Kant und der Deutsche Idealismus: Ein Handbuch 9783534273539, 9783534746927, 9783534746934, 3534273532

Wie relevant ist die Philosophie Kants und des Deutschen Idealismus für die Gegenwart? Am Anfang war Kant. Seine »Kriti

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Kant und der Deutsche Idealismus: Ein Handbuch
 9783534273539, 9783534746927, 9783534746934, 3534273532

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung \ Klaus Vieweg
Immanuel Kant \ Andrea Marlen Esser
Die Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen \ Martin Bondeli
Johann Gottlieb Fichte \ Andreas Schmidt
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling \ Markus Gabriel
Georg Wilhelm Friedrich Hegel \Anton Friedrich Koch
Die Autoren \ Anhang
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Am Anfang war Kant. Darin sind sich die drei Hauptrepräsentanten des Deutschen Idealismus – Fichte, Schelling und Hegel – einig, auch die wesentlich die nachkantische Ära mitprägenden Karl Leonhard Reinhold, Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin gingen damit konform. Mit Andrea Esser, Martin Bondeli, Markus Gabriel, Andreas Schmidt, Anton Friedrich Koch und Klaus Vieweg suchen in diesem Handbuch sechs Experten der Zeit je eigenständige und originelle Zugänge zu den betreffenden Denkern und den verschiedenen philosophischen Strömungen und zeigen für die heutige Debatte relevante Problemlagen und Perspektiven auf. So wird klar, dass diese Epoche der Weltphilosophie keinesfalls ins Museum gehört.

Klaus Vieweg ist Professor für klassische deutsche Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere Hegel, sowie der Skeptizismus.

VIEWEG KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS

Eine Schlüsselperiode der Philosophiegeschichte

KLAUS VIEWEG (HRSG.)

Kant und der Deutsche Idealismus EIN HANDBUCH

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27353-9

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Kant und der Deutsche Idealismus

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KLAUS VIEWEG (HG.)

Kant und der Deutsche Idealismus Ein Handbuch

Mit Beiträgen von Martin Bondeli Andrea Marlen Esser Markus ­Gabriel Anton Friedrich Koch Andreas Schmidt Klaus Vieweg

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Bildnachweis S. 9, Immanuel Kant als Spaziergänger: akg-images S. 31, Immanuel Kant: akg-images © Science Source/SCIENCE SOURCE S. 75, Karl L. Reinhold: akg-images S. 155, Johann Gottlieb Fichte: akg-images S. 207, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: akg-images/De Agostini Picture Library S. 265, Georg Friedrich Wilhelm Hegel: akg.images

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne ­Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Sophie Dahmen, Karlsruhe Gestaltung und Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Umschlagmotiv: Immanuel Kant, akg-images/© Science Source/SCIENCE SOURCE Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27353-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74692-7 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74693-4

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Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Klaus Vieweg

Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Andrea Marlen Esser

Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Martin Bondeli

Die Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Andreas Schmidt

Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Markus Gabriel

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Anton Friedrich Koch

Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Anhang

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die einzelnen Beiträge zu diesem Handbuch Kant und der Deutsche Idealismus versuchen je eigenständige und originelle Zugänge zu den betreffenden Denkern und den verschiedenen philosophischen Strömungen zu gewinnen sowie einige für die heutige Debatte relevante Problemlagen und Perspektiven aufzuzeigen, um mit diesem Handbuch das Interesse an den behandelten Gedanken und Entwürfen wachzuhalten. Hiermit möchte ich Andrea Esser, Martin Bondeli, Markus Gabriel, Andreas Schmidt und Anton Friedrich Koch ganz herzlich für die konzentrierte Arbeit an den Aufsätzen in schwieriger Zeit danken! Klaus Vieweg

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Klaus Vieweg (Jena)

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Inhalt I.

Am Anfang war Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

II.

Kants Gedanken als „glühende Kohlen“ und der „theologisch-kantische Gang“ in Tübingen . . . . . . . . . . . . . 15

III.

Der Prüfstein – Die nachkantische Skeptizismus-Debatte . . . . 19

IV.

Die Geburt der neuen Weltphilosophie des Deutschen Idealismus 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

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I. Am Anfang war Kant Am Anfang war Kant – darin sind sich die drei Hauptrepräsentanten des Deutschen Idealismus – Fichte, Schelling und Hegel – ganz einig, auch die wesentlich die nachkantische Ära mitprägenden Reinhold, Schiller und Hölderlin gingen damit konform, alles Denker, die Hegel als die „würdigen Nachfolger“ Kants ansieht.1 Diese Epoche einer Weltphilosophie wird noch heute von manchen, besonders von den gerade akademisch dominierenden Modephilosophien, ohne tiefgehende Prüfung trivialisiert oder gar diskreditiert und als überlebt verschrien. Diese Denkrichtung soll in die Mottenkiste der Philosophie oder ins Museum verbannt werden, man ruft das nachmetaphysische Zeitalter aus. Oder man versucht, seitens anderer heutiger Strömungen, den Deutschen Idealismus zu vereinnahmen, auf Kosten angemessener Interpretationen. Das radikal „Unzeitgemäße“ dieser Denkepoche bringt vielleicht den Geist unserer Zeit auf den Punkt. Diejenigen, die heute mit dem Strom der Zeit schwimmen, werden vielleicht in Jahrzehnten mit Verwunderung feststellen, dass „die Werke, die sie in ihrer Polemik vom Hörensagen als längst widerlegte Irrtümer ansahen, das substantielle Denken, den Geist ihrer Zeit enthalten.2 Solange laut Friedrich Nietzsche das noch als unzeitgemäß gilt, „was immer an der Zeit war“ und jetzt „mehr als je an der Zeit ist und nottut“ – nämlich Wahrheit „zu wagen und versuchen“ –, müsse man unzeitgemäß sein.3 Was Schelling über die Nachfolger Kants schrieb, mag auch für die gesamte, hier behandelte Denkströmung gelten: „das reine Gold dieser Philosophien von den Zutaten der Zeit zu scheiden und in reinem Glanze darzustellen“.4 Diese Einleitung zu dem von mehreren Autoren gestalteten Band Kant und der Deutsche Idealismus – Andrea Esser (Jena), Martin Bondeli (Bern), Markus Gabriel (Bonn), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Andreas Schmidt (Jena) und Klaus Vieweg (Jena) – will und kann die Überlegungen der behandelten Denker nicht vorwegnehmen und kann natürlich keineswegs ein Gesamtbild zeichnen. Es sollen am Anfang, im Sinne eines Handbuchs, nur wenige, ausgewählte Hauptstränge der fulminanten Denkbewegung nach Kant angedeutet werden. Die Vorbemerkungen beschränken sich darauf, knappe Umrisse und erste Orientierungspunkte für einen Weg durch den schwer zu durchdringenden Dschungel dieser von Kant ausgehenden Entstehungsperiode der neuen Denkbewegungen zu zeichnen. Die einzelnen Beiträge zu Kant (Esser), Fichte (Schmidt), Schelling (Gabriel) und Hegel (Koch) sowie zur Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds und ihren Folgen (Bondeli) werden dann unterschiedliche Perspektiven auf diesen „Honeymoon der deutschen Philosophie“ (Nietzsche) eröffnen, einer philosophischen Strömung, die in all ihrer Differenziertheit und Varianz ihre 1 2 3 4

Johannes Hoffmeister (Hg.), Briefe von und an Hegel, Bd. 1, Hamburg, 1969, S. 25. Ebd., Bd. 1, S. 31. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück, S. 207, 210. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Immanuel Kant, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 1804–1806, Frankfurt, 1985, S. 11.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Strahlkraft auch international behauptet. Ein Handbuch kann nur ausgesuchte Hauptpunkte auf der Landkarte dieses Denkraums erschließen, mögliche Zugänge dafür öffnen, Aufmerksamkeit für ein tieferes Studium erzeugen. Dieter Henrich hat im Rahmen seiner bahnbrechenden Konstellationsforschungen die treffliche Metapher der Supernova für die Philosophie um 1800 gebraucht. Ähnlich einer kosmischen Supernova ereignete sich in den Jahrzehnten nach Kants Kritik der reinen Vernunft eine Helligkeitseruption im philosophischen Universum, die intellektuelle Sphäre erlebte eine Explosion, durch welche immense geistige Energie freigesetzt wurde, bis hin zum scheinbaren Verlöschen dieser Himmelserscheinung. Die Initialzündung für diese Revolution in der Denkungsart schreiben seine kreativen idealistischen „Nachfolger“, die hier zunächst zu Wort kommen sollen, zweifellos Kant zu. Mit dieser exorbitanten Wertschätzung  – Grundlegung einer neuen philosophischen Betrachtungsweise – geht die Auffassung einher, dass Kant nur den Anfang, den Beginn repräsentiere, den Übergang von einem Alten, Überlebten zum Neuen. Schelling verortet Kant „an der Grenze zweier Epochen in der Philosophie“, als einen Wendungspunkt von der überkommenen zu einer völlig neuen Denkungsart, die er „negativ-kritisch“ vorbereitet habe. Ähnlich „seinem Landsmann Copernicus, der die Bewegung aus dem Centrum in die Peripherie verlegte, kehrte er zuerst von Grund aus die Vorstellung um, nach welcher das Subjekt unthätig und ruhig empfangend, der Gegenstand aber wirksam ist: eine Umkehrung, die sich auf alle Zweige des Wissen wie durch eine elektrische Wirkung fortleitete“.5 Diese mit Kant einsetzende „ideale Revolution“ in Deutschland könne als Komplement der „realen Revolution“ in Frankreich gesehen werden.6 Ungeachtet des verbreiteten Missverstandes, der von einigen seiner Erläuterer und Anhänger geschaffenen Karikaturen oder schlechten Gipsabdrücke, ungeachtet der Wut bitterer Gegner wird „das Bild seines Geistes durch die ganze Zukunft der philosophischen Welt strahlen“.7 Insofern Kant laut Fichte der Stifter der Transzendentalphilosophie war, gilt er als der „erste Erfinder einer Weltsicht, welche die wohltätigste Revolution in der Menschheit hervorbringen wird“.8 Hegel zufolge begann mit Kant eine Revolution in der Form des Gedankens. Den Königsberger sieht Hegel als Inaugurator der „wichtigsten Revolution im Ideensystem“, er habe das Fundament für die neuere Philosophie gelegt. „Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung“ – so Hegel 1795 – „erwarte ich eine Revolution in Deutschland“.9 Die höchste Vollendung stehe somit noch bevor, die Ernte werde „einst herrlich sein“.10 So kann die Kant betreffende Positionierung eines Fichte, Schelling, Hegel, Reinhold, Schiller oder Hölderlin mit einer These von Schel5 6 7 8

Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 19. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962 ff., GA I, S. 470. 9 Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 23. 10 Ebd., S. 25.

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I. Am Anfang war Kant

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ling beschrieben werden: Die Revolution des Denkens wurde durch die kantische Kritik der reinen Vernunft ausgelöst, mit Kant ging die Morgenröte auf. Aber: „Wir müssen noch weiter mit der Philosophie!“11 An Kant scheiden sich seit den 80er-Jahren des 18. Jahrhunderts die Geister, er ist der große Zankapfel, zu seiner Denkungsart mussten sich alle philosophischen Strömungen positionieren – der Kampf um die Deutungshoheit der kritischen, transzendentalen Philosophie war in seiner Heftigkeit und Variabilität kaum zu überbieten. Das Spannungsfeld reicht von einfacher Zustimmung über Anknüpfung und Erneuerung bis hin zu Distanzierung und massiver Ablehnung – Um hier nur einige Repräsentanten der großen Kontroverse zu nennen –, die Vertreter der vormaligen Metaphysik und die Philosophen des gesunden Menschenverstandes versuchten, den Aufbruch zu stoppen oder einzudämmen. Die orthodoxen Buchstabenkantianer warteten stets auf die „Postkutsche aus Königsberg“, um die neuen Weisheiten zu empfangen, so Friedrich Schlegel, – sie seien „am Buchstaben stehen geblieben“ (Schelling). Die scharfen KantKritiker legten beachtenswerte Einwände gegen die neue Philosophie vor (Aenesidemus Schulze, Flatt, Jacobi u. a.), die kritischen Fortsetzer entwarfen neue, an Kant anschließende Konzeptionen (Reinhold, Schiller, Fichte). Ähnlich der kosmischen Supernova erfuhr das Geschehen eine exponentielle Ausdehnung – von Königsberg aus nach Stuttgart und Tübingen, nach Jena und Berlin. Das Themenspektrum der Positionierung zum Impulsgeber Kant war breit gestreut und kann hier nur knapp und verkürzt umrissen, schon gar nicht philosophisch eingeschätzt werden: Der Denker aus Königsberg galt als der Zermalmer der überkommenen Metaphysik, der eine Antwort auf die Frage suchte: Wie ist eine neue Metaphysik als Wissenschaft möglich? Die traditionelle, vormalige Metaphysik hatte man im Visier, es ging keinesfalls um ein nachmetaphysisches oder postmetaphysisches Philosophieren. Kant habe Fichte zufolge den „Ort des Wahren“ entdeckt, in der Apperzeption, im Ich liege „der Einheitspunkt aller Grundformen des Wissens“, jedoch habe er das Prinzip nicht zureichend offengelegt – „die Ausführung bleib hinter dem Vorsatz zurück“. In der „wissenschaftlichen Ausmessung des ganzen Gebiets der Vernunft [werde] das Wissen nicht in seiner absoluten Einheit gefasst“, sondern liege Fichte zufolge gespalten in verschiedene Zweige vor. Es geschieht „keine Deduction aus der Urquelle“, das Wissen werde „mehr empirisch gesammelt und durch Inductionsgesetze erhärtet“.12 Aus der Sicht von Schelling erfolgt eine wissenschaftliche Ausmessung des menschlichen Erkenntnisvermögens mit dem Ziel eines absoluten Erkennens als Vernunfterkenntnis, aber „die Prämissen fehlen noch“.13 Laut Hegel gewinnt die Philosophie die „große Form der Subjektivität“. Die Lehre von den synthetischen Urteilen a priori hält er für epochemachend, der Gedanke der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption zähle zu den tiefsten Einsichten. Mit der Betrachtung des 11 Brief von Schelling an Hegel vom 6. Januar 1795, in: Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 14. 12 Fichte, GA VIII, S. 362. 13 Brief von Schelling an Hegel vom 6. Januar 1795, in: Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 14.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Bewusstseins als solchem werde die Erkenntnis des Begriffs eingeleitet, das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie konstituiert. Damit komme aber zugleich der grundlegende Dualismus dieser Denkungsart zum Vorschein, zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Der Dualismus von Realismus und subjektivem Idealismus, des Myth of the Given und des Myth of the Construction, könne erst im spekulativen, begreifenden Denken eines absoluten Idealismus überwunden werden. Karl Leonhard Reinhold, einer der Hauptakteure der nachkantischen Zeit, der eine Neubegründung der kritischen Philosophie mit Hilfe der Festigung des Fundaments philosophischen Wissen beabsichtigt, liefert eine klassische Formulierung des Paradigmas des Bewusstseins, nämlich, dass „die Vorstellung im Bewußtsein von ihrem Objekt und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen werde“. Reinhold habe das „unsterbliche Verdienst, die philosophische Vernunft darauf aufmerksam zu machen, dass die gesamte Philosophie auf einen einzigen Grundsatz zurückzuführen“ sei, als dem Grundprinzip und dem Schlussstein. Mit der Frage nach einer Fundamental- oder Grundsatzphilosophie wird ein Kernproblem diagnostiziert  – der Anfang der Philosophie, mit dessen Lösung die „Hälfte der Philosophie“ bewältigt wäre (Aristoteles). Fichte sah in Reinholds Überlegungen eine „unentbehrliche Vorstufe“ für seine Philosophie, Schelling „eine Stufe, über welche die Wissenschaft gehen musste“. Er stimmt aber Hegel zu, dass bei „Reinhold’s Versuchen, die Philosophie auf ihre letzten Prinzipien zurückzuführen, die Revolution nicht weiter führt“.14 Hegel betont später, dass bei Reinhold „ein wahrhaftes Interesse zugrunde lag, welches die spekulative Natur des Anfangs betrifft“.15 Aufgrund des dem Paradigma des Bewusstseins bzw. des Selbstbewusstseins inhärenten Dualismus – es wird etwas zunächst als unvereinbar erklärt und dann soll es wieder vereint werden  – erwachse ein „unaufgelöster Widerspruch“ für alle Bewusstseinsphilosophien. Die Kritik zielt auf die cartesianische Zweiheit von res extensa und res cogitans sowie auf Kants Lehre von den zwei getrennten Stämmen des menschlichen Erkennens. Als entscheidend für die Überwindung des Dualismus gelten Spinozas Gedanke der Einheit der Substantialität und der frühe Schiller. Letzterer erhob gravierende Einwände gegen den kantischen Dualismus; mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen, die vom Berner Hegel bereits als „Meisterstück“ bewertet wurden, hätte er den Anstoß zum Hinausgehen über die Reflexionsphilosophien gegeben (Hegel).

14 Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 21. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M., 1969, S. 69.

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II. Kants Gedanken als „glühende Kohlen“ und der „theologischkantische Gang“ in Tübingen Jakob Friedrich Abel wirkte als Vermittler kantischer Gedanken in Stuttgart und Tübingen. Er kann in Stuttgart als Lehrer von Schiller und Hegel gelten und lehrte dann in den Jahren des Studiums von Hölderlin, Hegel und Schelling als Professor am Tübinger Stift. Kant hatte in seinen Prolegomena die auch von Abel vertretene Philosophie des gesunden Menschenverstandes scharf attackiert, worauf Abel 1787 mit seiner Schrift Versuch über die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des Kantischen Systems reagierte. Mit einer Distanzierung von einigen Positionen Reids und Beatties versucht er, das „alte Gebäude der Metaphysik zu retten“. Eine Ableitung aus Erfahrung scheitert an der Unmöglichkeit einer vollständigen Induktion, sodass Zugeständnis von Abel an den „zweifelsüchtigen“ Hume. Aber der Erweis von Kants Auffassung, dass wir nie ohne Raum und Zeit anschauen, nie ohne Kategorien denken, kann ebenfalls nicht durch Erfahrung erfolgen, also nur a priori, womit Kant in den Zirkel gerate, den Apriorismus durch den Apriorismus zu rechtfertigen.16 Nachdem also die Begründungen durch die Mittelbarkeit der Erfahrung als auch das Apriorische gescheitert wären, setzt Abel auf die Unmittelbarkeit einer Abstraktionskraft, auf unmittelbar gegebene Tatsachen des Bewusstseins in Form ursprünglicher psychologischer Gesetze. Letztere seien als vorfindliche, unwillkürliche und notwendige Operationen unseres Verstandes gewiss. Abel setzt damit auf die empirische Psychologie als Grundwissenschaft, will „aber aus den Gesetzen, unter denen die Seelenvermögen tätig sind, zugleich die Möglichkeit apriorischer Erkenntnisse rechtfertigen“17 – in Abels Worten: „apriori in der Seele“. Zu den „wirklichen äußeren Dingen“ kämen wir durch die Übertragung dieser inneren Gesetze auf den Gegenstand, des Subjektiven auf das Objektive. Aus der unwillkürlichen Abstraktion „Kraft“ etwa wird auf ein Existierendes geschlossen, in dem die Kraft enthalten sei. Raum und Zeit können so nicht bloß als Anschauungsformen genommen werden, sondern auch als wirkliche Bestimmungen eines wirklichen Dings. Hier verbinden sich demnach beachtenswerte Einwände gegen Kant mit den Konzepten der Legitimation auf der Grundlage des puren Findens von Tatsachen des Bewusstseins, einer Versicherung von Facta des Bewusstseins, also der These einer unmittelbaren Gewissheit, stets aber auf der Basis der Behauptung, dass es unmittelbare sinnliche Erkenntnis gebe.

16 Vgl. dazu Wolfgang Riedel (Hg.), Jacob Friedrich Abel, Würzburg, 1995. In diese Kerbe schlägt auch ­Johann August Eberhard: Die Common-Sense-Philosophie habe ihre Prinzipien ohne Beweis angenommen – dürfen aber die Denkformen und reinen Anschauungen des Kritizismus mit größerem Recht angenommen werden? Zitiert nach: Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skepticismus‘, München, 1999, S. 58. 17 Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena 1790–1794, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2004, S. 1563.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Wie bei Reid und Beattie verschränkt sich das Common-sense-Philosophieren mit Gedanken der Offenbarungsreligion.18 Nachdem die genannten Schotten ihrem Landsmann David Hume skeptische Leugnung des christlichen Glaubens vorwarfen, wird nun Kant vorgehalten, dass er mit seiner in der Kritik der reinen Vernunft vorgetragenen Auffassung, wonach alles, was kein Gegenstand möglicher Anschauung, daher auch kein Gegenstand unseres Wissen sein könne, die Theologie fundamental angreife und Gott zu einer regulativen Idee zurückstutze. Laut Abel, der eine Identität von christlicher Religion und Vernunft behauptet, ist es „nach Gesetzen des menschlichen Verstandes notwendig, ein die Welt nach Willkür änderndes, alle Glückseligkeit zeugendes Wesen, einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott anzunehmen“. In der Rehberg-Rezension zu Kant wird dies thematisiert, speziell der Gedanke der Vereinbarkeit der sonderbarsten metaphysischen Spekulationen mit der Religion. In der kantischen Philosophie sei ein „skeptischer Atheismus“ am Werk. So werde behauptet, dass die Spekulationen über das, „was allen Erscheinungen zum Grunde liegt, und über den Begriff des Unbedingten und Bedingten für die Religion ganz unfruchtbar sey, und alle anscheinenden Beweise, die sie gewähren, auf blosse Täuschung hinauslaufen.“ Über die Beschaffenheit von Kants Ideen kann schlechterdings nichts bekannt werden, sie seien „erkenntnisleer“ und „gar keiner erkennbaren Bestimmung fähig, und bezeichnen also an sich nichts, sondern deuten nur an, dass das gesammte Feld der Erscheinungen noch auf etwas ausser sich hinweise, dessen Daseyn daher nicht erkannt, sondern nur geschlossen wird, und nothwendig vorausgesetzt werden muss.“19 Ausdrücklich findet auch das System Spinozas in diesem Kontext Erwähnung, verbunden mit der Attacke des Rezensenten auf den Spinozismus als Erzdogmatismus, Skeptizismus und Atheismus, verbunden mit dem Hinweis auf die „unlängst erschienene vortreffliche Kritik der praktischen Vernunft“.20 Hölderlin, Hegel und Schelling erlebten wie vorher Diez und Niethammer in ihren Studienjahren am Tübinger Stift höchst turbulente Debatten um den Gehalt der kantischen Philosophie. Dort herrschte in dieser Zeit ein spezielles geistiges Klima, das von den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Revolution in Frankreich und deren Gegnern, zwischen den Theologieprofessoren – in erster Linie Gottlob Christian Storr, Johann Friedrich Flatt und Johann Friedrich LeBret – und den Anhängern der neuen Philosophie unter den Studenten und Repetenten geprägt war: „Nirgends wurde der Kampf zwischen der Autonomie der Vernunft und der Autorität von Gottes Wort 18 Sein ambivalentes Verhältnis zu Abel andeutend schreibt Hegel 1795 an Schelling: „Der Rezensent ­Deiner ersten Schrift in der Tübinger Gelehrten Zeitung mag in anderen Rücksichten verehrungswürdig sein, aber in ihr einen objektiven Grundsatz als den höchsten zu finden zu glauben, hat doch wahrlich keinen Tiefsinn gezeigt, es wird wohl Abel sein.“ (Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 30.) 19 August Wilhelm Rehberg, Ueber das Verhältnis der Metaphysik zu der Religion, Berlin, 1787. Die Rezension erschien in der ALZ, Juni 1788. Nr. 153. Vgl dazu auch: Eberhard Günter Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung ihrer Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkungen auf Reinhold, Schiller und Fichte, Köln/Wien, 1975. 20 Vgl. Rehberg-Rezension, a. a. O.

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II. Kants Gedanken als „glühende Kohlen“ und der „theologisch-kantische Gang“ in Tübingen

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so leidenschaftlich geführt wie in Tübingen zur Zeit der französischen Revolution.“21 Schelling attackiert einige seiner Professoren heftig: Sie würden „einige Ingredienzien von der Oberfläche des Kantischen System herausnehmen“ und damit ihre theologische Position stärken wollen: „Alle möglichen Dogmen sind nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt, und wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da zerhaut die praktische (Tübingische) Vernunft den Knoten.“22 Die ganze Bandbreite der kantischen Philosophie stand zur Debatte: Freiheit, das Gespenst des Ding an sich, theoretische und praktische Vernunft, die zwei Stämme Sinnlichkeit und Verstand, das Ich und die Apperzeption, Idealismus und Realismus, Religion, Tugend und Glückseligkeit, Skeptizismus, die Manier des Postulierens, Glauben und Wissen. Die jungen Tübinger Wilden waren gegenüber den alten Autoritäten und neuen Heroen der Philosophie nicht geneigt, ihren „Nacken zu beugen“ (Hegel), auch nicht im Blick auf Kant. Gerade auch die kantische Transzendentalphilosophie muss, entsprechend ihrer eigenen Forderung, vor dem Gerichtshof der Vernunft bestehen, man muss auch im Angesicht dieses neuen Evangeliums nicht auf die Knie fallen, sondern gut kantisch den Mut haben, sich der eigenen Vernunft zu bedienen. Man muss selbstbewusst in die Höhle des Königsberger Löwen eintreten, die skeptische Prüfung kann auch hier nicht suspendiert werden. Die Kritik der kritischen Philosophie verlangt großen Respekt vor dieser Revolution in der Denkungsart, hat jedoch unvoreingenommen und ohne Rücksicht auf den berühmten Namen zu erfolgen. Die sich mit Blick auf die in Frankreich begonnene politische Formierung einer modernen Ordnung vollziehenden Kontroversen um die Transzendentalphilosophie Kants wie auch die Rousseau’schen Gedanken bilden den Rahmen. Wichtige Beiträge zu dieser „konstellatorischen Dynamik der Debatte im Stift“ liegen inzwischen vor.23 Die Rede vom „theologisch-kantischen Gang“ bleibt dabei doppeldeutig und spielt sowohl auf die Kontroverse zwischen der Tübinger supranaturalistischen Theologie (Storr, LeBret, Flatt, Süßkind, Rapp) einerseits und Kant andererseits, als auch auf die Symbioseversuche von Tübinger Dogmatik und kritischer Philosophie an. Nach der durch den Kreis um Diez und Niethammer repräsentierten ersten Generation von philosophischen Rebellen begann ab 1788 der intellektuelle Aufstieg der zweiten Generation mit ihren Helden Hölderlin, Hegel und Schelling.24 Zudem eröffneten zeitgleich Fichte und Kant 21 Dieter Henrich, Leutwein über Hegel. Ein Dokument zu Hegels Biographie, in: Hegel-Studien 3 (1965), S. 52. Die gründlichste Rekonstruktion der geistigen Situation im Stift während Hegels Studium liefert Henrich, Grundlegung, 2004. Weiterhin dazu: Dieter Henrich (Hg.), Immanuel Carl Diez. Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen–Jena (1790–1792), Stuttgart, 1997. Dazu auch: Michael Franz (Hg.), Im Reich des Wissens cavalieramente. Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen/Eggingen, 2005; ders., „… an der Galeere der Theologie“? Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen/Eggingen, 2007. 22 Hoffmeister, Briefe, Bd. 1, S. 14 23 Vgl. besonders die Arbeiten von Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart, 1991; ders., Grundlegung, 2004. 24 Auch hierzu die bereits erwähnten profunden Studien von Dieter Henrich.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung mit ihren Religionsschriften und die entsprechenden Verteidigungsstrategien der Tübinger Theologen eine neue Phase, sodass die Troika sich vor einer veränderten Herausforderung wiederfand. Man steht vor einer schier unüberschaubaren Konstellation mit verschiedenen Frontlinien: etwa die Streitsache zwischen den Protagonisten der Tübinger Theologie und den Vertretern einer natürlichen Religion bzw. Volksreligion, die Kontroversen zwischen Tübinger Supranaturalisten und den Kant-Evangelisten à la Diez sowie den Kant-Fortsetzern Reinhold und Fichte.25 In Anspielung auf Schiller hielt Schelling seinen Freund Hegel für berufen, „vollends die letzte Tür des Aberglaubens zu verrammeln“‘ (Br I, 21) und einen gewichtigen Beitrag beim Ausjäten des „alten Unkrautes“ zu erbringen. Mit dem „Verrammeln“ erinnert Schelling vielleicht an Schillers Rousseau-Gedicht: „Nacht und Dummheit boshaft sich versammeln, / Deinem Licht die Pfade zu verrammeln“.26 Es bestand die Herausforderung, einer der einflussreichsten Strömungen der evangelischen Theologie auf Augenhöhe zu begegnen und ihr Paroli zu bieten – der Storr’schen Schule des Supranaturalismus. Ähnlich schwierig gestaltete sich die Tübinger Herausforderung im Angesicht der Rezeption von Kant und des Kantianismus seitens der Theologen und deren Reaktionen auf den Königsberger Philosophen und Fichte in Form eines „neuen kantisch-philosophischen Supernaturalismus“ à la Reinhold, was zur Verteidigung wie zur Kritik einzelner Lehrstücke der kantischen Philosophie führte. Auch tritt Spinozas Monismus als eine mit Kant ernsthaft konkurrierende Konzeption vor Augen, zumal Professoren im Stift wie Flatt und LeBret diese „Spinozisterei“ als Atheismus zu diskreditieren suchen.27 Den legendären Lessing-Satz: „Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich – hen kai pan! Ich weiß nichts anders“ zitiert Schelling fast wörtlich in einem Brief an Hegel (Br I, 22); dem Hölderlin-Eintrag in Hegels Stammbuch ist das hen kai pan hinzugefügt (Br IV/1, 136). In zarter Differenz zur harschen Polemik Schellings – „Erklärung aller Dogmen zu Postulaten der praktischen Vernunft“ – bringt Hegel später seine klassische Formulierung von der listig-schlauen Vernunft ins Spiel: Unter dem „kritischen Bauzeug, das die Theologen zur Befestigung ihres gotischen Tempels herbeischaffen“, das „sie dem Kantischen Scheiterhaufen entführen, um die Feuersbrunst der Dogmatik zu verhindern, tragen sie aber wohl immer auch brennende Kohlen mit heim; – sie bringen die allgemeine Verbreitung der philosophischen Ideen“ (Br I, 17). Dies trifft auf Storrs wie auf Flatts Kant-Kritik und auf die öffentliche Flatt-Märklin-Debatte zu.28 Und die Kant25 1792 behandelt Abel die Gedanken von Reinhold. Vgl. Christopher Arnold, Schellings frühe PaulusDeutung. Eine Untersuchung zur Entwicklung von F. W. J. Schellings Schriftinterpretation im Zusammenhang der Tübinger Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen Theoriebildung seit der Frühaufklärung, Manuskript Diss., Wien, 2016, S. 112. 26 Friedrich Schiller, Schillers Werke. Nationalausgabe, Weimar, 1943 ff., NA 1, S. 63. 27 Johann Friedrich Flatt, Rez. Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Neue vermehrte Ausgabe, Breslau, 1789, in: Tübingische gelehrte Anzeigen, hg. v. Christian Friedrich Schnurrer u. Johann Friedrich Gaab, 34. Stück, Tübingen, den 29. April 1790. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Werke AA, II, 5, S. 261. 28 Henrich, Grundlegung, S. 712–752.

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Widersacher lieferten durchaus bemerkenswerte Argumente wie etwa die skeptischen Einsprüche gegen Kant und Reinhold seitens Flatts, eines „Selbstdenkers“ (Fichte), einer der „scharfsinnigsten und liberalsten Bestreiter der Kantischen Philosophie“.29 Für den Gedanken des Göttlichen sind Flatt zufolge keine metaphysischen Ideen erforderlich, sondern dieser Glaube ist in „Erscheinungen der Natur“ und im „Wesen des menschlichen Verstandes“ gegründet. Während Flatt den von Kant vorgetragenen moralischen Überzeugungsgrund vom Dasein Gottes schätzt, jedoch die göttliche Autorität nicht als bloße Hypothese sieht, mausert sich der Tübinger Repetent Rapp nach anfänglichen Sympathien für Kant zum dezidierten Anhänger des Theologen Storr. Rapp hatte sich in seiner Jenaer Zeit stark an Kant angenähert – die Vernunft sollte demnach zur höchsten Richtschnur der Handlungen gemacht werden. Aus Jena war er jedoch als „der entschiedenste Kantianer, aber zugleich auch als der entschiedenste Storrianer zurückgekommen“.30 Der Streit um die Auslegung der kantischen Philosophie, die Spannung zwischen begeisterter Kant-Rezeption und Kant-Kritik, die Konfrontation verschiedener Stellungnahmen zum „Kantischen Kriticismus“ prägen wesentlich das geistige Klima während der Tübinger Jahre. Diese Debatten erhalten Gewicht für die – im Unterschied zu den erzkantianischen Kommilitonen Renz und Märklin – eben nicht von der Kantomanie Infizierten Hölderlin, Hegel und Schelling, denen es um einen ausgewogenen, differenzierten Blick auf die kantische Denkungsart zu tun war, um die unvoreingenommene Prüfung der Positionen der Transzendentalphilosophie. Wie kann die neue Denkungsart ihre Stichhaltigkeit belegen?

III. Der Prüfstein – Die nachkantische Skeptizismus-Debatte Wie so oft in der Geschichte der Philosophie war auch diesmal der philosophische Skeptizismus eine der entscheidenden Herausforderungen für die neuen Denkmuster. Letztere standen vor der Aufgabe, die Resistenz oder Immunität ihrer Gedanken gegenüber den scharfsinnigen skeptischen Einsprüchen zu beweisen. Und Gottlob Ernst Schulze, der sich nach dem antiken Pyrrhoniker Aenesidemus nannte, legte dann gegen Kant und seine „würdigen Nachfolger“ scharfsinnige Einwände vor und avancierte zum Advocatus diaboli dieser Denkepoche. 1793 formulierte Karl Leonhard Reinhold eine Einschätzung des Skeptizismus, die eine Facette der wildbewegten und einzigartig krea-

29 Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Berlin, 1844, S. 25; Michael Franz (Hg.), Im Reiche des Wissens cavaliermente, a. a. O., S. 535. Flatt war wie Abel Illuminat gewesen. Dazu: Michael Franz, ­Johann Friedrich Flatts philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit Kant, in: ders. (Hg.), an der Galeere, S. 205. Seit 2018 liegt die Edition der Klüpfel-Nachschriften der Flatt’schen Vorlesungen zu Psychologie und Metaphysik vor: Michael Franz, Ernst-Otto Onnasch (Hg.), Johann Friedrich Flatt. Philosophische Vorlesungen. Nachschriften von August Friedrich Klüpfel, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2018. Vgl. die dort enthaltene intellektuelle Biographie von Flatt, S. 24 ff. 30 Henrich, Grundlegung, S. 134.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung tiven philosophischen Zeit nach Kant,31 geprägt von philosophischen Feuerwerken ungekannter Höhe, Kraft und Buntheit, trefflich beschreibt: „In keinem Zeitpunkte war der Begriff des Skeptizismus in der Philosophie zugleich so vieldeutig und so genau bestimmt, und nie gab es so viele eingebildete und so wenige wirkliche philosophische Skeptiker als gegenwärtig.“32 Die nachkantische Beschäftigung mit dem Skeptischen zeigt eine äußerst verästelte Gemengelage, gleicht einem babylonischen Gewirr, einem Irrgarten, in dem Orientierung schwerfällt, einem chaotisch wuchernden Gestrüpp mit scharfkantigen Dornen, an denen sich mancher Denker blutige Pfoten holte. Stets wurde von den Skeptikern der durchaus gefährliche Vorwurf des Dogmatismus gegen Kant und die Idealisten erhoben. Schärfste Debatten mit dem Ziele der Annihilation der Gegner, die sich wechselseitig etwa als Dogmatiker oder als Teufel und Seeungeheuer titulierten, waren an der Tagesordnung. Die Einschätzungen des Skeptischen schwankten zwischen den Extremen der Schmähung als bösartige Krankheit des Geistes, als Gebrechen des Zeitalters und dem Lobpreisen der durchdachten Einrede, der scharfsinnigen Prüfung. Der Skepticus erschien als Sphinx, als subtiler Aporetiker, der gegen die Unart der Voreingenommenheit steht, als der eigentliche All-Zermalmer von jeglichem Dogmatismus, zugleich aber auch als ein in Sachen Wissensgewinnung ewig Unentschiedener, Gleichgültiger, der alles dahingestellt sein lässt. Hier kann es nur um ganz wenige Grundzüge und Tendenzen, um ausgewählte Facetten eines faszinierenden Panoramas gehen, mit denen auf die vielen Gesichter der Skepsis verwiesen wird. Auf jeden Fall bildete die Skeptizismus-Debatte ein entscheidendes Moment in der Genese des Deutschen Idealismus. Kants kritische Philosophie und deren grundlegende Unterscheidung zwischen dem doktrinellen Skeptizismus und der skeptischen Methode, die „nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen und unentbehrlich ist“, und Hegels phänomenologisches Unternehmen eines „sich vollbringenden Skeptizismus“ als entscheidende Antwort auf den späteren Schulze bilden den Rahmen, in welchem sich die Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus als eine fundamentale Herausforderung für die Philosophie schlechthin erwies. In einem ersten Versuch einer historischen Gesamtdarstellung der skeptischen Denkschule, in Carl Friedrich Stäudlins Geschichte und Geist des Skepticismus (1794), kommt die fulminante Renaissance der Skepsis wie folgt zur Sprache: Die neueste Revolution in der Philosophie [durch Kant] ist durch ihn [den Skeptizismus] veranlaßt worden und hat ihn wieder zum Gegenstande einer tiefern philosophischen Untersuchung gemacht. Jene Revolution sollte ihn stürzen, nach einer

31 Dazu näher: Vieweg, Philosophie des Remis, 1999; ders., Skepsis und Freiheit. Der Skeptizismus zwischen Philosophie und Literatur, München, 2007. 32 Karl Leonhard Reinhold, Ueber den philosophischen Skepticismus, in: David Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand neu übersetzt von M. W. G. Tennemann nebst einer Abhandlung über den philosophischen Skepticismus von Herrn Professor Reinhold in Jena, Jena, 1793, Bd. 1.

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neuen Entdekung soll sie ihm kein Haar gekrümmt haben oder gar ihn vielmehr bevestigt haben.33

Wahrlich teuflische Heerscharen von vermeintlichen oder echten Skeptikern treten auf die philosophische Bühne und versuchen sich in der variantenreichen Rolle des Skeptikers, des Widerspenstigen, als Vertreter des Zetetischen, Ephektischen und Aporetischen, als Abkömmlinge der philosophischen Hölle, als Fürsprecher permanenter geistiger Revision, Rebellion und Insurrektion, als denkende Widerporste schlechthin. Man verteidigt Grenzziehungen für das Wissen, verordnet die Skepsis als Abführmittel für das Dogmatische, schreibt letztgültige Vernichtungen des Dogmatismus oder Apologien des Teufels. „Was ihr das Negative nennt, gilt als eigentliches Element“, denn Zweifel reime sich besonders schön auf Teufel, so Goethe. Dies rief natürlich auch die Heerscharen der Exorzisten auf den Plan, erforderlich war die Zähmung der Widerspenstigen. Einige Beispiele für die Kämpfe der skeptischen Titanen in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, einer ersten Phase der Skeptizismus-Debatte: Festzustellen ist die höchst erstaunliche Tendenz, dass die vermeintlichen Skeptiker unter den Namen von antiken Anwälten ihrer Zunft auftreten: Gottlob Ernst Schulze schmückt sich mit dem Namen Aenesidemus, der Teufelsapologet Johann Benjamin Erhard nennt sich in seiner Schrift Über die Medicin Arkesilas und Johann P. Feuerbach benutzt den Namen Pyrrhon. Als weitere Protagonisten skeptischer Streitsachen sind Salomon Maimon mit seinem Versuch einer neuen Logik und Theorie des Denkens. Nebst angehängten Briefen des Philaletes an Aenesidemus (1794), Leonhard Creuzer mit seinen Skeptischen Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe (1793) oder Ernst Platner zu erwähnen. Weiterhin greifen in die Debatte ein: Johann Heinrich Abicht mit Hermias oder die Auflösung der die gültige Elementar-Philosophie betreffenden Aenesidemischen Zweifel (1794), der Kant-Schüler Johann Sigismund Beck mit seinem Versuch einer Widerlegung des Aenesidemus gegen die reinholdische Elementarphilosophie (1795) oder auch Friedrich Immanuel Niethammer mit seinem berühmten Eröffnungsaufsatz zum Philosophischen Journal mit dem Titel Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie.34 Als programmatisch erweist sich die Überschrift eines 1791 von Johann August Eberhard veröffentlichten Beitrags: Vergleichung des Skepticismus und des kritischen Idealismus. Die dort fixierte, aus der antiken Debatte herrührende These fokussiert einen Grundstein der folgenden theoretischen Kämpfe: „Eine Philosophie, die weder dogmatisch noch skeptisch seyn soll, ist ein Unding.“ Schulze wiederholt 1805 diese Be33 Carl Fridrich Stäudlin, Geschichte und Geist des Skepticismus vorzüglich in Rücksicht auf Moral und Religion, Leipzig, 1794, S. 2. 34 Dazu ebenfalls Niethammers Rezension von Visbecks Schrift Die Hauptmomente der Reinholdischen Elementarphilosophie in Beziehung auf die Einwendung des Aenesidemus untersucht (1795). Vgl. dazu: Vieweg, Skepsis und Freiheit, S. 111–128.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung hauptung: „Außer der dogmatischen und skeptischen Denkart über die Möglichkeit eines Wissens, findet keine dritte, von beyden verschiedene statt. […] Und eben so wenig können sie jemals in irgend einem ihrer Resultate zusammentreffen.“35 Dem wird Hegel grundsätzlich Paroli bieten und zwar mit seinem in Jena fixierten Gedanken von einer dritten Philosophie, die weder Skeptizismus noch Dogmatismus und also beides zugleich ist. Ein nicht zu vernachlässigendes Moment der Konstellation repräsentieren die im ersten Jahrfünft nach 1790 publizierten Übersetzungen von skeptischen Schriften: Niethammers Teilübersetzung des Sextus Empiricus (1791) sowie die Übersetzungen der beiden Hauptwerke von David Hume: Des Treatise durch L. H. Jacob und der Enquiry seitens M. W.  G. Tennemann mit dem wichtigen Vorwort von Reinhold Ueber den philosophischen Skepticismus. Im Zentrum dieser ersten Phase stand die Konfrontation zwischen Kant und Reinhold einerseits sowie deren skeptischen Widersachern andererseits. Stark vergröbert gesagt geht es um eine Kontroverse zwischen den Philosophien der Kantianer und Kant-Kritiker, zwischen Denkungsarten Reinhold’scher und Schulze’scher Provenienz, sowie um die durch Erhard, Niethammer und andere vorgetragene Kritiken an der sogenannten Philosophie aus oberstem Grundsatz Reinhold’schen Typs, welche als eine neue Form von Dogmatismus ins Kreuzfeuer der Kritik gerät. Ein neues Plateau der Skeptizismus-Debatte wird mit Fichtes Auftritt in Jena erreicht. Für Dieter Henrich zählt eine gegen Kant erneuerte Skepsis zu den wichtigsten Ereignissen in der Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Fichte gelangte zur Grundidee seiner Wissenschaftslehre in der Auseinandersetzung mit ihr [der Skepsis]. Für die Philosophen, die Fichte nicht folgten, aber sich doch an sein Werk anschlossen, wurde dann eine Ortsbestimmung der skeptischen Argumente zu einem ebenso dringenden Bedürfnis wie eine Begründung ihrer Position, die als von skeptischen Einreden nicht betroffen darzustellen war.36

Hier soll ein Augen- und Ohrenzeugen aus Jena, spätestens seit Schillers und Reinholds Wirken das Zentrum der philosophischen Operationen, zu Wort kommen: Der ein „Revisionstribunal“ anstrebende Karl Friedrich Forberg formuliert aus dem Blickwinkel der Skepsis-Debatte zunächst eine harte Kritik der Kant-Jünger: „[…] wenn ich auf der einen Seite zurückdenke an die entzückenden Aussichten, die der königsbergische Weise eröffnet hatte, und auf der anderen erblicke die demüthige Miene, mit welcher seine Jünger der Himmelfahrt ihres Meisters nachstaunen, zufrieden mit jedem Zipfel 35 Johann August Eberhard, Vergleichung des Skepticismus und des kritischen Idealismus, in: Philosophisches Magazin, Halle, 1791, S. 96; Gottlob Ernst Schulze, Die Hauptmomente der skeptischen Denkart über die menschliche Erkenntnis, in: Friedrich Bouterwek (Hg.), Neues Museum der Philosophie, Leipzig, 1805, S. 25. 36 Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart, 1992, S. 790, Anm. 104.

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seines Mantels, der ihm dabey entfiel“, so lautet die Diagnose: „die Erniedrigung des Sinnes, die Geistesleerheit und die Ideenarmuth.“37 Die folgende Stelle beinhaltet die Beschreibung einer Dimension der Problemkonstellation Kant-Reinhold und nachkantische Philosophie: [Reinhol]ds Verdienst war, daß er abführte von dem Buchstaben der Kantischen Kritik, daß er den Philosophen Deutschlands das Bedürfniß erster Principien aller Philosophie kräftig einschärfte, und sie in einem oft sehr bittern Tone daran erinnerte, daß die Kritik der Vernunft nur die Propädeutick eines philosophischen Systems, nicht aber dieses System selbst wäre. Und hier hat [Reinhol]ds Verdienst um die Philosophie seine Grenze!38

Mit Fichte tritt die Philosophie in ein neues Stadium ein, das eine wiederum neue, unter dem Namen Skeptizismus auftretende Kritik nach sich zieht: Laut Fichte hat Schulze „mich eine geraume Zeit verwirrt, Reinhold bei mir gestürzt, Kant mir verdächtig gemacht, und mein ganzes System von Grund auf umgestürzt.“39 Auf eine der Gegenstimmen rekurriert Forberg, auf Erhards Grundsatzskepsis: Dass ein höchstes Prinzip, „von dem sich alle Wahrheiten, wie von einem Knäuel abwinden lassen ein Bedürfnis für die speculative Vernunft sey, daran zweifle ich nicht. Aber ich fürchte, es geht den Philosophen mit ihrem ersten Princip, wie den Alchymisten mit dem Stein der ­Weisen“.40 Im Ausgang der Auseinandersetzung um Kant und im Gefolge der deutschen Rezeption der Hume-Reid-Kontroverse entstand eben eine Denkströmung, die sich als neuester Skeptizismus bezeichnete, mit ihrem Hauptprotagonisten Gottlob Ernst Schulze. Nach seiner Attacke auf Kant wirkte er als dreifacher und erfolgreicher agent provocateur von 1792 bis 1805 und löste drei einschneidende Kontroversen aus: Erstens in seinen Angriffen auf Reinhold und Fichte in den ersten 90er-Jahren mit Fichtes Verteidigung in der Aenesidemus-Rezension, zweitens die Kritik Schulzes an Schelling 1800 (Kritik der theoretischen Philosophie) und Hegels Replik im Skeptizismus-Aufsatz von 1802,41 sowie drittens Schulzes Einspruch gegen Schellings und Hegels Identitätsphilosophie aus den Jahren 1803 und 1805 und Hegels Antwort mit der Phänomenologie des Geistes. Der ganze Haufen der neuen Skeptiker – so Hegel – verehre Herrn Schulze als ihren Vormann und Heros. Die klare Unterscheidung von echter und „unechter“, edler und unedler Skepsis blieb gerade hier ein unabweisbares Erfordernis für die Denker, die 37 Karl Friedrich Forberg, Fragmente aus Briefen, in: Brady Bowman, Klaus Vieweg (Hg.), Johann Friedrich Ernst Kirsten. Grundzüge des neuesten Skepticismus, München, 2005, S 106 f. 38 Ebd., S. 108 f. 39 Brief von Fichte an Stephani Sommer 1793. GA III/2, 28. Der Kant’schen Philosophie wäre „nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen“ beizupflichten. 40 Vgl. Johann Benjamin Eberhard, Über das Recht eines Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, hg. u. mit einem Nachwort v. Hellmut G. Haasis, Frankfurt a. M., 1976, S. 10. 41 Dazu ausführlich: Vieweg, Philosophie des Remis, a. a. O.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung wesentlich diese einmalig kreative Ära der Philosophie prägten. Und Fichte stellte sich mit der ihm eigenen Vehemenz dieser großen Herausforderung der Bedrohung durch die skeptischen Seeungeheurer, wie er die skeptische Bedrohung so schön beschreibt. Mit seiner Creuzer-Rezension 1792 greift Fichte sofort mit erheblicher Wirkung in die Debatte ein und kritisiert den Hypermoralismus Creuzers, der in der Abweisung einer begründbaren praktischen Philosophie seinen Kern hat. „Allein“ – so die Creuzer’sche These – „was das spekulative Interesse der Vernunft nicht kann, vermag das unerklärliche reinmoralische praktische Interesse derselben.“42 Die Äußerung der absoluten Selbsttätigkeit im Bestimmen des Willens wird – so Fichtes trefflicher Einwand – bloß als Postulat gefasst, nicht als Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens. „Gründet sich doch die gesamte Kenntniß unserer Natur am Ende auf Fakta im Bewußtseyn, die wir nicht weiter zu erklären im Stande sind, ja deren Möglichkeit wir nicht einmal einsehen.“43 Der von Fichte aufgezeigte Kern des Pudels wird hier ganz deutlich sichtbar: Die Philosophie wird darauf reduziert, dass ihre Sätze Tatsachen des Bewusstseins sind und folglich mit der Erfahrung übereinstimmen. Fichte stellt sich klar gegen diese Bankrotterklärung der Philosophie. 1793 verfasst Fichte seine berühmte AenesidemusRezension, die auf die Schulze’sche Attacke auf Reinholds Fundamentalphilosophie antwortet, wobei Fichte von diesem Angriff des Aenesidemus durchaus zu einem tieferen Durchdenken seines eigenen Entwurfs genötigt wurde. Die „Anmaßungen der Vernunftkritik“ bei Reinhold wollte Schulze zurückweisen, Fichte hält dagegen und charakterisiert Schulzes Skeptizismus als uneigentliche Skepsis, als „anmaßenden Dogmatismus“.44 Die eigentliche Antwort Fichtes war bekanntlich die neue GrundsatzPhilosophie in Gestalt der Wissenschaftslehre von 1794, in der Fichte nachweist, dass die neuen Pseudo-Skeptiker mit ihrer anti-transzendentalen Argumentation in Dogmatismus und eine inakzeptable Philosophie des gesunden Menschenverstandes umschlagen. In Fichtes „Annihilierung“ der Konzeption des in Jena wirkenden Kantianers Carl Christian Erhard Schmid – im sog. Anti-Schmid als einem weiteren Beispiel von Fichtes Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Skepsis – erblickte Friedrich Schlegel ein Muster der Widerlegung von pseudoskeptischen Philosophien. Der Philosophie kommt laut Schmid die „bescheidene“ Aufgabe zu, die gegebene Vielfalt systematisch zu ordnen, unsere Kenntnisse in ein System zu bringen, alle weitere Erkenntnis prinzipiell in Zweifel zu ziehen.45 Ein wie auch immer geartetes Hinausgehen über ein solches Verfahren gleicht in den Augen Schmids leeren Schwärmereien und müßigen Hirn42 Johann Benjamin Creuzer, Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe, Gießen, 1793. 43 Ebd., S. 110. 44 Johann Gottlieb Fichte, Rezension des Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie, verfasst 1793, anonym erschienen in der ALZ Nr. 47–49, Jena, 1794 (Fichte, GA I/2, S. 49). 45 Dazu bemerkte Fichte lapidar: „In jeder Wissenschaft wird vorausgesetzt, daß unsern Vorstellungen Dinge außer uns entsprechen; und die Voraussetzung ist die Bedingung der Möglichkeit aller Wissenschaft“. Vgl. Fichte, Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre, in: Fichte, GA I/3, S. 248.

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gespinsten, das Übertreten der Grenze der „Tatsachen“ wird von ihm als „Transzendentismus“ abgefertigt. Gegen die Schmid’sche Erschleichung von „Tatsachen“ wendet Fichte ein, dass die Philosophie (als Wissenschaftslehre) die notwendige, aber unbewiesene Voraussetzung der Wissenschaften erst erhärten müsse. Durch Philosophie wird „sonach unser Vorstellen erst ein Wissen“.46 Mit diesem Anspruch auf Wissen mittels Denken kommen wir ins Zentrum der frühen Wissenschaftslehre. Bei einer konsequenten Durchführung des Schmid’schen Vorgehens würde hingegen jedes systematisierende Denken zur Philosophie erhoben  – „wenn“  – so Fichte  – „jemand z. B. die Schneiderkunst in ein System brächte, so wäre dieses System ein Theil der angewandten Schmidischen Philosophie“.47 Das tapfere Schneiderlein Fichte holt schließlich zum letzten Streich aus, mit einem klaren Plädoyer für die edle, echte Skepsis, für den unumgänglichen Weg durch die Hölle des Negativen, durch ein Dante’sches Inferno des Zweifels: Wir sollten „einmal wenigstens in unserm Leben an allem zweifeln, und uns völlig zur leeren Tafel machen. Wer sich nicht bewußt ist, durch diesen Zustand hindurchgegangen zu sein, der sei nur im voraus sicher, daß er mit seinem Philosophiren weder sich selbst noch Andern sehr zur Freude leben werde.“48 Forberg resümiert die durch Fichtes Eingreifen neu entstandene Gefechtssituation dann wie folgt: „Die Hallenser [Kantianer] haben nun den Feldzug förmlich eröffnet.49 Ich freue mich dessen. Die Wahrheit gedeihet, wie die Tugend, nur im Kampf. Bis jetzt sind alle Kantianer und Antikantianer Gegner der Fichtischen Philosophie. Man hört überall spotten über die Fabrik erster Principien, die in Jena ordentlich angelegt scheint.“50 Fichte hatte wohl einen neuralgischen Punkt des Kantischen und Nachkantischen getroffen, was dort allseits heftigen Schmerz induzierte. Und die sogenannten Grundsatz-Skeptiker wie Erhard und Niethammer haben jetzt statt Reinhold Fichtes Jenaer Wissenschaftslehre im Visier – ein Grundsatz verweise stets auf eine Begründung und jene wiederum auf eine solche etc., ein Tropus des Sextus Empiricus. Als insuffiziente antiskeptische Strategie wird jedoch auf irgendeine Art von Unmittelbarkeit rekurriert, ein Faktum, ein bittweise Angenommenes – Instinkt, Eingebung, unmittelbares Wissen, gesunder Menschenverstand, Schulzes unleugbare Tatsachen des Bewusstseins – alle diese Formen „machen auf die gleiche Weise die Unmittelbarkeit, wie sich ein Inhalt im Bewußtsein findet, eine Tatsache in diesem ist, zum Prinzip“. Niethammer behauptet, dass der Skeptizismus dort, „wo kein Satz, sondern ein unmittelbares Faktum zu Grunde gelegt wird, keine Einsprache mehr tun“ könne, denn von „einer Thatsache kann man weiter keinen Beweis fordern, als den des unmittel-

46 Ebd. 47 Ebd., S. 249. 48 Ebd., S. 262. 49 Seit Herbst 1794 erschienen mehrere giftige Rezensionen zu Fichtes Werken in Ludwig Heinrich von Jakobs Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, unter ihnen eine Rezension von J. S. Beck. 50 Forberg, Fragmente, S. 122.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung baren Bewußtseins“.51 Damit wird nun keineswegs Resistenz gegen die pyrrhonischen Tropen gewonnen, stattdessen gerät man in einen neuen Dogmatismus der Unmittelbarkeit. Dagegen tritt schon Mitte der 90er-Jahre ein mit der antiken Skepsis bestens Vertrauter auf – Friedrich Schlegel, der solcherart Pseudoskepsis als empirisches und unkritisches Dogma attackiert. „Die Empiriker“ – so Schlegel – „denken sich das als Burgfriedensbruch, als Gränzverletzung, wenn man über die Welt der Erscheinungen hinausgeht“ und sie „stürzen in die Aporie einer absoluten sich selbst setzenden Grenze des Wissens“.52 Dagegen wird von Fichte und Schelling der Maimon’sche durchgreifende Skeptizismus gegen das Vorurteil des philosophischen Realismus in Stellung gebracht, das Vorurteil, dass die Dinge außer uns unmittelbar gewiss sein sollen. Der gemeine Menschenverstand – so Fichte – unterstellt, postuliert einfach, dass die Welt immer sein würde, wenn auch er nicht wäre. Das zu rekognoszierende Gelände wird sehr unübersichtlich: Wer ist hier ein echter Skeptiker? Was sind wahrhaft skeptische Einsprüche? Kann der Skeptiker wirklich mit Argumenten arbeiten? Welche Immunisierungsstrategien sind erfolgreich? Die Immunisierung des eigenen Denkens gegen das Treiben der „skeptischen Seeungeheuer“ wird jedenfalls bei Fichte und Hegel als eine entscheidende Herausforderung begriffen.

IV. Die Geburt der neuen Weltphilosophie des Deutschen Idealismus 1794 Schelling zufolge wird Fichte „die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden“, Fichte sei der neue Held „im Lande der Wahrheit“. Hölderlin spricht „mit Begeisterung von Fichte als einem Titanen, der für die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde“.(Hegel schließt an diese außerordentlichen Wertschätzungen an: „Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie“, die Anerkennung der Würde des Menschen und seines Vermögens der Freiheit sei der Beweis, dass „der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet – die Philosophen beweisen diese Würde und die Völker werden ihre in den Staub erniedrigten Rechte sich aneignen“. (Br I, 15, 18, 24)53 Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 avanciert zum Gründungsdokument des Deutschen Idealismus. Die neue Weltphilosophie hat ihre Geburtsstunde 1794 in Jena. Die 51 Vgl. Vieweg, Skepsis und Freiheit, S. 122. 52 Schlegel spricht von Aporie: „eine absolute sich selbst setzende Gränze d[es] Wissens zu behaupten, da die Gränze doch nur aus d[em] Unbedingten entspringen kann.“ Vgl. Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe seiner Werke, hg. v. Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner, 35 Bde., Paderborn, 1958 ff., KFSA XVIII, S. 511, Nr. 67; S. 4, Nr. 6. 53 Hoffmeister, Briefe, S. 15, 18, 24.

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Fichte’sche Schrift liefert die Initialzündung für eines der kreativsten Jahrzehnte in der Geschichte des philosophischen Denkens überhaupt. Die 5000 Einwohner zählende thüringische Universitätsstadt Jena steigt jetzt zur Weltmetropole, zum „Mekka der Philosophie“ auf: „Während die Franzosen eine politische Revolution hervorbrachten, brachten die Deutschen eine im Reiche der Wahrheit zustande und Jena ist in dieser Hinsicht das, was Paris in jener gewesen ist.“54 Besonders der Sieg der Franzosen über die europäischen Feudalmächte bei Valmy, der Sturz des Königs sowie die Proklamation der Französischen Republik am 20./21. September 1792 hatten bei den Tübinger Revolutionsanhängern einen tiefen Eindruck hinterlassen. So kam es zu einer Verbindung der Gedanken eines Rousseau und Kant mit den Prinzipien der Revolution – es entstand eine explosive Liaison zwischen den revolutionären Gedanken und Ereignissen in Paris und der Freiheitslehre aus Königsberg. Die enthusiastischen Äußerungen der Denker zum Thema Selbstbestimmung und Freiheit seien hier nur aneinandergereiht: Schiller sieht das „Reich der Vernunft als ein Reich der Freiheit“, Schelling beschreibt Freiheit „als A und O der Philosophie“, Hölderlin verkündet der „Freiheit heilig Ziel“, Fichte hält sein System für das „erste System der Freiheit“, Hegel versteht seine Wissenschaft der Vernunft als Wissenschaft der Freiheit. Jedenfalls schreibt das Tübinger Dreigestirn Hölderlin, Hegel und Schelling der Geburt der Philosophie des Deutschen Idealismus mit der Fichte’schen Wissenschaftslehre von 1794 sofort herausragende Bedeutung zu, kündigt aber sofort die kritische Prüfung und notwendige Fortführung der Transzendentalphilosophie an. Hier tritt die divergente philosophische Sozialisation der drei Schwaben im Vergleich zu den direkt aus kantischer Tradition kommenden Reinhold und Fichte zutage. Die schwäbische, aus dem Tübinger Stift entsprungene Fraktion wird nur wenige Jahre später sukzessiv die intellektuelle Bühne von Jena mitprägen und dominieren. Fichte hatte mit seiner Wissenschaftslehre die kühne Konzeption eines Monismus von Vernunft und Freiheit, und damit das erste ausgeführte System des Deutschen Idealismus, vorgelegt. Schelling erkannte umgehend das Bahnbrechende dieses Begründungsaktes des Deutschen Idealismus und deutete in seiner Ich-Schrift Fichtes Grundprinzip im Sinne eines „absoluten Seyns“ als ein „höheres Gesezz des Seyns“.55 Fichte-Kritiker von Schulze bis Niethammer erhoben jedoch umgehend gewichtige Einsprüche. Hegel zufolge habe Fichte in reiner und strenger Form das Fundament für den „echten Idealismus“ gelegt, Fichtes Einheit des Subjekts und Objekts gelte als das echte spekulative Prinzip eines idealistischen Monismus. Hinter diese Errungenschaft könne nicht zurückgegangen werden. Jedoch bleibe die Durchführung dieses Gedankens unzulänglich, der idealistisch-monistische Kerngedanke bedürfe einer gründlichen Neuformierung, müsse vom Grund her neu gedacht werden. Der Dualismus von 54 Carola Hoécker, Helmuth Mojem (Hg.), Theuerste Freundin: Briefe Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Karl Wilhelm Friedrich Breyers an Nanette Endel, Sankt Augustin, 2005. 55 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Hans-Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1976 ff., SW I/2, S. 129.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Subjektivität und Objektivität, zwischen subjektivem Idealismus (Konstruktivismus) einerseits und dem Objektivismus (Realismus) andererseits, war aus Hölderlins, Schellings und Hegels Sicht noch nicht hinreichend überwunden worden. Schelling versucht blitzartig, eine monistische Konzeption vorzulegen, die aus einem höchsten Prinzip die anderen Bestimmungen der Philosophie entfaltet. In seiner Ich-Schrift moniert Schelling, das bei Kant das monistische Prinzip des Wissens fehle, theoretische und praktische Vernunft müssen erst noch durch ein „gemeinschaftliches Prinzip“ verbunden werden.56 Mit dem spinozistisch motivierten Ich-Monismus soll diese Vereinigung gelingen, mit dem Ur-Prinzip als letztem, absoluten Grund: Das absolute Ich ist dieses Fundament, das Eine, Unbedingte, Absolute. Hegel würdigt später die Systemform der Fichte’schen Wissenschaftslehre, worin sich der „echte Idealismus in reiner und strenger Form“57 ausdrücke, er hebt die Form der Deduktion hervor, die logische Ableitung der Kategorien. Dies richtet sich unmissverständlich gegen ein fragmentarisches oder rhapsodisches Philosophieren, gegen eine Poetisierung oder Ästhetisierung der Philosophie, etwa in Gestalt der romantischen Transzendentalpoesie als eines Hybrids von Literatur und Philosophie. Im Votum für eine solche strenge Wissenschaftlichkeit liegt die Verabschiedung der Ausdrucksform Hölderlins, die Distanzierung von den frühromantischen Positionen, wie auch von einer Proklamierung der Kunst zum höchsten Organon.58 Hierin erweist sich Hegel als strenger Anhänger von Kant, der unmissverständlich forderte, die Sachverhalte nach logischer Lehrart auf deutliche Begriffe zu bringen. Dies sei das „allein philosophische“ Vorgehen, beim „Mangel scharfer Beweise“ hingegen werden unzulässig bloß Analogien und Wahrscheinlichkeiten als Argumente aufgeboten. In solch ästhetische Vorstellungsarten mit ihren analogischen, bildlichen Darstellungen sah der Königsberger eine Gefahr für die Philosophie. Der Vorschlag, wieder poetisch zu philosophieren, ähnelt – so Kants ironische Einlassung – dem Vorschlag für einen Kaufmann, seine Handelsbücher nicht in Prosa, sondern in Versen zu schreiben.59 Dabei beruft sich Kant auf Aristoteles’ „prosaisches“ Denken und dessen Verständnis der Philosophie als „Arbeit des Begreifens“ – dies hat für den „Ton“ der Hegel’schen Philosophie essentielles Gewicht. Philosophie kann Kant zufolge ihre Aufgabe nur „durch gerechtfertigte Begriffe“ und „scharfe Beweise“ erfüllen und vermag Hegel zufolge ganz im Sinne Fichtes nur als ein logisch kohärentes System von Begriffen  – als logische Architektonik vom Grund- bis zum Schlussstein – aufzutreten. Die Kontroverse über die Philosophie als System und die 56 Ebd., S. 70–73. 57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg, 1968 ff., GW 4,5. 58 Speziell in Schellings System des transzendentalen Idealismus. 59 Vgl. Immanuel Kant, Über den neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin, 1900 ff., AA VIII, S. 393 ff. – Goethe stimmte jedenfalls dieser Sicht ausdrücklich zu und bezog sie auch auf Jacobi.

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Darstellungsform des Philosophischen wird die vielschichtige Rezeption Kants und des Deutschen Idealismus begleiten. Die würdigen Nachfolger Kants versuchen in sehr unterschiedlichen Phasen ihrer Denkwege die Revolution des Ideensystems voranzutreiben. Es scheinen sehr differente und vielschichtige Ausprägungen des Idealismus von der Distanzierung bis hin zur Verabschiedung von ihm zur Diskussion zu stehen. Dabei bleiben die systematischen Ansprüche wie auch die Kontroversen der Protagonisten von speziellem Interesse, wie etwa die Kant-Kritiken von Fichte und Hegel, die Differenzen zwischen Fichtes und Schellings Transzendentalphilosophie oder die Streitsache Schelling contra Hegel, eine echte Herausforderung für künftige Forschungen. Das brillante Gedankenpotential der kantischen Philosophie und der Entwürfe seiner bedeutenden Nachfolger ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft und wäre vor unsachlichen Diskreditierungen zu bewahren. In Anlehnung an Schelling gesprochen: Die Goldkörner dieser philosophischen Genieperiode sind noch nicht zureichend aus den zu bearbeitenden Gesteinen ausgewaschen.

Literatur Altmann, Matthew C. (Hg.), The Palgrave Handbook of German Idealism, Basingstoke, 2018. Boyle, Nicholas/Disley, Liz (Hg.), The Impact of Idealism. The Legacy of Post-Kantian German Thought. (Vol. I–IV), Cambridge, 2013. Förster, Eckart, Die 25 Jahre der Philosophie: Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a. M., 2011. Franz, Michael (Hg.), Im Reich des Wissens cavalieramente. Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen/Eggingen, 2005. –, „… an der Galeere der Theologie“? Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, Tübingen/Eggingen, 2007. Fulda, Hans Friedrich, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München, 2003. Henrich, Dieter, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart, 1991. –, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart, 1992. –, Immanuel Carl Diez. Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen–Jena (1790–1792), Stuttgart, 1997. –, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena 1790–1794, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2004. Hoffmeister, Johannes (Hg.), Briefe von und an Hegel (I–IV), Hamburg, 1969. Jacobs, Wilhelm G., Johann Gottlieb Fichte. Eine Biographie, Berlin, 2012. Jaeschke, Walter/Arndt, Andreas, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, München, 2012. Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie, München, 2004. Moyar, Dean, Oxford Handbook of Hegel, Oxford/New York, 2017.

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Kant und der Deutsche Idealismus – Einleitung Safranski, Rüdiger, Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München, 2004. –, Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! (Biographie), München, 2019. Tilliette, Xavier, Schelling. Biographie, Stuttgart, 2004. Vieweg, Klaus/Welsch, Wolfgang (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kollektiver Kommentar, Frankfurt a. M., 2008. Vieweg, Klaus, Philosophie des Remis – Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skepticismus‘, München, 1999. –, Skepsis und Freiheit. Hegel über den Skeptizismus zwischen Philosophie und Literatur, München, 2007. –, Hegel. Der Philosoph der Freiheit (Biographie), München, 2019.

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Immanuel Kant Andrea Marlen Esser (Jena)

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Inhalt I. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II.

Kritisches Denken als Denken der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . 34

III.

Die Kritik der reinen Vernunft und die zeitgenössische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

IV.

Die kritische Wende als radikaler Mittelweg . . . . . . . . . . . . . . . 45

V.

Das Antinomienproblem als Problem der Vernunft . . . . . . . . . 48

VI.

Die Erweckung durch Hume und die Lösung des Antinomienproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

VII. Kants Praktische Philosophie und die Kausalität aus Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VIII. Die Verbindung der beiden Kausalitäten über den Zweckbegriff: ­Ästhetik und Teleologie in Kants Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IX.

Wirkt eine Kausalität hinter unserem Rücken? Fortschrittsdenken und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . 63

X.

War der Aufklärer Kant ein Antisemit, ein Rassist und ein Sexist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

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I. Biographisches Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg geboren, besuchte das dortige königliche Friedrichskollegium und begann, sechszehnjährig, an der Albertus-Universität-Königsberg mit dem Studium der Mathematik, Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie sowie der klassischen lateinischen Literatur. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit verschiedenen Anstellungen als Hauslehrer im nähere Umkreis Königsbergs. 1755 kehrte er als Dozent an die Königsberger Universität zurück, an der er aber erst im Alter von 46 Jahren eine Professur für Logik und Metaphysik erhielt. Nach vielen Jahren intensiver Auseinandersetzung mit der Tradition erschien 1781 die ­Kritik der reinen Vernunft, die Kants Transzendentalphilosophie in das Zentrum der deutschsprachigen und europäischen Philosophiediskussion rückte. Es folgten weitere grundlegende Schriften wie die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urteilskraft (1790), die große Beachtung fanden. Kant nahm aber auch an den öffentlichen Debatten seiner Zeit teil und äußerte sich in Zeitschriftenbeiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Mit seinen Ausführungen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) geriet er in einen Zensurkonflikt mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm II . Kant starb am 8. Oktober 1803 im Alter von 80 Jahren. Kants Kritische Philosophie und ihr Aufruf zu selbständigem, die eigenen Voraussetzungen prüfenden Denken prägt die philosophischen Diskussionen bis in die Gegenwart. Doch er war keineswegs ein einsamer Denker, sondern entwickelte auch seine bedeutendsten Überlegungen in lebendigen Kontroversen mit den tonangebenden Theorien seiner Zeit. Es war Hume, der Kant erklärtermaßen aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt hatte, und von Rousseau sagte er, dass er ihn „zu recht“ gebracht und ihn gelehrt habe, die Menschen zu ehren. Und selbst die berühmte kritische Wende hin zu den Bedingungen unserer Erkenntnismöglichkeiten und Urteile vollzieht Kant in einer intensiven, über Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzung mit zentralen Prinzipien der sogenannten Schulphilosophie und des Empirismus. Auch seine systematischen Einsichten und eigenen philosophischen Leistungen lassen sich daher angemessen nur aus den jeweiligen Konstellationen heraus begreifen, in denen sie gewonnen wurden. Es ist vor allem die Kritik am schulphilosophischen Grundprinzip, am „Satz vom (zureichenden) Grund“, und an der empiristischen Begründung des Begriffs der Kausalität, an der sich die fundamentalen Neuerungen der kantischen Philosophie am deutlichsten zeigen. Die kantische Transformation des Begriffs der Kausalität in seinem eigenen System führt aber in allen Bereichen seiner Philosophie, in der Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie sowie in Ästhetik, Teleologie und Geschichtsphilosophie, zu einem innovativen Perspektivwechsel. Mit Kants Einsichten in diesen Gebieten steht die Philosophie bis heute in einem kritischen Dialog – und muss dies auch; denn eine wesentliche Mahnung der kantischen Philosophie liegt darin, das selbstständige und prüfende Denken nicht nur zu propagieren, ­sondern

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Immanuel Kant damit Ernst zu machen. Und dies darf eben auch die kantischen Überlegungen nicht aussparen.1

II. Kritisches Denken als Denken der Aufklärung Immanuel Kants eindringliche Mahnung zum selbstständigen, prüfenden Denken, sein berühmt gewordenes „sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“2 ist zur bündigen Formel aufgeklärten, kritischen Denkens und einer dementsprechenden „kritischen Philosophie“ geworden. Die von Kant zum „Wahlspruch der Aufklärung“ (ebd.) erkorene Aufforderung formuliert er in dem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, der im Dezember 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschien.3 Es handelt sich dabei um einen Beitrag zu einer Debatte, an der sich nun auch Kant mit seinem Text beteiligt und den Begriff der Aufklärung mit seinen Bestimmungen maßgeblich für die weitere Philosophiegeschichte geprägt hat. Die Diskussion entzündete sich zunächst an einer konkreten Fragestellung und wurde 1783 von Johann Erich Biester und Johann Friedrich Zöllner angestoßen. Biester, Mitherausgeber der Zeitschrift und Privatsekretär des preußischen Kulturministers, hatte sich mit der provozierenden These zu Wort gemeldet, dass man „die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen“ bemühen müsse.4 Die Eheschließung, so argumentiert er, sei vorrangig ein „Kontrakt“, ein bloßer Vertrag also, zu dessen Beschluss und Stabilität es in einer aufgeklärten Gesellschaft nur des Staates, allenfalls eines Zivilgerichtes, nicht aber eines Geistlichen und „all der Ceremonien“5 bedürfe. Der Berliner Prediger Zöllner wendet dagegen ein, dass mit der Abschaffung solcher Traditionen nicht nur die Heiligkeit der Ehe, sondern auch die „Grundsätze der Moral“ und überhaupt die Sitten der Menschen untergraben würden. In einer Fußnote seiner Entgegnung fordert Zöllner dann, dass man, bevor man auf solche Weise aufkläre, zunächst einmal die Frage „Was ist Aufklärung?“ beantworten müsse.6 Diese Kontroverse, die sich mit der scheinbar speziellen Frage der Eheschließung beschäftigt, ist paradigmatisch für eine fundamentale Auseinandersetzung, die schon 1

Ich danke Andreas Eckl und Daniel Kersting für die kritische Durchsicht und Ergänzung dieses Textes sowie den Teilnehmer:innen des Seminares „Kant intensiv“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena für ihre anregenden Beiträge. 2 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Kant’s Gesammelte Schriften, Akademieausgabe (AA), hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin, 1900 ff., AA VIII, S. 35. 3 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784), in: Berlinische Monatsschrift, 12. Stück, Berlin, 1794, S. 481.­ 4 Johann Erich Biester, Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei der Vollziehung der Ehe zu bemühen, ­Berlin, 1783, S. 265. 5 Ebd., S. 268. 6 Johann Friedrich Zöllner, Ist es rathsam, das Ehebündnis ferner durch die Religion zu sancieren?, ­Berlin, 1783, S. 516.

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II. Kritisches Denken als Denken der Aufklärung

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lange vorher, nämlich mit den ersten aufklärerischen Bestrebungen, begonnen hatte. In dieser geht es um das grundsätzliche Verhältnis, in dem die Vernunft als die zentrale Instanz, die von allen aufklärerischen Begründungen als einzige Autorität akzeptiert und angenommen wird, zur Religion steht. Deren Vertreter und Institutionen haben zumindest bis zur Epoche der Aufklärung diese Autorität für sich beansprucht. Nun aber steht die Frage zur Diskussion: Sind beide Autoritäten – Vernunft und Religion – miteinander vereinbar? Schließen sich ihre Ansprüche wechselseitig aus? Müssen sich religiöse Autoritäten vielleicht sogar eine Prüfung nach vernünftigen Kriterien gefallen lassen und dann gegebenenfalls gegenüber der Vernunft zurückstehen? Solche Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und religiösem Autoritätsanspruch stellten sich – zumindest in Deutschland – vermehrt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem das Zeitalter der Aufklärung in England und Frankreich längst begonnen hatten und religionskritische Debatten dort schon in vollem Gang waren.7 Eng verbunden mit diesen Debatten und der einhergehenden Erschütterung der religiös bestimmten Weltordnung waren auch die Fragen, welche konkreten Veränderungen im Denken und Handeln aus den Bemühungen um Aufklärung erwachsen müssten und welche vernünftigen Alternativen man an die Stelle überkommener, dogmatischer, kurz: unaufgeklärter Institutionen, Überzeugungen, Handlungen setzen solle. All dies aber, so ­versuchte Zöllner mit seiner Anmerkung klarzumachen, lässt sich nicht ohne eine begriffliche Bestimmung und Aufklärung über das, was Aufklärung selbst nun tatsächlich bedeuten soll, bearbeiten. Unmittelbar vor Kant hatte sich zur Frage „Was ist Aufklärung?“ bereits der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, eine wichtige intellektuelle und zugleich auch moralische Instanz, als „Sokrates“ seines Zeitalters bekannt, in derselben Berlinischen Monatsschrift zu Wort gemeldet. Sein Beitrag „Ueber die Frage: Was heißt aufklären?“8 bestand in einer abgewogenen, aber durchaus von mahnender Skepsis geprägten Stellungnahme zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Situation. Moses Mendelssohn steht in der Tradition der Wolff ’schen Vollkommenheitslehre, erhebt aber die Vervoll7

8

Noch zu Beginn des 18. Jhd. wurde in Deutschland die Vollkommenheitslehre Christian Wolffs von pietistischer Seite aufs Schärfste kritisiert. Wolff lehrt, dass sich der Mensch aus eigenem Antrieb stufenweise der Vollkommenheit annähern kann. Diese Vorstellung deuteten die Kritiker als Anmaßung einer, weil ohne göttliche Gnade und Zutun in Aussicht gestellten, sündhaften Perfektion. Die Wolff ’sche Lehre führe dadurch zu „Eigenliebe“ und „Selbstvergötzung“ (vgl. Joachim Lange, Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemata Metaphysico von Gott, der Welt und dem Menschen, Halle, 1724). Vielfältige Einwände gegen Wolffs Perfektionismus und speziell gegen seine sogenannte „Chinesenrede“ (Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practia. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, Hamburg, 1985), in der Wolff den heidnischen Chinesen die Möglichkeit moralischen Fortschritts und moralischer Vervollkommnung zugestand, führten zu dem Vorwurf des Atheismus und schließlich zu Wolffs Vertreibung aus Halle Ende des Jahres 1723. Wolff floh nach Marburg und konnte erst 1740 auf Veranlassung Friedrich II. wieder nach Halle zurückkehren (vgl. Albrecht Beutel, Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschen Pietismus und Aufklärungsphilosophie, Tübingen, 2011. Vgl. ebenso: Thomas Müller-Bahlke u. a. (Hg.), Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe, Halle, 2015). Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: Was heißt aufklären?, Berlin, 1784.

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Immanuel Kant kommnung des Menschen in seiner zweifachen Bestimmung – sowohl als Mensch als auch als Bürger  – zum Maß aller aufklärerischen Bestrebungen. Vor diesem Hintergrund beurteilt er den erreichten Grad und die gegebene Möglichkeit des Fortschreitens zu tatsächlich aufgeklärten gesellschaftlichen Verhältnissen mit verhaltener Zuversicht. Im Besonderen erscheint ihm dies noch nicht in Bezug auf die rechtliche und bürgerliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung erreicht. Der Gleichstellung stehe in der deutschen „Nation“ (die historisch gesehen als solche noch nicht existierte) und Gesellschaft nicht zuletzt das „Uebermaaß ihrer Nationalglükseligkeit“ entgegen. Darin aber erkannte Mendelssohn eine Gefahr für jede gebildete Nation, weil dies „schon an und für sich eine Krankheit, oder de(n) Uebergang zur Krankheit“,9 darstelle und weil es die Nation gerade bei voller Entfaltung in Gefahr bringe, „zu stürzen“.10 Moses Mendelssohns Skepsis sollte durch die Entwicklungen, die schon wenige Jahrzehnte später ein-, und sich dann im 20. Jahrhundert in barbarischen Ausprägungen fortsetzten, in erschütternder Weise bestätigt werden. Aus einer deutlich optimistischeren Perspektive heraus nähert sich Kant dem Thema: Sein Aufruf zur Mündigkeit nimmt gleich größere (und damit auch allgemeinere) Entwicklungslinien in den Blick. Der Text vermittelt trotz kritischer Diagnose der noch herrschenden Unmündigkeit am Ende doch recht zuversichtliche Aussichten; sie dürften Mendelssohn vor dem Hintergrund seiner persönlichen, oft leidvollen Erfahrungen mit den Ressentiments seiner Zeitgenossen gewiss eher fremd gewesen sein. Kant nämlich meint: Wenn einer Gesellschaft auch nur eine einzige Bedingung von Seiten der Machthaber gewährt werde, nämlich: die Freiheit, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“,11 dann werde sich ein Prozess der Aufklärung – gesamtgesellschaftlich und in der Folge auch global – letztlich unaufhaltsam in Gang setzen und voranschreiten. Die aufklärerische Ausrichtung dieser Entwicklung ist nach Kants Ansicht nicht etwa dadurch sichergestellt, dass alle Beteiligten sich schon vorab darüber einig wären, was Aufklärung ist und worauf sie zielt. Vielmehr müsse sich auch die konkrete Bestimmung dessen, was unter Aufklärung überhaupt zu verstehen sei und wohin sie führen solle, ihrerseits in einem sogenannten „öffentlichen Vernunftgebrauch“12 und in den darin geführten Kontroversen schrittweise herausschälen.13 Der öffentliche Vernunft9 Mendelssohn, Ueber die Frage, S. 200. 10 Ebd. 11 Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, AA VIII, S. 36. 12 Vgl. ebd. 13 Kant identifiziert die Möglichkeit, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ mit einer bestimmten, die Aufklärung in Gang setzenden Form der Freiheit (vgl. Kant, AA VIII, S. 36). Diesem Vernunftgebrauch steht der sogenannte „Privatgebrauch“ der Vernunft (ebd., S. 37) entgegen, der die Regeln und Verordnungen einschließt, die mit bestimmten gesellschaftlichen Positionen verbunden sind. In dieser Hinsicht sind dann die jeweiligen Amtsinhaber auch auf diese Regeln verpflichtet und ihre Freiheit darf auf die Einhaltung dieser Vorgaben eingeschränkt werden. Der Grund ist ein pragmatischer: „Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu man-

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II. Kritisches Denken als Denken der Aufklärung

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gebrauch bezeichnet zunächst den Austausch unter Gelehrten, die sich zu Themen von öffentlichem Interesse schriftlich äußern. Dieser Diskurs erlangt nach Kants Ansicht aber gerade aufgrund seiner Publizität, d. h. der für alle Beteiligten sichtbaren Pluralität der Meinungen, auch eine kritische und prüfende Kraft. Denn die in diesem Austausch gewonnenen Einsichten müssen in der öffentlich geführten Auseinandersetzung argumentativ begründet werden und, so könnte man diese Überlegung aus einer pragmatistischen Perspektive heraus deuten, sich dabei zugleich auch in der gesellschaftlichen Praxis bewähren.14 Auf diese Weise zeigt sich, ob sie tatsächlich auch vernünftige Einsichten sind. Vernünftigkeit, so würde ich Kants Überlegungen in dem Aufklärungstext interpretieren, stammt damit nicht etwa aus einer besonderen individuellen Fähigkeit oder aus einem Vermögen, das zur Prüfung beliebiger Fragen und Themen als Maßstab gleichsam von außen an die verschiedenen Meinungen über eine Sache angelegt werden könnte. Ebenso wenig geht sie aus einem besonderen Standpunkt hervor, den eine einzelne Untersuchung oder Debatte dann als Standpunkt der Vernunft einfach für sich beanspruchen könnte. So wie Kant Vernünftigkeit im Zusammenhang der Publizität bestimmt, kann sie vielmehr nur in einem nach allgemeinen, intersubjektiven Gesichtspunkten und dabei in formal eingerichteten Verfahren gemeinsam erarbeitet und als Resultat gewonnen werden. Es ist genau dieser formale Gedanke eines kritischen Verfahrens, der die kantische Philosophie kennzeichnet und den Kants kritische Philosophie auch auf anderen Gebieten des Philosophierens verfolgt. Sowohl für die Erkenntnistheorie, die Grundlagen der Naturwissenschaften und die Ästhetik als auch für die Moralphilosophie, politische Philosophie und Geschichtsphilosophie werden in den entsprechenden Schriften diejenigen Bedingungen expliziert, unter denen man in diesen Gebieten überhaupt zu ­Einsichten, die sich allgemein rechtfertigen lassen, gelangen kann. Die jeweiligen ­Bedingungen sind insofern formale Bedingungen (im Unterschied zu inhaltlichen und besonderen), als sie aus der Analyse der bloßen Form eines Urteils über den je chen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism nothwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden“ (ebd., S. 37). 14 Entsprechend einer zentralen pragmatistischen Überzeugung, wie sie in den Theorien von Charles ­Sanders Peirce und John Dewey, aber auch in aktuellen pragmatistischen Ansätzen vertreten wird, bildet auch die praktische Erfahrung ein konstitutives Moment der Begriffsbestimmung. Die Bedeutung von Ideen, Meinungen und sogar Theorien gilt demnach erst dann als vollständig bestimmt, wenn auch die denkbaren praktischen Folgen, die sich einstellen, sofern auf ihrer Grundlage gehandelt würde, in die Begriffsbestimmung eingeschlossen sind. So gesehen müssen Ideen, Meinungen und Theorien nicht nur kohärent und konsistent begründet werden, sondern sich auch in der Praxis bewähren, um als wahr bzw. richtig gelten zu können. Bestimmte Ideen, Meinungen oder Theorien können nur Geltung beanspruchen, wenn auf ihrer Grundlage tatsächlich gehandelt wird, treten dabei aber Irritationserfahrungen ein oder scheitert das auf ihnen gegründete Handeln, zwingt dies zu einer erneuten kritischen Auseinandersetzung oder Korrektur, sowohl der jeweils gefassten Ideen, Meinungen oder Theorien selbst als auch der damit verbundenen Bedingungen und normativen Voraussetzungen, die zu dieser Irritationserfahrung geführt haben. Kant war kein Pragmatist im Schulsinne, aber er stützt sich hier wie auch an anderen Stellen seiner Theorie auf pragmatistische Argumentationsfiguren.

