemals dargelegten Wissenschaftslehre bestand in der Behauptung, daß die Ichform oder die absolute Reflexionsform der Grund und die Wurzel alles Wissens sei, und daß lediglich aus ihr heraus Alles, was jemals im Wissen Vorkommen könne, so wie es in demselben vorkomme, erfolge; und in der analytisch=synthetischen Erschöpfung dieser Form aus dem Mittelpunk­ te einer Wechselwirkung der absoluten Substantialität, mit der absoluten Causalität; und diesen Charakter wird der Leser in allen unsern jetzigen und künftigen Erklärungen über Wissenschaftslehre unverändert wiederfinden« (Johann Gottlieb Fichte: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schichsale demsel­ ben [1806]. In: Johann Gottlieb Fichte: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Aka­ demie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Erich Fuchs/Hans Gliwitzky et al.

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mainly if not exclusively strategic and heuristic: changes in Buchstabe, to be sure, but not in Geist. I do not propose to resolve this debate, but merely to contribute to it. What follows is a story, eine pragmatische Geschichte, if you will, about certain events and developments in Fichte's circumstances, writing, and thinking during the period immediately following his departure from Jena. Though this story will surely not settle the question regarding his veränderte Lehre, it may nevertheless contribute toward the resolution of the same.

1. Wissenschaftslehrer under Siege 1799 was a bad year for Fichte, and 1800 and 1801 were not much bet­ ter. 1799 was the year the Fichtean meteor came crashing to earth. Not only did he, in the wake of the Atheismusstreit, lose his influential posi­ tion at the most fecund academic incubator of philosophy in the Ger­ man-speaking world, but he also began to lose his most prominent philosophical patrons and allies. First Kant, then Reinhold, and then Schelling: all publically distanced themselves from the Wissenschaftslehre in rapid succession. At the same time, the drumbeat of criticism from critics and opponents such as Nicolai, Jacobi, Herder, Hamann, Heusinger, Bouterwek, and Abicht steadily mounted, while the Wissenschaftslehre was subjected to public parody and sarcasm by younger authors such as Schleiermacher and Jean Paul.3 In addition, his new popular work of 1800, Die Bestimmung des Menschen, received a number of hostile reviews, with one reviewer objecting that the account of Wis-

Stuttgart-Bad Cannstatt 1962-2012. Abt. II, Bd. 10,11-66, hier: 28-29. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnum­ mer in arabischen Zahlen). 3 See Schleiermacher's rather cruel parody of Fichte in his review of Die Bestim­ mung des Menschen, published in the summer of 1800 in the Atheneaum (reprint in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen. Hrsg. v. Erich Fuchs/Wilhelm G. Jacobs/ Walter Schieche. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Bd. 3, 66-75) and Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana. Erfurt April 1800 (reprint in: Aus der Frühzeit des deutschen Idealismus: Texte zur Wissenschaftslehre Fichtes 1794-1804. Hrsg. v. Martin Oesch. Würz­ burg 1987,199-216). For a discussion of Nicolai's many personal attacks upon Fichte, see the editors'introduction to Fichte's Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinun­ gen, GA I 7, 325-463, hier: 326-363. For Fichte's response to Schleirmacher's review, see his letter to Friedrich Schlegel, August 16,1800. For his response to Nicolai, see Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen (May 1801).

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sen in Book II presupposes the impossible:4 namely, that one can be

consciously aware of one's inner acts and intuitions. »Ja erkläre dann auch deine Erklärung,«5 demanded this reviewer. Another concluded his review by calling attention to what he insisted were the radical and substantial differences between each of Fichte's presentations of his phi­ losophy:6 In suggesting that the system propounded by Fichte in 1800 was no longer the same one he had presented to the public in 1794, the author of this review seems to have been the first to raise publicly the question concerning »the unity of the Wissenschaftslehre«, though pri­ vate comments by both friends and enemies of the Wissenschaftslehre indicate that he was by no means the only student of Fichte's writings to be puzzled by Die Bestimmung des Menschen .7 Just as Fichte's personal and professional fortunes were reaching their nadir, with his sudden and disruptive move from Jena to Berlin, philosophical opposition to the Wissenschaftslehre was reaching its apo­ gee. It surely must have seemed to Fichte that his philosophy was being 4 Erlangener Literatur-Zeitung, 19/20 (1800), (reprint in: /. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3,35-53). The author of this anonymously published review was pro­ bably Johann Heinrich Abicht. 5 J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3, 45. 6 Friedrich Ludwig Bouterwek's review of Die Bestimmung des Menschen appeared in the Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, June 9,1800 (reprint in: /. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3, 53-56). According to Bouterwek, the Wissenschafts­ lehre was first presented, in the Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, as a new metaphysics grounded upon the principle of identity; second, in the Versuch einer neuen Darstellung, as a system grounded upon intellectual intuition; and finally, in Die Bestimmung des Menschen, as a Glaubensphilosophie in the manner of Jacobi. That Fichte was aware of Bouterwek's review may be inferred from his November 22,1800 letter to Gottfried Ernst Mehmel, in which he accuses Bouterwek, along with Abicht and several others, of stealing his ideas. 7 Readers familiar with Fichte's Jena writings were equally puzzled by his onesidedly theoretical account of Wissen in Book II and by his elaborate doctrine of both the sensible and the supersensible world in Book III and by his claim that the reality of either world was purely an article of morally compelled Glaube. Thus Fichte's old acquaintance from Zurich, fens Baggessen, wrote to Jacobi: »Freilich unterschreibe ich jede Zeile, aber nur in wiefern jede Zeile die gesammte Wissenschaftslehre wi­ derlegt,« and added: »es ist auch erbaulich, einen alten ruchlosen Sünder sich so Knall und Fall bekehren zu sehen« (fens Immanuel Baggesen to Friedrich Heinrich facobi, 22.4.1800. In: J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Hrsg v. Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche. 5 Bde. Stutt­ gart-Bad Cannstatt 1978-1992. Bd. 2, 328-329). Jacobi, focusing his attention upon Book III, went so far as to accuse Fichte of plagiarizing from his own »philoso­ phy of belief,« and complained that Book III employs a vocabulary and manner of expression uncomfortably close to his own (Friedrich Heinrich Jacobi to Jean Paul, 16.4.1800. In: Fichte im Gespräch, Bd. 2, 308-309).

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besieged on every side, inasmuch as it was being denounced simultane­ ously as »nihilism« (Jacobi), »pure logic« (Kant), »empirical psychology« (Heusinger, Abicht, Nicolai), neglectful of »thinking as thinking« (Rein­ hold), insufficiently attentive to the constitutive power and ambiguity of language (Hamann, Herder), and finally, nothing but a »subjective philosophy of reflection« (Schelling, Hegel). In addition, Fichte was also becoming embroiled in a series of personal disputes with Feßler and Feldmann concerning Freemasonry, with Friedrich and August Schlegel over their disputed plans for a jointly-edited journal, with his family in Rammenau regarding the disposal and management of their parental estate, and with his publishers regarding unpaid royalties and pub­ lishing rights. Fichte had four short-term literary and philosophical objectives when he arrived in Berlin: the first was to reply as effectively and as publically as possible to the charges of atheism and nihilism; the second was to respond directly to the various philosophical objections that were being leveled against the Wissenschaftslehre; the third was to produce some publications aimed at a broad popular readership so that he might be able to support himself and his family and bring them to Berlin; and the fourth was to resume the scientific project that had been interrupt­ ed by the Atheismusstreit: namely, completing and publishing a new and improved presentation of the foundational portion of his system. Let us now consider how he went about pursuing each of these goals after his departure from Jena. (a.) As soon as he arrived in Berlin in the summer of 1799, Fichte immediately set to work on a popular writing clearly intended to un­ derscore the religious significance of his philosophy. This work, Die Be­ stimmung des Menschen , appeared at the beginning of the next year to a very mixed reception. It distinguished Wissen from Glaube in a way that puzzled many readers familiar with Fichte's earlier efforts to demon­ strate that practical reason is always a constituent moment of theoret­ ical reason, and it seems to depict knowing as a purely theoretical enter­ prise, unable to distinguish mere pictures from real objects. To be sure, the reality of ordinary objects of knowledge is quickly reinstated in Book III, but only as a doxastic postulate, as it were, of an a priori resolve to believe that the voice of conscience not only must be obeyed but cannot deceive us. But most of Book III is devoted to a protracted deduction of a series of additional commitments concerning reality that one must allegedly endorse in consequence of one's initial moral commitment.

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What Book III presents is not really a transcendental deduction in the Kantian or Fichtean sense, but is what Ives Radrizzani has called an »argument of belief«.8 Not that the task of this deduction is actually to produce any beliefs in the reader; on the contrary, the beliefs in ques­ tion - concerning the reality of the natural and supersensible worlds - are assumed to be already present in the human mind and thus can simply be presupposed as facts. The task of philosophy, as Fichte puts it in lieber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, is sim­ ply to explain the otherwise puzzling Tatsache of such beliefs by deriving them »aus dem nothwendigen Verfahren jedes vernünftigen Wesens«.9 Precisely what, according to Book III, must every rational being be­ lieve in order to trust and obey the voice of conscience? One must be­ lieve in - among other things - the reality of the following: of that sen­ sible world in which one is obliged to act;101of that supersensible or purely spiritual world in which dutiful willing is immediately efficacious;11 of the One infinite will - now called God - that is the original source or ground of one's absolute freedom and particular duties, the spiritual band that preserves and unifies the supersensible community of finite I's, and the original source or ground of the original limitations or determinations of every finite I.12 What this »argument of belief« purports to show is that one's imme­ diate awareness of moral obligation is the ideal ground of belief in God and that God, in turn, is the real ground of the voice of conscience. An analysis of the possibility of finite self-consciousness must ultimately refer us to something lying wholly outside the domain constituted by the acts of the human mind, something which can no longer be treated as an >I< at all, not even a pure one. No longer must the philosopher interpret our awareness of concrete duty as either an inexplicable fact of reason or an inscrutable limit upon an otherwise arbitrary freedom of Willkür (which is how Fichte himself had sometimes described it in the

8 Ives Radrizzani: The Place o f the Vocation of Man in Fichte's Work. In: New Essays on Fichte's Later Jena Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Evan­ ston, IL 2002, 317-344, hier: 333. 9 Fichte: lieber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 318-357, hier: 348. Note that this same strategy for an »argument of belief« is already explicitly mentioned in 1794 in the Aenesidemus review. See Fichte: Anesidemus, GA I 2, 31-67, hier: 65-66, where it is associated with the method of practical philosophy in contrast with the method of theoretical philosophy. 10 See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6,145-311, hier: 262-263. 11 See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 278-279. 12 See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 291-296.

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past).13 Now it can be seen for what it truly is: »[ein] Orakel aus der ewigen Welt«.14 To be sure, Die Bestimmung des Menschen is a popular rather than a scien­ tific presentation of these conclusions, and yet it indicates a new scien­ tific task for the Wissenschaftslehre as well. The new challenge would be to present this new thought, or rather this new Blick or insight, not as an »argument of belief« but as the result of a proper transcendental deduc­ tion of the conditions for the possibility of any consciousness (or knowl­ edge) whatsoever, quite independently of the alleged fact of universal belief in some such transcendent reality. The only systematic division of the Wissenschaftslehre that Fichte had failed to articulate adequately during his years in Jena was philosophy of religion; and he explicitly understood and recommended Book III of Die Bestimmung des Menschen as a popular sketch of what a scientific theory of religion »nach Principien der W.L.« would have to demonstrate rigorously.15 We shall see below how the effort to integrate this new insight into the systematic structure of the Wissenschaftslehre would require much more than a mere extension or expansion of the same; instead, it would demand an entirely new starting-point and method, which would at least threaten to trans­ form the Wissenschaftslehre from a purely immanent and transcendental system of the necessary acts of the human mind into one that refers to a transcendent principle - and indeed, to a transscendent being - lying altogether beyond the domains of both consciousness and knowledge. (b.) Fichte's second literary objective after his departure from Jena namely, responding to and correcting various philosophical criticisms of the Wissenschaftslehre - is one he pursued through a variety of means and formats. In response to Kant's characterization of his philosophy as a purely formal or logical system, he had Schelling place a public response in the Allgemeinen Literatur-Zeitung in which he claimed that Kant's repudiation of the Wissenschaftslehre was merely a reflection of

13 See, e.g., Fichte: System der Sittenlehre nach Principien der Wissenschaftslehre, GA I 5,1-317, hier: 101-102 and lieber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 353. 14 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 293. 15 See Fichte's comment in his letter to his wife, 5.11.1799: »Ich habe bei der Aus­ arbeitung meiner gegenwärtigen Schrift einen tieferen Blick in die Religion gethan, als noch je« (GA III 4,142). See the discussion in the next section of Fichte's letters to Schelling, to whom he refers in Book III of Die Bestimmung des Menschen, for hints concerning the new »system of the intelligble world« that he was trying to incorpo­ rate into his »new presentation of the WL.«

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his lack of any first-hand acquaintance with the same.16 Then, in Jan­ uary of 1800, after receiving a letter from Reinhold extolling Bardili's Grundriß der Ersten Logik and reading Bardili's work on his own, Fichte became increasingly hostile toward both Bardili and Reinhold, as is evident from his acid review of the Grundriß (written and published in October of 1800), in which he denounces Bardili's project of basing phi­ losophy upon nothing but »Denken als Denken« as no more than »ein trockne [s] Spiel mit Begriffen« and as an example of precisely the kind of »spielende Formal-Philosophie« that Kant had mistakenly taken the Wissenschaftslehre to be.17 But he also employs Bardili's philosophy as a useful foil for his own insistence upon the importance of intuition with respect to philosophical evidence. Reinhold responded in January of 1801 with an irritated Sendschreiben, to which Fichte of course responded in turn with his own Antwortschreiben in April of the same year.18 Fichte responded directly to the charge that the pure I is nothing more than »eine psychologische Täuschung,«19 in nearly all of his writ­ ings from this period: in his January 1800 Aus einem Privatschreiben (Jan­ uary 1801), in An das philosophische Publikum (November 1800), in his 16 Immanuel Kant: Erklärung. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 28.8.1799 (reprint in: Fichte im Gespräch, Bd. 2, 217-218). In this »Declaration«, Kant dismisses the Wis­ senschaftslehre as »bloße Logik« and »ein gänzlich unhaltbares System«. See Fichte's letter to Schelling, of September 12, 1799, which contains the text of the reply to Kant that Schelling placed at Fichte's request in the Allgemeinen Literatur-Zeitung. 17 Fichte: Rezension Bardili, GA I 6, 427-450, hier: 435, 443. 18 Karl Leonhard Reinhold: Sendschreiben an ]. C. Lavater und J. Fichte über den Glau­ ben an Gott. Hamburg 1799. Fichte: Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold, GA I 7, 275-324, hier: 291-324. 19 Christoph Friedrich Nicolai: lieber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard, und Fichte. Berlin/Stettin 1799. Nicolai had been a thorn in Fichte's side for many years, and attacked him once again in late 1800 on the pages of the Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, in a collective review of recent writings by Schelling and others. Fichte first became aware of Nicolai's attack in February of 1801 and responded by dropping work on everything else and preparing for publication the polemical tract, Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen, which was in print by May of that year. (See Fichte: Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen, GA I 7, 365-463.) Johann Henrich Gottlieb Heusinger: Ueber das idealistisch-atheistische System des Herrn Profeßor Fichte. Perthes 1799. See Fichte's comments on this work in his unpu­ blished note from the spring of 1799. In: [Gegen Heusinger], GA II 5,193. This same charge of psychologism was subsequently repeated by Reinhold as well. See Karl Leonhard Reinhold: Ueber die Autonomie als Princip der praktischen Philosophie der Kantischen - und der gesammten Philosophie der Fichtisch-Schellingschen Schule. In: Karl Le­ onhard Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfänge des 19. Jahrhunderts. 2. Heft. Hamburg 1801.