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Immanuel Kant ­spezifischen Gegenstandsbereich gewonnen werden, eines idealen Urteils also, das als unter allen Umständen und ganz allgemein für diesen Gegenstandsbereich als gültig angenommen werden kann. Ein solches Verständnis von Aufklärung muss sich aber zunächst die Aufdeckung verborgener Vorurteile vornehmen und unbemerkte Irrtümer, vorsätzliche Unwahrheiten oder Scheinschlüsse, die in bereits etablierten Meinungen über die jeweiligen Gebiete wirksam geworden sind, explizit machen. Nur so können bestimmte Meinungen und Positionen von einseitigen oder interessegeleiteten Verzerrungen befreit, aber auch die Grenzen ihrer jeweiligen Ansprüche beurteilt und festgelegt werden. Diese Prüfung von Ansprüchen und die damit einhergehende Begrenzung ihrer Geltung, die etwa mit Erkenntnisurteilen, moralischen Urteilen, ästhetischen Urteilen, etc. jeweils verbunden ist, stellt eine zentrale philosophische Aufgabe des kantischen Kritizismus15 dar, wie er dann in den drei Kritiken, der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, vollzogen wird. In dem Text „Was ist Aufklärung?“ wird darüber hinaus nach den interpersonalen, rechtlichen und politischen Bedingungen des gesellschaftlichen Aufklärungsprozesses gefragt und nach dem Anteil, den eine sich entfaltende wissenschaftliche Diskussion innerhalb des ungehinderten öffentlichen Vernunftgebrauchs daran haben kann. Es geht dabei aber nicht nur um die philosophische oder einzelwissenschaftliche Aufklärungsleistung selbst, sondern auch um die damit verbundene Möglichkeit einer öffentlichen Urteilsbildung über die verhandelten Gegenstände. Auf diese Weise soll, so stellt es sich Kant vor, eine gemeinsame produktive Weiterentwicklung der jeweils diskutierten Meinungen und Gedanken angeregt werden, die dann schrittweise auch in immer größeren Kreisen der Gesellschaft verfügbar werden. Darin können die Überlegungen dann ebenfalls geprüft werden, sodass auf lange Sicht das gesamte „Publicum“16 aus der von Kant diagnostizierten „Unmündigkeit“17 herausfinden wird. Kant verweist mit dieser Vorstellung von Aufklärung meines Erachtens aber auch auf eine Entwicklungsmöglichkeit, die nicht etwa von dem Entschluss einzelner Personen oder der hohen Bildung besonderer Experten abhängt. Vielmehr stellt er in Aussicht, dass ein Fortschritt zu immer größerer Aufklärung in Gang kommt, wenn eine bestimmte strukturelle, und damit auch überindividuelle Bedingung gegeben bzw. staatlich zugesichert wird: die zensurfreie öffentliche Diskussion. Dann nämlich, wenn der Austausch zwischen den Gesprächspartnern ohne autoritäre Einschränkung vollzogen wird, entwickelt sich ein kritisches, d. h. sich gegenseitig prüfendes und dabei korrigierendes Denken gleichsam zwangsläufig. Aufklärerische Vernunft, so wie sie Kant hier entwirft, tritt jeglicher Bevormundung und so z. B. auch einem vielleicht gutgemeinten paternalistischen Vorhaben, das darauf abzielt, andere aufzuklären, entgegen, ganz zu schweigen von aller diktatorischen Indoktrination. Aufklärung und kritisches Denken sind so ge15 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), B 884. 16 Kant, AA VIII, S. 36. 17 Ebd., S. 35.

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II. Kritisches Denken als Denken der Aufklärung

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sehen nur als Selbstaufklärung und im aktiven Vollzug möglich. Dass es dazu eines gemeinschaftlichen Austausches, einer Debattenkultur, wie man heute sagen würde, bedarf, schien Kant wohl unmittelbar einleuchtend: Niemand kann sich alleine aufklären – ein Fortschritt im kritischen Denken ist nur im Rahmen eines sozialen Prozesses möglich, in dem Verfahren eingerichtet werden, durch die gegebene hierarchische Ungleichheiten ausgeblendet und damit überwunden werden. Idealiter ermöglichen sie dann einen Austausch von gleichgestellten und gleichberechtigten Personen, deren Stimme durch Geld, Macht und Ehre nicht auf- oder abgewertet wird, deren Meinung zunächst zumindest gehört werden muss und deren Anspruch auf vorurteilsfreie Gewichtung ihrer Argumentation anerkannt wird. Manche Interpreten haben es als „paradox“ bezeichnet, dass ein solcher Prozess gleichsam ohne den willentlichen Entschluss der Beteiligten entstehen könne. Sie wenden ein, dass es dazu doch zumindest einzelner Mündiger bedürfe, damit sich aufklärerische Perspektiven einstellen und sich die Mündigkeit schließlich auf die Gemeinschaft übertragen kann.18 Kant aber war wohl nicht der Meinung, dass es zur Aufklärung sogenannter großer Individuen bedürfe.19 Er verweist immer wieder auf die Dynamiken, von denen auch die „Unmündigen“ allein in und aus der wechselseitigen Bezugnahme im kommunikativen – mündlichen und schriftlichen, aber eben dabei öffentlichen – Gedankenaustausch erfasst werden. Allein der offene Dissens zwischen artikulierten Meinungen im öffentlichen Diskurs muss Vertreter dogmatischer Überzeugungen irritieren und destabilisiert schon dadurch die Autorität aller als alternativlos propagierten Positionen. Allein, dass alternative Meinungen und Positionen sichtbar werden, fordert seiner Ansicht nach zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus und verlangt danach, dass Gründe und Rechtfertigung für die jeweils geäußerten Positionen gegeben werden müssen. Das ist einmal mehr der Fall, wie es die pragmatistische Perspektive deutlich macht, wenn die jeweiligen Positionen auch unterschiedliche Folgen im Handeln zeitigen und diese dann in der gesellschaftlichen Praxis miteinander vereinbar gemacht werden müssen. Es sind diese Dynamiken, meint Kant, die unter der Bedingung freier, öffentlicher Rede einsetzen, durch die sich allmählich „passive Untertanen“ – nolens volens – zu aktiven Teilnehmern einer interpersonellen Diskursgemeinschaft, zu einem „Publicum“, oder wie es heute heißt: zu einer „kritischen Öffentlichkeit“ wandeln und sich dann gegenseitig aufklären können. Wer dagegen meint, diesen Prozess gleichsam von außen steuern und andere belehren zu können, um sie dann auf den Stand der eigenen ­Einsicht zu bringen, der klärt im kantischen Sinne gar nicht auf. Denn ohne den korrigierenden, 18 Vgl. Wolfgang Bartuschat, Kant über Philosophie und Aufklärung, Berlin/New York, 2009; Lucian Hölscher, Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst, Göttingen, 1979, S. 28. 19 Der Begriff des „großen Individuums“ wird hier im Sinne Hegels gebraucht (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Hamburg, 1994, S. 90): „Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikuläre Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Dieser Gehalt ist ihre wahrhafte Macht“. Auch in Kants Philosophie kann man in der Sache auf den Gedanken treffen, dass es Individuen gibt, die in ihrem persönlichen Handeln oder Schaffen allgemeine Ideen (das Substantielle) verwirklichen. Sie bringen seiner Ansicht nach aber keine gesellschaftliche Aufklärung voran, die ihren Namen verdient.

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Immanuel Kant lebendigen Austausch mit anderen kommt es nur zu individualistisch verkürzten Ansichten. Diese aber leben letztlich nur einen nicht-öffentlichen Dogmatismus aus, blockieren nach Kants Ansicht den selbstkritischen Austausch der interpersonalen Auseinandersetzung und verhindern damit auch den „öffentlichen Vernunftgebrauch“. Der öffentliche Vernunftgebrauch ist damit auch von anderen Formen der Verständigung und der Mitteilung zu unterscheiden, in denen es den Beteiligten allein um die Verlautbarung und Durchsetzung der eigenen Sichtweise, nicht aber um allgemeine Belange sowie die kritische Diskussion und Erweiterung der eigenen Sichtweisen geht. Die bloße Selbstdemonstration und die vernichtende Diskreditierung anderer Meinungen in sozialen Medien unserer gegenwärtigen Gesellschaften kann daher nicht als öffentlicher Vernunftgebrauch im kantischen Sinne bezeichnet werden. Tatsächliche Aufklärung wird, so könnte man nun zusammenfassen, von Kant im Kern als ein interpersonaler und gesellschaftlicher Entwicklungsprozess verstanden. Dessen Dynamik können Autoritäten wie die Kirche oder der Staat vielleicht für eine gewisse Zeit unterdrücken und behindern, auf lange Sicht aber nicht aufhalten.

III. Die Kritik der reinen Vernunft und die zeitgenössische Philosophie Diese antidogmatische Position, die Kant in seinem Aufklärungsaufsatz 1784 in rhetorisch brillanten Formulierungen knapp und öffentlichkeitswirksam in die Diskussion einbringt, hat er – allerdings in sprachlich etwas sperrigerer Form – bereits in der 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft ausführlich erarbeitet und im Rahmen einer umfassenden Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit gültiger Urteile über den Gegenstandsbereich sinnlich wahrnehmbarer Dinge zu begründen versucht. Dass diese Kritik keineswegs nur Gedanken formuliert, die bereits „in der Luft“ lagen oder den Zeitgeist „der“ Aufklärung zum Ausdruck brachten,20 zeigt sich nicht zuletzt daran, wie irritiert seine Zeitgenossen auf dieses Werk reagierten und welche erbitterte Gegnerschaft die darin entwickelten Überlegungen hervorriefen. Das lag einerseits an der Sache, in der sich Kant auch gegen gut etablierte philosophische Lehren seiner Zeit wandte: Viele seiner Ausführungen in der Kritik muss man als Angriffe verstehen, die sich sowohl gegen den Rationalismus – also gegen Wolff und seine Anhänger, die sogenannte Schulphilosophie, die sich im Anschluss an Leibniz herausgebildet hatte  – richten, als auch gegen den Empirismus, der in der Tradition und Fortführung von Locke und Hume in ganz Europa ebenfalls immer mehr erstarkt war. Andererseits war wohl auch die Radikalität des Anspruchs provozierend, mit der Kant seine kritische Wende verbindet. Mit ihr sollte sich die Philosophie seiner Zeit so grundsätzlich ver20 Vgl. dazu Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild, Berlin, 2015, S. 17, 837; auch: Knud Haakonssen, The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Cambridge, 2006, S. 3.

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III. Die Kritik der reinen Vernunft und die zeitgenössische Philosophie

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ändern, wie vor ihm die umwälzenden Gedanken des Kopernikus zu einem gänzlich neuen Weltbild und zur Überwindung der geozentrischen Sichtweise geführt hatten.21 Kant beansprucht mit seiner Kritik nichts weniger, als die gesamte, sogenannte rationalistische Metaphysik, wie sie prominent von der Schulphilosophie vertreten wurde und zu seiner Zeit die Philosophie noch dominierte, auf ein neues, seiner Ansicht nach überhaupt erst wissenschaftliches, Fundament zu stellen. Zugleich sollte dieses wissenschaftliche Fundament abgesichert werden gegen die empiristische Skepsis, die nur die Erfahrung als ein Mittel gelten lässt, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Die Kritik der reinen Vernunft nahm sich daher vor, die im philosophischen Streit ­liegenden Strömungen der rationalistischen, also vorrangig auf begrifflichem Denken allein gegründeten Metaphysik einerseits und den von der Erfahrung ausgehenden Empirismus andererseits, auf die Tragfähigkeit ihrer Erkenntnisansprüche hin zu prüfen. Dabei wollte sie aber auch die jeweiligen Grundüberzeugungen, die von den Vertretern für sicher und vielleicht sogar unumstößlich richtig gehalten wurden – ganz im Sinne des aufklärerischen Programms –, kritisch in den Blick nehmen, sie mit der sokratischen Forderung nach Rechtfertigung (logon didonai)22 konfrontieren und gegebenenfalls diesen Ansprüchen Grenzen setzen. Anderen Feldern der Wissenschaft – wie eben der Astronomie durch Kopernikus, der Physik durch Kepler und Newton und sogar der Logik – bescheinigt Kant schon solche wissenschaftlichen und kritisch geprüften Grundlagen. Vor allem die Metaphysik in ihrer schulphilosophischen Ausprägung hatte nach Kants Ansicht das kritische Denken noch nicht angemessen umgesetzt.23 Das lag seiner Ansicht nach daran, dass die schulphilosophischen Theorien sich die Fragestellungen von der Theologie24 vorgeben ließen. Sie alle versuchten die Frage nach der Existenz und dem Wesen 21 Leinkauf betont, dass auch schon Kopernikus’ astronomische Reformierung eine neue „Selbstverortung des Menschen auf diesem Planeten“ hervorgerufen habe, die den Menschen „im Gesamt des Kosmos auf eine neue Stufe“ stellte. Diese Veränderung des Weltbildes musste dann in den folgenden Jahrhunderten verarbeitet werden. (Thomas Leinkauf, Geschichte der Philosophie, München, 2020, S. 27). 22 Vgl. dazu die Forderung des Sokrates etwa in Platons Dialog Protagoras (336 c17–d5) (Platon, Protagoras, übers. v. Hans-Wolfgang Krauz, Stuttgart, 1987, S. 73), aber auch im Phaidon (76b1–2) (Platon, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Stuttgart, 1987, S. 31), in dem Sokrates die Forderung nach Rechtfertigung auch auf die Logoi, und damit auch auf zeitgenössische Theorien der im Dialog verhandelten Hypothesen ausweitet. 23 Vgl. Kant, KrV, B 22–24. 24 Wie im Fall von Christian Wolff deutlich wird, gerieten die metaphysischen Aufklärer dennoch in eine Spannung zur Religion und ihren Vertretern. So hatte dieser in der oben schon erwähnten „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ (Prorektoratsrede vom 12. Juli 1721) auch zu zeigen versuchte, dass der Mensch auch trotz verschiedener religiöser Überzeugung, ja sogar ganz ohne Religion, nämlich aus bloßer Vernunft, zu einer Einsicht über Gut und Böse und damit auch zum richtigen Handeln gelangen könne. Wolff streicht in dieser Rede die Übereinstimmung der Lehren des Konfuzius mit den Lehrsätzen (dogmata) seiner eigenen Vernunftlehre heraus; aber er weist darüber hinaus noch darauf hin, dass die chinesische Sittlichkeit auch in der konkreten Praxis, im Handeln und in der Staatsordnung, den Ansprüchen seiner Vernunftlehre gerecht wird. Doch zu behaupten, dass sich die Sittlichkeit in Theorie und Praxis auch ohne christliche Offenbarungslehre, ja ohne Religion begründen und ausbilden ließe, musste vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Überzeugungen und Machtverhältnisse skandalös wirken.

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Immanuel Kant ­ ottes, nach der Weltschöpfung, den Gesetzen und Bestimmungen, die den Lauf der G wahrnehmbaren Welt regeln, und der Unsterblichkeit der Seele zwar auf der Grundlage logischer Analysen und Schlüsse, also philosophisch, zu beantworten, doch dabei reflektierten sie, wie Kant einwendete, nicht auch kritisch die Erklärungs- und Erkenntnisgrenzen der jeweils verwendeten Begriffe und Prinzipen. Trotz deutlicher Wertschätzung gegenüber Wolff und „der Schule“ hält er ihre Philosophie daher für weitgehend unaufgeklärt. Er bezeichnet sie, in einem durchaus abwertenden Sinne, insgesamt als „dogmatisch“25 und unkritisch. Seine Distanzierung von dieser Tradition vollzieht sich aber in einem längeren Entwicklungsprozess. Während er in seiner frühen Schrift Nova Dilucidatio von 1755 noch in Kontinuität mit der rationalistischen Schulphilosophie argumentiert, wird diese in späteren Untersuchungen und am prominentesten in der Kritik der reinen Vernunft (1781) von ihm explizit angegriffen und regelrecht demontiert. Die kantischen Angriffe zielen dabei keineswegs nur auf Nachbesserung bestimmter Theoreme der schulphilosophischen Theorien, sondern richten sich gegen deren grundlegendste Prinzipien. Welche neuen Perspektiven Kants kritische Philosophie zu vermitteln versucht und welche Überlegungen und Thesen dadurch in die Diskussionszusammenhänge seiner Zeit eintreten, darüber gibt die Kritik der reinen Vernunft detailreich, genau und – wie schon die zeitgenössischen Leser beklagten – in einer nicht gerade leicht zu rezipierenden Weise Auskunft. Die wesentlichen Neuerungen werden in komprimierter Form auch in der, wohl bereits während der Abfassung der Kritik geplanten und von Kant unmittelbar nach deren Erscheinen in Angriff genommenen, kleinen Schrift Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) zusammengefasst. Sie sind auch in der später erschienenen Vorrede zur überarbeiteten zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1784) eingegangen. Beide Texte sollten das Anliegen und die Kerngedanken der Kritik gleichsam in „Vorübungen“26 und zusammen mit der Korrektur der bereits eingetretenen Missverständnisse besser vermitteln. Schon die frühe Rezeption der Kritik zeigte, dass deren Gedanken in der Gelehrtenwelt keineswegs so interessiert, gründlich und wohlwollend aufgenommen wurden, wie Kant sich das erhofft hatte. Auch wenn in manchen Anzeigen und Rezensionen durchaus wertschätzende Urteile über seine Schrift gefällt wurden,27 zeichnete sich in diesen nicht auch schon ein tiefes Verständnis der kantischen Gedanken ab. 25 Kant, KrV, B 23, 24. 26 Kant, AA IV, S. 11. Die Wahl des Titels ist zu dieser Zeit keineswegs unüblich, wie Konstantin Pollok deutlich macht. Nicht nur Wolff und Baumgarten verwenden den Ausdruck Prolegomena zur Einführung in ein Gebiet, wie zum Beispiel in die Ontologie oder Metaphysik, sondern auch Kant selbst leitet seine Vorlesungen mit „Prolegomena“ zu dem jeweiligen Gegenstand ein. (Konstantin Pollok (Hg.), Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Hamburg, 2001, S. XIV). 27 So etwa die erste Rezension (die Kant vermutlich nicht gelesen hat) in: Gothaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1782, 68. St., Gotha 1782, S. 560–563. Der Rezensent war Schack Hermann Ewald. Wiederabgedruckt wurde sie in Albert Landau (Hg.), Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787, Bebra, 1991, S. 17–23.

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III. Die Kritik der reinen Vernunft und die zeitgenössische Philosophie

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Vielmehr war die erste Rezeption der Kritik der reinen Vernunft geprägt von einer wenig wohlwollenden Rezension, die in den Göttingischen Anzeigen zu gelehrten Sachen erschienen war und die fundamentale Einwände gegen Kants Projekt der Vernunftkritik formulierte.28 Nach Kants Auffassung drückte diese Rezension ein Unverständnis aus, das er zwar auch auf die Arroganz und das intellektuelle Unvermögen des Rezensenten zurückzuführte, aber – zumindest zu einem gewissen Teil – auch auf seine fehlende Gabe, die schwierigen Gedanken der Kritik in einer verständlichen Weise mitzuteilen. Der Geringschätzung und dem mangelnden Verständnis, die seinem Werk entgegengebracht wurden, dessen Gedanken er „[…] mehr als 12 Jahre hinter einander sorgfältig durchgedacht hatte […]“,29 wollte er daher nach Kräften entgegentreten und die zentralen Anliegen der Kritik der reinen Vernunft dazu noch einmal in knapper und übersichtlicher Form herausarbeiten.30 Auf die Prolegomena und die zweite Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft werde ich daher auch im Folgenden Bezug nehmen, um zu verdeutlichen, worin die revolutionären Gedanken lagen, die der kritischen Philosophie nicht nur Bewunderung und Hochachtung, sondern auch tiefes Unverständnis und erbitterte Gegnerschaft einbrachten. Schon die Frage, deren Beantwortung Kant sich explizit zur Aufgabe setzt, muss Unmut bei seinen Zeitgenossen erregt haben. Sie lautet: Wie ist Metaphysik überhaupt als Wissenschaft möglich? (Kant, AA IV, S. 327; vgl. Kant, KrV, B 22). Kant drückt in der Umformulierung dieser Frage in eine konkrete Aufgabe zugleich auch sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit aus. Er meint, dazu müsse geklärt werden, wie das, was wir ­allein aus unserer Vernunft heraus erkennen (und nicht etwa unseren sinnlichen Wahrnehmungen entnehmen), einen „sicheren Gang“ (Kant, KrV, B vii) nehmen könne – denn andernfalls werde dies unweigerlich immer nur ein „Herumtappen“ (Kant, KrV, B xiv) ohne nennenswerten Fortschritt bleiben müssen. Bereits in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hatte sich Kant kritisch gegen die metaphysischen Theorien der Zeit gewendet, doch die Stoßrichtung, die er mit den Prolegomena und in der zweiten Auflage der Kritik dann einschlug, musste als ein fundamentaler Angriff wahrgenommen werden. Allein die Behauptung, dass die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik überhaupt noch ein offenes und keineswegs befriedigend gelöstes Problem darstelle, konnte angesichts der zu Kants Zeit vorliegenden metaphysischen Systeme nicht anders denn als eine Provokation aufgenommen werden. Die umfassenden und berühmten Theorien von Leibniz und Wolff traten explizit mit dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis auf und waren als solche auch durchaus anerkannt. Leibniz bemühte sich gerade darum, das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaften 28 Diese Rezension war von Christian Garve verfasst und anonym veröffentlicht worden. Johann Georg Heinrich Feder hatte sie allerdings gekürzt und dadurch im Charakter wesentlich, und dies in eine kritische Richtung, verändert. Siehe dazu auch den Briefwechsel zwischen Garve und Kant (Kant, AA X, S. 336–343). 29 Kant, AA X, S. 338. 30 Zum besonderen Status und Beitrag der Prolegomena vgl. Kooperativer Kommentar zu den Prolegomena (Holger Lyre, Oliver Schliemann, Kants Prolegomena, Frankfurt a. M., 2012).

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Immanuel Kant aufzuklären und bestimmte die Philosophie als scientia, als Wissenschaft, im Unterschied zur empirischen Wissensgewinnung, der historia. In Absetzung von den scholastischen Lehren zielten seine Überlegungen auf den Entwurf einer modernen, „realen Metaphysik“.31 Diese sollte das Fundament für die anderen Wissenschaften bereitstellen, indem sie die allgemeinsten Bestimmungen der Gegenstände herausarbeitete, die in ihrer Erkenntnis zwar in Anspruch genommen, aber nicht selbst thematisiert wurden. Entsprechend ging es in dieser Metaphysik darum, den Begriff der Dinge bzw. der Gegenstände, ihren Status, ihre verschiedenen Seinsweisen und ihre Beziehungen sicher und notwendig gültig zu bestimmen. Leibniz entwarf die dazu erforderliche methodische Basis im Rahmen einer mathematischen Grundkonzeption, die dazu dienen sollte, einem differenzierten und sich weiter ausdifferenzierenden Wissenschaftssystem die erforderliche Einheit zu verschaffen. Christian Wolff, der wesentliche Gedanken von Leibniz aufnahm, schloss an die Vorstellung der philosophischen Metaphysik als einer Wissenschaft an und bestimmte sie als die „Wissenschaft alles Möglichen“, mit der Folge, „daß alle Dinge, welche sie auch sein mögen, zum Gegenstand der Philosophie gehören müßen, sofern sie möglich sind, ob sie nun existieren oder nicht“.32 Auch in diesem Vorhaben ging es nicht darum, etwa beliebige Meinungen zu äußern oder eine Fülle von Erkenntnissen einfach zu versammeln. Ziel auch der Wolff ’schen Bemühungen war es, eine erklärende Fundierung dieser vielfältigen Erkenntnisse vorzulegen, um „alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun“.33 Kants Fragen aber, mit denen er seine Kritik der reinen Vernunft eröffnet, vermitteln nicht nur den Anschein, dass es vor ihm noch keine wissenschaftlich gegründete Metaphysik gegeben habe, sondern sie legen darüber hinaus auch nahe, dass an den vorliegenden metaphysischen Systemen bislang auch noch keine gründliche Kritik geübt worden sei, und dass es zu ihnen keine tragfähigen Alternativen gebe. Beides musste auf seine Zeitgenossen irritierend wirken, zumal der Empirismus dezidiert jegliche Form von Metaphysik schon ausgeschlossen und auch unter den deutschsprachigen Gelehrten viele Anhänger gefunden hatte. Nicht nur Empiristen im Anschluss an Locke wandten sich kritisch gegen „Schoolmen and Metaphysicians“,34 sondern auch David Hume, welcher sogar von Kant selbst als „Wohltäter der Vernunft“35 gelobt wurde, weil er seiner Ansicht nach wichtige Einwände gegen die Metaphysik formuliert hatte.

31 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humaine, Berlin/New York, 1990, S. 463. 32 Christian Wolff, Ratio praelectionum Wolfianarum in mathesin et philosophiam universam, Magdeburg, 1718, Sec. II, cap. I, § 3. 33 Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen, Stuttgart, 1996, § 30. 34 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London, 1689, Buch III, Kap. X, Abs. 2.I. 35 Kant, KrV, A 377.

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IV. Die kritische Wende als radikaler Mittelweg Worauf zielt nun Kant mit seiner Kritik und worin sieht er ihre Besonderheit, sodass er, wie er schon in seiner Preisschrift (1764) behauptet, meinen konnte, die philosophischen Erkenntnisse seiner Vorgänger teilten „mehrentheils das Schicksal der Meinungen“, die kometengleich nach kurzer Zeit wieder verschwänden. Denn schon zum damaligen Zeitpunkt war er sich sicher, dass eine Metaphysik, die als Wissenschaft dauerhafte Erkenntnisse vermittelt, vor ihm „noch niemals […] geschrieben worden“ sei.36 In Analogie zu einem Gerichtsverfahren lässt Kant, wie er bereits in der Vorrede zu seiner Kritik ankündigt, für fundamental gehaltene Theoreme und Überzeugungen der metaphysischen Schulphilosophie erst einmal vor den „Gerichtshof der Vernunft“37 treten, um ihre Erklärungskraft zu testen; ebenso werden aber auch die Annahmen, Verfahren und Prinzipien des Empirismus diskutiert und in ihrer Tauglichkeit, eine philosophische Alternative zu sein, geprüft. Die Provokation der kantischen Fragestellung reicht aber insofern noch weiter, als seine Kritik der reinen Vernunft sich nicht auf die negative Überprüfung, Grenzziehung und gegebenenfalls Nachbesserung der gängigen Systeme und Theorien beschränkt. Auf der Grundlage einer – nun kritisch geprüften und daher erst soliden – Basis bestimmt er vielmehr die bestehenden Einsichten der Schulmetaphysik und des Empirismus gleichsam als für sich genommen defizitäre Vorstufen. Sie erscheinen vor diesem Hintergrund damit als bloße Stationen auf dem Weg zu der, eben erst von Kant selbst als Wissenschaft entwickelten, Metaphysik. Die Kritik sollte so gesehen aber auch nur eine aufklärende Vorbereitung sein, die den von da an aber sicheren Fortschritt ermöglichenden Weg zu einer „kritischen Metaphysik“ eröffnet. Im Anschluss sollte dann auch eine positive Lehre, eine Doktrin, möglich sein. Kants Wissenschaftsvorstellung bestand darin, eine Methode zu etablieren, die es erlaubt, die Einsichten der beiden konkurrierenden Paradigmen, der Schulphilosophie und des Empirismus, daraufhin zu prüfen, welche von ihnen haltbar sind und aufgenommen zu werden verdienen. Auf diese Weise konnte seiner Ansicht nach eine Art „Mittelweg“ gefunden werden, indem die verschiedenen Parteien statt wie auf einem „Kampfplatz“38 sich gegenseitig zu blockieren oder gar zu vernichten, „einhellig“ gemacht werden, sodass auch in der Metaphysik ein Fortschritt denkbar wird. Dieser von Kant in Aussicht gestellte Mittelweg ist keineswegs ein Kompromiss zwischen den Hauptgegnern auf dem „Kampfplatz“, dem Rationalismus und dem Empirismus sowie ihren jeweiligen Theorieansprüchen. Der Weg zeigt sich vielmehr erst mit einem Perspektivenwechsel, der seinerseits aus Sicht dieser beiden Strömungen als radikal erscheinen musste. Zum einen betont der eingeschlagene kritische Weg in Absetzung gegen den Rationalismus der traditionellen Schulmetaphysik, dass die Metaphysik ihre Gegenstände nicht nur in einem logischen Sinne nach Regeln des Denkens 36 Kant, AA XX, S. 283. 37 Vgl. Kant, KrV, Vorrede A xi. 38 Kant, KrV, A viii.

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Immanuel Kant bestimmen könne. Und zum anderen stellt er gegen den Empirismus heraus, dass sich nicht einmal die Ansprüche unserer Erfahrungserkenntnisse allein im Rekurs auf die Erfahrung rechtfertigen lassen. Folge man den Lehren der Schulmetaphysik, so wendet Kant ein, würde sich die Philosophie allein mit sich selbst beschäftigen und zu keinen haltbaren Erweiterungen unserer Erkenntnis gelangen. Doch wenn es um die Erkenntnis der Dinge der wahrnehmbaren Welt gehe, müsse sich die Theorie auch mit realen Objekten und den Bedingungen ihrer Erkenntnis (und nicht nur mit Begriffen) beschäftigen. Damit ist freilich nicht gemeint, dass bereits vorliegende Kenntnisse über die Dinge bloß gesammelt werden müssten; gemeint ist – dies durchaus in Fortführung des Anspruchs der Metaphysik – eine Fundierung der Möglichkeit, wie man überhaupt zu Erkenntnissen und Erfahrungen gelangen könne, also eine „Tieferlegung der Fundamente“, wie Ernst ­Cassirer es einmal genannt hat.39 Dazu müssen zunächst die notwendigen konstituierenden Bedingungen von Erfahrung und Erfahrungserkenntnissen selbst bestimmt werden. Und durchaus im Einklang mit der traditionellen Metaphysik macht Kant klar, dass konstituierende Bedingungen der Erfahrung als Bedingungen im Denken nicht ihrerseits das Resultat von Erfahrungen sein können. Sie gehen vielmehr jeder konkreten Erfahrung als erfahrungsermöglichende Bedingungen gerade voraus. Es ist diese Konzentration auf die von Kant dann als transzendental bezeichneten Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bzw. von Erkenntnis, die seine Wende der Perspektive kennzeichnet. Bei genauerer Betrachtung wird auch deutlich, inwiefern diese neue Perspektive die Ansprüche von Rationalismus und Empirismus jeweils einlöst, indem sie einige ihrer Einsichten in einer umfassenderen Theoriekonzeption bewahrt, sozusagen „aufhebt“ (im Hegel’schen Sinne des Wortes „aufheben“40): Die Bedingungen, die unsere Erfahrung ermöglichen, lassen sich, so betont die kantische Kritik, in zwei Typen von Bedingungen unterscheiden: Zum einen in die sogenannten Formen der Anschauung, d. h. Raum und Zeit, und zum anderen in die Formen des Denkens, die Begriffe des Verstandes. Beide Typen schließen auch reine, d. h. nicht erfahrungsabhängige, sondern erfahrungskonstituierende Formen ein. Alle unsere Erfahrung ist aber, so führt Kant ins Feld, auf diese zwei, ihrerseits aber voneinander unabhängigen, „Stämme[n] der Erkenntnis“ festgelegt. Sie kann auch nur aus einer Verbindung von einerseits Anschauung und andererseits Verstandesdenken hervorgehen. Eine (gültige) Erkenntnis im Bereich der Erfahrung ist daher für uns nur möglich, wenn wir auch die räumlichen und die zeitlichen Spezialbedingungen berücksichtigen, unter denen uns die Dinge erscheinen. Im Rationalismus konnte die Sinnlichkeit keine Unabhängigkeit für sich beanspruchen. Man war im Rahmen der Schulphilosophischen Tradition vielmehr davon überzeugt, dass die Sinnlichkeit nur eine Vorform der Ver39 Vgl. Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt, 1983, S. 230. 40 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Frankfurt a. M., 1986, S. 113 ff.

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IV. Die kritische Wende als radikaler Mittelweg

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standeserkenntnis sei und räumte ihr entsprechend auch nur eine untergeordnete Rolle in der Erkenntnis ein. Erfahrungserkenntnis war damit in erster Linie logische Erkenntnis und daher schon unter Beachtung der fundamentalen logischen Prinzipien erreichbar. Kant hat schon in frühen Schriften kritische Einwände gegen dieses ausschließlich logische und seiner Ansicht nach unzureichende Verständnis von Erkenntnis formuliert. Dazu zeigt er, dass der logische Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs, eine der zentralen Grundlagen der rationalistischen Erkenntnistheorie, nur begriffliche Gegensätze fassen und sie als unvereinbar zurückweisen kann. Die Opposition von realen Kräften aber, die in Raum und Zeit bei einer Erscheinung gegeneinander wirksam sind, ist auf der Grundlage des Satzes vom Widerspruch nicht zu erkennen. Um solche Verhältnisse der Realopposition, wie sie Kant nennt, angemessen zu begreifen, müssen die Formen der Sinnlichkeit einbezogen werden. Dass Erfahrungserkenntnis nicht allein auf der Grundlage von Begriffen möglich ist, war Kant also bereits 1764, im Aufsatz über die „Negativen Größen“,41 klargeworden. Die Etablierung der reinen Anschauungsformen kann als ein gewisses Zugeständnis an den Empirismus verstanden werden, da sie damit die Ansprüche der empirischsinnlichen Erfahrungskomponenten zur Geltung kommen lässt. Dieses Zugeständnis hat seine Grenze aber darin, dass Kant die Anschauungsformen nur in ihrer „Reinheit“, d. h. Erfahrungsunabhängigkeit, also als „a priorische“ und damit notwendige und allgemeine Formen der Anschauung anerkennt. Dies wiederum hat zur Folge, dass er sie als Komponente eines gültigen Erfahrungsurteils nur durch die Analyse eben eines solchen Urteils identifizieren konnte. Vor allem mit dem zweiten Typus der die Erfahrung konstituierenden Bedingungen weist Kant aber den Anspruch des Empirismus dann in seine Schranken. Die „a priorischen“, notwendigen und allgemeinen, „reinen“ Formen des Verstandes, die „reinen Verstandesbegriffe“ oder „Kategorien“, die sich ebenfalls aus der Analyse des gültigen Erfahrungsurteils als notwendige Komponenten desselben ausmachen lassen, bedeuten die „Aufhebung“ der empiristischen Erkenntnistheorie. Diese hatte sämtliche, zur Erkenntnis notwendigen Begriffe aus der Erfahrung entnehmen oder entwickeln wollen, ohne einzusehen, dass, wie Kant betont, jede einzelne Erfahrung schon unter vorgängigen Bedingungen steht, die erfüllt sein müssen. Unter diesen Bedingungen befinden sich neben den Formen der Anschauung auch Formen des Denkens, die man auf Begriffe bringen kann und muss. Diese „reinen Verstandesbegriffe“, die sogenannten Kategorien des Verstandes, unterscheiden sich hinsichtlich der verschiedenen Funktionen, die sie in einem Urteil für die Verknüpfung oder „Synthesis“ leisten, mit der im Urteil ein Begriff zur Erkenntnis eines in der Anschauung gegebenen, erscheinenden, sinnlich Mannigfaltigen angewandt wird. Inwiefern Kant mit diesem Perspektivenwechsel an den Fundamenten der traditionellen Metaphysik rührt, lässt sich an einem Problem zeigen, das Kant nachhaltig beschäftigte: an dem sogenannten Antinomienproblem. 41 Kant, AA II, S. 165–204.

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V. Das Antinomienproblem als Problem der Vernunft Das Antinomienproblem bezeichnet bestimmte Widersprüche, die sich im Zusammenhang mit der Iteration zahlenmäßig unendlicher Prozesse bei der Erkenntnisfindung notwendig einstellen. Die Einsicht in die Unabschließbarkeit solcher Prozesse scheint nämlich mit gleichermaßen zutreffenden Aussagen über dieselbe Sache, in denen nicht deren Prozesshaftigkeit, sondern deren Ganzheit und Einheit als gegeben behauptet werden, nicht vereinbar zu sein. Der Widerspruch tritt damit jeweils zwischen zwei Thesen oder Gesetzen ein, die beide Totalitätsaussagen über einen Gegenstand formulieren, dabei aber gleichermaßen für vernünftig und wahr gehalten werden. In solche Widersprüche verwickelt sich die Vernunft, wie es Kant an den vier paradigmatischen Begriffen von Welt, Seele, Freiheit und Gott zeigt. Sie kann nämlich in diesem Zusammenhang nicht entscheiden, „ob die Welt von Ewigkeit her sei, oder einen Anfang habe; ob der Weltraum ins Unendliche mit Wesen erfüllet, oder innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen sei; ob irgend in der Welt etwas einfach sei, oder ob alles ins Unendliche geteilt werden müsse; ob es eine Erzeugung und Hervorbringung aus Freiheit gebe, oder ob alles an der Kette der Naturordnung hänge; endlich ob es irgend ein gänzlich unbedingt und an sich notwendiges Wesen gebe, oder ob alles seinem Dasein nach bedingt und mithin äußerlich abhängend und an sich zufällig sei“.42 Die Unentscheidbarkeit zwischen den einander widersprechenden Antworten auf diese Fragen wirft nicht nur in Bezug auf die jeweils verhandelte Sache ein Problem auf. Ihr Auftreten ist in gewisser Weise auch ein „Skandal“ für die Vernunft selbst, denn schließlich bringen sie diese in ihrer Rolle als kritische Instanz in Misskredit, weil sich die Vernunft ja offensichtlich von alleine in diese Widersprüche verstrickt, ja sie sogar selbst hervorbringt. Das Antinomienproblem zwang Kant aber in eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Metaphysik. Denn deren Vertreter waren der Überzeugung, bereits alle fundamentalen Prinzipien etabliert zu haben, und auf dieser Grundlage mit ihren Systemen gerade nicht in Antinomien zu geraten. Der Satz der Identität43, der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch44 und der Satz vom (zureichenden) Grund45 waren diese drei fundamentalen Prinzipien, mit denen 42 Kant, KrV, B 509. 43 Nach dem Satz der Identität ist ein Urteil wahr, wenn Prädikat und Subjektbegriff entweder ganz oder teilweise identisch sind. Urteile aufgrund des Identitätsprinzips sind wahr und reine Vernunftwahrheiten, weil sie unabhängig von Beobachtungen, allein aufgrund der Beziehungen von ­B egriffen als wahr eingesehen werden können: Sie sind so gesehen „ewige Wahrheiten“ und zeitunabhängig gültig. 44 Den Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs formuliert Kant zunächst entsprechend der Schulphilosophie: „impossibile est, idem simul esse ac non esse“ [Übers.: „es ist unmöglich, dass dasselbe zugleich ist und nicht ist“] (Kant, AA I, S. 391). Dann aber modifiziert er ihn entscheidend, indem er alle zeitlichen Bestimmungen aus dem Satz des Widerspruchs entfernt, vgl. KrV B 190. Er revidiert damit seine eigene Position aus der Nova dilucidatio (AA I, S. 385–416). 45 „Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, dass keine Tatsache [fait] als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage [Enonciation] als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht be-

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V. Das Antinomienproblem als Problem der Vernunft

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vor allem Leibniz, Wolff und Baumgarten, aber auch insgesamt die Anhänger der schulphilosophischen Tradition meinten, die maßgeblichen Prinzipien in der Hand zu halten. Der Satz vom zureichenden Grund wird dabei als universales Prinzip der Physik, das heißt des Daseins in Raum und Zeit, verstanden, während der Satz vom Widerspruch als das universale Prinzip der Mathematik gilt.46 Nach dem Satz vom Grund muss es für alles, was ist oder geschieht, einen hinreichenden Grund geben (es geschieht also nichts und es ist nichts ohne hinreichenden Grund). Dieses Prinzip wurde in der Schulphilosophie gleichermaßen für ontologische (also das Sein betreffende Tatsachenwahrheiten) wie auch für logische Grund-Folge-Beziehungen als gültig angesehen. Aus Sicht der traditionellen Metaphysik schien es auf dieser Grundlage möglich, in der Erkenntnis der Gründe immer weiter fortzuschreiten bis hin zu einem letzten, selbst nicht mehr iterierbaren Grund. Kant zog aber gerade diese universale Geltung des Satzes vom Grund im Laufe ­seiner Auseinandersetzung mit der Schulphilosophie zunehmend in Zweifel. Der ­Anspruch auf universale Geltung dieses Satzes, so lautete seine Diagnose, führe die ­traditionelle Metaphysik – von ihren Vertretern unbemerkt – geradewegs in das Antinomienproblem. Schon in seiner Dissertation (1770) fordert Kant, dass die ontologische Reichweite des Satzes vom Grund eingeschränkt werden müsse, dass er auf das kontingente (zufällige) Sein zu begrenzen und damit auch deutlich zwischen dem Grund des Seins und dem Grund der Erkenntnis zu unterscheiden sei. An dieser Kritik des schulphilosophischen Verständnisses des Satzes vom Grund treten die wesentlichen Transformationen deutlich hervor, die dieses Prinzip und der damit verbundene Begriff der Kausalität im Rahmen von Kants kritischer Wende erfahren. Diese Transformation lässt darüber hinaus auch die Tragweite von Kants Angriff auf die gesamte philosophische Tradition deutlich werden. Denn mit dem Satz vom hinreichenden Grund haben sich sowohl die Vertreter der rationalistischen Schulmetaphysik zu Wort gemeldet, als auch die Vertreter der von Locke und dem Empirismus inspirierten, pietistisch-antirationalistischen Lehre, wie etwa Christian Thomasius oder Christian August Crusius.

kannt sein mögen.“ (Leibniz, Monadologie und andere Schriften, Hamburg, 2014, Monadologie § 32. Vgl. ebenfalls Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Frankfurt a. M., 1986, Erster Teil, § 44). 46 Vgl. Samuel Clarke, Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715–1716, Hamburg, 1990, S. 15–32. Von Kant wird der Satz vom Grund schon in der Nova Dilucidatio (1755) als zu vage kritisiert – er lautet in der Fassung, die ihm Leibniz im Briefwechsel mit Clarke gegeben hat: „(Das) Prinzip des zureichenden Grundes […] besagt, dass sich nichts ereignet, ohne daß es einen Grund gibt, weshalb es eher so als anders geschieht.“ [„le Principe du besoin d’une Raison suffisante; c’est que rien n’arrive, sans qu’il y ait une raison pourquoy cela soit ainsi plustost qu’autrement.“]. Kant formuliert ihn im Zuge seiner Kritik um in „Satz vom bestimmenden (determinierenden) Grund“, d. h. von dem sein Gegenteil ausschließenden Grund.

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VI. Die Erweckung durch Hume und die Lösung des Antinomienproblems Es war allerdings, wie Kant in verschiedenen Selbstzeugnissen betont, offensichtlich die Lektüre von Humes Treatise of Human Nature von 1739/174047 und dort vor allem die ausführliche antimetaphysische Darstellung des Satzes vom Grund, die Kant zu einem fundamentalen und eigenständigen Entwicklungsschritt und zur Entwicklung der Transzendentalphilosophie anregte.48 An verschiedenen Stellen seiner Schriften streicht Kant die Bedeutung Humes für seine, wie er es später formuliert, „Erweckung“ aus dem „dogmatischen Schlummer“ und die Auflösung seiner Verbundenheit mit der Schulphilosophie hervor. Hume nämlich, so betont Kant, hatte das Antinomienproblem, aber eben auch die Beschäftigung mit dem Satz vom Grund, mit besonderem Scharfsinn in den Blick genommen und dadurch sein eigenes Denken in eine ganz neue Richtung geleitet.49 Nach Kants Bekunden waren es vor allem folgende Einsichten Humes, die Kant weiterbrachten: Hume streicht heraus, dass das menschliche Gemüt nach Ursachen für jede Erscheinung verlangt und dazu versucht, Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen; so gesehen kann also der Satz vom Grund ganz zu Recht ein Prinzip des Verstandes genannt werden. Aber, so hat Hume auch betont, die Menschen begnügen sich bei dieser Suche nach Ursachen nicht mit der Erkenntnis der unmittelbaren Ursachen. Sie hören „mit dem Nachdenken und Nachforschen“ nicht eher auf, „als bis sie zum ursprünglichen letzten Grunde gekommen sind“.50 Dabei schreiten sie, wie Hume deutlich macht, immer weiter fort in der Suche nach Ursachen, um schließlich zum Unbedingten, zu einer letzten Ursache, nämlich Gott, zu gelangen und in dieser letzten Ursache, die selbst nicht verursacht und damit unbedingt ist, alle bis dahin erkannten Ursachen zusammenzufassen. Doch auch wenn diese Suche nach einer unbedingten Ursache das Ziel all unseres Nachdenkens darstellt, so ist dieses Ziel selbst, wie Hume am Ende der Argumentation herausstreicht, doch nicht erreichbar. Die für Kant so produktive Einsicht Humes lag in der skeptischen Haltung gegenüber dem universalen Anspruch, den die traditionelle Metaphysik mit dem Satz vom Grund verbunden hatte und in der folgenden Erkenntnis: Das Prinzip, der Satz vom Grund, nach dem wir bei dieser Ursachensuche verfahren, ist gar kein objektives Prinzip, nach dem die Welt selbst „funktioniert“ oder aufgebaut ist. Es ist eines, das in „uns selbst liegt und nichts als eine Bestimmung unserer Seele ist“.51 Es war diese Einsicht in den subjektiven Charakter des vorgeblich universellen Satzes vom Grund, die Kant überzeugte. Und be47 In der deutschen Übersetzung von J. G. Hamann von 1771, ders., in: Sämtliche Werke Bd. 4, S. 364–370. 48 Vgl. die Diskussion um Kants Hume-Bezug (Bernhard Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, Berlin/New York, 1991); ich folge in meiner Darstellung den Ergebnissen von L. Kreimendahl. (Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln, 1990, S. 138 ff.) 49 Vgl. Kant, AA IV, S. 260. 50 Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, London, 1739–1740, S. 364, Z. 44–45. 51 Vgl. ebd., S. 66, Z. 1–2.

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sonders produktiv erschien ihm noch viel mehr eine damit verbundene Folge: dass nämlich jedes konkrete Ursache-Wirkungsverhältnis, das wir unter der Voraussetzung dieses Satzes erkennen, nicht in den Dingen selbst liegen könne, sondern auf eine synthetische Leistung des erkennenden Subjekts selbst zurückzuführen sei. Der Satz vom Grund muss also, so lautet Kants Neubestimmung dieses Prinzips, als ein Gesetz verstanden werden, das gerade keine Aussage über die kausale Beziehung des Daseins zwischen den Dingen erlaubt. Auf seiner Grundlage können wir nur zu Erkenntnissen gelangen, wie die Dinge uns – unter den Bedingungen und Formen unserer Art und Weise zu erkennen – in Raum und Zeit erscheinen. Daher ist es nötig, den Satz vom Grund in seiner Gültigkeit auf Gegenstände unserer Erfahrung einzuschränken. Als Forderung „[e]in jeder Satz muß einen Grund haben“, meint Kant, bringe der Satz vom Grund durchaus ein logisches, formales Prinzip zum Ausdruck, aber er sei eben auch nur als ein solches dann auch allgemein wahr. Dieses logische Prinzip müsse man nämlich deutlich unterscheiden von dem Satz: „Ein jedes Ding muß seinen Grund haben“. Dieser Satz hat aber nicht nur Sätze (wie das logische Prinzip) zum Gegenstand hat, sondern Gegenstände der Erfahrung. In dieser Verwendung formuliert der Satz vom Grund dann die Bedingung, dass Dinge der Erfahrung, also Erscheinungen, in der Folge der Zeit einander bestimmen und dass eine bestimmte Erscheinung die Ursache (der bestimmende Grund in der Zeit) einer bestimmten anderen sei. Kant dringt damit auf eine klare Unterscheidung der logischen Bedeutung des Satzes vom Grund von der zweiten, transzendentalen Verwendung, die eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung explizit macht. Diese transzendentale Verwendung des Satzes vom Grund bezieht sich auf die Ursache-Wirkung-Relation von Gegenständen der Erfahrung und wird daher angemessener als das Prinzip der Veränderung (das Kausalprinzip) bezeichnet. Das Kausalprinzip aber ist, anders als der Satz vom Grund, in seiner Geltung auf Erscheinungen begrenzt. Die Dinge als Erscheinungen aber treten immer in Raum und Zeit auf und stehen unter diesen Formen der Anschauung, die ebenfalls nicht selbst Erfahrung (also den Sinnen entsprungen) sind, sondern als Bedingungen der Möglichkeit – wie das Kausalprinzip – Besonderheiten unseres Erkenntnisvermögens darstellen. Raum und Zeit sind dabei „nichts wirkliches“, sondern präformieren vielmehr alle Gegenstände möglicher Erfahrung. Diese sind also immer Erscheinungen und müssen von Dingen an sich, wie sie unabhängig von den Bedingungen unserer Erkenntnis gedacht, aber eben nicht von uns erkannt werden können, unterschieden werden. Der „alte“ Satz vom Grund kann daher nicht mehr zur objektiven Bestimmung aller Gegenstände herangezogen werden, insbesondere kann er nicht zur objektiven Bestimmung oder zum Beweis der Existenz der obersten oder letzten Ursache aller Ursachen („Gott“) dienen. Wohl aber drückt sich in ihm die wissenschaftstheoretisch unerlässliche Forderung aus, dass ein jedes Urteil begründet sein muss und jedes in Raum und Zeit erscheinende Ding eine in Raum und Zeit erscheinende Ursache haben

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Immanuel Kant muss.52 Die darin liegende Transformation des „alten“ Satzes vom Grund ist entsprechend bedeutsam und folgenreich, da er nun nicht mehr eingesetzt werden kann, wie in der Schulphilosophie üblich war, um eine Brücke zur Erkenntnis des Unbedingten oder Notwendigen zu schlagen und damit das Dasein Gottes zu beweisen. Diese ganze Tradition hatte auf der Basis des Satzes vom Grund die Annahme eines Schöpfergottes als eines letzten Grundes für das Dasein der Dinge in der Welt als notwendig und damit wahr zu erweisen. Doch nach der kritischen Revision dieses Prinzips konnte der Satz vom Grund legitimerweise eben nur noch auf die Erkenntnis von Gegenständen unter Zeitbedingungen (Erscheinungen) angewendet werden, nicht aber auf notwendiges Dasein, wie es Gott als höchstem und letztem Grund alles Dasein zugeschrieben werden müsste. Kant übernahm mit dieser Neubestimmung des Satzes vom Grund aber nicht Humes weitergehende Folgerungen, dass der Satz vom Grund bzw. das Kausalitätsprinzip aus der Erfahrung zu gewinnen seien. Und er schloss auch nicht, wie Hume, aus der Subjektivität dieses Prinzips, dass deshalb die kausale Verknüpfung zwischen Dingen bloßer Schein und somit auch gar keine Metaphysik mehr möglich sei. Im Gegenteil, Humes Einsicht in die Subjektivität und erkenntnisleitende Funktion des Kausalprinzips eröffnete ihm mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen Erscheinungen (phaenomena) und Dingen an sich (noumena) ein begriffliches Instrumentarium, das er zur Sicherung der Erfahrungserkenntnis einsetzen und darüber hinaus auch zur Lösung des Antinomienproblems nutzen konnte, um dadurch die Metaphysik sogar auf einen neuen, soliden Boden zu stellen. In der Kritik der reinen Vernunft findet sich im Rahmen der „Logik des Scheins“ Kants Auseinandersetzung und seine Lösung von vier prominenten Antinomien, in die die Erkenntnis des Kosmos oder der Welt in Raum und Zeit unter rationalistischen und empiristischen Perspektiven gerät, darüber hinaus seine Auflösung des von ihm so genannten „Paralogismus“, d. h. des Fehlschlusses von der Einheit der Seele auf ihre Unsterblichkeit, und die Widerlegung der Beweise der Existenz Gottes mit Hilfe der theoretischen Vernunft. Im Folgenden wird nur auf die dritte der kosmologischen Antinomien, die Antinomie der Freiheit,53 und die vierte, die „Antinomie das notwendige Wesen betreffend“,54 Bezug genommen, um an ihnen die weiteren Folgen von Kants Transformation des Satzes vom Grund zu verdeutlichen. Die dritte Antinomie beginnt mit der These: „Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesammt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen nothwendig“,55 wohingegen die entsprechende Antithese behauptet: „Es ist keine Freiheit, son52 Ich beziehe mich hier auf den Artikel „Satz vom Widerspruch“ von Andreas Eckl in: Marcus Willaschek u. a. (Hg.), Kant-Lexikon, Bd. 3, Berlin/Boston, 2015, S. 2640–2644. 53 Kant, KrV, A 444–451 / B 472–479. 54 Ebd., A 452–461 / B 480–489. 55 Ebd., A 444 / B 472.

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dern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“.56 Die vierte Antinomie stellt sich ein zwischen dem Satz „Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Theil, oder ihre Ursache ein schlechthin nothwendiges Wesen ist.“ und dem Satz: „Es existirt überall kein schlechthin nothwendiges Wesen weder in der Welt, noch außer der Welt als ihre Ursache“.57 Gemeinsam liegt, wie Kant deutlich macht, beiden Antinomien ein fehlerhafter Schluss zugrunde, dem das traditionelle Verständnis des Satzes vom Grund Vorschub leistet. Wenn die Vernunft versucht, das Bedingte auf das Unbedingte zurückzuführen, dann zieht sie folgenden, problematischen Schluss: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben“,58 folglich ist uns auch die vollständige Reihe ihrer Bedingungen gegeben. Damit aber hält sie ihre subjektiven Grundsätze der Erkenntnis irrtümlich für objektive Bestimmungen der Welt und der Dinge in ihr. Vor dem Hintergrund der transzendentalphilosophischen Differenzierung von Erscheinungen und Dingen-an-sich aber wird deutlich, dass beide Sätze – der, dass eine „Causalität durch Freiheit zu Erklärung“ der Erscheinungen der Welt „anzunehmen nothwendig“ ist, und der, dass „keine Freiheit (ist)“ – nur zum Schein als wahr erwiesen werden können. Denn dass sie beide wirklich wahr seien, ist nicht möglich, da sie einander widersprechen, d. h. in einem antinomischen Verhältnis zueinander stehen, sodass der Satz vom Widerspruch fordert, dass mindestens einer von beiden Sätzen falsch sein muss. Wenn man jedoch versteht, dass die Sätze sich nicht auf die Dinge an sich beziehen können, sondern nur auf Erscheinungen, lässt sich die Antinomie auflösen. Es wird dann klar, dass der zweite Satz nur auf Erscheinungen bezogen sein darf, aber dabei implizit unterstellt, dass er über Dinge an sich urteilt. Die Freiheit ist dann nur deshalb ausgeschlossen, da sie intellektuell ist und selbst nicht sinnlich erscheint. Der erste Satz dagegen enthält eine „Maxime“, die „nicht einfach“59 ist (im Unterschied zu der des Empirismus): In ihm werden die Dinge bereits korrekt als Erscheinungen, und nicht als Dinge an sich betrachtet, insofern also nur dem Naturgesetz der Kausalität unterworfen. Aber die zur Erklärung des Handelns notwendig anzunehmende Freiheit beinhaltet auch ein intellektuelles, nicht-sinnliches Element, nämlich die „Idee“ der Freiheit. Diese aber besitzt denselben Status wie die Dinge an sich, die ebenfalls anzunehmen notwendig sind, da es ja auch etwas geben muss, „was da erscheint“.60 Von dieser Idee der Freiheit zu behaupten, sie existiere nicht, wäre nur richtig, wenn man sie als eine sinnlich erscheinende Ursache verstünde. Die Möglichkeit, die Freiheit als Ursache für spontanes Handeln zu denken, kann dadurch aber nicht ausgeschlossen werden. Sofern 56 57 58 59 60

Ebd., A 445 / B 473. Ebd., A 452–453 / B 480–481. Ebd., A 497 / B 525. Ebd., B, S. 494. Vgl. ebd., B XXVII: Es wäre ein „ungereimter Satz […], daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint“.

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Immanuel Kant es andere gute Gründe gibt, diese „Idee“ anzunehmen, dürfen diese Gründe uns auch wirklich veranlassen, an der Annahme von Freiheit festzuhalten. Unter Berücksichtigung der Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung können somit beide Sätze wahr sein, obwohl sie einander widersprechen, wenn diese Unterscheidung nicht berücksichtigt wird. In analoger Weise stellt sich der Widerstreit bei der vierten Antinomie dar, die die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des notwendigen Wesens betrifft. Und ebenso lässt sich die Antinomie auch auflösen, indem man wieder die Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung zur Klärung heranzieht. Es wird dann deutlich, dass die Möglichkeit der Idee eines notwendigen Wesens durch die theoretische Vernunft, die ein Dasein an die Bedingung der Sinnlichkeit knüpft, nicht ausgeschlossen werden kann. Unter der Perspektive des Empirismus, der nur Erscheinungen zulässt, kann es keine erste intellektuelle „Ursache“ geben, weder eine solche, die angenommen wird, um eine spontane Handlung, die nicht naturgesetzlich verursacht ist, für möglich zu halten (eine Handlung aus Freiheit, die besonders für unsere Praxis wichtig ist), noch eine solche, die, ebenfalls außer der Reihe der naturgesetzlichen Ursache-Wirkungsketten, durch ihr Handeln die Welt in ihr Dasein gebracht hat (die Erschaffung der Welt durch den „Vernunftbegriff von Gott“, so Kants Ausdruck in KrV, B 713). Eine erste Ursache kann dagegen gedacht, wenn auch nicht (unter dem Kausalitätsprinzip) erkannt werden, da sie ja als erste Ursache gerade nicht naturgesetzlich verursacht sein darf. Und der auf diese Weise gedachte „Gegenstand“ in der Idee, dessen sinnliche Existenz nicht beweisbar, wenn auch nicht unmöglich ist, ist gleichwohl auch nicht etwa überflüssig. Seine Annahme hat für die Praxis des menschlichen Handelns fundamentale Bedeutung.

VII. Kants Praktische Philosophie und die Kausalität aus Freiheit Mit dieser kritischen Neubestimmung des Kausalitätsprinzips und des Freiheitsbegriffs, wie er selbst aus der Perspektive der theoretischen Vernunft denkmöglich ist, muss entsprechend auch die Freiheit, die wir für unsere Handlungen und unseren Willen in Anspruch nehmen, neu begründet werden. Wenn als frei nur bezeichnet werden kann, was nicht durch das Gesetz von Ursache und Wirkung determiniert und entsprechend unter der Kategorie der Kausalität zu erkennen ist, kann man weder sinnvoll sagen, dass der Mensch frei ist, noch, dass ihm ein freier Wille im Sinne einer empirischen Eigenschaft zugeschrieben werden kann. Das ergibt sich daraus, dass mit der Auflösung der Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft die Freiheit des Willens nur negativ, als Unabhängigkeit von vorhergehenden, bestimmenden Ursachen, charakterisiert ist. Doch um zu wissen, woran wir im Handeln unseren Willen orientieren sollen, wenn nicht an den darauf ohnehin schon wirkenden Einflüssen, bedarf es einer positiven Bestimmung dieser Freiheit. Wie dies in einem praktischen Sinne möglich ist, zeigt Kant

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in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der zweiten Kritik, der Kritik der praktischen Vernunft. Beide Untersuchungen rekurrieren zur Veranschaulichung zunächst auf einen grundlegenden Anspruch, den wir als Handelnde auch im Alltag an uns selbst und an andere richten. Es ist der Anspruch, wie Kant es einmal in einer Reflexion formuliert, dass alle menschlichen Handlungen auch hätten „nach der Vernunft geschehen“ können.61 Damit behauptet er nicht etwa, dass wir tatsächlich jederzeit nach der Vernunft und nach vernünftigen Zwecksetzungen handeln; in der Regel, das ist auch Kant klar, sind unsere Handlungen sehr wohl von Einflüssen geprägt und durch Impulse bestimmt, die wir uns vielleicht gar nicht jedes Mal klarmachen. Dass unsere Handlungen auch „nach der Vernunft“ und damit nach vernünftigen Maßgaben und Normen „hätten“ geschehen können – das aber ist eine normative Aussage. Sie fordert, dass die Prägungen und Impulse, die unseren Willen bestimmen, kritisch reflektiert und daraufhin geprüft werden sollen, ob sie vernünftig sind. Doch worin besteht die Vernünftigkeit, an der wir unsere Willensbestimmung ausrichten sollen, sodass sie bzw. die entsprechenden Handlungen auch als frei gelten können? Kant hat diese Frage mit dem Begriff der Autonomie, der Selbstgesetzgebung, beantwortet. Nur wenn wir unsere Handlungen nach einem Gesetz ausrichten, das wir uns selbst geben und das uns auch inhaltlich nicht fremdbestimmt, sind wir in unserem Handeln tatsächlich frei. Nicht gemeint ist damit, dass wir uns ein beliebiges Gesetz geben und danach richten sollen. Es kann vielmehr, betont Kant, nur ein Gesetz geben, das unserem Handeln tatsächlich beides eröffnet: Freiheit und Vernünftigkeit, nämlich das Gesetz des Willens selbst. Und entsprechend hebt er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hervor: „Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“.62 In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt Kant diese nicht ganz einfachen Gedanken Schritt für Schritt auf folgende Weise: Unter dem Willen versteht man die Fähigkeit, sich nicht nur durch Interessen und Neigungen bestimmen zu lassen, sondern sich nach Prinzipien unabhängig von solchen, fraglos stets zur Wirkung drängenden Ursachen, auch selbst zu bestimmen63 und entsprechende „Gegenstände“ hervorzubringen. Was unter „Gegenständen“ in diesem Zusammenhang verstanden werden muss, wird im Folgenden noch erläutert. Dazu muss jedoch vorausgesetzt werden, dass die Regel dieser Selbstbestimmung des Willens auf dem Freiheitsbegriff, nicht auf dem Naturbegriff beruht. Lässt sich der Wille dagegen von natürlichen Antrieben und Interessen leiten, so geht er darin auf, nur eine diesen Antrieben jeweils entsprechende „Wirkung hervorzubringen, die nach Naturbegriffen der Ursachen und 61 Kant, AA XVII, S. 465, Reflexion Nr. 4226. 62 Kant, AA IV, S. 447. 63 Vgl. dazu Kant, AA IV, S. 412.

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Immanuel Kant Wirkungen möglich ist“.64 In dieser Funktion erweist er sich gerade nicht als ein praktisches, sondern bloß als ein „Naturvermögen“,65 dessen Regeln aus der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt gewonnen werden. Doch ein solches Prinzip oder Gesetz unseres Willens und Handelns kann nicht per Abstraktion aus unseren Handlungen gewonnen werden, denn dann wäre es nur eine Beschreibung tatsächlichen Handelns und seiner Ursachen. Aber auch die Nennung bestimmter Güter wie der Gesundheit, des Reichtums oder einer der Tugenden führt nicht zu der gesuchten Gesetzgebung des Willens. Denn ob das jeweilige Gut als Handlungsziel auch vernünftig ist, hängt davon ab, um welcher weiteren Ziele willen es verfolgt und aus welchen Gründen es angestrebt wird. Ein Gesetz, das uns Autonomie eröffnet und abverlangt, kann schon aufgrund der wechselnden Umstände keine bestimmten Handlungen vorschreiben, schließt Kant. Es muss sich vielmehr auf die Maximen, also auf die subjektiven Grundsätze des Willens, die das jeweilige Handeln bestimmen, richten.66 Als ein solcher Grundsatz, an dem eine Person ihr Handeln ausrichtet, könnte die Formulierung gelten: „Ich will in meinem Handeln nach Möglichkeit fremde Glückseligkeit fördern“ oder „ich will versuchen, die mir gegebenen Anlagen auszubilden und zu vervollkommnen“. Nicht als Maximen im kantischen Sinne aber gelten konkrete und daher kontextgebundene Handlungsregeln wie etwa, „Ich werde jedem, der in Not ist, Geld geben“ oder „Wenn es nicht regnet, gehe ich jeden Morgen laufen“. Inhaltliche Vorschriften dieser Art, die bestimmte Handlungszwecke vorschreiben, würden nicht nur unter bestimmten Bedingungen zu absurden Konsequenzen führen, sondern den Willen auch heteronom bestimmen. Daher kann das gesuchte Prinzip auch nur ein formales Gesetz sein. Die einschlägige Stelle in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die diesen Zusammenhang verdeutlicht, lautet: „Da nun der Wille aller seiner Antriebe beraubt ist, so bleibt ihm nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, d. i. ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“67 Mit dieser Formulierung ist das Gesetz der Freiheit und Vernünftigkeit angegeben, weil es im Begriff und in der Struktur des Willens selbst gewonnen ist. Entsprechend ist der Wille nur „frei“ zu nennen, wenn er sich selbst das Gesetz gibt und dadurch ein Wille zur Vernunft ist. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist zugleich auch „das moralische Gesetz“,68 wie Kant betont. Er befreit damit die praktische Vernünftigkeit von allen zeitbedingten Wertbestimmungen und 64 Kant, AA V, S. 173. 65 Ebd., S. 172. 66 Den Begriff der Maxime verwendet Kant durchaus in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts, vgl. dazu Adelung: Die M. ist eine allgemeine Regel des Verhaltens und in engerer und gewöhnlicherer Bedeutung: des sittlichen Verhaltens; ein Grundsatz; lat: maxima: → das Maß → eigentlich die Maßregel. (Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien, 1811, online unter: https://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/ bsb00009133_1_0_837 [Stand: 13.9.2020]). 67 Kant, AA IV, S. 402. 68 Kant, AA V, S. 43.

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Vorstellungen und fordert lediglich, die Gesetzestauglichkeit der Maximen zu prüfen. Kant nennt dieses Gesetz einen „kategorischen Imperativ“ und ist der Überzeugung, damit expliziert zu haben, was in praktischer Hinsicht vernünftig ist und damit auch allein den Grund für jegliche Verpflichtung darstellt. Entsprechend sind wir dazu verpflichtet, dieses Gesetz als obersten Handlungsgrundsatz anzunehmen, so gesehen also „aus Pflicht“ heraus zu handeln und zugleich alle unsere konkreten Handlungsgrundsätze (Maximen) nach Maßgabe dieses Gesetzes zu prüfen. Im sogenannten Krämerbeispiel aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten69 wird die Forderung, den kategorischen Imperativ anzunehmen und „aus Pflicht“ zu handeln, vermittels des Kontrastes zu bloß pflichtmäßigen Handlungen deutlich gemacht. Dass ein Krämer „seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und wo viel Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind genauso gut bei ihm kauft als jeder andere“, dies, meint Kant, sei in jedem Falle eine Frage der Klugheit und des eigenen Vorteils, ließe aber nicht schon darauf schließen, dass der Kaufmann auch „aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit“ so handelt. Letzteres könnte freilich der Fall sein, wenn der Krämer das Gesetz der Freiheit, den kategorischen Imperativ, tatsächlich als Grundsatz seines Handelns angenommen hätte und auch dann nach ihm handeln würde, wenn kein Vorteil daraus erwüchse oder ein Betrug sicher unentdeckt bliebe. Im Grunde, betont Kant, handelt es sich bei der Formulierung des kategorischen Imperativs nur um eine theoretische Explikation eines praktischen Wissens, über das alle Handelnden bereits verfügen. Die Leistung der Philosophie sei hier also nicht „im mindesten etwas Neues zu lehren“, sondern liege vielmehr darin, die Leute „wie Sokrates […], auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam“ zu machen70 und die damit verbundenen Folgen für unsere kritische Prüfung zu systematisieren. Oft nämlich gerieten die Handelnden in eine Art natürlicher Dialektik und begännen, gerade wenn das Gebot der Vernunft ihren Interessen und Neigungen zuwiderlaufe, auch gegen die Ansprüche des kategorischen Imperativs zu argumentieren oder, wie es Kant ausdrückt, „zu vernünfteln“. Doch auch wenn wir den Anspruch der Autonomie und Vernünftigkeit tatsächlich aneinander richten und der kategorische Imperativ als Prinzip des Willens überzeugend erscheint, ist dies noch kein Beleg dafür, dass wir diesen Ansprüchen auch entsprechen können. Überhaupt sollen wir, betont Kant, für die Erklärung von Handlungen nicht unmittelbar die Freiheit als Grund unterstellen. Vielmehr sollten wir zunächst versuchen, Handlungen nach dem Kausalprinzip zu erklären und nach Ursachen Ausschau halten. Um die Bedingtheit unseres Handelns zu erkennen, können wir auf bereits erforschte, gesetzmäßige Zusammenhänge, sei es der Physiologie, der Psychologie oder auch der Soziologie, zurückgreifen. „Bisweilen aber“, meint Kant schon in der 69 Kant, AA IV, S. 397. 70 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin, 1962, S. 404.

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Immanuel Kant e­ rsten Kritik,71 „finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, dass [auch – Erg. der Verf. in] die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und dass sie [die Handlungen – Erg. der Verf.in] darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren.“ Eine solche Verursachung durch Vernunft, genauer: durch „Ideen der Vernunft“, anzunehmen, ist in solchen ­Fällen naheliegend,72 in denen die Handlungserklärung auf der Grundlage der Kausalität von Ursache und Wirkung für den konkreten Fall keine plausiblen Ergebnisse hervorbringt, wohl aber Freiheit, respektive: das entsprechende Gesetz der Freiheit, der kategorische Imperativ, Zwecke und Handlungsziele zu bestimmen vermag, mit denen sich die betreffende Handlung verständlich machen lässt. Im „Galgenbeispiel“ der Kritik der praktischen Vernunft richtet jemand gegen die gewiss starke Wirkung des Selbsterhaltungstriebes (den wir als eine wirkende „Naturursache“ annehmen können) sein Handeln auf ein moralisches Ziel und erwägt, sogar die Hinrichtung in Kauf zu nehmen, statt eine falsche Zeugenaussage gegen den Freund zu tätigen. Dass wir dies ebenso wie der Protagonist des Beispiels zumindest für möglich und für moralisch hoch zu schätzen und in diesem Sinne vernünftig halten, ist nach Kants Ansicht ausreichend, um deutlich zu machen, dass die „Kausalität aus Freiheit“ nicht nur zur Erklärung planvollen Handelns sinnvoll ist, sondern dass eine „Kausalität aus Freiheit“ insbesondere zur Erklärung eines Handelns unter der Zielsetzung der Idee der Freiheit und unter ihrem Gesetz angenommen werden muss. Die „Ursachen“, die in Zusammenhängen dieser besonderen Kausalität ausgemacht werden, sollten daher auch nicht als „Ursachen“ bezeichnet werden, denn sie sind eigentlich Gründe, wie Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft betont.73 Zu „Gründen“ können auch Prägungen und Impulse werden, allerdings erst, wenn sie in einer bewussten Reflexion nach Maßgabe des kategorischen Imperativs als Zwecke gesetzt werden. Auch deshalb bezeichnet Kant die „Kausalität aus Freiheit“ als eine „Kausalität aus Zwecken“ und unterscheidet sie auch terminologisch als teleologische Erklärung von der Naturkausalität, in der Erscheinungen nach Ursache und Wirkungszusammenhängen bestimmt werden. Diese kritische Prüfung von Prägungen und Impulsen des Willens ist aber mehr als nur die Wahl zwischen Alternativen, die den Willen als Naturursachen bestimmen. Freiheit nur als eine solche Wahlfreiheit zu verstehen, hält Kant aus begrifflichen Gründen für problematisch.74 Zwar meinen diejenigen, die die menschliche Freiheit auf das Vermögen der freien Wahl gründen, dass sie sich dabei nur auf eine empirisch beobachtbare Eigenschaft des menschlichen Handelns bezögen, tatsächlich aber bezeichnet schon der Begriff der „freien Wahl“ keinen Erfahrungsgegenstand und auch 71 Kant, KrV, B 578. 72 Wie etwa Kant es in der Kritik der praktischen Vernunft in einem berühmt gewordenen Beispiel, dem „Galgenbeispiel“, veranschaulicht (Kant, Immanuel, AA V, S. 30). 73 Kant, AA V, S. 195. 74 Vgl. Kant, AA VI, S. 226.

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VII. Kants Praktische Philosophie und die Kausalität aus Freiheit

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keine empirische Eigenschaft eines Handelnden. Denn die Freiheit, die sich in einer beobachtbaren Wahlhandlung vorgeblich zeigt, kann darin selbst gar nicht beobachtet werden. Freiheit ist, wenn sie tatsächlich den spontanen Anfang einer Handlung erklären soll, ja gerade keine Erfahrung und kann deshalb auch nicht mit Erfahrungssätzen begründet werden. Eine beobachtete Wahl zwischen Alternativen ist nur scheinbar zwingend aus der Annahme von Freiheit zu erklären: Das Zustandekommen der Wahl könnte nämlich ebenso gut aus empirisch nachweisbaren Ursachen abgeleitet werden. Weil nun der Begriff der „Wahl“ das zu erklärende Merkmal – die Freiheit der Wahl  – gar nicht notwendig enthält, so setzt man, wenn man mit seiner Hilfe freie Handlungen zu erklären meint, die Freiheit darin einfach nur voraus, statt dass man sie begründet. Der Begriff der Freiheit muss deshalb aus Begriffen der Vernunft und deren besonderer Art der Kausalität erklärt werden. Die Behauptung einer „Kausalität aus Freiheit“ hat Kants praktischer Philosophie bis in die Diskussion der Gegenwart hinein viel Kritik eingebracht. Schon die Formulierung ist mindestens missverständlich, wenn nicht irreführend, weil Kausalität dadurch immer wieder mit der Naturkausalität und dem Kausalitätsprinzip in Verbindung gebracht wird. Noch mehr aber irritiert die Annahme, dass ein Wille auf der Grundlage einer besonderen, nicht-zeitlichen Form der Verursachung und damit scheinbar völlig unabhängig von den Determinationen durch die Kausalität der Natur, Handlungen und „Gegenstände“ als Wirkungen hervorbringen könne. Kant selbst allerdings ist von dieser Konzeption – obwohl sie schon von seinen philosophischen Zeitgenossen mit schwerwiegenden Einwänden bedacht wurde – nicht abgerückt. Im Gegenteil: In fast allen seinen Schriften kann man auf die verschiedensten Bemühungen treffen, die Freiheitsidee, die damit verbundene Behauptung einer „Kausalität aus Freiheit“ und den darauf gegründeten Willensbegriff weiter zu präzisieren und gegen Einwände zu verteidigen. Der Sache nach hängt von der Klärung der Konzeption einer „Kausalität aus Freiheit“ vieles ab, was an die Möglichkeit von Freiheit geknüpft ist: Moralität, Verantwortung, Zurechnung – kurz der gesamte Bereich dessen, was wir handelnd gestalten können. Man würde allerdings den lediglich explanatorischen Status beider Kausalitätsbegriffe verkennen, wenn man meinte, dass die darin angegebenen Ursachen, die ja im einen Falle besser „Gründe“ genannt werden müssen, direkt entsprechende Handlungen bewirken oder unmittelbar auf Ereignisse in der Welt Einfluss nehmen müssten, um ihre explanatorische Kraft zu erhalten. Die teleologische Erklärung des Handelns verlöre vielmehr sofort ihre Überzeugungskraft, wenn man in ihr die Angabe eines Zwecks gleichsetzte mit der Bestimmung eines intentionalen (oder mentalen) Zustandes, der eine konkrete Handlung verursacht. Die Leistung einer teleologischen Handlungserklärung liegt vielmehr darin, einen heuristischen Prozess zur Bestimmung eines Handlungszieles zu leiten. Selbst wenn wir versuchen, Handlungen soweit wie möglich aus Naturursachen zu erklären, kann die teleologische Kausalerklärung in ­diesen Fällen produktiv zum Einsatz kommen. Gerade wenn nämlich die jeweils ­beson­dere Handlung auf der Grundlage der Erklärung der Naturkausalität unter-

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Immanuel Kant bestimmt bleibt und die betreffende Handlung daher als zufällig erscheinen muss, leitet sie uns auf mögliche Bestimmungen dieser Handlung. Auf der Grundlage der Kausalität aus Freiheit und ihres Gesetzes, des kategorischen Imperativs, lassen sich manche Handlungen, wie sie etwa das Galgenbeispiel veranschaulicht, als Wirkungen der Idee der Freiheit bestimmen, wenn wir für bestimmte Handlungen das Ziel, dem Sittengesetz zu folgen, als Grund unterstellen können. Genau für diese Fälle hält es Kant für angemessen, die Idee der Freiheit auch zu den „Tatsachen“ zu rechnen. Aber man muss dabei berücksichtigen, dass es sich nicht um dieselbe Klasse von „Tatsachen“ handelt, wie es die beobachtbaren Wirkungen dieser Idee, die Handlungen, sind. Die Idee der Freiheit ist insofern eine „Tatsache“, als sie für uns ein „Gegenstand“ ist, von dem wir durch das Bewusstsein des kategorischen Imperativs wissen. Doch wie können Handlungen, die aus einer Kausalität aus Freiheit hervorgehen, als „Tatsachen“ auf die Welt Einfluss nehmen, wenn diese naturgesetzlich bestimmt ist? Könnte es nicht sein, dass sich unsere Autonomie und die moralischen Handlungsziele, zu denen uns der kategorische Imperativ verpflichtet, in dieser Welt nicht verwirklichen lassen, weil deren Gesetze dies verhindern oder zumindest nicht fördern? Mit diesen Fragen ist das Problem des konkreten Zusammenhangs und der wechselseitigen Einflussnahme von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit angesprochen. Kant beschäftigt sich damit in seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, und zur Lösung des Problems muss der Nachweis erbracht werden, dass die jeweiligen Kausalitäten von Natur und Freiheit, auch wenn sie begrifflich strikt voneinander unterschieden werden müssen, dennoch beide in einer, nämlich unserer Welt, mit Aussicht auf Erfolg zur Anwendung gelangen können. Es muss sich zwischen ihnen ein systematischer Zusammenhang herstellen lassen, damit sich nicht zwischen der Kausalität der Natur und der der Freiheit eine unüberbrückbare „Kluft“ auftut. Die kritische Statusbestimmung der beiden Formen von Kausalität erweist sich auch für das Gelingen dieses Vorhabens als zentrale Voraussetzung.

VIII. Die Verbindung der beiden Kausalitäten über den Zweckbegriff: Ästhetik und Teleologie in Kants Kritik der Urteilskraft Wenn sich zwischen dem Gebiet der Natur und dem der Freiheit tatsächlich eine „Kluft“ auftäte, wäre „von dem ersteren [dem Gebiet der Natur] zum anderen [dem Gebiet der Freiheit] […] kein Übergang möglich […], gleich als ob es soviel verschiedene Welten wären […]“.75 Dieses Problem ist für Kants Philosophie insofern brisant, als es die Realität des gesamten Gebiets der Freiheit und seiner Ansprüche gefährden könnte. Denn 75 Kant, AA V, S. 175 f.

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der kategorische Imperativ und die besonderen moralischen Gesetze sollen in der Welt verwirklicht werden, doch dieser Forderung könnte gar nicht entsprochen werden, wenn die Kausalität aus Freiheit in der Erfahrungswelt keine Wirkungen zeigte. Es gilt daher nachzuweisen, dass die begrifflich notwendige Differenzierung der beiden Gesetzgebungen nicht zu einem problematischen Dualismus zweier getrennter Welten führt. Aus diesem Grund belässt es Kant nicht bei einer Diagnose der „Kluft“, sondern versucht zu begründen, dass die Kausalität aus Freiheit auf die Kausalität der Natur sehr wohl Einfluss nehmen und deshalb moralisch geforderte Zwecke auch in der Welt verwirklicht werden können. Im Rahmen dieser Begründung etabliert Kant in der Kritik der Urteilskraft ein weiteres Erklärungsprinzip, das Prinzip der Zweckmäßigkeit (bzw. der Finalität). Dieses ist aber kein konstitutives Prinzip, das objektive Erfahrungen verschafft oder verbindliche praktische Willensbestimmung fordert, sondern es hat nur den Charakter eines Leitfadens für die Reflexion und ist nur subjektiv gültig. Auf dieses Prinzip zurückzugreifen, ist Kants Ansicht nach nicht nur aus der Perspektive der praktischen Vernunft, d. h. in der erwähnten praktischen Absicht, sondern auch aus theoretischer Perspektive notwendig. Denn die Erklärungsmöglichkeiten auf der Grundlage „der beiden Kausalitäten, die wir kennen“, also der Naturkausalität und der Kausalität aus Freiheit, alleine reichen nicht aus, um dem von der Vernunft geforderten Forschungsideal eines vollständigen gesetzlichen Zusammenhangs der Natur und aller unserer intellektuellen Handlungen und Erkenntnisse zu entsprechen. Im Falle einiger besonderer Formen der Naturprodukte sind nämlich die allgemeinen Begriffe des Verstandes, die Kategorien, wie auch unsere empirischen Begriffe nicht hinreichend, um die jeweiligen Formen und ihre Existenz zu erklären. Unter dem Ideal einer vollständigen Erkenntnis erscheinen diese besonderen Formen der Natur in ihrer Besonderheit vielmehr als durch unsere theoretischen Begriffe (Kategorien und empirische Begriffe) unterbestimmt und müssen in diesem Sinne als „zufällig“ gelten. Zufällig ist dementsprechend nicht das, dessen Ursachen lediglich noch nicht erkannt sind, sondern dasjenige, dessen besondere Form und besondere Existenz auf der Grundlage der Naturkausalität nicht ausreichend bestimmt und erklärt werden kann. Zur weiteren Bestimmung dieses Zufälligen eröffnet das Prinzip der Zweckmäßigkeit immerhin Orientierungspunkte, um über diese besonderen Formen von Naturgegenständen und für bestimmte Phänomene, die mit ihnen verbunden sind, reflektieren und sie auch erklären zu können. Es sind Beurteilungsmöglichkeiten, genauer: die ästhetische und die teleologische Beurteilung, in denen Kant solche Möglichkeiten erkennt, um auf die Besonderheiten konkreter Einzelgegenstände zu reflektieren und so zu weiteren Bestimmungen zu gelangen. Beide Urteilsarten können mit Bezug auf den Begriff der „Zweckmäßigkeit“ gerechtfertigt werden, sodass die besonderen Urteile immerhin nicht völlig beliebig sind und sich über sie mit Bezug auf bestimmte Bedingungen doch argumentieren und streiten lässt. Die Urteile, auf die diese Möglichkeit zutrifft, sind die Geschmacksurteile über das Schöne und Erhabene und die teleologischen Urteile über spezielle Gegenstände

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Immanuel Kant der Natur, die Organismen. Gerade weil die Gegenstände dieser Urteile zufällige, empirisch vorliegende Naturgegenstände sind, sie aber gleichwohl Formen zeigen, die sich für unsere Reflexion in den beiden Hinsichten (ästhetisch bzw. teleologisch) als zweckmäßig und angemessen erweisen, so bestärken sie uns in der Hoffnung, dass die Natur auch insgesamt für uns zweckmäßig eingerichtet ist. Zur Schließung der erwähnten systematischen „Kluft“ hält Kant aber vorrangig die ästhetischen Urteile für geeignet, weil in ihnen das Zweckmäßigkeitsprinzip „heautonom“, sich selbst das Gesetz gebend, verwendet wird und sich die Zweckmäßigkeit bestimmter Naturformen ohne weitere begriffliche Vermittlung in der ästhetischen Beurteilung als unmittelbares Lustgefühl bemerkbar macht. Die teleologischen Urteile können zur Schließung der Kluft dagegen nur über die begriffliche Bestimmung des Gegenstandes sowie auf dem Weg der Ethikotheologie, die sich als Resultat einer „consequenten Denkungsart“76 ergibt, insofern also lediglich mittelbar, etwas beitragen. Eine Bestärkung unseres zweckmäßigen Verhältnisses zur Welt können wir allerdings durchaus auch aus der Beurteilung der in der Natur tatsächlich vorkommenden Organismen ziehen. Denn zur Erklärung ihrer besonderen Funktionsweise kann der Zweckbegriff, der seinen Ursprung nicht in der Natur, sondern in unserer Praxis hat, erfolgreich zur Anwendung gelangen. Diese beiden Beurteilungsmöglichkeiten, die ästhetische und die teleologische, geben uns daher immerhin eine Aussicht, eine Hoffnung, dass wir in einer Welt, die uns auf der Grundlage dieses Begriffs der Zweckmäßigkeit solche Erlebnisse und Erfahrungen ermöglicht, auch die Forderungen aus dem Sittengesetz, unsere moralischen Zwecksetzungen also, erfolgreich zur Geltung bringen. Warum diese ästhetischen und teleologischen Urteile so wichtig sind und die Frage nach dem Zusammenhang nicht nur eine Frage des Theoriedesigns ist, beantwortet Kant auch noch mit einem Hinweis auf das Gebiet der Praxis: Ästhetische und teleologische Urteile festigen eine Haltung zur Welt, in der wir eine (nicht-religiöse) Hoffnung ausbilden können, dass wir auch unsere moralischen Vorstellungen in der Welt realisieren können. Daher ist die Verbindung zwischen den scheinbar getrennten Welten auch etwas, das in moralischer Hinsicht wichtig ist. Der moralische Anspruch wird so gesehen in der Kritik der Urteilskraft noch weiter in die Konsequenzen entwickelt – und mündet dann in eine von Kant so genannte „moralische Teleologie“. Diese verlangt von uns, dass wir die ganze Natur und insgesamt die Welt unter der Perspektive der Ausführungsbedingungen unserer moralischen Bestimmung betrachten. Dabei macht uns diese Perspektive deutlich, dass wir eben auch Teil dieser Welt sind und dass wir gar nicht unabhängig von den besonderen Bedingungen und den Zusammenhängen in dieser Welt das moralisch Geforderte verwirklichen können sollen, sondern gerade im Gegenteil: unter den besonderen Bedingungen und Zusammenhängen. Das hat aber zur Folge, dass wir uns, wenn wir konsequent der Forderung des Sittengesetzes entsprechen wollen, die Natur 76 Kant, AA V, S. 294.

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und die Welt zumindest so denken müssen (aber deswegen nicht schon darauf schließen dürfen, dass es tatsächlich so sei77), als habe sie ein moralischer Urheber so eingerichtet, dass wir unsere moralischen Zwecksetzungen in ihr verwirklichen können. Wenn man nun auf der Grundlage dieser Vorstellung und dieses Bildes von der Welt handelt, ist es immerhin möglich, dass der Begriff der Freiheit, als einzige Idee freilich, „seine objektive Realität (vermittelst der [finalen] Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist“78 und es auf diesem praktischen Weg „gelingt, […] dass hier das Übersinnliche […] [die Freiheit], durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität [AE: eben der finalen] welches aus ihm [AE: aus dem Übersinnlichen] entspringt, […], als Tatsache seine Realität in Handlungen dartut“ .79 Doch die Kausalität aus Freiheit führt nicht mit derselben Sicherheit zu Wirkungen wie die Naturkausalität, und aus den zweckmäßigen Erscheinungen der Natur, die wir unter der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft erfahren, dürfen wir nicht schließen, dass die Welt auch objektiv zweckmäßig eingerichtet ist; noch weniger kann uns der Gedanke eines moralischen Urhebers der Natur darüber versichern, dass es immer und nachhaltig gelingen wird, die Welt nach Maßgabe des kategorischen Imperativs zu gestalten. Die Möglichkeit aber lässt sich denken.

IX. Wirkt eine Kausalität hinter unserem Rücken? Fortschrittsdenken und Geschichtsphilosophie Dass diese Möglichkeit auf einen geschichtlichen Fortschritt hoffen lässt, hat Kant an vielen Stellen seiner Geschichtsphilosophie deutlich gemacht. Allerdings verführen diese Passagen mitunter dazu, ihm einen – für die Aufklärung typischen – Optimismus und naiven Fortschrittsglauben zu unterstellen. In der Tat trifft man in den entsprechenden Schriften (wie etwa in „Vom ewigen Frieden“80 oder „Idee in weltbürgerlicher Absicht“81) immer wieder auf Formulierungen, in denen die Entwicklung der menschlichen Geschichte als ein zielgerichteter Prozess erscheint, der sich ganz ohne unser Zutun, gleichsam von der Natur gesteuert in Gang setzt, wobei der Ausdruck „Natur“ synonym mit „Vorsehung“ und „Vernunft“ erscheint.82 Doch auch diese teleologischen Aussagen müssen vor dem Hintergrund der kritischen Bestimmung des Kausalitätsbegriffs verstanden und rekonstruiert werden. Schon die Kritik der Urteils77 Wie Kant im § 90 der Kritik der Urteilskraft betont (vgl. Kant, AA V, S. 464). 78 Kant, AA V, S. 474. 79 Ebd. Vgl. auch „und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besondern Art von Causalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwänglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun lässt.“ (Kant, AA V, S. 468). 80 Kant, AA VIII, S. 341–386. 81 Ebd., S. 15–32. 82 Vgl. ebd., S. 362.

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Immanuel Kant kraft hat teleologische Urteile jedweder Art, ganz im Unterschied zu der Auffassung vieler zeitgenössischer Theorien, in ihrer Geltung eingeschränkt und sie auf das nur subjektiv gültige (d. h. für alle menschlichen Subjekte, deren vernünftiges „Bedürfnis“ auf systematische Einheit der Erklärungen geht) Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zurückgeführt. Damit sind teleologische Urteile insgesamt, aber auch solche, die geschichtliche Zusammenhänge behaupten, Reflexionsergebnisse und nicht etwa Aussagen über objektive Ursache-Wirkungsbeziehungen oder eine im buchstäblichen Sinne teleologisch eingerichtete Natur. Allerdings spricht Kant etwa im ersten Zusatz der sog. Friedensschrift erstaunlicherweise davon, dass die Gewähr oder Garantie für eine Entwicklung unserer Gesellschaften hin zum ewigen Frieden in dem Mechanismus der Natur liege – und nicht etwa in der moralischen Haltung oder Entwicklung der Menschen. Die damit verbundene Rede von der „großen Künstlerin Natur“ und die immer wiederkehrende Wendung, wonach die „Natur“ aktiv etwas „wolle“ und sogar „eigene“ (nämlich Natur-)Zwecke verfolge, scheint die kritische Bestimmung des teleologischen Urteils zu unterlaufen. Oft kann es so scheinen, als komme hier ein eher naives teleologisches Naturverständnis zum Ausdruck, in dem die „Natur“ oder – das wäre ein weiterer Schritt – ihr Schöpfer jeweils zu einer Handlungsmacht aufgebaut würden. Tatsächlich aber stehen Kants anschließende Bemerkungen der Möglichkeit, die betreffenden Passagen auf diese Weise auszulegen, in der Regel entgegen. Zum einen betont Kant immer wieder: Es ist der Mechanismus der Natur, der für uns irritierende, weil unwahrscheinliche, aber dem Menschen nützliche Phänomene hervorbringt, und nicht etwa die teleologisch organisierte Natur. Aber wir wissen uns die jeweiligen Phänomene nicht anders begreiflich zu machen, als dass wir der Natur einen Zweck unterlegen. Die fraglichen Phänomene sind solche der „äußeren Zweckmäßigkeit“, wie etwa das Treibholz, das die Menschen an den Eisküsten mit Brennstoff versorgt, oder die bevölkerungspolitisch nützlichen, ja sogar kultivierenden Effekte des Krieges, wie Kant vor dem Hintergrund der Kriege, die er kannte, noch sagen konnte. Doch wenn wir uns solche Phänomene auf eine teleologische Weise „begreiflich“ machen, dann müssen wir uns immer darüber im Klaren bleiben, dass es sich um Erklärungen handelt, die wir auf der Grundlage einer Analogie zum menschlichen Handeln gewinnen. Diese Analogie wird dadurch in Gang gesetzt, dass wir uns als Grund der Naturkausalität einen Zweck „hinzudenken“. Die Ergebnisse zu dieser Art der Erklärung haben nicht den Status von Erfahrungen oder objektiven Erkenntnissen. Sie lassen uns aber – das wäre auch ihre erkenntnisbezogene Funktion – einen Zusammenhang erkennen, der zwischen dem Mechanismus der Natur und unserem praktischen Handeln besteht und den wir gerade für die Realisierung unserer moralischen Pflicht und unserer moralischen Zwecke nutzen können. Entsprechend leitet Kant dann auch vom Naturzweck über zum moralischen Endzweck. Die Beispiele wenden sich nun auch entsprechend weg von bloß nützlichen Naturphänomenen hin zu solchen Wirkungen der Natur, die auf uns einen Zwang ausüben, der unser Handeln zur Verwirklichung moralischer Verpflichtungen leitet, anregt, unterstützt – eine Art

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„moralisches Nudging“ durch die Natur. Egoistisch motiviertes Handeln wird auf diese Weise – mit Hegel müsste man sagen: „hinter unserem Rücken“ – in Strukturen verwandelt, die ihrerseits dann positive moralische (im ethischen und juridischen Sinne) Effekte haben. In der Kritik der Urteilskraft wird behauptet, dass dieser Überlegung Notwendigkeit zukomme: Denn auch die indirekten Faktoren bei der Verwirklichung moralischer Zwecke in Betracht zu ziehen, ja sie zu erkennen und zu nutzen, ist etwas, das (wie in der KrV auch in der KdU) im Rahmen der „moralischen Teleologie“ gefordert wird. Die moralische Teleologie bestimmt ja nicht, welche Zwecke wir uns setzen sollen, sondern sie befasst sich mit dem Verhältnis unserer moralischen Zwecksetzungen zu der Welt, in der wir diese Zwecke verwirklichen sollen, und sucht nach produktiven, zweckmäßigen Beziehungen, die sich zwischen der Naturkausalität und unseren praktischen Vorhaben herstellen lassen. In praktischer Hinsicht sind wir dazu genötigt, den Mechanismus der Natur unseren moralischen Zweckgedanken zu unterwerfen und die Natur, respektive ihren Mechanismus als ein Instrument zur Realisierung unserer Zweckbestimmung nicht nur zu beurteilen, sondern ihn auch entsprechend zu gebrauchen und zu gestalten. Die moralische Überlegung reicht so durchaus noch weiter als nur bis zur kritischen Prüfung von Maximen. Unter einer geschichtsphilosophischen Perspektive weitet sie den Blick und thematisiert auch die indirekten Einflüsse – der Natur und ihrer Kausalität – auf unser Handeln und die moralische Entwicklung der Menschheit. Wenn man diese Überlegungen noch einmal zurückbezieht auf die oben erwähnte „Garantie“, die Kant der Kausalität der Natur zuspricht, so wird klar, was er damit meinte: Die Kausalität der Natur, die sich in unseren Handlungen in der Form von egoistischem Verhalten Bahn bricht, die aber auch in entzweienden Phänomenen wie dem Krieg und der Verschiedenheit der Sprachen und Religionen bzw. Glaubensarten auftritt, kann in unserem kollektiven Handeln eine durchaus produktive Dialektik in Gang setzen. Wir werden durch solche Phänomene jeweils in zwingende Situationen getrieben, in denen wir uns dann mit Vereinbarungen, Organisationen, Abkommen und vor allem: mit der Entwicklung von Rechtsstrukturen behelfen müssen. Auf lange Sicht werden uns solche Wirkungen der Natur aber auch die Handlungen, die wir dann innerhalb dieser Strukturen vollziehen, in einem ethischen Sinne besser machen können. Die Natur garantiert „durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen“.83 Die Rede von der Garantie ist nur aus einer praktischen Perspektive angemessen und zeigt nur Möglichkeiten auf, die sich auch nur im Rahmen praktischer Verhältnisse eröffnen und nutzen lassen. Unter dieser Perspektive offenbart uns – so könnte man es formulieren – die Dialektik der permanenten Dynamisierung der menschlichen Verhältnisse, dass sogar scheinbar entgegenstehende Phänomene für die Verwirklichung unserer moralischen Zwecke genutzt werden können. 83 Ebd., S. 368.

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Immanuel Kant Allerdings – und das ist der Unterschied zu einer naiven, unkritischen Teleologie, muss ein moralisches Element in diesen Prozess eingespielt werden – und das ist der zumindest in vielfältigen Preisungen durch Politiker und darin „zumindest dem Worte nach“ präsente Rechtsbegriff. Wenn sich der Staat und die Politik auf ihn in einer affirmativen Weise – und sei es noch so oberflächlich und äußerlich – verpflichtet geben (und welcher Staat möchte nicht das Recht auf seiner Seite haben?), so steht damit zugleich ein anerkannter normativer Bezugspunkt für alle emanzipatorischen Kräfte zur Verfügung. Der aber kann nun – und damit kommt der Gedanke der Publizität wieder in den Blick – auch in praktischer Hinsicht weiter konkretisiert und in seine Konsequenzen entwickelt werden. Was vielleicht nur als abstrakte Idee zu ideologischen Zwecken im Munde geführt wurde, wandelt sich auf diese Weise zu einem Werkzeug des moralischen Fortschritts und der Aufklärung (im kantischen) Sinne. Kants Lehre von der „reflektierenden Urteilskraft“ bestimmt nicht nur den epistemologischen Status des Fortschreitens zum Ewigen Frieden und erhellt die oben zitierte Wendung von der „großen Künstlerin Natur“, sondern eröffnet auch eine Alternative zu der scheinbar alternativlosen Wahl zwischen einer „ernüchterten, realistischen Geschichtsschreibung“84 und einem zu positiven, optimistischen bzw. idealistischen Weltbild85, wie sie gegenwärtig immer noch die Geschichtsphilosophie prägen. Denn in Kants Geschichtsphilosophie geht es um die Frage, wie wir mit dieser Wahl umgehen können und wie wir dabei unser Selbstverständnis als autonome und freie Wesen (sei es als Individuen, sei es als Gesellschaft) mit den „ernüchternden“ Erfahrungen so vermitteln können, dass der  – systematisch höchst unbefriedigende  – Widerspruch zwischen ihnen überwunden werden kann. Wenn wir konsequent an unserem praktischen Selbstverständnis festhielten und den damit verbundenen moralischen Forderungen zu entsprechen suchten, müssten wir uns, die Natur und die Welt so denken, als sei sie so eingerichtet, dass wir unsere Freiheit und die damit verbundenen moralischen Forderungen in ihr verwirklichen können. Nur unter der Annahme dieser Weltsicht können wir davon ausgehen, dass wir durch unser vernünftiges Handeln stabile Verfahren etablieren und weiter ausarbeiten können, durch die unsere Welt und unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen schrittweise ebenfalls vernünftiger werden und sich stetig verbessern. Diese Weltsicht ist keine Zustandsbeschreibung der tatsächlichen Verhältnisse und wird auch nicht aus Beobachtungen gewonnen, die auf der Grundlage des Kausalitätsprinzips verbunden werden, weshalb sie auch nicht der Geschichtsschreibung zugeschlagen werden kann. Sie beruht zwar auf Tatsachen, nämlich den real erscheinenden tatsächlichen Wirkungen menschlichen Handelns. Aber sie ist gleichwohl eine Interpretation dieser Tatsachen unter einer leitenden, nämlich moralischen Fragestellung und Zwecksetzung: unter der Frage, inwiefern diese Tatsachen 84 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Frankfurt a. M., 2011, S. 571. 85 Robin Celikates, „Globalisierungskritik“, in: Robin Celikates et al., Globalisierung – Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Andreas Niederberger u. Philipp Schink, Stuttgart, 2011, S. 367.

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als Zeichen der Annäherung an das Ideal der gesellschaftlichen Freiheit und des Weltfriedens gedeutet werden können. Ideen, Ideale und Zwecke sind selbst nicht als Tatsachen gegeben oder „in der Welt“ beobachtbar, sondern werden von uns gedacht und sollen, wenn es sich um moralisch geforderte Zwecke handelt, in der Welt von uns verwirklicht werden. Wir müssen daher, wenn wir „moralisch consequent denken“86 wollen, uns auch um die konkreten Anwendungsbedingungen dieser Zwecke kümmern und die Realverhältnisse gegebenenfalls entsprechend modifizieren, sodass wir unsere Zwecke auch in dieser Welt realisieren können. Dazu können wir uns auch der Zwecksynthesen der reflektierenden Urteilskraft bedienen, die uns eine die Moral fördernde Sicht auf die menschliche Geschichte als einer Geschichte des Fortschritts eröffnet. Unter dieser Sicht erscheinen uns unsere emanzipatorischen Anstrengungen als aussichtsreich, weil sie uns auf die verschiedensten Zweckbeziehungen in der Welt, auf die Schönheit und die Zweckmäßigkeit der Natur, aber eben auch auf Errungenschaften moralischen Fortschritts in der menschlichen Historie hinweisen und sie uns verständlich machen. Solche Ereignisse können wir als bestätigende Hinweise dafür nehmen (in der Friedensschrift sagt Kant, dass sie „hervorleuchten“), dass wir auch mit unseren politischen Zwecken und den entsprechenden Anstrengungen (den unter diesen Zwecken geführten sozialen und politischen Kämpfen) „in die Welt passen“ und unsere moralischen Ideen in ihr verwirklichen können. Wir sollten uns dabei aber immer bewusst bleiben, dass alle diese Hinweise „in pragmatischer Absicht“ gegeben werden und selbst keine Beschreibungen sind. Aber wenn man tatsächlich den Fortschritt von Aufklärung und Frieden als einen erstrebenswerten Zweck anerkennt und als Ziel des eigenen Handelns angenommen hat, dann muss man  – wenn man konsequent denkt  – eben auch einsehen, dass es geboten ist, die zur Verwirklichung des angenommenen Zwecks erforderlichen Mittel ebenfalls zu wollen; anderenfalls nämlich müsste man den Zweck aufgeben; denn das Festhalten an diesem Zweck bei völliger Untätigkeit, auch die notwendigen Mittel zu erarbeiten, wäre irrational. In der Tat kann man sagen: Wir benötigen eine „erzählbare Geschichte von kollektiven Erfolgen und Misserfolgen“87 auf dem Weg des Fortschritts hin zu einer aufgeklärten Gesellschaft. Sie aber ist ein Produkt der reflektierenden Urteilskraft, eine bloße pragmatische Hypothese. Die entscheidende Forderung, mit der Kant aber auch noch den Ansprüchen der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie entspricht, lautet: Wenn wir uns von dieser Geschichte des Fortschritts in unseren politischen Entscheidungen leiten lassen, dann müssen wir gleichwohl retrospektiv die gesellschaftlichen Ereignisse in nüchterner, realistischer Geschichtsschreibung auf beschreibbare Realitäten hin prüfen. Die teleologische Beurteilung und die wissenschaftlich beschreibende Kausalerklärung würden dann, genauso wie es Kant für das Verhältnis von 86 Kant, AA V, S. 450, Anm. 87 Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 612.

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Immanuel Kant teleologischem Urteil und Erklärung auf der Grundlage der Naturkausalität für die Naturwissenschaft fordert, kritisch ineinandergreifen und produktiv zusammenarbeiten. Damit wäre auch in der Geschichtsphilosophie ein Übergang möglich zwischen den sich scheinbar einander ausschließenden Alternativen ernüchternder und damit vielleicht auch realistischer Geschichtsschreibung einerseits und „idealistischen“, im Sinne von allzu optimistischen Narrationen andererseits. Wir brauchen – das wäre die Einsicht Kants – beide Sichtweisen, wenn wir die Idee einer aufgeklärten Gesellschaft als normativen Bezugspunkt nicht aufgeben, sondern ihr durch prozedurale Konzeptionen – zum Beispiel in der Ausweitung des von Kant so genannten „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ – zur Wirklichkeit verhelfen wollen. Der Friede übrigens ist, wie Kant an einer Stelle der Friedensschrift ganz lakonisch bemerkt (und was Pazifist:innen etwas irritieren mag), eine Nebenfolge, die sich einstellt, wenn der Forderung nach Publizität konsequent entsprochen wird.88

X. War der Aufklärer Kant ein Antisemit, ein Rassist und ein Sexist? Neben diesen aufklärerischen Ideen, in denen Kant Reformen und Fortschritt freiheitlicher Verhältnisse propagiert, trifft man in seinen Schriften allerdings auch auf Passagen, die mindestens aus heutiger Sicht als antisemitisch, rassistisch und sexistisch beurteilt werden müssen. Trotz der dokumentierten Hochschätzung von Moses Mendelssohn und der engen Verbundenheit mit seinem Schüler Marcus Herz sowie freundschaftlicher Verbundenheit zu anderen jüdischen Gelehrten und Kaufleuten, äußert sich Kant immer wieder abwertend gegenüber „den Juden“, bekräftigt fest etablierte Vorurteile gegen die „Palästiner“89 und empört sich über Johann Michael Loewe. Loewe, ein jüdischer Maler, hatte einen Kupferstich von Kant angefertigt, über den sich Kant wegen der „jüdischen“ Darstellung seiner Nase empörte.90 In den Vorlesungsnachschriften trifft man auf Stellen, die andere Völker als faul und feige bezeichnen oder ihnen absprechen, dass sie je zu einer Kultur gelangen.91 Und in Bezug auf die „Frauenzimmer“ meldet Kant Bedenken an, ob sie Geometrie lernen können.92 Wie diese Stellen über ihren unmittelbaren Wortsinn hinaus noch zu bewerten sind, ist allerdings keine triviale Frage. Manche dieser Passagen drücken Kants persönliche Meinung über 88 Vgl. Kant, AA VIII, S. 378. 89 „Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht ungegründeten Ruf des Betruges gekommen.“ (Kant, AA VIII, S. 205). 90 Kant, AA XI, S. 33. 91 Vgl. etwa: „Die Lappen sind braun mit schwarzen Haaren, breite Gesichter, eingefallene Backen, spitzen Kinn, faul und feige.“ (Kant, AA 26.1, S. 296). 92 „Das Frauenzimmer wird demnach keine Geometrie lernen; es wird vom Satze des zureichenden Grundes, oder den Monaden nur soviel wissen, als da nöthig ist, um das Salz in denen Spottgedichten zu vernehmen, welches die seichte Grübler unseres Geschlechts durchgezogen haben.“ (Kant, AA II, S. 230).

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„die Juden“, „die Lappen“ und „die Frauen“ aus und reproduzieren damit gesellschaftliche Klischees und Vorurteile über diese Personengruppen. Zugleich finden sich aber in Kants Schriften auch Aussagen, die solche Abwertungen und Klischee­isierungen explizit verurteilen und Stellung für die betroffenen Gruppen beziehen. Dann wiederum scheint Kant in seinen Vorlesungen, aber auch in seinen veröffentlichten Schriften, abwertende Darstellungen ohne kritische oder distanzierende Prüfung aus Reiseberichten übernommen zu haben. Schließlich muss sich jede:r Kantleser:in fragen, ob sich der rassistische, sexistische oder antisemitische Gehalt der einen oder anderen Aussage auch in den Argumentationen niederschlägt, die Kants kritische Philosophie in systematischer Weise begründen. Das zu beurteilen ist die eigentlich philosophische und brisante Frage, zu der die betreffenden Stellen im Zusammenhang der grundlegenden Theoreme und Begriffsbestimmungen der kantischen Philosophie kundig ausgewertet werden müssen. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass transzendentalphilosophische Begründungen, deren Gegenstände ja erklärtermaßen jenseits empirischer Unterscheidungen liegen, frei sind von Differenzierungen wie sie mit dem Rassebegriff, der Einteilung in Geschlechter, Religionen und Gemeinschaften getroffen werden. Würde man daher die transzendentalphilosophische Kritik entsprechend der Maxime einer „konsequenten Denkungsart“ weiterverfolgen, könnte man mit ihr auch die Ansprüche solcher inhaltlichen Differenzierungen kritisch bestimmen und die Unterscheidungen selbst auf ihre Berechtigung hin beurteilen. Unabhängig davon bleibt aber festzuhalten: Viele Stellen in Kants Texten lassen ein angemessenes Problembewusstsein vermissen. Dies mahnen wir nicht nur heute an, sondern wir wissen, dass auch schon zu Kants Zeit zumindest manche seiner Zeitgenossen über ein solches Problembewusstsein sehr wohl verfügten. War Kant ein Antisemit? Rassist? Sexist? Was tun? Die richtige Frage stellen. Selbstverständlich ist es eine Aufgabe der Kantforschung, die betreffenden Stellen in genauer und umsichtiger Lektüre, unter Berücksichtigung des Kontextes, in dem sie stehen, des Anspruchs, der mit ihnen verbunden wird, und der Freilegung der Quellen, denen sie entstammen, auszuwerten und sie schließlich auch ins Verhältnis zu den übrigen Schriften der kantischen Theorie zu setzen. Tatsächlich gibt es bereits eine ganze Reihe an Forschungsbeiträgen und eine lebhafte Diskussion innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, die sich mit den betreffenden Stellen, ja überhaupt mit Kants Schriften unter der Fragestellung beschäftigen, inwieweit sie als antisemitisch, rassistisch oder sexistisch beurteilt werden müssen. Doch ist die Diskussion unter dieser, auf Kant zentrierten Perspektive, angemessen ausgerichtet? Ist überhaupt die Frage, ob Kant ein Rassist, ein Sexist, ein Antisemit war, die richtige Frage? Würde eine Auseinandersetzung mit diesem Problem im Rahmen einer kritischen Philosophie nicht anders ansetzen müssen und auch die Fragestellung selbst prüfend in den Blick nehmen? Was ist mit der Frage, war Kant (oder ein anderer Vertreter einer philosophischen Theorie) ein Antisemit, Rassist, Sexist, verbunden? In welcher Weise prägt die Frage die an-

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Immanuel Kant schließende Untersuchung und ihre möglichen Antworten vor? In erster Linie erzwingt die Fragestellung eine Subsumtion unter die jeweiligen Begriffe und impliziert, dass es nur ein „Ja“ oder ein „Nein“ geben könne. Vielleicht aber sollte die Fragestellung stattdessen zu abgewogenen Urteilen über Kants Theorie führen. Sie könnte uns an bestimmten Teilen seiner Philosophie inakzeptable Positionen kenntlich machen, an anderen Teilen diesen widersprechende Überlegungen zeigen, oder innerhalb der kantischen Philosophie Entwicklungen hin zu akzeptableren Positionen heraustreten lassen. In allen solchen Fällen aber würde die Frage nach Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus (im Folgenden abgekürzt als RSA) letztlich individualisiert. Doch gerade wenn RSA als Haltung, Einstellung oder Eigenschaft nur der Person zugeschrieben wird, versperrt man sich von vornherein die Möglichkeit, abgewogenere Urteile auch über die kantische Philosophie zu fällen. Selbstverständlich ist die Frage wichtig, ob Kant es hätte wissen können, dass das, was er hymnisch über die Europäer sagt, wenn er sie als kultiviert und fortschrittlich lobt, in weiten Teilen verfehlt ist, und dass die herabwürdigenden Bemerkungen über die Einwohner Amerikas oder Afrikas, die er aus Reiseberichten übernimmt, nicht gerade eine Beherzigung des von ihm selbst propagierten sapere aude belegen, weil er offensichtlich andere Positionen, die ebenfalls im Diskurs des öffentlichen Vernunftgebrauchs zugänglich waren, nicht zur Kenntnis genommen hat. Doch welche Einsicht eröffnet es uns eigentlich, wenn wir daraufhin ein abschließendes Urteil fällen und Kant als Rassisten, Antisemiten und Sexisten bezeichnen oder dies für widerlegt halten? Meines Erachtens gehen uns mindestens zwei wichtige Dimensionen des Problems verloren, wenn wir diese Problematik, auf die wir auch in anderen Werken der klassischen Philosophie stoßen, auf diese Weise behandeln. Die eine Dimension ist die überindividuelle und politische, die andere ist diejenige, in der wir etwas über unser eigenes Denken und die Tradition, in der wir stehen, lernen können. Die erste macht uns klar, dass RSA nicht ein Problem von Einzelfällen und vereinzelten Individuen ist, sondern von fest etablierten Traditionen, die ein rassistisches, sexistisches und antisemitisches Wissen einschließen. Dieses Wissen besteht in Stereotypen und Assoziationsketten, die in Äußerungen und Praxen von Personen, Gruppen, Gesellschaften oder in der Erinnerungskultur – in unserem Fall in bestimmten Texten – vermittelt werden. Jeder von uns kann diese Stereotypen erkennen, ohne sie aktiv gelernt zu haben oder selbst überzeugte:r Rassist:in sein zu müssen. Dieses Wissen setzt sich bis in die Gegenwart fort und ist in der gesellschaftlichen Interaktion jederzeit verfügbar bzw. kann jederzeit aufgerufen werden. In diesem Sinne handelt es sich gar nicht um ein individuelles Problem, noch weniger um eines, das nur bestimmte historische Individuen betrifft. RSA bildet auch als historisches Phänomen ein „Wissen“, das gerade nicht vergangen und bloß „historisch“ ist, sondern in der Erinnerungskultur und ihren verschiedenen Formen der Manifestation präsent und möglicherweise lebendig ist. So gesehen ist die Thematisierung dieses „Wissens“ eine politische Frage, weil sie uns alle und die Tradition, in der wir stehen und die unser Denken prägt, angeht. Wir lernen, und das wäre der zweite Punkt, über diese besonderen Wirkungen und Entfaltungs-

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formen von RSA nur etwas, wenn wir uns nicht wie Richter außerhalb dieser Tradition stellen und meinen, von ihr nicht berührt zu sein oder werden zu können. Das aber tun wir, wenn wir über Kant (und andere) als Individuen urteilen und dabei meinen, wir selbst hätten bereits vollumfängliche Einsicht und Klarheit darüber, was sinnvollerweise unter RSA zu verstehen ist und nach welchen Kriterien wir unser Urteil fällen, kurz, wenn wir uns als bereits aufgeklärt wähnen, sodass wir über andere, nicht aber über uns selbst urteilen können. Letzteres hatte Kant, mindestens dies kann man ihm zugutehalten, weder von sich noch von seinem Zeitalter behauptet.

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Immanuel Kant –, „Brief an Christian Garve“ (1783), in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 10, Berlin, 1969, S. 336–343. –, „Brief an Carl Leonhard Reinhold“ (1789), in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 11, Berlin, 1969, S. 33–40. –, „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ (1783), in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin, 1973, S. 253–284. –, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785), in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin, 1973, S. 385–464. –, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798), in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin, 1973, S. 117–335. –, „Vorlesungen über physische Geographie“, in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 26.1, Berlin, 2009.

Weitere Autoren Biester, Johann Erich, „Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei der Vollziehung der Ehe zu bemühen“, in: Berlinische Monatsschrift, 2, Berlin, 1783, S. 265–276. Hamann, Johann Georg, „Nachtgedanken eines Zweiflers“, in: Königsbergische gelehrte und politische Zeitungen, Königsberg, 1771; Wiederabgedruckt in: Hamann. Sämtliche Werke, hg. v. Josef Nadler, Bd. 4, Wien, 1952, S. 364–370. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik. Band 1, Frankfurt a. M., 1986. –, Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg, 1994. Hume, David, A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning, London, 1739–1740. Lange, Joachim, Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemata Metaphysico von Gott, der Welt und dem Menschen, Halle, 1724; Repr. Hildesheim u. a., 1999, S. 367–369. Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Nouveaux essais sur l’entendement humaine“, in: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 6, Berlin/New York, 1990, S. 39–528. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg, 2014. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, London, 1689. Mendelssohn, Moses, „Ueber die Frage: Was heißt aufklären?“, in: Berlinische Monatsschrift, 4, 1784, S. 193–200. Plato/Schleiermacher, Friedrich/Otto, Walter F./Wolf, Ursula, Apologie des Sokrates, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek b. H., 1994. –, Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek b. H., 1994. Schack, Hermann Ewald, in: Gothaische gelehrte Zeitungen, 68. St., Riga, 1782, S. 560–563. Wiederabgedruckt in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787, hg. v. Albert Landau, Bebra, 1991, S.17–23.

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Die Elementar­ philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Martin Bondeli (Bern)

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Inhalt I.

Denkkonstellationen in der Formierungsphase des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

II.

Der Kantianismus Reinholds. Auftakt zur Frühphase des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

III.

Die Elementarphilosophie. Das Protosystem des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

IV.

Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen . . . . . . . 102

V.

Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie. Der Streit um die richtige Auslegung der Willensfreiheit . . . . . 112

VI.

Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie und Neuformierungen der Prinzipienidee des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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I. Denkkonstellationen in der Formierungsphase des Deutschen Idealismus An der Herausbildung, Fortentwicklung und individuellen Ausgestaltung der als Deutscher Idealismus oder nachkantische Systemphilosophie betitelten, gelegentlich auch als Weg von Kant zu Hegel auf den Begriff gebrachten philosophischen Epoche waren nicht nur Fichte, Schelling und Hegel beteiligt. Neben diesen drei berühmt gewordenen Köpfen gab es eine stattliche Reihe weiterer profilierter Denker, die damals in kritischer und konstruktiver Weise den Gang des Philosophierens mitbestimmten. Allen voran muss Karl Leonhard Reinhold genannt werden. Seit den späten 1780erJahren verfolgte der zu den aufstrebenden Jenaer Kantianern zählende Reinhold das Projekt eines Systems der kritischen Vernunft, das über die Ergebnisse Kants hinaus als Gesamtsystem dargestellt und ausgehend von einem ersten Prinzip, einem Axiom des Bewusstseins oder – mit Husserl gesprochen – intentionalen Vorstellens, ausreichend fundiert, vereinheitlicht und vervollständigt werden sollte. Reinhold legte mit diesem unter dem Namen „Elementarphilosophie“ bekannt gewordenen System einer „Philosophie überhaupt“ den Grundstein zu den Fundierungs- und Systemideen des Deutschen Idealismus. Zudem errichtete Reinhold unmittelbar nach der Jahrhundertwende ein sowohl mit der Identitätsphilosophie Schellings und Hegels als auch mit Fichtes Neufassungen der Wissenschaftslehre konkurrierendes System des Rationalen Realismus. Mit dieser sich als Logik und Metaphysik neuester Art verstehenden Lehre prägte er den Deutschen Idealismus ebenso in dessen späteren Ausformungen. So konfrontierte er die dialektische Denkart dieser Strömung mit einer auf Aristoteles und Leibniz rekurrierenden Konzeption der Logik sowie mit sprachkritischen und wahrheitstheoretischen Einsichten. Zu denken ist zudem unweigerlich an Salomon Maimon, Gottlob Ernst Schulze sowie an den sich von seinem Lehrmeister emanzipierenden Kant-Kommentator Jakob Sigismund Beck. Seit den frühen 1790er-Jahren stritten diese drei Autoren sehr entschieden mit teils empiristischen und skeptizistischen, teils modifizierten ­kritizistischen Argumenten gegen eine sich ihrer Meinung nach nicht ausreichend von fatalen dogmatischen Prämissen distanzierende kantisch-reinholdische Trans­ zen­den­talphilosophie. Ihrem Auftreten war es zu verdanken, dass sich Fichte um 1794 mit einem Reinholds Elementarphilosophie überbietenden, auf einem ­ersten Prinzip des tätigen Ich beruhenden Systemunterfangen – dem System der Wissenschaftslehre – in Szene zu setzen vermochte. Darüber hinaus waren sie wesentlich dafür verantwortlich, dass die frühen Systeme Fichtes und Schellings ein akzentuiert idealistisches und subjektivistisches Profil gewannen sowie erklärtermaßen nicht nur anti-dogmatisch, sondern auch anti-skeptizistisch konzipiert wurden. Schulze trat dabei gleichfalls nach 1800 als ein von den Waffen des Empirismus und Skeptizismus Gebrauch machender Kritiker der neueren Systeme in Erscheinung und wurde dadurch zum dauernden Stachel in den Bestrebungen Schellings und H ­ egels, eine neue

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen spekulative Denkart mit dem Anspruch der einzig wahren Philosophie zur Geltung zu bringen. Mehr als nur kursorisch erwähnt werden müssen im Weiteren Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, die Frühromantiker und die Jenaer Schüler und Kollegen Reinholds. Von diesen Mitstreitern und Personenkreisen gingen seit Mitte der 1790er-Jahre auf kantischer und postkantischer Basis beruhende ästhetisch-vereinigungsphilosophische und wissenschaftsmethodische Ideen aus, die dazu drängten, die von Fichte und dem frühen Schelling gelieferten Vorschläge zu einer vom absoluten Ich ausgehenden Fundierung und Konstruktion des Systems der Philosophie zu überwinden. Ein alles vereinigendes, Ich und Natur umgreifendes Sein schlechthin sollte künftig die Systembasis bilden und zugleich in der Funktion eines Ideals Rhythmik und Abschluss des Systems bestimmen. Diese Erneuerungsimpulse erwiesen sich als sehr förderlich für das nach der Jahrhundertwende Oberhand gewinnende identitätsphilosophische Systemdenken Schellings und Hegels. So brachten sie eine logisch-begründungstheoretische Systemerörterung in Gang, die mehr und mehr im Zeichen einer Idee des Zusammenführens von Erstem und Letztem stand. Daraus entsprangen das von Reinhold um 1800 eingeführte Analysis-Modell des Zurückführens eines ersten, hypothetisch Wahren auf das Urwahre sowie schließlich Hegels als dialektische Methode firmierendes Verfahren einer gleichermaßen fortschreitenden wie in den Grund zurücklaufenden Erkenntnisbegründung. Keinesfalls unerwähnt bleiben dürfen ferner Johann Gottfried Herder, Friedrich Heinrich Jacobi und Jens Baggesen. Literarisch und philosophisch bewandert, initiierten sie zum Teil bereits im Vorfeld des nachkantischen Systemdenkens weichenstellende Debatten über die angeblich atheistischen Konsequenzen des Spinozismus oder Pantheismus, über das richtige Verständnis von Aufklärung, Vernunft und Glauben sowie über egoistische, formalistische und nihilistische Auswüchse, die man scheinbar durch das neuere, spekulative Vernunft- und Systemdenken zu befürchten hatte. Sie alle agierten in der Rolle bald des affirmativen Antreibers, bald des kritischen Beobachters, griffen aber auch punktuell in die einschlägigen Diskurse ein. Schließlich ist an Mitstreiter wie Friedrich Bouterwek, Franz von Baader und Karl Wilhelm Friedrich Solger zu erinnern. Diese Gelehrten und Schriftsteller meldeten sich nach der Jahrhundertwende mit Systementwürfen zu Wort, die vielfach eine eklektisch anmutende Akkommodation an Resultate der Protagonisten des Deutschen Idealismus verrieten, teilweise aber auch durchaus neuartige Prinzipien- und Vereinigungsideen zur Diskussion stellten. Sie blieben nicht ohne Einfluss auf spätere Phasen des neueren spekulativen Denkens, allerdings ohne die große Durchschlagskraft. In der Forschung und Interpretation zum Deutschen Idealismus wird dem Befund, dass es sich bei dieser philosophischen Epoche offenkundig um eine an Kontexten und Denkanstößen äußerst reiche und von einem größeren Personenkreis bestrittene intel-

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I. Denkkonstellationen in der Formierungsphase des Deutschen Idealismus

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lektuelle Bewegung handelt, seit einigen Jahrzehnten zunehmend Rechnung getragen.1 Neben den Schriften, Vorlesungen und denkgeschichtlich aufschlussreichen Dokumenten der Protagonisten werden Denkskizzen, Aufzeichnungen, Briefe und andere aussagekräftige Materialien aus dem unmittelbaren Umfeld ausgewertet. In jüngerer Zeit werden darüber hinaus gezielt die Aktivitäten und Schriften sogenannter kleinerer oder Nebenakteure aus der betreffenden Periode in den Mittelpunkt gerückt. Um der Sache gerecht zu werden, sind ausgreifende Neuerschließungen dieser Art unerlässlich und sollten auch in künftigen Forschungen und Interpretationen zum Deutschen Idealismus ein Desiderat sein. Denn die Epoche des Deutschen Idealismus ist in der Tat weit mehr als ein Königsweg von Kant zu Hegel oder eine Galerie großer philosophischer Werke. Näher besehen geht es um eine breit angelegte und systematisch äußerst vielschichtige nachkantische Denkformation, die mit Bedürfnissen des Aufklärens und Erneuerns der Menschenwelt einhergeht und gleichzeitig akademischen Erfordernissen gerecht zu werden versucht. Unter Entwicklungsgesichtspunkten stößt man auf eine Denkbewegung, welche diverse Stadien durchläuft, durch Kritik und Kontroversen zu Entwicklungsschüben und Neuorientierungen vorangetrieben wird und sich bei aller Einheitlichkeit mehr und mehr in einer multilinearen Gestalt entfaltet. Bei alldem darf man behaupten, dass mit einem so verstandenen erweiterten Blick auf den Deutschen Idealismus sehr wohl auch ein Gewinn in einer systematisch-interpretatorischen Hinsicht verbunden ist. Viele Kritikmuster, Problembeschreibungen und Argumente, die man bei Fichte, Schelling oder Hegel findet, lassen sich, wenn die jeweiligen Kontexte beleuchtet werden, besser verstehen und schlüssiger nachvollziehen. Mit den folgenden Ausführungen soll dem Beitrag Reinholds zur Formierungsphase des Deutschen Idealismus Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dass Reinhold im Ensemble der erwähnten Mitstreiter besondere Beachtung verdient, versteht sich aufgrund seiner Pionierleistung in der Etablierung von Fundierungs- und Systemideen, die für den Deutschen Idealismus typisch geworden sind. Reinhold gebührt aber auch deshalb eine Sonderstellung, weil sich sein von vielen Lernprozessen und Denkerfahrungen zeugender Weg des Philosophierens durch eine weitreichende Verarbeitung damaliger Debatten, Kritiken und Neuansätze auszeichnet. In Reinholds Denkprozessen spiegelt sich so gleichsam die Fülle damaliger Kontexte. Bei einer Darstellung seines elementarphilosophischen Denkens lässt es sich kaum vermeiden, zugleich ein Auge auf Herder, Jacobi, Maimon, Schulze, Beck, Schiller sowie auf Personen aus dem eigenen Schüler- und Kollegenkreis und aus dem Kreis der Frühromantiker zu werfen. Und nicht zuletzt muss in seinem Falle das Tübinger Denken, das bei Hegel, Hölderlin und Schelling zu den nicht wegdenkbaren Voraussetzungen ihres Jenaer Philosophierens gehört, zur Sprache kommen. Reinholds um 1800 1

Zu verdanken ist diese Entwicklung zu einem großen Teil den Forschungen zum Deutschen Idealismus, die, beginnend in den 1970er-Jahren, von Reinhard Lauth, Dieter Henrich, Manfred Frank, ­Michael Franz und nicht zuletzt den Herausgebern von Reinholds Gesammelten Schriften und Korrespondenzausgabe initiiert worden sind.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen e­ rfolgte Ausarbeitung eines Systems des Rationalen Realismus beruht auf einer Aneignung logisch-metaphysischer Räsonnements des ebenfalls im Tübinger Denken verwurzelten Christoph Gottfried Bardili. Reinholds Schaffen führt so interessanterweise zu einer nochmaligen, und dabei für das Verständnis der Identitätsphilosophie Schellings und Hegels sehr erhellenden, Synthese von Tübinger Vereinigungsdenken und Jenaer Kantianismus. Wir werden Reinholds System des Rationalen Realismus hier nicht eigens behandeln können, werden es aber bei perspektivischen Ausblicken da und dort streifen.

II. Der Kantianismus Reinholds. Auftakt zur Frühphase des Deutschen Idealismus Reinholds Mitte der 1780er-Jahre einsetzende Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft bildet den Auftakt zur Frühphase des Deutschen Idealismus. Ehe wir uns auf die thematische Ausrichtung und genauere Programmatik dieser Beschäftigung konzentrieren wollen, sei an einige Fakten zu Reinholds intellektuellem und aufklärerischem Werdegang erinnert.2 Der 1757 geborene Reinhold durchlief in Wien bei den Jesuiten und Barnabiten die Ausbildung zum Priester und Lehrer der Philosophie. Gleichzeitig betätigte er sich als ein den josephinischen Reformbemühungen im damaligen Österreich zugewandter Literat und Aufklärer. Er wurde Mitglied bei den Wiener Illuminaten und erreichte die Stellung eines „illuminatus minor“. Die mit der Zeit unerträglich gewordene Doppelexistenz als katholischer Priester und freimaurerischer Agitator bewog ihn zur Flucht in den protestantischen Norden. Dank des illuminatischen Netzwerks konnte er zunächst in Leipzig im Kreis des Philosophen und Anthropologen Ernst Platner, danach am Weimarer Gelehrtenhof Fuß fassen, wo ihm Christoph Martin Wieland beim Teutschen Merkur eine neue Lebensgrundlage verschaffte und Herder den Übertritt zum Protestantismus ermöglichte. Der auch im Bereich der Dichtkunst und schönen Wissenschaften ambitionierte Reinhold appellierte um diese Zeit, noch ehe in der Berlinischen Monatsschrift über die berühmte Frage „Was ist Aufklärung?“ debattiert wurde, im Teutschen Merkur an eine aufklärerisch-erzieherische Tätigkeit, die im Zeichen der Vereinigung von Sinnlichkeit, Empfindung und Vernunft stehen sowie als 2

Zur Biographie und Werkgeschichte Reinholds siehe Ernst Reinhold (Hg.), Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn, Jena, 1825, S. 3–124; Reinhard Lauth, „Nouvelles recherches sur Reinhold et l’Aufklärung“, in: Archives de philosophie 41, 1979, S. 593–629; Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph. Eine Studie über den Zusammenhang seines Engagements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und philosophischen Wirken, Frankfurt a. M., 1994; „Kant und Karl Leonhard Reinhold“, in: Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, hg. v. Violetta L. Waibel, Göttingen, 2015, S. 111–180. – Zur Primär- und Sekundärliteratur über Reinhold siehe www.klreinhold.ch

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II. Der Kantianismus Reinholds. Auftakt zur Frühphase des Deutschen Idealismus

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Überwindung von Aberglauben und Unglauben verstanden werden sollte. Er verwickelte sich vor diesem Hintergrund in die Mitte der 1780er-Jahre ausgebrochene Kontroverse zwischen Herder und Kant.3 Der Königsberger Philosoph hatte dem Autor der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit vorgeworfen, geistesartige Kräfte in die Natur zu projizieren und so der Natur und der Geschichte im Übermaß Rechte einzuräumen und die apriorische Vernunft demgegenüber zu Unrecht abzuwerten. Reinhold ergriff spontan für Herders naturfrömmige Haltung Partei, wandte sich aber, nachdem er einsehen musste, dass er den zunächst anonym auftretenden Kontrahenten Herders fälschlicherweise als orthodoxen Verstandesmetaphysiker eingeschätzt hatte, umgehend und mit großer Begeisterung Kant und dessen neuester Philosophie zu. Kants kritisches Vermittlungsdenken, auf das er unterdessen gestoßen war, entsprach offenbar ganz den eigenen Vorstellungen eines aufgeklärten Philosophierens. Reinhold sah in der Kritik der reinen Vernunft, die er sogleich fünfmal hintereinander las, „das neue Evangelium der reinen Vernunft“4 und veröffentlichte die in der damaligen Gelehrtenwelt auf große Resonanz stoßenden Briefe über die Kantische Philosophie.5 1787 erhielt Reinhold, auf Empfehlung Herders und unterstützt durch den Weimarer Regierungsrat Christian Gottlob Voigt,6 einen Ruf als Professor der Philosophie an die Universität Jena und entwickelte sich neben Christian Gottfried Schütz, Gottlieb Hufeland und Carl Christian Erhard Schmid zu einer weiteren Speerspitze des dortigen Kantianismus. Es kam zu Begegnungen mit dem sich ab Frühjahr 1789 zur Jenaer Professorenschaft hinzugesellenden Schiller, die sich als produktiv für die Herausbildung eines ästhetisch-teleologischen Kantianismus erweisen sollten. Bis 1796 widmete sich Reinhold, der ab 1794 an die Universität Kiel gewechselt und seine Stelle in Jena Fichte überlassen hatte, der als „Organisation des kantischen Systems selbst“7 umschriebenen Aufgabe, das kantische System der Vernunftkritik zu vervollständigen. Innerhalb dieses Aufgabenspektrums hielt er Vorlesungen zur Kritik der reinen Vernunft,8 zu Ästhetik (darunter zu Wielands Oberon), zu Moral- und Rechtsphilosophie sowie zur Geschichte der Philosophie. In direktem Zusammenhang damit erarbeitete er, beginnend mit dem 1789 erschienenen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 3

Zu Reinholds Rolle in dieser Kontroverse siehe Martin Bondeli, „Von Herder zu Kant, zwischen Kant und Herder, mit Herder gegen Kant – Karl Leonhard Reinhold“, in: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, hg. v. M. Heinz, Amsterdam/Atlanta, 1998, S. 203–234. 4 Siehe Karl Leonhard Reinhold, Korrespondenzausgabe 1773–1788, hg. v. Reinhard Lauth, Eberhard Heller u. Kurt Hiller, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1983, S. 153. 5 Zu Entstehung, Inhalt und Wirkung von Reinholds Gesamtprojekt der Briefe über die Kantische Philosophie siehe die Einleitungen in Karl Leonhard Reinhold, Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. v. Martin Bondeli, Bde. 2.1 u. 2.2, Basel, 2007/2008. 6 Zu dieser Unterstützung trug unter anderem das ausführliche Schreiben Reinholds an den Weimarer Regierungsrat Voigt von Anfang November 1786 bei (siehe Reinhold, Korrespondenzausgabe 1773– 1788, S. 145–157). 7 Siehe Reinhold, Korrespondenzausgabe 1773–1788, S. 153. 8 Zu dieser Vorlesung siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 12, Vorlesungsnachschriften, hg. v. Faustino Fabbianelli u. Erich Fuchs, Basel, 2015.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen sein eigenes, von analytisch geläuterten Resultaten Kants ausgehendes System der Elementarphilosophie. Nach längeren, intensiven Selbstverständigungen über das eigentliche und tiefere Fundament ebendieses Systems schloss Reinhold sich Ende 1796 der Konzeption der drei Ich-Grundsätze aus Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre an und suchte gleichzeitig nach einer neuartigen Synthese dieser Konzeption mit der Glaubenslehre Jacobis. Im Grunde war dies nur das Präludium zu einer weit markanteren Neuorganisation seiner Pläne und Ideen zu einem kommenden System der Philosophie überhaupt. Von 1800 bis 1806 ergriff er, in Kooperation mit dem im Tübinger Stift ausgebildeten und dort zur Ausbildungszeit Hölderlins, Hegels und Schellings als Lehrer wirkenden Christoph Gottfried Bardili, Partei für das System des Rationalen Realismus, was erklärtermaßen einer – auch selbstkritisch verstandenen – Abkehr von einem mit Kant und Fichte in Gang gesetzten Idealismus und Subjektivismus gleichkam. Bis zu seinem Lebensende im Jahre 1823 verfolgte Reinhold daraufhin das sich bereits in seinen früheren Denkstadien ankündigende Projekt einer neuen, sprachphilosophischen Prima philosophia, wobei er in den diesbezüglichen Systemexpositionen großenteils auf die mit der Lehre des Rationalen Realismus bereitgestellte philosophische Terminologie zurückgriff. Am Ende wurde in diesem Denkhorizont eine wahrheitstheoretische Richtung eingeschlagen und der sprachphilosophische Ansatz zum Ausgangspunkt einer Beantwortung der alten Frage genommen, was unter „Wahrheit überhaupt“ zu verstehen sei. Insgesamt spiegelt sich in Reinholds philosophischer Odyssee ein lernwilliges, wiederholt durch neue Einsichten bereichertes, kritisch-selbstkritisches Systemdenken. Bei seinen Zeitgenossen ist dies in der Regel verkannt worden. Die mehrmaligen Umorientierungen haben ihm in erster Linie den Ruf eines unselbstständigen, anlehnungsbedürftigen Denkers eingetragen. Was ihm allerdings sowohl seine Mitstreiter als auch seine vehementesten Kritiker stets anerkennend attestiert haben, ist sein mutiges und konsequentes literarisches und organisatorisches Wirken im Geiste der illuminatischen Aufklärung. Mitte der 1790er-Jahre rief Reinhold in einem Kreis von Gelehrten und einflussreichen Politikern zur Gründung eines „moralischen Bundes“ auf, dem es vorbehalten sein sollte, der kantischen Moralität ein objektives Dasein zu verschaffen. Der Bund sollte in der Funktion eines kommenden ethischen Staates die moralischen, religiösen und staatsrechtlichen Grundlagen der Gesellschaft erneuern.9 Doch bereits von Anbeginn war Reinholds kantisches Philosophieren mit reformerischen, ab 1789 auch revolutionär-eschatologischen Aufklärungsideen über das Herannahen einer neuen Menschheitsepoche verwoben. Und die Aufgabe, sich ganz der Organisation des kantischen Systems zu widmen und dieses zu vollenden – eine Aufgabe, der sich übrigens auch Fichte 1794 bei seinem Antritt in Jena verpflichtet sah –, ist gleichfalls in diesem Rahmen zu sehen. Sie entstammt einem illuminatischen Lehr- und Reformgedanken, 9

Siehe Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, S. 137–140.

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bei dem man sich auf Betreiben Reinholds nicht mehr nur auf vorkantische Aufklärer, sondern nun auch und vor allem auf Kant als neue Leitfigur berief.10 Bis in seine spätesten Jahre, und damit auch in Zeiten, in denen das europäische Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts einem Geist der restaurativen Gegenaufklärung weichen musste, bemühte Reinhold sich um die Neugründung oder Reaktivierung aufklärerischer Freimaurerzirkel.

Aufklärung als Anwendung und Verteidigung der Philosophie Kants Die Art und Weise, wie Reinhold die Philosophie Kants bis zur Zeit seines Anschlusses an Fichte rezipiert, gewichtet, neu darstellt, verbessert und damit auch kritisiert, ist vielschichtig. Reinhold ist Verehrer Kants, Aufklärer und Prophet im Geiste Kants, Vermittler kantischer Hauptresultate, loyaler Mitstreiter Kants im Kampf gegen renitente Kritiker, wirkungsreicher Systematisierer des kantischen Lehrsystems und einzelner kantischer Lehrstücke. Gleichzeitig profiliert er sich als eigenwilliger Denker im Geiste Kants und wird so schließlich Begründer der durch kantische Systematiken geprägten und zunehmend durch eigenständige Pläne dominierten Elementarphilosophie. Wie bei Fichte, Schelling und Hegel ist bei Reinhold ein durch die theologische Ausbildung bedingtes religiöses Aufklärungsinteresse für den Zugang zu Kant von eminenter Bedeutung. Es sind die Absage an eine sowohl supernaturalistische als auch unkritische rationale Theologie und die Befürwortung einer neuen, auf der moralischen Vernunft beruhenden Glaubenshaltung, die ihn zunächst bei der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft faszinieren.11 Erst nach einer gewissen Zeit nimmt er zu den erkenntnistheoretischen und metaphysikkritischen Teilen aus Kants Hauptwerk Stellung. Diesem Befund entspricht, dass er in einer anfänglichen, mit der Abfassung der ersten Serie der Briefe über die Kantische Philosophie einhergehenden Denkphase die Anwendung Kants, namentlich die Anwendung von Kants Moralitäts- und Freiheitsbegriff auf Religion, Recht und Geschichte, in den Mittelpunkt stellt und noch keineswegs darauf aus ist, mit Kant über Kant hinaus zu schreiten und dessen Grundlegungen der theoretischen und praktischen Vernunftkritik unter Voraussetzung höherer Prämissen zu entfalten. Reinhold liefert mit dieser Anwendungsetappe, in deren Zusammenhang er erstmals beiläufig die Idee eines neuen Systems der Metaphysik artikuliert, das von Kants „mora­ lischem Erkenntnißgrund“ als „erstem Grundsatz“ auszugehen habe,12 das Paradigma eines praktischen Kantianismus, an das sich nicht wenige seiner aufgeklärten

10 Siehe ebd., S. 106–110. 11 Aufschlussreich in dieser Sache ist unter anderem der erste Brief Reinholds an Kant vom 12. Oktober 1787 (siehe Reinhold, Korrespondenzausgabe 1773–1788, S. 270–276). 12 „Denn so wie der moralische Erkenntnißgrund als der einzige probehältige fest steht, erhalten die Notionen, welche von der Ontologie, Kosmologie und Physikotheologie zum Lehrgebäude der reinen Theologie geliefert werden, auf einmal Inhalt, Zusammenhang und durchgängige Bestimmung.“ (Reinhold, Gesammelte Schriften, Band 2.1, S. 113.)

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen ­ eitgenossen, darunter offenbar auch der Hegel der Tübinger und Berner Jahre,13 halZ ten werden. Zu den aufklärungsstrategischen Schwerpunkten von Reinholds Kantianismus gehört das Bestreben, den Zusammenhalt unter den Anhängern Kants zu festigen und die Kritiker Kants in die Schranken zu weisen. Was letzteres betrifft, galt es im Laufe der 1780er-Jahre gegen eine ganze Phalanx von Gegnern der im Aufschwung begriffenen kritischen Philosophie anzutreten.14 Kurz nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft meldete sich eine Fraktion von Neo-Empiristen, angeführt durch Johann Georg Heinrich Feder und Christian Garve, zu Wort, die der Überzeugung Ausdruck verlieh, in Kants transzendentalem Erkenntniskonzept manifestiere sich bald ein haltloser Subjektivismus und Idealismus, bald ein von aller Empfindung und wirklichen Erfahrung absehender Apriorismus und Formalismus. Es folgten seit Mitte der 1780erJahre gegen Kant gerichtete Einlassungen Herders und Jacobis, die im Vorwurf gipfelten, der kantische Vernunftbegriff sei Ausdruck einer schädlichen autonomistischen Fiktion, zumal er aus einer Abstraktion von allem sprachvermittelten und historischen Denken sowie von dem authentischen Fundament aller Gewissheit und Wahrheit, dem Glauben, resultiere. Gegen Ende der 1780er-Jahre trugen, beginnend mit Johann August Eberhard, die Neo-Leibnizianer ihren Teil zur Polemik gegen Kant und dessen Anhängerschaft bei. Eberhard und seine Anhänger spielten alle neuen Einsichten Kants herunter und wollten demonstrieren, dass bereits der esoterische Leibniz ein Programm der kritischen Vernunft verfolgt und es überdies weit überzeugender, als dies nun beim Königsberger Philosophen geschehen sei, dargelegt habe. Hinzu kamen schließlich die Neo-Skeptiker. Diese waren der Ansicht, der Hume’sche Skeptizismus könne mit dem Auftreten von Kants Kritizismus keineswegs als überwunden gelten. Gegen alle diese Attacken, die nach 1789 großenteils auch gegen die Elementarphilosophie gerichtet wurden und deren Kritikmuster nach 1800 unter neuen Vorzeichen zum Repertoire der Kant-Kritik Schellings und Hegels gehören sollten, warf Reinhold sich ins Feuer, wobei er im Falle des Streites gegen Eberhard bei seinem Lehrmeister auf tatkräftigen Sukkurs zählen konnte.15 Was Reinhold bei seiner Verteidigung der Vernunftkritik Kants und der eigenen Elementarphilosophie in methodischer Hinsicht auszeichnet, ist der Versuch, den Kampf nicht nur mit einzelnen Sachargumenten zu führen, sondern auch mittels eines Kritikverfahrens, zu dem Johann Heinrich Lambert mit seiner Auffassung von „Sys13 Zu Hegels Kantianismus in der Berner Zeit siehe Martin Bondeli, „Der philosophische Entwicklungsgang des frühen Hegel. Versuch einer Bilanz“, in: Helmut Schneider, Klaus Vieweg (Hg.), Das Denken des jungen Hegel im Kontext seiner Zeit, Bochum, 2018, S. 3–31. 14 Näheres zu den ersten Gegnern Kants siehe in Ueberweg. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5.2, hg. v. Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch, Basel, 2014, §§ 44, 47. 15 Man denke an Kants Streitschrift gegen Eberhard (Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll), in deren Vorfeld es zu einem engeren Kampfbündnis Reinholds und Kants kam.

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tematologie“ – einer Verständigung über das Wesen und die Arten von philosophischen Systemen und Systemstreiten16 – relevante Anstöße gegeben hatte. Diesem Verfahren zufolge macht Reinhold die Kontrahenten Kants an philosophischen Systemgegensätzen klassischer Art fest, so zur Hauptsache an jenen von Materialismus und Spiritualismus, Empirismus und Rationalismus, Dogmatismus und Skeptizismus, Determinismus und Indeterminismus. Danach spielt er die jeweiligen Systeme gegeneinander aus und porträtiert schließlich Kants Position der kritischen Vernunft dahingehend, dass mit dieser die richtigen Einsichten innerhalb der bisherigen Systeme herausgefiltert und dadurch die Gegensätze erfolgreich überwunden worden sind. Kant ist dadurch in den Augen Reinholds derjenige, der im Blick auf bestehende Streitkonstellationen die Dinge dank seiner kritisch-analytischen Fähigkeiten zunächst separiert und danach richtig zusammengeführt hat. In diesem Sinne tritt Kant Reinhold zufolge denn auch keineswegs bloß in der von Moses Mendelssohn behaupteten Rolle eines neuen, „alles zermalmenden“ Denkers17 in Erscheinung. Nachdrücklich zeichnet Reinhold dieses kritisch-konstruktive Kant-Bild bei der Beurteilung der damals gängigen, zwischen Lessing, Jacobi, Mendelssohn und einer Reihe orthodoxer Theologen ausgefochtenen Parteienstreite bezüglich der Frage des Daseins Gottes. Kant, der im Blick auf die diesbezüglichen Fehden erstmals mit der nötigen Deutlichkeit den „Theisten“ als Anhänger eines lebendigen, personalen Gottes von dem „Deisten“, der Gott als eine anonyme Weltursache interpretiert, abgehoben18 und vom Standpunkt der praktischen Vernunft aus für einen moralischen Theismus Partei ergriffen hat, wird von Reinhold zur neuen Lichtgestalt erhoben, die dem nach Orientierung Suchenden den einzig richtigen Ausweg zeigt aus einer unfruchtbaren Streitkonfiguration zwischen den vier Parteien des dogmatischen Skeptizismus (Hume), Supernaturalismus (Jacobi, Lavater), Naturalismus oder Atheismus (Spinoza) und dogmatischen Theismus (Leibniz, Locke, Mendelssohn).19 Vor diesem Hintergrund kann Reinhold schließlich dafür argumentieren, dass der 1785 in Gang gesetzte Pantheismusoder Spinozastreit zwischen Jacobi und Mendelssohn – ein Streit, der gleichzeitig die Frage der richtigen Aufklärung betraf und der bis in die Spätphase des Deutschen Idealismus nachwirkte und für Vorwürfe des Atheismus sorgte – auf der Grundlage der seit 1781 präsenten moraltheologischen Position Kants „schon einige Jahr vorher entschieden war, als er wirklich ausbrach“.20 Kant, so Reinhold, habe einen moralischen Vernunftglauben inauguriert, der in optimaler Weise zwischen Wissen und Glauben vermittle und somit jede weitere Neubehandlung dieses Spannungsfeldes überflüssig 16 Man beachte in dieser Sache Lamberts 1787 veröffentlichtes „Fragment über Systematologie“, in: Logische und philosophische Abhandlungen, zum Druck befördert von J. Bernoulli, Bd. 2, Leipzig, 1787, S. 385–413. 17 Siehe Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin, 1785, Vorbericht.  – Zu Reinholds kontroverser Haltung bezüglich dieser Einschätzung siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Band 2.1, S. 112. 18 Siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [im Folgenden KrV], nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. v. Jens Timmermann, Hamburg, 1998, A 631–633 / B 659–661. 19 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Band 2.1, S. 86–89. 20 Ebd., S. 94.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen mache. Nicht erstaunlich war, dass Reinhold mit Kant-Apologien dieser Art stets auch den Zorn oder Spott vieler gestandener Theologen auf sich zog. Der die damalige Tübinger Theologie und Philosophie repräsentierende Johann Friedrich Flatt beispielsweise hielt die Vier-Parteien-Theorie Reinholds für „nichts weniger als allgemeingültig“,21 mit anderen Worten: für eine reine Kopfgeburt. Flatt missbilligte und persiflierte Reinholds kantisch-moraltheologischen Übereifer.22

Vollendung der Philosophie Kants. Systematisierung und innovative Fortführung Konzentriert man sich auf die Texte, die Reinhold im Rahmen seiner Aufgabe der Vollendung Kants unterbreitet hat, ist über das Bemühen der Systematisierung und Vervollständigung einschlägiger Ergebnisse des Systems der Vernunft zu sprechen. Reinhold legt es darauf an, Programme auszuführen, die von Kant kurz umrissen oder nur reduziert in Angriff genommen worden sind. Zu einer großen Herausforderung wird für ihn in der Rolle des Organisators des kantischen Systems der von Kant in den Endpassagen der ersten Kritik konturierte Plan zu einem kommenden „System der reinen Vernunft“, das aus einer „Metaphysik der Natur“ und einer „Metaphysik der Sitten“ bestehen und das die „Kritik“ als „Propädeutik“ in dieser Sache zu einem Abschluss bringen soll.23 Im Weiteren erweist Reinhold sich als äußerst versiert in der mit Ansprüchen der Vertiefung und Ergänzung einhergehenden Rekonstruktion von begrifflichen Einteilungen und Tabellen aus Kants Kritiken. Herausragende Beispiele im Blick auf Kants erste Kritik sind Reinholds minutiöse Herleitungen sowohl der Urteilsformen und Verstandeskategorien als auch der Schlussformen und Vernunftideen auf der Basis einer Triade von Einheit, Vielheit sowie Einheit von Einheit und Vielheit.24 Der junge Schelling hat diese Herleitungen als „Meisterstück philosophischer Kunst“ und Vorbild für eigene Denkschritte betrachtet.25 Im Blick auf die zweite Kritik springt Reinholds Bemühen ins Auge, auf der Grundlage von vier Grundformen der moralischen Verbindlichkeit eine stringentere Zusammenstellung der von Kant tabellarisch festgehaltenen „praktisch materialen Bestimmungsgründe im Prinzip der Sittlichkeit“26 zu präsentieren.27 Reinhold ist in diesem 21 Siehe Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, hg. u. eingel. v. Faustino Fabbianelli, Hildesheim u. a., 2003, S. 51. 22 Zur Kritik Flatts an Reinhold in diesem Punkt siehe Michael Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen, 1996, S. 133–138. 23 Siehe KrV A 841 / B 869. 24 Zu diesen Herleitungen, die Reinhold sowohl im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens als auch in seiner Vorlesung zur Kritik der reinen Vernunft präsentiert hat, siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Martin Bondeli u. Silvan Imhof, Basel, 2013, S. 283–294, 320–355; Bd. 12, S. 275–280, 335–343. 25 Siehe Friedrich Wilhelm Schelling, Sämtliche Werke, Bd. 1.1, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart, 1856 ff., S. 110. 26 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902 ff., Bd. V, S. 40. 27 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 60–73.

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Bereich seiner Kant-Exegese auch durchaus originell, so etwa, wenn er auf der Basis von Kants Schulbegriff der Philosophie („Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun Philosophie“)28 eine neue – auf Hegel vorausweisende – Darstellungsmethode und Einteilung der Philosophiegeschichte zur Diskussion stellt29 und damit umgehend Philosophiehistoriker wie Gustav Fülleborn und Wilhelm Gottlieb Tennemann inspiriert. Sprechen muss man aber auch und vor allem über die eigenwillige Seite von Reinholds Kant-Vollendung. Reinhold hat sich, nimmt man seine späteren Klassifizierungen zur Schule Kants zum Maßstab,30 zu den „selbstdenkenden“ und nicht „nachbetenden“ Kantianern gezählt. Er hat, mit anderen Worten, Wert auf ein eigenständiges Philosophieren im Anschluss an Kant gelegt. Ausdruck dieser Haltung ist dabei nicht nur die Errichtung des Systems der Elementarphilosophie, auf das wir im nächsten Abschnitt eingehen, sondern auch das auffällige Bemühen, Lehrstücke Kants mitzugestalten, zu konkretisieren und so Kant bei dessen eigenen Fortsetzungsarbeiten zu einer Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten zur Seite zu stehen. Reinhold erbrachte denn auch in der Tat wiederholt Vorleistungen, auf die Kant sich bei einer detaillierteren Ausgestaltung bestimmter Theoriestücke und Systemteile beziehen konnte. So hat Reinhold in der Absicht, Kant bei dessen Abschluss der damals noch als „Critik des Geschmaks“ betitelten dritten Kritik zu unterstützen, eine mit dem Gedanken der ästhetischen Vermittlung von erkennender und moralischer Vernunft operierende Theorie des Vergnügens aufgestellt, zu der er sich erstmals 1788 und 1789 im dreiteiligen Aufsatz „Ueber die Natur des Vergnügens“31 öffentlich geäußert hat. 1792 wird im Rahmen des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie in scharfsinniger Weise zu den im Lager der Kantianer generell akzeptierten, im Detail aber umstrittenen Begriffen der Moralität, des Rechts und der Freiheit des Willens Stellung genommen.32 Kant, der allgemein an den großen Fähigkeiten und Verdiensten Reinholds keinen Zweifel ließ, hat allerdings auf diesem Gebiet der Zusammenarbeit eher zurückhaltend auf die Avancen seines gleichermaßen gelehrigen wie innovativen Schülers reagiert und sich in einigen Punkten sogar zu kritisch-belehrenden Eingriffen aufgefordert gesehen.33

28 KrV A 838 / B 866. 29 Entscheidend ist hier der Aufsatz „Ueber den Begriff der Geschichte der Philosophie“ (Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, hg. v. Martin Bondeli u. Silvan Imhof, Basel, 2016, S. 101–118). Zu Reinholds Einfluss auf Hegel siehe Martin Bondeli, „The History of Philosophy as Progress towards a System of Reason“, in: Gerald Hartung, Valentin Pluder (Hg.), From Hegel to Windelband. Historiography of philosophy in the 19th Century, Berlin/Boston, 2015, S. 63–80. 30 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, hg. v. Martin Bondeli u. Silvan Imhof, Basel, 2017, S. 93. 31 1796 wiederveröffentlicht unter dem Titel „Ueber die bisherigen Begriffe vom Vergnügen“ (Reinhold, Gesammelte Schriften, Band 5.1, S. 133–170). 32 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 129–206. 33 Näheres dazu bei Martin Bondeli, „Reinhold im Anschluss an Kant über Geschmack, Moral und moralische Religion“, in: Rudolf Langthaler, Michael Hofer (Hg.), Kant und die Folgen. Die Herausforderung in Ästhetik, Ethik und Religionsphilosophie, Wiener Jahrbuch für Philosophie XLVIII, 2016, S. 11–33.

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III. Die Elementarphilosophie. Das Protosystem des Deutschen Idealismus Es ist fraglos das Projekt der Elementarphilosophie, mit dem Reinhold während seiner kantischen Denkperiode ein sehr eigenständiges und einflussreiches philosophisches Profil gewinnt. Die Elementarphilosophie beinhaltet den architektonischen Grundzügen nach eine Neudarstellung der theoretischen und praktischen Vernunftkritik Kants in der Form eines dreiteiligen Gesamt- und Einheitssystems. Dieses besteht aus einem Grundlagenteil, Theorie des Vorstellungsvermögens genannt, und zwei darauf errichteten Hauptteilen, erstens einer Theorie des Erkenntnisvermögens, welche, einer Grobgliederung der Elementarlehre von Kants erster Kritik folgend, in Theorien der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft zerfällt, zweitens einer Theorie des Begehrungsvermögens, in der Lehrstücke aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft zu den Bestimmungen des Sittengesetzes sowie zu den Gründen, Zwecken und Triebfedern der Moralität den roten Faden bilden. In Bezug sowohl auf die Systemarchitektonik als auch auf die Systemkomposition wird darauf geachtet, dass von einem sicheren und innerhalb des Systemaufbaus Fortsetzbarkeit ermöglichenden Fundament ausgegangen wird. Bei diesem Fundament soll es sich um das als Tatsache einzustufende Vermögen des menschlichen Bewusstseins handeln. Gemeint ist die sich in diesem Vermögen manifestierende Struktur von vorstellendem Subjekt, vorgestelltem Objekt und Vorstellung als beziehendem und unterscheidendem Moment. Reinhold bringt diese Struktur gleichzeitig als ersten Grundsatz oder „Satz des Bewußtseyns“ auf den Begriff (im Bewusstsein werden Subjekt und Objekt durch die Vorstellung voneinander unterschieden und aufeinander bezogen). Anhand dieser Grundstruktur des Vorstellens oder Bewusstseins soll das gesamte Systemgebäude vereinheitlicht und geordnet werden. Dies impliziert eine Verständigung über das genauere Ableitungs- oder Ordnungsverhältnis von Grundsatz und Folgesätzen, eine Verständigung, die Reinhold meist in einem Metabereich seiner direkten Systemarbeiten vorantreibt. Den Umfang und die detaillierte Einteilung betreffend, besteht seit 1790 der Plan, das dreiteilige System auf der Basis der Unterscheidung von reiner und empirischer sowie theoretischer und praktischer Philosophie auszudifferenzieren und auf mehrere angewandte Einzeldisziplinen auszuweiten.34 Reinhold nennt sein System, das demnach ähnliche Dimensionen kennt wie Kants Metaphysik der Natur und der Sitten, Fichtes System der Wissenschaftslehre oder Hegel enzyklopädisches System der Logik und Metaphysik, von diesem Zeitpunkt an „Philosophie überhaupt“ oder „Philosophie ohne Beynamen“. Der in der damaligen Diskussion wie auch später in der Forschung verwendete Titel „Elementar-Philosophie“ steht genau genommen für die in strenger 34 Zu diesem Plan und zu den betreffenden Einteilungen siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Bd. 1, Jena, 1790, S. 85–90.

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Form wiedergegebene „Theorie des Vorstellungsvermögens“, mithin nur für den Basisund Kernbereich des skizzierten Gesamtsystems.35 Was die Durchführung des Systemplanes angeht, hat Reinhold mit dem zweiten und dritten Buch seines 1789 veröffentlichten Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens den vorstellungstheoretischen Grundlagenteil sowie die Theorien des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens in der Form eines verhältnismäßig kompakten und ausführlichen Gesamtentwurfs vorgelegt. Beginnend mit dem zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1792 hat er zudem die 1789 durch Beiträge zu den Grundsätzen der Moral, des Naturrechts und der moralischen Religion vorbereitete, als Bestandteil des Gesamtsystems aber noch sehr schemenhaft gebliebene Theorie des Begehrungsvermögens nach und nach in einen elaborierteren Zustand überführt. Dieser Systemteil wird vor allem innerhalb der seit 1794 gehaltenen Vorlesung über Moral und Naturrecht36 fortentwickelt und mit der 1798 erschienenen Schrift Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität aus dem Gesichtspunkte des gemeinen und gesunden Verstandes37 in eine reifere Fassung gebracht. Mit diesen Ausführungssequenzen hat Reinhold, gemessen an seinen Systemplänen und programmatischen Vorgaben, allerdings nur Teilziele erreicht, und diese offensichtlich in einer Art und Weise, die ihn nur beschränkt befriedigt hat. Die hohen ­systematischen Ansprüche und die Auseinandersetzungen mit Kritikern haben von Anbeginn aufwendige Revisionsschritte aufgenötigt. Diese ihrerseits haben die vorgesehenen Fortsetzungs- und Erweiterungsarbeiten mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Vor allem die Lehrsätze und Erörterungen zum Fundament des Systems und zu den darunter subsumierten Folgebestimmungen sind umgehend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten und haben zahlreiche Klärungen, Präzisierungen, nachträgliche Erläuterungen wie auch Neufassungen nach sich gezogen. 1790 erscheint mit der „Neuen Darstellung der Hauptmomente der Elementarphilosophie“38 eine revidierte Fassung zu einem lediglich ersten, fundamentalen Stück des Gesamtentwurfs von 1789, eines Gesamtentwurfs, dem Reinhold überdies fortan nur noch die Funktion einer Propädeutik zu dem noch zu liefernden System zuerkennen möchte. 1791 wird mit der Programmschrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens39 eine systematisch dichte und gegen diverse Kritiken gerichtete Betrachtung zum Satz des 35 Siehe ebd., S. 86. 36 Eine Übersicht vermittelt Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, S. 186 f. – Mehrere Nachschriften dieser Vorlesung sind heute transkribiert und werden in absehbarer Zeit von den Herausgebern der Gesammelten Schriften Reinholds zugänglich gemacht. 37 Zur kommentierten Neuedition dieser Schrift, mit der auch Reinholds illuminatisches Schaffen im Zusammenhang des „moralischen Bundes“ dokumentiert wird, siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 6.1, hg. v. Sabine Röhr, Basel, 2021. 38 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 165–254. 39 Neu ediert, eingeleitet und kommentiert in Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. Martin Bondeli, Basel, 2011.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Bewusstseins publiziert. Kurz darauf kommt es nach einer Vergegenwärtigung des ­Befundes, dass philosophische Thesen, Begründungen und Argumente an einen die Sache verdeutlichenden Entwicklungs- und Lernprozess gebunden sind, zu vertiefenden Einlassungen zum Verhältnis von gesundem Menschenverstand und philosophierender Vernunft. Reinhold möchte dieses Verhältnis, an das im damaligen philosophisch-pädagogischen Diskurs Forderungen der Vermittlung von populärem und gelehrtem Philosophieren geknüpft werden, fortan als Überlegungsgleichgewicht in einen Zusammenhang mit der Wissensbegründung gestellt sehen. Die Forderung ­lautet hier, dass bei einer Begründung von Wissen in flankierender Weise eine ­Ausbalancierung von Fakten des gesunden Verstandes und rechtfertigender, philosophierender Vernunft mitbedacht werden muss. Gleichzeitig geht Reinhold dazu über, seine Grundsatzreflexion zum Bewusstseinsbegriff als ein Denken und Erkennen transzendentaler Art kenntlich zu machen. Die Bereiche und Methoden des empirischen, transzendentalen und transzendenten Philosophierens werden auf diese Weise schärfer voneinander abgegrenzt. Aufgrund dieser Neumodellierungen, aber auch bestärkt durch die bei der Ausarbeitung des praktischen Systemteils gewonnene Einsicht, der Begriff der Willensfreiheit sei als das Fundament der Theorie des Begehrungsvermögens zu betrachten, folgt 1792 ein begrifflich konzentrierter Neuentwurf des Grundlegungsteils.40 Im Mittelpunkt steht die Einsicht, dass – um die Fortsetzbarkeit des Systemfundaments zu sichern – nicht von dem Satz des Bewusstseins allein ausgegangen werden kann, sondern gleichzeitig eine Pluralität von unter diesem stehenden transzendentalen Sätzen des Bewusstseins und Selbstbewusstseins hinzugezogen werden muss. 1795 kristallisiert sich ausgehend von einer Neudurchdringung bisheriger Ideen zum Fundament des Begehrungsvermögens ein weiterer Neuansatz heraus, der für das gesamte System richtungweisend ist. Seit 1792 hält Reinhold es für konsequent, das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft auf der Basis eines Begriffs der Vernunft überhaupt und damit ausgehend von einer Grundstruktur der Selbsttätigkeit zu rekonstruieren. Dies führt ihn zu der Einsicht, ein Primat der praktischen Vernunft sei in Bezug nicht nur auf das Interesse, sondern auch auf die der Vernunft eigene Struktur der Selbsttätigkeit zu vertreten. Die Direktive dazu lautet, dass der Primat einer praktischen, unbedingt selbsttätigen, vor der theoretischen, nur bedingt selbsttätigen Vernunft zu verteidigen sei. Mit diesem Fazit einer zweifachen und abgestuften Form von Selbsttätigkeit, das sich in der Sache Fichtes Grundsatzreflexion aus der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre annähert, von dieser aber bewusst noch fernhält, beschließt Rein40 „Ueber den Unterschied zwischen dem gesunden Verstande und der philosophierenden Vernunft in Rücksicht auf die Fundamente des durch beyde möglichen Wissens“, in: Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 1–72. – Der Aufsatz wurde von Reinhold bereits 1792 niedergeschrieben. Dieter Henrich hat ihn als Schlüsseltext für Reinholds „Elementarphilosophie II“, die sich durch ein radikal erneuertes Grundlagenkonzept auszeichnen soll, eingestuft (siehe Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart, 1991, S. 234–244.

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hold seine im Rahmen der Elementarphilosophie unternommenen Versuche einer Beantwortung der philosophischen Fundamentfrage.41 Während Reinhold in Teilbereichen der Theorie des Begehrungsvermögens bis in die späten 1790er-Jahre  – und damit über den erklärten Endpunkt der elementarphilosophischen Denkperiode hinaus  – unverkennbare Fortschritte erzielt, gestalten sich seine Revisionen des Grundlagenteils von Beginn an zähflüssig und werden zunehmend zu einem Hemmnis in der Durchführung des Gesamtunternehmens. Allerdings hindert die nicht nach Wunsch gelingende Realisierung des Systemvorhabens Reinhold nicht, sich mit gewichtigen und systematisch gewinnbringenden Analysen und Einzelerörterungen, die das Fundament und die Grundkomposition der Elementarphilosophie betreffen, zu Wort zu melden. Was genau soll als das Fundament oder oberste Prinzip der Philosophie überhaupt angenommen werden? Welcher ontologische Status soll einem solchen Prinzip zukommen? Welche Funktion soll dieses Prinzip im Hinblick auf die Systemdarstellung erfüllen? Die Antworten, die Reinhold auf diese und weitere damit zusammenhänge Fragen gibt, setzen bei Sondierungen und Defizitbeschreibungen zu dem von Kant gelieferten Fundament der Vernunftkritik an. Danach drehen sie sich um Darlegungen und Rechtfertigungen zu dem von eigener Seite unterbreiteten Verbesserungsvorschlag.