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Anwortschreiben an Reinhold (April 1801), in the Sonneklarer Bericht (April 1801), and in his polemic against Nicolai, Friedrich Nicholais Leben und sonderbare Meinungen (written in a few short months in the spring of

1801 and published in May of that year). In each case his response was similar: Wissenschaftslehre is not psychology, because it deals not with alleged »facts of consciousness« but with the necessary acts of the mind, as those are freely constructed within transcendental philosophy.20 The publication in 1799 and 1800 of Herder's and Hamann's Metacri­ tiques of transcendental philosophy,21 was viewed by Fichte as yet an­ other attack upon the Wissenschaftslehre, which was criticized for failing to recognize the extent to which all thought is conditioned by natural language and thus for failing to appreciate the need to preface the cri­ tique of reason with a critique of language.22 Fichte replied to this crit­ icism in several publications, including Aus einem Privatschreiben and his November 4, 1800 Announcement of a new presentation of the Wis­ senschaftslehre. After noting that his actual terminology is unimportant, variable, and purely provisional, he insists that all that really matters for the purposes of Wissenschaftslehre is its success in leading people to see for themselves what it is talking about.23 Words, he insists, are mere 20 See Fichte: Aus einem Privatschreiben, GA I 6, 363-389, hier: 387: »Nämlich die­ ser Heusinger bildet sich noch überdies nichts geringeres ein, als daß er dem gan­ zen Systeme der WissenschaftsLehre mit Einem Streiche ein Ende machen könne, indem er versichert, jenes Ich, worauf dieses System baue, in seinem Bewusstseyn gar nicht vorzufinden: es sey dasselbe eine psychologische Täuschung. Psychologie eben lehrt - von Thatsachen des Bewusstseyns eben, - von dem, was man nur so vorfindet, wenn man sich findet, redet die Wissenschaftslehre!« 21 Johann Georg Hamann: Metacritik über den Purismus der Vernunft. In: Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion. Hrsg. v. Friedrich Theodor Rink. Königsberg 1800 [written 1784]) and Johann Gottfried von Herder: Verstand und Erfahrung: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1799. Another linguistically based criticism was applied explicitly to the Wissenschaftslehre by Jean Paul, who characterized Fichte's philosophy as »bloße von Begriff und Anschauung freie Sprache« (Paul: Clavis Fichtiana, § 10, 201-202). 22 See Paul: Clavis Fichtiana, § 10. 23 »Aber warum bleibe ich nicht bei dem gewöhnlichen SprachGebrauche? Ich wünschte, mein Freund, daß Sie Gelegenheit fänden, denen, die so fragen, zu sagen, daß ich für meine Person diese Rede für eine der Tormalen Unvernunftem unsers Zeitalters ansehe, welche hoffentlich nur einer dem andern nachsagt, jeder auf die Verantwortung seines Vordermanns, ohne daß ein einziger bedenkt, was er redet. Dem Denker, der wirklich etwas Neues auf die Bahn zu bringen meint, gebieten, daß er bei dem gewöhnlichen SprachGebrauche bleibe, ist - lediglich die Hyperbel abgerechnet - ganz dasselbe, als ob mein einem geböte, den Pescherähs, Europäi­ sche Künste, Wissenschaften, und Sitten beizubringen, jedoch in den Worten und WortBedeutungen ihrer bisherigen Sprache. Erzeuge ich in mir eine neuen Begriff,

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names for concepts, whereas reason itself possesses in intuition »ein[] höheres Vereinigungsmittel [...] als den BegriffSysteme in Bewegung< verdeutlicht dieser skizzenartige Vergleich der Wissenschafts­ lehren von 1804 und 1807 einen wichtigen Punkt, der nicht überse­ hen werden sollte. Bei einer Untersuchung der Systeme der Deutschen Idealisten, insbesondere von Fichtes Wissenschaftslehre, ist die Mög­ lichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Darstellung eines Systems sich verändert, während dies für das System selbst nicht gilt. Angesichts der aufgewiesen Übereinstimmungen zwischen dem Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 und der Wissenschaftslehre von 1807 ist bspw. zu erkennen, dass Fichtes systematischer Ansatz mit Blick auf die Erscheinungslehre sich grundsätzlich nicht verändert,74 obgleich die Darstellungen seines Systems bedeutende Unterschiede aufwei­ sen, indem bspw. Problemstellungen, welche den Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 prägen, in der Königsberger Wissen­ schaftslehre nicht behandelt werden. Fichtes Darstellungen der Wis­ senschaftslehre sind in dieser Schaffensperiode >in BewegungIch< sind, allererst konstituiert werden.13 Es rückt in die Position des Beobach­ ters desjenigen Unterschiedes, durch den die Selbstzuwendung einer Person erst möglich ist - oder, systemtheoretisch gesprochen: es ist als Beobachter des Systems selbst Bestandteil des Systems. Und die systemre­ levante erste Frage, die hier entsteht, ist: Wie kann der Philosoph an dieser Selbstreferenzialität des Systems beobachtend teilhaben? - Dies berührt die zweite Frage nach dem Abschluss des Systems eines nun­ mehr »transzendentalen Idealismus«: Wie kann in der höchsten Form der Selbstdurchsichtigkeit dem Selbstbewusstsein ein Wissen nachge­ wiesen werden, das um diesen nie aufhebbaren Rest weiß. Die Entstehungsgeschichte des Selbstbewusstseins und das Ge­ füge der Außenwelt in ihrem »unzerreißbaren Zusammenhang« darzustellen,14 oder - wie Schelling im System des transzendentalen Ide­ alismus formuliert - das, »was die Philosophie äußerlich nicht darstel­ len kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produciren und

11 Es gibt also »einen prinzipiell nicht aufhebbaren Rest in unserer Selbstdurch­ sichtigkeit« (Wolfgang Hogrebe: Sehnsucht und Erkenntnis, in: ders.: Fichtes Wissen­ schaftlehre 1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt/M. 1995, 50-60, hier: 61 Anmer­ kung). 12 In der Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie von 1795 schreibt Schelling, dass das absolute Ich »überall nicht in der Sphäre der Objekte, und selbst nicht im Subjekt, das gleichfalls als Objekt bestimmbar ist, zu suchen« (Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie, SW 1 ,149-244, hier: 166) sei. 13 Vgl. hierzu Markus Gabriel: Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbezvußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«. Berlin 2006. 383 ff. 14 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 93.

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seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten«,15 gelingt allein in der Kunst. Erst mit der Anerkenntnis der Kunst kommt die Geschich­ te des Zu-sich-Kommens zu einem Ende. Die Kunst zeichnet aus, dass sie ein Verhältnis zu den Dingen lehrt, das schon von Anbeginn die ei­ gentümliche Gesetzmäßigkeit zwischen Natur und Freiheit ausmacht: »die wechselseitige Unabhängigkeit beider voneinander, obgleich sie übereinstimmen«.16 Dieses Wissen der Kunst hat den Charakter der Offenbarung, da es innerhalb des Wißbaren (das ist des Systems) auf einen Grund der Identität des Selbstbewusstseins verweist, der außerhalb des Wissens liegt. Damit bin ich bei meinem Thema, bei dem »Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß«.17 Die Kunst ist dann nämlich die Zerreißung des Schleiers der Amnesie und das gehei­ me Zentrum dieses (poetischen) Idealismus um 1800. Das »System der Kunst« ist insofern jene »absolute Continuität«, die Fichte lediglich vom Standpunkt des Bewusstseins nacherfinden will. Sie ist »Eine ununterbro­ chene Reihe, die vom Einfachsten in der Natur an bis zum Höchsten und Zusammengesetztesten, dem Kunstwerk, herauf geht« und damit das Postulat erfüllen soll,18 dass »im Subjektiven, im Bewußtseyn selbst, jene zugleich bewußte und bewußtlose Thätigkeit aufgezeigt werde«.19 Schellings Nacherfindung der »Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens, des sich Bewußtwerdens selbst«,20 die Fichte erst in ihrer höchs­ ten Potenz, dem Bewusstsein, aufnimmt, ist eine ästhetisch geleitete »Anamnese« des Selbstbewusstseins,21 die sich von Fichtes Idee des Primats der praktischen Vernunft verabschiedet hat. Sie ist Anamnese, also Wiedererinnerung der Weltseele - so auch der Titel einer kleinen Schrift von 1798. Sie ist keine ausschließlich genetische, das heißt im praktischen Handlungsvollzug (der Tathandlung) sich versichernde Be­ griffskonstruktion mehr, sondern zieht die Konsequenzen aus Kants dritter Kritik, der Wende zur Ästhetik, das heißt sie nimmt ein Wissen 15 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 627-628. 16 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 579. 17 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 351. 18 Schelling: lieber den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW IV, 89. 19 »Wie die Kunst des Künstlers nicht eigentlich ist, die Natur zu übertreffen, son­ dern das Seyende in ihr darzustellen, das Nicht-Seyende aber, das in dem gemeinen Vorkommen zugleich mit bemerkt wird, auch für die Wahrnehmung - (die als bloße für=wahr=Nehmung ausdrücklich dem wirklichen Sehen entgegengesetzt wird) zu entfernen: ebenso ist die Absicht des Naturphilosophen keineswegs, die Natur zu überfliegen, sondern das Positive, oder was in ihr eigentlich ist, rein darzustel­ len und zu erkennen« (Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 349). 20 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 93. 21 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 95.

Zur Problematik des Abschlusses in Schellings System (1800)

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der Kunst in Anspruch, um das Bewusste und Bewusstlose in ihrer Ein­ heit bewusst zu machen. Lassen Sie mich dies näher erklären. Für Schelling kann Selbstbewusstsein als »Akt, wodurch sich das Denkende unmittelbar zum Objekt wird«,22 nur fungieren, wenn in ihm beide Sphären, Subjekt und Objekt sich gegenseitig nötig haben und im Wechsel aneignen. Als unbedingtes Selbstbewusstsein ist dieses Selbstbewusstsein nur nach Maßgabe eines Ich-sagenden menschlichen Geistes zu verstehen. Erklärungsgrund ist jedoch weder das menschli­ che Selbstbewusstsein noch irgendeine höhere »Art des Seyns«. Dieses Selbstbewusstsein ist bloßes Denken mit sich selbst; ein Denken, das sich unmittelbar selbst zum Objekt wird - »ohne alle Vermittlung«.23 Es selbst ist ursprüngliche Tat und daher per se indemonstrabel: »Der Be­ griff des Ich kommt durch den Akt des Selbstbewußtseyns zu Stande, außer diesem Akt ist also das Ich nichts, seine ganze Realität beruht nur auf diesem Akt, und es ist selbst nichts als dieser Akt«.24 Vor dem Hintergrund dieser Konzeption von Selbstbewusstsein ist das postulierte Wissen, welches das Selbstbewusstsein von sich hat, nur überaus prekär in den Griff zu bekommen. Es ist als Bewusstsein rei­ ner Produktivität zu verstehen, die nicht in einem Produkt zum Still­ stand kommt, mithin unbewusst bleibt. Diese unbewusst vollzogenen Handlungen des Ich einem philosophischen Bewusstsein zugänglich zu machen, erfordert mithin eine Übersetzungsleistung, welche die Gren­ zen des Bewusstseins in die Darstellung einzubeziehen hat. Schelling nennt das Wissen des Selbstbewusstseins von sich - im Unterschied zur intelligiblen Selbstwahrnehmung - eine »intellektuelle Anschauung«, da es sich als unmittelbares Wissen zugleich auch erschafft, mithin als »Organ alles transzendentalen Denkens«25 zugleich produktiv und re­ zeptiv ist.26 Die spekulative Verlegenheit, hier von einem »Organ« des transzendentalen Denkens zu sprechen, das doch keinerlei Beziehung auf ein Bewusstsein hat, ist Schelling schon in seinen Frühschriften

22 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 365. 23 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 384. 24 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 366. 25 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 369. 26 In den Erlanger Vorlesungen von 1820/21, in denen er diesen Terminus durch den Begriff der Ekstasis ersetzt, erläutert er rückblickend: »Anschauung nannte man es, weil man annahm, daß im Anschauen oder [...] im Schauen das Subjekt sich verliert, außer sich gesetzt ist: intellektuelle Anschauung, um auszudrücken, daß das Subjekt hier nicht in das sinnliche Anschauen, in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren, sich selbst aufgebend in dem, was gar nicht Objekt seyn kann« (Schelling: Erlanger Vorträge, SW IX, 207-252, hier: 229).