Die Frage nach dem Fundament von Kants Vernunftkritik Reinhold zufolge ist es alles andere als leicht, schlüssig zu zeigen, was eigentlich als das Fundament von Kants Vernunftkritik zu gelten hat.42 Ist es der Gattungsbegriff der „Vorstellung überhaupt“43, das heißt jener Begriff, den Kant an oberster Stelle seiner „Stufenleiter der Vorstellungsarten“ erwähnt hat? Ist es das als ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption zu begreifende „Ich denke“ und damit das Vermögen des Verstandes, Einheit und Denkbarkeit in das Mannigfaltige der Anschauungen zu bringen – ein Vermögen, das nach Kant erklärtermaßen der „höchste Punkt“44 ist, an dem der ganze Verstandesgebrauch, die Logik und Transzendentalphilosophie festzumachen sind? Ist es der „oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile“45, den man als das einschlägige Beweisprinzip der Ermöglichung von Erfahrung und der objektiven Gültigkeit synthetischer Erkenntnis a priori ansehen kann? Oder ist vielmehr an das Vermögen der praktischen Vernunft zu denken und vom Sittengesetz als höchstem Prinzip 41 Man beachte in dieser Sache den 1795 entstandenen Aufsatz „Ueber den Einfluß der Moralität des Philosophen auf den Inhalt seiner Philosophie“, in: Reinhold, Gesammelte Schriften, Band 5.1, S. 31 f. – Im Zusammenhang dieser an den eigenen Begriff der Willensfreiheit anschließenden Fundamentreflexion Reinholds kann man von einer Elementarphilosophie III sprechen. 42 Dazu vor allem Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 257–338; sowie die einschlägigen Kantkritischen Passagen in Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4. 43 Siehe KrV A 320 / B 376 f. 44 Siehe KrV B 133 f. 45 Siehe KrV A 158 / B 197.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen auszugehen? Die Schwierigkeit, sich hinsichtlich dieser Optionen festzulegen, erweist sich allerdings bei einem weiteren Durchdenken der Sache als nebensächlich. Denn das eigentliche Manko besteht Reinholds tieferen Nachforschungen zufolge darin, dass das Fundament der Vernunftkritik, an welcher Stelle man auch ansetzt, unzureichend bestimmt ist. Setzt man bei dem Gattungsbegriff der Vorstellung an, kommt man nach Reinhold zu dem Schluss, dass Kant diesen zwar sehr wohl zur Anwendung gebracht und in Teilzusammenhängen erörtert, jedoch als solchen „unbestimmt gelassen“ hat.46 Reinhold bringt diesbezüglich auch zum Ausdruck, Kant sei seit vorkritischer Zeit ungebrochen der Auffassung, die „Vorstellung“ gehöre zu jenen Begriffen, die ihrer Natur nach einfach seien, also „nicht aufgelöset werden können“.47 Und damit gebe er im Klartext zu verstehen, besagter Begriff sei einer Definition oder Bestimmung seiner Merkmale weder zugänglich noch bedürftig. Was den Grundsatz der ursprünglichen Apperzeption angeht, sei dieser, wie Reinhold konstatiert, von Kant ausdrücklich als ein oberster Grundsatz qualifiziert worden, der für das Denkvermögen und dessen Einheitsleistung im Blick auf das Mannigfaltige aller Vorstellungen als Anschauungen gelte. Reinhold zufolge müssen aber unter einen obersten Grundsatz alle Vorstellungen, somit auch ein Mannigfaltiges von Ideenbegriffen und praktischen Vorstellungen, fallen können. Eine vergleichbare Engführung ergibt sich Reinholds Ansicht nach beim obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile. Dieser Grundsatz, den Reinhold erklärtermaßen für das entscheidende Axiom der theoretischen Vernunftkritik hält und den er dabei auch als das von Kant seinem theoretischen System zugrunde gelegte „Faktum“ der „Erfahrung“ bezeichnet,48 betrifft das Erkenntnisvermögen. Mit ihm wird somit erneut lediglich ein Teilbereich dessen abgedeckt, was zum Vermögen des Vorstellens insgesamt gehört. Schließlich ist für Reinhold ebenso das Sittengesetz kein oberster Grundsatz schlechthin, sondern nur der oberste Grundsatz der praktischen Vernunft. Wäre das Sittengesetz der oberste Grundsatz schlechthin, müsste ein Grundsatz zum Vermögen der theoretischen Vernunft als darunter subsumierbar ausgewiesen werden können. Bei diesen kritischen Statements zu Kants vage bleibender Behandlung der Fundamentfrage ist sich Reinhold im Klaren, dass es, um Licht in die Dinge zu bringen, primär bei dem Begriff des Vorstellens überhaupt anzusetzen gilt. Desgleichen ist für ihn ausgemacht, dass man den Begriff der Vorstellung mit Kant als einfach, unzergliederbar einzustufen hat, ihn im Unterschied zu Kant aber sehr wohl, wenn man die Möglichkeit einer ersten, durch sich selbst bestimmten Definition in Erwägung zieht, in seinen Hauptattributen bestimmen kann und soll. Schließlich kalkuliert Reinhold, im Vorausblick auf zu leistende Systemaufgaben, mit einer weiteren, ihm einleuchtend scheinenden Grundintuition. Er hält den definierten Begriff der Vorstellung für ein Fundament, auf dem sich zugleich der Anspruch einer starken Gewissheit erheben lässt. Denn mit 46 Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 267–269. 47 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, II, S. 280. – Siehe auch ebd., S. 70. 48 Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 279; Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 77.

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einem an die Spitze gestellten Vorstellungsbegriff ergibt sich nicht nur Einigkeit in der Beantwortung der Frage, an welchen Punkt innerhalb der Vorgaben Kants anzuschließen ist, es lassen sich ebenfalls zwei wesentliche Verbesserungen in der Ausformulierung des obersten Prinzips der kantischen Vernunftkritik erzielen. Mit dem Begriff des Vorstellens kann zum einen von einem ersten Prinzip ausgegangen werden, das den gesamten Umfang unserer Gemütsleistungen abdeckt, zumal Denken, Anschauen, Erkennen, Begehren, Fühlen, Handeln und Wollen als Arten des Vorstellens begriffen werden können, zum anderen von einem ersten Prinzip, dem man ebenfalls eine ausreichende Bestimmtheit und Festigkeit zubilligen darf. Diesem Resultat entsprechend, hat Reinhold seine Kritik an Kant bezüglich der Fundamentfrage im Jahre 1791 wie folgt auf den Punkt gebracht: Das „Fundament“ der Vernunftkritik sei „weder allgemein (umfassend) noch auch fest genug, um das ganze wissenschaftliche Gebäude der Philosophie zu tragen.“49 Mit dem eigenen Systemvorhaben ist deshalb eine dahingehend verbesserte Fundierung zu erbringen.

Das ausreichend allgemeine und feste System der Philosophie überhaupt Wenden wir uns den in systematischer Hinsicht essentiellen Punkten von Reinholds Elementarphilosophie näher zu. Wie gesehen, hat an der Spitze des von Reinhold projektierten Systems ein definierter Begriff des Vorstellens zu stehen. Als entscheidender sachlicher Anknüpfungspunkt, der das weitere Vorgehen und die Motive Reinholds einsichtig werden lässt, erweist sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt, das Kant beim Theorem der Apperzeption als Beziehung von denkendem Subjekt und zu denkendem Objekt, im Falle des obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile als Verhältnis von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt statuiert hat. Vorstellen soll Reinhold zufolge im Einklang mit Kant als Verhältnis von Subjekt und Objekt verstanden, jedoch – im Unterschied zu Kant, der, wie Reinhold bemängelt, mit diesem Begriff stets nur in besonderen Zusammenhängen operiert und von einer Merkmalsbestimmung abgesehen habe50 – als allgemeines Verhältnis aufgefasst, seiner Struktur nach begrifflich bestimmt und in seiner systemrelevanten Tragweite wiedergegeben werden. Reinhold fasst demnach den Begriff der Vorstellung emphatisch in seiner – mit Brentano und Husserl gesprochen – intentionalen Bedeutung. Es geht ihm um das Vorstellen im Sinne des Vorstellens von etwas als etwas. Genauer besehen stellt Reinhold eine von ihm als „Bewußtseyn“ bezeichnete Struktur des Vorstellens in den Mittelpunkt, die aus den drei Komponenten eines vorstellenden Subjekts, eines vorgestellten Objekts sowie einer mit der Relation von Subjekt und Objekt einhergehenden Vorstellung (eines Vorstellungsinhalts) besteht und bei der eine Auffassung von Beziehen und 49 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 74. 50 Kant hat offenbar im vorliegenden Sachzusammenhang unter Vorstellen – in Anlehnung an Georg Friedrich Meier – ein keiner näheren Betrachtung bedürftiges Vermögen der Seele, sich auf andere, innere oder äußere Dinge zu beziehen, verstanden. Siehe Kant, Gesammelte Schriften, XVI, S. 76 f.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Unterscheiden im Verhältnis dieser Komponenten hinzuzudenken ist. In Bezug auf die Definitionsforderung wird damit zum Ausdruck gebracht, dass wir mit der Bestimmung dieser dreigliedrigen Vorstellungsstruktur über die einzig richtige Definition des Gattungsbegriffs der Vorstellung verfügen. Was den Anspruch der Allgemeinheit angeht, wird hiermit in der Sache behauptet, dass sämtliche Vorstellungen dieser Struktur unterliegen. Und in Bezug auf den Anspruch der Festigkeit wird geltend gemacht, dass man die Vorstellungsstruktur ihrem Bestehen und ihrer kognitiven Eigenschaft nach als gewiss einstufen darf. Um dieser Ansicht Nachdruck zu verschaffen, geht Reinhold schließlich dazu über, die Vorstellungsstruktur als Tatsache des Bewusstseins zu behaupten sowie in der Form eines Satzes des Bewusstseins zu artikulieren.

a) Einheitsaspekte des Systems: Vorstellen als Basis des Erkennens und Begehrens und die Eingliederung des ästhetischen Vermögens Innerhalb der Theorie des Vorstellungsvermögens unterbreitet Reinhold zunächst seinen obersten Grundsatz und die damit gegebene axiomatische Triadik von Subjekt, Objekt und Vorstellung. Danach entfaltet er mit einem Herleitungsanspruch die Verhältnisse von vorstellendem Subjekt als Form, Einheit und Spontaneität und vorgestelltem Objekt als Stoff, Mannigfaltigkeit und Anstoß der Rezeptivität. Mit diesem strukturellen Begriffsgefüge stößt er in der Folge in je spezifischer Weise in die gesamte Begrifflichkeit des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens vor. Erreicht wird damit – neben einem möglichst vollständigen Gesamtsystem – ein in sich einheitliches System der Philosophie, ein System, bei dem in allen seinen Teilen und Verästelungen die Vorstellungsstruktur gegenwärtig ist. Dabei ist es offensichtlich, dass Reinhold bei diesem Einheitsverständnis zugleich auf die spezifischen Differenzen achtet, die mit den unter der Gattung der Vorstellung stehenden Vorstellungsarten gegeben sind. Es ist zu berücksichtigen, dass bei den Vorstellungsarten der Begriffsumfang kleiner, der Begriffsinhalt aber reicher ist als beim Gattungsbegriff der Vorstellung. Von daher steht es für Reinhold außer Frage, dass die mit Kants Vernunftkritik statuierte qualitative Unterscheidung der Vermögen des Denkens und des Anschauens im Bereich der Vorstellungsarten kenntlich zu machen ist. Dem widerspricht nicht, dass Reinhold im Bestreben, den in der Theorie des Vorstellungsvermögens entfalteten begrifflichen Gesamtkomplex in den anschließenden Theorieteilen fortzusetzen, dazu anhebt, bereits in der Sphäre der sinnlichen Anschauung und damit im Falle von Raum und Zeit eine Subjektleistung der Form, Einheit und Spontaneität zu erörtern. Denn hiermit werden nicht Denken und Anschauen vereinheitlicht, sondern es wird lediglich dafür argumentiert, dass bereits auf der Stufe der sinnlichen Anschauung, und nicht erst auf den intellektuellen Stufen unserer Gemütsleistungen, eine synoptische, dem Gedanken der Komplementarität von Anschauung und Verstand angemessene Darstellungsweise erforderlich ist. Desgleichen stellt Reinhold nicht in Abrede, dass praktische Vorstellungen zwar der Vorstellungsstruktur unterliegen und insofern als Begehren oder Realisieren eines Objekts durch

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das Subjekt zu deuten sind, dass sie in ihrem Sollensstatus aber erst auf der Stufe der Vorstellungsarten von dem Seinsstatus theoretischer Vorstellungen abzuheben sind. Im Weiteren trägt Reinhold bei seiner Allgemeinheitsforderung dem Umstand Rechnung, dass es bei bestimmten Vorstellungsarten als zweifelhaft angesehen werden kann, ob sie sich unter die intentionale Vorstellungsstruktur subsumieren lassen. Reinhold bezieht neben der von Kant übernommenen Stufenleiter der Vorstellungen ebenfalls jene Vorstellungen ein, die als wahr oder falsch (bzw. „wirklich“ oder „leer“) zu klassifizieren sind,51 wie schließlich auch die sogenannten „bewußtseynlosen“ Vorstellungen.52 Er nimmt somit auch Vorstellungen hinzu, bei denen ein Objektbezug oder ein Subjektbezug in defekter Form vorzuliegen oder abwesend zu sein scheinen. Angesichts solcher und ähnlicher Vorstellungsarten argumentiert er  – und dies nicht ohne gute Gründe – für die These, wonach allerdings auch in diesen Fällen die dreigliedrige Vorstellungsstruktur wenngleich nicht vollständig manifest, so doch vorausgesetzt ist. Schwieriger wird die Sache für Reinhold, wenn er unter diesem Blickwinkel die zum Grundrepertoire seines Systems gehörenden Vorstellungen von Ding an sich (Subjekt an sich, Objekt an sich), von Selbstbewusstsein als Identität von Subjekt und Objekt sowie von Selbsttätigkeit als Vermögen des absolut freien Wollens in den Blick rückt. Desgleichen dort, wo er die Vorstellungsstruktur selbst zum Gegenstand des Vorstellens erhebt. Denn bei diesen Vorstellungen gilt es zu bedenken, dass sie für das Verhältnis von Subjekt und Objekt konstitutiv sind und insofern ebendiesem Verhältnis in einer gewissen Hinsicht nicht unterliegen. In Bezug auf diese und damit vergleichbare Vorstellungen sucht Reinhold einen Ausweg dadurch, dass er – wie er vor allem im Zusammenhang mit der Frage des Dinges an sich expliziert – die Möglichkeit einer negativen Vorstellung einräumt. Die negative Vorstellung soll als Vorstellung gelten, die ihrer Natur nach weder Vorstellung noch Un-Vorstellung (leerer Begriff, Vorstellung ohne jeden Gegenstand) ist. Wir werden im Zusammenhang mit Reinholds Einlassungen zum Ding an sich auf diesen Punkt zurückkommen. Für evident hält Reinhold es schließlich, dass neben den theoretischen und praktischen ebenso jene Vorstellungen, die, wie das Angenehme, Vergnügliche, Schöne und Erhabene, dem Geschmacksvermögen zuzuordnen sind, der Vorstellungsstruktur zu subsumieren sind. In diesem Sinne stellt Reinhold das seit 1788 besprochene Gefühl des ästhetischen Vergnügens, das er 1792 unter dem Titel eines „Vergnügens überhaupt“53 nochmals auf den Begriff bringt und ausdrücklich zum Fundament des Geschmacksvermögens erklärt, in den Zusammenhang eines Verhältnisses von Subjekt als formender Tätigkeit und Objekt als gegebenem Stoff, eines Verhältnisses, das sich im Vergleich mit ebendiesem Verhältnis im Falle des objektive Gültigkeit und Gegenständlichkeit garantierenden Erkenntnisvermögens durch die Eigenschaften der spielerischen Leichtigkeit und der einer Langeweile entfliehenden Lebhaftigkeit auszeichnet. Was 51 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 154–156. 52 Siehe ebd., S. 213–216. 53 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 166–167.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen hierbei das Verhältnis einer Theorie des Geschmacksvermögens zu den beiden anderen Systemteilen, zu den Theorien des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens anbelangt, bleibt vorerst offen, welche kompositorischen Konsequenzen Reinhold zu ziehen gedenkt. Erst im Laufe der sich herauskonturierenden Einteilung des Begehrungsvermögens wird ersichtlich, wie Reinhold das ästhetische oder Geschmacksvermögen in sein Gesamtsystem einzugliedern intendiert. Das Geschmacksvermögen soll fortan zwar als eigenständiges und speziell fundiertes Vermögen angesehen, in Bezug auf die Systemarchitektonik aber in die Theorie des Begehrungsvermögens integriert werden. Das Geschmacksvermögen wird somit nicht zum Rang eines dritten abgeleiteten Systemastes neben dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen erhoben. Reinhold bleibt somit Kants Systemplan von Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten verpflichtet und folgt nicht einem Systemplan, der sich in der Grundeinteilung an die Dreiheit der Kritiken Kants hält. Diese systemische Schlussfolgerung hindert Reinhold nicht daran, die vorzügliche Vermittlerrolle des ästhetischen Vermögens in einer pädagogischen und der moralischen Bestimmung des Menschen dienenden Hinsicht zu unterstreichen. Ebenso wenig ändert sie etwas am Befund, dass Reinhold gleichfalls auf ästhetischem Gebiet zu nennenswerten und bei seinen Mitstreitern auf positive Resonanz stoßenden Einsichten gelangt ist. Es ist ersichtlich, dass Reinhold, bei dem wie erwähnt die Ästhetik von Anbeginn zu den Schwerpunkten der Vorlesungs- und Publikationstätigkeit zählte,54 seine Theorie des Vorstellungsvermögens in einem engen sachlichen Konnex mit dem Bemühen erarbeitet hat, Aufschluss über einen der kritischen Lehre gerecht werdenden Begriff des ästhetischen Vergnügens zu gewinnen. Die hierzu im 1788 und 1789 niedergeschriebenen Aufsatz „Ueber die Natur des Vergnügens“ ausgefalteten Ideengänge werden, im Anschluss an die Rezeption der Kritik der Urteilskraft, dahingehend fortgesetzt, dass die von Kant analysierten Begriffe der Schönheit und Erhabenheit nachträglich als Arten des Vergnügens überhaupt rekonstruiert werden können. Fortan geht es Reinhold um eine Neubearbeitung des ästhetischen oder Geschmacksvermögens nach kantischen und elementarphilosophischen Grundsätzen. Dabei zählt er nicht zuletzt die triebtheoretischen Ansätze aus der Theorie des Begehrungsvermögens zu den Bausteinen dieses Unterfangens. Unter Einschluss des ästhetischen Begriffs des Vergnügens wird ein Verhältnis von sinnlichem und vernünftigem Begehren konzipiert, zwischen einem „Trieb nach Form“ und einem „Trieb nach Stoff “ unterschieden. Schließlich wird zu Erwägungen zu einer möglichen produktiven Synthese dieser beiden Grundtriebe übergeleitet.55 Indem Reinhold das Gefühl des Vergnügens an die Spitze des Geschmacksvermögens stellt und so auch als Gefühlsbasis des ästhetischen Urteilsvermögens ansieht, wird ein Begriff rehabilitiert, der im damaligen Diskurs zu Fragen des ästhetischen 54 Zu Reinholds ästhetischem Schaffen siehe unter anderem die „Einleitung“ in: Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, S. XLVII–LXIII, LXIX–LXXIV. 55 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 356.

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Geschmacksvermögens nicht unumstritten war. Von rationalistischer Seite wurde er mitunter als Provokation empfunden, so gerade auch bei Kant. Der Autor der Kritik der Urteilskraft betrachtete diesen Begriff ausgehend von seinem Verständnis eines interesselosen Wohlgefallens argwöhnisch, ordnete ihn der zufälligen Empfindung des Angenehmen oder dem bloßen „Genießen“ zu. 56 Damit gab er zu verstehen, Vergnügen sei ein Sinnengefühl, das nicht als Basis eines Geschmacksurteils fungieren könne. Reinhold sieht dies anders, zumal er von vornherein ein intellektuelles und nicht sinnliches Vergnügen zum Maßstab nimmt. Und er kann von daher nun nicht umhin, für einmal auf die Verlautbarungen seines Lehrmeisters mit gewichtigen Vorbehalten zu reagieren.57 Es ist schließlich bemerkenswert, dass in den frühen 1790er-Jahren ebenfalls Schiller in diesem Punkt anders dachte als Kant und insofern Reinholds Sichtweise nicht abgeneigt war. Was Schillers Haltung zu Reinhold näher betrifft, darf man sogar behaupten, dass die geschmackstheoretischen Beiträge seines Philosophenkollegen bei ihm ein überaus positives Echo auslösten und für ihn insgesamt eine reizvolle Anregungsquelle darstellten. Reinhold folgend, verlieh Schiller um 1792, so besonders im Essay Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, der Überzeugung Ausdruck, das Vergnügen sei der Grundbegriff des ästhetischen Vermögens, wobei er, indem er das vergnügliche Gefühl vornehmlich an der Moralität förderlichen Gegenständen des Erhabenen und Tragischen festmachte, zum Teil zu anderen Ansichten über die Beziehung und Grenzziehung zwischen Moral und Ästhetik gelangte als Reinhold. Wie der 1795 veröffentlichten Briefreihe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen zu entnehmen ist, war für Schiller in seinen weiteren philosophisch-ästhetischen Reflexionen ebenfalls die Fortführung von Reinholds Trieblehre ein Ansporn. Das anthropologische Verhältnis von Stoff- und Formtrieb wird in den Briefen aufgenommen und fortgesponnen, wobei im Blick auf die Vereinigung dieser beiden Grundtriebe dann allerdings, über Reinhold hinaus, die These eines zur Erweckung gelangten dritten, eigens der ästhetischen Dimension zuzuerkennenden Triebes, des Spieltriebes, verfochten wird.58

b) Der feste Grund des Systems: Der Satz des Bewusstseins Für die Rechtfertigung seiner Behauptung, bei der Vorstellungsstruktur handle es sich nicht nur um ein allgemeines, sondern auch um ein festes, gewisses Fundament, hat Reinhold einen beträchtlichen Aufwand betrieben. Reinhold spricht in dieser Sache 56 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, V, S. 207. 57 Zu den unterschiedlichen Einschätzungen Kants und Reinholds bezüglich der Auffassung des Vergnügens und zur Antwort Reinholds auf Kant in dieser Sache siehe Bondeli, „Reinhold im Anschluss an Kant“, S. 19–23. 58 Zu den Anregungen, die Schiller von Reinholds Trieblehre aus der Theorie des Begehrungsvermögens empfangen haben dürfte, siehe Martin Bondeli, „Sachtrieb, Formtrieb und die Suche nach einem harmonischen Verhältnis der beiden Grundtriebe. Schillers Triebkonzept im Ausgang von Reinholds Trieblehre (Brief 12 und 13)“, in: Gideon Stiening (Hg.), Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Berlin/ Boston, 2019, S. 125–140.

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Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen von dem einfachen Begriff der Vorstellung als einer „Thatsache“ sowie von der Vorstellungsstruktur als einer „Thatsache des Bewußtseyns“.59 Er macht damit geltend, dass es diese Struktur gibt, zumal sie als Bestandteil unseres Gemütes zu verstehen ist, insofern dieses sich in seinem Vermögen des Vorstellens manifestiert. Im selben Atemzug wird die Ansicht verteidigt, die Vorstellungsstruktur sei die erste reflexive Gegebenheit, gleichsam das erste transzendentale Faktum, in unseren Gemütsleistungen des Vorstellens. Im Blick auf ihren präreflexiven Ursprung gedacht, sei sie der erste reflexive Ausdruck des einfachen Begriffs der Vorstellung. Schließlich ergreift Reinhold für die Ansicht Partei, die Vorstellungsstruktur dürfe ihrem Aussagegehalt nach als in sich gewiss gelten, was sich allerdings nur erhärten lasse, wenn die Tatsache des Bewusstseins die Form eines Urteils oder Satzes aufweise. Reinhold buchstabiert deshalb folgerichtig einen die Tatsache des Bewusstseins ausdrückenden „Satz des Bewußtseyns“ aus, der lautet: „Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen.“60 Diesen Satz, den Reinhold mancherorts auch ohne Nennung des unterscheidenden und beziehenden Subjekts („durch das Subjekt“) artikuliert und aus dem er umgehend die Definition der jeweiligen Relate – die Begriffe der Vorstellung, des Subjekts und Objekts – gewinnt, qualifiziert er als einen „durch sich selbst bestimmten Satz“.61 Die Rede von dem sich selbst definierenden Gattungsbegriff der Vorstellung erhält dadurch ihren prägnanteren Sinn. Entscheidend ist aber, dass damit, dem Anspruch einer in sich gewissen Vorstellungsstruktur folgend, die Behauptung zum Ausdruck gebracht wird, der Satz des Bewusstseins sei in sich gewiss (in einem analytischen Sinne wahr) und nicht nur gewiss aufgrund seines Zutreffens auf einen Sachverhalt. Mit dem Satz wird Reinhold zufolge also sowohl eine in sich gewisse Struktur des Vorstellens ausgedrückt als auch ebendiese Struktur als etwas Existierendes behauptet. Reinhold spricht ferner davon, der Satz des Bewusstseins sei „einleuchtend“62, was besagt, dass er den Satz ebenfalls als gewiss im Sinne von unmittelbar gewiss oder evident einstuft. Die Gewissheit in sich oder Analytizität des Satzes werde von uns, so der zusätzliche Gedanke, unmittelbar eingesehen und dadurch von uns allen geteilt. Dabei ist sich Reinhold in Bezug auf diesen letztgenannten Aspekt bewusst, dass es der Sache nicht förderlich ist, den Satz des Bewusstseins in voneinander abweichenden Fassungen zu präsentieren, und dass deshalb eine finale Fassung anzustreben ist. Zudem weiß er um das damit einhergehende Problem der Sprache. Die Ausformulierung des Satzes ist abhängig von der Verbindung von Begriffen, die wir nicht anders als durch „Worte festhalten, hervorrufen, und anderen mittheilen“ können.63 Die Evidenz des Satzes ist damit immer auch 59 Dazu vor allem Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 50–52. 60 Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 167. Siehe auch ebd., S. 144; sowie Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 50. 61 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 51. 62 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 143; Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 52. 63 Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 8.

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eine Frage des unmissverständlichen Wortgebrauchs, eines Wortgebrauchs, der somit möglichst eindeutig, gemeinverständlich und diskursiv überprüfbar sein sollte. Man darf an dieser Stelle von Reinholds Geltendmachung des Satzes des Bewusstseins den Vergleich mit dem logischen Satz des Widerspruchs heranziehen. Dieser Satz gilt als in sich gewiss und evident, was nicht ausschließt, dass seit Aristoteles über seine genauere Ausformulierung nachgedacht wird und dass insofern seine Evidenz nicht in einem totalen Sinne besteht. Reinhold hält in ebendieser Weise seinen Satz des Bewusstseins für in sich gewiss und grundsätzlich evident, sieht aber im Falle seiner Ausbuchstabierung durchaus den Bedarf einer flankierenden Klärung der in ihm vorkommenden Ausdrücke. Wir werden sehen, dass ein Skeptiker vom Schlage Gottlob Ernst Schulzes die meisten dieser Behauptungen Reinholds zum Satz des Bewusstseins in Frage stellt, sich in manchen Punkten aber, da auch der radikale Zweifler zumindest das Gegebensein von Vorstellungen voraussetzt, gezwungen sieht, Zugeständnisse zu machen.

Der erste Grundsatz – und was sich daraus folgern lässt Einer der Hauptgründe dafür, dass Reinhold sich derart intensiv mit der Frage der Festigkeit der Vorstellungsstruktur befasst hat, liegt in der dieser Struktur zugeschriebenen Funktion. Die Vorstellungsstruktur soll innerhalb des philosophischen Systems nicht nur ein systematisch Erstes sein, sondern auch als die erste Bestimmung einer Reihe von Folgebestimmungen begriffen werden können. Es besteht demnach die Auffassung, die Festigkeit der Folgebestimmungen hänge von jener der Anfangsbestimmung ab. Dabei ist in diesem Zusammenhang sogleich noch ein weiterer Punkt von Relevanz. Mit der Vorstellungsstruktur als einer ersten Bestimmung besteht notgedrungen ein Ausgangspunkt, der zwar nicht rückwärts, jedoch vorwärts in reflexiver Weise fortsetzbar ist, oder anderes gesagt: der, weil er ein Erstes ist, nicht ableitbar ist, aus dem aber etwas abgeleitet werden kann. Hinsichtlich des Satzes des Bewusstseins heißt dies, dass dieser gleichfalls als ein Grundsatz zu betrachten ist, aus dem sich Folgesätze generieren lassen. Man darf aufgrund der Erklärungen Reinholds zur Fundierung des Satzes des Bewusstseins behaupten, dass dieser Satz, so sehr er im Detail strittig und klärungsbedürftig sein mag, durchaus als sicherer Ausgangspunkt gelten kann und dass er, aufgrund seiner reflexiven Struktur, auch die Möglichkeit der Fortsetzbarkeit anzeigt. Doch was genau soll aus dem Satz des Bewusstseins abgeleitet werden? Und was soll Ableitung dabei heißen?

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100 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Reinhold vergewisserte sich von Anbeginn der „Grenzen des Gebrauches eines Grundsatzes“64 und zog daraus seine Lehren für die Frage der Ableitung aus dem Satz des Bewusstseins. So ließ er keinen Zweifel, dass sich nur die Begriffe seines Systems, die das Grundvokabular von Subjekt, Objekt und Vorstellung betreffen, in einem strengen Sinne ableiten lassen, alle anderen aber als dem Satz des Bewusstseins subsumiert – und nicht als in diesem enthalten – betrachtet werden müssen und insofern nur begrenzt, nur bezüglich der Form und nicht auch des Inhalts, abgeleitet werden können. Von daher trat er im Blick auf die dem Satz des Bewusstseins subsumierten Folgebegriffe für die Auffassung ein, diese seien in wesentlichen Bereichen auch ohne den Satz des Bewusstseins als durch Tatsachen fundiert zu betrachten. Innerhalb des vom Satz des Bewusstseins ausgehenden Gefüges von Sätzen könnten diese allerdings eine stärkere, durch eine höhere Gewissheit garantierte, Festigkeit erhalten. Dieses Bemühen führte Reinhold in seiner Programmschrift von 1791 Ueber das Fundament des philosophischen Wissens dazu, über ein Ableitungsverfahren nachzudenken, bei dem neben dem Satz des Bewusstseins von „besonderen Sätzen des Bewußtseyns“, somit neben der ersten Tatsache von weiteren evidenten Tatsachen auszugehen ist.65 Darüber hinaus zwang ihn der Befund der begrenzten Ableitung im Falle eines Verhältnisses der Subsumtion zu einer Klärung dessen, was man unter dieser Bedingung demnach unter Ableiten zu verstehen habe. Ableiten heißt hier im Kern, dass die dem Satz des Bewusstseins subsumierten Folgebegriffe durch diesen durchgängig verständlich gemacht und in Bezug auf die Reihenfolge ihrer Darstellung richtig eingeordnet werden können. Unter dieser Voraussetzung ist es angezeigt, das Ableitungsverfahren ebenfalls durch heuristische sowie der Überprüfung dienende zirkuläre Methodenschritte zu ergänzen. Denn das Festlegen der Reihenfolge der Folgebegriffe bedarf einer am Leitfaden des Satzes des Bewusstseins vorzunehmenden aufsuchenden und berichtigenden Reflexion. In diesem Sinne brachte Reinhold seine Räsonnements zum Ableiten aus dem ersten Grundsatz von vornherein mit der kohärentistischen Idee in Verbindung, der zufolge die Festigkeit des Systems erst „durch den durchgängigen Zusammenhang aller Sätze, und durch Zurückführung aller auf Einen, möglich ist.“66 Spätestens ab Ende 1791 wurde das als Überlegungsgleichgewicht deutbare Verhältnis von gesundem Verstand und philosophierender Vernunft mit in Anschlag gebracht. Dieses 64 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 114–119. – Zur Interpretation dieses Abschnittes, der belegt, dass Reinhold in keiner Phase mit jenem unreflektierten Ableitungsverständnis, das damalige und heutige Kritiker ihm gerne unterstellen, operiert hat, siehe Martin Bondeli, Das Anfangsproblem bei K.  L. Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803, Frankfurt a. M., 1995, S. 115–135; Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen–Jena (1790–1794), Frankfurt a. M., 2004, Bd. 1, S. 618–622. 65 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 60–64. – Ab 1792 geht Reinhold sodann von mehreren Tatsachen des Bewusstseins und Selbstbewusstseins aus, die unter dem Satz des Bewusstseins als der „allgemeinsten Thatsache“ stehen. Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 64. 66 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 119.

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III. Die Elementarphilosophie. Das Protosystem des Deutschen Idealismus 101 sollte näher als ein – flankierend zu einem transzendentalen Begründen bestehendes – „Aufsuchen“ transzendentaler Gründe begriffen werden.67 Bei all diesen Erklärungen und Präzisierungen war es für Reinhold von Anbeginn ausgemacht, dass das Ziel der Ableitung aus dem Satz des Bewusstseins nicht nur darin bestehen sollte, Folgebegriffe und damit letztlich das gesamte Grundvokabular des Systems der Philosophie zu definieren. Es sollte auch darin bestehen, bestimmte Theoreme und Beweisschritte der Vernunftkritik besser zu begründen. So war Reinhold überzeugt, ausgehend vom Satz des Bewusstseins lasse sich Kants Begründung synthetischer Urteile a priori und dabei insbesondere der mit formalen und materialen Bedingungen der Erfahrung operierende Beweis anhand des Prinzips der Ermöglichung von Erfahrung überzeugender führen. In diesem Kontext akzeptierte Reinhold Kants obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile als obersten Grundsatz des Erkennens, kritisierte aber zugleich einen „fehlerhaften Zirkel“ in Kants Beweis synthetischer Urteile a priori.68 Wir werden auf diesen Punkt im Zusammenhang mit Maimon, der einen solchen Vorwurf bereits vor Reinhold artikulierte, näher einzugehen haben. An dieser Stelle sei dazu festgehalten, dass Reinholds Kritik an Kant hier zwar keineswegs über alle Zweifel erhaben ist, dass sein Bemühen, ausgehend vom Satz des Bewusstseins einen Beitrag zur Verbesserung der Begründung synthetischer Urteile a priori zu leisten, aber durchaus in einem gewissen Punkt berechtigt und insofern zu würdigen ist. Indem Reinhold im Rahmen der Theorie des Vorstellungsvermögens einen Satz des Bewusstseins ausformuliert und daraus die Begriffspaare von Form und Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit, Spontaneität und Rezeptivität generiert und indem er darauffolgend innerhalb der Theorie des Erkenntnisvermögens die Formen der sinnlichen Anschauung sowie die Urteilsfunktionen und Kategorien, Schlussformen und Ideen herleitet, bringt er in einer gesonderten und innerhalb des Fundamentalbereichs gefestigten Gestalt jenes Erkenntnismodell auf den Begriff, von dem der Sache nach auch Kant bei der Begründung synthetischer Urteile a priori Gebrauch macht. Dabei wird mit diesem Erkenntnismodell aber nur der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen in Einklang mit Kant der transzendentale Beweis anhand des Prinzips der Ermöglichung von Erfahrung geführt werden kann. Dieser auf der Basis der Kategoriengrundsätze zu führende Beweis kann also nicht durch ein vom Satz des Bewusstseins ausgehendes Verfahren ersetzt oder als solcher verbessert werden. Man darf allerdings behaupten, dass dieser Beweis nur unter der Voraussetzung des besagten Erkenntnismodells geführt werden kann. Kant bedient sich beim Beweis synthetischer Urteile a priori des Arguments, dass bestimmte, mit unserem subjektiven Vermögen einhergehende Bedingungen objektiv gültig sind, weil ohne diese Bedingungen Erfahrung der Form nach unmöglich, nicht artikulierbar, ein bloß stoffliches, mannigfaltiges Etwas wäre. 67 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 16–18. 68 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 74–77.

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102 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Bei diesem Gedanken ist vorausgesetzt, dass Erkenntnis auf einer Subjekt-Objekt-Beziehung beruht und dass der Subjektseite Form und Einheit, der Objektseite Stoff und Mannigfaltigkeit zukommen. Die durch den Satz des Bewusstseins geleistete Festigung der Subjekt-Objekt-Beziehung und des ihr entsprechenden Erkenntnismodells ist also ein zwar keineswegs hinreichender, aber doch notwendiger erster Baustein in der Begründung synthetischer Urteile a priori.69 Es sei abschließend eingeschärft, dass der zuvor bei der Evidenzfrage herangezogene Vergleich des Satzes des Bewusstseins mit dem logischen Satz des Widerspruchs im Falle des Ableitungszusammenhangs nicht mehr angebracht ist. Denn bei dem Satz des Bewusstseins handelt es sich nicht um einen logischen oder, wie sich Reinhold ausdrückt, „formellen“ Grundsatz. Vielmehr ist er ein transzendentaler Grundsatz, der dem obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile und den auf transzendentale Beweise zielenden kategorialen Grundsätzen des Verstandes vorgeordnet ist. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne hat Reinhold den Satz des Bewusstseins als „realen“ oder „materialen“ Grundsatz klassifiziert.70

IV. Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen Neben den Bestimmungen zu einem Gesamtsystem der Philosophie und neben den Klärungen zur Natur und Funktion des Systemfundamentes, hat Reinhold seit 1789 in markanter Weise zu einer Reihe mikrologischer Aspekte seiner Systemkomposition wie schließlich ebenso pointiert zur Frage des Dinges an sich Stellung genommen. Manche dieser Stellungnahmen sind wegweisend für den Gang der nachkantischen Philosophie. Zum Teil werden damit auch Diskussionspunkte tangiert, die bis heute in der KantInterpretation von Bedeutung geblieben sind.

Synthetisches und analytisches Urteilen. Ein Nebenblick auf Hölderlin Ein augenfälliges und für die Fortentwicklung des Deutschen Idealismus bedeutsames Resultat von Reinholds Systematisierungen im Bereich der Verstandeslehre besteht darin, dass nicht nur die Urteilsfunktionen, sondern auch die beiden Urteilsarten, das analytische und das synthetische Urteil, aus Bestimmungen zum Vorstellungsbegriff hergeleitet werden. Zur Bestimmung dieser beiden Urteilsarten hält Reinhold sich nicht an Kants Unterscheidung von Erläuterungs- und Erweiterungsurteil. Er bedient 69 Näheres in dieser Sache siehe bei Martin Bondeli, „Möglichkeit der Erfahrung. Zur Kant-Revision Karl Leonhard Reinholds in der Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens“, in: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca u. Margit Ruffing, Bd. 5, Berlin/Boston, 2013, S. 679–690. 70 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 54.

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IV. Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen 103 sich einer Ausgangsmatrix, die mit Kants Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe zu tun hat. Reinhold orientiert sich primär an Kants Auffassung, wonach das Urteilssubjekt für die Anschauung oder den unmittelbaren Gegenstandsbezug, das Urteilsprädikat für den Begriff oder den mittelbaren Gegenstandsbezug steht und wonach das „Urteil“ demnach insgesamt „die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben“ ist.71 Auf dieser Basis definiert Reinhold das Hervorbringen objektiver Einheit aus der Anschauung als ein „synthetisch“, das Verbinden der hervorgebrachten objektiven Einheit mit der Anschauung als ein „analytisch“ zu nennendes „Urtheilen“.72 Auf diese Weise werden synthetisches und analytisches Urteilen als zwei Momente ein und desselben Urteilsvorganges begriffen, bei dem das Mannigfaltige der Anschauung in eine objektive Einheit zusammengefasst wird. Durch die Abfolge von Subjekt und Prädikat wird das Produkt des analytischen Urteilens, das analytische Urteil, als Folgebestimmung eines synthetischen Urteilszusammenhangs konzipiert. Das analytische Urteil ist nichts anderes als die Analyse, Auflösung einer vorgängig gefestigten, gleichsam ursprünglichen Synthesis. Dieser Ansicht entsprechend, vertritt Reinhold – unter Berufung auf Christian August Crusius – die These, dass analytische Urteile ihre Wahrheit im Kern nicht dem obersten Grundsatz aller analytischen Urteile, dem Satz des Widerspruchs, verdanken, sondern einer vorgängig gefestigten Verbindung von Wortbedeutungen: „Daß dem Zirkel das Prädikat nichtrund widerspricht, ist keine Folge des Satzes des Widerspruchs, sondern des Umstands, dass das Prädikat rund schon im Begriffe des Zirkels vorhanden ist“.73 In einen solchen Konnex will Reinhold gleichfalls seinen Satz des Bewusstseins, wenn er ihn einen analytischen Satz nennt, gestellt sehen. Es wird mit diesem Satz nichts anderes als eine ursprüngliche Synthesis in ihren einzelnen Momenten expliziert, mithin analytisch entwickelt: „Der S. d. B. läßt sich zwar analytisch entwickeln; (erläutern) aber nur durch dasjenige, was durch ihn (synthetisch) bestimmt ist“.74 Mit diesen Auslegungen stellt Reinhold, ähnlich wie dies später bei Rudolf Carnap und anderen Vertretern des Neupositivismus der Fall sein wird, Kants Unterscheidung von analytischem als Erläuterungs- und synthetischem als Erweiterungsurteil in zum Teil berechtigter Weise in Frage. Denn zumindest im Falle von analytischen Urteilen, bei denen die Semantik der deskriptiven Terme eine Rolle spielt, lässt sich in der Tat schwer davon absehen, dass sie auf einer vorgängigen synthetischen Leistung beruhen. Mit dem Konzept der zwei Momente des Urteilens bereitet Reinhold aber vor allem einer prozessualen Auffassung von analytischem und synthetischem Erkennen den Weg, wie sie später paradigmatisch bei Hegel auftaucht. Desgleichen liefert Reinhold mit seiner Auffassung, der Satz des Bewusstseins sei die analytisch explizierte ursprüng71 KrV A 68 / B 93. 72 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 280. 73 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 30. 74 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 52.

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104 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen lich-synthetische Tatsache des Bewusstseins, Fichte die Vorlage für die Behauptung, dem synthetischen Satz des Bewusstseins müsse eine antithetische sowie eine thetische Setzung vorangehen. Denn: „Wie ist Synthesis denkbar, ohne vorausgesetzte Thesis, und Antithesis?“75 Nicht übergangen werden darf schließlich, dass Reinholds Lehrsätze zum synthetischen und analytischen Urteilen aufgrund einer weiteren Eigentümlichkeit in eine Richtung weisen, die es nahelegt, die für die Tübinger Fraktion des Deutschen Idealismus bedeutsame Urteilungslehre Hölderlins ins Spiel zu bringen. Reinhold bedient sich bei seiner Lehre des Urteilens gleichzeitig einer Kontrastierung von „Totalvorstellung“ und „Partialvorstellungen“. Der Ausgangspunkt ist hier offenbar Alexander Gottlieb Baumgartens Unterscheidung von „perceptio totalis“ und „perceptio partialis“76 sowie die Übernahme derselben durch Johann August Eberhard. In dessen Preisschrift Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens wird die Unterscheidung eingedeutscht und zu einer Gegenüberstellung zugespitzt.77 Reinhold selbst verwendet sie, in offensichtlicher Bezugnahme auf Eberhard, erstmals 1788 und 1789 im Aufsatz „Ueber die Natur des Vergnügens“. Sie wird dort zur Erörterung des Verhältnisses von rezeptivem und spontanem Subjektvermögen herangezogen. Das der Ganzheit einer Sache gerecht werdende rezeptive oder empfindende Vermögen soll eine „Totalvorstellung“ ermöglichen, das zur Zergliederung oder Deutlichkeit einer Sache führende Vermögen der Spontaneität eine „Partialvorstellung“ erzeugen.78 Es soll damit gerade auch zur Geltung gebracht werden, dass einige sinnliche Vorstellungen als klar und rein gelten können, sinnliche Vorstellungen somit nicht, wie die orthodoxen Wolffianer und ihnen ­folgend Eberhard in seiner Preisschrift behaupteten, durchgehend als verworren zu klassifizieren sind. Bei seinen Definitionen zum synthetischen und analytischen Urteilen kommt Reinhold auf die Kontrastierung von Total- und Partialvorstellung zurück. Aus den Erläuterungen ist zu erfahren, dass der Subjektausdruck des Urteils mit einer auf Anschauung gehenden „Totalvorstellung“, der die begrifflichen Merkmale fixierende Prädikatausdruck mit „Partialvorstellungen“ in Verbindung steht.79 Das Urteilen als solches erscheint von daher als ein synthetische und analytische Stufen durchlaufendes Extrahieren begrifflicher Partialvorstellungen aus der angeschauten Totalvorstellung. In einem späteren Denkschritt wird der Prozess des logischen Schließens, das mittelbare Urteilen, in diese Modellierung einbezogen. Das dem Vernunftvermögen zukommende logische Schließen soll als eine Synthese mehrerer Urteile, genauer: als ein „synthetisch“ zu nennender Vernunftschluss, der sich auflösen und insofern „analytisch“ 75 Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962–2012, Bd. 1.2, S. 45. 76 Siehe Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Ed. VII, Halle, 1779, § 514. 77 Siehe Johann August Eberhard, Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin, 1786, S. 77. 78 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, S. 145. 79 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 281.

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IV. Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen 105 darstellen lässt, begriffen werden.80 Die Gegenüberstellung von Total- und Partialvorstellung wird von Reinhold zudem, nachdem seit 1792 das Stufengebilde von empirischem, transzendentalem und transzendentem Vernunftgebrauch dominanter wird, mit dem Verhältnis von einerseits synthetischen als „transzendentalen“ Operationen von Verstand und Vernunft, andererseits analytischen als „logischen“ Operationen der Vernunft parallelisiert.81 Und hierbei ist augenfällig, dass Reinhold die im Kontext der Gegenüberstellung von Total- und Partialvorstellung stehenden Operationen zugleich als eine Zurückführung auf dasjenige versteht, was ursprünglich verbunden oder getrennt ist. Die Totalvorstellung steht für eine Handlung im Bewusstsein, die verbindet, „was sich verbinden läßt“, die Partialvorstellung für eine Handlung im Bewusstsein, die „trennt, was sich nicht verbinden läßt, was sich widerspricht“.82 Dass wir uns hier in einem Denkkontext bewegen, der uns gleichzeitig zu Hölderlin führt, entbehrt nicht näherer Anhaltspunkte. Es ist zu vergegenwärtigen, dass Hölderlin sich in der Tübinger Studienzeit dafür aussprach, die Totalvorstellung innerhalb der Skala der Vorstellungsarten aufzuwerten. Aus einem Magisterspecimen aus dem Jahre 1790 ist zu ersehen, dass er den Standpunkt des Dichters eingenommen wissen und für eine Versinnlichung oder „Personifikation abstrakter Begriffe“ streiten wollte, die ipso facto in der Lage sei, „klare Begriffe oder Total-Vorstellungen“83 hervorzubringen. Diese Verlautbarung trifft sich zwar mit einem allgemeiner bekannten und seit längerem behandelten Denktopos in der damaligen Diskussion über Geschmack und Schönheit, erinnert aber vornehmlich an die vorstellungstheoretische Klassifizierung und affirmative Bewertung der Totalvorstellung in Reinholds kurz zuvor erschienenem Aufsatz zum Begriff des Vergnügens.84 Was die erwogene Zusammenführung Hölderlins mit Reinhold dabei als noch aussagekräftiger und stichhaltiger erscheinen lässt, ist der Umstand, dass Reinhold die Totalvorstellung seit 1789 gleichzeitig in sein urteilstheoretisches Begriffsrepertoire einfügt und in diesem Rahmen auf die Vorstellung eines ursprünglichen synthetischen Urteilens und schließlich auf die Idee des ursprünglich Verbindbaren und ursprünglich Trennbaren hindeutet. Denn dies legt es nahe, dass Hölderlin, der Mitte der 1790er-Jahre Gedanken über das „Urtheil“, das im eigentlichsten Sinne „Trennung“ und „Theilung“ eines Ungeteilten oder Ganzen bedeute,85 zu Papier bringen wird, durch Reinhold womöglich gerade auch bezüglich der Idee angeregt worden ist, der zufolge die Totalvorstellung Signum eines synthetischen Vermögens ist, das uns auf dasjenige zurückführt, was nicht der Teilung oder T ­ rennung 80 81 82 83

Siehe ebd., S. 321. Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 28 f. Vgl. ebd., S. 28. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner u. Adolf Beck, Stuttgart, 1943 ff., Bd. 4, S. 184. 84 Näheres zu diesem Zusammenhang und der dabei sehr wahrscheinlichen Reinhold-Kenntnis Hölderlins auf der Grundlage von Johann Friedrich Flatt siehe bei Martin Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens. Reinhold und Hölderlin, Basel, 2020, S. 79–83. 85 Siehe Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 216.

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106 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen unterliegt.86 Einzig die Konsequenz, dass man gleichfalls über das Urteilen, zumal dieses als solches Zeichen von Trennung sei, hinauszuschreiten habe, wäre demnach im Sinne Hölderlins noch zu ziehen. Es ist bei alldem vielleicht bezeichnend, dass Hölderlin, der seinem Freund Niethammer Anfang 1796 von seiner Beschäftigung mit Kant und Reinhold berichtete,87 dann gleichfalls bei seinen Meditationen zu einer höheren Aufklärung Formulierungen verwendete, die signifikant an die synthetische Komponente des Reinhold’schen Vorstellungsdenkens erinnern. Das Leben freier Menschen soll sich an einem Ideal des „harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten“ orientieren.88 Zwar nicht das Aufsteigen von den Vorstellungarten zur Gattung der Vorstellung, aber doch eine sich zur Ganzheit verdichtende Synthesis von Vorstellungsarten soll das Motto des gediegenen aufgeklärten Denkers sein.

Selbstbewusstsein, Selbstaffektion und ein neuer Begriff von intellektueller Anschauung Äußerst bemerkenswert, und dies sowohl im Blick auf die kommende Ich-Philosophie Fichtes und Schellings als auch auf eine bestimmte Problemlage Kants, ist die Tatsache, dass Reinhold mit dem Begriff des Bewusstseins zugleich dem Begriff des Selbstbewusstseins in der Bedeutung einer selbstbezüglichen Subjekt-Struktur eine tragende Rolle zuerkannt hat. Reinhold bedient sich dieses Begriffs ausdrücklich, wenn er auf der Basis seiner Vorstellungs- oder Bewusstseinsstruktur die Begriffe des vorstellenden und wollenden Subjekts oder die theoretische Idee des Subjekts erschließt. Seinen eigentlichen Ort hat dieser Begriff Reinhold zufolge aber in einem Lehrstück, das, wie seit 1789 ersichtlich wird, zu den Präliminarien der Theorie des Erkenntnisvermögens zählt und von dem „Bewußtseyn überhaupt“ handelt. Reinhold erörtert dort die Stufen des klaren, deutlichen und erkennenden Bewusstseins und definiert das „Selbstbewußtseyn“ als Bewusstsein, das als „deutlich“ zu klassifizieren ist.89 An dieser Stelle geht Reinhold sodann auch zu einer Kontemplation des Bewusstseins über, bei welcher ein eingeschachtelter Selbstbezug des Subjekts im Mittelpunkt steht. Reinhold zufolge wird beim Selbstbewusstsein „das Objekt des Bewußtseyns als Identisch mit dem Subjekte vorgestellt“.90 Und in dieser Perspektive geht es bei der Rede von Selbstbewusstsein 86 Ausführlicher hierzu siehe Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens, S. 83–84. Man beachte ebenfalls Violetta. L. Waibel, Hölderlin und Fichte 1794–1800, Paderborn, 2000, S. 211–216, wo ausgehend von Reinholds urteilstheoretischer sowie beim Verhältnis von Verstand und Vernunft ansetzender Gegenüberstellung von Total- und Partialvorstellungen Zusammenhänge mit Hölderlins poetologischen Reflexionen aufgezeigt werden. 87 Siehe Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 202. 88 Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 279. – Zu diesem Einflussbereich siehe Violetta L. Waibel, „Reinhold hat die Wirklichkeit der Philosophie begründet“, in: K. L. Reinhold, Alle soglie dell’ idealismo, Archivio di filosofia LXXIII (2005) Nr. 1–3, Pisa/Rom, 2006, S. 351; Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens, S. 76–79. 89 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 217–221. 90 Ebd., S. 218.

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auch nicht mehr nur um das Verständnis von Subjekt, sondern eigentlich um die „Vorstellung des Ichs“.91 Die Affinität zu Fichtes kommender Aussage zu einem „Ich“, in welchem „Subjectives und Objectives unzertrennlich vereinigt und absolut Eins“ sind,92 ist offensichtlich. Und sie wird durch eine weitere Denkfacette, jene der intellektuellen Anschauung, noch schlagender. Wie nach ihm Fichte in den Texten zur Wissenschaftslehre von 1797, führt Reinhold 1790 bei seiner Rekapitulation zum Begriff des Selbstbewusstseins eine Einteilung ein, der zufolge man eine „Anschauung“ zum einen sinnlich, zum anderen aber auch „Intellektuell“ nennen darf.93 Reinhold gibt damit zu verstehen, mit dem als Identität von Subjekt und Objekt gedachten Selbstbewusstsein befinde man sich an der Grenze der Bewusstseins- oder Vorstellungsstruktur. Während Fichte in vergleichbarem Denkrahmen sogleich die Konsequenz eines Neuanfangs mit dem Grundbegriff des sich selbst setzenden Ich zieht, sieht hingegen Reinhold vorerst keinen Anlass, dem Selbstbewusstsein den Primat gegenüber dem Bewusstsein einzuräumen. Dies rührt daher, dass Reinhold dem deutlichen oder Selbstbewusstsein eine Funktion zuschreibt, die nicht, wie bei Fichte, mit der Idee einer Begründung von Wissen aus dem Selbstwissen zu tun hat, sondern mit einem Prozess der Selbstreflexion, der innerhalb der kantisch zu verstehenden transzendentalen Begründung eine flankierende Bedeutung hat. Reinhold beschreibt mit dem deutlichen oder Selbstbewusstsein einen selbstreflexiven Vorgang der Verdeutlichung von im Vorstellungsvermögen bestehenden Formen. Vorausgesetzt ist damit, dass das Vorstellungsvermögen nicht nur durch einen äußeren, aposteriorischen Stoff affiziert wird, sondern auch über einen inneren, apriorischen Stoff (seine Formen) verfügt und sich zur Vergegenwärtigung und Verdeutlichung desselben innerlich oder durch sich selbst zu affizieren vermag. Das „Afficiertwerden kann bey einer Vorstellung, die nur die a priori im Gemüth vorhandenen Formen vorstellt, durch nichts ausser dem Vorstellungsvermögen, sondern muß durch die Thätigkeit des Vorstellungsvermögens selbst geschehen.“94 Vor diesem Hintergrund besteht eine auffällige Parallele zu Kants aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bekanntem Theorem eines innerlich oder sich selbst affizierenden Subjekts, einem Theorem, das Kant in der ersten Auflage im Ansatz dahingehend artikuliert hat, dass das „Gemüt“ mittels des inneren Sinnes „sich selbst, oder seinen inneren

91 Siehe ebd., S. 219. – Zur Deutung von Reinholds diesbezüglichem Theorem des Selbstbewusstseins siehe: Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart, 1986, S. 43–45; Dieter Henrich, „Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789)“, in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, hg. v. Axel Honneth u. a., Frankfurt a. M., 1989, S. 147–159; Bondeli, Das Anfangsproblem bei K. L. Reinhold, S. 136–151; Manfred Frank, ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a.  M., 1997, S. 286–305; Silvan Imhof, Der Grund der Subjektivität. Motive und Potential von Fichtes Ansatz, Basel, 2014, S. 152–162. 92 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.4, S. 276. 93 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 245. 94 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 218.

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108 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Zustand anschauet“.95 Reinhold bringt ganz offenkundig Kants Idee der Selbstaffektion in einer verallgemeinerten und stufenarchitektonisch gefestigten Fassung zum Ausdruck.96 Hinsichtlich der erwähnten Anschauung, die als intellektuell einzustufen ist, gilt es zu beachten, dass Reinhold einen neuen, dem Standpunkt des Kritizismus nicht widersprechenden Begriff der intellektuellen Anschauung einführt. Im Einklang mit Kant weist Reinhold nämlich jene intellektuelle Anschauung, die einer Erkenntnis von Dingen an sich oder einem anschauenden Verstand entspricht, entschieden zurück. Aber er orientiert sich zugleich an Kants Selbstanschauung im Falle des sich affizierenden Gemütes, die erklärtermaßen nicht als eine Erkenntnis des Gemütes, wie es an sich ist, missverstanden werden darf. Und er klassifiziert diese Selbstanschauung im Unterschied zu Kant ausdrücklich als eine Anschauung intellektueller Art. Der Weg Fichtes und Schellings zu einem affirmativen Begriff der intellektuellen Anschauung ist damit vorgezeichnet, womit nicht gesagt ist, dass Fichte und Schelling auch exakt an Reinholds Bestimmung dieses Begriffs anschließen werden.

Die notorisch schwierige Frage des Dinges an sich Was die Frage des Dinges an sich angeht, gehört Reinhold unzweifelhaft zu den damals führenden Auslegern und Verteidigern der Position Kants. In einer bestimmten Hinsicht und von einem bestimmten Punkt an trägt er allerdings ebenso dazu bei, eine Neuorientierung in dieser gemeinhin als Crux der Philosophie Kants empfundenen Frage in die Wege zu leiten. Kritiker Kants der ersten Stunde nahmen mit Vorliebe und viel Akribie die Behauptung des Autors der Kritik der reinen Vernunft kritisch ins Visier, dass die Dinge, wie sie an sich sind, im Gegensatz zu den Dingen, wie sie erscheinen, für uns unerkennbar sind, dass sie lediglich für uns denkbar sind und in dieser Form als unser Gemütsvermögen in einer generellen Weise affizierend behauptet werden können. Besagte Kritiker sahen in dieser These Kants die Indizien eines bodenlosen Subjektivismus und Skeptizismus oder auch eines Restdogmatismus. Friedrich Heinrich Jacobi sprach von einem Paradox des Dinges an sich. Er führte vor, dass man die Existenz eines Dinges an sich behaupten und zugleich bestreiten müsse, und er empfahl als Ausweg die Elimination des Dinges an sich und damit die Überwindung des transzendentalen Idealismus und den Übergang zu dem „kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist“.97 Demgegenüber schwang sich Reinhold zu einem akkuraten Interpreten und dezidierten Verfechter der Ansicht Kants auf. Und Jacobi gegenüber äußerte Reinhold sich dahingehend, dass sich dessen Nachweis einer Paradoxie des Dinges an 95 Siehe KrV A 22 / B 37. 96 Zum Vergleich der Thematik der Selbstaffektion bei Kant und Reinhold siehe Martin Bondeli, Kant über Selbstaffektion, Basel, 2018, S. 110–120. 97 Siehe Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke, Bd. 2.1, Hamburg, 2004, S. 112.

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IV. Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen 109 sich in Luft auslöse, sobald man den Sachverhalt mit den nötigen Unterscheidungen expliziere. Für Reinhold heißt dies primär, dass es die Frage des Dinges an sich ausgehend von der Vorstellungsstruktur, insbesondere von dem Verhältnis von Subjekt als Form und Objekt als Stoff, zu klären gilt. Das Ding an sich, das man sowohl von der Seite des Objekts, als Objekt an sich, als auch von der Seite des Subjekts, als Subjekt an sich, zu betrachten hat, ist Reinhold zufolge nicht nur, wie Kant behauptet, unerkennbar, sondern, da nun beim Vorstellungsbegriff angesetzt wird, auch „unvorstellbar“.98 Mit diesem radikalisierten Zugang und in Vergegenwärtigung des Befundes, dass zu jeder Vorstellung Form und Stoff gehören, kann man das Objekt an sich mit dem bloßen Stoff oder Stoffgrund einer Vorstellung (einem Stoff ohne Form), das Subjekt an sich mit der bloßen Form oder dem Formgrund der Vorstellung (einer Form ohne Stoff) gleichsetzen. Reinhold sieht in einer Verschärfung von Kants These der Unerkennbarkeit des Dinges an sich den Vorteil, Einwände der Gegner des Kritizismus überzeugender zurückweisen zu können. Auch jene, die behaupten, das Ding an sich sei zwar in der Tat auf den Stufen der Sinnlichkeit und des Verstandes unerkennbar, auf der Stufe der Vernunft jedoch einer Erkenntnis, die demnach Erkenntnis höherer Art sei, zugänglich, sollen in die Schranken gewiesen werden können. Dabei ist Reinhold sich bewusst, dass er gleichzeitig über die Mittel für den Nachweis verfügen muss, dass die Unterscheidung von Ding der Erscheinung und Ding als an sich betrachtet zwingend ist und dass das als unvorstellbar geltende Ding an sich dennoch in einer gewissen Weise als Grund (Formgrund, Stoffgrund) dessen, was in der Erscheinung vorhanden ist, verstanden werden kann. Er weiß also, dass er dafür argumentieren können muss, dass das Ding an sich zwar unvorstellbar ist, aber deswegen kein Begriff ohne Bedeutung und ohne Gegenstand und auch kein bloß fiktionaler Begriff, dessen Realität nur darin besteht, einen bestimmten philosophischen Diskurs in Gang zu halten. Vor diesem Hintergrund spricht Reinhold davon, dem Ding an sich komme der Status einer „negativen“ Vorstellung oder eines „negativen“ Gedankenmerkmals zu.99 Reinhold sieht sich zu diesem Schritt gezwungen, da er sich von zwei Seiten abzugrenzen hat. Aufgrund der Einführung des Denkens als Art des Vorstellens kann er mit seiner These der Unvorstellbarkeit des Dinges an sich nicht im Einklang mit Kant behaupten, das Ding an sich sei zwar unerkennbar, aber doch denkbar. Er kann aber das Ding an sich auch nicht zu einer Un-Vorstellung oder einem Un-Gedanken, d. h. zu einem Nichts oder einem bloßen Diskursprodukt, degradieren. Das via negationis erschlossene Ding an sich gehört damit, wie wir schon an früherer Stelle erwähnt haben, zu jenen Komponenten der Vorstellungsstruktur, die für diese konstitutiv, ihr aber nicht unterworfen sind. Um ein Bild des frühen Wittgenstein zur Funktion des die Sachverhalte unserer Welt erkennenden Subjekts zu verwenden: Es markiert die Grenze der Vorstellungsstruktur. 98 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 164–171; siehe auch Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 185 f. 99 Siehe ebd., S. 186; Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 28.

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110 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Nicht übergangen hat Reinhold bei dieser Konkretisierung der Unvorstellbarkeitsthese den Umstand, dass nach Kant das Ding an sich neben seiner  – durch die Abgrenzung von der Erscheinung zum Ausdruck gebrachten – anti-dogmatischen oder Grenzfunktion auch eine Grundlegungsfunktion hat. Im Zusammenhang mit dieser wird davon gesprochen, eine Erscheinung sei naturgemäß eine Erscheinung von etwas, und insofern lasse sich auch eine Affektion unsererseits durch das Ding an sich annehmen. Letzteres hat Kritiker umgehend zum Einwand bewogen, dadurch werde der Begriff der Kausalität, den Kant erklärtermaßen nicht auf das Ding an sich angewandt wissen wolle, in der Sache nun doch auf dieses angewandt. Was ebendiesen Aspekt der Frage des Dinges an sich und die dagegen vorgebrachte Kritik betrifft, hat Reinhold im Gegenzug eine Unterscheidung von „Ding an sich“ und „Noumenon“ in Vorschlag gebracht.100 Von dem Ding an sich soll dort die Rede sein, wo es darum geht, die Unvorstellbarkeitsthese und die damit einhergehende anti-dogmatische Stoßrichtung geltend zu machen. Ausschlaggebend ist hier die bloße Unterscheidung von vorgestelltem Objekt und Objekt an sich (bzw. vorstellendem Ich und Ich an sich). Von dem Noumenon dagegen soll dort gesprochen werden, wo eine von dem Objekt an sich bzw. Subjekt an sich ausgehende Affektion in Betracht kommt. Wenn Reinhold in diesem Kontext von Noumenon spricht, meint er nichts anderes, als dass wir das Objekt an sich im Sinne eines Stoffgrundes bzw. das Subjekt an sich im Sinne eines Formgrundes denken und dass wir dabei dem Stoff- bzw. Formgrund den Status einer Idee oder Hypothese der Vernunft zusprechen können. Verglichen mit Kants Ausführungen zu den Begriffen von Phänomenon und Noumenon ist dies eine ausgeweitete Verwendung des Ausdrucks „Noumenon“. Der Gedanke jedoch, dass das Ding an sich in der Bedeutung eines Stoffgrundes zu nehmen ist, deckt sich durchaus mit Erläuterungen Kants, so beispielsweise mit jenen aus der Streitschrift gegen Eberhard. Wie Kant dort einschärft, besagt seine kritische Lehre, dass man den „Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in Dingen, als Gegenständen der Sinne, sondern in etwas Übersinnlichem setzt, was jenen zum Grunde liegt und wovon wir keine Erkenntniß haben können. Sie sagt: Die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff derselben.“101 Augenscheinlich besteht der Gewinn von Reinholds Unterscheidung zwischen Ding an sich und Noumenon darin, dass dafür argumentiert werden kann, die Annahme eines affizierenden Stoff- bzw. Formgrundes sei unbedenklich, da man diese lediglich als hypothetisch gültige Vernunftidee, somit in einem schwachen Sinne, geltend mache. Es werde demnach nicht die objektive Erkenntnis ermöglichende Kategorie der Kausalität auf das Ding an sich angewendet. Desgleichen lässt sich zu 100 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 346; Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 216; Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 101; Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 107. 101 Kant, Gesammelte Schriften, VIII, S. 215.

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IV. Wegweisende elementarphilosophische Reflexionen 111 der von Jacobi behaupteten Paradoxie des Dinges an sich anführen, dass sich diese nur dann aufdrängt, wenn Ding an sich und Noumenon, somit die verschiedenen Funktionen des Dinges an sich, nicht auseinandergehalten werden. Wenn Jacobi das Ding an sich voraussetzen zu müssen glaubt, um den „Eingang“ in die Philosophie Kants zu finden,102 geht er offensichtlich von der Grundlegungsfunktion und der Auffassung des affizierenden Dinges an sich aus. Wenn er es für „unmöglich“ hält, mit dem Ding an sich in dieser Philosophie zu bleiben, denkt er an die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich und damit an die anti-dogmatische Funktion des Dinges an sich. Reinhold hat seine mit dem Standpunkt Kants konforme Ansicht zum Ding an sich bis Ende 1796, das heißt bis zum Beginn seiner vorübergehenden Gemeinschaft mit Fichte, strikt durchgehalten. Der Anschluss an Fichte, für den der „Gedanke von einem Dinge, das an sich, und unabhängig von irgend einem Vorstellungsvermögen, Existenz, und gewisse Beschaffenheiten haben soll, eine Grille, ein Traum, ein Nicht-Gedanke ist“103 und der ein Ding an sich allenfalls als Chiffre für die Tatsache gelten lässt, dass das absolute Ich für uns Menschen nur in einem Zustand endlosen Strebens erreichbar und insofern nie restlos von einem äußeren Anstoß losgelöst ist, führt Reinhold zu einer Umorientierung. Reinholds Verlautbarungen zufolge ist ein erneutes Durchdenken seiner bisherigen Ansicht zum Ding an sich sogar auch ein wichtiger Anlass, wenn nicht sogar das Kernmotiv, seines Übergangs zur Position des Autors der Wissenschaftslehre.104 Erneut kommt hiermit die Deutung des äußeren Stoffgrundes als Noumenon zur Sprache, wobei Reinhold nun aber selbstkritisch protokolliert, dass der „äussere Grund der Empfindung“ sich keineswegs in „das Noumen, so weit dasselbe bloßes Produkt der Vernunft, und folglich […] nicht ausser dem bloßen Subjekte gegründetes ist“, setzen lasse.105 Dabei ist Reinholds Argumentation allerdings gerade in diesem Punkt nicht überzeugend. Denn um zu der neuen Ansicht gelangen zu können, muss Reinhold seine frühere Annahme, der mit dem Ding an sich bestehende Stoffgrund habe den Status einer Vernunftidee, in die Annahme transformieren, der Stoffgrund sei eine Idee oder ein Produkt der Vernunft. Zu beachten ist ferner, dass Reinhold seine Selbstkritik im Bereich des Objektes entfaltet und als Folge davon die Auffassung von einem Objekt an sich eliminiert. Auf der Seite des Subjekts hingegen wird an einer Differenz zwischen vorstellendem oder wollendem Subjekt einerseits und Subjekt an sich andererseits festgehalten. Diese wird dabei anhand der Gegenüberstellung von Wissen und Gewissen (bzw. Glauben) vertieft. Ein Subjekt an sich ist kein leerer Ausdruck, ein solches Subjekt kann uns jedoch nur im Modus des Glaubens zugänglich sein. Man wird von 102 Siehe Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2.1, S. 109. 103 Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.2, S. 57. 104 Für Umfassendes und Kontroverses zu Reinholds Übergang zu Fichte siehe Martin Bondeli, Silvan Imhof, Reinhold and Fichte in Confrontation. A Tale of Mutual Appreciation and Criticism, Berlin/­ Boston, 2020. 105 Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, S. 4.

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112 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen daher nicht behaupten können, dass Reinhold mit seinen Neueinsichten zugleich das Subjekt an sich eliminiert hat. Man darf festhalten, dass Reinhold mit der bei der Vorstellungsstruktur ansetzenden Behandlung der Frage des Dinges an sich zu einer differenzierten Auslegung und durchaus überzeugenden Verteidigung von Kants Ansichten in dieser Sache gelangt ist. Der Ausgang vom Vorstellungsbegriff, der es aufnötigt, das Ding an sich als negative Vorstellung zu lesen, leistet dabei allerdings – entgegen der ursprünglichen Absicht Reinholds  – ebenso einem Eliminationsgedanken Vorschub. Diesen wird Fichte mit Vorbildcharakter für Schelling und Hegel aussprechen: Wenn das Ding an sich unvorstellbar ist, ist es demnach nichts. Mit dem Anschluss an Fichte wird danach aber auch Reinhold den Eliminationsgedanken im Objektbereich gutheißen, im Subjektbereich die von Fichte angemahnte Differenz von endlich-menschlichem und absolutem Ich zu einer Differenz von Wissen und Glauben zuspitzen. Andere Akzente werden dadurch auch in der Kritik am Dogmatismus gesetzt. Für Fichte ist jener der Dogmatiker, der an „die Dinge, um ihrer selbst willen“ glaubt.106 Reinhold hingegen will zeigen, dass weder ein dogmatischer Objektivismus noch ein dogmatischer Subjektivismus als sinnvolle Position gelten kann.

V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie. Der Streit um die richtige Auslegung der Willensfreiheit Während Reinholds Theorie des Begehrungsvermögens zunächst noch ohne klare kompositorische Perspektiven bleibt, wird sie seit 1792 als praktischer Teil des Systems erarbeitet und dadurch spezifisch fundiert, gegliedert und thematisch ausgeweitet. Ins Zentrum rücken die Begriffe des Wollens und der freien Willkür sowie deren Anwendung auf Moral, Recht und moralische Religion. Dabei wird Reinhold mit seinen Definitionen zum Rechtsbegriff und zum Begriff der Willensfreiheit seit Anfang der 1790er-Jahre in weichenstellende Debatten involviert. Mit den Einlassungen zum Begriff der Willensfreiheit rivalisiert Reinhold mit Carl Christian Erhard Schmid, der in seinem einflussreichen Versuch einer Moralphilosophie seit 1790 die Freiheitslehre eines „intelligiblen Fatalismus“ vertritt.107 Reinhold, der hingegen eine Spielart des Indifferentismus favorisiert, löst damit eine größere Debatte aus, zu der neben Karl Hein106 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.4, 194. 107 Zu den Kontroversen zwischen Reinhold und Schmid siehe Andreas Berger, „Systemwandel zu einer neuen ‚Elementarphilosophie‘? Zur möglichen Rolle von Carl Christian Erhard Schmid in der Entwicklung von Reinholds Elementarphilosophie nach 1791“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 8, hg. v. M. Frank u. a., Paderborn, 1998, S. 137–210; Alessandro Lazzari, „Das Eine, was der Menschheit Noth ist“. Einheit und Freiheit in der Philosophie Karl Leonhard Reinholds (1789–1792), Stuttgart-Bad Cannstatt, 2004, S. 167–206; Martin Bondeli, „C. C. E. Schmid als vermögenstheoretischer Mitstreiter und Kritiker des Elementarphilosophen Reinhold“, in: M. Heinz, G. Stiening (Hg), C. C. E. Schmid (1761–1812). Spätaufklärung im Spannungsfeld zwischen Leibniz und Kant, Berlin/Boston (im Erscheinen).

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie 113 rich Heydenreich, Leonhard Creuzer, Maimon, Erhard, Fichte und Schelling schließlich auch Kant selbst mit der 1797 erfolgten Veröffentlichung der Einleitung zur Metaphysik der Sitten Position bezieht.108

Freiheit als Grundlage des praktischen Systemteils und die Folgen für das Gesamtsystem Den Anfang des praktischen Systemteils bilden Definitionen und Erörterungen zu den Begriffen des Willens und der Willensfreiheit. Sodann wird der Begriff des Rechts allgemein ins Visier genommen, in Moralität und Recht im engeren Sinne unterteilt sowie auf die Bereiche von Naturrecht und Staatsrecht angewendet. Abgerundet wird das praktische Systemgebäude mit zum Teil aufklärungspragmatischen Lehrstücken zur moralischen Religion und zur Geschmackslehre. Dass die Begriffe des Willens und der Willensfreiheit an der Spitze des praktischen Systemteils stehen, ist alles andere als zufällig. In diesem Befund spiegelt sich das Bemühen Reinholds, auf der Basis diverser Erörterungen Kants zum Begriff der moralischen und rechtlichen Freiheit einen profilierten und seines Erachtens als Grunddefinition geeigneten Begriff der Willensfreiheit zur Geltung zu bringen, nämlich die Auffassung, die Willensfreiheit sei „das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz.“109 Vor allem aber ist die besagte Priorisierung Ausdruck von Reinholds Überzeugung, dass Wille und Willensfreiheit das Fundament des praktischen Systemteils bilden ­müssen. Der Weg zu dieser Überzeugung ist auch in diesem Falle an eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Prämissen Kants gebunden. Reinhold hat bei seinen Betrachtungen zum Fundament der Vernunftkritik auch eigens die Frage des praktischen Fundaments in den Fokus gerückt und ist in dieser Sache spätestens um 1792 zu der Schlussfolgerung gelangt, das von Kant als „Factum der reinen Vernunft“ 110 behauptete Sittengesetz sei nicht der eigentliche Baustein in der Errichtung des Fundaments der praktischen Vernunft. Das einzig wahre Fundament der praktischen Vernunft sei vielmehr das mit dem Sittengesetz einhergehende Vermögen des freien Willens. Das „Sittengesetz“, so argumentiert Reinhold in diesem Zusammenhang, sei seiner eigentlichen Natur nach ein „Gesetz des Willens“ und setze deshalb „den richtigen Begriff von der Freyheit“ des Willens voraus.111 Das Sittengesetz soll demnach aus dem Begriff der Freiheit des Willens zu verstehen sein und daraus abgeleitet werden. Mit dieser Einsicht kann Reinhold nicht umhin, sich sogleich über die Frage eines Freiheitsbeweises neu 108 Umfassend zu dieser Debatte siehe Violetta Stolz, Marion Heinz, Martin Bondeli (Hg.), Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin/Boston, 2012. Man beachte ferner die das Freiheitsthema betreffenden Publikationen im Rahmen des von Jörg Noller initiierten DFG-Netzwerks „Praktische Philosophie nach Kant (1785-1800)“. 109 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 188. 110 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, V, S. 41. 111 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 238.

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114 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen zu verständigen. Während Kant die Wirklichkeit der moralischen Freiheit auf der Grundlage des Faktums des Sittengesetzes beweist, argumentiert Reinhold für die Wirklichkeit der Freiheit des Willens vor einem seines Erachtens ursprünglicheren Hintergrund und damit auch auf eine andere Art und Weise. Reinhold hält es für nötig, jedoch auch für ausreichend, auf ein ursprüngliches praktisches Faktum und auf praktische Evidenz zu rekurrieren. Seines Erachtens gründet das Bewusstsein von der Freiheit des Willens in diesem Bewusstsein selbst, bedarf also keiner weiteren Voraussetzung. In diesem Sinne wird eingeschärft, das Vermögen des freien Willens stehe und falle mit unserem praktischen „Selbstbewußtseyn“, das seinerseits als eine schwer zu bezweifelnde „Thatsache“ des Bewusstseins gelten könne.112 An anderer Stelle unternimmt Reinhold den Versuch, mögliche Zweifel an dieser Überzeugung mit der Erklärung zu zerstreuen, das praktische Selbstbewusstsein sei diejenige Instanz in uns, durch die sich eine „Handlung“ des Vermögens des freien Willens als eine im gesunden Verstand verankerte „Thatsache“ ankündige, und die, da sie Ermöglichungsgrund ebendieser Tatsache sei, gleichfalls den Status einer Tatsache habe.113 Reinhold argumentiert hier teils mit einem Rückschluss von einem im Allgemeinverstand wohlfundierten Faktum auf dessen Vermögensgrundlage, teils deutet er an, dass man das handelnde Vermögen selbst im Sinne eines Realitätsgaranten sehen kann. Mit der Einsicht, die Willensfreiheit sei das Fundament des praktischen Systemteils, steht nun allerdings auch eine problematischer werdende Sachlage bezüglich des Gesamtsystems zur Diskussion. Die Vorstellungsstruktur als Fundament der gesamten Philosophie muss als Basis gleichfalls der Willensfreiheit und als Fundament des praktischen Teils der Philosophie begriffen werden. Doch wie ist dies möglich? Solange über ein intentionales Begehren oder Wollen nachgedacht wurde, konnte eine Eingliederung in die Vorstellungsstruktur relativ reibungslos bewerkstelligt werden. Doch wie soll nun ein Vermögen des freien Willens, welches die Auffassung eines praktischen Selbstbewusstseins und damit eine Idee der Selbsttätigkeit impliziert, ausgehend von der Vorstellungsstruktur bestimmt werden? Reinholds Antwort darauf ist, dass auch bei der Willensfreiheit, soweit sie als Vermögen, sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, in ihren Einzelmomenten betrachtet wird, von einer Dreigliedrigkeit auszugehen ist. Reinhold versteht die Willensfreiheit als Vermögen der Selbstbestimmung angesichts des Sittengesetzes genauer betrachtet derart, dass die wollende, sich selbst bestimmende Person einerseits mit einer „Forderung“ des Sittengesetzes oder „uneigennützigen Triebes“, andererseits des sinnlichen Antriebs oder „eigennützigen Triebs“ konfrontiert ist und sich angesichts dieser Konstellation für oder gegen den uneigennützigen bzw. den eigennützigen

112 Siehe ebd. 113 Siehe ebd., S. 193.

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie 115 Trieb entscheidet und insofern den betreffenden Trieb befriedigt.114 Mit der Person und den beiden Trieben können demnach analog zur Vorstellungsstruktur drei Instanzen, Reinhold macht sie ausdrücklich als „drey verschiedene Thatsachen des Bewußtseyns“ kenntlich,115 supponiert werden, die aufeinander beziehbar und voneinander unterscheidbar sind. Auf der Grundlage dieser Analogie kommt Reinhold denn auch zu der programmatischen Schlussfolgerung, dem „richtigen, aber bis jetzt noch ganz verkannten Begriffe von der Freyheit des Willens“ sei „in der künftigen praktischen Philosophie dieselbe Funktion aufbehalten, die dem richtigen und bis jetzt nicht weniger verkannten Begriffe von der Vorstellung in der künftigen Philosophie überhaupt, und insbesondere in der theoretischen bevorstehe.“116 Reinhold ist offensichtlich zu der Einsicht gelangt, dass neben der Vorstellungsstruktur als theoretischem Fundament gleichwertig die Willensfreiheit als praktisches Fundament steht. Die Analyse der Willensfreiheit, die deren Dreigliedrigkeit aufzuzeigen vermag, liefert aber gleichzeitig einen Grund zu der Annahme, dass die Vorstellungsstruktur auch beim praktischen Fundament gilt und deshalb als gemeinsamer Grund, als Fundament der Philosophie überhaupt, angesehen werden kann. Die Sache näher besehen, erweist sich die Analogie von Vorstellungsstruktur und Struktur der Willensfreiheit nun allerdings als brüchig. Während bei der Vorstellungsstruktur Subjekt und Objekt durch die Vorstellung voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden und das Subjekt dabei allenfalls als Akteur des Unterscheidens und Beziehens erscheint, bildet im Falle des Vermögens der Willensfreiheit das Subjekt, nämlich das wollende Subjekt, das sich zwischen Sittengesetz und eigennützigem Trieb entscheidet, den Dreh- und Angelpunkt. Dass das wollende Subjekt dabei autonom entscheidet, völlig selbsttätig ist, bedeutet zudem, dass es sich bei diesem Subjekt um das praktische Selbstbewusstsein handelt. Aber gerade diese Gewichtung des Subjekts und dessen unumgängliche Auslegung als praktisches Selbstbewusstsein kann nun mit der Vorstellungsstruktur an der Spitze des gesamten philosophischen Systems nicht einsichtig gemacht werden. De facto besteht in Reinholds Fundament-Konzeption von 1792 deshalb eine Koalition von Satz des Bewusstseins einerseits und praktischem Selbstbewusstsein andererseits, auf deren Grundlage die vorangehende dreigliedrige Vorstellungsstruktur nurmehr eine schwache strukturelle Klammer bildet. Zu diesem Befund kommt hinzu, dass Reinhold sich mit dem 1792 eingeführten Verständnis einer „Vernunft“ allgemein, die es als das „Vermögen der Person, zu den durch ihre übrigen Vermögen möglichen Wirkungen sich selbst Vorschriften (Regeln) zu geben“, zu verstehen gilt, den Weg dazu bahnt, die theoretische Vernunft anhand der 114 Zur Herkunft von Reinholds Beschreibung des Verhältnisses von Sittengesetz und sinnlichem Antrieb als Gegenüberstellung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, S. 269 f.; Bd. 2.2, S. 349. 115 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 254. 116 Siehe ebd.

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116 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Begrifflichkeit von Bedingtheit und Unbedingtheit zu erschließen. Die theoretische Vernunft wird als eine Vernunftform rekonstruiert, die ein „bedingtes“, da auf einen äußeren Grund angewiesenes Vernunftgesetz kennt, die praktische Vernunft als eine Vernunftform im Zeichen eines „unbedingten“ Vernunftgesetzes.117 Diesem Ausgriff auf eine Vernunft schlechthin entspricht, dass Reinhold von nun an die theoretische Vernunft in struktureller Hinsicht als bedingt, und zwar entweder als bloß empirisch (bedingt) oder als empirisch und transzendental (bedingt unbedingt), die praktische Vernunft als unbedingt und ausschließlich transzendental (schlechthin unbedingt) begreift. Mit der Neukonzeption der Elementarphilosophie im Jahre 1795 geht Reinhold dazu über, diese Skalierung der Vernunft zum Gegenstand einer Neubeantwortung der Fundamentfrage zu machen. In diesem Sinne wird gleichsam dekretiert, die echte Philosophie müsse im theoretischen Bereich die „unbedingten Gesetze des Erkennens“, im praktischen Bereich das „unbedingte Gesetz des freyen Wollens“ als Prinzipien enthalten.118 Vorausgesetzt wird dabei, dass es sich bei beiden Gesetzmäßigkeiten um Äußerungen der unbedingten Selbsttätigkeit des Subjekts handeln soll. Es ist bemerkenswert, dass Reinhold in der letzten Phase seines elementarphilosophischen Schaffens bei der Betrachtung des theoretischen Vermögens nur noch von Gesetzen des Erkennens spricht und nicht mehr von dem Satz des Bewusstseins. Offenbar räumt er diesem Satz nun auch als Fundament der theoretischen Philosophie lediglich noch eine strukturbildende Rolle schwächerer Art ein. Umso relevanter ist für ihn inzwischen das Gesetz des freien Willens geworden. Die Unbedingtheit dieses Gesetzes, das über der bedingten Unbedingtheit der Gesetze des Erkennens steht, wird vollends ausschlaggebend für eine adäquate Behandlung der Fundamentfrage. Was dabei das Verständnis von Gewissheit angeht, wird diese nun nicht mehr vornehmlich an einer diskursiven Evidenz der Vorstellungsstruktur festgemacht, sondern an einer intuitiven Evidenz im Zusammenhang der Freiheit und Gewissenhaftigkeit moralischen Handelns. Insgesamt muss man sich darüber im Klaren sein, dass Reinhold um 1795 seine Revisionspläne immer noch entschieden auf dem Boden der Elementarphilosophie vorantrieb. Der Anschluss an Fichte war, mit anderen Worten, noch keineswegs erfolgt. Im Gegenteil. Reinhold beharrte auf seinen Positionen. In einem Brief von Ende 1795 an Fichte ließ er verlauten, dass unter anderem die Unterscheidung zwischen der am freien Willen festzumachenden moralisch-praktischen Vernunft einerseits und der gesetzgeberischen praktischen Vernunft andererseits es ihm verunmögliche, sich mit der Wissenschaftslehre in Übereinstimmung zu befinden. Reinhold schrieb dazu, dass nur das „Moralische Selbstbewußtseyn“ dazu berechtige, dem absoluten, transzenden-

117 Siehe ebd., S. 52 f. 118 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, S. 31 f.

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie

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talen Subjekt das Prädikat des Absoluten „unbedingt“ beizulegen.119 Und gegen Fichte wurde eingewandt, dass er über keine ausreichende Unterscheidung von „Selbsttätigkeit“ einerseits und „Freyheit“ oder moralischer Gewissenhaftigkeit andererseits verfüge.120 Diese Fichtes Avancen noch eindeutig zurückweisende Stellungnahme Reinholds vermag zu erhellen, dass der von ihm um 1795 vertretene strukturelle Primat der praktischen Vernunft ein Primat eigens der moralischen, im Lichte des eigenen Verständnisses von Willensfreiheit interpretierten, praktischen Vernunft ist. Diese und keine andere praktische Vernunft ist das Fundament aller Philosophie. In dieser Sache besteht denn in der Tat auch ein Dissens mit Fichte, der sich seinerseits von vornherein nicht nur von Schmids intelligiblem Fatalismus, sondern auch von Reinholds indifferentistischer Auslegung der Willensfreiheit distanziert hat. Interessanterweise handelt es sich um einen Dissens, der auch nach Reinholds Anschluss an die Position des Wissenschaftslehrers bestehen wird und der mit dafür verantwortlich ist, dass die Gemeinschaft beider prekär und kurzzeitig bleibt. Geht man der Frage nach, welche näheren Erwägungen Reinhold bei seinen wiederholten Revisionen der Elementarphilosophie letztlich dazu veranlasst haben, sich Ende 1796 zu Fichtes Wissenschaftslehre zu bekennen, sieht man sich, neben dem von Reinhold in den Mittelpunkt gestellten Problem des Dinges an sich, mit Fragen zum Einheitsgrund des Systems, zur Ausbalancierung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Vernunft und weiteren damit verwandten Problemen konfrontiert.121 Was Reinhold nur andeutungsweise erörtert hat, ist die systematische Dynamik, die sich mit der Einführung des Begriffs einer Vernunft allgemein, einer gesetzgebenden Vernunft schlechthin, ergibt. Sosehr Reinhold darauf abzielt, die Unbedingtheit an einer moralischen Vernunft der Willensfreiheit festzumachen, im Blick auf die auszudifferenzierende Systematik des Unbedingten kann er nicht umhin, sich zugleich über die gesetzgebende Vernunft näher zu verständigen. Auffällig ist, dass er in diesem Kontext eigens über die Gesetzgebungen der theoretischen und der praktischen Vernunft, die zwei Arten der Gesetzgebung, gesprochen hat, jedoch nicht über die Gesetzgebung der vorausliegenden Vernunft allgemein, nicht über die gesetzgebende Vernunft als Gattung. Die schlechthin unbedingte Gesetzgebung der praktischen Vernunft, welche danach strebt, alles Bedingte zu negieren, und die bedingt unbedingte Gesetzgebung der theoretischen Vernunft, welche das Bedingte positiv setzt, werden nicht ausgehend von einer Gesetzgebung der Vernunft allgemein rekonstruiert und somit nicht ausgehend von einem ersten Vernunftvermögen, welches die Grundstruktur zu diesen Verhältnisbestimmungen bereit119 Siehe Reinhold an Fichte, Dezember 1795, in: Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 3.2, S. 438. – Auf bereits vor 1795 niedergeschriebene Äußerungen Reinholds, in denen der Gedanke einer unmittelbar vom moralischen Selbstbewusstsein ausgehenden Begründung des absoluten Ich vorgebildet ist, verweist Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Bd. 2, S. 1426, Anm. 53. 120 Siehe Reinhold an Fichte, Dezember 1795, in: Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 3.2, S. 438. 121 Siehe hierzu die Interpretation in Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, S. XVIII–XXIX.

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118 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen stellt. Dem Bemühen, dieses Manko wettzumachen, kommt ohne Zweifel Fichtes Grundsatzkonzeption der Wissenschaftslehre von 1794 entgegen, namentlich der Ausgang von den drei obersten Urhandlungen des Setzens, Entgegensetzens und Teilbarsetzens. Und dieser Ausgang steht denn bezeichnenderweise auch im Mittelpunkt von Reinholds Einverständnis mit Fichte.122 Die mit der Gesetzgebung der Vernunft allgemein erreichte Handlung des Teilbarsetzens, die sich ihrerseits als Synthese der Handlungen des Setzens als These und des Entgegensetzens als Antithese verstehen lässt, ermöglicht es, theoretische und praktische Vernunft als unterschiedliche Modifikationen des unbedingten und bedingten Gesetzgebens zu begreifen. Dass Fichte zufolge die besagten Urhandlungen nicht nur als Grundsätze auszuformulieren, sondern auch einer im „Ich“ begründeten Vernunft zuzuschreiben sind, bleibt für Reinhold dabei aber nebensächlich.

Eine radikale Form moralischer Willensfreiheit. Gegen den intelligiblen Fatalismus C. C. E. Schmids Doch zurück zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit als Fundament des praktischen Systemteils und als nicht wenig umstrittener Theorieansatz innerhalb der frühen nachkantischen Philosophie. Reinhold hat den seines Erachtens richtig verstandenen Begriff der Willensfreiheit zur Bedingung für ein adäquates Verständnis nicht nur der Moralität und des Sittengesetzes, sondern auch des Rechts und Staatsrechts sowie der moralischen Religion erhoben. Angesichts dieses Vorgehens ist es symptomatisch, dass er den vom Moralitätsbegriff abgehobenen Rechtsbegriff sowohl mit Freiheit als auch mit Gesetzlichkeit assoziiert. Recht im engeren Sinne des Wortes wird zunächst als ein personales Verhältnis gefasst, das dem Willen durch das Sittengesetz als „bloß möglich“ oder „bloß erlaubt“ auferlegt ist.123 Recht wird somit ausgehend von einem Begriff des moralisch Möglichen oder Erlaubten bestimmt, der als dritte Kategorie neben dem Gebotenen und Verbotenen steht. Erst in einem Folgeschritt wird jenes Rechtsgesetz, das Kant in Anlehnung an das Sittengesetz als eine äußere Freiheit unter allgemein Gesetzen bestimmt hat, zu einer elaborierteren Darstellung des Rechtsverhältnisses herangezogen. Ehe das Recht als Gesetzlichkeit und Verbindlichkeit zu betrachten ist, gelte es, so Reinhold im Subtext, den mit dem neuzeitlichen Naturrecht und Menschenrecht freigelegten Rechtsgedanken einer garantierten Freiheit des Tun- oder Lassenkönnens, des Wollens oder Nichtwollens einer Sache zur Geltung zu bringen. Zur Diskussion steht mit diesem am Rechtsbegriff festgemachten Freiheitsgedanken allerdings vor allem eine juristisch abgesicherte Handlungsfreiheit und nicht die Willensfreiheit. Zudem kommt damit vornehmlich eine Freiheit durch das Gesetz oder mit Hilfe des ­Gesetzes zur Sprache und nicht, wie dies bei der Willensfreiheit der Fall sein kann, eine 122 Siehe ebd., S. 127–129. 123 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 145.

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie 119 Freiheit angesichts des Gesetzes, eine Freiheit, das Gesetz anzunehmen oder zu v­ erwerfen. Insofern kann die Willensfreiheit als ein dem Recht vorausgehender Begriff hier nur eine begrenzte Bedeutung haben. Reinhold denkt an die Möglichkeit, von einem zugesprochenen Recht, das generell einzuhalten ist, im Einzelfall „nachlassen“ zu ­können.124 Was den Begriff der Willensfreiheit in eigener Sache betrifft, konkretisiert Reinhold diesen, nachdem er ihn als Vermögen der Person, sich selbst für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, definiert und in eine triebtheoretische Richtung als Entscheidung zwischen dem sinnlich-eigennützigen und dem vernünftig-uneigennützigen Antrieb ausgelegt hat, im Hinblick auf das genauere Verständnis von einem autonomen Willen der Person. Die wollende Person muss der Voraussetzung nach nicht nur als unabhängig von einem sinnlichen Antrieb bzw. von einem Movens der pragmatischen Vernunft, sondern auch als unabhängig von der „Nöthigung durch die praktische Vernunft“,125 d. h. unabhängig von der sittlichen Vernunft oder dem Sittengesetz, gedacht werden können. Nicht nur die Sinnlichkeit, sondern auch der reine Wille ist so in der Anfangskonstellation von der praktischen Vernunft bzw. dem Sittengesetz abzugrenzen: „Die praktische Vernunft ist nicht der Wille, und der Wille ist nicht die praktische Vernunft, selbst der reine Wille nicht.“126 Mit dieser Bestimmung der Willensfreiheit, mit der unweigerlich sowohl der „reine“, sittliche als auch der „unreine“, unsittliche Wille als „die möglichen Handlungsweisen des freyen Willens“ aufzufassen sind,127 wendet Reinhold sich ausdrücklich gegen die Exegese zum kantischen Begriff moralischer Freiheit bei Carl Christian Erhard Schmid, der sich für einen „intelligiblen Fatalismus“ aussprach, diesen dabei freilich von einem blinden, sinnlichen und atheistischen Fatalismus abgehoben wissen wollte. Schmid meinte mit dieser Auslegung, moralische Freiheit sei als ein für uns Menschen zwar gegebener, in positiver Hinsicht aber unbegreiflicher intelligibler Grund zu verstehen. Es sei unmöglich und auch nicht nötig, sich unter der moralischen Freiheit noch etwas anderes vorzustellen als eine negative Form von intelligiblem Grund, als ein „von allen Erscheinungen in der Zeit unabhängiges Vermögen zu handeln“.128 Dass mit diesem intelligiblen Grund auch die Möglichkeit unsittlichen Handelns besteht, sollte dabei nicht bestritten werden. Doch war Schmid dagegen, diese Möglichkeit ein freies Handeln zu nennen. Desgleichen wies er die Idee eines anfänglich indifferenten Vermögens, sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, zurück, eine Idee, die ihm ein „nonsen-

124 Siehe ebd. 125 Siehe ebd., S. 188. 126 Ebd., S. 55. 127 Siehe ebd., S. 188. 128 Siehe Carl C. E. Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, Jena, 1790, S. 208.

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120 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen sikalisches Vermögen“ zu sein schien.129 Für Reinhold, der nicht von einer moralischen, sondern von einer moralrelevanten Freiheit ausgeht, bedarf es hingegen nicht nur eines Bruchs mit einem Determinismus der Erscheinungen, sondern auch der Annahme einer vorgängigen Unabhängigkeit der wollenden Person von dem Sittengesetz. Genauer besehen muss eine Unabhängigkeit derart vorausgesetzt werden, dass in sinnvoller Weise von einem Wählenkönnen von Maximen und einem Entscheidenkönnen für oder gegen das Sittengesetz gesprochen werden kann. Die Gründe für diesen Schritt lassen sich mit den Stichworten des „Gewissens“ und der „Zurechnungsfähigkeit der Handlungen zur Schuld und zum Verdienst“ umreißen.130 Wie Reinhold einschärft, ist das moralrelevante, gewissenhafte, der Schuld und dem Verdienst zurechenbare Handeln und Wollen einer Person nur möglich, wenn diese Person nicht durch den sinnlichen Antrieb bestimmt ist, aber auch nicht von dem Vermögen, davon unabhängig zu agieren und dem Sittengesetz zu folgen, je schon Gebrauch macht. Mit anderen Worten: Das betreffende Handeln und Wollen der Person ist nur dann möglich, wenn ein Vermögen der Entscheidung der Person angesichts des sinnlichen Antriebs und des Sittengesetzes besteht. Und hierin besteht denn nach Reinhold auch das punctum saliens der moralrelevanten Willensfreiheit. Dass aufgrund des angestrebten Ziels einer sittlichen Gesellschaft die Entscheidung für und nicht gegen das Sittengesetz die richtige ist und dass man demnach nicht nur die Möglichkeit der Entscheidung zum Sittlichen, sondern auch die Richtigkeit dieser Entscheidung als eine Form von Freiheit ansehen kann, wird in der Sache nicht bestritten und will Reinhold auch keineswegs in Abrede stellen. Maßgebend und primär für das Freiheitsverständnis ist und bleibt seines Erachtens aber das Wahl- und Entscheidungsvermögen. Wie Reinhold nicht entgeht, ist für das in moralischer Hinsicht gewissenhafte und zurechenbare Handeln und Wollen einer Person aber nicht nur die besagte Unabhängigkeit der wollenden, sich entscheidenden Person vom Sittengesetz erforderlich. Nötig ist auch, dass das Freiheitsmoment des Entscheidens mit Gründen einhergeht. Der Person muss ein Wissen oder zumindest ein Wissenkönnen dessen, wofür sie sich entscheidet und weshalb sie sich für das eine und nicht für das andere entscheidet, somit ein Entscheiden auf der Basis von Gründen, zugeschrieben werden können. Im Blick auf die Willensfreiheit als Vermögen, sich selbst für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, heißt dies, dass Reinhold dafür argumentiert, dass die Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz nicht ohne die Bezugnahme auf Gründe vor sich geht. In dieser Hinsicht nimmt er sowohl kritisch als auch affirmativ auf die Freiheitsauffassung des „Aequilibristen“ Bezug.131 Diese Auffassung ist abzulehnen, sofern sie tatsächlich, wie ihre Kri129 Siehe Carl C. E. Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, Jena, 1792, S. 335. – In der dritten Auflage von 1795 rückte Schmid von dieser Sicht ab und räumte, um der Zurechnungsfrage gerecht zu werden, eine freie Entscheidung zum Sittlichen oder Unsittlichen im Sinne eines moralischen Glaubens oder Ideals ein. 130 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, S. 141. 131 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, S. 192.

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie 121 tiker unterstellen, mit Vorstellungen eines mechanischen Gleichgewichts von Gründen oder eines Entscheidens ohne Ansehung von Gründen operiert. Denn in diesem Falle haben die Kritiker leichtes Spiel und durchaus Recht, wenn sie bald eine paralysierte Entscheidung, bald eine Entscheidung durch Zufall oder blinde Willkür monieren. Die genannte Auffassung ist aber insofern richtig, als eine Entscheidung auf der Basis von Gründen angenommen werden muss, bei der vorgängig eine Freiheit der Indifferenz besteht. Näher besehen besagt dies, dass die Gründe, die bei dem Entscheid von Belang sind, als „veranlassende“ und nicht uns als die wollende Person  – welcher Art auch immer  – „bestimmende“ Gründe zu verstehen sind.132 Andernfalls wäre unsere Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz durch Gründe vorausbestimmt, der freie Wille eine Chimäre. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die wollende Person angesichts bestehender, veranlassender Gründe einen veranlassenden Grund zum bestimmenden erhebt und insofern sich selbst bestimmt. Reinhold hat damit seine Auffassung von Willensfreiheit am Ende dahingehend artikuliert, dass das Sittengesetz und der sinnliche Antrieb als veranlassende Gründe zu fassen sind, auf die wir uns als wollende Person beziehen. Vor diesem Hintergrund gilt es anzunehmen, dass die beiden Gründe im Sinne von letzten Gründen im Falle der Entscheidung über moralisch zu beurteilende und bereits durch Gründe imprägnierte alternative Handlungsoptionen zu begreifen sind. In diesem Sinne kann von Gründen über Gründe oder von Stufen von Gründen gesprochen werden. Zwischen den beiden letzten Gründen gibt es aber keine Entscheidung mehr, die sich auf noch andere Gründe der betreffenden Hierarchie von Gründen stützen kann. Der Grund ist hier niemand anderes als das entscheidende Ich, genauer: das Ich, das sich in einer Haltung der Ernsthaftigkeit und moralischen Gewissenhaftigkeit angesichts der letzten Gründe entscheidet. Der Grund ist, mit anderen Worten, das mit freiem und verbindlichem Gewissen agierende Ich selbst, das ebendeshalb zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Reinholds Begriff der Willensfreiheit im Spannungsfeld von Kritik und ästhetischer Transformation. Die Rolle Friedrich Schillers Nachdem zuerst Schmid, Maimon, Leonhard Creuzer und Fichte kritische Einwände gegen Reinholds Theorie der Willensfreiheit artikuliert hatten, griff Anfang 1797 Kant für Reinhold ungünstig in die Diskussion ein. In der Folge meldete sich ebenfalls Schelling, dies zum Teil in Form eines Anschlusses an Einwände Fichtes, ablehnend zu Wort. Ohne Reinhold ausdrücklich zu erwähnen, der Sache nach aber durchaus auf ihn gemünzt, hat Kant Anfang 1797 in der „Einleitung“ zur Metaphysik der Sitten festgehalten, dass davon abzusehen sei, die moralrelevante Freiheit der Willkür als „Ver132 Siehe ebd., S. 180 f.

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122 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen mögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae)“, zu definieren. Die besagte Freiheit solle vielmehr als Vermögen, „durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zu Handeln genöthigt zu werden“, auf den Begriff gebracht werden.133 Reinhold hat sich bei dieser Aussage Kants unmittelbar angesprochen gesehen und mit einem äußert kritischen Kommentar zum gesamten Freiheitsabschnitt aus Kants „Einleitung“ reagiert.134 Nüchtern betrachtet, sind die sachlichen Differenzen zwischen Reinhold und Kant weniger erheblich, als dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Indem Kant auffällig den Willen, der „weder frei noch unfrei“ genannt werden kann, da er dem Gesetz zugeordnet ist, von der Willkür, die mit der Maximenwahl einhergeht und „frei“ genannt werden kann,135 unterscheidet, kommt es, bei allen terminologischen Dissonanzen, sogar zu einer sachlichen Annäherung. Denn auch bei Kant wird nun die Instanz der Gesetzgebung markanter als zuvor von der Person, deren Wille oder Willkür Maximen betrifft, unterschieden. Die hauptsächlichen Differenzen rühren daher, dass Reinhold den Gewissens- und Zurechnungsaspekt der Freiheit, den Kant selbst in seiner Religionsschrift noch stark betont hatte, in den Mittelpunkt stellt, Kant dagegen nun mit der Metaphysik der Sitten vor allem den Aspekt der Gesetzlichkeit.136 Bereits seit Ende 1793 steht mit Fichtes Rezension zu Creuzers Skeptischen Betrachtungen über die Freyheit des Willens der Vorwurf im Raum, in Reinholds Konzeption der Willensfreiheit werde ein intelligibles Vermögen der Selbsttätigkeit in eine „Reihe der Naturwirkungen“ herabgesetzt. Damit werde man genötigt, „ein Intelligibles anzunehmen, das kein Intelligibles sey.“137 Schelling schließt um 1797 an diese Verlautbarungen Fichtes an. Reinholds Auffassung des freien Willens ist für Schelling Ausdruck des Standpunkts des Bewusstseins, somit eine Freiheitsauffassung empirischer Natur. Reinhold verkenne damit die eigentliche, intelligible Freiheit und den dabei unbedingt vorauszusetzenden Begriff von dem „absoluten Willen“.138 Auch hier darf man nicht übersehen, dass bei aller Differenz ein Grundkonsens besteht. Fichte und Schelling folgen in einem Schlüsselpunkt den Vorgaben Reinholds. Wie Reinhold sind sie der Überzeugung, dass im Blick auf eine kommende Systemarchitektonik der Begriff der Willensfreiheit den Begriffen der Moralität und des Sittengesetzes vorangehen muss. Das Sittengesetz ist Fichte zufolge aus der Freiheit des wollenden Ich zu deduzieren. Schelling zufolge ist es ein Gesetz, das dem absolut freien Willen unterstellt ist. Reinhold hat demnach mit seiner Elementarphilosophie nicht nur die Prinzipien- und Systemidee, sondern gerade 133 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, VI, S. 226. 134 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5.2, S. 141–153. 135 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, VI, S. 226. 136 Siehe dazu Martin Bondeli, „Freiheit, Gewissen und Gesetz. Zu Kants und Reinholds Disput über Willensfreiheit“, in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Violetta L. Waibel, Margit Ruffing, David Wagner, Berlin/Boston, 2018, Bd. 1, S. 529–544. 137 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.2, S. 10. 138 Siehe Friedrich Wilhelm Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Hans-Michael Baumgartner, Wilhelm Jacobs u. a., Werke 4, Stuttgart, 1988, S. 167.

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V. Das Fundament der praktischen Elementarphilosophie 123 auch eine Grundidee der praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus antizipiert. Wirft man einen Blick auf Schellings Freiheitsschrift von 1809 und die dort ausgesprochene Einsicht, die wirkliche, lebendige Freiheit sei ein „Vermögen des Guten und des Bösen“,139 wird man schließlich behaupten können, dass selbst Reinholds Ansicht über eine Freiheit, die sowohl dem sittlichen oder guten als auch dem unsittlichen oder bösen Willen zuzuschreiben ist, von seinen deutsch-idealistischen Nachfolgern von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr als völlig abwegig angesehen wurde. Neben allen kritischen und argwöhnischen Stimmen stieß Reinholds Definition der Willensfreiheit in manchen Kreisen hingegen von Anbeginn auf positive Resonanz. Zu erwähnen sind Reinholds Schüler Erhard und Niethammer. Sie kritisierten zwar das Grundsatzdenken ihres Meisters im theoretischen Teil der Elementarphilosophie, hegten aber große Sympathien für den praktischen Teil und die dort an der Spitze stehende Freiheitslehre. Zustimmend reagierte interessanterweise auch Friedrich Schiller, dies allerdings nicht ohne das Bestreben, Reinholds Resultat zugleich eine eigenwillige ästhetische Pointe aufzusetzen.140 Im neunzehnten Brief der Briefereihe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt Schiller, dass er zwei Arten der menschlichen Freiheit voneinander abgehoben wissen möchte. Bei der „ersten Art“ soll es sich um diejenige Freiheit handeln, die „dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, nothwendig zukommt, und ihm weder gegeben noch genommen werden kann“, eine Freiheit, die dadurch bewiesen wird, „daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt“. Mit der „zweiten Art“ soll dagegen diejenige Freiheit zur Diskussion stehen, die sich auf die „gemischte Natur“ des Menschen gründet und die dadurch offenbar wird, dass der Mensch „in den Schranken des Stoffes vernünftig, und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt“.141 Insbesondere mit der Freiheit der zweiten Art steht Schiller nicht nur unter dem Einfluss von Reinholds Trieb- und Willensmodell, er stimmt mit Reinhold ebenso in der Befürwortung einer Freiheit des Willens überein, die grundsätzlich eine Wahlfreiheit ist und bei der der Wille insofern frei genannt werden darf, als er von Trieben zwar affiziert wird, jedoch bei der ausschlaggebenden Entscheidung von ihnen unbehelligt bleibt. In der Abhandlung Ueber Anmuth und Würde klärt Schiller seine Leser darüber auf, dass es gleichsam ein Majestätsrecht des Menschen gegenüber dem bloß stofflichen und dem tierischen Dasein ist, nicht nur körperliche Regungen und Begehrungen der Lust und Unlust zu erfahren, sondern ebenso über Intelligenz und über einen Willen

139 Siehe Friedrich Wilhelm Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, mit einem Essay von W. Schulz, Frankfurt a. M., 1975, S. 48. 140 Zu Schillers Anschluss an Reinholds Auffassung von Willensfreiheit siehe Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München, 2015, S. 236–260; Martin Bondeli, „Friedrich Schillers zwei Arten der Freiheit. Eine Deutung und ästhetische Transformation von Reinholds Theorie der Willensfreiheit“, in: Kant-Studien 111.2, 2020, S. 1–21. 141 Siehe Die Horen. Eine Monatsschrift, hg. v. Friedrich Schiller, Jahrgang 1795, Tübingen, 1795, Sechstes Stück, S. 61.

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124 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen zu verfügen.142 Und dieser „Wille“ soll genau genommen eine „Instanz“ im Menschen sein, die als „übersinnliches Vermögen weder dem Gesetz der Natur noch dem der Vernunft so unterworfen ist, daß ihm nicht vollkommen freie Wahl bliebe, sich entweder nach diesem oder nach jenem zu richten.“143 „Der Wille“, so wird mit Bezug auf den Autonomiegedanken bekräftigend erläutert, „steht hier gleichsam zwischen beiden ­Gerichtsbarkeiten, und es kommt ganz auf ihn selbst an, von welcher er das Gesetz ­empfangen will.“144 Der Wille, so Schiller schließlich auch im Geiste von Reinholds ­Veranlassungsidee, sei insofern nicht „gebunden“, sondern lediglich, sofern er der würdigen, moralischen Option folge, dem Gesetz der Vernunft „verbunden“.145 Schiller greift in dieser Sache ebenfalls in kritischer Absicht den von Reinhold herangezogenen äquilibristischen Gedanken zu einem „Gleichgewicht“ auf.146 So expliziert er im neunzehnten Brief der Briefereihe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, im Falle eines Gleichgewichts von Stoff- und Formtrieb bestehe ein Zustand, bei dem die „doppelte Nöthigung“ des Willens sich aufhebe und der „Wille“ sich „gegen die beiden Triebe als eine Macht (als Grund der Wirklichkeit)“ verhalte.147 Der Wille sei somit genau deshalb frei, weil er im Falle eines Gleichgewichts der Triebe die absolute Selbstmacht erlange. Während Reinhold auf den Äquilibristen eingeht, um diesen sogleich einer noch unreflektierten Ausdeutung der Indifferenzfreiheit zu überführen, hält Schiller an der Idee des Gleichgewichtes fest und hält es für angebracht, diese Idee mit dem Ziel eines Fortgangs des Menschen von der Naturstufe zu einer geistig-ästhetischen Stufe fruchtbar zu machen. Ausgegangen werden soll von einem Gleichgewicht der Triebe, das sich eigens in einem Bereich von Naturkräften einstellen kann. Und das Gleichgewicht selbst soll an dieser Stelle in einem weiten, Ideen der Entwicklung und der Harmonie einschließenden, Sinne aufgefasst werden. Die beiden Triebe müssen sich nicht nur die Waage halten, sie müssen sich dazu vorgängig auch auf einem entwickelten Stand der Ausbildung und Kultivierung befinden. Sie müssen sich außerdem durch energetische Schübe der „Anspannung“ zur Selbstdarstellung und zugleich durch Phasen der „Abspannung“ zur Selbstbeschränkung befähigt haben.148 Schiller denkt ebenso an eine möglichst vollständige, jede Unvollkommenheit vermeidende, sich der Wechselbewegung von „Ausschließung“ und „Einschließung“149 innewerdende Ausbildung der Triebe. Nur bei einem natürlichen Gleichgewicht dieser elaborierten Art, so Schillers erhaben-sub142 Zu diesem Willensmotiv, das schon in Schillers vorkantischem Denken erkennbar ist und das in seiner Spätzeit mit zum Teil naturfeindlichen Färbungen wiederkehrt, siehe Wolfgang Riedel, „Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller“, in: Georg Bollenbeck, Lothar Ehrlich (Hg.), Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, Köln/Weimar/Wien, 2007, S. 60–62. 143 Neue Thalia, hg. v. Friedrich Schiller, Leipzig, Jahrgang 1793, Dritter Band, Zweytes Stück, S. 193. 144 Ebd., S. 194. 145 Ebd. 146 Siehe Die Horen, Jahrgang 1795, Zweytes Stück, S. 90. 147 Siehe Die Horen, Jahrgang 1795, Sechstes Stück, S. 58. 148 Ebd., S. 46. 149 Siehe ebd., S. 61.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 125 versiver Gedanke, sei Freiheit des Willens möglich, bestehe ein selbstmächtiger Wille, der von einer Nötigung durch die beiden Grundtriebe unbehelligt bleibe und der somit frei zu wählen und zu entscheiden in der Lage sei. In diesem Sinne kann Schiller der Ansicht sein, dass die Willensfreiheit „ihren Anfang“ erst dann nimmt, „wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben.“150 Was Schiller als Ideal vorschwebt, ist damit aber letztlich ein Gleichgewicht der Triebe in einem höheren – geistig-natürlichen – Bereich. Und erst in Vergegenwärtigung dieses Ideals wird einsichtig, was Schiller zufolge der mit Hilfe des elaborierten Naturzustandes in Freiheit gesetzte Wille eigentlich will und wollen soll. Er soll sich dazu entscheiden, das natürliche Gleichgewicht, das ihn ermöglicht hat, auf einer höheren Stufe zu reproduzieren. Der freie Wille entscheidet sich für die Erhaltung und Perfektionierung des natürlichen Gleichgewichts und damit für das Fortbestehen seiner selbst. Oder aus der Sicht der höheren, natürlich-geistigen Stufe gedacht: Der freie Wille negiert das natürliche Gleichgewicht, indem er es in ein geistig-künstlerisches Gleichgewicht aufhebt. An diesem Punkt manifestiert sich nun deutlich auch die Verzweigung in eine ethische Richtung bei Reinhold und eine ästhetische Richtung bei Schiller. Anders als bei Reinhold soll sich bei Schiller der freie Wille nicht für oder gegen den einen oder anderen Trieb entscheiden, sondern gegen eine Triebdissonanz und für ein harmonisches Gleichgewicht der Triebe. Dieser Differenz entsprechend, wird der Begriff des freien Willens mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen und Zielsetzungen vertreten. Bei Reinhold steht ein völlig autonomer, ethisch attribuierter und dabei insbesondere in die Forderungen der Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeit involvierter, letztlich dem sittlichen Leben verpflichteter Wille zur Diskussion, bei Schiller ein ebenfalls völlig autonomer, jedoch durch ästhetische Vorstellungen von Gleichgewicht und Harmonie befeuerter und dem Ziel des ästhetischen Bewusstseins und Lebens anverwandelter Wille. Schillers freier Wille erweist sich damit im Grunde als der Spieltrieb, der nicht nur die vermittelnde Mitte von Form- und Stofftrieb darstellt, sondern in seiner vermittelnden Tätigkeit sich ebenso selbst perfektioniert.

VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie und Neuformierungen der Prinzipienidee des Deutschen Idealismus Als nicht nur renitent, sondern auch durchaus produktiv erwiesen sich im Laufe der 1790er-Jahre die skeptizistischen Angriffe auf die Elementarphilosophie, darunter in erster Linie die Interventionen Salomon Maimons, Gottlob Ernst Schulzes und Jakob Sigismund Becks. Die drei Autoren wurden gleichermaßen für Reinhold wie für Fichte zu einer veritablen Herausforderung. Dabei war Schulze nachgerade mitverantwortlich, 150 Siehe ebd., S. 52.

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126 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen dass Fichte Ende 1793 zu der Einsicht gelangte, die nötige Festigkeit von Reinholds Grundsatz- und Systemidee sei erst dann gewährleistet, wenn nicht die „Thatsache“ des Bewusstseins, sondern die „Thathandlung“ des Ich oder Selbstbewusstseins am Anfang stehe.151 Als einschneidend sowohl für Reinholds weiteren Denkweg als auch für die sich ab Mitte der 1790er-Jahre abzeichnenden Neuformierungen innerhalb des Prinzipiendenkens der nachkantischen Systemphilosophie stellte sich zudem der Umstand he­ raus, dass im Fahrwasser der glaubensphilosophischen, rationalistischen, empiristischen und skeptizistischen Kritiken weitere Fraktionen ihre Bedenken gegenüber der Elementarphilosophie anmeldeten. Je mehr Reinhold sein System in einer eigenwilligen Weise entfaltete, desto stärker musste er sich zusätzlich gegen Einwürfe von orthodoxeren Kantianern wie Carl Christian Erhard Schmid zur Wehr setzen. Darüber hinaus regten sich die skeptizistische Richtung verstärkende Widerstände in Reinholds Schülerkreis, in dem sich Ideen des Meisters mit orthodoxerem kantischen, aber auch mit frühromantischem Ideengut mischten. Von dieser Seite wurde anfangs Einspruch gegen einzelne Ableitungsschritte in Reinholds Systemkomposition erhoben, danach das Programm einer Grundsatz- und Systemphilosophie auch grundlegender in Frage gestellt. Die vorerst moderate Opposition gegen Reinhold verschärfte sich hier nach Mitte der 1790er-Jahre zu einer Gesamtpolemik gegen die Grundsatzphilosophie, bei der auch Fichtes Wissenschaftslehre und Schellings frühe Systementwürfe nicht unbehelligt blieben. Man stellte sich die Frage, ob mit der Idee eines sich selbst setzenden Ich nicht wiederum ein erstes Prinzip statuiert werde, das nicht tragfähig und nicht umfassend genug sei. Ein Einwand, den Reinhold bei seiner kritischen Betrachtung zum Fundament der Vernunftkritik Kants erhoben hatte, wurde damit nun gegen Fichte und seine Anhänger in Anschlag gebracht. In der Summe kam so zur Methoden-, Grundsatz- und Systemkritik eine Ich-Kritik hinzu, bei der, wie mustergültig bei Hölderlin Mitte 1795, für den Ausgang von dem „Seyn schlechthin“ als bessere Alternative gestritten wurde.152 Gegen Ende der 1790er-Jahre formierten sich schließlich Autoren, die unter der Losung eines neuen Realismus zur Absage an den angeblich formalistisch-­ nihilistischen Idealismus Kants und Fichtes aufforderten. Es kamen so Lernprozesse in Gang, welche die Gesamtlage des Deutschen Idealismus veränderten.

Maimons wirkungsreiche Kritik an Kants Faktum der Erfahrung Im selben Jahre wie Reinhold mit dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens ist Salomon Maimon mit der Schrift Versuch über die Transscendentalphilosophie an die Öffentlichkeit getreten und hat sich als Vertreter eines skeptizistisch modifizierten Kritizismus in Szene gesetzt. In der Folge hat er aus dieser Pers151 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.2, S. 46. 152 Siehe Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, hg. v. Dietrich Eberhard Sattler, (Bremer Ausgabe), Bd. 4, München, 2004, S. 163.

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pektive, dies unter anderem in einem denkwürdigen Briefwechsel mit Reinhold, die elementarphilosophische Neuauslegung der Vernunftkritik wiederholt attackiert. Die Wirkung Maimons, der sich später mit einer neuen Logik oder Theorie des Denkens befassen und dabei Kants metaphysische Deduktion einer dekonstruktivistischen Kritik unterziehen wird, ist vielfältig, geht über Neuvorschläge im Bereich der theoretischen Vernunft hinaus.153 Bei der Behandlung der Erkenntnisfrage ragen die zu idealistischen und monistischen Konsequenzen führenden Bemühungen hervor, den Begriff des Differentials einzuführen und auf dieser Basis die Vermittlung der heterogenen Vermögen des Verstandes und der Anschauung zu explizieren oder auch die Annahme eines uns affizierenden Dinges an sich verständlich zu machen.154 Am nachhaltigsten hat Maimon aber mit seinem mantraartig erhobenen Vorwurf gewirkt, Kants Beweis synthetischer Urteile a priori beruhe auf einem unzulässig vorausgesetzten Faktum der Erfahrung und sei deshalb in einer fehlerhaften Weise zirkulär. Besagter Beweis müsse demnach anders geführt werden. Maimon bringt diesen Vorwurf, den er ausdrücklich auf jene synthetischen Urteile a priori bezogen wissen will, die nicht mathematische oder Anschauungsobjekte, sondern physikalische oder Erfahrungsobjekte betreffen, unter anderem wie folgt auf den Punkt: „Hr. K.[ant] setzt das Faktum als unbezweifelt voraus, daß wir nämlich Erfahrungssätze (die Nothwendigkeit ausdrücken) haben, und beweiset hernach ihre objektive Gültigkeit daraus, daß er zeigt, daß ohne dieselbe Erfahrung unmöglich wäre; nun ist aber Erfahrung möglich, weil sie nach seiner Voraussetzung wirklich ist, folglich haben diese Begriffe objektive Realität. Ich hingegen bezweifle das Faktum selbst, daß wir nämlich Erfahrungssätze haben, daher kann ich ihre objektive Gültigkeit auf diese Art nicht beweisen, sondern ich beweise bloß die Möglichkeit ihrer objektiven Gültigkeit von Gegenständen nicht der Erfahrung (die in der Anschauung bestimmt sind), sondern ihrer Grenzen, die durch die Vernunft in Beziehung auf die ihnen korrespondierenden Anschauungen als Objekte bestimmt sind“.155

Bei seiner Auseinandersetzung mit Kants Beweisen synthetischer Urteile a priori aus den Kapiteln der Kritik der reinen Vernunft zu den synthetischen Grundsätzen des 153 Gesamteinblicke in Maimons Schaffen und Denken vermitteln Friedrich Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons, Heidelberg, 1912; Samuel Atlas, From Critical to Speculative Idealism. The Philosophy of Salomon Maimon, Den Haag, 1964; Salomon Maimon: alle origine dell’idealismo tedesco, a curo di Luigi Azzarati-Fumaroli, Lidia Gasperoni, Discipline filosofiche Anno XXIX, n. 1, Bologna/Macerata, 2019. 154 Zu Einzelheiten und verschiedenen Auslegungsvarianten in dieser Sache siehe Achim Engstler, Untersuchungen zum Idealismus Maimons, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1990, S. 45–61; Luis Eduardo Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie. Deutsche Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts, Freiburg/München, 2008, S. 274–286. 155 Salomon Maimon, Versuch einer Transscendentalphilosophie mit einem Anhang über symbolische Erkenntniß und Anmerkungen, Berlin, 1790, S. 186 f.

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128 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen r­einen Verstandes formuliert Maimon diesen Vorwurf einer unzulässigen Voraussetzung eines Faktums der Erfahrung auch ausdrücklich als Vorwurf einer fatalen Zirkularität: „Die kritische Philosophie kann also hier nichts mehr tun als zeigen, daß zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, in dem Sinne, worin sie das Wort Erfahrung nimmt, allgemeine synthetische Grundsätze (z. B. Alles hat seine Ursache u.d.g.) und hinwiederum zur Realität (Beziehung auf ein Objekt) dieser Grundsätze, Erfahrung als Faktum vorausgesetzt werden müsse, d. h. sie muß sich im beständigen Zirkel herumdrehen.“156

Offenbar spricht Maimon an diesen Stellen über das bei Kant herauslesbare progressive Beweisargument, wonach Erfahrungssätze nur unter der Bedingung kategorialer Begriffe möglich sind und wonach diese Begriffe, da es Erfahrungssätze gibt, als objektiv gültig zu behaupten sind. Und unzweifelhaft bringt Maimon dabei zum Ausdruck, dass er dieses Beweisargument in der Art, wie es bei Kant zur Anwendung zu kommen scheint, für unbefriedigend hält.157 Doch weshalb genau? Maimon zufolge wird bei diesem Argument das zu Beweisende, die Erfahrungssätze in der Bedeutung von synthetischen Urteilen a priori, bereits vorausgesetzt. Die Auffassung von Erfahrungssätzen, mit der zunächst synthetische Urteile generell gemeint sind, wird unter der Hand auf synthetische Urteile a priori eingeengt. Der Beweis wird zirkulär. Zugleich macht Maimon aber auch darauf aufmerksam, was auf der Grundlage des besagten Beweises erreicht werden kann und konkretisiert dadurch den gegen Kant gerichteten Vorwurf. Maimon zufolge können Sätze zwar nicht wirklicher, jedoch möglicher Erfahrung in der Bedeutung von synthetischen Urteilen a priori geltend gemacht werden. Mit Kants Beweis lässt sich Maimon zufolge also ein Resultat zu einer möglichen Erfahrung gewinnen, welche als Bedingung wirklicher Erfahrung und zugleich als Maßstab zur Erforschung derselben zu verstehen ist. Kant hat aber, Maimons kritischer Spitze zufolge, mit seinem Beweisziel in einer undurchsichtigen Weise auf eine Form von wirklicher Erfahrung geschlossen. In eigener Sache geht Maimon davon aus, dass es sich bei den kategorialen Begriffen um Grenzbegriffe oder Verstandesideen handelt, die wir mit dem Ziel, auf mögliche Erfahrung zu schließen, annehmen und mit der wirklichen Erfahrung abgleichen. Im Unterschied zu späteren Kritikern von Kants transzendentalem 156 Salomon Maimon, Streifereien im Gebiete der Philosophie, Berlin, 1793, S. 51. – Siehe auch Salomon Maimon, Philosophisches Wörterbuch oder Beleuchtung der wichtigsten Gegenstände der Philosophie, in alphabethischer Ordnung, Berlin, 1791, S. 24: „Letztlich begehen Sie [die Kantianer] auch einen Zirkel im Erklären, indem Sie diese Formen als nothwendige Bedingungen der Erfahrung, welche sie als Faktum voraussetzen, denken, und wiederum die Erfahrung als Faktum voraussetzen, damit Sie die Realität dieser Formen beweisen können.“ 157 Näheres zu diesem Punkt sowie zu Maimons eigener Position siehe Martin Bondeli, Apperzeption und Erfahrung. Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kritik, Basel, 2006, S. 301–340.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 129 Beweis ist Maimon offenbar nicht der Meinung, mit der als Untersatz deutbaren Aussage, dass es Erfahrungssätze gibt, werde eine empirische und insofern für das Beweisziel synthetischer Urteile a priori nicht tragfähige Voraussetzung eingeführt.158 Dass wir uns als Erkennende auf einen Gegenstand der Erfahrung beziehen und dass uns dieser nur als Einheit von Stoff und Form der Erfahrung und damit nur in der Form eines Erfahrungssatzes zugänglich ist, lässt sich, so nimmt Maimon an, den Grundfakten der transzendentalen Erkenntnisstruktur zurechnen.159 Es ist zu bezweifeln, dass man Kant die von Maimon diagnostizierte Zirkularität unterstellen kann, zumal Kant nicht darüber hinweggeht, dass bei dem besagten Beweis unterschiedliche Bedeutungen von Erfahrung vorliegen. Hingegen scheint es berechtigt zu sein, beim Verhältnis von möglicher und wirklicher Erfahrung auf einen Problempunkt Kants hinzudeuten. Zwar spricht auch Kant davon, das Beweisziel betreffe eine Ebene möglicher und nicht wirklicher Erfahrung, doch geht er gleichzeitig davon aus, dass die mit den synthetischen Urteilen a priori bewiesenen Gesetze der Erfahrung durchaus als apodiktisch und real gelten können. Sie sind für Kant jedenfalls nicht bloß anhand der wirklichen Erfahrung zu überprüfende und damit nur hypothetisch-gültige Gesetze. Genau letzteres meint nun aber Maimon, wenn er von Grenzen oder Verstandesideen spricht. Wir können im Falle möglicher Erfahrung nur von hypothetisch gültigen Gesetzen der Erfahrung ausgehen. Wir müssen diese Gesetze demnach auch nicht nur transzendental beweisen, sondern zugleich in einer methodischen Hinsicht als zu überprüfende Hypothesen behandeln. Sowohl Maimons Zirkelvorwurf als auch seine Auffassung zu den zu überprüfenden Hypothesen sind in der Folge zu einem bedeutsamen Stachel in den Bestrebungen geworden, sich genauer über Kants transzendentale Erkenntnisbegründung zu verständigen. Angeregt durch kritische Stellungnahmen bei Johann Jakob Fries zu Kants progressivem Beweisverfahren der Erkenntnisbegründung, kommt beim Kritischen Rationalismus Karl Raimund Poppers Maimons Auffassung, wonach bei Kants transzendentalem ­Beweis von auf Erfahrung bezogenen hypothetisch gültigen Verstandesideen auszugehen ist, von Neuem und mit neuer Perspektive zur Geltung. Nach Popper muss es sich bei den Gesetzen der Erfahrung, von denen Kant gesprochen hat, um falsifizierbare hypothetische Gesetzmäßigkeiten handeln. Es geht um bestimmte All-Aussagen, die sich durch Beobachtungssätze in der wirklichen Erfahrung überprüfen und falsifizieren lassen. Dem von Kant gegen einen Empirismus der Induktion geltend gemachten Allgemeinheits- und Notwendigkeitscharakter der Gesetze der Erfahrung wird unter der Einschränkung, dass 158 Zur betreffenden Meinung siehe P. Rohs, „Die Disziplin der reinen Vernunft, 1. Abschnitt“, in: Georg Mohr, Marcus Willaschek (Hg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Berlin, 1998, S. 566. 159 Reinholds Schüler Niethammer wird Mitte der 1790er-Jahre diesen Punkt berühren und, einer solchen Deutungsweise entsprechend, dafür argumentierten, der Satz „daß überhaupt Erfahrung ist“ sei ein „Hauptfactum“ des gemeinen Verstandes und insofern eine nicht sinnvoll zu bezweifelnde Voraussetzung des Versuchs, synthetische Erkenntnis zu begründen (siehe Niethammer, „Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie“, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hg. v. Friedrich Immanuel Niethammer, 1795, Bd. 1.1, S. 23 f.).

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130 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen diese Gesetze im Blick auf wirkliche Erfahrung nur den Status von Hypothesen haben können, Recht gegeben. Der eigentliche Sinn von Kants Beweis­argument ist demnach, „daß Erfahrung, daß Erkenntnis im Sinne der empirischen Wissenschaft ohne ‚Gesetzmäßigkeiten‘ unmöglich ist; genauer: daß sie unmöglich ist, wenn sich nicht alles so verhält, als ob es strenge allgemeine Gesetzmäßigkeit gäbe.“160 Aber schon in den frühen 1790er-Jahren ist Maimons Einfluss, und dabei weit direkter, gegenwärtig. Wir haben bereits angedeutet, dass auch Reinhold im Zusammenhang mit der Frage des Fundamentes der Vernunftkritik von einem unzureichend erklärten Faktum der Erfahrung sowie im Zusammenhang mit der Begründung synthetischer Urteile a priori von einem fatalen Zirkel spricht. Es ist offensichtlich Maimon, der Reinhold zu dieser Angriffsrichtung gegen Kant geführt hat. Jedenfalls macht sich diese bei Reinhold erst nach Erscheinen von Maimons Versuch über die Transscendentalphilosophie bemerkbar. Näher besehen hat Reinhold den Vorwurf eines „fehlerhaften Zirkels“ erstmals 1790 vorgetragen,161 wobei er sich zunächst auf einen definitorischen Aspekt konzentriert hat. Es wird moniert, bei Kant und einigen Kantianern werde der Begriff der Erfahrung, dem Grundsatz der „Analogien der Erfahrung“ entsprechend, als „Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von Wahrnehmungen“162 bestimmt und dadurch von vornherein dergestalt definiert, dass sich bei dem Beweis nach dem „Prinzip“ der „Möglichkeit der Erfahrung“ nichts anderes als synthetische Urteile a priori ergeben könnten.163 Ein Jahr später hält Reinhold fest, dass die Beweise in Kants Kapiteln zu den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes dem „Vorwurfe eines Zirkels“ nicht enthoben seien, zumal mit ihnen nur erörtert werde, was mit den vorangehenden transzendentalen Deduktionen im Bereich der sinnlichen Anschauung und des Verstandes schon erwiesen worden sei. Und unmittelbar darauf wird schließlich, ähnlich wie bei Maimon, bemängelt, dass die „Realität“ jener kategorialen „Begriffe von der Möglichkeit Erfahrung“, welche bei den synthetischen Urteilen a priori im Zentrum stehen, bloß „vorausgesetzt“ und nicht in der nötigen Weise begründet werde.164 Kants Vernunftkritik, so lautet das Schlussverdikt, habe ihr Fundament, die Erfahrung in der Form synthetischer Urteile a priori, durch einen „fehlerhaften Zirkel“ erwiesen.165 So wie Reinhold die Dinge im Blick auf sein eigenes System entwickelt, ist er um 1791 der Ansicht, mit dem Ausgang vom Satz des Bewusstseins nicht nur den nötigen sicheren begrifflichen Vorbau zum Beweis synthetischer Urteile a priori liefern, sondern gerade auch das mit dem progressiven Beweisargument einhergehende Zirkelproblem lösen zu können. Dabei scheint er anzunehmen, das Zirkelproblem lasse sich dann eliminieren, wenn ausgehend vom Satz des Bewusstseins an einen nicht von vornherein 160 Karl R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Gesammelte Werke in deutscher ­Sprache, Bd. 2, Tübingen, 2010, S. 93. 161 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 334. 162 Siehe KrV B 218. 163 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 334. 164 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 74. 165 Siehe ebd.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 131 auf synthetische Urteile a priori eingeengten Erfahrungsbegriff herangeführt werde. Mit diesem Zugang kommt Reinhold nun aber ebenso wenig wie Maimon über Kants Ergebnis hinaus. Was den weiteren Vergleich mit Maimons Kritik an Kants Beweis angeht, ist Reinhold vorerst offenbar nicht empfänglich für die beim Autor des Versuchs über die Transscendentalphilosophie angesprochene Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von möglicher und wirklicher Erfahrung. Jedenfalls ist es nicht einsichtig, wie Reinhold ausgehend vom Satz des Bewusstseins einen Begründungsweg einschlagen kann, der es erlaubt, auf genau diese Schwierigkeit zu reagieren. Eine Begründung von oben, eine Begründung aus dem Satz des Bewusstseins, ist hierzu offenkundig nicht der richtige Ansatz. Maimon hat denn auch Reinhold genau an diesem Punkt, bei einem Begründungsvorschlag von oben, zu Recht attackiert. Dabei ist zu erwägen, ob Reinhold, wenn er ab 1792 über ein Verhältnis von Fakten des gesunden Verstandes und transzendentalen Gründen der philosophierenden Vernunft reflektiert, dieses Ungenügen erkannt und darauf mit einer Gegenstrategie zu antworten versucht hat.166 Sollte dem tatsächlich so sein und hätte Reinhold unter den Fakten des Bewusstseins gerade auch synthetische Urteile a priori verstanden, wäre er allerdings lediglich zu einem neuartigen regressiven Argument in der Begründung dieser Urteile gelangt. Er hätte sich an der bei Kant erwähnten regressiven Lehrart orientiert, bei welcher nicht aufzeigt werden soll, „ob“ synthetische Erkenntnis möglich sei (denn diese ist wirklich), sondern nur „wie sie möglich sei“.167 Zu einer angemessenen Erfassung der aus dem progressiven Beweisargument resultierenden Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von möglicher und wirklicher Erfahrung wäre es also auch mit Reinholds Rekurs auf Fakten des gesunden Verstandes nicht gekommen. Anders wird die Sache zu einem späteren Zeitpunkt aussehen. Reinhold ist sich im Laufe der 1790er-Jahre der Tragweite der von Maimon aufgezeigten Problematik im Verhältnis von möglicher und wirklicher Erfahrung bewusst geworden und hat den Versuch unternommen, dieses Verhältnis nun ebenfalls in einer methodischen Weise zu klären. Das Resultat dieses Versuchs kulminiert darin, dass Reinhold um 1800 mit seinem System des Rationalen Realismus Partei für eine Methode des philosophischen Erkennens ergreift, der zufolge von realer (nicht scheinbarer) Erkenntnis nur dort gesprochen werden kann, wo von Hypothesen ausgegangen wird und wo diese Hypothesen nach Durchlaufen eines Verfahrens der Analysis als bewährt gelten können. Jene Mitstreiter, die sich dieser Einsicht verschließen, werden von Reinhold fortan des Dogmatismus bezichtigt. Dies betrifft Reinhold zufolge allen voran Fichte, dessen Gedanke einer der Synthese vorausgehenden Antithese und These zwar zu würdigen sei, der es jedoch versäumt habe, in einer fundamentalen, bereits die Anfangsstruktur des 166 Zu dieser Erwägung siehe Faustino Fabbianelli, „Ist Philosophie eine reale Wissenschaft? Reinholds Auffassung des Skeptizismus und seine Auseinandersetzung mit Maimon“, in: Martin Bondeli, Jiri Chotas, Klaus Vieweg (Hg.), Krankheit des Zeitalters oder heilsame Provokation? Skeptizismus in der nachkantischen Philosophie, Paderborn, 2016, S. 128–133. 167 Siehe Kant, Gesammelte Schriften, IV, S. 275.

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132 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen Denkens und Erkennens betreffenden Form die Komponente der Hypothese einzubeziehen. Reinhold dürfte auf dem Weg zu dieser ursprünglich durch Maimon inspirierten Neuerung vermutlich dadurch bestärkt worden sein, dass sein Jenaer Schüler Friedrich Immanuel Niethammer Mitte der 1790er-Jahre in einer programmatisch wirksamen Weise erklärte, dass die Prinzipienbegriffe Reinholds und Fichtes als ein Ideal zu verstehen seien und dass ihre Etablierung deshalb auf einem Verfahren analytisch-regressiver sowie überprüfender Begründungsschritte beruhen müsse.168 In den nötigen Einzelheiten hat Reinhold seine Gedanken zu einer das Moment der Hypothese integrierenden Methode, mit welcher die „Realität der Erkenntniß“ gesichert werden kann, in seinen ab 1801 publizierten Beyträgen zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts niedergelegt. Diese Methode wird dahingehend ausbuchstabiert, dass es bei jedem Prozess des angewandten Denkens oder Erkennens ein erstes, nur hypothetisch gültig Wahres, das „zu bewährende Wahre“, auf seinen absolut gültigen Grund, auf das „Urwahre“, zurückzuführen gilt.169 Reinhold hat dabei das Zurückführen als ein Verfahren der „Analysis“ beschrieben, bei dem vier Grundglieder, die „Thesis“, „Hypothesis“, „Antithesis“ oder „Disjunktion“ und „Synthesis“ oder „Konjunktion“, zu beachten sind.170 Das hypothetisch gültig Wahre fungiert dadurch zugleich als Hypothese im eigentlichen Sinne des Wortes, als Voraussetzung, die unter einer These steht und die es auf diese These als ihren Grund zurückzuführen gilt. Die Antithese und Synthese ihrerseits werden als Verfahrensschritte des überprüfenden Vergleichens von begrifflichen und gegenständlichen Denkbestimmungen aufgefasst. Der absolut gültige Grund wird im Blick auf diesen vergleichenden Vorgang als Ideal betrachtet, sodass ihm hier eine regulative Funktion zuzuschreiben ist. Was die Frage der Überprüfung betrifft, wird nicht von Überlegungen zur Falsifizierbarkeit und der möglichen Falsifikation einer Hypothese ausgegangen. Im Brennpunkt steht die Annahme, dass sich aufgrund eines zu durchlaufenden Vergleiches von Denkinhalt und Gegenstand, in welchem die vier Grundglieder ihre Funktion erfüllen, eine Objektivierung des Denkens einstellt und so eine falsche, scheinbare von wahrer Erkenntnis abscheiden lässt. Während noch bei Maimon die Idee eines hypothetischen Erkennens in den Rahmen einer transzendentalen Begründung eingegliedert ist, erinnert bei Reinholds Neuvorschlag nun allerdings bloß noch das kategorial ausgestaltete Verhältnis von Form und Stoff an eine solche Begründungsart. Der Wahrmacher in der Frage der Erkenntnis ist nicht mehr ein die Ermöglichung von Erfahrung betreffendes Argument, sondern das erfolgreich durchgeführte Verfahren der Analysis. Es besteht kein Zweifel, dass auch die erkenntnistheoretischen Konzepte Fichtes, Schellings und Hegels nachhaltig von den Debatten zu Kants Faktum der Erfahrung und den daraus entspringenden Ideen zu einer neuen Erkenntnismethode geprägt sind. 168 Siehe Frank, ‚Unendliche Annäherung‘, S. 501–505. 169 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 7.1, hg. v. Martin Bondeli u. Silvan Imholf, Basel, 2020, S. 47 f. 170 Siehe ebd., S. 314 f.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 133 Am augenfälligsten wird dies bei Hegel. Wie die „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes verrät, hat Hegel seine Vorschläge zu einer „Prüffung der Realität des Erkennens“ und zu einer Untersuchung der „Wahrheit des Wissens“171 profiliert anhand dieser Denklinie ausgebildet.172 Sobald der reife Hegel das Verhältnis seiner Philosophie zu jener Kants rekonstruiert, will er klargestellt wissen, dass das „Factum“ der Erfahrung der Boden sei, den die Philosophie Kants mit dem Empirismus Humes gemein habe und auf dem sie, unter dem Rekurs auf kategoriale Verstandesbestimmungen, nun ihre synthetischen Urteile a priori begründe.173 Diesen Boden muss man Hegel zufolge unweigerlich verlassen, und zwar auf einem Weg, den Reinhold mit seinem Verfahren der Analysis eingeschlagen, aber nicht mit der nötigen Stringenz und spekulativen Geschmeidigkeit beschritten habe. Aus der Sicht Hegels, der seine Methode des Erkennens als ein vorwärtsschreitendes Zurücklaufen in den Grund beschreiben wird, ist der von Reinhold vorgeschlagene Ausgang von einem hypothetischen oder problematischen Philosophieren der Grundidee nach richtig, aber in der Zielbestimmung und Durchführung mangelhaft. Hegel zufolge hat Reinhold den Zusammenschluss von erstem und eigentlichem Wahren nur in der Form einer endlosen Annäherung gedacht. Auch Reinholds Räsonnement, demzufolge wahres Erkennen mit einem erfolgreichen Verfahren des Vergleichens von begrifflichen und gegenständlichen Bestimmungen steht und fällt, wird von Hegel grundsätzlich als richtig und fruchtbar erachtet, im Detail aber wiederum kritisiert. Die Struktur im Verfahren des Vergleichens muss nach Hegel dem Geiste eines dialektischen und nicht – wie bei Reinhold – eines analytischen Holismus entsprechen.

Der Generalangriff Schulzes auf die Fundamente Reinholds und Kants und die Kritik Becks am intentionalen Vorstellungsbegriff 1792 ist Gottlob Ernst Schulzes gegen Reinhold und Kant gerichtete Streitschrift Aenesidemus174 ohne Nennung des Autors und Druckorts erschienen. Die dort auftauchenden Einwände gegen Reinhold sind nicht neu. Doch werden sie in Form eines gebündelten und in den Einzelheiten sehr zugespitzten Angriffs vorgetragen, eines Angriffs, der zudem der kritischen Philosophie insgesamt gilt. Dies und die Tatsache, dass Fichte die Schrift rezensiert und in meditativer Auseinandersetzung mit ihr die erste Fassung seines Systems der Wissenschaftslehre konzipiert hat, verleiht ihr ein erhebliches, auf den ersten Blick kaum absehbares Gewicht für den Gang der Fortentwicklung der 171 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg, 1968 ff., Bd. 9, S. 58. 172 Für Näheres hierzu siehe Martin Bondeli, „Hegel und Reinhold“, in: Hegel-Studien, Bd. 30, Bonn, 1995, S. 73–82. 173 Siehe Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 20, S. 78. 174 Gottlob Ernst Schulze, Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Scepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik, o.A., 1792.

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134 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen ­ achkantischen Systemphilosophie. Durch ihre Exponiertheit und durch die Ann spielung auf den pyrrhonischen Skeptiker Ainesidemos trägt Schulzes Streitschrift außerdem zu einem erneuten Schub in der damaligen Diskussion über Formen des älteren und neueren Skeptizismus bei.175 Reinhold war um 1790 in Gesprächen mit Ernst Platner sowie im Streit mit Flatt auf die pyrrhonischen Skeptiker, die von „gar keinem Dogma“ wissen176 und deshalb von den dogmatischen (Hume’schen) Skeptikern abzuheben sind, aufmerksam gemacht worden.177 Daraus entspannte sich eine Debatte, in deren Gang bei Reinhold, und um 1802 ebenfalls bei Hegel, der alte, echte oder philosophische Skeptizismus gegen den neuen, seichten, populären Skeptizismus Schulzes ausgespielt wurde. Unter den zahlreichen Einwänden Schulzes gegen Reinholds Elementarphilosophie ist jener zur These der Unvorstellbarkeit des Dinges an sich von besonderer Tragweite. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil Schulze in dieser Sache auf der Basis von Humes skeptizistischer Denkfigur argumentiert, der zufolge wir Vorstellungen nicht auf Gegenstände oder Objekte, sondern nur auf andere Vorstellungen beziehen können.178 Diese Bezugnahme auf Hume hat zur Folge, dass Schulze nicht nur Reinholds Annahme eines zwar unvorstellbaren, deshalb aber keineswegs zu eliminierenden Dinges an sich eines Restdogmatismus bezichtigt, sondern auch Reinholds für die Systemsystematik konstitutives Verhältnis von Vorstellung und Gegenstand in einer fundamentalen Weise in Frage stellt. In der Art und Weise, wie Schulze die Sache entwickelt, muss man unabhängig davon, ob wir beim Vorstellen eines Gegenstandes an einen Gegenstand an sich oder an einen Gegenstand der Erscheinung denken, vergegenwärtigen, dass wir uns als Vorstellende nicht eigentlich auf Gegenstände, sondern nur auf Vorstellungen beziehen: „Ueber unsere Vorstellungen können wir nie hinausgehen, und alle unsere Erkenntniß von dem, was zur objektiven wirklichen Welt, zu ihren Eigenschaften, Veränderungen und Gesetzen gehören soll, alle unsere Erkenntniß von uns selbst, von den Vermögen unsers Gemüths, von deren Gränzen, von deren Macht und Ohnmacht, besteht bloß aus Vorstellungen, die wir besitzen; niemals aber aus den vorgestellten Sachen selbst.“179

175 Zu weiteren Schaffensbereichen Schulzes siehe den Überblick in Ueberweg. Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 1145–1151. 176 Siehe Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, S. 51. 177 Siehe Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skepticismus‘, ­München, 1999, S. 44–46; Martin Bondeli, „Der ‚Gegenstand‘ der Vorstellung. Ein neuralgischer Punkt in der Kontroverse zwischen Reinhold und Gottlob Ernst Schulze“, in: Bondeli, Chotas, Vieweg (Hg.), Krankheit des Zeitalters oder heilsame Provokation?, S. 64–67. 178 „The mind has never any thing present to it but the perceptions, and cannot possibly reach any experience of their connexion with objects.“ (Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding. The Philosophical Works, hg. v. T. H. Green u. T. H. Grose, London, 1874, Bd. 2, S. 125 f.) 179 Aenesidemus, S. 245.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 135 Bereits bei Maimon war eine kritische Einlassung dieser Art auszumachen, dort allerdings war sie gegen Kant gerichtet und wurde auf das Verhältnis von Vorstellen als begrifflichem Akt und Gegenstand als Anschauung bezogen. Für Maimon bestand die Crux darin, dass in dieser Konstellation des Vorstellens eines Gegenstandes mit dem Vermögen des Verstandes und der Anschauung zwei erklärtermaßen heterogene Relata in eine Beziehung gebracht werden sollten. 1796 meldet sich darüber hinaus Jakob Sigismund Beck in dieser Problemrichtung entscheidend zu Wort. Nachdem er einige Zeit Kant mit Fragen zum näheren Verständnis des Beziehens einer Vorstellung auf einen Gegenstand konfrontiert hat, legt Beck Reinhold ein angeblich falsches Verständnis in dieser Sache zur Last. Beck weist mit seinen kritischen Betrachtungen zum Beziehen einer Vorstellung auf einen Gegenstand zwar nicht  – Schulze folgend  – den Gegenstandsbegriff als solchen zurück, jedoch ausdrücklich den Gedanken einer Übereinstimmung – eines „Bandes“ – von Vorstellung und Gegenstand.180 Im Klartext kommt dies der Kritik an einem gegebenen Gegenstand gleich. Ein so verstandener Gegenstand ist nach Beck ein Mythos. Vor diesem Hintergrund wird Reinhold das Festhalten an der angeblich unverständlichen Idee eines Bandes von Vorstellung und Gegenstand und am Mythos des gegebenen Gegenstandes zum Vorwurf gemacht. Doch nicht nur dies. Es wird damit auch ein falsches reinholdisches Grundverständnis von Vorstellung an den Pranger gestellt. Reinhold soll Beck zufolge Vorstellen primär als ein vorstellendes Wiedergeben eines gegebenen Gegenstandes verstanden haben. Dem entgegnet Beck mit dem Vorschlag, von dem „Postulat“ eines „ursprünglichen Vorstellens“ auszugehen,181 einem Vorschlag, mit dem seiner Ansicht nach der einzig richtige oder transzendentale Standpunkt wiederum zur Geltung gelangen könne. Ursprüngliches Vorstellen soll dabei nach Beck als „ursprüngliche Erzeugung“ eines Gegenstandes aufgefasst werden.182 Gegen Reinhold wird dabei vorgebracht, dass ein Gegenstand, ehe er vorgestellt werden könne, ursprünglich dargestellt oder erzeugt worden sein müsse. Bereits Maimon hatte vor einem ebenfalls auf der Seite des Gegenstandes der Vorstellung ansetzenden Argumentationshintergrund auf die Grenze des Vorstellungsbegriffs hingewiesen und gegen Reinhold eingewandt, dass jede Vorstellung von etwas eine der Stufe der Wahrnehmung entsprechende „Darstellung“ von etwas voraussetze.183 Mit dieser von Maimon mitgetragenen Intervention Becks muss sich Reinholds Paradigma des Vorstellens oder Bewusstseins nicht mehr nur von Fichtes Paradigma des Ich oder Selbstbewusstseins in die Schranken weisen lassen. Reinholds Vor180 Siehe Jacob Sigismund Beck, Einzig-möglicher Standpunct, aus welchem die critische Philosophie beur­ theilt werden muß. Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Hrn. Prof. Kant / auf Anrathen desselben, Bd. 3, Riga, 1796, S. 220. – Zu Beck allgemein sowie zu Becks Reinhold-Kritik siehe Thomas L. Meyer, Das Problem eines höchsten Grundsatzes der Philosophie bei Jacob Sigismund Beck, Amsterdam/Atlanta, 1991, S. 68–89; Martin Bondeli, „Das ‚Band‘ von Vorstellung und Gegenstand. Zur Reinhold-Kritik Jacob Sigismund Becks“, in: Martin Bondeli, Alessandro Lazzari (Hg.), Philosophie ohne ­Beynamen. System, Freiheit, und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds, Basel, 2004, S. 119–144. 181 Siehe Beck, Einzig-möglicher Standpunct, S. 120, 137. 182 Vgl. ebd., S. 137. 183 Siehe Maimon, Streifereien im Gebiete der Philosophie, S. 204 f.

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136 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen stellungstheorie erwächst auch von Seiten eines Grundlegungsdiskurses ernsthafte Konkurrenz, bei dem die Auffassungen von Erzeugen und Darstellen in die Waagschale geworfen werden. In der Summe kann diese neue Frontstellung allerdings nichts daran ändern, dass der Ausdruck „Vorstellung“ in der Zeit nach Reinholds Elementarphilosophie vermehrt wiederum einer Engführung verfällt. Er wird, einer bestimmten Tradition folgend, in der Bedeutung des Vergegenwärtigens einer bereits bestehenden Sache genommen und dadurch, sofern Vergegenwärtigung als indirektes, entstellendes Erfassen der Sache interpretiert wird, abgewertet. Der vom Elementarphilosophen Reinhold eingeführte intentional-strukturelle Sinn des Vorstellens wird zurückgedrängt, und auch die Beck’sche Variante eines erzeugenden Vorstellens wird sich nicht durchsetzen können. Ironischerweise wird Reinhold selber mit einer späteren Selbstkritik in diese engführende Tendenz einstimmen. Im Laufe seiner um 1806 eröffneten sprachphilosophischen Phase wird er dafür argumentieren, den Ausdruck „Vorstellung“ ausgehend vom Bedeutungsfeld des Vergegenwärtigens zu bestimmen und zu differenzieren. Das „Wort Vorstellen“, so ist in der Schrift Das menschliche Erkenntnißvermögen von 1816 zu lesen, soll „Vergegenwärtigung“ heißen und dabei so verstanden werden, dass sowohl etwas direkt wiedergegeben oder „präsentirt“ als auch stellvertretend oder in „Abwesenheit“ wiedergegeben oder „repräsentirt“ wird.184 Wohl erst bei Schopenhauer wird „Vorstellung“ in der Folge wiederum grundlegend als Relation von Subjekt und Objekt begriffen und so der intentionalen Bedeutung dieses Ausdrucks erneut Auftrieb verliehen. Doch zurück zur Kritik Schulzes. Nicht weniger wirksam als seine auf der Seite des Dinges an sich und des Gegenstandes der Vorstellung ansetzende Defizitbeschreibung ist sein Angriff auf das Fundament von Reinholds System. Schulze zufolge verwickelt sich Reinhold mit dem Ausgang von einem Vorstellungsvermögen in einen Widerspruch zu eigens verteidigten kritizistischen Grundthesen. Reinhold kann Schulzes Meinung nach nicht umhin, von dem Vorhandensein von Vorstellungen auf das Dasein eines Vorstellungsvermögens zu schließen. Für das Vorhandensein von Vorstellungen gebe es, so Schulze, sicherlich gute Gründe, jedoch sei der Schluss von bestehenden Vorstellungen auf ein Vermögen des Vorstellens nur durch den Rekurs auf die von der kantisch-reinholdischen Philosophie ansonsten zurückgewiesene „Kosmo-Theologie“ zu bewerkstelligen.185 Im Weiteren bestreitet Schulze so gut wie alle Kernthesen, die Reinhold im Zusammenhang mit seinem Satz des Bewusstseins verteidigt hat. Dieser Satz ist Schulze zufolge kein „absolut erster Grundsatz“, da er dem logischen Satz des Widerspruchs untergeordnet ist,186 kein „durchgängig durch sich selbst bestimmter“ bzw. kein evidenter Satz, zumal die Ausdrücke „Unterscheiden“ und „Beziehen“ schon 184 Karl Leonhard Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, aus dem Gesichtspunkte des durch die Wortsprache vermittelten Zusammenhangs zwischen der Sinnlichkeit und dem Denkvermögen, Kiel, 1816, S. 248. 185 Siehe Aenesidemus, S. 338 f. 186 Siehe ebd., S. 60.

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von Reinhold selbst bei seinen Explikationen zum Verhältnis von Subjekt und Objekt in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden,187 kein „allgemeingeltender“ Satz, da nicht alle Äußerungen des Bewusstseins  – man denke an unbewusste Perzeptionen oder unmittelbare Gefühlsregungen – die mit dem Satz ausgedrückte dreigliedrige Bewusstseinsstruktur aufweisen,188 schließlich kein reiner, sondern ein „synthetischer“ (d. h. empirischer, genauer: ein aus einer empirischen Tatsache abstrahierter) Grundsatz.189 Schulze unterlässt es bei diesen Attacken nicht, gleichfalls das Fundament der Philosophie Kants kritisch ins Visier zu nehmen, wobei er selbstverständlich voraussetzt, das Fundament der Vernunftkritik sei die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Wie, so die rhetorische Frage Schulzes, begründet Kant eigentlich das Dasein dieses vor-kategorialen Verstandesfundaments? Welchen begrifflichen Status verleiht er ihm? Ist unser Gemüt in der Funktion der ursprünglichen Apperzeption ein „Ding an sich“ (Subjekt an sich), ein „Noumenon“, eine „transzendentale Idee“?190 Keine dieser möglichen Lesarten, so demonstriert Schulze sodann seiner Leserschaft, kann befriedigen. Auch jeden Versuch, eine Fundierung ausgehend von der praktischen Vernunft zu erreichen, hält er für aussichtslos. Was Schulze, der seine Kritik an Kant nach 1800 nochmals zum Teil verschärft vorträgt, in eigener Sache vertritt, ist ein skeptischer Empirismus oder empirischer Skeptizismus, bei dem allem voran die formale oder allgemeine Logik akzeptiert wird: „Der Probierstein alles Wahren ist die allgemeine Logik“.191 Daneben kennt Schulze mit seinem Anschluss an Hume ebenfalls Fakten oder elementare Wahrheiten wie das Bestehen von Eindrücken und Ideen, das Bestehen von Akten des Vergleichens und Unterscheidens zwischen Ideen, das Bestehen von induktiv gewonnenen allgemeinen Zusammenhängen von Daten. An diesem Punkt können seine Kontrahenten ihrerseits Gegenargumente anbringen und darlegen, dass mit diesen Fakten je schon weitere Voraussetzungen in Anspruch genommen werden müssen, so beispielsweise eine In­ stanz als Träger und Vergleichspunkt von Ideen, so beispielsweise eine transzendentale Gesetzlichkeit, ohne die sich eine induktiv zu gewinnende Allgemeinheit nicht denken lässt. Vor allem Fichte und Hegel werden von dieser Seite den Skeptiker zu Zugeständnissen nötigen. Bevor wir den Blick auf weitere Stationen der Reinhold-Kritik zu richten haben, gilt es zu thematisieren, dass Schulze mit seinen Attacken bei Kant und Reinhold zwar keine eigentliche Gegenkritik ausgelöst, dennoch eine nicht zu unterschätzende untergründige Wirkung erzielt hat. In Kants Notizen und Reflexionen zwischen 1800 und 1803 finden sich unter dem Stichwort „Aenesidem“ wiederholt Denkskizzen zum Thema

187 Siehe ebd., S. 64 f. 188 Siehe ebd., S. 70–72. 189 Siehe ebd., S. 75–77. 190 Siehe ebd., S. 154–165. 191 Ebd., S. 45.

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138 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen des sich selbst konstituierenden Ich,192 die darauf hindeuten, dass ihm das von Schulze aufgezeigte Problem der Fundierung der ursprünglichen Apperzeption nicht gleichgültig war. Bei Reinhold kommt es 1793 bei der Besprechung des Verhältnisses von kantischem Kritizismus und Hume’schem Skeptizismus zu einer gerafften, klassifizierenden Abfertigung Schulzes. Dieser fällt unter einen „seichten“ Skeptizismus.193 Reinhold kontrastiert zu diesem Zeitpunkt Kants vorbildliches Verständnis von objektiv gültiger Erkenntnis mit der angeblich die Dinge verkürzenden Kritik Humes an der Auffassung eines Gegenstandes der Erkenntnis, einer Kritik, der sich, wie Reinhold nicht entgeht, neuerdings auch der Verfasser des Aenesidemus anschließt. Reinhold schildert deshalb Schulzes Position erneut in einem Zusammenhang mit dem dogmatischen Skeptizismus Humes, wobei er sich im Einzelnen dafür ausspricht, dass Schulzes Skeptizismus das Beiwort „dogmatisch“ vor allem deshalb verdiene, weil dieser Autor neben der allgemeinen Logik ebenfalls „Thatsachen des Bewußtseyns“ voraussetze und für wahr halte,194 so die Tatsache, dass es Vorstellungen und darunter mit­einander verglichene Vorstellungen gibt, so die Tatsache, dass es ausschließlich Vorstellungen gibt. Auf der Grundlage seiner 1791 unternommenen Präzisierungen zur Tatsache und zum Satz des Bewusstseins ergeben sich für Reinhold außerdem gute Gründe, dem Skeptiker ein Verkennen des Unterschiedes von logischem und transzendentalem ersten Grundsatz sowie von empirischer und transzendentaler Tatsache zu bescheinigen. Schulze müsste im Grunde seine empiristisch-skeptische Kritik in Auseinandersetzung mit einer Position führen, die transzendentale Argumente verwendet. Dies tut er aber nicht. Sein Gegner bleibt, auch unter der Einbeziehung der kritischen Lehren Kants und Reinholds, im Grunde der vorkantische Metaphysiker. Bezieht man die Folgediskussionen zum Vorstellungsbegriff ein, ist einzuräumen, dass das Kapitel „Schulze“ für Reinhold damit aber noch keineswegs erledigt war. Näher besehen erweist sich Schulzes Kritik auch im Falle Reinholds als Auftakt zu einer sich längerfristig entspannenden Problembewältigung, die mit seiner 1800 beginnenden Selbstkritik im Falle des Paradigmas des Vorstellens einhergeht. Reinhold lässt von diesem Zeitpunkt an verlauten, dass er ein Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht mehr für die angemessene Axiomatik des Philosophierens halte. Dabei will er hiermit zugleich die Abkehr von Fichtes Prinzipienidee des Ich oder Selbstbewusstseins besiegelt wissen, zumal in dieser nichts anderes als eine subjektivistische Folgerung und Höherpotenzierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt zu erkennen sei. An die Stelle des Vorstellungsparadigmas und des Fichte-Schelling’schen Ausgangs von einem unbedingten Ich soll deshalb ein neues Paradigma, das Paradigma des Denkens, treten. 192 Siehe Kant-Lexikon, hg. v. Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr u. Stefano Bacin, ­Berlin/Boston, 2015, Bd. 3, S. 2043. 193 Vgl. Karl Leonhard Reinhold, „Ueber den philosophischen Skepticismus“, in: David Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand neu übersetzt von M. W. G. Tennemann nebst einer Abhandlung über den philosophischen Skepticismus von Herrn Professor Reinhold in Jena, Jena, 1793, S. V. – Näheres hierzu siehe bei M. Bondeli, „Der ‚Gegenstand‘ der Vorstellung“, S. 75. 194 Siehe Reinhold, „Ueber den philosophischen Skepticismus“, S. XIX.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 139 Unter Denken soll hierbei primär ein inhaltliches und objektives logisches Denken und erst auf einer Anwendungsstufe ein Denken mit einem Gegenstandsbezug verstanden werden. Vor diesem Hintergrund darf man behaupten, dass Reinhold die bei Schulze und Beck virulente Kritik an dem Verhältnis von Vorstellung und Gegenstand auf seine Weise verinnerlicht hat. Im Grunde hat Reinhold diese Kritik gleichzeitig noch radikalisiert und auf Schulze und Beck zurückgewandt. Aus Reinholds Sicht hätte deren Kritik an einem Gegenstand der Vorstellung sowie an einem Band von Vorstellung und Gegenstand zu einem neuen, die Stufe des Vorstellens übersteigenden Standpunkt führen müssen. Schulze aber habe, so Reinholds Pointe, auch bei seinem noch so ausgeprägt skeptischen Philosophieren stets am Grundbegriff des Vorstellens festgehalten, und auch Beck habe bei seinem Plädoyer für ein Erzeugen des Gegenstandes das Vorstellungsparadigma nicht überwunden. Dieser Sichtweise entsprechend, wird Reinhold Schulze, der ihm nach 1800 nochmals entscheidend als Autor einer Logik in die Quere kommt, als Exponenten eines überholten vorstellungstheoretischen Standpunkts in die Schranken weisen. Nicht zu erkennen vermag Reinhold bei alldem, dass er in Schulze als Autor der 1803 anonym veröffentlichten Aphorismen über das Absolute damals allerdings auch einen wichtigen Verbündeten in der Polemik gegen den Identitätsphilosophen Schelling hat.195 Zu Schulzes Angriffen auf den Satz des Bewusstseins hat Reinhold sich nicht geäußert. Er hat dies anderen Mitstreitern überlassen, so seinem Schüler Johann Heinrich Abicht196 und seinem aufstrebenden Nachfolger an der Jenaer Universität, Fichte, der sich neben der genannten Rezension des Aenesidemus ebenso in den „Eignen Meditationen über Elementar-Philosophie“ eingehend mit Schulzes Kritik an Reinhold befasst hat. Fichte verteidigt Reinhold gegen Schulzes Attacken auf die Fundierung der Philosophie durch das Vorstellungsvermögen und den Satz des Bewusstseins, dies jedoch so, dass es zugleich zu einer entscheidenden Neufundierung von Reinholds Resultat kommt. Auf Schulzes Anzweifelung der Existenz eines Vorstellungsvermögens antwortet Fichte mit dem an die cartesianischen Fundierungsbestrebungen erinnernden Argument, dass sich an der Existenz eines sich in Form einer Denkhandlung manifestierenden Ich nicht sinnvoll zweifeln lässt und dass deshalb das Ich, dessen Dasein und Seinsweise mit seiner Tätigkeit steht und fällt, an die Spitze zu stellen ist. Auf den Einwand Schulzes, der Satz des Bewusstseins sei nicht der höchste Grundsatz, da er den logischen Satz des Widerspruchs voraussetze, reagiert Fichte mit dem Ende 1793 begonnenen Programm einer „Logik der Elementar-Philosophie“,197 genau195 Zum Kontext und zur Interpretation von Schulzes Aphorismen siehe Kurt R. Meist, „‚Sich vollbringender Skeptizismus‘. G. E. Schulzes Replik auf Hegel und Schelling“, in: Walter Jaeschke (Hg.), Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799– 1807), Hamburg, 1999, S. 192–230. – Reinhold hat fälschlicherweise Friedrich Schleiermacher für den Autor der Aphorismen gehalten. 196 Siehe Johann Heinrich Abicht, Hermias oder über die Auflösung der die gültige Elementarphilosophie betreffenden Aenesidemischen Zweifel, Erlangen, 1794. 197 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 2.3, S. 21–26.