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nicht entgangen. »Ich weiß es ebenso«, schreibt er in seiner Frühschrift Vom Ich als Princip (1795),

»daß diese intellektuale Anschauung, sobald man sie der sinnlichen verähnlichen will, durchaus unbegreiflich seyn muß, daß sie überdieß ebensowenig als die absolute Freiheit im Bewußtseyn Vorkommen kann, da Bewußtseyn Objekte voraussetzt, intellektuale Anschauung aber nur dadurch möglich ist, daß sie gar kein Objekt hat. Der Ver­ such also, sie aus dem Bewußtseyn zu widerlegen, muß ebenso sicher fehlschlagen, als der Versuch, ihr durch dasselbe objektive Realität zu geben, was nichts anderes hieße, als sie schlechterdings aufheben.«27 Die Verlegenheit, von einem Prinzip sprechen zu müssen, das sich erst im Erfolg der Anwendung ausweist, dort aber schon nicht mehr greif­ bar ist, ist für Schelling keinesfalls ein Mangel, sondern vielmehr kons­ titutives Merkmal eines Vorgangs, der eintritt, wenn die Einheit über die Verdoppelung, in der sie sich im Objekt spiegelbildlich gegenüber­ tritt, vergessen wird und nur noch als nicht-seiend vorgestellt werden kann.28 In ihrer Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit kann die intel­ lektuelle Anschauung immer nur erinnert werden. Ihr Wesen als freie Tätigkeit besteht gerade darin, dass sie nirgendwo zum Stehen kommt. Auf der Seite der Objekte unterhält sie einen ständigen Prozess von Selbstentäußerungen, der nicht in einem Gegenstand zur Ruhe kommt, sondern ihn als das, was er nicht sein will, wahrnimmt. Auf der Seite des Subjekts betreibt sie einen ständigen Prozess von Selbstanschau­ ungen, der immer wieder die Persönlichkeit zernichtet, da jeder Versuch, sie ins Bewusstsein zu heben, ihre Produktivität hemmt. »Wir erwachen aus der intellektuellen Anschauung wie aus dem Zustande des Todes. Wir erwachen durch Reflexion, d.h. durch abgenöthigte Rückkehr zu uns selbst. [...] Würde ich die intellektuale Anschauung fortsetzen, so würde ich aufhören zu leben. Ich ginge >aus der Zeit in die Ewigkeit!Philosophielogische< Potenziale in Schellings D arstellung m eines System s der Philosophie (1801)

1. Gesichtspunkt Wenn man sich heute Schellings Systemdarstellung von 1801 zuwen­ det, die er im Rahmen der von ihm selbst herausgegebenen kurzlebi­ gen Zeitschrift fü r spekulative Physik unter dem Titel Darstellung meines Systems der Philosophie1 publiziert hat, mag zuerst eine grelle Diskre­ panz ins Auge springen: die Diskrepanz zwischen der hohen, kaum zu überschätzenden Bedeutung, die diese erste Schrift seiner Identi­ tätsphilosophie für Schellings philosophisches Selbstverständnis zeit­ lebens hatte, und demgegenüber dem überaus zweifelhaften Ruf, den diese Schrift bei den Schelling-Lesern genoss und wohl noch immer ge­ nießt - beginnend bei seinen philosophischen Zeitgenossen bis hin zur gegenwärtigen Schelling-Rezeption. Für die Bedeutung dieser Schrift lässt sich allerhand anführen: Sie ist - nach all den naturphilosophi­ schen Entwürfen und nach der Darstellung des idealistischen System­ teils von 1800 - die erste, wenn auch in der Ausführung fragmentarisch gebliebene Gesamtdarstellung des Systems, wie es Schelling vorschweb­ te; sie blieb zudem in den Augen Schellings die einzige streng wis­ senschaftliche Darstellung des Identitätssystems.12 So kann es kaum verwundern, dass Schelling in einem Rückschau haltenden Brief an seinen naturphilosophischen Bündnispartner Eschenmayer das Jahr 1801 sogar als das Jahr bezeichnete, in dem ihm das »Licht in der Philo­ sophie aufgegangen« sei.3 Das Gewicht dieser Aussagen verstärkt sich

1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856-1861. Abt. I, Bd. 4, 107-212. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnummer in arabi­ schen Zahlen. 2 Vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Frei­ heit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, SW I 7, 331-416, hier: 334. 3 Brief von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Carl August Eschenmayer, 30.7.1805, in: Aus Schellings Leben. In Briefen. Hrsg. v. Gustav Leopold Plitt. Leipzig 1870. Bd. 2, 60; zitiert nach Manfred Durner: Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zeitschrift für spekulative Physik. Teilband 2. Mit einer Einleitung und An­ merkungen hrsg. v. Manfred Durner. Hamburg 2011, XXXIII.

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noch, wenn man sieht, wie der spätere Schelling in seinen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie das absolute Identi­ tätssystem beziehungsweise den in ihm zur Darstellung kommenden »Real-Idealismus«4 in einer Selbstinterpretation als den höchsten und vollendeten Ausdruck der >negativen Philosophie< versteht. Über die negative Philosophie sollte dann zwar zuletzt durch die Umkehrung zur >positiven Philosophie< hinausgegangen werden, aber dies ändert nichts daran, dass das Identitätssystem als gültig bleibende Darstellung des Ganzen auf dem vernunftwissenschaftlichen Standpunkt festzu­ halten ist. Insofern befinden wir uns mit der Systemdarstellung von 1801 nicht in irgendeiner beliebigen Phase des schellingschen Denkens, son­ dern im Herz seiner gesamten Systembemühungen. Daran musste erinnert werden, um die Diskrepanz in der tatsäch­ lichen Wirkung der Schrift von 1801 deutlich in den Blick zu bekom­ men: Das System von 1801 veranlasst nicht nur den endgültigen, vor allem brieflich dokumentierten Bruch zwischen Fichte und Schelling,5 sondern kann sogar als der im Dunkeln wirksame Beginn der Entfrem­ dung zwischen Schelling und Hegel angesehen werden, insofern He­ gels wenig später erscheinende Differenzschrift gerade in der Absicht, Schellings Standpunkt des Absoluten gegenüber Fichte zu verteidigen, mit der (zu diesem Zeitpunkt noch) unschellingschen Formel von der »Identität der Identität und der Nichtidentität«6 operiert, von der aus 4 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, SW 1 10, 1-200, hier: 107. 5 Zum Bruch zwischen Fichte und Schelling vgl. Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftsleh­ re (1795-1801). Freiburg i. B. u.a. 1975, bes. 158-181, und jüngst Jürgen Stolzenberg: Der Streit ums Absolute. Fichte vs. Schelling, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 181-192. Stolzenberg zieht hier in einer fichteschen Perspektive Schellings Begründung eines komplementär­ inversen Verhältnisses von Transzendental- und Naturphilosophie in Zweifel. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schelling'sehen Sys­ tems der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissen­ schaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 1-92, hier: 64. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. - Hegel spricht von einer »reellen Entgegensetzung« von Subjekt und Objekt (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 65), wäh­ rend Schelling in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802) eine »ideale Entgegensetzung« (bei »realer Einheit«) des Realen und Idealen behauptet (vgl. Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW I 4, 333-510, hier: 389-390). Das führt dazu, dass Hegel die Differenz im Absoluten spekulativ­ ontologisch versteht, während Schelling sie spekulativ-epistemologisch (oder bes­ ser: »philosophielogisch«) versteht. Damit geht einher, dass in Hegels Deutung die Konstruktion einen ganz anderen Sinn annimmt als bei Schelling, insofern sie von

>Philosophielogische< Potenziale in Schellings D arstellung (1801)

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gesehen die von Schelling festgehaltene »Identität der Identität« als Form der »absoluten Identität«7 schließlich fast zwangsläufig zu einer Erkenntnissituation führt, in der wie in der Nacht alle Kühe schwarz sind. Auch generell wird man konstatieren müssen, dass Hegels an­ schließende Radikalisierung in Form des weitestgehend überzeugen­ den Programms einer Selbst dar Stellung des Absoluten8 der weiteren Rezeption von Schellings System von 1801 nicht wohl bekommen ist: Was vor Hegels Ausführung der Phänomenologie und Logik eine kom­ promisslose Darstellung des Absoluten zu sein schien, erweckte nach Hegels einschlägigen Arbeiten den Anschein, als ob es das eigentlich zu fordernde Niveau einer Theorie des Absoluten durch seine äußerli­ che und überaus künstliche Darstellungsweise systematisch unterbö­ te.9 Denn vom Programm einer Selbstdarstellung des Absoluten aus betrachtet erscheint Schellings an Spinoza angelehntes Verfahren more geometrico nicht nur als eventuell in der Durchführung verfehlt - das absehbare Misslingen jedes Versuchs, die grundlegenden ersten fünf­ zig Paragraphen des Systems von 1801 in Form eines organischen Ge­ dankenganges systematisch zu rekonstruieren, spricht bereits für diese Misslichkeit -, sondern darüber hinaus prinzipiell als der Sache des Ab­ soluten unangemessen. Man darf daher vermuten, dass der faktische historische Sieg der hegelschen Optik in der Erwartung einer philoso­ phischen Darstellung des Absoluten eine produktive philosophische Rezeption von Schellings System von 1801 stark gehemmt hat. Ein Blick auf die zeitgenössische Schelling-Forschung dürfte diesen Eindruck jeersterem als Konstruktion der absoluten Einheit, also als Synthesis, aufgefasst wird (vgl. Hegel: Differenzschrift, GW 4, 67), während sich Schelling gegen ein Verständnis der absoluten Einheit als Synthesis ausdrücklich verwehrt, da er nicht wie Hegel vom Standpunkt der Entgegensetzung (bei Hegel: »Entzweiung« und »Vereini­ gung«), sondern unmittelbar vom Standpunkt der absoluten Identität aus zu den­ ken beansprucht (vgl. Schelling, Ferne Darstellungen, SW I 4, 379). 7 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,121, § 16 Zusatz 2. 8 Vgl. dazu bereits in der Differenzschrift: Das Absolute ist die Vernunft, »die sich als Natur, und als Intelligenz produciert, und sich in ihnen erkennt« (Hegel: Diffe­ renzschrift, GW 4, 67). Auch wenn Hegel mit Schelling die Zweiheit der Wissenschaf­ ten anerkennt, muss er gemäß seinen Voraussetzungen, danach das Absolute kein Nebeneinander sein kann (vgl. ders.: Differenzschrift, GW 4, 68), betonen, dass die beiden Wissenschaften »zugleich in Einer Kontinuität, als Eine zusammenhängen­ de Wissenschaft« zu betrachten sind (ders.: Differenzschrift, GW 4, 74). Sie gehören daher in die »Selbstkonstruktion des Absoluten« (ders.: Differenzschrift, GW 4, 74). 9 Vgl. dazu Hegels Kritik an der »synthetischen Methode« in der Philosophie, die auch als eine implizite Kritik an Schellings - an Spinozas Darstellungsweise Maß nehmender - Darstellung von 1801 zu verstehen ist (bes. Hegel: Wissenschaft der Logik (1816), GW 12, 229).

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denfalls bestätigen:101Die Systemarchitektur von 1801 stößt heute - im Unterschied zu zahlreichen anderen Werken Schellings - kaum noch auf philosophisches Interesse, geschweige denn, dass sich daran eine philosophisch produktive Lektüre anschlösse. Fast scheint es so, als ob Manfred Franks 1985 gefälltes Urteil, dass Schellings System von 1801 »das Ergebnis einer überstürzten und keineswegs ausgereiften Refle­ xion« sei,11 seither allgemein vollzogen wird. Falls nun diese Diagnose unserer hermeneutischen Situation im Kern richtig ist, scheint es am Dringlichsten geboten, eine systematische Perspektive zu finden, die das möglicherweise schlummernde Sinn­ potenzial von Schellings Text zu wecken und zur Sprache zu bringen vermag. Im Hintergrund fungieren dabei übrigens gut gadamersche Grundüberzeugungen über das philosophische Geschäft des Verste­ hens: Das Verstehen, das nicht methodisch erzwungen, sondern nur als eintretende Wirkung erwünscht werden kann, geschieht als ein ausle­ gendes Anwenden des Textes auf die eigene Fragesituation in Gestalt einer Horizontverschmelzung. Die primäre Frage ist also, welcher Fra­ gehorizont es uns ermöglichen könnte, tiefer in den philosophischen Gehalt des Systems von 1801 einzudringen. In der Hauptsache scheint es drei systematische Perspektiven zu geben, die in der Schelling-Forschung bisher verfolgt wurden und die auch hier in Frage kommen: 1) In einer ersten, sozusagen idealistischen Perspektive könnte Schel­ lings Text in die Debatte um eine Selbstbewusstseinstheorie aufge­ nommen werden, die sich am Problembestand der philosophy of 10 Vgl. den Bericht von Stefan Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner. Darmstadt 2012, 9-18 sowie die weiteren Beiträge in diesem Band, der einen »repräsentativen Einblick in die jüngere Schellingforschung« (ders.: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 7) geben möchte. 11 Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt/M. 21959 [1985], 112. Auch Sandkaulen notiert am Ende ihrer aufschlussreichen SchellingStudie das generelle Scheitern der Identitätsphilosophie, wobei sie aber bezeich­ nenderweise gar nicht näher auf die Systemdarstellung von 1801 eingeht, sondern die Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 als exemplarische Darstellung der Identitätsphilosophie heranzieht (vgl. Birgit Sandkaulen-Bock: Aus­ gang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990, 177 ff.). Für Stolzenberg wiederum präsentiert sich Schellings System von 1801 »schon in seinen ersten Schritten als eine Folge von Fehlschlüssen« (Jürgen Stolzenberg: Der Streit ums Absolute, 181-192, hier: 192). Ebenfalls in einer fichteschen Optik be­ urteilt Lauth das System von 1801 als »mißlungenes System« (Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie, 181) und verweist in diesem Kontext auch auf das Urteil von Xavier Tilliette, der in dasselbe Horn stößt.

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mind orientiert und das Identitätssystem in Richtung einer panpsychistischen Identität von Materie und Geist auslegt.12 2) In einer zweiten, sozusagen realistischen Perspektive könnte der Kontext der spekulativen Physik;, in dem Schellings Identitätssystem situiert ist, aktiviert werden, indem seine naturphilosophischen Aspekte etwa als kritisches Korrektiv des naturwissenschaftlichen Naturverständnisses ausgelegt werden.13 3) Schließlich könnte in einer - philosophiehistorisch besonders na­ heliegenden - dritten, »real-idealistischen« Perspektive das schellingsche Identitätssystem einfach als Beitrag zu einer nichttheolo­ gischen Theorie des Absoluten gelesen werden.14

Alle drei Perspektiven sind in unterschiedlicher Weise erfolgsverspre­ chend, wobei die dritte Perspektive mit der bereits erwähnten beson­ deren Hypothek belastet ist, mit dem hohen hegelschen Problemniveau Schritt halten zu müssen. Anstatt nun diese drei Perspektiven weiterzuführen, möchte ich hier die Hypothese wagen, dass alle drei genannten Perspektiven nicht in befriedigender Weise über die besondere Systemarchitektur von 1801 Rechenschaft ablegen können und dass daher mit einer vierten Pers­ pektive experimentiert werden sollte, die ich in freier Anlehnung an Eric Weils System einer Logik der Philosophie15 die philosophielogische Pers­ pektive nennen möchte. Dies bedarf einiger Erläuterungen, um nahe­ liegende Missverständnisse zu vermeiden. Zuerst ein Hinweis zur Bezeichnung: Der Ausdruck >philosophielogisch< wurde hier nur deshalb gewählt, um die historische Kontinui­ tät zur Reflexionsebene, die Eric Weils Logik der Philosophie einnimmt, kenntlich zu machen. Am Titel einer Logik liegt hier nichts; insbesondere sollte mit dieser Bezeichnung nicht die Erwartung verbunden werden, 12 Vgl. allgemein die Arbeiten von Manfred Frank und speziell Michael Blamauer: Subjektivität und ihr Platz in der Natur. Untersuchung zu Schellings Versuch einer natur­ philosophischen Grundlegung des Bewusstseins. Stuttgart 2006. 13 Vgl. Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 14-16 und vor allem HansDieter Mutschler: Spekulative und empirische Physik. Aktualität und Grenzen der Natur­ philosophie Schellings. Stuttgart 1990. 14 Vgl. Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 16-18. Zu einem in dieser Hinsicht kritischen Ergebnis kommt Birgit Sandkaulen-Bock in: Ausgang vom Un­ bedingten. 15 Eric Weil: Logique de la philosophie. Paris 1950; deutsche Ausgabe: Logik der Philo­ sophie. Übersetzt von Alexander Schnell. Hildesheim u.a. 2010. Weiterführend zum Folgenden vgl. Peter Gaitsch: Eric Weils Logik der Philosophie. Eine phänomenologische Relektüre. Freiburg/München 2014.