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140 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen er: mit der daraus gewonnenen Idee, wonach das Ich sich in drei ursprünglichen Setzungsakten Ausdruck verschafft  – der Selbstsetzung, Selbstentgegensetzung und Teilbarsetzung. Auf dieser Basis sieht Fichte die Möglichkeit, die Selbstsetzung des Ich und die Selbstentgegensetzung eines Nicht-Ich durch das Ich als Grundlage des logischen Satzes des Widerspruchs, den er offenkundig in Anlehnung an damalige Lehrbücher der allgemeinen Logik in einen Satz der Identität und einen Satz des Widerspruchs unterteilt,198 aufzufassen. In dieser Weise können nicht nur, wie dies bereits bei Reinhold geschehen ist, die logischen Urteilsfunktionen und Schlussformen, sondern auch, was Reinhold noch ausgeschlossen hat, die logischen Grundsätze aus dem obersten Prinzip der Philosophie generiert werden. Schulzes Einwand ist entkräftet. Fichte ist der Ansicht, mit diesem Schritt ebenfalls Schulzes Kritik an Reinholds angeblich nicht durchgängig bestimmtem, da mit den mehrdeutigen Ausdrücken des „Unterscheidens“ und „Beziehens“ operierenden Satz des Bewusstseins enthoben zu sein. Die Unbestimmtheit lässt sich Fichte zufolge eliminieren, wenn der „Begriff des Unterscheidens und des Beziehens“ ausgehend von den evidenten Begriffen der „Identität, und des Gegentheils“ rekonstruiert wird.199 Denn an der Evidenz von Setzungen des Ich, die einem logischen Grundsatz konform seien, lasse sich, so Fichtes einschlägige Überlegung, weit weniger zweifeln als an der Evidenz einer vorstellungstheoretischen Struktur des Bewusstseins. Selbst der Skeptiker, da dieser erklärtermaßen die allgemeine Logik akzeptiere, werde hier kaum Angriffsflächen finden. Schließlich lässt sich Fichtes Überzeugung nach mit dem Ausgang vom Ich ebenfalls Schulzes Kritik an dem allgemeingültigen und allgemeingeltenden Satz des Bewusstseins, d. h. die Bestreitung Schulzes, dass angeblich alles Bewusstsein eine dreigliedrige Struktur aufweist, Rechnung tragen und auf den richtigen Punkt hin zuspitzen. Fichte zufolge unterliegt das Ich als Selbstbewusstsein und Selbstgefühl der dreigliedrigen Struktur des Bewusstseins nicht. Schulzes Einwand wird insofern für triftig gehalten. Für Fichte impliziert diese Einsicht freilich auch, dass es einen Primat des Selbstbewusstseins vor dem Bewusstsein zu verfechten gilt, der besagt, das Bewusstsein stelle ein Derivat des Selbstbewusstseins dar und sei demnach von untergeordneter  – nach Fichte auch: bloß empirischer, nämlich die „empirische Selbstbeobachtung“ betreffender – Bedeutung.200 Diese Folgerung Fichtes ist nun allerdings nicht im Sinne der Konsequenzen, die Schulze mit seinem Einwand verbunden hat. Wie gesehen spricht zwar auch Schulze auf seine Weise von einem synthetischen oder empirischen Satz des Bewusstseins, doch ist er davon entfernt, die Existenz einer übergeordneten, intelligiblen Sphäre des Selbstbewusstseins zu behaupten. Im Gegenteil. Er 198 Fichte konnte sich in dieser Sache an der im Geiste Kants abgefassten allgemeinen Logik Kiesewetters orientieren, die zwischen dem „Satz der Einstimmung (principium identitatis)“ und dem „Satz des Widerspruchs (principium contradictionis)“ unterscheidet (siehe J. G. C. C. Kiesewetter, Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen, Berlin, 1791, S. 117). 199 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.2, S. 44. 200 Siehe ebd., S. 46.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 141 verwirft a limine den von Fichte und Schelling hochgehaltenen Begriff eines dem Vermögen des intellektuellen Anschauens korrespondierenden Selbstbewusstseins. Mit Fichtes kritischer Verteidigung des Satzes des Bewusstseins und der daraus ­folgenden Fundierung der ersten Systemgestalt der Wissenschaftslehre sind die Wür­ fel in Bezug auf den 1794 beginnenden subjektphilosophischen Königsweg in der ­Entwicklung des Deutschen Idealismus gefallen. Fichte wird zwar nach 1794 für die Evidenz des obersten Prinzips nicht mehr hauptsächlich auf einer grundsatz­ ­ philosophischen Basis argumentieren, sondern vornehmlich die Selbstgewissheit herausheben, die bei Akten der Selbstbeziehung, des intellektuellen Anschauens oder des in sich zurückgehenden Handelns besteht. Doch wird damit das erreichte Ergebnis zum Primat des Ich oder Selbstbewusstseins vor dem Bewusstsein nicht mehr in Zweifel gezogen. Schelling wird mit seinen frühen Schriften an Fichtes Einsichten zum einzig­richtigen Fundament der Philosophie anschließen und auf deren Grundlage seine weiteren, die Naturphilosophie in das System des Wissens einbeziehenden Systempläne verfolgen. Wenn Schelling, und nach 1800 auch Hegel, eine neuartige Einheit von System des Ich und System der Natur geltend macht und infolgedessen der einseitig auf den Standpunkt des Ich fokussierten Wissenschaftslehre Fichtes einen inferioren Rang zuweist, ändert auch dies nichts an dem gemeinsam eingeschlagenen Weg. Der Konsens in der Überzeugung, dass hinter den mit Fichte erreichten Vorrang des Selbstbewusstseins vor dem Bewusstsein nicht mehr zurückgegangen werden kann, wird nicht mehr in Frage gestellt. Reinholds Elementarphilosophie wird dadurch im Nachhinein als zwar nötige und verdienstvolle, jedoch überwundene Stufe auf dem Weg von Kant zu Fichte betrachtet.

Grundsatz- und Systemskepsis. Die Kritik aus der Schülerschaft Reinholds Seit 1790 hat Reinhold im Weiteren mit kritischen Stimmen zu kämpfen, die den Sinn seines Bestrebens, Kants System der Vernunftkritik durch einen höheren Grundsatz zu fundieren, in Zweifel ziehen. Kants Lehrgebäude bedarf ihrer Meinung nach keiner Höherfundierung. Davon abgesehen werden Einzelschritte von Reinholds Verfahren des Fortschreitens von einem Grundsatz zu Folgesätzen kritisch ins Visier genommen. Von Anbeginn steht hier der Vorwurf im Raum, Reinholds Ableitung von Folgebestimmungen aus dem Satz des Bewusstseins sei bereits in ihren ersten Schritten, so bei der von der Subjekt-Objekt-Struktur ausgehenden Herleitung der Begriffspaare von Form und Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit, Spontaneität und Rezeptivität, bald lückenhaft, bald in fataler Weise zirkulär. Trotz aller klärenden Worte Reinholds zu den Grenzen einer Ableitung aus Grundsätzen und zur Annahme von mehreren und besonderen Sätzen neben dem allgemeinen Satz des Bewusstseins, hält der Strom der Einwände hier unvermindert an. Am Anfang sind es Karl Heinrich Heydenreich und

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142 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen August Wilhelm Rehberg, die Reinhold in dieser Sache vehement attackieren.201 Es folgt Carl Christian Erhard Schmid mit einer kritisch-ernüchternden Betrachtung zur Typik und zum Leistungspotential des Satzes des Bewusstseins.202 Schmids Ansicht nach ist dieser Satz als „normaler“ Grundsatz zu klassifizieren und nicht als Grundsatz formaler oder materialer Art.203 Dies will besagen, dass es sich um einen Satz handelt, der im Hinblick auf eine aufzustellende Systemordnung und Reihenfolge von Sätzen eine normierende Funktion innehat. Mit dem Satz des Bewusstseins wird so Schmid zufolge eigentlich nur der Plan zu einer Systemgliederung markiert. Ein formaler oder bloß logischer Grundsatz ist er erklärtermaßen nicht. Ein materialer Grundsatz kann er aber ebenfalls nicht sein. Denn wenn bei der Grundlegung der Elementarphilosophie durch den Satz des Bewusstseins auf eine ganze Reihe zusätzlicher Fakten des Bewusstseins rekurriert werden muss, bestätigt dies nur, dass ein Schluss auf den vollständigen, sowohl allgemeinen als auch besonderen Gehalt der Folgesätze nicht möglich ist.204 Gleichzeitig regen sich gemäßigter und diplomatischer vorgetragene Bedenken ähnlicher Richtung im Jenaer Schülerkreis Reinholds. Karl Friedrich Forberg, der seinen Lehrmeister gegen die ungestümen Angriffe des Neo-Leibnizianers Schwab auf die kritische Philosophie verteidigt, bemängelt die Folgerung, wonach der Stoff der Vorstellung ein Mannigfaltiges, die Form eine Einheit sein müsse, und zwingt Reinhold so zur wiederholten Korrektur dieses Ableitungsschrittes.205 Der 1792 die Kollegien Reinholds besuchende Immanuel Carl Diez unterbreitet eine ähnliche Kritik wie Schmid und liefert dem Dozenten so Stoff zur Vertiefung seiner Ansichten zum Verhältnis vom Satz des Bewusstseins und besonderen Sätzen des Bewusstseins.206 Reinhold gelangt bei dieser Vertiefungsarbeit zu der im ersten Aufsatz des zweiten Bandes der Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen mitgeteilten Überzeugung, welcher zufolge es in einer expliziteren und zugleich kohärenteren Weise als bisher herauszustellen gilt, dass die besonderen Sätze sowohl als solche als auch vermittelst des Satzes des Bewusstseins zu begründen sind. Dabei soll der Ansicht Schmids, der Satz des Bewusstseins sei lediglich ein systemischer Grundsatz, widersprochen werden. Der Satz des Bewusstseins ist in erster Linie als transzenden­ taler Grundsatz einzustufen, ist er doch im Blick auf die Erkenntnisfrage der „erste Grundsatz für die Wissenschaft der transzendentalen Gesetze der Erkenntniß“.207 Die 201 Siehe Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, S. 54–57, 152–166. 202 Siehe ebd., S. 250–262. 203 Siehe ebd., S. 253–258. 204 Zu Schmids Kritik an Reinhold in dieser Sache und zur Wirkung dieser Kritik auf Reinholds Revision der Elementarphilosophie um 1792 siehe Andreas Berger, „Systemwandel zu einer neuen ‚Elementarphilosophie‘?“ 205 Siehe Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 1, S. 388 f. 206 Siehe Immanuel Carl Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen – Jena (1790–1792), hg. v. Dieter Henrich, Stuttgart, 1997, S. 911–914. – Umfassend zum Denken und Schaffen von Diez siehe auch Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Bd. 1; Lorenzo Leonardo Pizzichemi, Carl Immanuel Diez e gli inizi dell’idealismo tedesco, Lecce, 2013. 207 Reinhold, Beyträge zur Berichtigung, Bd. 2, S. 64.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 143 ebenfalls im Reinhold-Kreis verkehrenden Johann Benjamin Erhard und Friedrich Immanuel Niethammer plädieren für eine mehr als nur kosmetische Korrektur an Reinholds Ausgang vom Satz des Bewusstseins. Sie zweifeln am Nutzen des Versuchs, den höchsten Punkt der Philosophie Kants zu übersteigen. Sie stellen einem Philosophieren, das mit einem als apodiktisch gewiss behaupteten ersten Grundsatz beginnt, ein Philosophieren gegenüber, das sich einer Begründungsmethode analytischer Art bedient und dessen oberstes Prinzip ein Ideal ist, dem man sich in Form einer aufsteigenden, kohärenten Ganzheit von Sätzen unendlich annähert. Für Reinhold seinerseits sind zu diesem Zeitpunkt, zumal er inzwischen ein bei der praktischen Vernunft ansetzendes Grundlagentheorem der Elementarphilosophie favorisiert, diejenigen Vorschläge seiner Schüler, die auf eine Revision der Idee des Ableitens von Folgesätzen aus dem Satz des Bewusstseins zielen, kaum mehr von Relevanz. Wie wir im Zusammenhang mit der Intervention Maimons feststellen konnten, sind für Reinhold hingegen die von seinen Schülern diskutierten Konzepte zu einer analytischen Methode durchaus attraktiv. Dabei ist nicht zu übersehen, dass nach Mitte der 1790erJahre auch Fichte von der Programmatik der Reinhold-Schüler nicht unberührt bleibt. Je detaillierter über die Frage des Ableitens von Folgebestimmungen aus dem sich selbst setzenden Ich nachgedacht wird, desto stärker meldet sich die Überzeugung, dass man von einer Methode des Erkennens, die sich durch ein „ununterbrochenes Fortschreiten vom Bedingten zur Bedingung“ auszeichnet,208 somit von einer analytischen Methode, nicht absehen kann. Sich zum Teil mit der Ableitungs- und Grundsatzkritik überschneidend, machen sich im Laufe der 1790er-Jahre philosophisch-ästhetische Strömungen bemerkbar, die sich mit Enthusiasmus dem fundamentalen Denkduktus der nachkantischen Philosophie verschreiben, aber auch mit Skepsis dem forcierten Systemdrang dieser Strömung begegnen. Sie nehmen an der Diskussion über das höchste oder eigentliche Fundament der Philosophie regen Anteil, halten es aber für wenig befriedigend und ratsam, ein strenges System der Philosophie aufzustellen und das erste Prinzip dem Systemgedanken anzuverwandeln. Ein Programm der wissenschaftlichen Systemphilosophie, wie es in der Linie Kants, Reinholds, Fichtes und des jungen Schelling zur Ausführung gebracht wird, steht ihnen somit fern, was nicht heißt, dass sie nicht eine gewisse Bewunderung dafür hegen und zugleich mit List, Ironie und beißender Kritik darauf einzuwirken versuchen. Reinhold wird mit dieser als frühromantisch zu etikettierenden Systemskepsis vor allem durch zwei seiner dichterisch begabten Jenaer Schüler konfrontiert. Zum einen durch den 1790 und 1791 in Jena studierenden Friedrich von Hardenberg, der sich damals, gleichermaßen inspiriert durch den Jenaer Kantianismus wie durch die Dichterwelt Friedrich Schillers, erstmals der Idee einer künstlerisch-ästhetischen Neugestaltung der philosophischen und mathematischen Wissen-

208 Siehe Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 1.4, S. 205.

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144 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen schaften hingibt.209 Zum anderen durch Jens Baggesen, mit dem Reinhold nach gemeinsamen Jenaer Jahren eine langjährige, enge Freundschaft unterhält und der es wie kein anderer versteht, sich in Reinholds philosophische Problemstellungen hineinzuversetzen, Reinhold in dessen Plänen zu bestärken, jedoch auch kontrastierend zu vermitteln, welche Schranken Reinholds systematisch-definitorische Denkform einem dichterischen Philosophieren auferlegt. Baggesen, der Fichte anlässlich eines Berner Treffens im Herbst 1793 zur Aufnahme des Briefwechsels mit Reinhold ermuntert, ist in der Folge über mehrere Jahre Zeuge, produktiver Mitstreiter und Kritiker in der Kon­ troverse zwischen dem Autor der Elementarphilosophie und dem Wissenschaftslehrer über das richtige Fundament der Philosophie. Er bekräftigt Reinhold hierbei in dessen bis Ende 1796 anhaltendem Bestreben, an dem Primat des Bewusstseins vor dem Selbstbewusstsein festzuhalten.210 Reinhold bleibt von der systemskeptischen Aura, welche die beiden Dichterphilosophen und Verehrer Schillers ausstrahlen, denn letztlich auch nicht unberührt. Beide appellieren in ihrer Weise an Reinholds literarische Neigungen und Sehnsüchte, erinnern ihren Lehrer an die Erfahrung, dass die Aufstellung der Systemphilosophie nicht nur mit einem Suchen von Gründen einhergeht, sondern auch mit einem Bewältigen von Ungründen und Abgründen. Da Reinhold die Systematizität des Denkens stets in Ehren hält, werden allerdings die radikalen frühromantischen Forderungen nach neuen, experimentellen Formen des Philosophierens bei ihm nur beschränkt auf Resonanz stoßen. Die im Zirkel der Gebrüder Schlegel und Friedrich Schleiermachers kursierende Losung, die Philosophie müsse fragmentarisch werden, ein System und zugleich kein System haben,211 hält er für abwegig. Doch besteht durchaus eine affirmative Haltung gegenüber dem frühromantischen Geist der Innovation und Offenheit. Reinhold ist empfänglich für Lernschritte und neue Einsichten, die er seinem Systemdenken zugrunde legen kann. Dass man im Leben mehrere Denksysteme durchläuft und dass das Philosophieren sich über den Bannkreis des Systemdenkens hinaus erstreckt, sieht Reinhold positiv. Was in diesem Punkt Fichte, Schelling und Hegel betrifft, werden sie Reinholds Apologie des philosophischen Systemgedankens konsequent fortsetzen, Reinholds Durchlaufen mehrerer Systeme allerdings nicht als Indiz der Offenheit oder produktiven Lernwilligkeit, sondern der Unstetigkeit und fehlenden Eigenwilligkeit deuten wollen.

209 Man beachte den Jenaer Abschiedsbrief Hardenbergs an Reinhold vom 5. Oktober 1791, in: Reinhold, Korrespondenzausgabe, hg. v. Faustino Fabbianelli, Ives Radrizzani u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, 2011, Bd. 3, S. 284–293. 210 Zu dieser Facette von Baggesens Wirken siehe Martin Bondeli, Kantianismus und Fichteanismus in Bern. Zur philosophischen Geistesgeschichte der Helvetik sowie zur Entstehung des nachkantischen Idealismus, Basel, 2001, S. 262–282. 211 Es ist „gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben“, Athenaeum. Eine Zeitschrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel, Ersten Bandes Zweytes Stück, Berlin, 1798, S. 206.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 145

Kritik am Ausgang der Philosophie vom absoluten Ich: Jacobi, Hölderlin, die Frühromantiker Sobald die Ich-Philosophie Fichtes und des frühen Schelling über Reinholds Bewusstseinsphilosophie Oberhand gewinnt, wird bei manchen Kommentatoren die Meinung laut, der Fortschritt in der Suche nach dem Fundament des Philosophierens sei zwar unverkennbar, mit dem Ich oder Selbstbewusstsein habe man aber noch nicht den richtigen Kandidaten für das in Frage stehende erste Prinzip entdeckt. Anhänger von Reinholds Standpunkt der Bewusstseinsphilosophie geben zu bedenken, mit dem Ausgang von einem Verhältnis von Ich und Ich-immanentem Nicht-Ich werde ein lediglich reduziertes, hinter die Differenzierungen, die mit dem Axiom des Bewusstseins statuiert wurden, zurückfallendes Verständnis von Stoff und Objekt freigelegt. In einer psychologisierenden Weise wird hier dem Ich-Standpunkt angelastet, die Erfahrung der W ­ iderständigkeit von Stoff und Objekt gegenüber der Form und dem Subjekt zu ­verkennen. In eine verwandte Kritikrichtung zielen Mitstreiter, die für eine vereinigungsphilosophisch geläuterte monistische Weltanschauung eintreten. Sie teilen zwar Fichtes monistische Systemidee, bescheinigen dieser aber in ihrer Ausrichtung auf das Verständnis von Ich oder Selbstbewusstsein eine fatale Engführung. Im Gegenzug fordern sie – zuweilen unter der Etikette einer Zusammenführung von Fichte und Spinoza  – eine umfassendere und ausbalanciertere monistische Ausgangsstruktur. Subjekt und Objekt, Ich und Natur sollen letztlich als gleichwertige Relate einer ursprünglichen Relation begriffen werden. Damit besteht ein Anhaltspunkt für die auf Fichte und den frühen Schelling gemünzte Kritik, das erste Prinzip der Philosophie sei nicht simpliciter „Ich“ zu nennen. Dort, wo unter dem Ausdruck „Vereinigung“ – dem Geist neuplatonischer Einheitsmetaphysik folgend – ein als überreflexiv einzustufendes höchstes Eines gedacht wird, besteht Anlass zu bestreiten, dass die mit dem Prinzip des Ich angesetzte Anfangsstruktur einem derartigen radikalen Vereinigungsprofil zu genügen vermag. Von großer Bedeutung für die Genese dieser vereinigungs- und seinsphilosophischen Strömung ist zweifellos die seit Beginn des Spinozastreites pointiert auftretende Seinsund Glaubensphilosophie Jacobis. Sich auf den Gottesbeweis des vorkritischen Kant berufend, tritt Jacobi mit den gegen alles fatalistische und reflexive Philosophieren gerichteten Diktum auf, das größte Verdienst des philosophischen Forschers bestehe darin, „Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren“.212 Und in der Meinung, mit Kants Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen übereinzustimmen, verteidigt Jacobi einen Glauben aus erster Hand, einen seinsfundierten Glauben, den auch der Wissende nicht bestreiten könne. Von daher deutet sich hinsichtlich der Fundierungsfrage die Direktive an, nicht ein omnipotentes, tätiges Ich-Vermögen, sondern ein von uns er212 Siehe Friedrich Heinrich Jacobi, „Über die Lehre des Spinoza“, in: Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1.1, hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke, Hamburg, 1998, S. 29.

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146 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen fahrenes, uns in der Kontemplation begegnendes und letztlich nur im Glauben zugängliches Sein und Dasein sei das Alpha und Omega des Philosophierens. Bestärkt wird dieses Denkparadigma durch Herder, der zwar nicht mit gleicher Intensität wie Jacobi die Glaubenshaltung betont, jedoch in ähnlicher Weise wie dieser einer Philosophie des Daseins oder Seins in Anlehnung an den vorkritischen Kant zugetan ist. Da Herder in seinen 1787 veröffentlichten Gesprächen Gott nicht gegen Spinoza, sondern umgekehrt für Spinoza argumentiert, ist seine Strahlkraft für viele unter den jüngeren Mitstreitern sogar noch größer als jene Jacobis. Der entscheidende Entwicklungsschub ergibt sich sodann allerdings erst mit der Tatsache, dass das im Tübinger Stift traditionell verankerte platonische und neuplatonische Denken des höchsten Einen eine Renaissance erlebt und sich mit dem Jenaer Kantianismus amalgamiert. Verantwortlich dafür zeichnen die Stiftsschüler Hölderlin, Hegel und Schelling.213 Deren Rezeption Kants, Reinholds und Fichtes ist platonisch-neuplatonisch gefärbt. Kantisches und platonisches Denken, letzteres angereichert mit spinozistischen Einheits- und Naturtheoremen, stehen gleichsam für die zu vereinigenden Pole von Subjekt und Sein. In dieser Konfiguration, und sichtlich zugleich inspiriert durch Jacobis Motiv der Daseinsoffenbarung, gelangt Hölderlin Mitte der 1790er-Jahre spontan zu einem sich für die Tübinger Fraktion des Deutschen Idealismus als richtungweisend herausstellenden Seins- und Vereinigungsgedanken. Diesem zufolge lässt sich das Prinzip des Ich nicht sinnvoll mit der Idee von vollständiger Vereinigung und höchster Einheit in Einklang bringen. Denn das „Ich“, so Hölderlin, sei nicht anders denn als „Selbstbewußtseyn“ zu denken und damit als „Identität“ in der Form des „Ich bin Ich“.214 Als die so gefasste Identität bestehe das Ich dem Sinne nach sowohl in einer ursprünglichen Einheit mit sich selbst (das Ich „als dasselbe“) als auch in einer gleichursprünglichen Trennung von sich selbst, in dem Zustand, „daß ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne“.215 Eine Idee von Trennung, die vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Subjekt und Objekt als „Ur=Theilung“ eines in der „intellektualen Anschauung“ Vereinigten auf den Begriff zu bringen sei,216 könne deswegen bei dem Prinzip des Ich nicht ferngehalten werden. Ziel des Philosophierens sei aber die Erfassung der Vereinigung oder des Einen in der Bedeutung des völlig Ungetrennten, einer Vereinigung, die deshalb auch den Namen „Seyn schlechthin“ verdiene.217 Im selben Atem213 Zur platonisch-neuplatonischen Denktradition Tübingens und ihrer Fortwirkung bei Hölderlin, Hegel und Schelling siehe Michael Franz, Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel, Tübingen, 2012. Zur sogenannten „Tübinger Axiomatik“ Hölderlins, Schellings und Hegels, die insgesamt an einem breiten Kontext älterer und neuerer vereinigungsphilosophischer Quellen festgemacht werden kann, siehe Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart, 1979, S. 19–256. 214 Siehe Hölderlin, Sämtliche Werke, Bremer Ausgabe, Bd. 4, S. 163 f. 215 Siehe ebd., S. 163. 216 Siehe ebd. 217 Siehe ebd.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie

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zug lässt Hölderlin mit diesem Vorschlag eines Ausgangs vom Sein schlechthin durchblicken, welche Konsequenzen sich für das Denken auf reflexiver Ebene ergeben. Indem das Selbstbewusstsein in der Prinzipienfrage in die Schranken gewiesen wird, soll ihm auch auf reflexiver Ebene seine Position und Bedeutung neu angewiesen werden. Der unbedingte Primat vor dem Bewusstsein ist ihm abzusprechen. Denn dem Objekt, wie es mit dem Faktum des Bewusstseins zur Geltung gebracht wurde, soll erneut sein Recht und seine Widerständigkeit eingeräumt werden.218 Hölderlin rückt so gleichzeitig an jene Anhänger Reinholds heran, die vor neuem Hintergrund den Standpunkt des Bewusstseins in die Waagschale werfen. Hegel wird sich in der zweiten Hälfte der 1790er-Jahre Hölderlins Auffassung zu einem Sein schlechthin zu nennenden ersten Prinzip des Philosophieren, einer Auffassung, die im Frankfurter „Bund der Geister“ eine prominente Rolle spielen wird, auf seine Weise anschließen. Aufgabe und Bedürfnis aller Philosophie, so Hegel in seinen Frankfurter Hauslehrerjahren, sei die Vereinigung von Subjekt und Objekt, Ich und Natur. Dabei wird dieser Vereinigungsgedanke gleichzeitig in Übereinstimmung mit Hölderlins Rede von einer Ur-Teilung anhand der Zusammensetzung der Glieder des logischen Urteils (Subjekt, Kopula und Prädikat) proklamiert. Aufgrund des Befundes, dass die Kopula („est“) in dem Trennung oder Teilung repräsentierenden logischen Urteil das verbindende Glied darstelle, gelte: „Vereinigung und Seyn sind gleichbedeutend“.219 Das Prinzip des Ich indessen werde dem Gedanken der höchsten Vereinigung nicht gerecht, sei es doch in Wahrheit ein „Ich über aller Natur“ und damit ein Ausdruck der „Entgegensetzung“.220 Hegel bahnt sich mit diesem Resultat zugleich einen Weg zu Schelling, der seinerseits mit der sich um 1796 andeutenden Integration der Naturphilosophie in die bisherige Systementfaltung von einem „Ich“ zu nennenden ersten Prinzip Abstand nimmt. Nicht übergangen werden dürfen innerhalb der Ich-kritischen Prinzipiendiskussion schließlich die Anstöße seitens der Mitte der 1790er-Jahre virulent werdenden FichteKritiken Friedrich von Hardenbergs und Friedrich Schlegels. Von beiden wird auf eine ihres Erachtens dilemmatische Spannung in Fichtes Verhältnis von einerseits identisch seiendem, andererseits im Gange des Strebens identisch werdendem Ich aufmerksam gemacht und als Abhilfe vorgeschlagen, das erste Prinzip als ein ursprüngliches Wechselverhältnis der jeweiligen Ich-Pole auszulegen. Hardenberg sieht den Ausweg in einem „Wechselbestimmungssatz“, Schlegel in einer „Wechselbestimmung“ oder einem „Wechselerweis“ der Sätze „Ich bin Ich“ und „Ich soll Ich sein“.221 Beide sind der Auffassung, Fichte habe das Verhältnis von unbedingtem, präreflexivem und bedingtem, 218 Zu diesem Nebengedanken in Hölderlins Rechtfertigung eines erneuten Anfangs der Philosophie mit dem Sein schlechthin siehe Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens, S. 94–115. 219 Siehe Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 11. 220 Siehe ebd., S. 348. 221 Siehe Manfred Frank, ‚Unendliche Annäherung‘, S. 800–883; Birgit Rehme-Iffert, Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg, 2001, S. 31–39, 50–56, 130–133.

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148 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen reflexivem Ich unvollständig ausgelegt. Das sich selbst und dabei auch sein eigenes Sein setzende Ich sei deshalb, in Ausweitung des Fichte’schen Horizonts, von Grund auf so zu behaupten, dass es als setzendes je schon sei, sich je schon auf ein Nicht-Ich als sein Anderes beziehe. Das sich setzende Ich ruhe auf einem unvordenklichen, jedoch nicht wegdenkbaren Grund, der mit unserem leiblichen Leben und Selbstgefühl, der wechselseitigen Mitteilung, aber auch mit einem religiösen Verhältnis von Ich und Absolutem zu assoziieren sei. Die Abkehr von dem Ich als erstem Prinzip der Philosophie wird auch hier greifbar. Doch wird mit der Ich-Terminologie nicht gebrochen, sondern unter Einbeziehung der Daseins-Terminologie experimentiert. Was die Positionierung Reinholds in diesem fortgeschrittenen Diskussionskontext angeht, könnte man annehmen, dass er von den Kritiken, die sich gegen den Anfang des Philosophierens mit dem Ich richten, unberührt blieb, zumal er doch nach einigem Zögern Ende 1796 eine klare Übereinstimmung mit Fichtes drei Ich-Grundsätzen aus der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre signalisierte. Doch ist dem nicht so. Reinhold legt es darauf an, sich das vom Wissenschaftslehrer vindizierte Vermögen einer absoluten, selbsttätigen Vernunft anzueignen. Dass dieses Vermögen Fichte zufolge „Ich“ und nicht anderes zu nennen ist, ist für Reinhold nicht entscheidend. Eher ist es ein Hemmnis. Denn es ist unübersehbar, dass sich bei Reinhold bereits unmittelbar vor dem Übertritt zur Wissenschaftslehre ein Unbehagen gegenüber dem Ichbegriff breit machte, welches sich während der Phase der Kooperation mit Fichte zwar vorübergehend abschwächte, gegen 1800 aber wiederum intensiver wurde und sich mit dem Übertritt zum Rationalen Realismus in einer radikalen, anti-subjektivistischen Wende Ausdruck verschaffte. Das besagte Unbehagen gegenüber dem Ichbegriff zeigt sich erstmals bei einer Diskussion von Varianten des philosophischen Egoismus, die Reinhold mit Baggesen und danach ebenfalls mit Jacobi führt.222 Reinhold hält einen „moralischen Egoismus“, den er mit der offenen oder kaschierten Parteinahme für den eigennützigen Trieb, aber auch mit einem moralischen Vernunftfatalismus verklammert sieht, für verwerflich, dies in Abhebung von einem als neutral einzustufenden „metaphysischen Egoismus“, wie ihn seines Erachtens die Fichte’sche Ich-Lehre in ihren drei ersten Grundsätzen repräsentiert. Dabei kann Reinhold sich bei näherer Betrachtung aber des Eindrucks nicht erwehren, dass der Wissenschaftslehrer einem metaphysischen Egoismus das Wort redet, der durch den moralischen Egoismus infiziert ist. Reinhold fällt dieses Urteil im Laufe seiner fortlaufenden Verständigung über das moralisch-praktische Argumentationspotential, das seines Erachtens in Fichtes Konzeption der absoluten praktischen Vernunft steckt. Monierte Reinhold vor seiner Gemeinschaft mit Fichte dessen fehlende Sensibilität für die Differenz von absoluter praktischer Vernunft und Willensfreiheit der Person, wird dem Wissenschaftslehrer im Nachhinein eine mangelhafte Entfaltung des Verhältnisses von Wissen und Glauben zur Last gelegt. Reinholds Einschätzung gemäß 222 Siehe Bondeli, Das Anfangsproblem bei K. L. Reinhold, S. 231–239.

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VI. Etappen der Kritik an der Elementarphilosophie 149 hat Fichte zwar mit seiner Konzeption von absoluter praktischer Vernunft den höchstmöglichen denkerischen Entwicklungsstand im Bereich des philosophischen Wissens, jedoch mit seinen Ansichten zum Verhältnis von Wissen und Glaube ein nur wenig befriedigendes Resultat erreicht. Seines Erachtens hat Fichte es versäumt zu erörtern, dass die Vorstellung von unserem moralischen Gewissen und die damit zusammenhängende Pflicht unsererseits gegenüber Gott über dem Wissen stehen und Fundament des Wissens sind. Dass Fichte seinerseits ein egoistisches Verhalten als eine Ich-Aktivität empirischer Natur einstuft und nicht mit dem reinen Ich zusammengeworfen wissen möchte, will Reinhold nicht gelten lassen. Ebenso wenig kann aus Reinholds Perspektive die Tatsache, dass Fichte in der Naturrechtslehre die Idee einer sich von der Vorstellung eines isolierten Ich entfernenden interpersonalen Beziehung entfaltet hat, etwas an seinem Urteil ändern. Die Differenz wird hier noch markanter, nachdem Reinhold sich in der Frage exponiert, welche Bedeutung dem Wort „Ich“ eigentlich zukommt. Während Fichte den Sinn des Wortes „Ich“ mit einem infallible Gewissheit verbürgenden Akt der Selbstbeziehung in Verbindung bringt, ist Reinhold der Auffassung, das in der Bedeutung einer Selbstbeziehung bestehende Ich sei das abstrakte, künstliche Ich, das unweigerlich auf dem konkreten, natürlichen Ich aufruhe. Das „Ich“ sei insofern ursprünglich das „wirkliche Individuelle Ich“.223 Geprägt ist diese Sichtweise Reinholds augenscheinlich durch die Überzeugung, die Bedeutung des Wortes „Ich“ ergebe sich genuin aus dem Verhältnis des Einzelmenschen zu Gott, jene Bedeutung des „Ich“, die mit dem Gedanken einer gegenüber dem Einzelmenschen indifferenten Selbstbeziehung einhergehe, sei dagegen ein parasitäres Produkt des Verhältnisses von Einzelmensch und Gott. In einem finalen Schritt, der mit dem Übergang zum Rationalen Realismus koinzidiert, geht Reinholds Kritik am Ich-Begriff gleichfalls mit einer konsequenten Absage an die Auffassung von Selbstbeziehung oder intellektueller Anschauung einher. Und nicht nur dies. Im Blick auf die gesamte, glaubende und wissende, Philosophie wird dafür Partei ergriffen, dass diese ihren Ausgang von einem Prius, Einen oder Sein katexochen und nicht von einem wie auch immer genau zu fassenden Ich-Vermögen zu nehmen hat. Wir können resümieren, dass die Ich-Kritik und die damit verbundene Einsicht, die Philosophie müsse von einem ursprünglichen Sein ausgehen, sowohl für den Reinhold des Rationalen Realismus als auch für die Tübinger Fraktion der nachkantischen Systemphilosophie zu den unverrückbaren Errungenschaften gehören werden. Bei Reinhold fällt sie allerdings radikaler, objektivistischer aus als bei Schelling und Hegel. Zudem sind unterschiedliche Motive vorherrschend. Mit Schelling und Hegel, die nach 1800 das philosophische Bedürfnis der Vereinigung hervorheben und sich mit dem Grunddiktum gegen Fichte wenden, dass es eine absolute Identität an die Spitze der Philosophie zu stellen gelte, welche, ergänzend zum „subjektiven Subjektobjekt“ Fich223 Siehe Karl Leonhard Reinhold, Ueber die Paradoxien der neuesten Philosophie, Hamburg, 1799, S. 71 f.

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150 Die Elementar­philosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen te’scher Herkunft, eines „objektiven Subjektobjekts“ bedürfe,224 setzt sich eine Ich-Kritik durch, die dem Leitgedanken einer Synthese von Fichte und Spinoza folgt und an eine Vereinigungs- und Seinsidee Hölderlins anschließen kann. Bei Reinhold indessen gibt ein moral- und religionsphilosophisches Ansinnen den Ton an, welches vor allem an Jacobis Aussagen zum Glauben an das Sein und an die frühromantischen Räsonnements zum Seinsgrund des Ich erinnert. Beachtlich ist der Konsens zwischen Reinhold und Hegel in der Lesart des Ausdrucks „Ich“. So wird Hegel, wenn es zu rechtfertigen gilt, weshalb der Anfang der Wissenschaft mit dem Sein und nicht mit dem Ich gemacht werden soll, wie Reinhold die unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexte, die der Ausdruck „Ich“ evoziert, berücksichtigen. Das Ich taugt nicht als Anfang, denn es ist in seinen Bedeutungen oszillierend, einmal abstraktes Ich, die „einfache Gewißheit seiner selbst“, dann wiederum das konkrete, „gewöhnliche Ich“. Als abstraktes reines Ich führt es „die fortdauernde Zurückerinnerung an das subjective Ich mit sich, dessen Schranken vergessen werden sollen.“225 Der Ausgang der Philosophie vom dem Ich erweckt damit allenfalls den Schein einer unmittelbaren und bekannten Vorstellung, wie sie bei einem Anfang zwingend erforderlich ist. In Wirklichkeit bringt dieser Anfang nur „Verwirrung und gänzliche Desorientierung hervor.“226 Blickt man voraus auf die um 1800 beginnende identitätsphilosophische Phase des Deutschen Idealismus, erweisen sich die Kritik am Ausgang der Philosophie vom absoluten Ich und die Zuwendung zu einem Prinzip des Seins schlechthin als weitere Meilensteine in der nachkantischen Beantwortung der Prinzipienfrage. Nicht nur Schelling, Hegel, Reinhold und der sich ihrem Systemdenken vorübergehend zugesellende Bouterwek werden um 1800 den Wechsel vom Ich zum Sein vollziehen oder vollzogen haben, auch Fichte wird nach 1800 auf seine Weise von ihm erfasst werden. Bis das neue Paradigma eines seinsorientierten Prinzipien- und Systemdenkens sich etablieren kann, werden allerdings noch weitere vorbereitende Denkstufen zu durchlaufen sein. Die Kritik an einem Ausgang vom absoluten Ich bildet sich auf der Grundlage einer Gegenüberstellung von Glauben an das Sein und Wissen im Bereich der Reflexion heraus und führt so zu einer neuen Disparität von Glauben und Wissen. Es meldet sich deshalb umgehend das Bedürfnis, eine dem Seins-Glauben ebenbürtige Gestalt von Wissen und spekulativem Begriff zu generieren. Und nicht zuletzt muss eine angemessene Reaktion auf die 1799 einsetzenden Attacken Jacobis und Herders auf den Idealismus Kants und Fichtes, der sich angeblich in Subjektivismus, Dualismus, Formalismus und Nihilismus erschöpft, gefunden werden. Die Systeme des Deutschen Idealismus werden sich dadurch nicht neu erfinden, jedoch dahingehend modifizieren müssen, dass sie zugleich dem Anforderungsprofil eines neuen Realismus gerecht zu werden vermögen. 224 Siehe Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 63. 225 Siehe ebd., Bd. 11, S. 38 f. 226 Siehe ebd., S. 39.

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Literatur 155

Johann Gottlieb Fichte Andreas Schmidt (Jena) König Peter: Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident? Präsident (gravitätisch langsam): Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so. Der ganze Staatsrat im Chor: Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so. Georg Büchner: Leonce und Lena

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Inhalt I. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II.

Philosophie als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

III.

Der Gegenstand der Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

IV.

Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: die ersten drei Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

V.

Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: Streben und Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

VI.

Die Ableitung der philosophischen Einzeldisziplinen . . . . . . 188

VII. Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 VIII. Das System der Sittenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 IX. Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

X.

Fichtes Spätphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

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I. Biographisches Fichte wurde 1762 in Rammenau in der Oberlausitz in äußerst ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Leinwebers geboren. Durch die Förderung des Adligen Ernst von Miltitz war es ihm möglich, eine Lateinschule in Meißen und die Fürstenschule Pforta bei Naumburg zu besuchen. Er studierte ab 1780 Theologie und ein wenig Jura in Jena, Wittenberg und Leipzig, musste das Studium jedoch 1784 aus finanziellen Gründen ohne Examen abbrechen. In den folgenden Jahren verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer in Leipzig, Zürich und Krokow bei Danzig. Das Jahr 1790 wurde entscheidend für seinen weiteren Lebensweg: Er entdeckte die kantische Philosophie und wurde sofort deren begeisterter Anhänger. Zwei Jahre später veröffentlichte er seine erste Schrift, den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Das Buch erschien zunächst anonym, und da man zu dieser Zeit eine Schrift Kants zu demselben Thema erwartete, glaubten nicht wenige, endlich die erwartete Religionsphilosophie Kants vor sich zu haben. Der Irrtum wurde rasch aufgeklärt und Fichte hatte sich auf einen Schlag als Philosoph einen Namen gemacht. Es folgten noch zwei Schriften zur Verteidigung der Französischen Revolution, die Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens und der Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (beide 1793), bevor Fichte Ende 1793 schließlich einen Ruf an die Universität Jena als Nachfolger Karl Leonhard Reinholds erhielt, wo er innerhalb kürzester Zeit wesentliche Teile seines philosophischen Systems, der sogenannten „Wissenschaftslehre“, ausarbeitete und veröffentlichte: In seiner Zeit in Jena entstanden die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), die Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97) und das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798). 1799 musste Fichte jedoch aufgrund des Vorwurfs, eine atheistische Lehre zu vertreten, seine Jenaer Professur aufgeben. Er zog nach Berlin, wo er die Wissenschaftslehre in immer neuen Versionen in privaten Vorlesungen vortrug, ohne sie jedoch zu publizieren. Fichte veröffentlichte in dieser Zeit lediglich einige „populäre“ Texte, die sich an ein größeres Publikum richteten: Die Bestimmung des Menschen (1800), die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), die Anweisungen zum seligen Leben (ebenfalls 1806) und, veranlasst durch die napoleonische Besetzung Berlins, die Reden an die deutsche Nation (1808). 1810 wurde er an die neu gegründete Universität Berlin berufen, deren erster gewählter Rektor er von 1810 bis 1812 war. Zur erhofften Ausarbeitung der definitiven Version der Wissenschaftslehre kam es nicht mehr: Fichte starb am 29. Januar 1814 mit 51 Jahren an einer Typhusinfektion.

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158 Johann Gottlieb Fichte

II. Philosophie als System Philosophie muss nach Fichte die Form eines Systems haben. In einer Schrift zur philosophischen Methode mit dem Titel Über den Begriff der Wissenschaftslehre von 1794 schreibt er: „Die Philosophie ist eine Wissenschaft […]. Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze hangen in einem einzigen Grundsatze zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen.“1 Die Frage ist nun: Was versteht Fichte unter „System“? Ein naheliegender Gedanke wäre es, an ein deduktives System nach dem Vorbild der euklidischen Geometrie zu denken. Ein solches deduktives System ist durch drei Eigenschaften gekennzeichnet: 1. Was die Begriffe der Theorie betrifft: Es gibt eine Menge von Grundbegriffen; alle weiteren Begriffe der Theorie sind durch diese Grundbegriffe definierbar, d. h. aus ihnen zusammengesetzt. 2. Was die Sätze der Theorie betrifft: Es gibt eine Menge von Grundsätzen (Axiome); alle weiteren Sätze sind aus den Grundsätzen mit den Mitteln der formalen Logik ableitbar, d. h. durch sie beweisbar (Theoreme). 3. Außerdem gilt: Alle Sätze der Theorie müssen wahr sein; und von allen Sätzen muss einsichtig sein, dass sie wahr sind: Die Theoreme sind als wahr einsichtig, weil sie aus den Axiomen beweisbar sind; die Axiome ihrerseits sind per se als wahr einsichtig.

An so etwas scheint auch Fichte in Über den Begriff der Wissenschaftslehre zu denken, wenn er z. B. schreibt: [Es] müßte wenigstens Ein Satz gewiß seyn, der etwa den übrigen seine Gewißheit mittheilte; so daß, wenn, und in wie fern dieser Eine gewiß seyn soll, auch ein Zweiter, und wenn, und in wie fern dieser Zweite gewiß seyn soll, auch ein Dritter, u. s. f. gewiß seyn muß. […] Der gewisse Satz – wir haben bis jetzt nur Einen als gewiß angenommen – kann seine Gewißheit nicht erst durch die Verbindung mit den übrigen erhalten, sondern muß sie vor derselben vorher haben; denn aus Vereinigung mehrerer Theile kann nichts entstehen, was in keinem Theile ist. Alle übrigen aber müßten die ihrige von ihm erhalten. Er müßte vor aller Verbindung vorher gewiß und ausgemacht sein. Kein einziger von den übrigen aber müßte vor der Verbindung es sein, sondern erst durch sie es werden. (GA I, 2, 114f.)

1

Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962 ff., Bd. I, 2, S. 112. Im Folgenden im Text unter der Sigle GA zitiert.

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II. Philosophie als System 159 Von Begriffen und Definitionen ist hier nicht die Rede; aber was Fichte hier sagt, paßt auf alle Fälle zu Bedingungen (2) und (3). Dass Fichte auch die Anforderung (1) akzeptiert, wird zumindest nahegelegt, wenn er in seiner Recension des Aenesidemus (1793) gegen Reinhold die „Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit“ der von ihm verwendeten Begriffe kritisiert, was „auf einen auszuforschenden höhern Grundsatz“ hinweise (GA I, 2, 44). Allerdings führt der Vergleich mit dem Euklidischen Modell eines Systems in die Irre. Das wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass Fichte betont, dass es ihm um ein System aus einem Grundsatz zu tun ist: [Es kann] in einer Wissenschaft nur Ein Satz seyn […], der vor der Verbindung vorher gewiß und ausgemacht ist. […] Ein solcher vor der Verbindung vorher und unabhängig von ihr gewisser Satz heißt ein Grundsatz. Jede Wissenschaft muß einen Grundsatz haben; ja sie könnte ihrem inneren Charakter nach wohl gar aus einem einzigen, an sich gewissen Satze bestehen, – der aber dann freilich nicht Grundsatz heißen könnte, weil er nichts begründete. Sie kann aber auch nicht mehr als Einen Grundsatz haben, weil sie sonst nicht Eine, sondern mehrere Wissenschaften ausmachen würde. (GA I, 2, 115)

Wenn Fichtes Systemverständnis sich wirklich an Euklid orientieren würde, dann würde das heißen, dass er ein deduktives System sucht, das nur ein einziges Axiom kennt. Aber das erscheint eine völlig unplausible Anforderung zu sein. Sehen wir uns die paradigmatischen Fälle solcher deduktiven Systeme an – Euklid zum Beispiel. Es handelt sich keineswegs um eine Ableitung aus einem Axiom. Wenn man sich das erste Buch der Elementa ansieht, dann findet man 23 Definitionen, 5 Postulate und 5 Axiome: weit davon entfernt, ein System aus einem Grundsatz zu sein. Oder man nehme Spinoza, der seine Ethik (1677) „ordine geometrico“ verfaßt hat, d. h. nach dem Vorbild eines euklidischen Systems. Wenn man sich dort das erste Buch ansieht, findet man 8 Definitionen und 7 Axiome. Die klassischen deduktiven Systeme sind also keineswegs Systeme aus einem Grundsatz. Und das aus gutem Grund: Es ist schwer zu sehen, wie aus einem einzigen Grundsatz – rein mit den Mitteln der formalen Logik – vieles folgen sollte. Natürlich wäre es rein theoretisch möglich, den ersten Grundsatz sehr lange zu machen – ihn einzuführen als eine lange Konjunktion aller Theoreme, die dann natürlich aus ihm auch alle analytisch folgen würden. Aber das wäre ein recht witzloses Unterfangen, das keinerlei Erkenntnisgewinn bringen würde. Und tatsächlich ist das, was Fichte dann als ersten Grundsatz anzubieten hat, alles andere als komplex: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein“ (GA I, 2, 261). Was will man daraus rein formal schon folgern? Durch Anwendung der Existenzgeneralisierung könnte man z. B. folgern: „Es gibt etwas, das ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein setzt“. Aber sehr viel mehr folgt nicht. Letztlich bleibt der Grundsatz logisch steril. Und wenn man die Argumentation in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre aufschlägt, dann

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160 Johann Gottlieb Fichte sieht man sofort, dass der Text mit einem deduktiven System à la Euklid oder Spinoza nicht viel zu tun hat. Wenn wir Fichtes Konzeption des Systems verstehen wollen, müssen wir uns wohl von der Idee verabschieden, dass die Theoreme sich aus dem Grundsatz allein mit Mitteln der formalen Logik ableiten lassen. Das Ableitungsverfahren muss ein anderes sein. Um Fichtes Systembegriff besser zu verstehen, ist es nützlich, die Perspektive zu verändern. Man kann „System“ verstehen als Struktur einer Satzmenge (nämlich der Satzmenge, aus der die Theorie besteht); man kann unter „System“ aber auch die Beschaffenheit des Gegenstandes verstehen, von dem die Theorie handelt. Diesen Unterschied kann man sich an Spinozas Metaphysik leicht klarmachen. Spinozas Metaphysik ist ein System in beiderlei Sinn. Es ist ein deduktiv aufgebautes System von Sätzen – aber in diesem Sinn, wie oben erwähnt, kein System aus einem Grundsatz. Wenn man aber auf den Inhalt der Theorie sieht, dann ist es durchaus ein System aus einem Prinzip, nämlich Gott. Alles Seiende dependiert dieser Theorie zufolge von der göttlichen Substanz und es gibt nichts Zweites, von dem es dependieren würde. In diesem Sinn handelt es sich um ein System aus einem Prinzip, aber nicht um ein System aus einem Grundsatz. Wenden wir uns also (vorläufig) von der Frage ab, wie die Sätze der Theorie untereinander angeordnet sind und der Frage zu, wie die Gegenstände oder Prinzipien, von denen die Theorie handelt, sich aufeinander beziehen. Die Gegenstände der Theorie bilden ein System, sofern sie notwendig aufeinander bezogen sind und insofern eine notwendige Totalität bilden. Es bieten sich hier zwei verschiedene prinzipientheoretische Architekturen für die Konstruktion eines philosophischen Systems an. Wenn wir Fichtes Rede von einem einzigen Grundsatz als Forderung nach einem einzigen philosophischen Prinzip verstehen, von dem alle anderen in der Theorie vorkommenden Prinzipien dependieren, dann erhalten wir, bildlich gesprochen, ein System in Pyramidenform. Wir gehen aus von der Welt der Erfahrung, extrahieren aus ihr eine Reihe von Prinzipien, von denen die Gegenstände der Erfahrung dependieren; wir extrahieren aus ihnen wiederum höhere Prinzipien, von denen sie dependieren, und landen schließlich bei einem höchsten Prinzip, von dem alles andere dependiert und das selbst von nichts dependiert. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit. Das System kann einen Prinzipienverband bilden: Eine Reihe von Prinzipien, die untereinander nicht mehr hierarchisch geordnet sind, sondern wechselseitig voneinander abhängen. Ein solches holistisches System lässt sich bildlich als Kreis, oder besser noch als Netz, darstellen. Ein paradigmatisches Beispiel für einen solchen Prinzipienverband wäre die Theorie der μέγιστα γένη, die Platon im Sophistes entwickelt: Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung, Ruhe. Sie sind die höchsten Prinzipien, sind aber untereinander notwendig verbunden: denn jedes ist mit sich identisch, von den anderen verschieden, seiend etc. Daher kann es keines ohne alle anderen geben. Beide Systemarchitekturen haben ihre Vor- und Nachteile. Der Vorteil eines Systems aus einem ersten Prinzip, das von nichts anderem abhängt, ist, dass man sicheres Wis-

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II. Philosophie als System 161 sen über das erste Prinzip gewinnen kann, auch wenn der Rest des Systems noch unbekannt ist. Der Nachteil: Wenn das erste Prinzip vom Rest des Systems nicht abhängt, lässt sich dieser Rest des Systems aus dem ersten Prinzip allein auch nicht ableiten, indem den Abhängigkeitsrelationen zwischen den Prinzipien nachgegangen wird. Es mangelt dem System also an Notwendigkeit. Eine holistische Systemkonzeption löst genau dieses Problem: Wenn alles von allem abhängt, ist alles ableitbar und daher notwendig. Endgültiges Wissen um das System und seine Teile können wir dann freilich erst gewinnen, wenn das Gesamtsystem etabliert ist. In Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) scheint Fichte die erste, hierarchische Systemarchitektur im Sinn zu haben. Nun gibt es einen weiteren Text von Fichte zu methodischen Fragen mit dem schönen Titel Sonnenklarer Bericht an das größere Publicum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie: ein Versuch die Leser zum Verstehen zu zwingen (1801); da klingt es, als hätte Fichte, anders als in Über den Begriff der Wissenschaftslehre, die zweite, egalitäre Systemarchitektur im Sinn. Hier vergleicht er das philosophische System nämlich mit einer Uhr, bei der alle Teile notwendig funktional aufeinander bezogen sind. Er schreibt: Betrachten wir das Innere eines mechanischen Kunstwerks, z. B. einer Uhr. Du siehest in derselben Räder mancherlei Art aneinandergefügt, Federn, Ketten u. s. w. Du durchläufst betrachtend das Mannigfaltige des Werkes, siehst Ein Rad nach dem anderen an. […] Ich urtheile, daß das einzelne Stück, an und für sich betrachtet, und als einzelnes Stück allerdings ins Unendliche anders seyn könnte. Aber alle Stücke sollen zusammen wirken, und in ihrer Vereinigung ein einiges Resultat hervorbringen; und wenn ich darauf sehe, müssen, meinem Urtheile nach, alle Stücke zusammenpassen, in einander eingreifen, alle auf jedes einzelne wirken, und jedes einzelne auf alle zurück. […] Oder, wenn ich von diesem einzelnen Stücke mit meiner Betrachtung anhebe: dieses Stück, als Stück eines solchen Kunstwerkes einmal gesetzt, ist nothwendig, daß alle übrigen Stücke so seyen, wie sie sind, wenn sie in einem solchen Kunstwerke gerade zu einem solchen Stücke passen sollen. (GA I, 7, 206 f.)

Jeder Teil ist so mit allen anderen verbunden, dass ich ausgehend von jedem Teil im Prinzip das Ganze rekonstruieren könnte. Allerdings hält Fichte weiterhin auch daran fest, dass es so etwas wie ein höchstes Prinzip gibt. Er will also beides haben: Einen hierarchischen, pyramidalen Aufbau und einen nicht-hierarchischen, egalitären Prinzipienverband. Dann müsste von einem Prinzip aber sowohl gelten, dass es von den anderen abhängt, als auch, dass es von nichts anderem abhängt (während alles andere von ihm abhängt). Ist das nicht ein Widerspruch? Man hat an dieser Stelle zwei Optionen. Entweder man affirmiert den Widerspruch; oder man unterscheidet Hinsichten: Von einem Element gilt, dass es in einer Hinsicht unbedingt, in einer anderen Hinsicht bedingt ist. Das Bild der Uhr kann uns bereits einen ersten Hinweis darauf liefern, wie beides vereinbar sein könnte. Um aus einem Teil der Uhr die anderen Teile

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162 Johann Gottlieb Fichte der Uhr ableiten zu können, muss ich wissen, dass es sich um einen Teil einer Uhr handelt; und ich muss wissen, was die Funktion einer Uhr ist. Die Uhr als Ganzes ist nämlich dasjenige, um dessentwillen die Teile da sind. Die Teile sind um der Uhr als ganzer willen da, die Uhr hingegen ist nicht um der Teile willen da. Fichte beschreibt das so: […] der Künstler [gemeint ist der Uhrmacher], der den Begriff eines mechanischen Kunstwerks entwirft, führt in diesem Begriffe das Mannigfaltige auf die Einheit Eines Resultates zurück. Das Kunstwerk soll den oder den bestimmten Zweck erfüllen, und das Mannigfaltige und die Zusammenwirkung dieses Mannigfaltigen enthält, nach dem Begriffe des Künstlers, die Bedingungen, unter denen allein das Werk diesen Zweck erfüllen kann; und diese Einheit ist vor dem Kunstwerke, und selbst vor dem Begriffe des Mannigfaltigen vorher. Dieser letztere entsteht erst durch den der Einheit, um ihrer willen, und wird durch sie bestimmt. Es bedarf gerade eines solchen Mannigfaltigen, weil dieser Zweck erreicht werden soll. Ein solcher Begriff der Einheit scheint mir von dem eines systematischen Zusammenhanges durchaus unzertrennlich. (GA I, 7, 216)

Die Teile hängen also vom Ganzen ab, sofern das Ganze ihren Zweck festlegt; sie sind um des Ganzen willen da. Dennoch hängt in einem anderen Sinn die Uhr als ganze von den Teilen ab. Es würde die Uhr ohne die Teile ja gar nicht geben. Kurz: Was die Existenz betrifft, so hängt das Ganze von den Teilen ab; was die teleologische Funktion betrifft, hängen die Teile vom Ganzen ab. Angewandt auf das philosophische System heißt das: [Der] Wissenschaftslehrer müßte sonach doch wohl den Begriff einer solchen Einheit, eines solchen Zweckes und Resultates alles Bewußtseyns haben, worauf er das Mannigfaltige, als Bedingung desselben, zurückführte. (GA I, 7, 216 f.)

Wenn wir so eine Aspektunterscheidung zwischen teleologischer und existentieller Dependenz vornehmen, sind beide Modelle der Systemarchitekturen miteinander vereinbar. Genau so etwas wird sich in Fichtes System finden. Was bisher diskutiert wurde, betraf allein die Architektonik des von Fichte angepeilten Systems. Im nächsten Schritt soll die Systemkonstruktion näher erläutert werden. Wie muss man nach Fichte methodisch vorgehen, wenn man ein System aufstellt? Geht der Philosoph „analytisch“ oder „synthetisch“ vor, wenn er ein System aufbauen will? Unter „analytisch“ verstehe ich hier ein Vorgehen, das bei der Erfahrung anfängt und aus ihr, durch Analyse, allererst die Prinzipien extrahiert. Unter „synthetisch“ verstehe ich ein Vorgehen, das rein konstruktiv ist und ausgehend von einem Prinzip die anderen Prinzipien ableitet, indem es den Dependenzrelationen nachgeht, die diese

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II. Philosophie als System 163 Prinzipien miteinander verbinden.2 Wir können auch sagen: Das analytische Vorgehen ist phänomenologisch; es setzt bei den Phänomenen an und steigt auf zu den Prinzipien. Das synthetische Vorgehen ist dialektisch, da durch reines Denken gezeigt wird, dass ein Prinzip, das wir ins Auge gefasst haben, notwendig einer Ergänzung durch ein zweites Prinzip bedürftig ist, etc. Tatsächlich verwendet Fichte beide Methoden. Was das analytische Verfahren betrifft, so vergleicht er das Vorgehen mit dem Vorgehen des Mathematikers, wenn dieser geometrische Konstruktionen auf dem Papier zeichnet. Der Witz bei solchen geometrischen Konstruktionen ist, dass es sich einerseits um die Produktion konkreter Anschauungen handelt  – die Anschauungen der Zeichnungen auf dem Papier. Die Funktion dieser Anschauungsproduktion aber besteht darin, in der Zeichnung etwas Allgemeines sichtbar werden zu lassen: nämlich, dass bestimmte Konstruktionen möglich und andere unmöglich sind. Im Konkreten soll hier also etwas Allgemeines durchscheinen. Fichte beschreibt das so: Mit dieser Anschauung meines Construirens [z. B.] eines Triangels müßte nun, um meine allgemeine Behauptung zu begründen, unmittelbar verknüpft seyn die absolute Ueberzeugung, daß ich nie und in keinem Falle anders construiren könne; in der Anschauung sonach ergriffe und umfaßte ich mein ganzes Constructionsvermögen mit Einem Male, und auf Einen Blick, durch ein unmittelbares Bewusstseyn, nicht dieses bestimmten Construirens, sondern schlechthin alles meines Construirens überhaupt […]. (GA I, 7, 228)

Ganz analog muss der Philosoph auf Erfahrung rekurrieren, aber nur, um in einer Art „eidetischer Reduktion“ (wie Husserl es nennen wird) allgemeine Wesensstrukturen herauszuisolieren, um also von der Erfahrung überhaupt allererst zu den Prinzipien zu kommen. Insofern ist Fichtes Vorgehen phänomenologisch. Zugleich ist das Vorgehen Fichtes aber auch dialektisch, wie bei dem Uhrenbeispiel schon angedeutet wurde; „denn zu jedem möglichen Stücke müssen die übrigen alle passen; aus jedem möglichen Theile läßt sich sonach schließen, wie alle übrigen, inwiefern sie nemlich durch den bloßen Mechanismus des Werkes bestimmt werden, beschaffen seyn müssen.“ (GA I, 7, 208) Man könnte an dieser Stelle vielleicht meinen, der Rekurs auf die Erfahrung sei nur ganz am Anfang nötig, um zu einem beliebigen Teil des Prinzipienverbandes zu gelangen; der Rest könnte in einem rein deduktiv-dialektischen Verfahren geleistet werden. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Die Systemkonstitution bedarf immer wieder eines Inputs durch die Erfahrung; das heißt: Fichte verwendet ein gemischtes 2 Diese Unterscheidung von analytischer und synthetischer Methode (nicht zu verwechseln mit analytischen und synthetischen Urteilen bei Kant) findet sich in den Erwiderungen zu den zweiten Einwänden im Anhang zu Descartes’ Meditationes (René Descartes, Meditationes de prima philosophia, in: Oeuvres de Descartes, Bd. 7, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Paris, 1996, S. 155 f.)

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164 Johann Gottlieb Fichte Verfahren, in dem es „phänomenologische“ und „dialektische“ Momente gibt. Das bedeutet auch: Wir müssen damit rechnen, dass – anders als Fichte es im Sonnenklaren Bericht schreibt – nicht alle Systemteile gleichermaßen notwendig sind. Um beim Beispiel der Uhr zu bleiben: Vielleicht kann man sagen, dass jede Taschenuhr eine Unruh braucht; aber es gibt möglicherweise mehrere mögliche Arten, sie zu gestalten. Die Entscheidung, wie sie gestaltet wird, ist aber zugleich wichtig für die Frage, wie die restlichen Teile angeordnet sein müssen. Übertragen auf das philosophische System heißt das: Es kann sein, dass es zwar festgelegt ist, dass es einen bestimmten Systembestandteil gibt, ohne dass seine genaue Beschaffenheit festgelegt ist. Die genaue Beschaffenheit mag aber durchaus systemrelevant sein, weil andere Systemteile wiederum davon abhängen. Um zu entscheiden, wie dieser Systembestandteil tatsächlich verfasst ist, müssten wir auf die Erfahrung rekurrieren bzw. auf eine eidetische Reduktion der Erfahrung. Es gibt übrigens immer wieder Passagen, in denen Fichte darauf hinweist, dass wir es bei seinem System mit lauter „Fiktionen“ zu tun haben, die wir nicht mit der Wirklichkeit verwechseln dürfen. Das scheint auf den ersten Blick etwas merkwürdig, da Fichte doch davon ausgeht, dass sein System wahr ist und sehr wohl mit der Wirklichkeit korrespondiert. Was Fichte meint, ist ein Sachverhalt, der mit der sukzessiven Konstruktion des Systems zu tun hat. Wenn wir das System – verstanden jetzt als Theorie – sukzessive konstruieren, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die einzelnen Teile des Systems jeweils zu isolieren und für sich zu betrachten. Fichte geht jedoch davon aus, dass die Teile nur im Verband mit allen anderen existieren; was also existiert, ist immer das Ganze. Wenn wir einen Teil isolieren, erschaffen wir eine Fiktion, der wir nicht auf den Leim gehen dürfen, denn eigentlich gibt es das gar nicht, was wir da, so herauspräpariert, untersuchen. Hier stößt auch das Bild der Uhr an seine Grenzen. Denn natürlich existieren die Zahnräder, Federn, etc. auch getrennt von ihrem Verband in der Uhr. Für die Prinzipien seines Systems soll das nicht gelten. Sie haben keine unabhängige Existenz außerhalb ihres Verbandes. Man könnte sie eher vergleichen mit Begriffen, die in inferentiellen Beziehungen zueinander stehen. Hier ist klar, dass die inferentiellen Beziehungen wesentlich zum Begriff gehören; löst man sie aus diesen Beziehungen heraus, verschwinden auch die Begriffe. In dieser Hinsicht ist Kants Metapher für ein System vorzuziehen, nach der ein System eine „für sich bestehende Einheit ist, in welcher ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines willen da sind“ (KrV, B XXIII);3 denn in einem Organismus existieren die Teile nicht ohne das Ganze – zumindest nicht lange.

3

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg, 1998, B XXIII. Im Folgenden im Text unter der Sigle KrV zitiert.

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III. Der Gegenstand der Wissenschaftslehre 165

III. Der Gegenstand der Wissenschaftslehre Was ist nun der Gegenstand der Fichte’schen Theorie? Was soll in der angegebenen systematischen Form dargestellt werden? Eine erste, wenn auch noch nicht ganz hinreichende, Antwort wäre: Fichtes Theorie handelt vom Bewusstsein. So heißt es etwa in der Wissenschaftslehre nova methodo (1796–1799): „Nichts ist, es sey denn im Bewußtseyn, war der Satz, von dem wir ausgingen.“ (GA IV, 2, 45) Natürlich geht es nun nicht um die individuellen Bewusstseinszustände von bestimmten Subjekten zu bestimmten Zeiten – es geht nicht darum, den Bewusstseinsfluss von Leopold Bloom am 16. Juni 1904 in Dublin zu beschreiben, wie James Joyce es in seinem Ulysses tut. Es geht um die Wesensgesetze, die das Bewusstsein generell strukturieren. Diese Wesensgesetze sollen von der Theorie dargestellt und in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Wäre das freilich alles, dann wäre die Wissenschaftslehre nicht viel mehr als eine Art spekulative Psychologie. Fichte will die Wissenschaftslehre aber nicht als Psychologie verstanden wissen, sondern als eine Form der Transzendentalphilosophie. Ihr Gegenstand ist das Bewusstsein, sofern es den Anspruch erhebt, sich auf Objekte zu beziehen, und ihre Aufgabe besteht darin, erstens zu untersuchen, welche begrifflichen Voraussetzungen das Bewusstsein macht, um seinen Anspruch auf Objektbeziehung zu ermöglichen, und zweitens diese Voraussetzungen zu rechtfertigen, um auf diese Weise gegen skeptische Einwände zu zeigen, dass ein solcher Objektbezug des Bewusstseins tatsächlich möglich ist. Dieses Projekt bringt aber ein prinzipielles Problem mit sich. Wenn bewusste Objektbeziehung durch Untersuchung ihrer begrifflichen Voraussetzungen allererst legitimiert werden soll, dann sollte der Rekurs auf diese Voraussetzungen seinerseits keine Objektbeziehung voraussetzen, um sich nicht in einen vitiösen Zirkel zu verstricken. Wenn das transzendentalphilosophische Projekt erfolgreich sein soll, muss es daher einen nichtobjektivierenden Zugang zum Bewusstsein und seinen Voraussetzungen der Objektbeziehung geben; das „transzendentale“ Bewusstsein ist somit nicht als Gegenstand zu fassen. Fichte ist sich dieser Problematik sehr bewusst. In der Wissenschaftslehre nova methodo heißt es zum Beispiel: „Das Ich ist nicht Seele, die Substanz ist; jeder denkt sich bei dem Ich noch etwas im Hinterhalte. Man denkt [:] ehe ich so und so es machen kann, muß ich sein. Diese Vorstellung muß gehoben werden“ (GA IV, 3, 345), und ähnliche Äußerungen finden sich immer wieder. Fichtes Problembewusstsein in dieser Hinsicht wurde wohl geschärft durch Gottlob Ernst Schulze, der 1792 anonym ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie. Darin weist er unter anderem auf folgendes Problem der kantischen Transzendentalphilosophie hin: Die Kantianer behaupten, das Ding an sich – jenseits der Erscheinung – sei unerkennbar. Wenn das so ist, dann können wir aber nicht auf der anderen Seite, auf der Seite des Subjekts, ein subjektives Ding an sich ansetzen, das durch seine Leistungen die Erscheinungswelt konstituiert. Wenn das eine unerkennbar ist, muss es auch das andere sein. Die Alter-

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166 Johann Gottlieb Fichte native wäre, zu sagen, das Subjekt, von dem die Theorie handelt, sei nicht ein Subjekt „an sich“, sondern irgendwie Teil der Erscheinungswelt. Aber dann ist es ja nicht mehr das transzendentale Ich, das für die Konstruktion der Erscheinungswelt verantwortlich ist, sondern ein bloß empirisches Subjekt in den psychischen Regionen der Erscheinungswelt, und die Transzendentalphilosophie würde zur bloßen Psychologie regredieren. Fichte, der von Schulzes Einwänden sehr beeindruckt war, nimmt diese Problematik auf: Das transzendentale Subjekt darf nicht jenseits der Erfahrung sein, sonst könnten wir keine Aussagen darüber machen, es darf aber auch nicht einfach ein Objekt in der Erscheinung sein. Fichte sagt daher, wir seien uns seiner durchaus bewusst in einer Anschauung; aber diese Anschauung sei eben keine Anschauung von irgendeinem Objekt; es sei, wenn man so will, eine Anschauung von Nichts („Hier ist im Grunde ein Wissen von Nichts“ heißt es in den Tatsachen des Bewußtseins vom Wintersemester 1811/1812 (GA IV, 4, 139). Fichte versucht nun, seine Theorie der transzendentalen Leistungen des Bewusstseins im engen Anschluss an Kant zu entwickeln. So betont er (in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797)): „Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, daß mein System kein anderes sey als das Kantische“ (GA I, 4, 184). Allerdings kritisiert er die kantische Theorie auch – in Details, aber auch in einem grundsätzlichen programmatischen Punkt. Am deutlichsten drückt er diesen Punkt im zweiten Vortragszyklus der Wissenschaftslehre von 1804 aus (s. GA II , 8, 24–34). Fichte unterstellt Kant ein ähnliches Systemprojekt wie dasjenige, das er selber vertritt, und fragt: Gelingt es Kant, die Pluralität der Prinzipien auf ein Grundprinzip zurückzuführen? Fichtes Antwort ist: Ja und Nein. Kant hat bekanntlich drei Kritiken geschrieben: Die Kritik der reinen Vernunft (1781/87); die Kritik der praktischen Vernunft (1788); die Kritik der Urteilskraft (1790). In jeder dieser Kritiken beschäftigt sich Kant mit unterschiedlichen „Welten“ oder Gegenstandsbereichen: mit der sinnlich gegebenen Natur; mit der nicht sinnlich gegebenen Welt der Normen und Werte; mit den teleologisch verfassten Welten der Kunst und der Biologie. In allen diesen drei Bereichen steht ein Subjekt einem Objekt gegenüber. Und in jeder dieser drei Kritiken gelingt es Kant, die Differenz von Subjekt und Objekt auf eine vorgängige Einheit zurückzubeziehen und die Differenz von Subjekt und Objekt aus dieser Einheit zu generieren. Das ist zwar etwas unkantisch formuliert, aber man kann verstehen, was Fichte sagen will. Diese Einheit, von der Fichte spricht, ist nichts anderes als der Inbegriff der konstitutiven Möglichkeitsbedingungen der jeweiligen Objekterfahrung: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sinnlich gegebener Objekte; die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht-sinnlich gegebener Handlungsnormen; die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung biologischer und ästhetischer Objekte. Da diese Möglichkeitsbedingungen die Objekte der Erfahrungen konstituieren und damit auch den Gegensatz von Subjekt und Objekt allererst hervorbringen, ist es klar, dass sie selbst jenseits dieses Gegensatzes liegen und daher unter „Einheit“ verbucht werden können. Kurz: Diese „Einheit“ ist nichts

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III. Der Gegenstand der Wissenschaftslehre

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anderes als die Sphäre der transzendentalen Bedingungen, von denen Kant handelt. Diese Rückführung einer Vielheit auf eine Einheit finden wir also bei Kant. Aber Kant führt diese Operation dreimal durch. Und wir verstehen nicht, so Fichte, wie diese drei Teildisziplinen auf eine noch höhere Einheit zurückzuführen sind, aus der man sie ihrerseits generieren könnte. Darin sieht Fichte den Hauptmangel der kantischen Theorie. Da die Kritik der Urteilskraft bei Kant den ersten beiden Kritiken nachgeordnet ist, da in ihr untersucht wird, wie theoretische und praktische Vernunft miteinander interagieren können, können wir genauer sagen, es gehe Fichte darum, theoretische und praktische Vernunft aus etwas noch Grundlegenderem abzuleiten: aus einem Konzept der Vernunft überhaupt. Die Frage ist: Kann man spezifizieren, was Vernunft überhaupt ist, und zugleich zeigen, warum sich diese Vernunft überhaupt weiter ausdifferenzieren muss in theoretische und praktische Vernunft? Dabei könnte sich Fichte durchaus auf Hinweise bei Kant berufen. Der schreibt nämlich zu Beginn seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785): [I]ch [erfordere] zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß.4 (AA IV, 391)

In der Kritik der praktischen Vernunft heißt es ganz ähnlich: Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann […], so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt. (AA V, 121)

Allerdings bleibt es bei diesen Absichtserklärungen; Kant wird dieses Thema nicht weiter ausführen. Hier setzt Fichte an. Aber was ist nun dieses höchste Prinzip für Fichte? Fichtes Auskunft in der Jenaer Zeit (1794–1799) ist, daß das „absolute Ich“ diese Rolle spielt. Wir können aus dem oben gesagten zumindest schon einsehen, dass dieses „absolute Ich“ zu unterscheiden ist von dem „Ich“, das sich einem Gegenstand entgegensetzt. Aber was soll man sich unter dem „absoluten Ich“ nun genauer vorstellen? Fichte sagt in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in der er zum ersten Mal seine Theorie ausarbeitet, von ihm:

4

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen [jetzt: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1900  ff, Bd. IV, S. 391. Im Folgenden im Text zitiert unter der Sigle AA.

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168 Johann Gottlieb Fichte Das Ich sezt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. (GA I, 2, 259)

Das sind reichlich dunkle Worte, und in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre tut Fichte relativ wenig, um uns in der Frage, worum es sich handelt, zu erleuchten. Ich möchte daher zur Erläuterung des absoluten Ichs noch einmal einen kleinen Umweg machen. Erstens können wir feststellen, dass Fichte das absolute Ich mit der Vernunft gleichsetzt – was ja, nach der Art und Weise, wie das Fichte’sche Projekt in der Wissenschaftslehre 1804/II eingeführt wurde, auch zu erwarten war. So schreibt er in der Wissenschaftslehre nova methodo: In der gedrukten WissenschaftsLehre ist das reine Ich zu verstehen als Vernunft überhaupt, die von der persönlichen Ichheit ganz verschieden ist. (GA IV, 2, 240)

Aber welche Vernunft ist gemeint? Die theoretische? Die praktische? Keine von beiden? Auch hier drückt sich Fichte recht klar aus: Er meint die praktische Vernunft. In der Sittenlehre von 1798 lesen wir: So wird […] behauptet das Primat der Vernunft, in wiefern sie praktisch ist. Alles geht aus vom Handeln, und vom Handeln des Ich. (GA I, 5, 95)

Die Idee ist also, die praktische Vernunft der theoretischen Vernunft überzuordnen. Die praktische Vernunft ist die Vernunft überhaupt, die theoretische Vernunft muss dann als eine Modifikation der praktischen Vernunft erklärt werden. Von einem solchen Primat der praktischen Vernunft war übrigens ebenfalls schon bei Kant die Rede. In seiner Kritik der praktischen Vernunft finden wir die Überschrift „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“. Doch will Kant damit nicht (wie Fichte) sagen, dass die theoretische Vernunft nur eine Weise der praktischen Vernunft ist; ihm geht es hier lediglich darum, dass die „Interessen“ der praktischen Vernunft wichtiger sind als die der theoretischen Vernunft. Wenn daher die praktische Vernunft theoretische Annahmen machen muss, so ist es der theoretischen Vernunft erlaubt, diese Annahmen als wahr zu akzeptieren, vorausgesetzt, sie stehen mit den Erkenntnissen der theoretischen Vernunft nicht in Widerspruch. Kant denkt hier an die Annahme der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, die wir aus moralischen Gründen postulieren müssen, obwohl die theoretische Vernunft über sie nicht entscheiden kann. Fichte nimmt diesen Hinweis Kants dankbar auf und schreibt in der Wissenschaftslehre nova methodo:

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III. Der Gegenstand der Wissenschaftslehre 169 Kant wird nicht sagen, die Erfahrung sei absolut, er dringt auf den Primat der praktischen Vernunft, nur hat er das praktische nicht entscheidend zur Quelle des theoretischen gemacht. (GA IV, 3, 371)

Genau das aber will Fichte tun, und es ist kein Zufall, daß in der Wissenschaftslehre nova methodo der höchste Punkt des Systems nicht mehr „absolutes Ich“ genannt wird, sondern „reiner Wille“ – was ebenfalls ein kantischer Terminus für die praktische Vernunft ist: […] wenn man von etwas an sich reden wollte, so wäre es der reine Wille[,] der sich in der Empirie zeigt als Sittengesetz. Dieß bemerkt auch K[ant] in der K[ritik]. der r[einen]. Vernunft. (GA IV, 3, 446)

Und er führt weiter aus: In diesem Wollen nun in der lezten Rücksicht ist nun mein ganzes Sein und Wesen bestimmt für einmal auf alle Ewigkeit; ich bin nichts als ein so wollendes, und mein Sein ist nichts als ein so wollen. Dieß ist die ursprüngliche Realität des Ich. (GA IV, 3, 449)

Wir sind also berechtigt, das Sich-Setzen des Ichs im Licht der Struktur der kantischen praktischen Vernunft zu interpretieren. Kann man aus einer Untersuchung dessen, was bei Kant „praktische Vernunft“ heißt, aufschlüsseln, was dieses ominöse sich-setzende Ich ist? Sehen wir uns also kurz an, wie Kant den „reinen“ bzw. „autonomen“ Willen beschreibt. Er kann abgeleitet werden aus dem Begriff des freien Willens. Kant führt zu Beginn des dritten Abschnitts der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, 446) den Begriff der „Autonomie“ in drei Schritten ein, um den Begriff der Freiheit zu erklären. (1) In einem ersten Schritt betont Kant, dass der Wille nur dann frei ist, wenn er, wie er schreibt, „unabhängig von fremden [ihn] bestimmenden Ursachen“ (ebd.) ist. Damit legt Kant sich auf eine libertarische Position fest: Freiheit setzt Indeterminiertheit ­voraus. (2) In einem zweiten Schritt weist Kant aber auf ein Problem hin. Freiheit setzt nämlich zugleich Gesetzmäßigkeit voraus. Ein ganz und gar gesetzloser Wille wäre ein gänzlich unmotivierter Wille; und die Entscheidungen eines gänzlich unmotivierten Willens wären von bloßen Zufallsereignissen nicht unterscheidbar. Daher bedarf auch ein freier Wille eines Gesetzes. Kant weist damit auf ein (scheinbares) Paradox im Begriff der Freiheit hin: Eine freie Entscheidung muss undeterminiert und determiniert zugleich sein; frei von jeder Gesetzmäßigkeit und zugleich gesetzmäßig; unbedingt und bedingt zugleich.

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170 Johann Gottlieb Fichte (3) Die Lösung findet Kant im Begriff der Autonomie. Der Wille kann nur dann frei genannt werden, wenn er zwar einem Gesetz unterworfen ist, aber einem Gesetz, das er sich selbst gibt. Daher der Begriff „Auto-Nomie“: Selbst-Gesetzgebung. Das dürfen wir uns nicht so vorstellen, als gäbe es einen Moment, in dem ich mich frei entscheide, mir ein Gesetz zu geben und einen anderen Moment, in dem ich dem Gesetz unterworfen bin; vielmehr hat das Gesetz seinen Ursprung im Wesen des Willens. Und das ist nur möglich, wenn wir den vernünftigen Willen betrachten  – sein Wesen gibt ihm sein Gesetz: das Vernunftgesetz. Das ist gemeint mit dem Ausdruck „praktische Vernunft“: Die Vernunft selbst generiert eine praktische Norm. Der Freiheit wird dadurch kein Abbruch getan, weil das Gesetz dem Willen nicht von außen auferlegt wird, sondern aus seinem Inneren kommt. Wenn Fichte nun vom absoluten Ich sagt, es sei „Einheit von Setzendem und Gesetztem“ oder dergleichen, dann verbirgt sich dahinter nichts anderes als Kants Autonomie-Gedanke. Fichte geht allerdings in zwei Punkten über Kant hinaus. Erstens, indem er den Gedanken der Autonomie generalisiert. Für Kant betrifft die Autonomie nur die praktische Vernunft – also die Moral –, nicht die theoretische Vernunft – also nicht die Erkenntnis. Zwar betont Kant auch bei der theoretischen Vernunft das aktive Moment – die Welt der Erscheinungen wird durch die Formen der Anschauung und durch die Verstandeskategorien konstruiert –, aber er stellt keinen expliziten Zusammenhang zur Autonomie der praktischen Vernunft her. Für Fichte ist hingegen der Geist vollständig durch Autonomie charakterisiert; alle Eigenschaften des Geistes, theoretische wie praktische Vermögen, sind letztlich Fälle von Selbstgesetzgebung. Insbesondere der frühe Fichte betont dabei die aktive Seite der Gesetzgebung, bezeichnet sie als „Tätigkeit“ und kommt dann zu Aussagen wie: Das Wesen des Geistes sei „absolute Thätigkeit und nichts als Thätigkeit“ (GA I, 5, 105); es sei „Thathandlung“ (GA I, 2, 255). Daher kommt auch Fichtes Pathos der Freiheit. So schreibt er in einem Brief an Jens Baggesen von 1795: Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation [sc. die französische – die Französische Revolution liegt noch nicht lange zurück, AS] von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reis’t mein System ihn von den Feßeln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen, selbst in dem Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbstständiges Wesen hin (GA III, 2, 298).

Im Jahr 1800 wiederholt Fichte in einem Brief an Reinhold: Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit, und es kann in ihm diesem nicht widersprochen werden, indem gar kein anderes Ingrediens hineinkommt (GA III, 4, 182).

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Aber Fichte geht noch in einem zweiten Punkt über Kant hinaus. Wenn Fichte schreibt, das Ich setze sich selbst und sei nur vermöge dieses Setzens, dann radikalisiert er den kantischen Gedanken der Selbstgesetzgebung zum Gedanken der Selbst-Setzung. Das heißt: Indem die praktische Vernunft sich ein Gesetz gibt (nämlich das Vernunftgesetz), gibt es die praktische Vernunft allererst. Die praktische Vernunft konstituiert sich selbst durch ihre Selbstgesetzgebung. Aber gibt es denn diesen ominösen reinen Willen überhaupt? Fichte verwendet ein transzendentalpragmatisches Argument, das vom Urteilen zur Freiheit führt, und von der Freiheit gibt es, wie erläutert, einen Weg zum absoluten Ich. In der Zweiten Einleitung von 1797 schreibt Fichte: In jener Voraussetzung der durchgängigen Gültigkeit des Mechanismus der Ursachen und Wirkungen widersprechen sie [sc. die Naturalisten] zwar sich selbst unmittelbar; das, was sie sagen, und das was sie thun, steht im Widerspruche. Nämlich; indem sie den Mechanismus voraussetzen, erheben sie sich über ihn; ihr Denken desselben ist etwas außer ihm liegendes. Der Mechanismus kann sich selbst nicht fassen, eben darum, weil er Mechanismus ist. Sich selbst fassen, kann nur das freie Bewußtseyn. Hier fände sich sonach ein Mittel, sie auf der Stelle zu überführen. (GA I, 4, 261)

Fichte vertritt hier die These, dass Urteilen und Denken immer schon vom Urteilenden oder Denkenden als freie Handlungen in Anspruch genommen werden müssen, wenn er sie sich zuschreiben können soll. Daher sagt Fichte: Die Naturalisten, die die Freiheit leugnen, „widersprechen […] sich selbst“. Wer urteilt, muss sich immer schon als eine Instanz auffassen, die Ursache einer Wirkung (nämlich des Urteilsaktes) ist, ohne dass diese Ursache ihrerseits noch weiter durch irgendwelche anderen, vorhergehenden Ursachen determiniert wird.

IV. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: die ersten drei Grundsätze Im August 1790 lernt Fichte die Texte Kants kennen und eignet sich erstaunlich schnell die kantische Theorie an – so sehr, dass, wie bereits erwähnt, seine Erstlingsschrift, der Versuch einer Kritik aller Offenbarung, geschrieben im August 1791 und erschienen anonym 1792, zunächst für ein Werk Kants gehalten wurde. Zu dieser Zeit hat sich Fichte wohl im Wesentlichen als ein Anhänger von Kant und Reinhold gesehen. Das ändert sich freilich mit der Veröffentlichung der Reinhold-Kritik, die Gottlob Ernst Schulze 1792 unter dem Titel Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie. In einem Brief vom Dezember 1793 schreibt Fichte: „Haben Sie den Aenesidemus gelesen? Er hat mich eine geraume Zeit verwirrt, Reinhold bei mir gestürzt, Kant mir verdächtig gemacht und mein ganzes

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172 Johann Gottlieb Fichte System, von Grund aus umgestürzt. Unter freiem Himmel wohnen geht nicht! Es half also nichts; es musste wieder aufgebaut werden.“ (GA III, 2, 28) Durch die Aenesidemus-Schrift wird Fichte also klar, dass er ein neues, grundlegenderes Prinzip der Philosophie benötigt. Die zündende Idee kam ihm im November 1793. Von Fichtes Enkel wird dieses Ereignis folgendermaßen wiedergegeben: Und hier sei beiläufig einer Mittheilung erwähnt, welche er [sc. Johann Gottlieb Fichte] später in Freundeskreisen machte, daß er damals, über das höchste Princip der Philosophie lange und anhaltend meditierend, wie mit einer plötzlich ihn ergreifenden Evidenz, während er am warmen Winterofen stand, von dem Gedanken ergriffen worden sei, nur das Ich, der Begriff der reinen Subject-Objectivität, könne das höchste Princip sein.5

Bereits Ende Dezember 1793 erhält Fichte seinen Ruf nach Jena; doch Fichte ist noch ganz am Beginn seiner Arbeit am neuen System – hatte er doch das neue Fundament gerade einen Monat früher entdeckt. Fichte bittet daher um einen Aufschub, um die neue Stelle erst Ostern 1795 antreten zu müssen, damit er vorher seine Theorie ausarbeiten könne. Das wird jedoch abgelehnt. Fichte schreibt daraufhin, sozusagen zum Einstand, seinen Text zur Methode: Über den Begriff der Wissenschaftslehre, einen Text, dessen Manuskript im April 1794 abgeschlossen ist. Ab Mai 1794 beginnt Fichte seine Vorlesungstätigkeit in Jena, und hier entwickelt er seine Wissenschaftslehre direkt vor studentischem Publikum. Er schreibt, während er die Vorlesung hält, parallel den Text der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, lässt die Bögen, wenn sie fertig sind, in kleiner Auflage drucken und verteilt sie – sozusagen als Handouts – an seine Hörer. Die Bögen werden schließlich zusammengefasst und als Buch veröffentlicht: im Herbst 1794 die §§ 1–4, im Sommer 1795 die §§ 5–11. Das heißt: Der Text, den wir lesen, ist das Dokument eines work in progress. Es ist nicht sicher, dass Fichte am Anfang des Textes schon genau wusste, was er in den späteren Teilen schreiben würde; und manche meinen auch, dass er seine Position im Verlauf des Textes geändert hat. Fichte hat diese Schrift als vorläufige Vor-Veröffentlichung einer späteren, definitiven Ausarbeitung angesehen – die freilich nie das Licht der Welt erblickt hat. Sehen wir uns den Text etwas genauer an. Fichte beginnt mit einigen methodischen Vorbemerkungen. Zunächst geht er auf die Frage ein, was gesucht wird: Wir haben den absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsaz alles menschlichen Wissen aufzusuchen. Beweisen oder bestimmten läßt er sich nicht, wenn er absoluterster Grundsaz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken; die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen 5

Erich Fuchs (Hg.), Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, Bd. 1: 1762–1798, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1978, S. 63.

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kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. (GA I, 2, 255)

Der erste Grundsatz ist nicht beweisbar; er muss also evident sein. Außerdem taucht er nicht unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseins auf. Wir finden ihn also offenbar nicht durch introspektive Psychologie. Dann geht es um die Frage, wie bei der Suche nach diesem ersten Prinzip vorgegangen werden soll. Fichte nennt zwei Methoden, die sich offenbar wechselseitig ergänzen. Die erste Methode bezeichnet Fichte als Abstraktion; was impliziert, dass uns das erste Prinzip epistemisch immer schon gegeben ist, wenn auch vermischt mit anderen Faktoren. Er schreibt: Bei Darstellung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, daß man sich etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat — dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt — als daß man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraktion von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. (GA I, 2, 255)

Wenn wir ein Bewusstsein des ersten Prinzips dadurch erhalten, dass wir von allem anderen abstrahieren, dann muss das, was nach der Abstraktion übrig bleibt, bereits dagewesen sein. Wir sind uns des ersten Prinzips in verkappter Weise also immer schon „bewusst“. Zwar gehört das Bewusstsein des ersten Prinzips nicht zu den „empirischen Bestimmungen“ unseres Bewusstseins – aber irgendeine Form von Bewusstsein davon haben wir offenbar sehr wohl. In anderen Texten – nicht hier – wird Fichte von „intellektueller Anschauung“ sprechen. Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt der Methode. Fichte schreibt: Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht — kann Thatsache des Bewußt­seyns werden, was an sich keine ist; aber es wird durch sie erkannt, daß man jene Thathandlung, als Grundlage alles Bewustseyns, nothwendig denken müsse. (GA I, 2, 255)

Der Verweis auf das notwendige Denken ist hier wohl so zu lesen, dass die Erkenntnis des ersten Prinzips durchaus Ergebnis eines Schlussverfahrens ist. Hier könnte man sich fragen, ob das zu der vorigen Aussage passt, das erste Prinzip sei immer schon epistemisch irgendwie gegeben, etwa durch intellektuelle Anschauung. Aber hier besteht kein Widerspruch. Denn wir müssen durch Argumentation erst herausfinden, worauf wir zu achten haben, und wovon wir abstrahieren müssen. Die Abstraktion kommt also nicht ohne Schließen aus. Wie kommen wir nun zum ersten Prinzip? Als Ausgangspunkt wählt Fichte einen Satz, der von niemandem bestritten wird, nämlich den Identitätssatz „A =A“, denn „[d]en Satz A ist A […] giebt Ieder zu; und

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174 Johann Gottlieb Fichte zwar ohne sich im geringsten darüber zu bedenken: man anerkennt ihn für völlig gewiß und ausgemacht“ (GA I, 2, 256). Fichtes Argument geht nun so: „A =A“ ist eine notwendige Wahrheit. Wenn wir auf diese notwendige Wahrheit reflektieren, dann sehen wir zunächst, dass sie die Identität des Ichs („Ich = Ich“), und dann, dass sie die Existenz des Ichs impliziert. Fichte schreibt: [E]s wird gesezt, daß im Ich, – es sey nun insbesondre setzend, oder urteilend, oder was es auch sey – etwas sei, das sich stets gleich, stets Ein und ebendasselbe sey; und das schlechthin gesetzte X. [d. h. der notwendige Zusammenhang des „A = A“, AS] läßt sich auch so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich. (GA I, 2, 257)

Wie Fichte den Schluss von „A = A“ auf „Ich = Ich“ vollzieht, ist alles andere als klar; aber wir können versuchen, ihn mit Hilfe von kantischen Prämissen nachzuvollziehen. Der Satz „A = A“ sei also notwendig wahr. Nach Kant ist alles, was notwendig wahr ist, auch a priori einsichtig, d. h. wir sehen seine Wahrheit ein, ohne auf das Zeugnis der Sinne rekurrieren zu müssen. Also ist „A = A“ a priori einsichtig. Nach Kant gehört aber alles, was a priori einsichtig ist, dem Subjekt zu, d. h., es ist Teil der Wesensverfassung des Ichs bzw., kantisch formuliert, der Vernunft. Diesem Gedankengang schließt sich Fichte an. Der Satz „A = A“ ist „dem Ich durch das Ich selbst gegeben“ (GA I, 2, 257), aber nicht willkürlich, etwa weil es dem Ich so beliebt, sondern notwendig, weil es zum Wesen des Ichs gehört, diesen Satz für wahr zu halten. Daher gibt es „im Ich […] etwas […], das sich stets gleich, stets Ein und ebendasselbe sey“ (GA I, 2, 257), nämlich das Wesen des Ichs, das ihm „A = A“ als zu akzeptierenden Satz vorschreibt. Aber wie kommen wir von hier zu der Aussage „Ich = Ich“? Es wird sich später zeigen, dass in einer gewissen Hinsicht, die wir näher zu betrachten haben, das Ich nicht vollständig sein Wesen realisiert, sondern danach strebt, es zu realisieren. Das lässt sich so ausdrücken, dass das Ich nicht mit sich identisch ist, vielmehr gibt es ein „Streben des Ich, schlechthin identisch zu seyn“ (GA I, 2, 400). Im Umkehrschluss heißt das: Das Ich ist mit sich identisch in dem Maße, in dem seine Handlungen oder Zustände sein Wesen realisieren. Und so können wir auch die vorliegende Stelle interpretieren: Sofern das Ich den Satz „A = A“ für wahr hält, realisiert es sein Wesen, koinzidiert es mit sich, ist es mit sich identisch. Nun interpretiert Fichte den Satz „A = A“ so, dass der Satz wahr ist, egal ob A existiert. Der Satz „Pegasus ist Pegasus“ ist wahr, obwohl Pegasus nicht existiert. Das heißt: Der Satz „A  = A“ hat keine Existenzimplikation hinsichtlich A. Aber wir können den Satz „A = A“ nicht für wahr halten, wenn wir nicht existierten. Der Satz „Ich bin“ ist also notwendig wahr, sofern wir „A = A“ denken. Dementsprechend unterscheidet sich die metaphysische Aussage „Ich = Ich“ vom logischen Satz „A = A“ dadurch, dass sie eine Existenzimplikation hinsichtlich des Ichs hat. Aber ist das Ich, das wir jetzt gefunden haben, das erste Prinzip? Nein, denn die Gewissheit seiner Existenz ist nur hypothetisch:

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Dieser Satz: Ich bin, ist bis jetzt nur auf eine Thatsache gegründet, und hat keine andre Gültigkeit, als die einer Thatsache. Soll der Saz A = A […] gewiß seyn, so muß auch der Saz: Ich bin, gewiß seyn. Nun ist es Thatsache des empirischen Bewusst­ seyns, daß wir genöthigt sind, X für schlechthin gewiß zu halten; mithin auch den Satz: Ich bin. (GA I, 2, 258)

Der Satz „Ich bin“ ist also zwar gewiss, aber nur hypothetisch gewiss – gewiss unter einer Voraussetzung, nämlich der Voraussetzung, dass „A = A“ gewiss ist. Deswegen setzt Fichte noch einmal neu an. Er geht nun nicht vom Satz „A = A“ aus, sondern ganz allgemein vom Vollzug unserer Urteilspraxis. Er geht nun vom Urteilen zum Ich. Fichtes Argument lautet nun folgendermaßen: a) Durch den Saz A = A. wird geurtheilt. Alles Urtheilen aber ist laut des empirischen Bewußtseyns ein Handeln des menschlichen Geistes; denn es hat alle Bedingungen der Handlung im empirischen Selbstbewusstseyn, welche zum Behuf der Reflexion, als bekannt und ausgemacht, vorausgesezt werden müssen. b) Diesem Handeln nun liegt etwas auf nichts höheres gegründetes, nemlich X = Ich bin, zum Grunde. c) Demnach ist das schlechthin gesezte, und auf sich selbst gegründete – Grund eines gewissen (durch die ganze Wissenschaftslehre wird sich ergeben, alles) Handelns des menschlichen Geistes, mithin sein reiner Charakter; der reine Charakter der Thätigkeit an sich: abgesehen von den besondern empirischen Bedingung derselben. Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Tätigkeit desselben. Das Ich sezt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. (GA I, 2, 258 f.)

Der Ausgangspunkt lautet also: „Durch den Saz A = A. wird geurtheilt“. Das Urteilen ist – anders als der Satz A = A – auch für den Skeptiker nicht bezweifelbar, da es für ihn unhintergehbar ist. Denn auch wenn er zweifelt, ob er urteilt, fällt er doch das Urteil, dass dies zweifelhaft ist. Aus dem Urteilen ist also – zumindest argumentativ – kein Entkommen. Wenn wir das Argument nun in einen kantischen Kontext zurückversetzen, könnte man es wie folgt rekonstruieren: 1. Ich urteile. 2. Ich kann nicht urteilen, wenn ich nicht frei bin. 3. Ich kann – wofür bereits Kant argumentiert hat – nicht frei sein, ohne ein Vernunftwesen zu sein, das sich selbst sein Gesetz gibt; ein Vernunftwesen, das bedingend und bedingt zugleich ist.

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176 Johann Gottlieb Fichte 4. Statt „Vernunftwesen“ sagt Fichte „das Ich“. Und damit kommen wir zu der Formel: „Das Ich sezt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns.“ 5. Nichts, dessen ich mir nicht unmittelbar bewusst wäre, könnte ich mein Ich nennen. Also bin ich mir des Ichs, das ist, indem es sich setzt, und das sich setzt, indem es ist, unmittelbar bewusst: „Das Ich ist […] für das Ich“ (GA I, 2, 260).

Fichte meint nun, man könne auch den Identitätssatz der Logik („A = A“) aus der eben entwickelten Struktur des absoluten Ichs ableiten: Wir sind von dem Satze A = A ausgegangen; nicht, als ob der Satz: Ich bin, sich aus ihm erweisen ließe, sondern weil wir von irgend einem, im empirischen Bewußtseyn gegebenen gewissen, ausgehen musten. Aber selbst in unsrer Erörterung hat sich ergeben, daß nicht der Satz: A = A den Satz Ich bin, sondern daß vielmehr der letztere den erstern begründe. Wird im Satze Ich bin von dem bestimmten Gehalte, dem Ich, abstrahiert, und die bloße Form, welche mit jenem Gehalte gegeben ist, die Form der Folgerung vom Gesetztseyn auf das Seyn, übrig gelassen; wie es zum Behuf der Logik […] geschehen muß; so erhält man als Grundsatz der Logik den Saz A = A, der nur durch die Wissenschaftslehre erwiesen und bestimmt werden kann. (GA I, 2, 261)

Wir finden im Fall des Ichs eine Identität vor; die Identität von Sein und Setzen. Diese Identität ist aus transzendentalen Gründen notwendig – sie ist nicht das Ergebnis der Anwendung des Identitätssatzes. Vielmehr soll es sich um den paradigmatischen Fall handeln, unter Rekurs auf welchen der Identitätssatz allererst seinen Sinn erhält und eingeführt werden kann. Man könnte diese Art der Einführung des Begriffs der Identität vergleichen mit der Art und Weise, wie Begriffe für Sinnesempfindungen eingeführt werden. Es gibt Begriffe, die durch Definition eingeführt werden. Was ist ein Junggeselle? Wenn ich das nicht weiß, kann man es mir erklären. Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann. Es gibt andere Begriffe, die so nicht eingeführt werden können, z. B. Farbbegriffe. Wenn ich nicht weiß, was „rot“ bedeutet, kann man es mir nicht durch eine Definition vermitteln. Man deutet vielmehr auf ein Beispiel, auf einen paradigmatischen Fall. Man deutet auf eine Tomate und sagt: „Das da ist rot“. Auf ganz ähnliche Weise gilt nach Fichte auch für den Begriff der Identität, dass er seine Bedeutung dadurch erhält, dass wir unmittelbar bekannt sind mit einem paradigmatischen Gegenstand  – „Gegenstand“ im allerweitesten Sinn genommen  –, nämlich mit uns selbst. Daher können wir auch sicher sein, dass es zumindest etwas gibt, das unter diesen Begriff fällt und für das der Identitätssatz gilt – nämlich uns selbst. Wenden wir uns nun dem zweiten Grundsatz zu. Das Ideal des Systems ist, wie erwähnt, dass jedes Prinzip mit Notwendigkeit aus den anderen hervorgeht und sich ableiten lässt (als ob das System ein organisches Ganzes wäre, bei dem kein Teil fehlen

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darf). Es wurde aber bereits erwähnt, dass Fichtes Methode gemischt ist; dass es immer wieder auch einen Rekurs auf Erfahrung gibt, um neue Prinzipien in das Gefüge der Prinzipien einzuführen. Damit dringt auch Kontingenz in das Prinzipiengefüge ein. Genau das geschieht in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre bereits beim zweiten Schritt. Fichte betont, dass er sich nicht aus dem ersten Schritt, der Einführung des absoluten Ichs, ableiten lässt. („Hier ist’s denn schon mit dem Ableiten aus“, spöttelt Hegel.)6 Es wird zu zeigen sein, dass Fichte an späterer Stelle doch noch eine partielle Ableitung versucht; aber zunächst ist davon noch nicht die Rede. Fichte fängt wieder mit einem Satz aus der Logik an, diesmal nicht „A  = A“, sondern „A ist nicht nicht-A“. Nun könnte man vielleicht einwenden, dass dieser Satz logisch äquivalent ist zu „A = A“, und das gibt Fichte auch zu. Dennoch unterscheiden sie sich in einem entscheidenden Punkt: Im zweiten Satz wird eine neue logische Konstante eingeführt. Im ersten Satz taucht nur das Identitätszeichen auf; nun auch das Negationszeichen. Fichtes Idee der Logikbegründung besteht, wie wir bereits gesehen haben, darin, dass die Bedeutung der logischen Konstanten ein Fundament hat erstens in Handlungen des Ichs (das Ich gibt sich ein Gesetz, z. B. das Identitätsgesetz) und zweitens in Eigenschaften des Ichs, die das Ich zu einem paradigmatischen Fall für die Anwendung der logischen Konstante machen. Wenn der Satz „A ist nicht nicht-A“ gewiss ist, braucht er ebenfalls ein Fundament, das diese Gewissheit erklärt. Und wenn wir die Strategie von vorhin nun auch hier anwenden, dann müssen wir postulieren, dass erstens das Ich sich ein Gesetz des Negierens (Entgegensetzens) gibt und zweitens in der Verfassung des Ichs selbst eine Negation (oder Entgegensetzung) anzutreffen ist. Eine Negation ist eine Operation, die eines Operandums bedarf, in Bezug auf das sie angewendet wird. Das einzige Operandum, das bislang zur Verfügung steht, ist das absolute Ich. Wird die Negation auf es angewandt, erhalten wir das Nicht-Ich. Es resultiert der zweite Grundsatz: „[D]em Ich [wird] schlechthin entgegengesezt ein Nicht-Ich“ (GA I, 2, 266). Man sieht leicht, inwiefern der zweite Grundsatz bedingt, und inwiefern er nicht bedingt ist. Dass es diese Operation der Negation oder des Entgegensetzens gibt, lässt sich nicht aus dem ersten Grundsatz ableiten. Diese Operation ist gegenüber dem Sich-Setzen des Ichs ein Novum, und in diesem Sinn etwas Un-Bedingtes. Aber nur die Operation selbst, die „Form“, wie Fichte sich ausdrückt, ist unbedingt; nicht das Operandum, die „Materie“. Diese wird von der Operation nicht erschaffen, sondern vorausgesetzt – es ist, wie gesagt, das absolute Ich. Auf dieses wird die Negation angewandt, sodass das Nicht-Ich entsteht. Ohne etwas, auf das die Negation angewandt werden könnte, würde es sie nicht geben. Der erste Grundsatz ist also eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den zweiten Grundsatz. Nun ist diese Art der Einführung der Entgegensetzung recht spekulativ. Aber es findet sich, dass dieses Entgegensetzen einen guten transzendentalphilosophischen Sinn 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M., 1986, S. 396 (= Werke, Bd. 20).

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178 Johann Gottlieb Fichte hat. Das Entgegensetzen ist die Grundlage jeder Objektbeziehung des Bewusstseins, die Eigenschaft, Nicht-Ich zu sein, ist die allgemeine Eigenschaft der Objektivität, die jedem Objekt, von dem wir Bewusstsein haben, notwendig zukommen muss. Fichte schreibt: Es ist die gewöhnliche Meinung, daß der Begriff des Nicht-Ich ein diskursiver, durch Abstraktion von allen Vorgestellten entstandner Begriff sey. Aber die Seichtigkeit dieser Erklärung läßt sich leicht darthun. So wie ich irgend etwas vorstellen soll, muß ich es dem Vorstellenden entgegensetzen. Nun kann und muß allerdings in dem Objekte der Vorstellung, irgend ein X. [irgendein Erfahrungsgehalt, AS] liegen, wodurch es sich als ein Vorzustellendes, nicht aber als das Vorstellende entdekt; aber daß alles, worin dieses X. liege, nicht das Vorstellende, sondern ein Vorzustellendes sey, kann ich durch keinen Gegenstand lernen; vielmehr giebt es nur unter Voraussetzung, jenes Gesetzes erst überhaupt einen Gegenstand). (GA I, 2, 267)

Nun glaubt Fichte allerdings, dass man sich mit dem zweiten Grundsatz einen Widerspruch einfängt, und dieser Widerspruch macht einen dritten Grundsatz notwendig. Wenn man sich die Art und Weise ansieht, wie Fichte den Widerspruch einführt, dann sieht man sich gezwungen, eine wichtige Zusatzprämisse einzuführen, von der bislang noch nicht die Rede war: Es ist nicht nur so, dass die Einheit von Bestimmen und Bestimmtsein, von Setzen und Gesetztsein, die jedem Urteilen vorausgesetzt werden muss, mit mir identisch ist, man muss noch Folgendes hinzufügen: (1) Ich bin nicht nur akzidentiellerweise mit diesem Sich-Setzen identisch, sondern wesentlich. (2) Das Sich-Setzen ist nicht nur Teil meines Wesens, sondern nichts anderes ist mein Wesen – es definiert mein Wesen vollständig. (3) Ich bin überhaupt nichts anderes als ein Sich-Setzen oder eine besondere Weise des Sich-Setzens.

Alles, was ich sonst noch sein mag, außer dem Sich-Setzen, ist nicht nur ein Akzidens, sondern eine Weiterbestimmung des Sich-Setzens. Dieser Umstand lässt sich am besten im Vergleich mit Spinozas Attributenlehre verstehen. Ein Attribut ist nach Spinoza das, was das Wesen der Substanz ausmacht. Alle weiteren Bestimmungen sind Modi des Attributs. Modi sind so und so bestimmte Einschränkungen des Attributs. Zum Beispiel ist die Ausdehnung ein Attribut der spinozanischen Substanz. Die Einzeldinge sind Modi dieses Attributs, d. h. sie sind Teile oder „Portionen“ von Ausdehnung. Wenn wir diese Terminologie auf Fichtes Theorie anwenden – Fichte selber macht das nicht, aber mir scheint es nützlich, es zu versuchen –, dann wäre das Sich-Setzen, die Tathandlung, das Attribut des Ichs. Und alles, was dem Ich sonst noch zukommt, ist ein Modus dieses Attributs – das heißt: Es muss beschreibbar sein als eine „Portion“ Sich-Setzen, eine „Portion“ Tathandlung. Damit ist von vornherein klar, dass sich für Fichte aus dem

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IV. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre

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ersten Grundsatz die Notwendigkeit ergeben wird, alle Bewusstseinszustände auf die ein oder andere Weise als Tätigkeiten zu beschreiben. In seiner Darstellung des dritten Grundsatzes betont Fichte nun erstens, dass alles, was gesetzt wird, „im Ich“ gesetzt wird, und zweitens, dass alles, was „im Ich“ gesetzt wird, selbst den Charakter des Ichs haben muss – also gleichsam ein Modus des Ichs ist. Und unter diesen Zusatzprämissen lässt sich nun der Widerspruch generieren. „Im Ich“ wird dem Ich ein Nicht-Ich entgegengesetzt; aber alles, was im Ich gesetzt wird, muss mit dem Ich qualitativ identisch sein – es muss Tathandlung sein. Das Nicht-Ich ist mit dem Ich aber nicht qualitativ identisch, sondern ihm entgegengesetzt. Das ist ein Widerspruch. Dieser Widerspruch muss aufgehoben werden und das geschieht durch eine dritte Handlung des Ichs: Neben dem Sich-Setzen und dem Entgegensetzen wird nun noch ein Teilbar-Setzen eingeführt. Durch diese Handlung „wird demnach schlechthin das Ich sowohl als das Nicht-Ich als teilbar gesezt“ (GA I, 2, 270). Das Ich muss in seiner Tätigkeit, seinem Sich-Setzen, eingeschränkt werden, um sozusagen Platz zu schaffen für das Nicht-Ich. Beide teilen sich die Sphäre der Realität (im Ich), wobei die Lokalisierung der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich quantitativ, und das heißt: verschiebbar, ist. Je mehr die Realität des Ichs eingeschränkt wird, desto mehr wächst die Realität des Nicht-Ich an, und umgekehrt. Doch damit ist das Problem nur nominell gelöst – bestand es doch darin, dass im Ich nur das Ich gesetzt werden kann, dass es dort überhaupt keinen Platz für ein Nicht-Ich gibt. Es ist daher völlig unklar, wie das Ich eingeschränkt werden kann – wie Passivität in das Ich hineinkommen kann, wenn Aktivität, Tätigkeit, Tathandlung sein Wesensattribut ist. Fichte ist sich dieses Problems sehr wohl bewusst. Er betont, dass die Lösung des Widerspruchs immer noch eine „Aufgabe“ ist. Wir haben bislang eine erste vage Idee, wie diese Auflösung geschehen müsste  – Einführung der Teilbarkeit des Ichs –, aber wir haben noch keine Ahnung, wie das genau funktionieren soll. Und in der Tat wird diese Frage den gesamten Text der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre beschäftigen; der Versuch, zu erklären, wie diese Begrenzung möglich ist, ist der Motor der gesamten weiteren Theorieentwicklung. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Einschränkbarkeit des Ichs nicht bedeutet, dass das absolute Ich, wenn es denn eingeschränkt ist, nicht mehr absolut wäre. Der dritte Grundsatz dementiert nicht den ersten Grundsatz. Vielmehr ist hier eine Unterscheidung zwischen zwei Hinsichten zu treffen, die schon in Kants Moralphilosophie zu finden ist. Wir sind nach Kant autonome Vernunftwesen; aber wir sind es nicht in jeder Hinsicht. Wir sind autonom, indem die Vernunft in uns sich selbst das Vernunftgesetz gibt. Und das tut sie immer schon – selbst wenn wir nicht moralisch handeln. In diesem Fall ­äußert sich unsere Autonomie in der Stimme des Gewissens, das wir so nicht hätten handeln sollen. Wir sind aber nicht autonom, insofern wir endliche Vernunftwesen sind, die ihren eigensüchtigen Neigungen unterworfen sind. Daher ist uns die vollständige Autonomie aufgegeben: Wir müssen versuchen, unsere eigensüchtigen

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180 Johann Gottlieb Fichte Neigungen unter die Kontrolle der praktischen Vernunft zu bekommen. Diesen Gegensatz der Hinsichten bildet Fichte ab, wenn er einerseits vom Ich spricht und andererseits von dem Ich, das „im Ich“ gesetzt wird: das umgreifende und das umgriffene Ich. Das umgreifende Ich wird bei Fichte nicht eingeschränkt. Aber das umgriffene Ich in ihm muss eingeschränkt werden, damit es Platz machen kann für die Entgegensetzung eines Nicht-Ichs. Es stellen sich also am Ende des Kapitels über den dritten Grundsatz eigentlich zwei Probleme. Erstens: Wie ist es möglich, dass es im Ich, das als reine Tätigkeit definiert wurde, zu einer Einschränkung kommen und es sich dadurch mit Passivität affizieren kann. Zweitens: Wie verhält sich das eingeschränkte Ich zum absoluten Ich? Fichte beschäftigt sich zunächst mit dem ersten Problem: Dem Problem, eine Synthese zwischen Ich und Nicht-Ich zu finden, sozusagen eine Indifferenzzone, die erklären könnte, wie etwas im Ich sowohl Ich als auch Nicht-Ich sein kann. Fichte geht so vor, dass er Vorschläge für solche Synthesen macht, woraufhin dann immer wieder gezeigt wird, dass diese Synthesen unzureichend sind, indem durch eine antithetische Reflexion wieder die unversöhnten Gegensätze herausgearbeitet werden. Betrachten wir dieses synthetisch-antithetische Verfahren genauer. Gegeben sind zwei Elemente, die (zumindest prima facie) unvereinbar sind, aber zusammengedacht werden müssen. Der Theoretiker versucht das Problem zu lösen, indem er die Beschreibung eines der Elemente oder beider Elemente so reformuliert, dass der Widerspruch verschwindet; wobei die reformulierte Version jedoch die Eigenschaften, um derentwillen das Element eingeführt wurde, bewahren muss. (Das ist der synthetische Schritt.) Daraufhin wird gezeigt, daß der Widerspruch auch in der Reformulierung in leicht veränderter Form wieder auftaucht und neue Synthesen verlangt. (Das ist der antithetische Schritt.) Der Grundwiderspruch, mit dem wir es in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre zu tun haben, ist der zwischen dem Sich-Setzen des Ichs und dem Setzen des Nicht-Ichs. Dieser Widerspruch wird im Verlauf dieses methodischen Ganges mehr und mehr auf einen unlösbaren Kernwiderspruch zugespitzt, der nun aber nicht mehr als Mangel der Theorie, sondern als Realwiderspruch aufgefasst wird. Wenn wir die synthetisch-antithetische Methode in einem losen Sinn als Dialektik bezeichnen, dann können wir sagen, dass hier die Dialektik des Denkens in eine Dialektik des Seins mündet.

V. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: Streben und Einbildungskraft Bevor Fichte mit den ersten Erklärungsversuchen beginnt, wie die Einheit von Ich und Nicht-Ich im Ich zu denken ist, präzisiert er das Problem, das zu lösen ist („A-Synthese“). Im dritten Grundsatz war nur davon die Rede, dass das Ich sich als „teilbar“ und damit als „begrenzbar“ setzt. Aber das ist nicht hinreichend. Denn das Ich hat eine

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V. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 181 jeweils ganz bestimmte Grenze. Das Ich ist also nicht nur teilbar, sondern tatsächlich geteilt: „das Ich sezt sich selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich“ (GA I, 2, 285). Die Frage ist, wie das Ich beschränkt sein kann, wenn es doch reine Tätigkeit ist. Beim ersten Lösungsversuch („B-Synthese“) wird versucht zu erläutern, inwiefern das Ich, auch wenn es beschränkt ist, keineswegs völlig passiv ist. Es ist nämlich das Ich, das sich seine Beschränktheit erklärt, indem es dasjenige Quantum an Tätigkeit, um das es (im Vergleich zur reinen Tätigkeit) vermindert ist, auf ein Nicht-Ich projiziert, das heißt, dem Nicht-Ich zuschreibt als die ihm eigene „Kraft“, sich im Ich zu manifestieren. Und da im ersten Grundsatz „Tätigkeit“ und „Realität“ gleichgesetzt wurden, ist das, was da übertragen wird, „Realität“– eine der Qualitätskategorien. Es wird also ein Quantum Qualität übertragen. Fichte schreibt z. B.: „Theilet z. B. die Totalität der Realität in 10 gleiche Theile, sezt deren 5. in das Ich; so sind notwendig 5 Theile der Negation in das Ich gesezt.“ (GA I, 2, 289) Die Idee, dass die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich verschiebbar ist, ist übrigens ganz und gar unkantisch. Bei Kant stehen Subjekt und Objekt einander sozusagen starr gegenüber. Man findet die Idee der verschiebbaren Grenze allerdings schon bei Maimon. Dieser schreibt in seinem Versuch über die Transzendentalphilosophie (1790): Wir haben also nicht nur eine Methode, wie wir uns zu der Idee Ich immer […] annähern können, sondern auch eine praktische Regel, wodurch wir […] immer als solche [als Idee „Ich“] mehr Realität erlangen. Denn, wie ich schon bemerkt habe, je allgemeiner die Modifikationen unseres Ich werden, desto mehr werden wir […] Subjekt unserer Vorstellungen.7

Was aber bei Fichte an dieser Stelle hinzukommt, ist die Idee, dass es in jedem Fall das Ich ist, das diese quantifizierte Realität dem Nicht-Ich zuschreibt. Es ist nicht verantwortlich für die Einschränkung selbst, mit der das Ich konfrontiert ist, aber das Ich ist es, das die quantifizierte Realitätskategorie auf sie anwendet und Realität auf sie überträgt; sonst erschiene sie dem Ich gar nicht als etwas, das Realität für das Ich hätte. Aber wenn wir auf die Ausgangsfrage zurückblicken, dann sehen wir sofort, dass dieser Versuch, die Beschränktheit des Ichs zu erklären, nicht hinreichend ist. Es bleibt ja immer noch die Frage, warum im Ich überhaupt eine Beschränktheit ist, die es sich zu erklären hat. Es wurde gezeigt, wie das Ich auf die Beschränktheit reagiert, es wurde noch nicht gezeigt, wie die Beschränktheit ursprünglich zustande kommt. Daher schreibt Fichte: „noch immer bleibt die Frage unbeantwortet, wie das Ich Negation in sich, oder Realität in das Nicht-Ich setzen könne.“ (GA I, 2, 289) Oder noch deutlicher etwas später: „Aber wie kommen wir denn dazu, Theile von der Realität des Ich abzuziehen?“ (GA I, 2, 291) 7

Salomon Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie, hg. v. Florian Ehrensperger, Hamburg, 2004, S. 94.

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182 Johann Gottlieb Fichte Da hier nur zwei Größen mit im Spiel sind, das Ich und das Nicht-Ich, bieten sich zwei konkurrierende Erklärungsmodelle an: Entweder ist das Nicht-Ich für die Beschränktheit im Ich verantwortlich, oder das Ich selbst ist dafür verantwortlich. Beide Modelle setzen zur Erklärung der Beschränktheit eine „Synthese“, einen Zusammenhang, an: im ersten Fall eine Synthese von Ich und Nicht-Ich, im zweiten Fall eine Synthese von (unbeschränktem) Ich und (beschränktem) Ich. Fichte bezeichnet sie als „Synthese der Kausalität“ und „Synthese der Substantialität“, oder auch „C-Synthese“ und „D-Synthese“. Die Position, die sich auf die Synthese der Kausalität beruft, besagt, dass das NichtIch ein kontingentes Faktum ist, das von außen als eine vom Ich unableitbare, „absolute Negation“ (GA I, 2, 293 [C-Auflage]) in das Ich einbricht und seine Tätigkeit behindert. Das Ich, das sich diese Endlichkeit erklärt, indem es dem Nicht-Ich Realität zuschreibt, expliziert nur etwas, was realiter mit ihm geschieht. Die C-Synthese ist also realistisch verfasst. Die Position, die sich auf die Synthese der Substantialität beruft, geht davon aus, dass der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich fundiert ist in einer Selbsteinschränkung des Ichs. Fichte bezeichnet das unbegrenzte Ich als „Substanz“, als selbstständige (und insofern „substantielle“) Tätigkeit, die fähig ist, jeden Inhalt als ihr „Akzidens“ frei hervorzubringen. In jedem einzelnen Akzidens aber beschränkt die Substanz ihre Tätigkeit und „verendlicht“ sich dadurch. Die D-Synthese ist also idealistisch verfasst. Beide Positionen sind jedoch – isoliert betrachtet – unbefriedigend. Das Problem mit der Synthese der Kausalität kann man in zweierlei Hinsicht betrachten. Zum einen in Bezug auf das absolute Ich. Das absolute Ich ist wesentlich reines Sich-Setzen. Für das Ich kann daher nur sein, was es selbst setzt; eine Begrenzung von außen ist für das absolute Ich unmöglich. Es besitzt keinerlei Vermögen der Rezeptivität. Es kann für es kein Außen geben. Würde es daher von außen begrenzt, wäre es kein absolutes Ich mehr. Zum anderen kann man das Problem auch in Bezug auf das affizierende Nicht-Ich formulieren. Das Nicht-Ich erhält seinen Realitätsgrad ja nur durch Übertragung aus dem Ich, und zwar nach Maßgabe der vorausgehenden Einschränkung des Ichs. Das Nicht-Ich vor der Übertragung, das diese Einschränkung allererst hervorbringt, hätte also den Realitätsgrad Null. Aber wie könnte etwas, das keine Realität hat, etwas bewirken? Die Wirksamkeit des Nicht-Ichs wäre also völlig unbegreiflich. Oder noch einmal anders formuliert: Es wäre ein Nicht-Ich, das dem realen Nicht-Ich noch irgendwie vorausliegt. Aber ist das nicht ein widersprüchlicher Gedanke? Das Problem mit dieser Synthese der Kausalität ähnelt dem Problem, das Friedrich Heinrich Jacobi 1787 in David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus in Bezug auf Kants Ding an sich formuliert hat: Kant braucht ein Ding an sich, um durch dessen kausale Wirkung zu erklären, wieso das Ich sinnlich affiziert sein kann und überhaupt Empfindungen hat. Gleichzeitig betont Kant, dass die Kausalität ein reiner Verstandesbegriff ist, der nur auf Erscheinungen legitimerweise anzuwenden ist – also keine Geltung für ein Ding an sich (sondern nur für Erscheinungen) beanspruchen kann. Eine kausale Einwirkung „von außen“ durch ein Ding an sich ist also in Kants Theorie sowohl notwendig

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V. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 183 als auch unmöglich. Daher klagt Jacobi, dass er „ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte“.8 Die „Synthesis der Kausalität“ scheint genau die Position zu sein, die Jacobi Kant zuschreibt; und ihr Problem ist genau das Problem, das Jacobi schildert: Die Unmöglichkeit, unter kantischen Prämissen eine „Affektion“ von außen zu denken. Gehen wir weiter zum Problem mit der Synthese der Substantialität: Setzt sich das absolute Ich selbst eine Grenze, indem es sich frei begrenzt, so ist diese Begrenzung zwar für ein absolutes Ich möglich, sie widerstreitet nicht dem Wesen des absoluten Ichs. Aber es bleibt doch ganz unverständlich, wie das absolute Ich diese frei gesetzte Grenze einem unabhängig von ihm bestehenden Nicht-Ich zuschreiben können soll. Sie erklärt nicht, was erklärt werden soll: [E]s läßt sich gar nicht einsehen, wie es diese Einschränkung [in sich] auf Etwas im Nicht-Ich, als die Ursache derselben beziehen könnte. Vielmehr müste es sich selbst als die Ursache derselben, betrachten. (GA I, 2, 303 f.)

Aus der Synthese der Substantialität ergäbe sich also ein Bild, das etwa dem entspricht, das sich viele von Fichtes Philosophie machen: Als ob das Ich in der Lage wäre, sich selbst wie nach Wunsch eine eigene Realität zusammenzuphantasieren. Jean Paul parodiert Fichte, indem er einen fiktiven Philosophen – „Leibgeber“ – auftreten lässt. Diesem werden folgende Worte in den Mund gelegt: „Es frappiert mich selber […] daß ich das Al und Universum bin; mehr kan man nicht werden in der Welt als die Welt selber […] und Gott […] und die Geisterwelt […] dazu. […] „Überschlage doch einmal“, sagt’ ich, „in Pausch und Bogen deine Schöpfungen – den Raum – die Zeit (jetzt bis ins achtzehnte Jahrhundert herein) – was in beiden ist – die Welten – was auf diesen ist – die drei Reiche der Natur – die lumpigen königlichen Reiche – das der Wahrheiten – das der kritischen Schule – und sämtliche Bibliotheken!“ – Und mithin auch die paar Bände, die Fichte geschrieben, weil ich ihn erst sezen oder machen mus, eh’ er eintunken kann – denn es komt auf meine moralische Politesse an, ob ich ihn leben lassen will. […] Daher nenn’ ich die Wissenschaftslehre kek mein Werk und den Leibgeberianismus.“9

Ich bringe (sagt Leibgeber) die Welt nach Gusto hervor, also bringe ich auch Fichte hervor, also auch Fichtes Werk  – also ist es eigentlich meines. So ein Idealismus ist sicherlich nicht Fichtes Position; aber die Passage könnte die Synthese der Substantialität in ihrer ersten Form illustrieren und zugleich zeigen, warum Fichte sie für inakzeptabel hält. Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787). Jacobi an Fichte (1799), hg. v. Oliver Koch, Hamburg, 2019, S. 109. 9 Jean Paul, Clavis Fichteana seu Leibgeberiana. (Anhang zum 1. komischen Anhang des Titans), Erfurt, 1800, S. 87–91. 8

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184 Johann Gottlieb Fichte Die Aufgabe besteht nun darin, die Synthese der Kausalität („Synthese C“) und die Synthese der Substantialität („Synthese D“) miteinander zu verknüpfen. Beide erfassen etwas Richtiges; aber beide sind, isoliert genommen, falsch. Diese Vereinigung geschieht in einer langen „Synthese E“. Dieser Textabschnitt ist äußerst verwickelt, und es würde die Grenzen einer Einführung in Fichtes Werk überschreiten, den Windungen dieser Argumentation im Einzelnen nachzugehen. Stattdessen springe ich gleich ans Ende dieses Textabschnittes und frage, wie Fichte nun das Problem der Vereinigung von Ich und Nicht-Ich löst. Einerseits muss die Beschränktheit des Ichs ein Faktum sein, das nicht vom Ich hervorgebracht wurde – soweit hat die Synthese der Kausalität recht. Andererseits ist das Ich nichts als Tätigkeit; und wenn es eine Beschränktheit gibt, dann nur dadurch, dass das Ich selbst sich einschränkt. Wie lässt sich beides verbinden? Das unverfügbare Faktum der Beschränkung des Ichs nennt Fichte „Anstoß“. Damit ist wohlgemerkt nicht eine kausale Einwirkung von außen auf das Ich gemeint. Das ist aus den von Jacobi genannten Gründen unmöglich. Der Anstoß ist nichts anderes als das factum brutum der Begrenztheit (Rezeptivität) des Ichs. Die Aufgabe, die Fichte zu lösen hat, besteht darin, dass es keinen Anstoß gibt ohne freies Sich-Beschränken des Ichs, und kein freies Sich-Beschränken des Ichs ohne Anstoß. Fichtes Lösungsvorschlag besteht darin zu zeigen, dass es eine wechselseitige Bedingtheit von freier Selbstbeschränkung des Ichs und gegebenem Anstoß gibt, so aber, dass sie sich zugleich auf Unterschiedliches beziehen, sodass sie nicht in ein direktes Konkurrenzverhältnis treten, sondern sich ergänzen. Wir könnten die Lösung so ausdrücken, dass es eine Art Komplizenschaft des Ichs mit dem Anstoß gibt. Das Ich erschafft den Anstoß nicht, aber es lässt ihn zu. Die Freiheit des Ichs wendet sich gegen sich, negiert frei ihre Unbegrenztheit und affirmiert ihre Begrenztheit; auf diese Weise kann es aber nur den Ort bereiten für den „Anstoß“, der sich ereignen muss, ohne dass das Ich ihn hervorbringen könnte. Das Ich bringt also nicht den Anstoß hervor, aber es macht sich rezeptiv für den Anstoß. Würde sich das Ich nicht rezeptiv machen für den Anstoß, könnte kein Anstoß erfolgen; würde kein Anstoß erfolgen, würde das Ich nicht rezeptiv sein. Dieses Sich-rezeptiv-Machen ist ein freier Akt des Ichs, der zugleich dem existierenden Ich als sein Apriori vorausgeht. Wir finden diesen Freiheitsakt der Selbstbeschränkung also nicht in unserem Bewusstsein vor; sobald es Bewusstsein gibt, ist er schon vollzogen – vom Standpunkt des Bewusstseins aus gesehen liegt er also in einer transzendentalen Vergangenheit, die niemals Gegenwart war. Hat Fichte nun den Widerspruch von Ich und Nicht-Ich im Ich aufgelöst? Nicht ganz: Es bleibt ein Problem, das uns die ganze Zeit begleitet hat, ohne dass wir darauf geachtet haben. Es gibt nämlich einen Grundwiderspruch zwischen dem ersten Grundsatz und dem dritten Grundsatz. Der erste Grundsatz legt das Wesen des Ichs fest. Das Wesen des Ichs besteht darin, reine, unbeschränkte Tätigkeit zu sein. Wir haben nun die Beschränktheit des Ichs dadurch erklärt, dass die Freiheit des Ichs sich gegen sich selbst wendet und sich selbst einschränkt. Das erlaubt es uns, Freiheit und Beschränkung zusammenzudenken. Aber wie man es auch dreht und wendet: Das beschränkte Ich, das

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V. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 185 wir am Ende des theoretischen Teils erreicht haben, ist nicht mehr das unbeschränkte Ich, von dem wir im ersten Grundsatz ausgegangen waren. Man kann die Situation am Ende der „E-Synthese“ daher so beschreiben, dass das Ich sich mit sich selbst (mit ­seinem Wesen, mit dem, was es „eigentlich“ ist) in einen Gegensatz setzt. Es lässt in sich selbst einen Gegensatz entstehen zwischen sich als unendlichem Ich und sich als endlichem Ich. Das Ich am Ende ist also widersprüchlich verfasst; es „schwebt“ zwischen einander widersprechenden Opposita: zwischen sich als etwas Beschränktem und sich als etwas Unbeschränktem. Die synthetisch-antithetische Methode endet also – in einer Antithese. Warum führt Fichte dann an dieser Stelle die synthetisch-antithetische Methode nicht weiter? Weil der Widerspruch, den wir jetzt erreicht haben, für Fichte kein Beweis mehr dafür ist, dass unsere Theorie falsch ist (wie bisher), sondern die Grundverfassung des Ichs selbst beschreibt: Das Ich ist in sich widersprüchlich verfasst. Die ­Theorie muss das letztlich einfach anerkennen. An dieser Stelle führt Fichte die „Einbildungskraft“ ein als das Vermögen, das diesen Gegensatz sowohl erschafft als auch in der Einheit einer Erfahrung zusammenhält: Die Einbildungskraft wird daher zum Zentralvermögen für Fichte, und am Ende der E-Synthese schreibt er: Es wird demnach hier gelehrt, daß alle Realität — es versteht sich für uns, wie es denn in einem System der Transcendental-Philosophie nicht anders verstanden werden soll — bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde. (GA I, 368)

Wenn Fichte hier allerdings von Einbildungskraft spricht, dann denkt er nicht an die empirische Einbildungskraft – als ob wir uns die Realität nur zusammenphantasierten –, sondern an die transzendentale Einbildungskraft bei Kant. Aufgabe der Einbildungskraft in transzendentaler Funktion ist bei Kant nichts anderes als die Versinnlichung der reinen Verstandesbegriffe. Das ist notwendig, denn die reinen Verstandesbegriffe müssen in etwas transformiert werden, das uns in der Anschauung auch begegnen kann. Nun sieht es in der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft noch so aus, als sei die Einbildungskraft einfach ein drittes Vermögen, das irgendwie zwischen Verstand und Sinnlichkeit vermittle. In der zweiten Auflage von 1787 sieht die Sache jedoch anders aus. Hier wird die Einbildungskraft zu einer Anwendungsform des Verstandes selbst. Die Einbildungskraft sei „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben […] auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung“ (KrV B 152). Das heißt, dass der Verstand sich zur Einbildungskraft macht und sich auf diese Weise selbst versinnlicht. Die Einbildungskraft ist gleichsam ein bildgebendes Verfahren des Verstandes selbst. Kant benennt dieses versinnlichende, transzendentale Vermögen nach der empirischen Einbildungskraft, da bereits die empirische Einbildungskraft ein „amphibisches“ Wesen hat: Sie ist sowohl aktiv als auch passiv, weil sie einerseits aktiv ihre Vorstellungen hervorbringt, es andererseits aber sinnliche Bilder sind, die sie hervorbringt, hinsichtlich derer sie also auch eine gewisse Passivität

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186 Johann Gottlieb Fichte besitzt. Da ein sich selbst versinnlichender Verstand zugleich eine sich selbst passiv oder rezeptiv machende Aktivität ist, sieht man, dass die transzendentale Einbildungskraft genau das ist, was Fichte benötigt, um seine Theorie des mit dem Anstoß kooperierenden Ichs zu formulieren. Der Unterschied zu Kant besteht aber darin, dass bei Kant die Anschauung gegeben ist und die Einbildungskraft lediglich die reinen Verstandesbegriffe in sie hineinbildet, während bei Fichte die Einbildungskraft allererst möglich macht, dass es so etwas wie Anschauung überhaupt geben kann: Sie ist ja das Vermögen, das für den Anstoß allererst den Ort bereitet, sich für den Anstoß rezeptiv macht. Daher hat die Einbildungskraft eine viel zentralere Rolle für Fichte als für Kant. Es bleibt freilich, wie erwähnt, ein Widerspruch zum absoluten Ich des ersten Grundsatzes, in dem das Wesen des Ichs festgelegt wird. Das beschränkte Ich widerspricht seinem Wesen als absolutes Ich. Aber wir können einen Schritt weiter gehen, wenn wir uns daran erinnern, wie das absolute Ich beschaffen ist. Fichte beschreibt es nach dem Modell der kantischen Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft. Das Ich ist, indem es sich setzt, und es setzt sich, indem es eine Forderung in Bezug auf sich erhebt: die Forderung, ein absolutes Ich zu sein. Das absolute Ich hat damit von vornherein auch einen normativen Charakter: Es soll sein. Damit wird der bleibende Widerspruch zwischen beschränktem und absolutem Ich weiter bestimmbar: Er ist der Grund eines Strebens des Ichs. Das beschränkte Ich hat sich mit dem absoluten Ich zu vereinen – nicht, indem es sich aus seiner Beschränktheit zurückzieht, sondern indem es die Welt, der es kraft seiner Rezeptivität begegnet, gemäß dem absoluten Ich „modifiziert“. Gefordert ist eine vollständige Synthesis von begrenztem und unbegrenztem Ich, die geleistet werden soll, indem das begrenzte Ich die Grenze zum Nicht-Ich immer weiter ausdehnt, bis es das Nicht-Ich in sich absorbiert: [I]m Ich soll Alles gesezt seyn; das Ich soll schlechthin unabhängig, Alles aber soll von ihm abhängig seyn. Also, es wird die Uebereinstimmung des Objekts mit dem Ich gefordert; und das absolute Ich, gerade um seines absoluten Seyns Willen, ist es, welches sie fordert. (GA I, 2, 396)

Was heißt es, dass alles vom Ich „abhängig“ sein soll? Das absolute Ich ist nichts anderes als die praktische Vernunft. Das Nicht-Ich wird somit vom Ich „abhängig“, wenn es vernunftkonform wird. Vernunftkonform wird es erstens, wenn wir es erkennen und seine Gesetzmäßigkeiten verstehen, zweitens, wenn wir zur Ausbreitung der Moralität in der Welt beitragen. Ziel wäre eine vollständig erkannte und vollständig moralkonforme Welt. Allein, ein solches Ziel ist niemals erreichbar. Denn ohne dass es uns Fichte bereits verraten hätte, erklärt er uns nun, dass es bereits im Herzen des absoluten Ichs selbst einen verborgenen Widerspruch gab; einen Widerspruch, der denjenigen zwischen erstem und zweitem Grundsatz allererst begründet:

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[Das Ich] muß sich, unbeschadet seines absoluten Setzens durch sich selbst, für ein anderes Setzen gleichsam offen erhalten. Demnach müßte schon ursprünglich im Ich selbst eine Verschiedenheit seyn, wenn jemals eine darein kommen sollte; und zwar müßte diese Verschiedenheit im absoluten Ich, als solchem, gegründet seyn. (GA I, 2, 405)

Worauf ist diese Verschiedenheit innerhalb des absoluten Ichs zurückzuführen? Fichte schreibt: Das Ich sezt sich selbst schlechthin, und dadurch ist es in sich selbst vollkommen, und allem äussern Eindrucke verschlossen. Aber es muß auch, wenn es ein Ich seyn soll, sich setzen, als durch sich selbst gesezt; und durch dieses neue, auf ein ursprüngliches Setzen sich beziehendes Setzen öfnet es sich, daß ich so sage, der Einwirkung von aussen; es sezt lediglich durch diese Wiederholung des Setzens die Möglichkeit, daß auch etwas in ihm seyn könne, was nicht durch dasselbe selbst gesezt sey. (GA I, 2, 409)

Das absolute Ich ist nicht nur Sich-Setzen, sondern es setzt sich auch als Sich-Setzen und „wiederholt“ auf diese Weise – nachkonstruierend – sein ursprüngliches Setzen; kurz: das absolute Ich ist auch ein Fürsichsein, es ist sich seiner selbst bewusst. Fichte macht nun geltend, dass es dieses Fürsichsein ist, das die Selbstbeschränkung und damit die Nicht-Koinzidenz des Ichs mit sich impliziert. Den Zusammenhang zwischen Fürsichsein und Beschränktheit stellt Fichte durch eine Metapher her. Die unbeschränkte Tathandlung werde durch eine ins Unendliche gehende Bewegung dargestellt. Diese Bewegung trifft nun auf einen Widerstand, den Anstoß. An diesem Anstoß prallt die Bewegung zurück, sie „reflektiert“ sich. Diese physische Reflexion wird nun von Fichte gleichgesetzt mit der epistemischen Reflexion, die für ein Selbstbewusstsein nötig ist. Das Argument ist dann: Kein absolutes Ich ohne Selbstbewusstsein; kein Selbstbewusstsein ohne Reflexion, keine Reflexion ohne Anstoß („an“ die die Reflexion stattfindet), kein Anstoß ohne aktive Selbstbegrenzung des Ichs. Das Argument beruht natürlich zunächst einmal nur auf einer Metapher; die dahinterliegende Idee ist, dass Selbstbewusstsein hier primär im Kontext von Handlungsbewusstsein verstanden wird, und Handlungsbewusstsein nur dann explizit wird, wenn eine Störung im Handlungsverlauf eintritt. Das Ich ist damit in einer paradoxen Situation: Da der Anstoß die Autonomie des Ichs einschränkt, muss das Ich sich einerseits bemühen, ihn zu überwinden, um seine volle Autonomie zurückzugewinnen. Da der Anstoß aber Bedingung des Selbstbewusstseins ist und das Ich nicht ohne Selbstbewusstsein existieren kann, muss das Ich andererseits dafür Sorge tragen, dass der Anstoß erhalten bleibt. Fichte zieht daraus den Schluss, dass das Ich nur als ein unendliches Streben nach Autonomie existieren kann, das nie an sein Ziel gelangt.

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188 Johann Gottlieb Fichte Heißt das nun, dass das absolute Ich des ersten Grundsatzes doch nur ein Ideal ist? Nein. Fichte macht das deutlich, indem er ganz am Ende der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre die Forderung nach Koinzidenz mit sich mit Kants kategorischem Imperativ identifiziert, und aus der Absolutheit dieser Forderung auf die Absolutheit ihres Ursprungs schließt. Das Ich soll absolut sein – und es ist das absolute Ich selbst, von dem diese Forderung ausgeht und ihr ihre Unbedingtheit verleiht. Insofern das absolute Ich die Quelle der unbedingten Forderung nach Absolutheit ist, ist das absolute Ich bereits real. Insofern das Ich sich mit Beschränktheit und Rezeptivität dem Anstoß gegenüber affiziert hat, ist es nicht absolut und soll es erst werden.

VI. Die Ableitung der philosophischen Einzeldisziplinen Fichte verwendet in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre genau genommen zwei verschiedene Methoden, die textuell klar voneinander abgegrenzt sind. Die erste, die bisher ausschließlich referiert wurde, ist die von Fichte so genannte synthetischantithetische Methode. Sie geht aus von einem Problem und konstruiert dann verschiedene Lösungsversuche dieses Problems. Am Ende bleibt es aber bei einem Widerspruch; und das ganze Verfahren wird abgebrochen durch einen, wie Fichte sich ausdrückt, „Machtspruch der Vernunft“ (GA I, 2, 268). Wir haben am Ende den Widerspruch nicht beseitigt; der Abbruch ist insofern willkürlich. Aber Fichte glaubt, dass er nun eine Ebene erreicht hat, auf der dieser Widerspruch als Realwiderspruch im Wesen des Ichs selber aufweisbar ist. Wir haben den Widerspruch so präzisiert, dass wir ihn phänomenologisch im Ich auch wiederfinden können. Und genau das ist der Punkt, an dem die zweite Methode Fichtes ansetzt: Das, was er „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“ (GA I, 365) nennt. Die neue Methode steht unter der Prämisse, dass es kein Ich gibt ohne Selbstbewusstsein (oder „Reflexion“, wie sich Fichte ausdrückt). Alles, was dem Ich zukommt, muss folglich auch Gegenstand (im weitesten Sinn) der Reflexion des Ichs sein. Diese Gesamtreflexion wird von Fichte eingeteilt in eine Reihe von Teilreflexionen, die jeweils unterschiedliche Struktureigenschaften des Ichs zum Gegenstand haben. Fichte stellt diese Teilreflexionen dar als Etappen einer sich entwickelnden Gesamtreflexion. Die zeitliche Dimension dieser „pragmatischen Geschichte“ ist aber eine Fiktion. Tatsächlich folgen nur die Schritte der Theorieentwicklung in der Zeit aufeinander. Die dem Ich immanente Reflexion mit ihren Teilreflexionen, die von der Theorie beschrieben wird, entwickelt sich nicht, sondern ist immer als Ganzes gegeben. Daher schreibt Fichte im Sonnenklaren Bericht: Dieses gleich als ob für ein kategorisches daß, diese Fiktion für die Erzählung einer wahren irgend einmal zu irgend einer Zeit eingetretnen Begebenheit zu halten, ist ein grober Misverstand. Glauben sie denn, daß wir an der Construction des Grundbewußt-

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VI. Die Ableitung der philosophischen Einzeldisziplinen 189 seyns in der Wissenschaftslehre eine Historie von den Thathandlungen des Bewußt­ seyns, ehe das Bewußtseyn war, die Lebensgeschichte eines Mannes vor seiner Geburt, liefern wollen? Wie könnten wir doch, da wir selbst erklären, daß das Bewußtseyn nur mit allen seinen Bestimmungen zugleich ist; und kein Bewußtseyn vor allem Bewußtseyn, und ohne alles Bewußtseyn, begehren? (GA I, 7, 249 f.)

Der Ausgangspunkt dieser fiktiven „Geschichte“ des Geistes ist identisch mit dem Endpunkt des vorausgehenden synthetisch-antithetischen Argumentationsganges, also mit dem Schweben der Einbildungskraft. Der Endpunkt wird von Fichte so bestimmt, dass die bisher entwickelte Schlusssynthese (das Schweben der Einbildungskraft) nun wieder in ihre entgegengesetzten Elemente (Ich und Nicht-Ich) aufgelöst werden solle, was uns zu den ersten beiden Grundsätzen und insbesondere zum absoluten Ich des ersten Grundsatzes zurückführt. Fichte organisiert die Reihe der Reflexionsakte, die Ausgangspunkt (Schweben der Einbildungskraft) und Endpunkt (absolutes Ich) verbindet, so, dass sie von minimaler zu maximaler Selbsttätigkeit des Ichs führt. Man kann die Geschichte des Geistes daher als Emanzipationsgeschichte lesen: Das Ich reflektiert sich zunächst als Zustand, in dem Aktivität und Passivität noch ungeschieden sind, entdeckt dann in einer Reihe von Reflexionsschritten seine eigene Selbsttätigkeit, um sich zum Schluss als absolutes Ich wiederzufinden. In diesem Reflexionsgang lassen sich Reflexionsschritte unterscheiden, die unterschiedlichen Vermögen des Ichs zugeordnet werden: dem Anschauen, der verständigen Anschauung, der Attention, dem Denken, der Urteilskraft, dem absoluten Abstraktionsvermögen, der antinomischen Selbstreflexion und der transzendentalen Reflexion, die zum absoluten Ich führt. Auf die Details sei hier nicht weiter eingegangen. Was leistet die „Geschichte des menschlichen Geistes“? Worin besteht ihr systematischer Gewinn? Zwei Gründe für den neuen Argumentationsgang lassen sich angeben: Fichte betont erstens, dass mit der Gewissheit des absoluten Ichs noch nicht gewährleistet ist, dass es das erste Prinzip des Systems der Handlungen des Geistes ist – das muss allererst durch den Erfolg des aus diesem Prinzip erfolgenden Systembaus erwiesen werden: Es kommt auf den Versuch an. Finden wir einen Satz, der die innern Bedingungen des Grundsatzes alles menschlichen Wissens hat, so versuchen wir, ob er auch die äussern habe; ob alles, was wir wissen, oder zu wissen glauben, auf ihn sich zurückführen lasse. Gelingt es uns, so haben wir durch die wirkliche Aufstellung der Wissenschaft bewiesen, daß sie möglich war, und daß es ein System des menschlichen Wissens gebe, dessen Darstellung sie ist. (GA I, 2, 126)

Die „Geschichte des menschlichen Geistes“ zeigt nun zumindest in Ansätzen, dass die im synthetisch-antithetischen Argumentationsgang ermittelten Elemente hinreichend sind, um die wichtigsten kognitiven Vermögen des Geistes zu beschreiben. Damit ist

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190 Johann Gottlieb Fichte ein wesentlicher Schritt erbracht, um das absolute Ich als erstes Prinzip des Systems zu erweisen. Außerdem wird gezeigt, dass die Elemente, die im synthetisch-antithetischen Argumentationsgang nur von uns – den Philosophierenden – eingeführt wurden, auch tatsächlich phänomenologisch aufweisbar sind. Die bisher eigeführten Unterscheidungen zur Beschreibung des Ichs verdankten sich allein der konstruktiven philosophischen Tätigkeit; sie waren Artefakte der Theorie. Nun haben wir es mit in der Erfahrung vorkommenden und sich als real bewährenden Gegebenheiten des Geistes zu tun: Es geht daraus zugleich hervor, daß wir es von nun an nicht mehr mit bloßen Hypothesen zu thun haben, in denen der wenige wahre Gehalt von dem leeren Zusatze erst geschieden werden muß; sondern daß allem, was von nun an aufgestellt wird, mit völligem Rechte Realität zuzuschreiben sey. (GA I, 2, 365)

In der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre spielt diese „Geschichte des menschlichen Geistes“ freilich eine eher untergeordnete Rolle. Es ist dennoch wichtig, sie hier zu skizzieren, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat sich diese Idee als philosophiegeschichtlich außerordentlich folgenreich erwiesen. Schelling übernimmt sie in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) unter der Bezeichnung „Geschichte des Selbstbewusstseins“; und auch der Gang der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes (1807) ist organisiert als eine „Geschichte“ des Geistes; ihr Ausgangspunkt ist die sinnliche Gewißheit, ihr Endpunkt das „absolute Wissen“, in dem der Geist sich selbst vollständig transparent geworden ist. Zweitens folgt auch die Organisation der einzelnen Teildisziplinen der Wissenschaftslehre in groben Zügen dem Modell einer „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre ist nämlich nicht zu verwechseln mit der Wissenschaftslehre im Ganzen  – sie ist nur deren Grundlage. Zur Wissenschaftslehre im Ganzen gehören auch ihre Teildisziplinen. Fichte unterscheidet vier: Naturlehre, Rechtslehre, Sittenlehre und Religionslehre. Was die Naturlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre betrifft, so unternahm Fichte keine größeren Bemühungen, sie zu entwickeln. Ausgearbeitet wurde aber 1796/97 eine Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Es folgte 1798 das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Zur systematischen Ausarbeitung der Religionslehre ist es nicht mehr gekommen. Gerade als Fichte sich 1799 daran machen wollte, sie zu verfassen, brach der Atheismusstreit aus, der ihn seine Professur in Jena kostete. Das erste Prinzip, das allen Systemteilen zugrunde liegt, ist natürlich das „absolute Ich“. Die zentrale Prämisse, die die Einzeldisziplinen der Wissenschaftslehre generiert und organisiert, ist aber eine andere. Sie lautet wie bei der „Geschichte des menschlichen Geistes“: Es kann kein absolutes Ich geben ohne Selbstbewusstsein.

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VI. Die Ableitung der philosophischen Einzeldisziplinen 191 Nun ist Selbstbewusstsein nach Fichte keine monolithische Eigenschaft; es ist vielmehr ein graduelles Phänomen. Im Selbstbewusstsein macht das Ich sich (im weitesten Sinn) zum Objekt, aber es gibt ganz unterschiedliche Grade der Objektivierung. Ein Nullpunkt der Objektivierung ist die sog. intellektuelle Anschauung; ein Maximum ist erreicht, wenn das Ich sich als in Raum und Zeit agierender Körper erfasst. Es gibt aber nicht nur unterschiedliche Objektivierungsgrade innerhalb des Phänomens des Selbstbewusstseins. Es können auch unterschiedliche Teile oder Aspekte des Ichs unter Absehung von anderen Aspekten zum Gegenstand des Selbstbewusstseins werden. Etwa der normative Aspekt des absoluten Ichs, sein Tätigkeitsaspekt, sein Freiheitsaspekt, etc. Der leitende Gedanke, der die Ausarbeitung des Gesamtsystems der Wissenschaftslehre organisiert, ist, dass jeder der Subdisziplinen der Wissenschaftslehre  – Naturphilosophie, Rechtsphilosophie, Sittenlehre, Religionsphilosophie – eine bestimmte Form des Selbstbewusstseins zugeordnet wird, in der das absolute Ich sich in der ein oder anderen Weise erscheint, und auch innerhalb dieser einzelnen Disziplinen haben unterschiedliche Formen des Selbstbewusstseins ihren Auftritt. Alle diese Partialformen des Selbstbewusstseins sind freilich defizient. Adäquates Selbstbewusstsein ist erreicht, wenn – erstens – alle Aspekte des absoluten Ichs im Selbstbewusstsein repräsentiert werden und wenn sie  – zweitens  – alle Objektivierungsgrade durchlaufen haben. An dieser Stelle kann es nützlich sein, noch einmal zurückzugehen zu den theoriearchitektonischen Fragen, die oben besprochen wurden. Es wurde darauf hingewiesen, dass Fichte zwei Theoriearchitekturen kombinieren möchte. Einen hierarchischen, pyramidenartigen Aufbau des Systems mit einem höchsten Prinzip, von dem alles andere abhängt und das selbst von nichts abhängt, und einen nicht-hierarchischen, egalitären Prinzipienverband, bei dem jeder Teil vom anderen abhängt. Es wurde oben vorgeschlagen, eine Aspektunterscheidung einzuführen. Das kann nun präzisiert werden: Das absolute Ich ist zwar existentiell abhängig vom Selbstbewusstsein und allem, was damit zusammenhängt – Anstoß, unendliches Streben, Selbstlimitation, etc. –, aber es verdient dennoch als „absolutes“ Ich bezeichnet zu werden, da es in anderer Hinsicht unabhängig ist. Es ist erstens epistemisch unabhängig, insofern es in jeder Urteilshandlung impliziert und insofern diskursiv unhintergehbar ist. Es ist zweitens normativ unabhängig; es ist ein absoluter Zweck, um dessentwillen alle anderen Teile des Bewusstseins da sind. Alle Teile des Bewusstseinslebens dienen nur dem Zweck, das absolute Ich in der Realität zu implementieren. Wie gesagt spielt bei der Auffindung dieser Teile das Selbstbewusstsein die entscheidende Rolle: Das Selbstbewusstsein ist der eigentliche Motor der Theorieentwicklung. Anstoß und unendliches Streben werden bereits in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als notwendige Bedingungen für ein Selbstbewusstsein genannt, aber sie sind nur notwendig, noch lange nicht hinreichend. Das System führt die Untersuchung dieser Bedingungen weiter.

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VII. Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre 1796/97 veröffentlicht Fichte seine Rechtslehre unter dem Titel Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, also noch vor Kants Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten, die 1797 erschien. Der Grundsatz, von dem die Rechtslehre Fichtes ihren Ausgang nimmt, ist nicht wie bei Hobbes, dass jeder ein Wesen ist, dem es in erster Linie nur um sein Überleben zu tun ist, sodass Recht sich als Mittel legitimiert, das Überleben möglichst effektiv zu schützen, sondern die These, dass jeder ein freies Wesen ist, das im Prinzip die Freiheit anderer Wesen anerkennt, sodass die Aufgabe des Rechts darin besteht, diese wechselseitige Anerkennung der Freiheitssphären möglichst effektiv zu schützen und zu regulieren. Nun will Fichte diesen Grundsatz nicht einfach postulieren oder als mehr oder weniger plausible Prämisse ansetzen, sondern er will ihn als notwenige Konsequenz der Wissenschaftslehre ableiten. Und das heißt: Er muss zeigen, dass die Überzeugung eines jeden, Teil einer Vielzahl von freien Wesen zu sein, die sich als freie Wesen anerkennen, sich ableiten lässt als Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewusstsein. Im Fall der Rechtslehre ist es der Freiheitsaspekt des absoluten Ichs, der vom Selbstbewusstsein erfasst wird. Dieser Freiheitsaspekt soll im Selbstbewusstsein als Gegenstand in der Welt der Phänomene erfasst werden. Mag sein, dass die Freiheit bereits im „Schweben“ der Einbildungskraft und im „Streben“ unmittelbar bewusst ist; aber diese Form von Selbstbewusstsein ist noch inadäquat und muss sich zu einer Selbstobjektivierung fortbilden. Fichte stellt sich also zu Beginn der Grundlage des Naturrechts die Frage: Wie kann Freiheit in der phänomenalen Welt als Objekt erscheinen? In Fichtes Formulierung: Es geht um die Frage, wie das „Subject“ einen „Begriff von seiner eignen Freiheit und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von aussen gegebenen“ haben kann, wobei dieses „Außen“ die Welt des Nicht-Ich, die Welt der Objekte ist. (GA I, 3, 342) Bei Kant wäre so etwas eine Unmöglichkeit. Die phänomenale Welt ist nur eine Welt der Körper in Raum und Zeit, die – der „zweiten Analogie“ der Kritik der reinen Vernunft zufolge – eingebunden sind in einen strikten Naturdeterminismus; und wenn wir uns in der phänomenalen Welt erscheinen, dann eben nur als solche physikalischen Objekte – niemals kann unsere Freiheit erscheinen. Daher die etwas schizophrene Situation, die sich aufgrund der kantischen Lösung der dritten Antinomie ergibt: Wir sind freie Wesen als Bewohner der intelligiblen Welt; wir sind determinierte Wesen als Bewohner der phänomenalen Welt, aber beide Aspekte bleiben getrennt und ohne Vermittlung. Aber auch unabhängig von der zweiten Analogie wäre es für Kant schwierig, die Freiheit in der phänomenalen Welt der Objekte zu lokalisieren. Zugang zur phänomenalen Welt der Objekte haben wir nämlich nur durch Sinnesempfindungen. Aber die Freiheit kann man nicht riechen, nicht hören, nicht schmecken, nicht ertasten und nicht sehen. Wie könnte sie da ein Objekt für mich sein? Aber vielleicht rührt das Problem Kants von

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VII. Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre 193 einer unangemessen einseitigen Orientierung an der Newton’schen Physik her, die zur Folge hat, dass er nur physikalische Objekte in seiner Ontologie zulässt. Man muss aber nicht so zurückhaltend sein und kann es mit einer reicheren Ontologie versuchen, einer Ontologie, die auch soziale Entitäten zulässt: Landesgrenzen, Zahlungsmittel, Universitäten und Masterabschlüsse. Auch solche sozialen Entitäten gehören in die Welt der Phänomene, ebenso wie Steine, die von der Sonne erwärmt werden, und Billardkugeln, die aufeinandertreffen. Was sind nun solche sozialen Entitäten? Zwei Dinge fallen bei ihrer Charakterisierung ins Auge. Erstens: Es fehlt sozialen Entitäten nicht an Objektivität, wie jeder erfährt, der versucht, illegal eine Landesgrenze zu überschreiten. Zweitens: Es handelt sich um Entitäten, die nur existieren, sofern sie anerkannt werden, und zwar von mehr als einer Person. Die Faktoren „Objektivität“, „Anerkennung“ und „Intersubjektivität“ sind hier untrennbar miteinander verbunden. Daraus ergibt sich für Fichte eine Perspektive, wie Freiheit in der Welt der Objekte erscheinen kann. Freiheit erscheint hier als normativer Status, das freie Ich als Objekt ist eine soziale Entität, die ihre Existenz der Zuschreibung durch andere freie Wesen verdankt, sie ist aber zugleich Teil der objektiven Welt. Daher kann Fichte sagen: Selbstbewusstsein als freies Ich habe ich nur, sofern ich in einem Rechtsverhältnis mit anderen stehe, die meine Freiheit anerkennen. Damit hat Fichte Raum geschaffen für freie Wesen in der Welt der Phänomene. Aber auch für Fichte gilt: Was Gegenstand ist, muss mittels Empfindung oder „Gefühl“, wie Fichte sagt, erfahrbar sein. Oben wurde argumentiert, dass diese Prämisse es Kant verbietet, Freiheit in die phänomenale Welt einzuführen. Wie löst Fichte dieses Problem? Für Fichte wird es besonders drängend, da für ihn die Freiheit – und zwar durchaus die objektive Freiheit in der Welt der Phänomene – Gegenstand von Selbstbewusstsein sein soll. Damit kommt die Zusatzbedingung hinzu, dass sie möglichst unmittelbar und ubiquitär erfahrbar sein muss. Wie ist das möglich? Fichte löst dieses Problem durch zwei Schritte. Erster Schritt: Die Zuschreibung der Eigenschaft, ein freies Wesen zu sein, ist für Fichte etwas im Umgang miteinander Omnipräsentes. Fichte verortet sie in Akten der „Aufforderung“, die geäußert werden. Es ist dabei zu beachten, dass nach Fichte in jeder kommunikativen Handlung eine Aufforderung impliziert ist: Wenn ich zum Beispiel einer anderen Person gegenüber etwas behaupte, fordere ich sie implizit auf, dazu Stellung zu nehmen, nämlich der Behauptung zuzustimmen oder eben nicht. Wenn ich mich als angesprochen auffasse, dann sind drei Faktoren zugleich präsent: Erstens, ich erfasse, dass der andere mir Freiheit zuschreibt – denn ohne Freiheit des Angesprochenen wäre eine Aufforderung sinnlos. Zweitens, ich komme nicht umhin, mir diese Freiheit selbst auch zuzuschreiben – jede meiner Reaktionen auf die Aufforderung wird eine freie Reaktion sein. Drittens, ich schreibe auch dem anderen Freiheit zu – denn ohne Freiheit des Sprechers läge gar keine Aufforderung vor. Hier, in der kommunikativen Handlung, ist der konkrete Ort, an dem die Freiheitszuschreibung stattfindet; und hier wird auch deutlich, dass die so zugeschriebene Freiheit immer paarig ist: Sie ist immer auch Anerkennung der Freiheit des anderen.

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194 Johann Gottlieb Fichte Zweiter Schritt: Fichte setzt in seiner Beschreibung dieses Anerkennungsgeschehens voraus, dass ich den so verstandenen Begriff der Freiheit bereits erworben und gelernt habe, auf kommunikative Akte anderer unmittelbar, fast reflexhaft, zu reagieren, indem ich die Zuschreibung erkenne und akzeptiere. Insofern „stoße“ ich auf den Begriff, wenn jemand mit mir kommuniziert: Die Bedingung der unmittelbaren Empfindbarkeit meiner Freiheit ist somit erfüllt. Aus diesem ursprünglichen Rechtsverhältnis leitet Fichte ein „Urrecht“ und ein „Zwangsrecht“ ab. Das Urrecht besagt ganz allgemein, dass jeder das Recht auf freie Handlungen hat. Das impliziert, konkreter, ein Recht auf „Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes“ (GA I, 3, 409), ein Recht auf Eigentum, also auf Gegenstände, mit denen jeder frei schalten und walten kann, ohne dass andere intervenieren, und das Recht auf Selbsterhaltung. Das Zwangsrecht ist das Recht, Zwang auf diejenigen auszuüben, die das Urrecht verletzen. Aber wie bei Hobbes sind derartige Rechte null und nichtig, solange es keinen Staat gibt, der sie schützt. Es muss also einen Staat geben, der durch einen „Staatsbürgervertrag“ zustande kommt: Die Individuen geben einen Teil ihrer Rechte zugunsten des Staates auf, damit er das Urrecht aller schützen kann. Hier schließen sich in der Grundlage des Naturrechts ausführliche Äußerungen zur vernünftigen Staatsverfassung und zur bürgerlichen Gesetzgebung an.

VIII. Das System der Sittenlehre 1798 veröffentlichte Fichte sein System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Zu Beginn des Textes präsentiert uns Fichte ein Faktum des moralischen Bewusstseins, nämlich dem Bewusstsein „eine[r] Zunöthigung […], einiges ganz unabhängig von äussern Zwecken, zu tun, schlechthin, bloß und lediglich, damit es geschehe“ (GA I, 5, 33). Erste Aufgabe der Sittenlehre ist es, dieses Faktum abzuleiten aus dem Prinzip „[der] Ichheit in uns, oder unsere[r] vernünftige[n] Natur“ (GA I, 5, 34). In der Ableitung soll gezeigt werden, dass das, was zunächst als bloßes Faktum aufgefunden wurde, tatsächlich notwendig zum Wesen des Ichs gehört; es soll also gezeigt werden, dass es kein Ich geben kann ohne Bewusstsein des Moralgesetzes. Auch hier nimmt das Selbstbewusstsein die Mittlerrolle ein: kein Ich ohne Selbstbewusstsein, kein Selbstbewusstsein des Ichs ohne Bewusstsein des Moralgesetzes. Fichte verwendet wieder eine synthetisch-antithetische Methode: Er konstruiert einen Widerspruch zwischen zwei Weisen, in denen das absolute Ich sich seiner bewusst wird, und versucht dann, beide synthetisch zu vereinigen. In § 1 kommt Fichte durch ein kompliziertes Abstraktionsargument, das ich hier nicht weiter darlegen möchte, zunächst zu dem Ergebnis: Der wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was ausser ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur Selbstthätigkeit um der Selbstthätigkeit

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VIII. Das System der Sittenlehre 195 willen; und diese Tendenz ist es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird. (GA I, 5, 45)

Hinter dieser „Tendenz“, die wir in uns finden, verbirgt sich nichts anderes als der reine, selbstbestimmte Willen, der seine Selbstbestimmung will, hier aber zunächst als „Trieb“ vorgefunden wird. In § 2 argumentiert Fichte, dass ich aber auch ein Wesen bin, das über Willkürfreiheit verfügt und dass insbesondere die Reflexion auf den eben genannten „Trieb“ zur Selbsttätigkeit Ausdruck dieser Willkürfreiheit ist. Da ich nun ein freies Wesen in diesem Sinne bin, kann ich mir den reinen Willen nur als meinen zuschreiben, wenn er von meiner Willkürfreiheit abhängig, von mir gewählt ist. Nun hat Fichte den Willen zur Selbsttätigkeit in § 1 aber bereits als „Trieb“ eingeführt, der keineswegs von mir gewählt wird, sondern mich im Gegenteil mit sich reißt. Hier liegt ein Widerspruch vor, der durch eine neue „Synthese“ gehoben werden muss. Beide Seiten des Widerspruchs müssen so reformuliert werden, dass sie miteinander vereinbar werden. Fichte argumentiert, dass das im Bewusstsein des kategorischen Sollens der Fall ist. Einerseits drängt sich mir der kategorische Imperativ auf, ob ich will oder nicht – das ist das Moment der Gegebenheit, das in §  1 als „Trieb“ missverstanden wurde. Andererseits ist der kategorische Imperativ ein Sollen. Sollen impliziert nicht nur ein Können („Du kannst, denn du sollst“, heißt es schon bei Kant), sondern auch ein NichtMüssen  – also Freiheit der Wahl. Das ist das Moment der Freiheit, das in §  2 als schrankenlose Willkürfreiheit missverstanden wurde. Wenn ich mich also als freies Wesen auffasse, dann kann der reine Wille mich nicht in Form eines Triebes determinieren – das wäre mit Freiheit inkompatibel –, sondern er kann mich nur in Form eines Sollens zu einer Tätigkeit auffordern. Nur so, in Form eines Sollens, lassen sich also Bedingtheit und Freiheit in Bezug auf den reinen Willen vereinigen. Diese Vereinigung ist aber notwendig, wenn es Selbstbewusstsein des reinen Willens geben soll (da Reflexion nach Fichte Freiheit impliziert). Also gibt es notwendig Bewusstsein des Sollens – was das Beweisziel war. Im Naturrecht erfasste das Ich sich in Form einer Freiheit, die andere anerkennt und von anderen anerkannt wird. Nun erfasst das Ich sich als etwas, das unter einer unbedingten Forderung steht, die die Freiheit einerseits einschränkt (da sie nicht alles tun darf) und zugleich voraussetzt (da die unbedingte Forderung sich nur an eine Freiheit wenden kann.) Auf diese Weise ist also das Bewusstsein des kategorischen Imperativs abgeleitet. Allerdings ist das Bewusstsein des Moralgesetzes damit noch keineswegs hinreichend beschrieben: Tatsächlich handelt es sich nur um eine Abstraktion, die nach Fichte als solche gar nicht als Bewusstseinstatsache vorkommt. Wir haben kein Bewusstsein des Moralgesetzes als solchem; vielmehr tritt uns das Moralgesetz immer schon als Pflicht zu bestimmten Handlungen in bestimmten Situationen gegenüber. Daher muss die Sittenlehre sich nun den konkreten Bedingungen des Handelns zuwenden. Das absolute Ich ist der Konstitutionsgrund der Erscheinungswelt. Das Ich taucht aber auch innerhalb dieser Erscheinungswelt als räumlich und zeitlich bestimmtes

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196 Johann Gottlieb Fichte Wesen auf, und es stellt sich daher die Frage, wie die Handlungen des absoluten Ichs in das in Raum und Zeit erscheinende Ich implementiert werden können. Fichte versucht daher, der Transzendentalphilosophie eine transzendentale Anthropologie an die Seite zu stellen. Im Rahmen dieser transzendentalen Anthropologie entwickelt Fichte eine Trieblehre. Er konstatiert einen Widerspruch, der sich aus den folgenden drei Sätzen konstruieren lässt: 1. Es gibt kein Objektbewusstsein ohne Bewusstsein eigener Tätigkeit, denn Objektbewusstsein entsteht nur aufgrund des Bewusstseins eingeschränkter Ich-Tätigkeit. 2. Es gibt aber auch kein Bewusstsein der eigenen Tätigkeit ohne Objektbewusstsein; denn ich kann mir eigene Tätigkeit nur zuschreiben, wenn sie eine zielgerichtete Tätigkeit ist. Bestimmte Ziele setzen aber Objektbewusstsein voraus, als die Quelle, aus der die Ziele geschöpft werden. 3. Objektbewusstsein und Bewusstsein eigener Tätigkeit sind numerisch verschieden und setzen einander wechselseitig voraus.

Es scheint, als befänden wir uns in einem Zirkel. Freilich liegt eine einfache Lösung parat: Wir negieren (3), indem wir geltend machen, dass es naturgegebene und unbewusste Zwecke gibt, die einem Lebewesen natürlicherweise Handlungen vorschreiben, noch bevor es Objektbewusstsein erlangt, und die bewusst werden, wenn sie auf Widerstände treffen, sodass dadurch Objektbewusstsein entsteht. Tätigkeits- und Objektbewusstsein sind dann gleichursprünglich. Das Ziel, das dieser Tätigkeit einbeschrieben ist, ist dann freilich nicht frei gewählt, sondern naturwüchsig. Die Tätigkeit muss daher als Aktualisierung eines Naturtriebs angesehen werden, und es handelt sich, streng genommen, dann auch nicht um „meine“ Tätigkeit, sondern eher um eine Tätigkeit „in mir“. Naturtriebe sind also notwendig, denn Naturtriebe sind der Ort, an dem der bewusste Kontakt zwischen Ich-Tätigkeit und widerständigem Nicht-Ich noch vor der Bildung von frei gewählten Zweckbegriffen stattfindet: „Ich bin selbst in gewisser Rücksicht, unbeschadet der Absolutheit meiner Vernunft und meiner Freiheit, Natur; und diese meine Natur ist ein Trieb.“ (GA I, 5, 108) Wäre das Ich aber nur dies – könnte es sich nur Naturtriebe zuschreiben (und nur auf dieser Basis Zweckbegriffe bilden), dann wäre eine Realisierung des Moralgesetzes ausgeschlossen. Fichte hat ja, um den ursprünglichen Realitätskontakt zu erklären, die Ich-Tätigkeit zu einem Naturtrieb depotenziert; die Tätigkeit tritt auf dieser Ebene nicht mehr als Vernunfttätigkeit auf. Auf der Vernunfttätigkeit und ihrer Selbstgesetzgebung beruht aber die ganze Moralphilosophie Fichtes. Daher muss Fichte zusätzlich zu den Naturtrieben einen reinen Trieb einführen, einen „Trieb nach Freiheit um seiner selbst willen“ (GA I, 5, 132). Dieser reine Trieb fungiert als das anthropologische Gegenstück des reinen Willens innerhalb der Erscheinungswelt. Aber worauf geht dieser Trieb? Was soll man in concreto tun, wenn man „Freiheit um seiner selbst willen“ realisieren will? Nach Fichte ist der reine Trieb für sich genommen inhaltsleer. Fichte

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VIII. Das System der Sittenlehre

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argumentiert für die These, dass der reine Trieb nur solche Inhalte besitzt, die ihm durch die Naturtriebe geliefert werden. Dadurch ist der Mensch den Naturtrieben aber keineswegs unterworfen; der reine Trieb wählt aus ihnen diejenigen aus, in denen sich die Freiheit am besten manifestieren kann: Der reine Trieb [der den reinen Willen im Feld der Erscheinungen repräsentiert, A. S.] geht auf absolute Unabhängigkeit, die Handlung ist ihm angemessen, wenn sie gleichfalls auf dieselbe ausgeht, d. i. in einer Reihe liegt, durch deren Fortsetzung das Ich unabhängig werden müßte. (GA I, 5, 140 f.)