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es gehe um formale Logik, also um allgemeine Formen des Denkbaren, oder um transzendentale Logik, also um gegenstandskonstitutive For­ men des Denkbaren. Demgegenüber lässt sich der philosophielogische Standpunkt formal vorläufig so charakterisieren, dass es in ihm nicht um Formen des Denkbaren (des cogitatum) geht, sondern um Denkwei­ sen, also um Formen der cogitatio. Die Anwendung einer solchen forma­ listischen Perspektive auf Schellings Text dürfte jedoch auf den ersten Blick unattraktiv erscheinen, denn die Frage ist berechtigt: Geht durch diese Betrachtungsweise nicht all das, was an Schellings Text von phi­ losophischem Interesse ist, verloren? Diesem Verdacht will die nächste Bemerkung begegnen, die auf die besondere Weise des Sachbezugs, die zur philosophielogischen Perspektive gehört, aufmerksam macht. Mit der philosophielogischen Perspektive wird ein metaphilosophi­ scher Systemsinn an den schellingschen Text herangetragen, der sicher­ lich nicht der ursprünglichen Intention Schellings entspricht. Denn Schelling will in seinem Identitätssystem nicht primär etwas über die Gestaltung der Philosophie mitteilen, er will vielmehr zeigen, wie das Absolute theoretisch richtig gefasst werden muss und wie sich aus diesem richtig gefassten Absoluten die grundlegenden Erscheinun­ gen konstruieren lassen. Diese Intention Schellings sei vollkommen zugestanden; dennoch könnte es angesichts der eigentümlichen Gestalt seiner Ausführung dieses Gedankens aufschlussreich sein, die Pers­ pektive einmal umzudrehen und sich folgende Frage vorzulegen: Was geschieht eigentlich mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch , das Absolute zu erkennen? Dies ist die zentrale philo­ sophielogische Fragestellung, mit der sich eine neue Perspektive auf Schellings Text eröffnet, eine Perspektive, die hier sozusagen als Appen­ dix zur oben genannten dritten Perspektive, der Theorie des Absoluten, auftritt. Im Fokus stehen nun aber nicht mehr das Absolute und seine richtige theoretische Erfassung, sondern die Rückwirkungen, die die­ ser Denkversuch auf die architektonische Gestaltung der Philosophie hat. Aufgrund dieses exemplarischen Falles besteht dann die Aussicht, etwas Allgemeines über die Bedingungen und Eigenarten des Philosophierens selbst zu lernen, und zwar etwas, das durch vorphilosophi­ sche Trockenübungen in Form von methodologischen oder etwa wis­ senssoziologischen Überlegungen allein nicht zu erreichen ist.16 Das, 16 Die methodologische Problematik, die Eckhart Förster in seiner beeindrucken­ den Studie Die 25 Jahre der Philosophie anhand einer systematischen Rekonstruktion der philosophischen Problementwicklung von 1781 bis 1806 entfaltet, sollte sich allerdings in diesen philosophielogischen Kontext integrieren lassen (vgl. Eckhart

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was hier >Logik< genannt wird, versucht also nur, die eigentümliche Bewegtheit des Philosophierens zu fassen, die es im Vollzug des Den­ kens der Sache erleidet. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die experimentelle Einnahme der philosophielogischen Perspektive impliziert, dass geschichtlich-ge­ netische Betrachtungsweisen der Philosophie eher in den Hintergrund treten, sowohl im Sinne einer ganzheitlichen Konstellationsforschung als auch im Sinne einer ergänzenden Betrachtung der Entwicklungs­ geschichte individueller philosophischer Konzeptionen, wie sie Dieter Henrich unternommen hat.17 Das soll jedoch nicht heißen, dass mit der Einnahme der philosophielogischen Perspektive genetische Zu­ sammenhänge gänzlich ihre Bedeutung verlieren, wie ersichtlich wer­ den wird. Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen liegt aber darauf, nach einer philosophielogischen Hinführung die Fruchtbarkeit der damit verbundenen Perspektive anhand von Schellings System von 1801 kurz und stichprobenartig zu erproben.

2. Experiment In stark idealisierter philosophielogischer Hinsicht stellen sich die zen­ tralen philosophiehistorischen Stationen, die Schellings Standpunkt von 1801 vorausgehen, folgendermaßen dar: Kants transzendentalphi­ losophische Revolution der Denkungsart hatte ab 1781 das philoso­ phische Denken vom Kopf auf die Füße gestellt, indem Kant mit dem Grundgedanken operierte, dass sich die Gegenstände (als erscheinen-

Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt/M. 2011). Im Zentrum steht bei Förster die an Kants § 76 der Kritik der Urteilskraft an­ schließende Unterscheidung zwischen »intellektueller Anschauung« und »intuiti­ vem Verstand« und ihre Bedeutung für die Entwicklung der nachkantischen Philo­ sophie (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 154 und 173). Die Identitätsphilosophie Schellings bezeichnet dabei den Punkt, an dem der intuitive Verstand als menschli­ che (endliche, nicht göttliche) Erkenntnisart entdeckt wird, wenn er auch von Schelling methodologisch unzureichend - von der intellektuellen Anschauung her - re­ flektiert wird (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 251). Die naturphilosophische Ausführung einer Methodologie des endlichen intuitiven Verstandes findet Förster dann bei Goethe in dessen Untersuchungen zur Pflanzenmetamorphose und zur Farbenlehre. Philosophielogisch gesehen läuft Försters Untersuchung darauf hin­ aus, dass es zwei berechtigte Modi des Denkens gibt: nicht nur ein diskursives, son­ dern ebenso auch ein intuitives Denken (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 270). 17 Vgl. Dieter Henrich: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011, bes. 11-20.

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de) nach unserem Erkenntnisvermögen richten, wodurch sich ein zwar nicht grenzenloses, aber doch weites Feld apriorischer Erkenntnisse eröffnete, das sich durch die Transzendentalphilosophie beackern ließ. Interessant ist hier, dass Kant in diesem Zusammenhang zwar die dog­ matischen Grenzüberschreitungen streng sanktionierte, dass er aber durch seine - in Form eines »Experiments der Vernunft«18 - bewusst experimentelle Einführung des transzendental-idealistischen Stand­ punktes den entgegengesetzten dogmatischen Standpunkt als solchen, der die Erkenntnis vom Gegenstand (an sich) her aufbauen möchte, nicht schlechthin aus den Angeln hob. Daher war es nur folgerichtig, dass Fichte 1797 in seiner Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre in einer bemerkenswerten und tiefgreifenden philosophielogischen Un­ tersuchung die Möglichkeit und sogar theoretische Gleichberechtigung des dogmatischen Standpunktes erwog und den philosophischen Vor­ zug des idealistischen Standpunktes letztlich nur in einem kultivierten Selbstinteresse, das heißt in der nicht andemonstrierbaren Tathandlung des Selbstbewusstseins als intellektueller Anschauung des Ich, veran­ kern konnte.19 Genau hier - an dieser praktischen Abhängigkeit des transzendental­ philosophischen Standpunkts, insofern er nämlich nur durch einen inti­ men Freiheitsvollzug hervorzubringen ist - setzt nun der naturphiloso­ phische Schelling ab 1799 an: Da sich der transzendentalphilosophische Standpunkt als praktisch vermittelt erwiesen hat, ist er in rein theoreti­ scher Hinsicht einem Standpunkt, der die Erkenntnis vom Gegenstand her entfaltet, nicht überlegen. Ein solcher berechtigter Standpunkt, der die Gegenstandsseite zum Ersten macht, ist aber nicht dogmatisch zu entwickeln, das heißt vom Gegenstand her, wie er dem Erkennen als etwas Produziertes erscheint, sondern naturphilosophisch, das heißt von der Produktivität her, die dem Gegenstand einwohnt. Es spricht dabei nicht gegen die prinzipielle Gleichberechtigung des transzendentalphi­ losophischen und des naturphilosophischen Standpunktes, dass sich die Produktivität der Natur nur vermittels einer speziellen methodi­ schen Umbildung der intellektuellen Anschauung erreichen lässt, denn schließlich hat sich ja soeben auch der transzendentale Standpunkt als ein vermittelter erwiesen. Hinsichtlich dieser methodischen Grundle­ gung der Naturphilosophie ist insbesondere Schellings kurzer Text Über 18 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. v. Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1993, B XXI Anmerkung. 19 Vgl. Gaitsch: Eric Weils Logik der Philosophie, 49-57.

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den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen, der 1801 als Anhang zu einem Aufsatz von Eschenmayer in Schellings Zeitschrift fü r spekulative Physik erschien und der Publika­ tion des Systems von 1801 unmittelbar vorausging, aufschlussreich, da er programmatisch zum System von 1801 hinführt. Schelling benennt dort

die berühmt-berüchtigte Abstraktion vom anschauenden Subjekt im Vollzug der intellektuellen Anschauung,20 um durch eine solche »Depotenzierung des Ich« zum rein Objektiven dieses Aktes zu gelangen: dem »reinen Subjekt-Objekt« als der noch nicht potenzierten »Iden­ tität des Ideal-Realen«,21 das sich zuerst in naturhaft-reellen, sodann in geistig-ideellen Potenzen manifestiert. Damit nimmt Schelling die Grundstruktur des Gesamtsystems vorweg, das er im System von 1801 auszuarbeiten beginnen wird. Das hier als »Real-Idealismus« bezeichnete System des Wissens umfasst zwei Systemteile, einen »theoretisch­ realistischen«, der der Naturphilosophie entspricht, und einen »prak­ tisch-idealistischen«, der der Transzendentalphilosophie entspricht.22 Schelling fügt aber sogleich hinzu, dass diese Teile in der tatsächli­ chen Darstellung des Systems nicht als gesonderte erscheinen kön­ nen, da sich alles in absoluter Kontinuität, in »Einer ununterbrochenen Reihe«,23 zu entwickeln hat. Damit ist die philosophielogische Problemstellung erreicht, die den Ausgangspunkt von Schellings System von 1801 bildet: Die Situation des Denkens ist einerseits durch eine strikte philosophielogische Ne­ benordnung zweier einander entgegengesetzter, aber komplementärer Grundwissenschaften gekennzeichnet: dem gleichberechtigten Neben­ einander von Transzendental- und Naturphilosophie. Für diese Stel­ lung des Gedankens soll im Folgenden der Terminus Parataxis geprägt werden. Andererseits scheint es aber gerade die Aufgabe des Identitäts­ systems zu sein, die parataktische Kluft auf einem höheren Standpunkt des Philosophierens aufzulösen. Schellings System von 1801 ist in phi­ losophielogischer Perspektive also der Punkt, an dem die Parataxis auf ihre einheitliche Quelle hin untersucht wird. Die Leitfrage für die philo­ sophielogische Relektüre des Systems von 1801 betrifft also das Schicksal der Parataxis: Wird sie durch den philosophischen Identitätsstandpunkt,

20 Vgl. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen, SW I 4, 81-103, hier: 85 und 87-88. 21 Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 87. 22 Vgl. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 89. 23 Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 89.

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den Schelling durch ein »absolutes Erkennen« erreicht sieht,24 endgül­ tig revidiert25 oder bleibt sie vielleicht in modifizierter Form erhalten? Ich werde im Folgenden für Zweiteres optieren und dabei insbeson­ dere die Bedeutung des Potenzbegriffs in diesen Diskussionskontext stellen. Im Übrigen lässt sich ein gewisser Vorzug der zweiten Option schon einem Hinweis auf Schellings weitere philosophische Entwick­ lung entnehmen, denn offenbar hat sich Schelling seinen Sinn für pa­ rataktische Klüfte durch die Identitätsphilosophie hindurch bewahrt, wenn man sich seine spätere Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie und das wechselseitige Bedingungsverhältnis, in dem diesen beiden Betrachtungsweisen stehen, in Erinnerung ruft. Die oben genannte Frage - was geschieht mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch, das Absolute zu erkennen? - hat sich nun konkretisiert zu der Frage: Welches Schicksal erleidet die Pa­ rataxis beim Versuch, die absolute Identität zu denken? Im System von 1801 scheint auf den ersten Blick alles gegen die Parataxis zu sprechen: Gleich zu Beginn, im Corpus des § 1, wird der »Standpunkt der Philoso­ phie« mit dem »Standpunkt derVernunft« identifiziert, wobei Schelling unterVernunft die »absolute Vernunft« versteht, das heißt die Vernunft, »insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven ge­ dacht wird«.26 Die Philosophie vom Standpunkt der so verstandenen Vernunft betrachtet alle endlichen Dinge bloß als Ausdruck des Unend­ lichen.27 Schellings Indifferenzposition geht allerdings noch über diese Ausdrucksbeziehung zwischen Unendlichem und Endlichem hinaus, wie der § 2 sofort klar macht, der aus § 1 die Folgerung zieht: »Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist Alles.«28 Das bedeutet, dass die Vernunft,

24 Vgl. zur Charakterisierung der »absoluten Erkenntnisart« insbesondere die ersten beiden Abschnitte der Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (Schelling: Fernere Darstellungen, SW I 4, 339-372). 25 Das ist zum Beispiel die Position von Heinz Paetzold in seinem Beitrag zum Handbuch Deutscher Idealismus: Natur und Geist werden im System von 1801 nicht mehr als komplementär angesehen, sondern vom Standpunkt des absoluten Erkennens aus identifiziert (vgl. Handbuch Deutscher Idealismus. Hrsg. v. Hans Jörg Sand­ kühler. Stuttgart u.a. 2005,39). Dagegen ist zu fragen: Ist die Identifizierung von Natur und Geist tatsächlich mit dem Standpunkt der absoluten Identität, dem Indifferenz­ punkt, gleichzusetzen? Fraglich ist damit, ob Schelling im System von 1801 die Dif­ ferenz von Natur und Geist (die die Voraussetzung einer möglichen Identifizierung bildet) überhaupt legitimieren kann. 26 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,114. 27 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 115: »in den Dingen nur das zu sehen, wodurch sie die absolute Vernunft ausdrücken«. 28 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,115.

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zu deren Kennzeichnung später die Begriffe der »absoluten Identität«29 und der »absoluten Totalität«30 eingeführt werden, als schlechthinnige Unendlichkeit verstanden werden muss,31 innerhalb derer die Betrach­ tung des Endlichen zu situieren ist. Hier sind wir nun beim architektonisch interessanten Punkt ange­ langt: Denn Schelling macht sofort klar, dass er das Endliche nicht als Erscheinung des Unendlichen und also nicht als eine Gestalt der Selbstdarstellung des Absoluten verstanden wissen will, denn der § 14 schneidet diese Denkmöglichkeit radikal ab: »Nichts ist an sich betrach­ tet endlich.«32^om Standpunkt der Vernunft aus gibt es schlicht keine Endlichkeit. Dies führt zu einer der radikalen Pointen des Systems von 1801 , die Schelling in der Erläuterung zu § 14 formuliert: »Der Grund­ irrtum aller Philosophie ist die Voraussetzung, die absolute Identität sei wirklich aus sich herausgetreten, und das Bestreben, dieses He­ raustreten, auf welche Art es geschehe, begreiflich zu machen.«33 Dem hält Schelling entgegen: »Die absolute Identität hat eben nie aufgehört, es zu sein, und alles, was ist, ist an sich betrachtet - auch nicht die Er­ scheinung der absoluten Identität, sondern sie selbst«.34 Wenn dies nun tatsächlich der Standpunkt der Philosophie ist, dann scheint die Lage nicht nur für die Parataxis, sondern für das philosophische Erkennen überhaupt aussichtslos zu sein, da es ohne Differenzen kein bestimm­ tes Erkennen geben kann. In dieser Lage führt nun Schelling die fol­ genreiche Unterscheidung zwischen Wesen und Seinsform ein: »Die absolute Identität ist nur unter der Form des Satzes A = A«,35 das heißt das Wesen der absoluten Identität kann nur in Form einer Erkenntnis ins Sein treten, die durch die Subjekt-Prädikat-Differenzstruktur gekenn­ zeichnet ist.36 Die zweite Pointe ist nun die, dass durch diese Subjekt-Prä dikatForm, die zum Sein, aber nicht zum Wesen der absoluten Identität gehört, keine echte, qualitative Differenz auftritt,37 da sowohl an die Subjekt- als auch an die Prädikatstelle - die Schelling ab § 21 als Ob­ 29 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,117, § 6. 30 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,125, § 26. 31 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,118, § 10. 32 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,119. 33 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,119-120. 34 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,120. 35 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,120, § 15. 36 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,116-117, §§ 4-5 und 121, §16. 37 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,121, § 16.

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jektstelle deutet - wiederum die ganze absolute Identität gesetzt ist:38 Subjekt und Objekt bezeichnen nur eine quantitative Differenz,39 das heißt sie sind bloß verschiedene Gewichtungen oder Potenzen ein und derselben absoluten Identität. Das in philosophielogischer Hinsicht Entscheidende ist aber nun, dass die quantitative Differenz nur außer­ halb der absoluten Identität möglich ist.40 Da aber die absolute Identität kein wirkliches Außen hat, wie schon im § 2 klar gemacht wurde, ist dies nur vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Wesen und Seinsform verständlich zu machen: Die absolute Identität wird in ihrem Wesen durch keine Differenz berührt, nur in ihrer Seinsform, dem Erkennen, ist sie von Differenzen äußerlich betroffen. Das überaus Denkwürdige dieser architektonischen Struktur gilt es festzuhalten: Da die absolute Identität nur im Erkennen existiert, pro­ jiziert sie notwendig Differenzpunkte (sozusagen Perspektiven) aus sich heraus, ohne dabei tatsächlich aus sich herauszugehen. Die ab­ solute Identität existiert nur im Erkennen, das heißt in der durch ver­ schiedene Differenzpunkte hindurchgehenden Darstellung, ohne dass diese Perspektiven ihrem absoluten Identitätscharakter etwas anhaben könnten. In dieser Notwendigkeit differenter Perspektiven im Erken­ nen des Absoluten scheint sich in philosophielogischer Hinsicht Schellings Rechtfertigung der Parataxis zu bekunden. Im Kontrast zu Hegels Programm einer Selbstdarstellung des Absoluten im philosophischen Erkennen kann man Schellings Verständnis dieser Erkenntnissituation nun folgendermaßen charakterisieren: Das Absolute fordert zwar seine Darstellung, da es ja nur im Erkennen existiert, aber es kann sich nicht einfachhin selbst darstellen, sondern nur so, dass es aus sich heraus endliche Standpunkte entlässt, von woher seine perspektivische Dar­ stellung erfolgen kann. Ein letzter Schritt der Systembildung Schellings soll hier noch mit­ gegangen werden, um diesen Gedanken noch etwas konkreter zu fas­ sen. Jede bestimmte quantitative Differenz der absoluten Identität, also jede Differenz im Überwiegen der Subjektivität oder Objektivi­ tät, bezeichnet Schelling als »Potenz«.41 Die absolute Identität existiert 38 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,123, § 22. 39 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,123, § 23. 40 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW 14,125, § 25 Zusatz. 41 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW 14,134, § 42 Erklärung 2. Zur Einführung des Potenzbegriffs vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philo­ sophie, SW 14,124, § 23 Erläuterung: »Wenn wir dieses Übergewicht der Subjektivität oder Objektivität durch Potenzen des subjektiven Faktors ausdrücken, so folgt, daß A = B gesetzt, auch schon eine positive oder negative Potenz des A gedacht werde,

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nur unter der Form aller ihrer Potenzen,42 wobei diese Potenzen nicht in einem Werden auseinander hervorgehen, sondern »absolut gleich­ zeitig« sind.43 Daran knüpfen sich für Schelling zwei wichtige Folge­ rungen: Die Potenzen stehen erstens in keinem Kausalverhältnis, die Forderung einer naturphilosophischen »Kausalableitung« ist daher un­ sinnig. Zweitens bedeutet dies, dass es keine erste Potenz gibt, genau darin liegt aber nach Ansicht Schellings der »Fehler des [fichteschen] Idealismus«,44 dass er die höchste Potenz des Ich als erste Potenz miss­ versteht. Als allgemeinen Ausdruck der Potenz (und damit der End­ lichkeit) verwendet Schelling die Formel: A = B.45 Beide Buchstaben sind Ausdruck derselben absoluten Identität, also des A = A, nur dass in B das Überwiegen der Objekt-Stellung und in A das Überwiegen der Subjekt-Stellung gedacht wird. Das B bezeichnet Schelling daher als »reelles Prinzip« und als die positive Unendlichkeit des Seins, wäh­ rend das A als »ideelles Prinzip« und als die negative Unendlichkeit des Erkennens gefasst wird.46 Ohne diesen Gedankengang nun in der Tiefe weiterzuverfolgen oder gar die möglichen Probleme, in die diese Modellbildung in der Begrün­ dung oder in der naturphilosophischen Konstruktion gerät, zu diskutie­ ren, wird hieraus doch wenigstens Eines ersichtlich: Der Potenzbegriff, den Schelling ursprünglich in seiner mathematisch-naturphilosophi­ schen Verwendungsweise von Eschenmayer übernimmt,47 wird hier zu zwei verschiedenen Prinzipien der Erkenntnis des Absoluten hin weiter­ entwickelt und erhält bei ihm auf diese Weise eine eminent philosophie­ logische Bedeutung, das heißt er steht ursprünglich nicht im Kontext einer Spekulation über die Natur des Absoluten und seiner Selbstdar­ stellung, sondern vielmehr im Kontext des Versuchs, die Parataxis aus ihrer gemeinsamen Quelle des Absoluten heraus zu verstehen. Dabei geht es nicht um eine Reduktion der Parataxis auf eine einheitliche Perspektive, sondern umgekehrt um die Rechtfertigung der Parataxis aus dem besonderen Charakter des Absoluten. Zu dieser philosophie-

und daß A° = B soviel als A = A selbst, d. h. Ausdruck der absoluten Indifferenz sein müsse. Anders, als auf diese Weise, ist schlechthin keine Differenz zu begreifen.« 42 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,135, § 43. 43 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,135, § 44. 44 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,135 Fußnote. 45 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,135-136. 46 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4,135-136. 47 Vgl. Karen Gloy: Schellings Naturphilosophie. Grundzüge und Kritik, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Hrsg. v. Hiltscher/Klingner, 85-102, hier: 95.

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logischen Deutung passt im Übrigen auch die Rede von Potenzen des Philosophierens, die sich bei Schelling andernorts finden lässt.48

Um ein Fazit zu ziehen, ist noch einmal auf die Ausgangsfrage zu­ rückzukommen: Was geschieht mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch, das Absolute zu erkennen? Hegels gängige Antwort auf diese Frage würde lauten: Alles Erkennen verwandelt sich bei diesem Versuch zu einer Erscheinung des sich darin kontinuierlich selbst darstellenden Absoluten. Die Antwort Schellings, wie sie aus dem System von 1801 zu rekonstruieren ist, geht in eine andere Rich­ tung: Das Absolute ist als absolute Identität so verfasst, dass bei diesem Versuch die Gestalt der einfachen Einheit der Philosophie zerbrechen muss; das Absolute ist nur durch eine parataktische Kluft hinweg dar­ stellbar. Demgemäß spricht Schelling in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 von der »gedoppelten Einheit« der Philosophie.49 In modifizierter Gestalt trägt genau diese philosophielo­ gische Grundstruktur des Denkens des Absoluten auch noch sein gan­ zes Spätwerk, wo sie in der eigentümlichen parataktischen Stellung von negativer und positiver Philosophie sichtbar wird. Damit hat Schelling in philosophielogischer Perspektive einen paradigmatischen Fall für das allgemeinere Phänomen geliefert, dass der Versuch, eine Sache zu denken, eine von der Sache selbst geforderte Pluralisierung der Pers­ pektiven nach sich ziehen kann, wodurch sich fundamentale Auswir­ kungen auf die architektonische Gestaltung der Philosophie ergeben.

48 Vgl. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW 14,85; ders.: Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821), SW I 9, 209-246, hier: 210. Die Ferne­ ren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802) unterscheiden drei Potenzen der Form der Philosophie: das Endliche (Reelle), das Unendliche (Ideelle) und das Ewige (Indifferenz von Reellem und Ideellem), die sich jeweils in den Potenzen der Reflexion, Subsumtion und Vernunft ausbilden und das Wesen in die Form bezie­ hungsweise die Form in das Wesen einbilden (vgl. Schelling: Ferneren Darstellungen, SW I 4, 414-423). 49 Schelling: Fernere Darstellungen, SW I 4, 414.

Philipp Schw ab

Von der N egativität zum U ngrund: H egels Phänom enologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift Dass das philosophische >Bündnis< zwischen Hegel und Schelling über der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807 zerbrochen ist, oder dass sich hier - sofern schon zuvor von einer >EntfremdungNachwirkungen< dieses Bruchs verfolgen.2 Insbesondere deshalb muss dies erstaunen, als beiden Werken je für sich genommen in der Hegel- beziehungsweise Schelling-Forschung eine prominente Stel­ lung zukommt.3 1 Vgl. die Materialien in Horst Fuhrmans: Schelling und Hegel. Ihre Entfremdung; in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente. 3 Bde. Hrsg. v. Horst Fuhr­ manns. Bonn 1962-1975. Bd. 1, 451-553 sowie die nach wie vor erhellende Darstel­ lung von Hermann Krings: Die Entfremdung zwischen Schelling und Hegel (1801-1807). München 1977. 2 Explizit zur Frage einer >Antwort< Schellings auf Hegel 1809 nur Masakatsu Fujita: Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift, in: Natur, Kunst und Geschichte der Freiheit. Studien zur Philosophie F. W. J. Schellings in Japan. Hrsg. v. Juichi Matsuyama/Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt/M. u. a. 2000,115-126 und Tho­ mas Buchheim: Zwischen Phänomenologie des Geistes und Vermögen zum Bösen: Schel­ lings Reaktion auf das Debüt von Hegels System, in: Archiv fü r Geschichte der Philosophie 85 (2003), 304-330, hier bes.: 314-324. - Die einzige Monographie zur Phänomenologie und zur Freiheitsschrift (Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von He­ gels >Phänomenologie des Geistes< und Schellings >FreiheitsschriftEinzelnes< angesprochen werden kann, macht doch Schelling schon in den ersten Zeilen seiner Untersuchung deutlich, dass der Begriff der Freiheit allein »im Zusam­ menhang [...] mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« zu begreifen und darzustellen sei.7 Gleichwohl ist Hegels kurze Notiz aufschlussreich, bringt sie doch nicht allein im Allgemeinen eine Wert­ schätzung der Freiheitsschrift zum Ausdruck, sondern spricht ihr einen spezifisch spekulativen Charakter zu - und verleiht mithin diesem Werk Schellings einen >Ehrentitelan sich betrachtet gar nicht zukomme. Im folgenden, 17. Ab­ satz - der schon Hegels eigenen Entwurf profiliert - wird sodann die kritisierte Position mit dem Konzept der intellektuellen Anschauung iden­ tifiziert. Selbst wenn diese nämlich eine bloße Gegenüberstellung des Seins beziehungsweise der Substanz und des Denkens beziehungsweise Wissens überwinde, indem »das Denken das Seyn der Substanz als sol­ che mit sich vereint und die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken erfaßt«, so kommt es nach Hegel »noch darauf an, ob dieses intellectuelle Anschauen nicht wieder in die träge Einfachheit zurück­ fällt, und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt«.15 Das heißt: Sofern die intellektuelle Anschauung als unmittelbare zum Ausgangspunkt des Systems gemacht wird, steht diese wenigstens in der Gefahr, eben jener zuvor kritisierten unterschiedslosen Identität respektive >trägen Einfachheit zu verfallen. Es kann nun kein Zweifel sein, dass Hegel in der intellektuellen Anschauung< und der im Satz >A = A< repräsentierten >absoluten Identität zwei Theoreme anspricht, die sich für den Leser notwendig - obgleich kein Name genannt wird - mit dem Ansatz Schellings verbinden. Was zunächst die intellektuelle Anschauung betrifft, so bezeichnet diese be­ kanntlich bei Schelling seit der Ich-Schrift von 1795 in unterschiedlicher Akzentuierung die privilegierte Zugangsweise zu einer Totalschau des Unbedingten.16 Noch in den Ferneren Darstellungen meines Systems von - Im Übrigen ist der Passus der Phänomenologie zwar oft genug zitiert worden, die genauen systematischen und historischen Hintergründe eines möglichen Bezugs auf Schelling sind aber bislang nicht umfassend aufgearbeitet. Vgl. zur Diskussi­ on besonders Krings: Entfremdung, 16-19; Henry S. Harris: Naturphilosophie in the Breach betzveen Schelling and Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 1989, 109-118; Masakatsu Fujita: Hegels Kritik an Schelling, in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Hans-Jürgen Gawoll/Christoph Jamme. München 1994, 211-219; Christoph Asmuth: Negativität. Hegels Eösung der System­ frage in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, in: Synthesis Philosophica 43 (2007), 19-32, hier: 25-32; Christoph Lauer: The Suspension o f Reason in Hegel and Schelling. London/NewYork 2010, 94-99. 15 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,18. 16 Vgl. für die transzendentalphilosophische Bestimmung der intellektuellen Anschauung< bes. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie, in: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayeri­ schen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Abt. I, Bd. 2, 67-176, hier: 91, 94-95, 106. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. Vgl. auch

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1802 nennt Schelling die intellektuelle Anschauung »alleiniges Princip der höchsten Erkenntnißart«17 und »die absolute Erkenntnißart«18 - üb­ rigens in unmittelbarem Zusammenhang mit einer »absolute[n] Einheit des Denkens und des Seyns«.19 Zum Begriff einer absoluten Identität, die Hegel als unterschiedslose kritisiert, sei hier nur beispielhaft auf eine Passage derselben Schrift verwiesen, in der es heißt: »Das Innere des Absoluten oder das Wesen desselben kann nur als absolute, durchaus reine und ungetrübte Identität gedacht werden. [...] Mithin folgt in

Ansehung des Absoluten unmittelbar daraus, daß es absolut ist, auch die absolute Ausschließung aller Differenz aus seinem Wesen[,]«20 Dies belegt freilich nicht, dass sich bei Schelling die Identität allein in der von Hegel polemisch perspektivierten Weise verstehen lasse - so wäre insbesondere auf die Formel von der »Einheit der Einheit und des Gegensatzes«21 aus dem Bruno von 1802 und die Bestimmungen

Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, AA I 3, 47-112, hier: 85-96 sowie ders.: System des transscendentalen Idealismus, AA I 9.1,41,58-60,324-327. Vgl. für die auf die Naturphilosophie bezogene, objektive Bestimmung Schellings Text Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Na­ turphilosophie, AA 1 10, 83-106, hier: 92. 17 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 354. 18 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 365. 19 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 365 Anmerkung. Vgl. im Ganzen ders.: Fernere Darstellungen, SW IV, 339-372. 20 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 374-375. Nicht zufällig zitiert Hegel ge­ rade diesen Passus kritisch in der Geschichte der Philosophie, vgl. Hegel: Geschichte der Philosophie 711, TWA 20,436-437. - Vgl. bes. auch Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 107-212, hier: 121-126. Dort bestimmt Schelling in der Tat das Wesen der absoluten Identität als >differenzfrei< (vgl. bes. ders.: Darstellung mei­ nes Systems der Philosophie, AA I 10, 116-121); erst in der Form der Identität sei eine quantitative, mithin relative Differenz gegeben, nämlich die von Subjekt und Objekt (vgl. bes. ders.: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA 110,124-126). - Auch zur quantitativen Differenz< findet sich in der Vorrede der Phänomenologie eine kritische Bemerkung, vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 33-34. 21 Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Ge­ spräch, SW IV, 213-332, hier: 239. Vgl. dazu, gerade im Blick auf Hegel, Bernhard Rang: Identität und Indifferenz. Eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie. Frankfurt/M. 2000,10,29-31 sowie Manfred Durner: Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Ge­ spräch. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Manfred Durner. Hamburg 2005, VII-XLVIII, hier: XXX-XXXIII u. XLI. - Diese Formel lässt freilich merklich He­ gels Bestimmung des Absoluten als »Identität der Identität und der Nichtidentität« aus der Differenzschrift anklingen (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 64). Diese findet sich bemerkenswerterweise gerade in der Darstellung Schellings, obschon sie mit dessen Ansatz 1801 nicht direkt übereinstimmt.

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von »Copula« und »Band« von 1806 zu verweisen.22 Deutlich wird aber durch die zitierten Partien, dass Hegel in der Vorrede den Eindruck er­ wecken muss, er kritisiere wenigstens eine Tendenz in Schellings eigener Philosophie - und nicht allein, wie er Schelling am 1. Mai 1807 mitteilt, dessen >Nachrednerbeweisen< lässt - entgegen dieser Beteuerung tatsächlich auf Schel­ ling selbst zielt, wird durch eine Reihe von >Indizien< wahrscheinlich. So werden erstens exakt dieselben Kritikpunkte in der gedruckten Ge­ schichte der Philosophie nun explizit gegen Schelling ins Feld geführt.24 Zweitens soll Hegel bereits bei seinem ersten Vortrag unter diesem Titel in Jena 1805/06 mehreren Darstellungen zufolge Schelling ausdrück­ lich kritisiert haben; nach Gablers Bericht hat Hegel Schellings Philo­ sophie dort als »unvollendeten« Ansatz bezeichnet und »insbesondere als Mangel desselben die ruhende unmittelbare Einheit der Gegen­ sätze im Absoluten und die bloß quantitativ gefaßte Differenz« ange­ führt25 - also eben jene >Mängelunterschiedslosen Identität ders.: Geschichte der Philoso­ phie III, TWA 20,434-437, 440 und ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, V 9,182,185. 25 Heinz Kimmerle (Hrsg.): Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (18011807), in: Hegel-Studien 4 (1967), 21-99, hier: 70. Ähnliche Aussagen finden sich auch bei Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Berlin 1844,201-202 sowie Carl Friedrich Bachmann: Ueber Hegels System und die Nothwendigkeit einer nochmaligen

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Namensnennung moniert werden. Selbst wenn man diese Darstellun­ gen einer tendenziösem und nachträglichen Konstruktion der >Hegelianer< verdächtigen möchte, so findet sich drittens bereits in Hegels Jenaer Systementwurf von 1804/05 eine scharfe Kritik der bloß äußer­ lichen >quantitativen Differenzabsoluten Gegensatz< profiliert26 - eine Kontrastierung, die eine Abstandnahme Hegels von Schelling bereits vor der Phänomenologie höchst wahrschein­ lich macht, und zwar gerade in der Frage der Differenz. Im vorliegenden Zusammenhang beredt ist schließlich die Antwort, die Schelling Hegel erst mit der Verzögerung eines halben Jahres zu­ kommen lässt, merkt er doch in deutlich distanziertem Ton an, »in die­ ser Schrift selbst« werde der Unterschied zwischen ihm und seinen »Nachschwätzer[n]« keineswegs vorgenommen.27 Darauf fährt Schel­ ling recht drastisch fort: »Das, worin wir wirklich verschiedener Ueberzeugung oder Ansicht sein mögen, würde sich zwischen uns ohne Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen; denn versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den Begriff der Anschauung op­ ponierst. Du kannst unter jenem doch nichts anderes meinen, als was Du und ich Idee genannt haben, deren Natur es eben ist, eine Seite zu haben, von der sie Begriff, und eine, von der sie Anschauung ist.«28

Umgestaltung der Philosophie. Leipzig 1833,127; vgl. dazu Fujita: Hegels Kritik; 212-213. Allerdings ist die Übereinstimmung von Rosenkranz und Gabler wohl auch dadurch zu erklären, dass der erstere den Bericht des letzteren angeregt hat; vgl. Kurt Rainer Meist: Editorischer Bericht, in: Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 5, 549-745, hier: 738. - Nach Michelet beruht zudem der gedruckte Text der Geschichte der Philosophie in einem erheblichen Maße auf dem allein schriftlich ausformulierten >jenaischen Heft< von 1805/06; vgl. Michelet: Vorrede,V-VII. 26 Vgl. bes. Hegel: Jenaer Systementwürfe II, GW 7,15-17. Den Bezug zu Schelling stellen auch her: Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986, 245; Rainer Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Eogik. Entwick­ lungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hamburg 2001,105-110. 27 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3.11.1807, Briefe 1,194. 28 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3.11.1807, Briefe I, 194. Mit der letzten Wendung spielt Schelling offenbar auf die Differenzschrift an, in der Hegel selbst noch vom Wissen als Einheit von »Reflexion und Anschauung« beziehungsweise »Begriff und Seyn« spricht (Hegel: Differenz­ schrift, GW 4, 27-28). - Auf die >Unversöhnlichkeit< in Schellings Antwort insistiert zu Recht Buchheim: Schellings Reaktion, 306.

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Unabhängig davon, ob also Hegel tatsächlich Schelling selbst >gemeint< hat, sieht dieser sich offenbar wenigstens von einem Teil der Polemik nämlich der >Opposition< zur intellektuellen Anschauung - direkt ange­ griffen, und konstatiert einen >unversöhnlichen< Gegensatz. Dafür spricht über den Brief hinaus auch das folgende Werk Schellings: Bemerkenswerterweise fehlt nämlich die intellektuelle Anschauung< in den Schrif­ ten um 1809 beinahe ganz;29 in den Weltaltern und den Erlanger Vorle­ sungen grenzt sich Schelling dann explizit von einem Missverständnis dieses Begriffs ab und bestimmt ihn wesentlich neu.30 Bis zuletzt wird er immer wieder auf diesen Streitpunkt zurückkommen, und noch in der Berliner Vorlesung 1841/42 weist Schelling in seiner eigenen Kritik Hegels darauf hin, er habe in der Darstellung meines Systems von 1801 den Begriff intellektuelle Anschauung< überhaupt nicht verwendet.31 So wie aber der späte Schelling nicht näher auf Hegels Kritik einer >unterschiedslosen Identität eingeht und den zentralen Terminus aus Hegels >Antwortabstraktem Identität aber gilt Hegels vornehmliche Kritik - dies zeigt insbesondere sein folgender Entwurf in eigener Sache. 29 Vgl. in der Freiheitsschrift nur die knappe Wendung »Gott schaut die Dinge an sich an« (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 347) - die aber kaum mehr Schellings früherer Akzentuierung der Anschauung entspricht. 1810 bezieht Schel­ ling den Begriff nur abgrenzend auf Fichte, vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen. Version inedite, accompagnee du texte des oeuvres. Hrsg. v. Miklös Veto. Turin 1973,105. - Dieses signifikante >Ausfallen< der intellektuellen An­ schauung ab 1807 konstatiert auch Buchheim: Schellings Reaktion, bes. 311-312, 314. 30 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen v. 1811 u. 1813. Hrsg. v. Manfred Schröter. München 1946, Teil III, 214. Im Folgenden zitiert als WA mit Angabe des Teiles in römischen Zahlen; ders.: Initia Philosophiae Universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1969, 39-40 und Schelling: Erlanger Vorträge, SW IX, 207-252, hier: 229-230. 31 Vgl. Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42,122-126, hier: 124 und Kierke­ gaard: Notizbuch 11, 343-344. 32 Vgl. allenfalls Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 131, 155, wo aber auch der Begriff der Negation von Schelling kritisch überformt ist. Diese >Auslassung< ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil Schelling in seiner spä­ ten Kritik Hegels ja durchweg mit dem Begriffspaar von negativer und positiver Phi­ losophie operiert.

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b) Negativität Im unmittelbaren Anschluss an die skizzierte Polemik entfaltet nun Hegel kontrastierend seinen eigenen Ansatz. Diese Entwicklung be­ ginnt bekanntlich folgendermaßen: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.«33 In der Art und Weise, in der nun Hegel den Begriff des Subjekts auffasst, zeigt sich sein Gegenentwurf zum Gedanken einer unterschiedslosen Einheit des Wahren wie auch seine eigene Konzeption des Absoluten als Differenz. Zunächst meint hier Subjektivität offenkundig nicht die Bezugnahme eines wissendem, gleichsam transzendentalem Subjekts auf das Absolute, sondern die Struktur des Absoluten selbst. Sodann ist mit dem Begriff der Subjektivität aber auch keineswegs eine unmittel­ bare, womöglich nach dem Modus der Anschauung konzipierte Selbst­ präsenz des Absoluten oder eine unmittelbare Gewissheit seiner selbst gedacht. Im Gegenteil bedeutet die spezifisch hegelsche Fassung der Subjektivität vielmehr die Auflösung einer jeden reinen Unmittelbarkeit. Formelhaft ließe sich Hegels Gedanke womöglich derart zum Ausdruck bringen: >Subjektivität ist eine Struktur, die zugleich ein Sich-auf-sichBeziehen und ein Sich-von-sich-Unterscheiden in sich schließt.Das Subjekt bezieht sich auf sichsich< das Verhältnis oder den Zusam­ menhang, das zweite, an die Objektstelle gerückte >sich< die Differenz. In der Struktur der Subjektivität ist bereits ihr Anderes oder ihr >Sich-Anderswerdem gegeben - wohlgemerkt nicht als äußeres oder von Außen hinzutretendes Anderes, sondern als eine Differenz, die im Begriff der Subjektivität selbst unmittelbar gegeben ist. Aus diesem Grund kann Hegel im folgenden, 18. Absatz sagen, die nun als Subjekt gedachte lebendige Substanz ist die »reine einfache Negativität« und eben damit dies ist eine zentrale Bestimmung - die »Entzweyung des Einfachen«.35 33 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,18. 34 Vgl. für eine verwandte Formulierung (in Bezug auf das Bewusstsein) auch Jürgen Stolzenberg: Geschichten des Selbstbewusstseins. Fichte - Schelling - Hegel, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke. Hamburg 2009, 27-49, hier: 41. 35 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,18.

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Das Wahre, als Subjekt gedacht, ist insofern zunächst nicht Identität, sondern deren gerades Gegenteil, Entzweiung oder Differenz. Gleich­ wohl denkt Hegel nicht eine diffundierende Auflösung oder Dissozi­ ation des Subjekts. Das Subjekt erweist sich nicht bloß, Differenz zu sein, es wird vielmehr sich selbst zum Anderen - und wahrt gerade darin das Verhältnis oder den Zusammenhang mit sich. Der »Entfremdung« im Sich-Anders-Werden entspricht so die Rückkehr zu sich oder die »sich wiederherstellende Gleichheit«.36 Eben aus diesem Grund verwen­ det Hegel den Terminus der Negativität - meint diese doch nicht bloß den Unterschied zweier >gleichgültiger< und bezugsloser Differenten, sondern die Differenz als selbstbezügliche Relation. Hegel denkt also in der Tat eine Identität des Subjekts mit sich selbst, aber eben nicht als unmittelbare Einheit, sondern als Identität, die je schon durch die Diffe­ renz strukturiert ist, das heißt als eine »Vermittlung« und »sich bewe­ gende Sichselbstgleichheit«.37 Darin zeigt sich die Struktur relationaler und zugleich interner Diffe­ renz des Absoluten in Hegels Phänomenologie. Die Bewegung der Dif­ ferenz oder des Sich-Differenzierens kommt nicht dadurch zuwege, dass das Absolute aus sich heraustritt und in ein Anderes übergeht, sie macht vielmehr als reflexives Selbstverhältnis seine eigene Struktur aus. Zugleich aber ist die Bewegung nicht als eine solche gedacht, die von einem fixierten Punkt ausginge oder ein anfänglich Ruhendes in Bewegung setzte. Das Absolute ist vielmehr in sich die Bewegung der Differenz, der kein statisches Substrat zu Grunde liegt, - und das be­ deutet zugleich: Die Bewegung der Differenz ist immanent und unhintergehbar, sie ist irreduzibel. Aus den mannigfachen systematischen Konsequenzen, die in die­ sem Ansatz liegen, und die von Hegel im Folgenden entwickelt wer­ den, können hier in aller Kürze nur zwei angezeigt werden. Erstens be­ trifft die Struktur relationaler Differenz die Art und Weise, in welcher der Anfang verstanden wird, dessen Dialektik Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie umrisshaft entwickelt.38 Diese Auffassung deutet sich 36 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,18. 37 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,19. 38 Die >klassische< und von der Forschung ausführlich diskutierte Darstellung des Anfangs findet sich freilich in der Logik, wird aber hier schon vorweggenommen. Vgl. dazu bes. Andreas Arndt: Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der Wissenschaft der Logik, in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven. Hrsg. v. Andreas Arndt/Christian Iber. Berlin 2000, 126-139; Anton Friedrich Koch: Sein Nichts - Werden, in: Hegels Seinslogik. Hrsg. Arndt/Iber, 140-157; Lore Huhn: Zeitlos vergangen. Zur inneren Temporalität des Dialektischen in Hegels Wissenschaft der Logik, in:

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schon im eben zitierten 18. Absatz an, wenn Hegel sagt, das »Wahre« sei »nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst«, und nicht »eine ursprüngliche Einheit als sol­ che, oder unmittelbare als solche«.39 Sofern nicht von einem gleichsam >ruhenden< Absoluten ausgegangen werden kann, ist jegliche Konnotation des Anfangs mit dem Prinzip oder Ursprung unmöglich gemacht. Vor diesem Hintergrund wendet sich nun Hegel gegen eine jede Phi­ losophie, die von einem Grundsatz oder einem Prinzip ausgeht. Es sei nämlich, wie Hegel recht lakonisch bemerkt, »ein sogenannter Grund­ satz oder Princip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch [...], weil er Grundsatz oder Princip ist«; und weiterhin sei es »leicht, ihn zu widerlegen«, sofern er bloß Anfang sei.40 Das Mangel­ hafte des anfänglichen Prinzips bestehe darin, dass es nur das »All­ gemeine« oder das »[U\nmittelbar[e\« darstelle41 - noch nicht aber die entwickelte und ausgeführte Bewegung des sich in der Differenz zu sich Verhaltens. Diese Widerlegung des Anfangs hat allerdings Hegel zufolge eine doppelte Seite, sie ist »ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn, nemlich gegen seine einseitige Form«, zugleich aber seine positive »Entwicklung«, die notwendig aus dem Anfang fortschreiten muss; oder sie verwirklicht, was im Anfang bloß erst als »Zweck« gege­ ben ist.42 Das heißt: Der Anfang bleibt - entsprechend Hegels Konzep­ tion der sich bewegenden Sichselbstgleichheit - nicht einfach als Ers­ tes und der folgenden Bewegung Transzendentes oder Vorangehendes stehen, sondern wird in die differentielle Bewegung hineingenommen und damit zugleich transformiert. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Hegel die Selbstbewegung des Absoluten und die Dialektik des Anfangs schon innerhalb der Substanz-Subjekt-These mit einer - obschon knappen - Bemerkung zur Struktur des Satzes verbindet. Hierbei kommt Hegel nochmals auf seine Polemik gegen eine unmittelbare Anschauung zurück, die die Reflexion als bloß der Endlichkeit zugehörende aus der Sichselbstgleichheit des Absoluten ausschließen wolle. Es falle nämlich auf, so Hegel, dass die Der Sinn der Zeit. Hrsg. v. Emil Angehrn. Weilerswist 2002, 313-331; Stephen Houlgate: The Opening o f Hegel's Logic. From Being to Infinity. West Lafayette 2006. 39 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,18. 40 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,21. Die Kritik des Grundsatzes verweist freilich auf Reinhold und besonders auf Fichte; vgl. dazu schon die Differenzschrift (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 23-27, 37-40). Die Rede vom >Prinzip< könnte sich al­ lerdings auch auf Schellings absolute Identität beziehen. 41 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 21. 42 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 21.

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bloßen »Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen u.s.w. das nicht aus­ sprechen, was darin enthalten ist; - und nur solche Worte drücken in derThat die Anschauung als das Unmittelbare aus«.43 Der unmittelbare, rein substantivische Ausdruck des Absoluten sagt gar nicht das, was er sagen soll - er sagt im Grunde überhaupt nichts. Daran schließt Hegel die folgende Bemerkung an: »Was mehr ist, als ein solches Wort, der Uebergang auch nur zu einem Satze, ist ein Anderswerden, das zu­ rückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung.«44 Das heißt: Die Struktur des (spekulativen) Satzes selbst enthält die relationale Nega­ tivität; indem etwas von etwas ausgesagt wird, ist eine Differenz zwi­ schen Subjekt und Prädikat gesetzt - eine Differenz, die aber >zurückgenommen werden< muss, sofern der Satz zugleich ein Verhältnis seiner Glieder zum Ausdruck bringt. Ist der Satz im Sinne Hegels spekulativ gedacht, so wird - wie aus weiteren Partien der Vorrede erhellt45 - al­ lerdings auch nicht >räsonierend< einem ruhenden Subjekt eine Reihe austauschbarer und ihm gleichgültiger Prädikate beigelegt. Vielmehr macht das Subjekt selbst im Satz eine Bewegung und vermittelt sich mit dem Gehalt, der ihm zugesprochen oder mit seinem Wesen, das im Prä­ dikat von ihm ausgesagt wird. Ist derart eine Einheit von Subjekt und Prädikat angezeigt, so ist diese Einheit aber wiederum keine unmittel­ bare, sondern eine Bewegung, die allein als Zurücknahme des SichAnderswerdens zu fassen ist - freilich einmal mehr eines >internen< Anderswerdens, das nicht als Konfrontation des Subjekts mit einem ihm bloß Äußeren missverstanden werden darf. Mithin ist festzuhalten: Die Struktur des Satzes ist, spekulativ begrif­ fen, keineswegs Darstellung einer unmittelbaren Identität, wie sie etwa in der Formel >A = A< ausgedrückt sein soll46 - sie ist vielmehr die sich bewegende und durch die Differenz sich vermittelnde Sichselbstgleichheit, die Hegel bereits als Struktur des Absoluten ausgewiesen hatte.

43 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,19. 44 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9,19. 45 Vgl. bes. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 20-21 Absatz 20, sowie die näheren Ausführungen zum spekulativen Satz, Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 42-45. Vgl. dazu und zur Diskussion des Forschungsstandes Schäfer: Dialek­ tik, 177-193. 46 Vgl. dazu allerdings die bemerkenswerte Interpretation des Satzes >A = A< in der Differenzschrift. Hier legt Hegel die Formel als Antinomie aus, die zugleich Identität und Differenz in sich enthalte (vgl. Hegel: Differenzschrift, GW 4, 24-27).

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2. Schellings Freiheitsschrift a) Kopula und Einerleiheit Nimmt man vor diesem Hintergrund Schellings Freiheitsschrift in den Blick, so zeigt sich zunächst ein Unterschied in der Anlage beider Werke. Während nämlich Hegels Vorrede zur Phänomenologie gleichsam einen abbreviatorischen Vorbegriff seines systematischen Ansatzes im Ganzen exponiert, scheint Schelling in der Frage nach der menschli­ chen Freiheit ein sehr viel spezifischeres Problem in den Blick zu neh­ men. Sogleich aber wird deutlich, dass Schelling keineswegs gedenkt, dieses Problem als spezifisches zu behandeln; vielmehr muss der »Be­ griff der Freiheit [...], wenn er überhaupt Realität hat, kein bloß unter­ geordneter oder Nebenbegriff, sondern einer der herrschenden Mit­ telpunkte des Systems seyn«.47 Bekanntlich beleuchtet Schelling den mutmaßlichen Widerspruch, der zwischen Freiheit und System beste­ he, durch eine Diskussion des Pantheismus, ist doch dieser als Lehre von der »Immanenz der Dinge in Gott« im geläufigen Verständnis mit der (menschlichen) Freiheit unvereinbar.48 Bereits in dieser einleitenden Diskussion kommt nun Schelling auf den Begriff der Identität zu sprechen und zwar derart, dass seine Erläu­ terung - so die These - als sachliche Antwort auf Hegels Polemik gegen eine >differenzlose Einheit< gelesen werden kann.49 Eine der Fehlinter­ pretationen des Pantheismus bestehe nämlich in der Annahme einer »völligen Identification Gottes mit den Dingen«; der »Grund« dieser und aus ihr folgender »Mißdeutungen« aber liege »in dem allgemei­ nen Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des Sinns der Ko­ 47 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 336. 48 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 339. 49 Um diese These historisch einzulösen, wären freilich die weiteren Kontexte der Freiheitsschrift mit einzubeziehen. Schelling selbst nennt hier mehrfach F. Schlegels Indier-Buch (vgl. bes. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 338 Anmer­ kung), in der Passage zur Identität auch Reinhold und Leibniz (Schelling: Philoso­ phische Untersuchungen, SW VII, 342-343 Anmerkung). Gleichwohl ist es signifikant, dass Schelling gerade im unmittelbar auf die Phänomenologie folgenden Werk den Begriff der Identität neu durchdenkt und diese Überlegungen in den folgenden Schriften auch weiterführt. Vgl. in den Stuttgarter Privatvorlesungen, SWVII, 417-486, hier: bes. 421-424, in den Weltaltern bes. WA I, 90-92, WA II, 128-129 und Schelling: Die Weltalter, SWVIII, 195-345, hier: 213-214. Vgl. zu Letzterem Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt/M. 21995, 118-132; Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«. Frankfurt/M. 1989, 81-83.

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pula im Urtheil«.50 Wie Hegel 1807 verbindet also Schelling die Frage nach der Identität mit der Struktur des Satzes. Und es liest sich gera­ dezu wie ein Echo auf Hegels zwei Jahre zuvor erschienene Polemik, wenn Schelling nun den Begriff der Identität scharf von der Vorstellung einer »Einerleiheit« abgrenzt - zumal er neben dem System Spinozas auch von Fehldeutungen »andere[r] Systeme« gerade »zu unsrer Zeit« spricht.51 Ein solches Missverständnis der Identität als Einerleiheit ver­ rate vielmehr - und dieser Ausdruck ist bemerkenswert - einen hohen Grad »dialektischer Unmündigkeit«.52 Trotz dieses Anklangs denkt aber Schelling in eigener Sache das Urteil nicht nach dem Muster von He­ gels spekulativem Satz, sondern entwickelt in der Folge eine höchst eigenständige Antwort. Das erste von Schelling zur Erläuterung des wahrem Begriffs der Identität angeführte Beispiel ließe sich allerdings noch demjenigen Verständnis der Prädikation zurechnen, das Hegel als >räsonierend< zurückweist: Der Satz »dieser Körper ist blau« habe, so führt Schel­ ling aus, nicht den Sinn, »der Körper sey in dem und durch das, worin und wodurch er Körper ist, auch blau, sondern nur den, dasselbe, was dieser Körper ist, sey, obgleich nicht in dem nämlichen Betracht, auch blau«.53 Hier wird zwar keine schlechthinnige Einerleiheit von Subjekt und Prädikat ausgesagt - das Prädikat ist aber in jener gleichgültigem, also äußerlichen Weise dem ruhenden Subjekt (oder: der Substanz) >angehefteh, gegen die Hegel polemisiert. In der Tat soll dieses simple Beispiel auch nur auf die »höhere An­ wendung des Identitätsgesetzes« vorbereiten.54 Diesbezüglich nennt Schelling nun drei weitere Sätze: »das Vollkommene ist das Unvollkom­ mene«; »das Gute ist das Böse«; »Nothwendiges und Freies [sind] als Eins«.55 An dieser Stelle erst kann im starken Sinne von Identitätssät­ zen gesprochen werden - und es ist deutlich, dass Schelling auch hier die Vorstellung einer bloßen >Einerleiheit< zurückweist. Die Auflösung, auf welche Weise in diesen Sätzen die Identität tatsächlich zu verste­ hen sei, zeigt nun konkreter eine spezifische, von Hegel verschiedene Vorgehensweise, nämlich im Motiv einer Über- und Unterordnung: »das 50 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 340-341.Vgl. zu dieser Passage ausführlich Peetz: Freiheit im Wissen, 83-129. Intensiv interpretiert wird diese Stelle auch von Heidegger: Schellings Abhandlung, 89-104. 51 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 52 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 342 (Hvh. v. Verf.). 53 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 54 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 55 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341-342.

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Unvollkommene ist nicht dadurch, daß und worin es unvollkommen ist, sondern durch das Vollkommene, das in ihm ist«; oder: »das Böse hat nicht die Macht, durch sich selbst zu seyn; das in ihm Seyende ist das (an und für sich betrachtet) Gute«; oder: »dasselbe (in der letzten Instanz), welches Wesen der sittlichen Welt ist, sey auch Wesen der Natur«.56 Gerade die in Klammern gegebenen Zusätze >in der letzten Instanz< und >an und für sich betrachtet zeigen, dass das eine Glied des Satzes hier auf das andere zurückgeführt oder aus ihm abgeleitet wird - und nicht zufällig sagt dann auch Schelling, die »alte, tiefsinni­ ge Logik« habe »Subjekt und Prädicat als vorangehendes und folgen­ des (antecedens und consequens)« gefasst und »damit den reellen Sinn des Identitätsgesetzes aus [gedrückt]«.57 Mit anderen Worten: Schelling denkt das Identitätsgesetz und das >ist< des Urteils als >Verbindung< von Grund und Folge. So heißt es auch ausdrücklich wenig später: »Schon im Verhältniß des Subjekts zum Prädicat haben wir das des Grundes zur Folge aufgezeigt, und das Gesetz des Grundes ist darum ein ebenso ursprüngliches wie das der Identität.«58 Dieses Motiv von Grund und Folge also bezeichnet zunächst die interne Differenz, die die Identität strukturiert. Auch Schelling versteht in der Freiheitsschrift - gerade ent­ gegen Hegels Polemik, wenngleich anders als dieser selbst - die Iden­ tität als in sich differenzierte Relation. Es ist deutlich, dass Schelling sich in der Einleitung vornehmlich an der Lehre von der dmmanenz der Dinge in Gott< abarbeitet und eben letzteren als Grund, die ersteren als Folge auslegt. An der soeben zi­ tierten Stelle kommt aber erstmals die entscheidende Frage nach der Identität Gottes selbst in den Blick - und wieder liest sich Schellings Abweisung einer Einerleiheit wie ein Widerklang von Hegels Polemik: »Dieses Princip [das Identitätsgesetz, v. Verf.] drückt keine Einheit aus, die sich im Kreis der Einerleiheit herumdrehend, nicht progressiv, und darum selbst unempfindlich und unlebendig wäre. Die Einheit dieses Gesetzes ist eine unmittelbar schöpferische. [...] Das Ewige muß deßwegen unmittelbar, und so wie es in sich selbst ist, auch Grund seyn.«59 Gerade die lebendige Einheit der Identität soll als progressive, mithin be­ wegliche ausgewiesen werden - und dies in Schellings Zugriff dadurch, dass das Ewige unmittelbar und in sich schöpferischer Grund ist. 56 57 58 59

Schelling: Schelling: Schelling: Schelling:

Philosophische Philosophische Philosophische Philosophische

Untersuchungen, Untersuchungen, Untersuchungen, Untersuchungen,

SW VII, SW VII, SW VII, SW VII,

341-342. 342. 345-346. 345-346.

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b) Grund, Existierendes und Dualität Die Hauptuntersuchung der Schrift entfaltet nun den soeben ange­ deuteten Punkt näher, indem sie den Fokus auf die Struktur Gottes richtet und bekanntlich unterscheidet »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«.60 In Gott selbst scheinen diese beiden Seiten zusammenzufallen: Sofern »nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben«.61 Die Pointe Schellings besteht aber nun darin, dieses Zusammenfallen als Unterschied sichtbar zu machen. Struktu­ rell verwandt dem Vorgehen Hegels wird hier nachgewiesen, dass eine vermeintlich unmittelbare Einheit in der Tat wesentlich als Differenz zu verstehen sei. Dabei zielt Schelling aber nicht, wie Hegel, direkt auf die Sichselbstgleichheit, sondern - gemäß seinen Ausführungen zum Iden­ titätsgesetz - auf die Selbstbegründung. Die Tradition habe zwar bereits Gott als Grund seiner selbst gedacht (als causa sui), diesen Grund aber als »bloßen Begriff« aufgefasst und ihn nicht zu »etwas Reellem und Wirklichem« gemacht.62 Indem nun Schelling den Grund in Gott als »von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen« und als dasjenige versteht, »was in Gott selbst nicht Er Selbst ist«,63 denkt er eine interne, und zwar näher duale Differenz in Gott.64 Auch hier entsteht - wie bei Hegel, wenngleich auf gänzlich verschiedene Weise - die Differenz nicht erst durch eine >EntäußerungAbfall< oder erst durch die Schöpfung, vielmehr konzipiert Schelling eine unhintergehbare >Trennung< in Gott selbst. Die duale Differenz von Gott als Grund und Gott als Existierendem ist gewissermaßen Schellings >Entzweiung des Einfachem.

60 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357. Vgl. hierzu auch Lore Hühn: Heidegger - Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einlei­ tung, in: Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings Freiheitsschrift (1927/28) und die Akten des Internationalen SchellingTags 2006. Hrsg. v. Lore Hühn/Jörg Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, 3-44, hier bes.: 4-5, 30-31. 61 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357. 62 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 358. 63 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 359. 64 Diese Formulierung schließt an Hermannis These eines >internen Dualismus in Gott< an, vgl. Friedrich Hermanni: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie. Wien 1994, bes. 73-113. Dass gerade in dieser Konzeption einer dualen beziehungsweise >polaren< Differenz ein wesentlicher Unterschied zu Hegel liegt, erläutert Krings: Entfremdung, 16-19.

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Gleichwohl unterscheidet sich Schellings Konzeption offenkundig von derjenigen Hegels. Denkt nämlich Hegel die Differenz als pro­ zessuale Negativität, als sich vermittelnde Selbstbewegung und mit­ hin als Auflösung eines Prinzips überhaupt, so leitet Schelling aus dem Unterschied in Gott eine durch die Differenz strukturierte Einheit von »zwei Principien« ab - die Dualität von Prinzip des Grundes und Prinzip des Verstandes.65 Diese Zweiheit möchte aber Schelling wohlgemerkt nicht als einen »absoluten Dualismus« verstehen,66 sondern im Sinne der skizzierten Auffassung der Identität als Kopula: Der »einzig rech­ te Dualismus« sei derjenige, »welcher zugleich eine Einheit zuläßt«.67 Obschon die als duale Differenz strukturierte Einheit von Hegels Ge­ danken klar absticht, kommt Schelling doch in ihrer näheren Ausfüh­ rung einigen Aspekten von Hegels Konzeption wieder nahe. Das Ver­ hältnis der zwei Prinzipien stellt Schelling als Prozess, und zwar als Prozess einer schrittweise geschehenden »Scheidung der Kräfte« dar68 - und bemerkenswerterweise nennt er seine Erörterung der Dualität selbst mehrfach >dialektischGefühlsphilosophieuntergeordnete< Bedeutung zuspricht, wird wie bei Hegel der unterscheidenden dialektischen Wissenschaft - und allein dieser - die Darstellung des >lang gesuchtem Systems überantwortet. Dabei ist aber der Horizont gegenüber Hegel gänzlich verwandelt: Die Bestimmung des Dialektischen schreibt sich in Schellings leitende, duale Unterscheidung von Grund und Existierendem ein. Schließlich deutet die zitierte Rede vom >im Grunde Verborgenem ein Charakteristikum in Schellings Konzeption an, das sich noch weit­ reichender vom Ansatz Hegels entfernt. Dieses Element zeigt sich erst dann, wenn auf das eine der beiden Prinzipien reflektiert wird. Bereits der Grund selbst ist nämlich in einem bestimmten Sinne als Differenz zu fassen. Im Blick auf die Dinge und Weltwesen führt Schelling aus, der Grund als »unergreifliche Basis« ihrer Realität sei das »Regellosen« und der »der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten An­ strengung nicht in Verstand auflösen läßt«.7172Das heißt, auf die interne Differenz Gottes zurückbezogen: Nicht nur wird hier keine unmittelba­ re und ununterschiedene Einheit gedacht, vielmehr ist eines der beiden Glieder selbst als uneinholbarer Entzug und Aufschub gefasst. Sofern der Grund gleichsam als >Reserve< verstanden wird, die sich der Auflösung in eine unterschiedslose Identität und Sichselbstgleichheit widersetzt, ist schon eines der Glieder von Schellings Unterscheidung selbst als Differenz zu denken - und zwar als Exteriorität und Alterität.

c) Ungrund Nun ist aber die Unterscheidung von Grund und Existierendem nicht der »höchste[]« oder - wenn man so will: tiefste - »Punkt« der Ereiheitsschrift,71 und Schelling setzt auch an keiner Stelle des Werks unmittelbar Gott mit dem >Absoluten< gleich. Dieser Begriff fällt al­ lerdings in den letzten Passagen der Schrift. Im Gedanken eines >Wesens< und >UrgrundesUngreifbarkeit< des ent­ zogenen Ersten; statt zu einer unmittelbaren Selbstpräsenz und un­ getrübten Identität des Absoluten zurückzugehen, verschärft Schelling vielmehr die Entzugs-Tendenz des Grundes. Dem entspricht es, dass Schelling das >Erste< nur in paradoxalen Wendungen umschreiben kann; so heißt es vom Ungrund, er sei »nichts anderes [...] als eben das Nichtseyn« der »Gegensätze« und habe »darum auch kein Prädicat [...] als eben das der Prädicatlosigkeit«.75 Der Ungrund wird zwar auch mit dem identitätsphilosophischen Begriff der »Indifferenz« bezeichnet,76 er ist aber nicht unmittelbar Indifferenz von Grund und Existierendem (oder, wie 1801, Indifferenz des Subjektiven und Objektiven77) - son73 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 408. 74 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 406. -Vgl. zum >Ungrund< neu­ erdings bes. Markus Gabriel: Der Ungrund als das uneinholbar Andere der Reflexion Schellings Ausweg aus dem Idealismus, in: Schellings Philosophie. Hrsg. v. Ferrer/Pedro, 177-190; vgl. auch David L. Clark: The Necessary Heritage of Darkness: Tropics of Nega­ tivity in Schelling, Derrida, and de Man, in: Intersections: Nineteenth-Century Philosophy and Contemporary Theory. Hrsg. v. David L. Clark/Tilottama Rajan. New York 1995, 79-146 und Hans-Joachim Friedrich: Der Ungrund der Freiheit im Denken von Böhme, Schelling und Heidegger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009. Vgl. zur Diskussion und zur Forschungslage Jochem Hennigfeld: Friedrich Wilhelm Joseph Schellings »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängen­ den Gegenstände«. Darmstadt 2001, 127-133. - Vgl. zu Heideggers durchaus ambiva­ lenter Interpretation des Ungrundes Philipp Schwab: Ungrund und Metaphysik des Bösen. Von Heideggers erster zu Derridas letzter Auseinandersetzung mit Schelling (19272002), in: L'heritage de Schelling. Interpretations aux XlXeme et XXeme siecles / Das Erbe Schellings. Interpretationen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gerard Bensussan/Lore Hühn/Philipp Schwab. Freiburg 2014, 209-255. 75 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 406. 76 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 406. 77 Vgl. Anmerkung 20.

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dem »ein eigenes von jedem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen«.78 Mit dieser Bestimmung eines abso­ luten >AußerhalbSowohl - Als Auch< beider Prinzipien, sondern das sich ent­ ziehende »Weder - Noch«;79 mithin ist er gleichsam die Leerstelle oder der atopische und offene Ort in Schellings Konzeption, der sich einer jeden Darstellung oder weiteren Bestimmung, und sei es der Identität mit sich, nicht mehr fügt. Eine solche Entzogenheit hat offenkundig in Hegels Konzeption kei­ nen Raum; sie ist Schellings systematisch tiefgehendste Antwort auf die >Negativität< der Phänomenologie. Ist bei Hegel nämlich die Nega­ tivität als strukturelle Differenz in der relationalen Selbstbezüglichkeit der Subjektivität und mithin im Element des Begriffs verstanden - so denkt Schelling eine dem Begriff uneinholbar vorausgehende Differenz. Hieraus erhellt auch die spezifische Konzeption des schellingschen Anfangs: In der Tat nämlich setzt Schelling das Absolute als das An­ fängliche und mithin als Transzendenz, die nicht restlos in eine selbst­ vermittelnde Negativitätsbewegung eingeht. Gleichwohl ist aber der Anfang hier nicht die Selbstpräsenz differenzlos-absoluter Identität sondern das uneinholbar dem Denken Entzogene oder, mit dem Wort aus Schellings Spätphilosophie, das >UnvordenklicheErste< nicht als umfassende Fülle, sondern als ungreifbare und prädikatlose Transzendenz verstanden ist, kann es allein durch fort­ schreitende Entwicklung sich zu einem >Ganzen< vollenden.81 Obschon Schelling derart in den finalen Partien der Untersuchung offenkundig auf eine >Vollendung< zielt,82 stellt sich abschließend doch die Frage, ob nicht die Bestimmung der Differenz als Entzug gravie­ rende Konsequenzen für den Entwurf eines geschlossenen Systems in 78 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. 79 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 407. 80 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 412. 81 Allerdings ist der Übergang vom Ungrund zur Dualität in Schellings Darstel­ lung durchaus dunkel; so kommt nicht vollständig zur Klarheit, warum und inwie­ fern der Ungrund sich gerade in die zwei »gleich ewige [n] Anfänge« der beiden Prinzipien teilen muss (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 406-408). 82 Vgl. bes. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SWVII, 403-406.

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sich birgt. Dies erhellt gerade im Kontrast zum hegelschen Gedanken: Für Hegel geht das wissenschaftliche System als geschlossenes aus der Selbstvermittlung der als Negativität gedachten Subjektivität unmittel­ bar hervor - als »Werden seiner selbst« und als »Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfänge hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«.83 Zwar löst Hegel jede tradier­ te Bestimmung eines substantiellen und anfänglichen Absoluten auf, wahrt aber gerade im Begriff der Negativität die (Selbst-)Bezüglichkeit des relationalen Prozesses. Hingegen zeigen sich in Schellings Kon­ zeption des sich entziehenden Grundes und Ungrundes nachgerade systemsprengende Potenziale.84 Indem Schelling dem Grund und Un­ grund einen >Widerstand< gegen jeden begreifenden Zugriff einzeich­ net und zumal das entzogene >Erste< aus jeder Bezüglichkeit aussondert, setzt er - offenkundig ohne dies eigens zu beabsichtigen - als konstitu­ ierende Gestalt seines Systems eine Differenz, die den systematischen Anspruch im Ganzen beständig zu unterhöhlen droht.

3. Schlussbemerkung Von hier aus lässt sich in aller Kürze der Bogen zum Anfang Zurück­ schlagen: Weder in Hegels Phänomenologie noch in Schellings Freiheits­ schrift wird das Absolute als differenzlose Identität oder unmittelbare Selbstpräsenz gefasst, vielmehr zeigt sich die Struktur des Absoluten in beiden Konzeptionen als interne Differenz. Gleichwohl unterscheiden sich beide Ansätze in der Art und Weise, wie diese Differenz gedacht wird, fundamental und sollen auch nicht harmonisiert werden: Hegel versteht das Absolute als substratlose Selbstvermittlung, die durch das 83 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Vgl. zur Diskussion der Phänome­ nologie und der Freiheitsschrift im Blick auf ein >geschlossenes< respektive >offenes< System Köhler: Freiheit und System, bes. 267-274. 84 Vgl. dazu auch die Passage Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 399: »In dem göttlichen Verstände ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, son­ dern ein Leben.« Anhand dieser Stelle hat besonders Heidegger die >Sprengung< des Systems diskutiert; vgl. Heidegger: Schellings Abhandlung, 193-196. Heidegger übergeht hier allerdings geradezu die Bestimmung des Ungrundes - die er in seiner ersten Lektüre Schellings von 1927/28 noch ausführlich bedacht hatte. Vgl. zu dieser Spannung Schwab: Ungrund. - Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Interpretation Heideggers auch Thomas Buchheim: »Metaphysische Notwendigkeit des Bösen«. Über eine Zweideutigkeit in Heideggers Auslegung der Freiheitsschrift, in: Zeit und Freiheit. Schelling - Schopenhauer - Kierkegaard - Heidegger. Hrsg. v. Istvän M. Feher/ Wilhelm G. Jacobs. Budapest 1999,183-192, hier: 185-187.

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Konzept der Negativität als relationale Differenz strukturiert ist; Schelling hingegen denkt zunächst eine >wirkliche< Dualität zweier Prinzi­ pien, sodann aber die Differenz als uneinholbaren und unvordenkli­ chen Entzug. Es sollte dabei zur Deutlichkeit gekommen sein, dass der Begriff und das jeweilige Verständnis der Differenz im Fokus des Bruchs zwischen Schelling und Hegel um 1807 stehen: Hegel grenzt seinen Entwurf der Negativität polemisch von einer unterschiedslosen Identität ab; Schel­ ling bezieht diese Kritik wenigstens zum Teil auf sich, und seine nächst­ folgende Schrift enthält in ihrer Zurückweisung der >Einerleiheit< wie auch in ihrem eigenständigen Differenzbegriff eine zumindest sachli­ che Antwort. Von diesem >Bruchpunkt< her wären die Linien des Dia­ logs zwischen Schelling und Hegel auszuziehen - zur Jenaer Zusam­ menarbeit, um nach seinen Vorzeichen, zur späteren wechselseitigen Kritik, um nach seinen Folgen zu fragen. In der Konstellation zwischen der Phänomenologie und der Freiheits­ schrift - um abschließend nochmals kurz auf diese zurückzukommen - zeigt sich jedoch bei allen Unterschieden auch eine zentrale Gemein­ samkeit: Indem beide Werke das Absolute aus einer Struktur der Dif­ ferenz konzipieren, wird dieses wesentlich als ein Werdendes begriffen - und versetzt so die >Systeme in BewegungWahrheit der Substanz