Und etwas später wird dies noch näher ausgeführt: Das Verhältniß des Naturtriebes zu dem aufgestellten Princip ist dieses: In jedem Momente ist etwas unserer sittlichen Bestimmung angemessen; dasselbe wird zugleich durch den Naturtrieb (wenn er nur natürlich, und nicht etwa durch eine verdorbne Phantasie verkünstelt ist) gefodert: aber es folgt gar nicht, daß alles, was der letztere [sc. der Naturtrieb, A. S.] fodert, dem erstern gemäß ist. Die Reihe des letztern [des Naturtriebs, A. S.], bloß an sich betrachtet, sey = ABC u. s. f.[;] durch die sittliche Bestimmung des Individuum wird vielleicht aus B. nur ein Theil heraus gehoben, und wirklich gemacht […]. (GA I, 5, 142)

Die Idee ist also folgende: Die Naturtriebe bieten dem Ich eine Bandbreite von Handlungsoptionen dar, zu denen es eine gewisse Motivation verspürt. Der reine Trieb greift diejenige Option heraus, die sich am besten als Mittel zur schrittweisen Verwirklichung des Endzwecks – absolute Unabhängigkeit – eignet. Stimmt eine Option mit dem Interesse des reinen Triebs überein, stellt sich ein Gefühl der Billigung ein; stimmt sie nicht überein, dann stellt sich ein Gefühl der Missbilligung oder Selbstverachtung ein. Damit wird auch die Art und Weise deutlich, in der das Moralgesetz sich tatsächlich im empirischen Bewusstsein äußert; das Gefühl der Billigung oder Missbilligung ist sozusagen das empirisch-reale Substrat, das wir, wenn wir darauf reflektieren, als kategorischen Imperativ konzeptualisieren können. Der Gedanke des Sittengesetzes ist, in Isolation betrachtet, nur eine Abstraktion: Es wird eben so wenig behauptet, daß dieser Gedanke [des kategorischen Imperativs, A. S.] mit der Allgemeinheit und in der Abstraction, als wir ihn abgeleitet haben, unter den Thatsachen des gemeinen Bewußtseyns vorkomme; daß man sich, ohne weiteres Zuthun des freien Nachdenkens, eines solchen Gesetzes für seine Freiheit überhaupt bewußt werde. Lediglich durch philosophische Abstraction erhebt man sich zu dieser Allgemeinheit. (GA I, 5, 71)

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198 Johann Gottlieb Fichte Das reale Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft erreichen wir erst mit der Ableitung der Gefühle der Billigung und Missbilligung hinsichtlich einzelner Handlungsoptionen: [W]ir fühlen uns gedrungen dies oder jenes zu thun, und machen uns Vorwürfe, etwas nicht gethan zu haben – dies dient zur Berichtigung in Rücksicht derer, die kein Bewußtseyn des categorischen Imperativs […] und auch nicht eines reinen Triebes zugeben. Es wird durch eine gründliche Transscendental-Philosophie ein solches Bewußtseyn auch nicht behauptet. Der reine Trieb ist etwas außer allem Bewußtseyn liegendes, und bloßer transscendentaler Erklärungsgrund von etwas im Bewußtseyn. (GA I, 5, 142 f.)

Nun setzt Fichtes Theorie freilich voraus, dass es eine Schnittmenge gibt zwischen den Interessen der Naturtriebe und den Interessen des reinen Triebes. Das kann Fichte aber behaupten, da für ihn (anders als bei Kant) die Naturtriebe schon eine erste, wenn auch noch inadäquate Objektivierung des reinen Willens sind; im Selbsterhaltungstrieb etwa kündigt sich bereits in verzerrter Form die Forderung nach Vernunftautonomie an. Durch die Auswahlakte, die durch den reinen Trieb motiviert sind, entsteht eine Reihe, durch die das Ich sich immer größerer Unabhängigkeit annähert. Diese Reihe ist unendlich – absolute Unabhängigkeit ist nie erreichbar. Und so hat das unendliche Streben, das wir schon von der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre her kennen, auf der Ebene der transzendentalen Anthropologie ein Gegenstück: [D]er Endzweck des Sittengesetzes ist absolute Unabhängigkeit, und Selbständigkeit […]. Nun ist dieses Ziel unerreichbar, aber es findet doch eine stete und ununterbrochene Annäherung zu demselben Statt. Es muß sonach […] eine stete ununterbrochne Reihe von Handlungen geben, durch welche man sich annähert. Das Gewissen kann jedesmal nur diejenige billigen, die in dieser Reihe liegt. (GA I, 5, 191)

Auf dieser Basis entwickelt Fichte die Grundsätze seiner Morallehre. Fichte hat gezeigt, dass das Moralgesetz die Autonomie des Ichs und alles, was diese Autonomie des Ichs fördert, zum Inhalt hat. Dieser Inhalt wird nun weiter ausdifferenziert durch eine Spezifikation dessen, was alles dazu gehört, ein Ich zu sein – Leiblichkeit, Intelligenz, Gemeinschaft mit anderen Individuen. In allen diesen Beziehungen ergeben sich daher Pflichten, um die Voraussetzungen der Autonomie des Ichs zu schaffen. Auf dieser Grundlage entwickelt Fichte seine ausdifferenzierte „Sittenlehre im eigentlichen Verstande“ (GA, I, 5, 189).

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IX. Religionsphilosophie Nach der Rechtsphilosophie und der Sittenlehre hatte Fichte vor, seine Religionsphilosophie auszuarbeiten. Dazu kam es aufgrund des Atheismusstreites freilich nicht mehr. Einige Elemente der geplanten Religionsphilosophie können wir aber aus seinen Schriften zum Atheismusstreit erschließen. Fichte hatte sich 1798 in einem Aufsatz mit dem Titel Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung zu seiner Religionsauffassung geäußert. Im Wesentlichen folgt Fichte hier der kantischen Postulatenlehre, also der Auffassung, dass die Existenz Gottes aus Gründen der notwendigen Realisierbarkeit des Moralgesetzes angenommen werden muss. Fichtes Version dieses Arguments hat folgende Form: 1. Es ist meine Pflicht, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln. 2. Der kategorische Imperativ fordert, dass ich durch mein moralisches Handeln die Realisierung des höchsten Gutes befördere. 3. Was ich soll, muss ich auch können. 4. Ich kann also die Realisierung des höchsten Gutes durch mein moralisches Handeln befördern. 5. Ich kann die Realisierung des höchsten Gutes durch mein moralisches Handeln aber nur befördern, wenn es eine göttliche Weltordnung gibt, die mein moralisches Handeln mit einem moralischen Fortschritt in der Welt verknüpft. 6. Also: Es gibt eine moralische Weltordnung.

Zur Erläuterung: Die Prämisse (3) übernimmt Fichte von Kant. Wenn ich jemanden auffordere, etwas zu tun, dann unterstelle ich, dass der Betreffende der Aufforderung auch Folge leisten kann. Wenn er es nicht kann, ist die Aufforderung nichtig. Also: Aus dem Sollen folgt Können; aus dem Nicht-Können folgt Nicht-Sollen. Letzteres könnte für Fichte prima facie ein Problem sein, denn es könnte so scheinen, als könnte man sich so aus seinen moralischen Verpflichtungen herausreden: „An sich sollte ich immer ehrlich sein – aber wer kann das schon? Aber wenn man nicht kann, dann ist das Sollen gegenstandslos. Also soll ich auch nicht.“ Aber nach Fichte ist dieser Schluss illegitim: Die Pflicht, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, ist unbedingt, sie kann niemals zur Disposition stehen. Daher können wir in der Moral vom Sollen aufs Können, aber niemals vom Nicht-Können aufs Nicht-Sollen schließen. Entscheidend für das Argument ist der Schritt (5). Warum ist diese göttliche Weltordnung nötig? Weil Fichte davon ausgeht, dass zu jedem Zeitpunkt entscheidbar sein muss, ob mein Handeln moralisch richtig oder moralisch falsch ist. Das darf nicht dem Lauf der Dinge überantwortet werden, sodass wir erst im Nachhinein, ja eigentlich niemals wissen können, ob ein Handeln moralisch gewesen sein wird. Moralisch zu handeln heißt also, meine unbedingten Pflichten zu erfüllen, ohne auf die Folgen zu achten, und bei meinen bedingten Pflichten zwar die Folgen zu berücksichtigen, aber nach

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200 Johann Gottlieb Fichte Maßgabe meines besten Wissens und Gewissens. Da ich den Weltlauf aber nicht vollständig kontrollieren kann, ist es in beiden Fällen immer möglich, dass meine besten moralischen Intentionen schlechte Folgen haben. Da es aber erstens eine Pflicht gibt, durch das moralische Handeln die Realisierung des höchsten Gutes tatsächlich zu befördern (und das nicht nur zu intendieren), da zweitens aus Sollen Können folgt, und da drittens der Weltlauf nicht in meiner Hand liegt, muss postuliert werden, dass es eine moralische Weltordnung gibt, die meine guten Intentionen mit guten Folgen verbindet. Wenn wir uns nun genauer ansehen, wie Fichte diese moralische Weltordnung beschreibt, dann sehen wir, dass er hier an so etwas wie eine göttliche Vorsehung denkt. Er schreibt: [Es ist gewiß,] dass es eine moralische WeltOrdnung giebt, daß jedem vernünftigen Individuum seine bestimmte Stelle in dieser Ordnung angewiesen, und auf seine Arbeit gerechnet ist; das jedes seiner Schicksale, inwiefern es nicht etwa durch sein eigenes Betragen verursacht ist, Resultat ist von diesem Plane; daß ohne ihn [sc. diesen Plan] kein Haar fällt von einem Haupte, und in seiner WirkungsSphäre kein Sperling vom Dache; daß jede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse mislingt, und daß denen, die nur das Gute recht lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. (GA I, 5, 356)

Dieser göttliche Plan ist freilich konditional: Wenn ich moralisch handle, dann sorgt der Plan dafür, dass die Handlung letztlich gelingt. Wenn ich unmoralisch handle, sorgt der Plan dafür, dass die Handlung letztlich misslingt. Ob ich moralisch oder unmoralisch handle, steht mir frei; das legt der Plan nicht fest. Natürlich sieht es so aus, als gelängen moralische Handlungen oft nicht, und als seien unmoralische Handlungen erfolgreich. Aber hier kann Fichte antworten, wie es Seelsorger bei Theodizee-Problemen gerne tun: Gottes Wege sind unerforschlich. Dass sich alles zum Guten wendet, auf welch verschlungenen Wegen auch immer, ist aber gewiss. Fichte orientiert sich hier am sogenannten moralischen Gottesbeweis bei Kant; im Einzelnen unterscheiden sich die Beweise freilich. Es würde zu weit führen, Kant und Fichte hier detailliert zu vergleichen. Auf einen Punkt möchte ich aber hinweisen. Während der Beweis bei Kant – nach Kants eigenem Verständnis – relativ schwach ist, sodass ein tugendhafter Atheist für Kant letztlich doch nicht ausgeschlossen ist, beansprucht Fichte für seine Konklusion absolute Gewissheit – die Gewissheit, dass es eine göttliche Weltordnung gibt, ist genau so groß wie die Gewissheit, dass ich nach dem kategorischen Imperativ handeln soll: Es ist daher ein Misverständnis, zu sagen: es sey zweifelhaft, ob ein Gott sey, oder nicht. Es ist gar nicht zweifelhaft, sondern das gewisseste, was es giebt, ja der Grund aller anderen Gewissheit […]. (GA I, 5, 355 f.)

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X. Fichtes Spätphilosophie 201 Warum also der Vorwurf des Atheismus? Das Problem ist, dass Fichte sich streng an die kantischen Restriktionen hält, was die Anwendbarkeit der Kategorien (Substanz, Kausalität, etc.) betrifft: Sie können legitimerweise nur auf die sinnliche Erfahrung angewandt werden, nicht auf etwas Übersinnliches. Also auch nicht auf Gott. Gott ist daher keine Substanz; und wir können auch nicht sagen, dass er die Welt erschaffen hat (was eine Kausalbeziehung wäre). Gott ist für Fichte nichts anderes als die moralische Weltordnung: „Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen WeltOrdnung herauszugehen, und vermittels eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen.“ (GA I, 5, 354) Wenn Gott aber kein „besonderes Wesen“ ist, liegt der Atheismus-Vorwurf nahe. Fichte wäre aber nicht Fichte, wenn er nach den ersten Atheismus-Vorwürfen nicht sofort in die Offensive gehen würde: Hier sonach ist der wahre Sitz meines Streites mit ihnen. Was sie Gott nennen, ist mir ein Götze. Mir ist Gott ein von aller Sinnlichkeit und allem sinnlichen Zusatze gänzlich befreietes Wesen, welchem ich daher nicht einmal den mir allein möglichen sinnlichen Begriff der Existenz zuschreiben kann. Mir ist Gott blos und lediglich Regent der übersinnlichen Welt. Ihren Gott läugne ich und warne vor ihm, als vor einer Ausgeburt des menschlichen Verderbens, und werde dadurch keinesweges zum Gottesläugner, sondern zum Vertheidiger der Religion. Meinen Gott kennen sie nicht und vermögen sich nicht zu dessen Begriffe zu erheben. Er ist für sie gar nicht da, sie können ihn sonach auch nicht läugnen, und sind in dieser Rücksicht nicht Atheisten. Aber sie sind ohne Gott; und sind in dieser Rücksicht Atheisten. (GA I, 5, 437)

X. Fichtes Spätphilosophie Um 1800 beginnt eine Reorientierung im Denken Fichtes. Ohne Zweifel spielen biographische Ereignisse im Leben Fichtes dafür eine große Rolle. Im April 1799 verliert Fichte seine Jenaer Professur. Im August desselben Jahres erklärt Kant, auf den Fichte sich immer berufen hat, öffentlich, dass er Fichtes Wissenschaftslehre „für ein gänzlich unhaltbares System halte“ (AA XII, 370). Im Herbst 1799 veröffentlicht Jacobi, um den Fichte immer geworben hatte, seinen Brief an Fichte, in dem er ihm, wenn schon nicht Atheismus, so doch Nihilismus vorwirft, und wendet sich damit öffentlich gegen ihn. 1800 wendet sich Reinhold, den Fichte zwischenzeitlich für seine Sache gewinnen konnte, von Fichte ab und Christoph Gottfried Bardili zu, was erst zu Unstimmigkeiten und dann im April 1801 endgültig zum öffentlich vollzogenen Bruch führt. Was das Verhältnis zu Schelling betrifft, so beginnt es im November 1800 zu kriseln, der endgültige Bruch erfolgt nach einigen brieflichen Auseinandersetzungen im Januar 1802. Fichte ist in kürzester Zeit in eine philosophisch gänzlich isolierte Position geraten. Etwa um diese Zeit beginnt er auch sein System zu reformulieren. So bezeichnet Fichte

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202 Johann Gottlieb Fichte in den späteren Versionen der Wissenschaftslehre das erste Prinzip seiner Philosophie nicht mehr als „absolutes Ich“, sondern als „Sein“, gelegentlich auch als „Gott“ oder „Leben“ oder auch „Licht“. Das Ich wird nun zu etwas Untergeordnetem. Ist das eine Rückkehr zu einer klassischen, vorkantischen Ontologie? Etwa zu einer Ontologie im Anschluss an Plotin? Ich glaube nicht. Fichte betont nämlich in der Anweisung zum seligen Leben von 1806 – in einem Text also, der bereits in die Hochphase der Spätphilosophie gehört – die Kontinuität mit der Frühphilosophie: [diese Vorlesungen] sind insgesammt das Resultat meiner, seit sechs bis sieben Jahren, mit mehr Muße und im reifern Mannesalter, unablässig fortgesetzten Selbstbildung, an derjenigen philosophischen Ansicht, die mir schon vor dreizehn Jahren zu Theil wurde; und welche, obwohl sie, wie ich hoffe, manches an mir geändert haben dürfte, dennoch sich selbst seit dieser Zeit in keinem Stücke geändert hat. (GA I, 9, 47)

Der Text ist von 1806. Die Einsicht, die ihm dreizehn Jahre zuvor zuteilwurde, fand also 1793 statt – und November 1793 war ja das Jahr, in dem Fichte beanspruchte, das absolute Ich als höchstes Prinzip der Philosophie entdeckt zu haben. Seit sechs bis sieben Jahren habe er „mehr Muße“, also seit 1799/1800, der Zeit, als er seine Professur in Jena verloren hatte. Aber entscheidend an dem Zitat ist die Aussage, dass seine Philosophie sich „in keinem Stück“ geändert habe. Das ist zwar wohl etwas übertrieben – gewisse Veränderungen sind kaum zu leugnen –, aber zumindest sollte uns diese Passage skeptisch machen gegenüber der These, es gebe hier einen wirklich grundlegenden Bruch zwischen Frühphilosophie und Spätphilosophie. Tatsächlich kann man bei genauerer Betrachtung sehen, dass es eine tiefgreifende, strukturelle Kontinuität zwischen früher und später Philosophie gibt. Fichte bezeichnet nun das, was vorher das absolute Ich war, als „Sein“, „Leben“, „Gott“ oder „Licht“. Alles andere ist „Erscheinung“ oder das „Bild“ des Seins. In der Erscheinung des Seins gliedert sich kraft seiner „Reflexibilität“ das Sein prismatisch auf – die „Reflexibilität“ hat also die Funktion, die in der Frühphilosophie das Selbstbewusstsein innehatte. Von der Erscheinung sagt Fichte auch, sie sei eigentlich „Nichts“. In der Einleitungsvorlesung in die Wissenschaftslehre von 1813 nimmt er polemisch den Nihilismus-Vorwurf Jacobis auf und wendet ihn ins Positive: Ihr sagt: Idealismus, Nihilismus. Wie Ihr entzükt seyd, ein Wort [gefunden zu haben], von dem Ihr hofft daß wir darüber erschreken werden. Wie denn, wenn wir, nicht so blöde, uns dessen rühmten, u. das eben als das vollendete, u. durchgreifende unserer Ansicht bewiese, daß es eben Nihilismus sey, strenge Nachweisung des absoluten Nichts, außer dem Einen, unsichtbaren Leben, Gott genannt; u. Eure Beschränktheit, u. Armseligkeit [ist], daß Ihr außer diesem noch etwas bedürft, u. an euch bringen zu können wähnt. (GA II, 17, 266 f.)

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X. Fichtes Spätphilosophie 203 Wie ist das zu verstehen? Er kann nicht Nicht-Existenz meinen, denn ohne Zweifel existiert etwas „außer dem Einen“, nämlich die Erscheinung des Seins  – Fichte bezeichnet die Erscheinung sogar gelegentlich als „Dasein“ oder „Existenz“. Freilich können wir das „Nichts“ auch als das „Nichtige“ verstehen – als das, was keinen intrinsischen Wert hat. Ich schlage vor, „Nichts“ bei Fichte in diesem Sinn zu verstehen. „Sein“ wäre dann in der Spätphilosophie das, was einen intrinsischen Wert hat, das „Nichts“ wäre das, was keinen intrinsischen Wert hat. Was aber keinen intrinsischen Wert hat, kann einen Wert erhalten relativ zu dem, was intrinsisch wertvoll ist. Und das heißt dann: Das, was an sich „Nichts“ ist, erhält ein abgeleitetes „Sein“, ein Sein, das nicht sein eigenes ist. Ein solches abgeleitetes Sein erhält das Nichts genau dann, wenn es das Sein manifestiert, es zur Erscheinung bringt und prismatisch aufgliedert in den Reichtum der ganzen Erscheinungswelt. Die Erscheinung hat dann geliehenes Sein, „Seyn [des Absoluten] ausser seinem Seyn, entäußertes, u. s. f.“ (GA II, 13, 57), während es für sich genommen „schlechthin nichts“ ist (GA II 13, 56). Dennoch könnte man sich fragen, ob die Spätphilosophie nicht der Frühphilosophie diametral entgegengesetzt ist. In seinen frühen Texten ist nämlich das erste Prinzip keineswegs ein selbstständig Seiendes jenseits der Erscheinungen, sondern vielmehr etwas, das seine Wirklichkeit erst dadurch gewinnt, dass es sich im Bereich des Selbstbewusstseins manifestiert. Entscheidend ist nun die Frage: Ist „Sein“ in der Spätphilosophie eine selbstständige Größe jenseits der Erscheinung, oder ist das Sein abhängig von der Erscheinung? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. In der Anweisung zum seligen Leben schreibt Fichte einerseits, das Sein sei „Durch sich selbst, Von sich und Aus sich“ (GA I, 9, 85), was darauf hindeutet, dass das Sein von nichts abhängt. Aber Fichte schreibt im selben Text auch: [D]ie, aus dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: Was ist Gott, wird hier so beantwortet: er ist dasjenige, was der ihm ergebene, und von ihm Begeisterte thut. (GA I, 9, 111)

Gott ist, was der von Gott Begeisterte tut – wobei, wie erwähnt, Gott und Sein hier Synonyme sind. Sein wäre also gar nichts von uns Verschiedenes, sondern eine Art und Weise, wie wir handeln. Und in der Wissenschaftslehre von 1804/II heißt es: Wir leben, eben unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungetheilte Sein selber, in sich, von sich, durch sich, das schlechthin nicht herausgehen kann zur Zweiheit. (GA II, 8, 230)

Es scheint also, als sei das Sein doch davon abhängig, dass es sich manifestiert; und es manifestiert sich in der menschlichen, selbstbewussten Praxis. Strukturell stimmen also Frühphilosophie und Spätphilosophie exakt überein. Nun habe ich vorgeschlagen, unter „Sein“ das zu verstehen, was intrinsischen Wert hat. Genau das traf aber bereits

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204 Johann Gottlieb Fichte auf das absolute Ich zu, das wir als praktische Vernunft verstanden. Die Spätphilosophie wiederholt damit nicht nur die Struktur der Frühphilosophie, sondern steht auch in inhaltlicher Kontinuität zu ihr. Dennoch ist es kein irrelevanter Schritt, dass das Absolute nicht mehr als „Ich“ bezeichnet wird. Wieso diese Änderung? Vermutlich reagiert Fichte damit auf Missverständnisse seiner Zeitgenossen, die trotz Fichtes Protest das absolute Ich mit einem individuellen Geist und damit die Wissenschaftslehre mit einer Psychologie verwechselten. Er reagiert auf diese Missverständnisse mit (mindestens) vier Maßnahmen: Der Terminus „Ich“ wird erstens nun reserviert für das, was in der Frühphilosophie das Selbstbewusstsein war. Für Fichte ist das Ich daher nun bereits Erscheinung; zwar die grundlegendste Erscheinung des Absoluten; aber Erscheinung nichtsdestoweniger. Das Absolute tritt mit Notwendigkeit in die Ich-Form ein, um sich zu manifestieren (und es kann nicht sein, ohne sich zu manifestieren). Wenn man nun in der philosophischen Theorie das Absolute richtig erfassen will, muss man von dieser Ich-Form wieder abstrahieren. Das Absolute ist also – und das ist neu – durchaus etwas Anonymes. Und wenn es nur in unserem Handeln ist, dann ist es eben eine anonyme Dimension in unserem Handeln. Das erleichtert es Fichte nun zweitens auch, Anschluss an den Religionsdiskurs zu finden und das Absolute als „Gott“ zu bezeichnen. Darin liegt aber keine Rückkehr zu einer klassischen theistischen Metaphysik, sondern eher eine Folge der Anonymisierung der reinen praktischen Vernunft, die sich zwar im Ich manifestiert, aber nicht selbst das Ich ist. Die Betonung des Tätigkeitsmomentes in der Beschreibung des absoluten Ichs leistet dem Missverständnis Vorschub, dass das Sich-Setzen des Ichs etwas sei, das man auch unterlassen könne. Das ist aber nicht der Fall, und um dieses Missverständnis nicht aufkommen zu lassen, bevorzugt Fichte nun, drittens, den Ausdruck „Sein“. Und man kann nicht leugnen, dass Fichtes Betonung des aktiven Moments in der Beschreibung des absoluten Ichs einseitig war. Ist doch die praktische Vernunft unbedingt und bedingt zugleich. Sie ist bedingt, weil sie einem Gesetz unterworfen ist; sie ist unbedingt, weil dieses Gesetz das Gesetz ihres eigenen Wesens und ihm nicht von außen auferlegt ist. Der frühe Fichte betont dabei die bedingende Seite der Gesetzgebung, bezeichnet sie als „Tätigkeit“; der späte Fichte betont die Seite des Bedingt-Seins und ­bezeichnet sie als „Sein“. Viertens: Wenn Fichte die aktive Seite hervorheben will – was ja nicht an sich falsch ist –, so zieht er den Begriff „Leben“ nun dem der Tätigkeit vor; denn den Begriff „Leben“ assoziieren wir nicht mit Tätigkeiten, die wir genauso gut unterlassen können. Auf dieser Basis versucht Fichte von 1801 bis 1814 in immer neuen Anläufen, sein System in Vorlesungsreihen zu reformulieren, ohne ihm eine endgültige Form geben zu können.

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Literatur Werke Johann Gottlieb Fichte Fichte, Johann Gottlieb, Werke. Auswahl in sechs Bänden, hg. v. Fritz Medicus, Leipzig, 1908–1912. –, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962 ff. (= GA) (Reihen: I. Werke, II. Nachgelassene Schriften, III. Briefe, IV. Kollegnachschriften)

–, Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin, 1971. (Nachdruck der Ausgabe von 1834/35 und 1845/46) –, Die späten wissenschaftlichen Vorlesungen, hg. v. Hans Georg von Manz, Erich Fuchs, Reinhard Lauth u. Ives. Radrizzani, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2000 ff. Viele Schriften Fichtes sind in Einzelausgaben in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages (Hamburg) erhältlich.

Weitere Autoren Descartes, René, Meditationes de prima philosophia, in: Œuvres de Descartes, Bd. 7, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Paris, 1996. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M., 1986. Jacobi, Friedrich Heinrich, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787). Jacobi an Fichte (1799), hg. v. Oliver Koch, Hamburg, 2019. Jean Paul, Clavis Fichteana seu Leibgeberiana. (Anhang zum 1. komischen Anhang des Titans), Erfurt, 1800. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg, 1998. (= KrV) Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen [jetzt: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1900 ff. (= AA) Maimon, Salomon, Versuch über die Transzendentalphilosophie, hg. v. Florian Ehrensperger, Hamburg, 2004.

Sekundärliteratur Bibliographien Baumgartner, Hans Michael/Jacobs, Wilhelm G., J. G. Fichte-Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1968. Doyé, Sabine, J. G. Fichte-Bibliographie (1968–1992/93), Amsterdam/Atlanta, 1993. Jürgens, Andreas, Johann Gottlieb Fichte. Bibliographie 1993–2005. Online zugänglich unter www.unesco-phil.uni-bremen.de/

Biographien und Informationen zu Fichtes Leben Fichte, Immanuel Hermann, Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 2 Bde., Leipzig, 1862.

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206 Johann Gottlieb Fichte Fuchs, Erich (Hg.), J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, 6 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1978–1992. Léon, Xavier, Fichte et son temps, 3 Bde., Paris, 1922–1927. Jacobs, Wilhelm G., Johann Gottlieb Fichte in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. H., 1984. –, Johann Gottlieb Fichte. Eine Biographie, Berlin, 2012. Kühn, Manfred, Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph, München, 2012.

Zeitschrift Fichte-Studien. Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie, im Auftrage der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft, Amsterdam, seit 1990.

Einführungen, Gesamtdarstellungen, Weiterführendes Breazeale, Daniel, Thinking through the Wissenschaftslehre. Themes from Fichte’s Early Philosophy, Oxford, 2013. Fischer, Kuno, Fichtes Leben, Werke und Lehre, 3. Aufl., Heidelberg, 1900. Gueroult, Martial, L’évolution et la structure de la Doctrine de la Science chez Fichte, 2 Bde., Paris, 1930. Ivaldo, Marco, I principi del sapere. La visione trascendentale di Fichte, Neapel, 1987. Janke, Wolfgang, Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin, 1970. Metz, Wilhelm, Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1991. Neuhouser, Frederick, Fichte’s Theory of Subjectivity, Cambridge, 1990. Rametta, Gaetano, Fichte, Rom, 2012. Rohs, Peter, Johann Gottlieb Fichte, München, 1991. Zöller, Günter, Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge, 1998.

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Literatur 207

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Markus Gabriel (Bonn)

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Inhalt I. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Werkstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Biographisches Schelling wurde 1775 in eine protestantische Pfarrersfamilie hineingeboren. Sein Vater, Joseph Friedrich Schelling (1737–1812), war nicht nur evangelischer Geistlicher, sondern insbesondere auch ein Orientalist, der sich u. a. in seinerzeit vielbeachteten Publikationen mit dem Arabischen beschäftigt hat. Schelling selbst ist früh in seiner Ausbildung von dieser Herkunft geprägt und hat schon in seiner Zeit auf der Lateinschule in Nürtingen und der Klosterschule Bebenhausen (1784–1790) nicht nur intensiv Griechisch und Latein, sondern eben auch Hebräisch und Arabisch nebst neueren Sprachen studiert, was eine wichtige Rolle in seiner philosophischen Entwicklung spielen wird. Als Kommilitone Hölderlins und Hegels studiert er am Tübinger Stift (1790–1795), wo er wie seine anderen bedeutenden Mitstreiter nicht nur Kant, sondern insbesondere durch Jacobi auch Spinoza sowie die antike Philosophie kennenlernt. Schon in dieser Zeit tritt er mit Frühschriften in Erscheinung, in denen es ihm um das Verhältnis des Wissens zum Absoluten geht, d. h. um die Frage, wie eine ontologische Grundlegung der Philosophie gelingen kann, die gleichzeitig dem Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes genügt, die einen epistemologischen Ausweis verlangt. Dabei spielt die Beschäftigung mit der Geschichte der Mythologie und der Religionen ebenfalls bereits in der Tübinger Phase eine entscheidende Rolle. Nach seinem Theologie- und Philosophiestudium befasst er sich in einem weiteren Studium in Leipzig (1796–1798) mit Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin, was seinen Gedanken voranbringt, die Natur als eine Manifestation des Absoluten aufzufassen, ohne der reduktionistischen, naturalistischen Tendenz nachzugeben, die viele Zeitgenossen mit Spinoza verbanden: Zwar betrachtet er die Natur zeitlebens als Ausdrucksform des Absoluten selbst, ohne dass sie aber jemals zum Paradigma des Absoluten wird, in dem sich die Subjektivität auflöst. In diesem Rahmen hat er die Naturwissenschaften und die Medizin im frühen neunzehnten Jahrhundert beeinflusst und ihnen eine eigentlich philosophische Richtung gegeben, die durch Vermittlung seiner einflussreichen Schüler Lorenz Oken, Karl Christian Friedrich Krause, Gotthilf Heinrich Schubert, Ludolf Christian Treviranus und Ignaz Paul Vital Troxler teils bis heute nachhallt.1 Unter anderem von Goethe höchstpersönlich unterstützt, wurde Schelling bereits 1798 als außerordentlicher Professor in Jena berufen, wo er in enger Tuchfühlung mit Fichte, den Schlegels und später auch Hegel daran arbeitet, seine Naturphilosophie mit dem transzendentalphilosophischen Anliegen Fichtes und Schlegels zu verbinden, was in seinem ersten Hauptwerk, dem System des transzendentalen Idealismus (1800), kulminiert. 1

Lorenz Oken, Die Zeugung, Bamberg/Würzburg, 1805, in der die Zelltheorie vorweggenommen wurde. Gotthilf Heinrich Schubert, Die Symbolik des Traumes, Bamberg, 1814 war ein bedeutender Wegbereiter der Theorien Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs.

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210 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 1803 wechselt Schelling als Professor an die Universität Würzburg, wo er sein identitätsphilosophisches Hauptwerk, das Würzburger System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere vorgelegt hat. 1806 geht es weiter nach München, wo er bis 1820 blieb und sein mittleres Werk entwickelte, das in Gestalt seiner kurzen und bis heute vielrezipierten Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängen Gegenstände (1809) besonders sichtbar wurde. Von 1820 bis 1826 lehrte er, wenn auch ohne formale Lehrverpflichtung, in Erlangen, wo man einen ersten Übergang in sein Spätwerk feststellen kann, in dem es um die Frage geht, wie die Philosophie selbst als Denkform aus Prozessen des menschlichen Bewusstseins entstehen kann, die sich unserer rationalen Kontrolle entziehen, ohne deswegen die Rationalität ihrer philosophischen Rekonstruktion ipso facto auszuhebeln. Mit dieser Fragestellung wurde er einer der Wegbereiter der Tiefenpsychologie, weil er eine unbewusste Vorgeschichte der Subjektivität schreibt, die nicht teleologisch nach dem Modell des Zu-sich-Kommens des rationalen, erkennenden Subjekts gebaut ist, sondern kontingente Sprünge und Zäsuren in Rechnung stellt, ohne diese auf die anonyme Natur zu reduzieren. Subjektivität modifiziert sich im Laufe einer Bewusstseinsgeschichte, die größtenteils mythologisch und religiös verläuft und nicht von logischen Prinzipien gesteuert wird. Diesen Gedanken entwickelt er sodann in München weiter, wohin er 1827 erneut als ordentlicher Professor berufen wird. Er bleibt dort bis 1841, wo er unter anderem als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wirkt und seine Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung in verschiedenen Vorlesungszyklen entwickelt. In dieser Zeit treibt er weiterhin naturwissenschaftliche Studien und entfaltet auch politischen Einfluss, indem er u. a. als Philosophielehrer des späteren Königs Maximilian II. Joseph von Bayern tätig ist. Seine letzte Station führte ihn Ende 1841 nach Berlin, wo er auf den vakanten Lehrstuhl Hegels berufen wurde mit dem expliziten Regierungsauftrag, der „Drachensaat des Hegel’schen Pantheismus, der flachen Vielwisserei und der gesetzlichen Auflösung häuslicher Zucht“2 ein Ende zu setzen. Vor berühmten Hörern wie Michail Alexandrowitsch Bakunin, Søren Kierkegaard, Friedrich Engels, Jakob Burkhardt, Leopold von Ranke, Alexander von Humboldt und anderen entwickelte er dort seine Philosophie der Offenbarung. 1854 verstarb Schelling während eines Kuraufenthalts in Bad Ragaz in der Schweiz, wo sein Grabmal steht, das ihm Maximilian II. von Bayern setzen ließ.

2

Der Diplomat Christian Karl Josias von Bunsen zitiert diese Äußerung Ludwigs I. in einem Brief an Schelling, hier zit. nach Xavier Tilliette (Hg.), Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen, Turin, 1974, S. 422 f.

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II. Werkstruktur Schellings umfangreiches und facettenreiches Werk wird in der Schelling-Forschung auf verschiedene Weisen periodisiert und eingeteilt. Für die folgende Darstellung gehe ich davon aus, dass man grob vier Zyklen unterscheiden kann, denen sich jeweils  – ohne Anspruch auf Vollständigkeit  – die folgenden wichtigen Schriften zuordnen ­lassen: 1. Frühschriften (1794–1796): Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794) Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) 2. Natur- und Transzendentalphilosophie (1796–1801): Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797) Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) Von der Weltseele (1798) Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen (1799) Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder über den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (1799) System des transscendentalen Idealismus (1800) 3. Identitätsphilosophie (1801–1809): Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) Bruno oder über das natuerliche und goettliche Princip der Dinge (1802) Philosophie der Kunst (Vorlesung 1802–1803) Philosophie und Religion (1804) System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre. Eine Erläuterungsschrift der ersten (1806) Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur (1807) 4. Mittlere Periode der Freiheitsschrift und des Weltalterprojekts (1809–1820): Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) Clara – Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch (zwischen 1809 und 1812) Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) Weltalter-Entwürfe (erster Entwurf 1811)

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212 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 5. Erlanger Übergang und Spätphilosophie (1821–1854): Initia philosophiae universae (1820–1821) Darstellung des philosophischen Empirismus (1830) Philosophie der Offenbarung (Vorlesung 1841–1842) Philosophie der Mythologie (Vorlesung 1842)

Schellings gesamtes Werk ist von einer einheitlichen Fragestellung geprägt, die man so fassen kann: Wie geht das Absolute aus sich selbst heraus, ohne sich zu verlieren? Diese Grundfrage seiner Philosophie kann man folgendermaßen illustrieren. Irgendetwas existiert unbedingt, d. h. völlig unabhängig davon, dass irgendetwas anderes existiert, und damit insbesondere auch unabhängig davon, dass seine Existenz in einem Akt des Denkens begründet wäre. Nennen wir dasjenige, was unbedingt existiert, das Absolute. Nun existiert aber offensichtlich nicht nur das Absolute, sondern ebenfalls das Endliche, d. h., das Nicht-Absolute. Der endliche, philosophische Denker, der das Absolute erfasst, ist hierbei selbst als etwas nicht-Absolutes aufzufassen. Wenn das Absolute im Wissen eines endlichen, philosophischen Denkens erscheint, wie verhält sich dieses Wissen dann zum Absoluten selbst? Verändert sich das Absolute dadurch, dass es in Beziehung tritt? Denn als das Absolute, Unbedingte, scheint es den bedingten Verhältnissen schlechterdings entgegengesetzt zu sein. Doch schon der Gedanke einer solchen Entgegensetzung, mittels dessen man versuchen könnte, das Absolute zu fassen, wird ihm womöglich nicht gerecht. Um diesen Problemkomplex zu bearbeiten, entwickelt Schelling im Laufe seiner produktiven Laufbahn eine Vielzahl von Modellen bzw. systematischen Ansätzen, die es erlauben, dem Absoluten eine Geschichte zu attestieren. Der gemeinsame Nenner all dieser verschiedenen Anläufe und Durchführungen besteht darin, dass Schelling das Absolute stets dynamisiert, indem er die Erfassung des Absoluten als seine Selbsterfassung versteht: Indem wir uns dem Absoluten zuwenden, wird eine Beziehung hergestellt, von der das Absolute abhängt. Da das Absolute nur von sich selbst abhängen kann, wird der Akt seiner Erfassung in ihm selbst installiert. Die Geschichte der Erfassung des Absoluten ist deswegen für Schelling letztlich immer eine Geschichte seiner Selbsterfassung. Im Folgenden wird es darum gehen, die Grundzüge der verschiedenen Antwortstrategien auf die Hauptfrage Schellings als Leitfaden meiner Darstellung vorzustellen, wobei ich mich an der hier vorgeschlagenen Werkeinteilung orientieren werde.

Frühschriften (1794–1796) Der frühe Schelling ist in den Diskussionskontext um eine prinzipientheoretische Begründung des kantischen Systemgedankens einzuordnen. Wie Fichte in etwa zeitgleich, arbeitet er an einer Tieferlegung von Karl Leonhard Reinholds Projekt einer Elementarphilosophie, welche die Struktur unserer objektiven Bezugnahme auf Wirkliches, d. h.

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II. Werkstruktur 213 Intentionalität oder Bewusstsein, als methodischen Ausgangspunkt der Philosophie etabliert. Die philosophisch bedeutsamsten Schriften dieser Zeit sind Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794) sowie Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). In Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt entwickelt Schelling einen Vorschlag bezüglich des Form-Inhalt-Problems. Wie ist es möglich, dass es Wissenschaft überhaupt und Wissenschaften im Plural gibt? Wenn es Wissenschaften im Plural gibt, dann müssen sich diese durch irgendetwas voneinander unterscheiden und gleichzeitig etwas gemeinsam haben. Jede Einzelwissenschaft ist Wissenschaft und jede unterscheidet sich von jeder anderen. Schelling drückt sich so aus, dass jede Wissenschaft einen „Grundsatz“3 hat. Sofern es nun eine Wissenschaft gibt, in der diese Aussage über Wissenschaften getroffen werden kann, handelt es sich bei dieser um die Philosophie. Doch wie verhält sich der Grundsatz der Philosophie zu den Grundsätzen der anderen Wissenschaften? Um dieses Verhältnis zu klären, nimmt Schelling an, dass es einen unbedingten Grundsatz geben muss, d. h. einen Grundsatz, der nicht mehr von einem anderen Grundsatz abhängt. Die Grundsätze der verschiedenen Wissenschaften hängen zumindest begrifflich davon ab, dass es einen Begriff der Wissenschaft gibt, den alle Wissenschaften instanziieren. Doch der Grundsatz, zu dem es gehört, dies auszusagen, kann damit in dieser Hinsicht allenfalls von sich selbst abhängen. In diesem Sinne ist er unbedingt. Der unbedingte Grundsatz ist ein „Cirkel“ (HGS I/1, 271; SW I/1, 92, Anmerkung 1). Allerdings, aber ein solcher, der nur dann vermeidlich wäre, wenn es gar nichts absolutes im menschlichen Wissen gäbe. Das absolute kann nur durch das absolute gegeben seyn. Es giebt ein Absolutes, nur weil es ein Absolutes (A – A) giebt. (HGS I/1, 271; vgl. SW, I/1, 92, Anmerkung 1)

„Das Absolute“ ist hier der Titel für den „Grundsatz aller Grundsätze“ (HGS I/1, 278; SW I/1, 95), d. h. für den Begriff der Wissenschaft überhaupt, der in der Philosophie entwickelt wird, deren Subjekt und Objekt die „Urform des menschlichen Wissens“ (HGS I/1, 271; SW, I/1, 92, Anmerkung 1) ist. Schelling bezeichnet das menschliche Wissen in dieser seiner Urform als „Ich“ und schließt sich mutatis mutandis Fichte an, wenn er den obersten Grundsatz als „Ich ist Ich“ (HGS I/1, 280; SW I/1, 97) bezeichnet. Form und Inhalt koinzidieren hier: Wenn wir wissen, worin Wissen im Allgemeinen besteht, tritt das Wissen als Inhalt in seine eigene Form ein. Folgen wir an dieser Stelle zu 3

Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Schellings, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg v. Jörg Jantzen, Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs u. Siegbert Peetz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1976 ff., Bd. I/1, S. 269. (Im Folgenden im Text unter der Sigle HGS zitiert) / Sämmtliche Werke Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings, hg. v. Karl F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg, 1856–1861, Bd. I/1, S.90. (Im Folgenden im Text unter der Sigle SW zitiert).

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214 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Illustrationszwecken der heute üblichen Darstellungsform, die als Paradigma des (propositionalen) Wissens die Formel „S weiß, dass p“ anführt. Nun sei „S“ ein Ich, also: „Ich weiß, dass p“. Wenn ich weiß, dass ich etwas weiß, dann haben wir „Ich weiß, dass ich weiß, dass p“. Mein Wissen meines Wissens hat Wissen zum Inhalt. Es hat dabei die Form des Wissens. Diese Struktur nennt Schelling „eine Form des absoluten Geseztseyns“ (HGS I/1, 280; SW I/1, 97). In diesem Zusammenhang kann man das von den nachkantischen Idealisten, aber auch schon bei Kant selbst gebräuchliche Verb „setzen“ als Festlegung auf eine Wahrheit, d. h. als Wahrheitsanspruch, verstehen. Wer etwas weiß, ist auf die Wahrheit einer Proposition festgelegt. Wer von sich selbst weiß, dass er etwas weiß, ­bewegt sich damit in einem „Kreis“, „in den wir hier unvermeidlich gerathen“, der aber „gerade Bedingung der absoluten Evidenz des obersten Satzes“ ist ( HGS I/1, 280; SW I/1, 97). Der zweite Grundsatz ergibt sich daraus, dass mit der Proposition „p“ ein Rest gegeben ist, der sich niemals endgültig durch eine weitere Einsetzung von „Ich weiß, dass p“ für „p“ eliminieren lässt. Ansonsten käme es nicht zu einem Zirkel, sondern zu einem infiniten Regress und es gelänge niemals, von sich selbst zu wissen, dass und wie man etwas weiß. Der zweite Grundsatz lautet: „Nichtich ist nicht Ich (Nichtich > Ich)“ (HGS I/1, 281; SW I/1, 98). Er besagt, dass es im Ich, d. h. in der Form des Wissens, etwas gibt, was nicht die Form des Wissens ist, d. h. einen Inhalt. Der Inhalt ist „p“. Doch wie verhalten sich Form und Inhalt zueinander? Wie kommt der Inhalt in die Form, d. h. wie eignet sich ein gegebenes Ich, ein Denker eines Gedankens, der mit einem behauptenden Urteil Wissen beansprucht, einen Inhalt an, der nicht notwendigerweise mit dem Denken selbst identisch sein kann? Dies soll „nun ein dritter Grundsatz“ (HGS I/1, 283; SW I/1, 99) beantworten, „welcher die Theorie des Bewußtseyns und der Vorstellung unmittelbar begründet“ (HGS I/1, 283; SW I/1, 99). Der dritte Grundsatz entspricht dem Begriff objektiver, epistemischer Bezugnahme, d. h. derjenigen Form von Intentionalität, dank derer wir imstande sind, Wissensansprüche sowohl über Wissensansprüche als auch über Sachverhalte anzumelden, die selbst keine Wissensansprüche, sondern Einsetzungen für „p“ sind, welche den Regress anhalten. Nachdem er die Grundsätze skizziert hat, entwickelt Schelling im Rest der Schrift Ableitungen einiger kantischer Kategorien aus der von ihm postulierten und begründeten Urform des Wissens (HGS I/1, 293–297; SW I/1, 107–110), was hier nicht mehr im Einzelnen erörtert werden kann. Abschließend sei noch auf ein bemerkenswertes Ergebnis hingewiesen, auf das Schelling kommt, und das ihn schon 1794 in eine noch nicht voll artikulierte Opposition zu Fichtes gleichzeitigen Versuchen bringt. Die „Urform aller Philosophie“ sieht er nämlich nicht in der „Form der Identität“, sondern im „unbedingten Geseztseyn[] überhaupt“ (HGS I/1, 296; SW I/1, 109), was dazu führt, dass er von vornherein dazu neigt, das Ich als ein Absolutes aufzufassen, dessen egologischer Charakter eliminier-

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II. Werkstruktur 215 bar ist, ein Thema, das zu einer langen Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling führen wird. Dieses Thema entfaltet Schelling – weiterhin in nicht ganz expliziter Abkehrbewegung von Fichte – kurze Zeit später weiter in Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), auch als Ich-Schrift bekannt. Wieder schließt er sich dem nachkantischen Projekt an, Kants Vernunftkritik auf höhere Prinzipien zu gründen, um die Kategorientafel auf eine Prinzipientheorie zurückzuführen, die Kant selbst nicht liefert. Schelling postuliert dabei, ähnlich wie 1794, dass es ein oberstes Prinzip geben müsse, von dem er nun angibt, dass es „schlechterdinges nicht objectiv seye, und doch die gesammte Philosophie begründe“ (HGS I/2, 74; SW I/1, 155). Neu ist nun der Gedanke, dass es „im Universum des Wissens“ (HGS I/2, 85; SW I/1, 162) einen „Urgrund aller Realität“ (HGS I/2, 85; SW I/1, 162) geben müsse, den Schelling erneut als „das Absolute“ bezeichnet (HGS I/2, 86; SW I/1, 163). Das Absolute liegt nun im menschlichen Wissen als etwas vor, das jedem spezifischen Wissen vorausliegt. Giebt es überhaupt ein Wissen, so muß es ein Wissen geben, zu dem ich nicht wieder durch ein anders Wissen gelange, und durch welches allein alles andre Wissen Wissen ist. Wir brauchen nicht eine besondre Art von Wissen vorauszusezen, um zu diesem Saze zu gelangen. Wenn wir nur überhaupt etwas wissen, so müssen wir auch Eines wenigstens wissen, zu dem wir nicht wieder durch ein andres Wissen gelangen, und das selbst den Realgrund alles unsers Wissens enthält. (HGS I/2, 85; SW I/1, 162–163)

Dieser Realgrund kann dabei kein gewöhnlicher Gegenstand, kein Ding sein, von dem man etwas weiß. Denn kein gegebenes Ding ist der Grund dafür, dass wir überhaupt etwas wissen. Etwas ist ein gegebenes Ding, ein Gegenstand unseres Wissens, nur im Hinblick darauf, dass wir uns auf es ausrichten. Das Ding mag als Ding von dieser unserer Ausrichtung an sich unabhängig sein, aber, sofern es eben gewusst wird, steht es in einer Relation zu dem Wissensanspruch, der es, wie Schelling sagt, bedingt. Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesezt seyn kann, d. h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nemlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann. Das Problem also, das wir zur Lösung aufstellten, verwandelt sich nun in das Bestimmtere, etwas zu finden, das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann. (HGS I/2, 89; SW I/1, 166)

Dem Wortlaut nach folgt Schelling zwar weiterhin Fichte, wenn er das Unbedingte als „ein absolutes ich“ (HGS I/2, 90; SW I/1, 167) bezeichnet. Doch macht er sogleich darauf aufmerksam, dass das Unbedingte „weder im Ding überhaupt, noch auch in dem, was zum Ding werden kann, im Subject“ (HGS I/2, 90; SW I/1, 166) liegen kann. Es ist also

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216 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling weder Subjekt noch Objekt, was die Beschreibung als Ich erschwert, ja bereits implizit überschreitet. Und so kommentiert Schelling den unbedingten Satz „Ich bin, weil Ich bin“ (HGS I/2, 90; SW I/1, 167) auch in einer über Fichte hinausweisenden Weise: Ich bin! Mein Ich enthält ein Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorhergeht. Es ist, indem es gedacht wird, und es wird gedacht, weil es ist; deßwegen, weil es nur insofern ist, nur insofern gedacht wird, als es sich selbst denkt. (HGS I/2, 90; SW I/1, 167)

Diese Selbstbeziehung eines Seins, das sich selbst denkt, überführt Schelling sodann in den Begriff des Absoluten, das er im Vorgriff auf spätere Themen seines Werks schon als „Freiheit!“ (HGS I/2, 101; SW I/1, 177) anspricht, die er für den „Anfang und das Ende aller Philosophie“ (HGS I/2, 101; SW I/1, 177) hält. Das Absolute ist in seiner Selbstbeziehung nur „in einer intellectualen Anschauung bestimmbar“ (HGS I/2, 106; SW I/1, 181), womit Schelling sich auf einige Passagen bei Kant stützt und auf das Seinsbewusstsein des Ichs abhebt.4 Im Gedanken des absoluten Ichs soll man eine Form der Identität erfassen, die sich nur selbst erfassen kann, da sie ansonsten bereits durch die Erfassung bedingt und damit nicht mehr das Absolute wäre. Schelling nennt dies, auf Tuchfühlung mit Hölderlins Einsicht aus einem vieldiskutierten Text „Urtheil und Seyn“5, „Seyn“ (HGS I/2, 137; SW I/1, 209) und unterscheidet dieses insbesondere von Dasein und Wirklichkeit. Der Gedanke des Seins, das Seinsbewusstsein, besteht darin, sich als mit dem Absoluten identisch zu erkennen, weil es in unserer Erfassung nur als Selbsterfassung erkannt werden kann – ansonsten wäre es kein Absolutes, sondern ein gewöhnlicher Gegenstand. Die Ich-Schrift behandelt ausführlich das Thema der Kategoriendeduktion aus dem Gedanken eines reinen Gesetztseins, d. h. im Hinblick auf unser Vermögen, Wahrheitsansprüche zu erheben und im Idealfall der intellektuellen Anschauung, d. h. der Selbsterfassung des Absoluten, auch einzulösen. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787, in: Kants Werke, Bd. III, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Photomechanischer Nachdruck, Berlin, 1968 – KrV, B XL: „Wenn ich mit dem intellektuellen Bewußtsein meines Daseins, in der Vorstellung Ich bin, ­welche alle meine Urteile und Verstandeshandlungen begleitet, zugleich eine Bestimmung meines Daseins durch intellektuelle Anschauung verbinden könnte, so wäre zu derselben das Bewußtsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir nicht notwendig gehörig.“; Vgl. auch KrV, B 157: „Dagegen bin ich mir ­meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir ­erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.“; KrV, B 277: „Freilich ist die Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann, das, was unmittelbar die Existenz eines Subjekts in sich schließt, aber noch keine Erkenntnis desselben, mithin auch nicht empirische, d. i. Erfahrung; denn dazu g­ ehört, außer dem Gedanken von etwas Existierendem, noch Anschauung und hier innere, in Ansehung deren, d. i. der Zeit, das Subjekt bestimmt werden muß, wozu durchaus äußere Gegenstände erforderlich sind, so, daß folglich innere Erfahrung selbst nur mittelbar und nur durch äußere möglich ist.“ 5 Friedrich Hölderlin, „Urtheil und Seyn“, in: Stuttgarter Hölderlin Ausgabe, Bd. 4.1, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart, 1961, S. 216 f.

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II. Werkstruktur

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Dabei entwickelt Schelling eine bisher weniger beachtete praktische Philosophie, die eine „unendliche Annäherung“ (HGS I/2, 128; SW I/1, 201) des endlichen Ichs an das Absolute als Quelle aller Normativität, als „[d]as lezte Ziel des endlichen Ichs“ (HGS I/2, 128; SW I/1, 200), bestimmt. Wir sollen uns der intellektuellen Einsicht unserer Freiheit nähern, was allerdings zu dem paradoxen Resultat führt, dass der „Endzwek der Welt […] ihre Zernichtung, als einer Welt, d. h. als eines Innbegriffs von Endlichkeit (des endlichen Ichs und des Nicht–Ichs)“ (HGS I/2, 128; SW I/1 200–201) ist. Paradox ist dieses Resultat insofern, als es Schelling letztlich nicht gelingt, das Endliche als konstitutives Element der Selbsterfassung des Absoluten einzustufen, sodass eine Kluft bestehen bleibt, die das Absolute vom Endlichen trennt. Doch damit steht das Absolute in einer Relation mit dem Endlichen und wird somit zumindest in der Optik, welche die Philosophie selbst einnimmt, wider Willen als Gegenstand bestimmt und damit verdinglicht. Zwar überschreitet Schelling den Gedanken des Absoluten als Ich bereits an einigen Stellen im Hinblick auf ein Sein, das nicht durch einen egologischen Zusatz modifiziert ist. Doch gelingt es ihm in dieser Phase noch nicht, sich ganz von Fichtes Vokabular und seiner Begründungsproblematik freizusagen, was darin resultiert, dass das Absolute in seiner Entgegensetzung zur Sphäre der Endlichkeit ipso facto verendlicht wird. Damit bleibt die Frage: „wie kommt das absolute Ich dazu, aus sich selbst herauszugehen, und sich ein Nicht-Ich schlechthin entgegenzusezen?“ (HGS I/2, 99; SW I/1 175) in dieser Frühphase der Transzendentalphilosophie unbeantwortet.

Natur- und Transzendentalphilosophie (1796–1801) Ab 1796 kommt es philosophisch und persönlich allmählich zum immer offeneren Bruch mit Fichte, was später zum sogenannten Anti-Fichte führt, d. h. zu Schellings teils polemischer Ablehnung von Fichtes späterem Versuch, die Wissenschaftslehre mittels eines ontologischen Vokabulars gegen Schellings wiederholt vorgetragenen Einwand zu verteidigen, dass sich das Absolute nicht egologisch erfassen lässt.6 In der Sache entwickelt Schelling nach seinen Frühschriften zwei Themen weiter: Einerseits befasst er sich mit der Frage, wie sich das Absolute in unserem Wissen finden lässt. Andererseits vertritt er dabei nun die Position, dass der nicht-ichliche Teil der Wirklichkeit, die Natur, auf unsere Erfassung der Natur als Manifestation des Absoluten zuläuft. In den Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797) bringt Schelling dies folgendermaßen auf den Punkt:

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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre. Eine Erläuterungsschrift der ersten, in: SW I.7, S. 1–130. Die Abwendung Schellings von Fichte wird systematisch in Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt a. M., 1985, nachgezeichnet.

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218 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Die Frage ist nicht, ob und wie jener Zusammenhang der Erscheinungen und die Reihe von Ursachen und Wirkungen, die wir Naturlauf nennen, außer uns, sondern wie sie für uns wirklich geworden, wie jenes System und jener Zusammenhang der Erscheinungen, den Weg zu unserm Geiste gefunden, und wie sie in unserer Vorstellung die Nothwendigkeit erlangt haben, mit welcher sie zu denken wir schlechthin genöthigt sind? (HGS I/5, 84–85; SW I/2, 29–30)

Dieses Problem ergibt sich aus einer Überlegung, mittels derer Schelling das Kausalitätsproblem bei Hume und Kant mit den metaphysischen Ansätzen Newtons, Leibniz’ und Spinozas vermitteln möchte. Das Kausalitätsproblem besteht darin, dass die Naturerscheinungen, die wir als etwas betrachten, das von uns unabhängig stattfindet, einen „Zusammenhang der Dinge“ (HGS I/5, 74; SW I/2, 17) bilden, in den wir als bewusste Beobachter dieses Zusammenhangs nicht hineinzupassen scheinen. Der „Naturlauf “ (HGS I/5, 84; SW I/2, 30) bildet eine Abfolge, eine „Succession der Erscheinungen“ (HGS I/5, 85; SW I/2, 30), die wir aus einer endlichen Perspektive nachvollziehen. Der Nachvollzug der Sukzession lässt sie erklärbar und in diesem Sine als „schlechthin ­nothwendig“ (HGS I/5, 85; SW I/2, 30) erscheinen. Doch damit scheint Raum zu bestehen für die Annahme, dass die Notwendigkeit, d. h. die Gesetzesförmigkeit der Abfolge der Erscheinungen, nur ein induktives Artefakt unserer Theoriebildung ist, eine Position, für die bis heute Hume steht.7 Es hilft dann nicht weiter, sich Kant anzuschließen und unserem Vermögen der Naturerklärung zu attestieren, dass es Erscheinungen beobachtet, die gesetzesförmig sind, neben denen es aber noch Dinge an sich gibt, die nicht kausal eingebettet sind, weil dies immer wieder zu dem Problem führt, dass die Dinge an sich kausal an der Naturfolge beteiligt sein müssen, sodass man letztlich wieder auf eine modifizierte Hume’sche Position zurückfällt, wie Jacobi und andere nachkantische Skeptiker gegen Kant deutlich gemacht haben.8 Wenn nun aber die Sukzession unserer Vorstellungen nicht nur subjektiv notwendig, also zurückführbar auf unser Erkenntnisvermögen ist, sondern auch objektiv notwendig sein, d. h. für die Wirklichkeit als solche gelten soll, liegt es nahe, den Gordischen Knoten durchzuschlagen und unsere Vorstellungen als irreduziblen Teil der Natur zu betrachten. Doch dies bedeutet wiederum nicht, dass wir uns nahtlos in die Naturfolge einreihen und unsere Vorstellungen etwa, wie in der jüngeren Philosophie des Bewusstseins immer wieder vorgeschlagen, irgendwie auf eine „Affektion eurer Nerven, eures Gehirns u. s. w.“ (HGS I/5, 81; SW I/2, 26) reduziert werden könnten. Modelle dieser Form übersehen, dass sie nicht erklären können, wie wir den Zusammenhang der Dinge erklären können, weil sie uns einfach in einem metaphysischen Hau7 8

Zur Einführung in das Thema Andreas Hüttemann, Ursachen, 2. Aufl., Berlin, 2018. Eine wegweisende Positionierung findet man bei Huw Price, Time’s Arrow and Archimedes’ Point. New Directions for the Physics of Time, Oxford/New York, 1996; ders., Naturalism Without Mirrors, Oxford/New York, 2011. Friedrich H. Jacobi, David Hume oder über den Glauben oder Realismus und Idealismus (1787), Werke, Bd. 2, hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske, Hamburg, 2004, S. 5–112. Dazu systematisch ­Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, 4. Aufl., Freiburg/ München, 2014, S. 254–280, insbesondere S. 277–280.

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II. Werkstruktur 219 ruckverfahren in diesen eingliedern. Doch damit verschwindet die epistemische Position, von der aus wir Wissensansprüche erheben und Modelle entwickeln, die angesichts der Erscheinungen explanatorische Kraft haben.9 Dagegen setzt Schelling den Versuch, aus der Natur unsers, und in so fern des endlichen Geistes überhaupt die Nothwendigkeit einer Succession seiner Vorstellungen abzuleiten, und damit diese Succession wahrhaft objektiv seye, die Dinge selbst zugleich mit dieser Aufeinanderfolge in ihm werden und entstehen zu lassen. (HGS I/5, 89; SW I/2, 35)

Dieser Versuch entspricht dem Begriff der Naturphilosophie, derzufolge Philosophie „nichts anders“ sein soll, „als eine Naturlehre unsers Geistes.“ (HGS I/5, 93; SW I/2, 39) Allerdings wirft dies die Frage auf, inwiefern diese Position letztlich naturalistisch im Sinne einer Theoriebildung wird, die alles Wissen an die Naturwissenschaften delegiert, womit wiederum eine Reduktion der Theorieposition auf die von uns unabhängige Wirklichkeit droht – eine Position, die Schelling selbst immer wieder unter dem Titel des „Dogmatismus“ kritisiert und die er, wie seine Zeitgenossen, üblicherweise Spinoza in die Schuhe schiebt. Darauf antwortet er, indem er annimmt, dass es etwas gibt, „was ganz außerhalb der Gränzen der Naturforschung liegt“ (HGS I/5, 102; SW I/2, 50), nämlich „Geist“. Dieser Ausdruck bezeichnet die Funktionsstelle eines „höhere[n] Princip[s], in welchem selbst Körper und Seele wieder identisch sind.“ (HGS I/5, 105; SW I/2, 53), eine Annahme, die Schelling in jüngerer Terminologie wohl in die Theorielinie des neutralen Monismus einreihen würde.10 Die Aufgabe der Naturphilosophie besteht darin, die Grundstruktur der naturwissenschaftlich erforschbaren Erscheinungswirklichkeit im Hinblick darauf zu untersuchen, dass sie uns theoretisch zugänglich, d. h. für uns erkennbar, erklärbar, kurzum: verständlich ist.11 Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen. Das letzte Ziel unserer weitern Nachforschung ist daher diese Idee der Natur; gelingt es uns, diese zu erreichen, so können wir auch gewiß seyn, jenem Probleme Genüge gethan zu haben. (HGS I/5, 107; SW I/2, 56)

Vgl. dazu Markus Gabriel, Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin, 2016, S. 235–239. 10 Vgl. dazu die Diskussion in Michael Blamauer, Subjektivität und ihr Platz in der Natur. Untersuchung zu Schellings Versuch einer naturphilosophischen Grundlegung des Bewusstseins, Stuttgart, 2006. 11 Thomas Nagel, Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, Oxford, 2012, S. 18: „The largest question within which all natural science is embedded is also the largest question of philosophy – namely, in what way or ways is the world intelligible?“

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220 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Allerdings entsteht an dieser Stelle der Verdacht, dass die absolute Identität, die Natur und Geist verbindet, nicht in den Gegenstandsbereich der Untersuchung fallen kann, jedenfalls solange nicht, wie der Geist nicht aus der Natur ableitbar ist, deren Erkennbarkeit die Naturphilosophie garantieren soll. Es lohnt sich, dass wir uns nun mit Blick auf dieses Problem den Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen (1799) ansehen. Dort hat nämlich ein Übergang stattgefunden, der das tiefe Zerwürfnis von Schelling und Fichte endgültig dokumentiert. Gleich zu Beginn stellt Schelling fest, dass die Natur als Gegenstand der Philosophie das Unbedingte ist, das Schelling als „das Seyn selbst“ (HGS I/7, 77; SW I/3, 11) bezeichnet. Dieses „Sein selbst“ ist keineswegs die vorliegende Erfahrungswirklichkeit, die natura naturata, wie Spinoza sagt.12 Die Natur als das Unbedingte schafft sich in unserer Theoriekonstruktion selbst als etwas, das sich in Produkten (Naturerscheinungen) ausdrückt, ohne jemals vollständig als ein Gegenstand einer Untersuchung, als Natur insgesamt oder gar als raumzeitliches Gesamtgefüge existieren zu können. „Die Natur EXISTIRT als Product nirgends, alle einzelnen Producte in der Natur sind nur Scheinproducte, nicht das absolute Product, in welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer wird und nie ist.“ (HGS I/7, 81; SW I/3, 16)13

In radikaler Opposition zu Fichte postuliert Schelling damit sowohl die „Autonomie“ als auch die „Autarkie der Natur“ (HGS I/7, 81; SW I/3, 17), d. h. eine Selbstbezüglichkeit, die darin kulminiert, dass eines ihrer Produkte, der Mensch, imstande ist, sich selbst als Natur, d. h. als autonome Selbstproduktion, zu erkennen. Doch damit tritt genau dasjenige Problem ins Zentrum, das sich aus dem Postulat einer absoluten Identität ergibt, die Geist und Natur verbindet. Jetzt ist es in die Natur selbst verlagert, die einerseits reines Produzieren (natura naturans), andererseits aber auch eine Reihe von Scheinprodukten (natura naturata) sein soll. Denn damit „muß in der Natur eine ursprüngliche Dualität schlechthin vorausgesetzt werden.“ (HGS I/7, 81; SW I/3, 16) Wie vermeidet Schelling einen Rückfall in einen metaphysischen Dualismus, der die Natur selbst in zwei Aspekte spaltet, die wie Geist und Natur einer höheren Vereinigung bedürfen? 12 Benedictus de Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta, in: Opera, Bd. 2, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Carl Gebhardt, Heidelberg, 1925 (Nachdruck 1973), S. 41–308, hier: Prop. 29, Scholium: „Per [naturam; Ergänzung M.G.] naturatam autem intelligo id omne, quod ex necessitate Dei naturae sive uniuscujusque Dei attributorum sequitur, hoc est omnes Dei attributorum modos, quatenus considerantur ut res, quae in Deo sunt et quae sine Deo nec esse nec concipi possunt.“ 13 Vgl. dazu die jüngeren systematischen Ansätze im Ausgang von diesem Gedanken Schellings bei Iain Hamilton Grant, Philosophies of Nature after Schelling, London, 2008; ders., „Does Nature Stay What it Is?“, in: The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, hg. v. Levi Bryant, Graham ­Harman u. Nick Srnicek, Melbourne, 2010, S. 66–83; ders., „The Remains of the World. Grounds and Powers in Schelling’s Later Naturphilosophie“, in: Schelling Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen Philosophie 1, 2013, S. 3–24.

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II. Werkstruktur 221 Darauf antwortet er u. a. in der Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder über den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (1799). Zwar tritt uns die Natur in der Naturphilosophie dual entgegen: Einerseits als absolute Produktion, die niemals stillgestellt werden kann, andererseits als eine Reihe von Produkten, Naturdingen. Doch damit dieser Gegensatz selbst als etwas existiert, das in der beobachtbaren Natur wirksam, d. h. eben echter Teil der Natur ist, muss der Gegensatz selbst als ein Produkt erscheinen. Die Natur produziert den Unterschied von Produktion und Produkt und überwindet ihn dadurch, dass sie gesetzesförmig wird, also die Form der Produktion in jedem Produkt reproduziert. Im Wechsel der Erscheinungen bestätigt sich die Gesetzesförmigkeit der Natur, die unabhängig von diesem Wechsel keine Existenz hat. Schelling bezeichnet diesen Vorgang als „Streben nach Identität“ (HGS I/8, 63; SW I/3, 309). Er geht aber noch weiter, weil die Gesetzesförmigkeit als Produkt einer Reproduktion selbst etwas ist, was nach Identität strebt, einer Identität, die allerdings von derjenigen unterschieden werden kann, welche die Produkte anstreben, die sozusagen entropie­ gesteuert immer wieder in ihre weniger strukturierte Umgebung zurückfallen. Diese Identität, die nur erreicht werden kann, indem der Wechsel selbst Teil seiner eigenen Produkte wird, nennt Schelling „Indifferenz“ (HGS I/8, 63; SW I/3, 309), d. h. eine Identität, die in der Differenz, In-Differenz, ist. Identität aus Differenz hervorgegangen ist Indifferenz, jenes Dritte also ein Streben nach Indifferenz, das durch die Differenz selbst, und wodurch hinwiederum diese bedingt ist. – (Die Differenz ist als Differenz gar nicht aufzufassen, und ist nichts für die Anschauung, als durch ein Drittes, was sie erhält – woran der Wechsel selbst haftet.) (HGS I/8, 63; SW I/3, 309).

Die Differenz lässt sich niemals auflösen, weil ansonsten ein Zustand der Natur erreicht wäre, in dem nichts weiter produziert werden kann, was aber die Unbedingtheit der Natur, d. h. ihre Produktivität, aufhöbe. Käme das Universum jemals an ein dinghaftes Ende (indem etwa der entropische Kältetod zu einem eingefrorenen, zeitlosen Gesamtding führte), müsste dieses Ding seinerseits ständig reproduziert werden, was die Annahme verletzt, die Natur sei in einem solchen Endzustand gleichsam in sich selbst kollabiert. Der absolute Indifferenzpunct existirt nirgends, sondern ist auf mehrere einzelne gleichsam vertheilt. – Das Universum, das sich vom Centrum gegen die Peripherie bildet, sucht den Punct, wo auch die äußersten Gegensätze der Natur sich aufheben; die Unmöglichkeit dieses Aufhebens sichert die Unendlichkeit des Universums. (HGS I/8, 66; SW I/3, 312)

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222 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Damit sind bereits drei metaphysische Grundbegriffe im Spiel, die Schelling im Laufe seiner Entwicklung verschieden sortieren wird: Identität, Differenz und Indifferenz. Diese Begriffe dienen dazu, den monolithischen Begriff des Unbedingten, des Absoluten, gleichsam zu spalten und durch diese Operation eine Dynamik an die Stelle des Gedankens zu setzen, das Absolute sei irgendwie dem Endlichen entgegengesetzt, wodurch es etwas Endliches würde. Im Kontext der Naturphilosophie bedeutet dies, dass die Annahme des neutralen Monismus, es gebe etwas, das Natur einerseits und Geist andererseits als Aspekte seiner selbst habe, dadurch dynamisiert werden soll, dass innerhalb der Natur eine Aspektdifferenz von Produktion und Produkt erscheint. Diese immanente Aspektdifferenz kann in der Natur allerdings nicht als Dualität stehen bleiben, weil die Naturprodukte ansonsten in keiner Weise kausal mit ihren Produktionsbedingungen verbunden wären, ein Gedanke, den übrigens Hegel später ausführlich als „Spiel der Kräfte“ in der Phänomenologie des Geistes entfalten wird.14 Kurzum, Naturgesetze können die Naturerscheinungen nur erklären, wenn sie selbst kausal wirksam sind, was aber nicht bedeuten kann, dass sie einfach nur ein Ding unter Dingen sind. Denn ein Ding unter Dingen zu sein, verleiht ihnen noch nicht den modalen Status der Notwendigkeit. Daher nimmt Schelling an, dass die Naturgesetze durch das Verhalten der Naturerscheinungen immer wieder bestätigt, reproduziert werden. Die Natur bringt ihre eigenen Gesetze hervor, sie ist autonom und autark, sie bedarf keines externen Gesetzgebers, weder eines Gottes am Anfang der Welt noch eines menschlichen Verstandes, der der Natur die Gesetze vorschreibt. Dennoch kann es nicht bei einer Dualität von Produktion und Produkt bleiben, wenn diese Dualität dynamisch sein soll. Deswegen strebt das Produkt danach, sich in seine Umgebung aufzulösen und die Umgebung umgekehrt danach, Struktur zu bilden. Entropie und Negentropie sind beide Manifestationen eines Strebens. Denn Entropie ist ein Streben nach Identität, nach Zerstreuung von Struktur in strukturärmere Verhältnisse. Negentropie ist hingegen ein Streben der Umgebung nach Strukturbildung, d. h. nach Differenz. Damit tritt die Identität in die Differenz ein, was das Streben nach Indifferenz ausmacht. Die Natur kann auf diese Weise in keinem finalen Zustand, weder in einem immanenten Anfangs- noch in einem Endzustand, kulminieren, sie ist niemals, sondern wird immer. Allerdings hat diese auf Platons Timaios zurückgehende Theoriebildung, die Schelling als „spekulative Physik“ bezeichnet und für die er eine eigene Zeitschrift gegründet hat, ein Manko, das von Fichte sowie später auch immer wieder von Hegel namhaft ge-

14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede u. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf/Hamburg, 1980, S. 86–102.

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II. Werkstruktur 223 macht wurde.15 Es mag ja sein, dass die Natur eine metaphysische Dynamik aufweist, die es verständlich erscheinen lässt, wie das Absolute aus sich herausgeht, nämlich als Naturprozess, der weder Anfang noch Ende hat. So weit, so gut. Doch wie steht es nun um uns selbst als erkennende Lebewesen, die diesem Prozess beiwohnen und gleichzeitig Teil der Naturordnung sein sollen? Schelling selbst konzediert wohl schon 1797, dass hier eine Schwierigkeit vorliegt, wenn er feststellt: Es ist klar, daß unsere Philosophie ihren Kreislauf vollendet hat, nicht aber, daß wir über jenen Gegensatz, von dem wir ausgiengen, um das geringste klüger geworden sind, als wir es anfangs waren. Wir lassen den Menschen zurück, als das sichtbare, herumwandernde Problem aller Philosophie, und unsere Kritik endet hier an denselben Extremen, mit welchen sie angefangen hat. (HGS I/5, 105; SW I/2, 54)

Gerade weil sich Schelling, wie man anhand jeder einzelnen Schrift zur Naturphilosophie belegen kann, dieses epistemologischen Problems bewusst war, kann man das System des transscendentalen Idealismus (1800) als Korrektiv des naturphilosophischen Ansatzes betrachten. Denn dort geht es ihm darum, die Dimension des Geistes als etwas zu charakterisieren, was in seiner partiellen Unabhängigkeit von der Natur einer Eigendynamik untersteht, die es erlaubt, dass wir unsere Erkenntnisfähigkeit von der Natur vindizieren und damit den Ausgangspunkt einer Naturphilosophie transzendentalphilosophisch rechtfertigen. Das System des transscendentalen Idealismus gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Schriften Schellings. Insbesondere kann es zu Recht als wichtiger Wegbereiter von Hegels Projekt einer Phänomenologie des Geistes betrachtet werden, in dem Schelling den auf Kant und vor allem Fichte zurückgehenden Gedanken einer „fortgehende[n] Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient“ (HGS I/9.1, 25; SW I/3, 331), entwickelt. Wie später Hegel erlegt sich Schelling einen hohen methodologischen Standard auf, um „den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen“ (HGS I/9.1, 24; SW I/3, 331). Es kam um diese Geschichte genau und vollständig zu entwerfen hauptsächlich darauf an, die einzelnen Epochen derselben und in denselben wiederum die einzelnen Momente nicht nur genau zu sondern, sondern auch in einer Aufeinanderfolge vorzustellen, bey der man durch die Methode selbst, mittelst welcher sie gefunden wird, gewiß seyn kann, daß kein nothwendiges Mittelglied übersprungen seye, und so dem Ganzen einen innern Zusammenhang zu geben, an welchen keine 15 Für Texte Schellings aus der „Zeitschrift für spekulative Physik“ siehe HGS I/10; der gesamte Inhalt der Zeitschrift findet sich in Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zeitschrift für spekulative Physik, 2 Bde., hg. v. Manfred Durner, Hamburg, 2001–2002. Für Texte und Anzeigen der „Neuen Zeitschrift für spekulative Physik“ siehe HGS I/12.

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224 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Zeit rühren könne, und der für alle fernere Bearbeitung gleichsam als das unveränderliche Gerüste dastehe, auf welches alles aufgetragen werden muß. (HGS I/9.1, 25; SW I/3, 331)

Während die Naturphilosophie die Selbsterfassung der anscheinend von sich her nicht auf Wissen zugeschnittenen Wirklichkeit, der Natur, rekonstruiert, liefert die Trans­ zendentalphilosophie „ein nothwendiges Gegenstück“ (HGS I/9.1, 25; SW I/3, 332) zur Naturphilosophie, indem sie ein „System des gesammten Wissens“ (HGS I/9.1, 24; SW I/3, 330) darstellen soll. Es geht ihr damit um die Selbsterfassung des Wissens: Wie gelangen wir als Epistemologen, die sich mit dem Wissen selbst befassen, zum Begriff des Wissens? Dabei durchläuft das Wissen verschiedene „Epochen“, wie Schelling dies nennt, d. h. verschiedene Vermögen wie Anschauung, Empfindung, Reflexion im ersten theoretischen Teil und Selbstbestimmung, Wollen, Freiheit, Recht, Geschichte, moralische Weltordnung, Religion im praktischen Teil. Besonders viel Beachtung hat die Kulmination der Entwicklung der verschiedenen Schichten des menschlichen Wissens, seine buchstäbliche Ge-schichte, im Kunstwerk gefunden. Dort, wo bei Hegel später das absolute Wissen als Selbsterfassung unserer Fähigkeit, uns unserer epistemischen Vermögen bewusst zu werden, steht, verortet Schelling die Kunst, die er für die Manifestation der Verschmelzung von Subjektivität und Objektivität hält, die Wissen charakterisiert. Im Allgemeinen kann man die Problemlage der Transzendentalphilosophie, wie Schelling sie versteht, folgendermaßen rekonstruieren. Wenn wir etwas wissen, befinden wir uns damit paradigmatisch in Kontakt mit einer Wirklichkeit, die jedenfalls nicht offensichtlich dadurch hervorgebracht oder modifiziert wird, dass wir sie wissend erfassen. Wenn ich weiß, dass ich, sagen wir, in Zürich bin, dann bin ich nicht deswegen in Zürich, weil ich dies weiß, sondern eher ist es so, dass ich weiß, dass ich in Zürich bin, weil ich eben dort bin. In Zürich zu sein ist freilich nicht hinreichend, sondern nur notwendig dafür, von sich selbst zu wissen, dass man in Zürich ist. Man kann in Zürich sein, ohne dies zu wissen (indem man etwa durch Randgebiete fährt, ohne zu bemerken, dass man in Zürich ist). An dieser Stelle kommen unsere epistemischen Vermögen ins Spiel. Wer weiß, dass er in Zürich ist, kann angeben, woher er dies weiß. Man sieht es, indem man auf den Zürichsee zeigt, man erinnert sich daran, wie man eben am Bahnhof angekommen ist, man fragt jemanden, ob man hier schon in Zürich sei, usw. Wissensansprüche werden von Subjekten formuliert, die sie immer nur dadurch rechtfertigen können, dass sie irgendein Vermögen aktivieren, sei dies sinnliche Anschauung oder rein rationales Nachdenken. Aber woher wissen wir, welche Vermögen wir haben? Das können wir nicht ohne weiteres dergestalt angeben, dass wir davon ausgehen, unsere Vermögen lägen in derselben Weise, d. h. von uns unabhängig, vor wie die Tatsache, dass wir in Zürich sind. Dieser Umstand wirft ein Deduktionsproblem auf: Jede Angabe von Vermögen muss im eigentümlichen Modus einer höherstufigen Selbstzuwendung unserer Vermögens-

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II. Werkstruktur 225 architektur vorgenommen werden und ebendiese Selbstzuwendung nennt Schelling Transzendentalphilosophie. Die Transzendentalphilosophie ist dabei insofern mit dem Idealismus identisch, als es problematisch ist anzunehmen, dass die epistemischen Vermögen, die sich in der epistemologischen Analyse ihrer selbst versichern, von dieser Versicherung völlig unabhängig vorliegen, wie ein „Stück Lava im Monde“, um Fichtes berühmten Vergleich zu zitieren.16 Deswegen bedarf es einer besonderen Methode, um sicherzugehen, dass man einen Wissensanspruch hinsichtlich der Architektur von Wissensansprüchen rechtfertigen kann. Der Grundgedanke von Schellings Methode ist mit dem Systembegriff verbunden. Wissen lässt sich nur in einem System erfassen, d. h. nur dadurch, dass man eine Vermögensfolge entwickelt, die auf ihre Selbsterfassung, einen systemtheoretischen „reentry“17, zielt: „Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Ausgangspunct zurückgeführt ist.“ (HGS I/9.1, 328; SW I/3, 628) Epistemologische Systeme, so eine Grundeinsicht, die man bei Fichte, Schelling und Hegel immer wieder finden wird, sind konstitutiv zirkulär, was aber kein Begründungsfehler, sondern eine Theorietugend ist. Das höherstufige Wissen darum, was Wissen ist, ist selbst ein Fall des Wissens, was aber nicht gegen die in manchen Fällen gültige Auflage verstößt, dass ein ­gegebener Maßstab der Rechtfertigung nicht durch seine eigene Aktivierung gerechtfertigt werden kann. Man kann nicht sehen, dass man etwas sieht, und man kann die Wahrheit einer Aussage in einer Tageszeitung nicht dadurch belegen, dass man 16 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, in: Fichte Gesamtausgabe, Bd. I.2, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Hans Jacob u. Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1965, S. 326, Anmerkung: „Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten. Daher haben sie Kant nicht verstanden, und seinen Geist nicht geahndet; daher werden sie auch diese Darstellung, obgleich die Bedingung alles Philosophirens ihr an die Spitze gestellt ist, nicht verstehen. Wer hierüber noch nicht einig mit sich selbst ist, der versteht keine gründliche Philosophie, und er bedarf keine. Die Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne alle sein Zuthun in allen Geschäften leiten, die er auszuführen hat. Zum Philosophiren gehört Selbstständigkeit: und diese kann man sich nur selbst geben – Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber sollen auch nicht behaupten, daß das Auge sehe.“ 17 In Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2. Aufl., Heidelberg, 2004, bezeichnet Luhmann „reentry“ als den „Wiedereintritt[] der Form in die Form oder der Unterscheidung in das, was unterschieden worden ist“, was „aus zwei Komponenten besteht, nämlich der Unterscheidung selbst und der Bezeichnung der einen Seite, dem Hinweis, wo man sich befindet“. Reentry als „Wiedereintritt der Form in die Form“ ist darüber hinaus „eine theoretische Figur“, „die sich dem Kalkül entzieht […], die aber in dem Sinne, dass man bestimmte […] Probleme nur über diese Form lösen kann, gleichsam zu den Eckpfeilern des ganzen Systems gehört.“ (S. 80). Kurz darauf fasst Luhmann den Gedanken noch einmal folgendermaßen zusammen: „Das System tritt in sich selbst wieder ein und kopiert sich in sich selbst hinein. Die Kommunikation bleibt eine interne Operation. Sie verlässt das System nie, denn der Anschluss ist auch wieder im System vorzusehen und muss im System stattfinden.“ (Ebd., S. 82) Ein System habe „immer schon das ‚reentry‘ eingebaut“ und könnte „anders gar nicht funktionieren“ (ebd.). Später heißt es: „Der Beobachter tritt in das Beobachtete wieder ein. Der Beobachter ist Teil dessen, was er beobachtet, sieht sich in der paradoxen Situationen [sic] dessen, was er beobachtet. Er kann […] einen Bereich der Physik beobachten, wenn er die Unterscheidung von Beobachtendem und Beobachtetem in das Objekt wieder hineinführt.“ (Ebd., S. 166)

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226 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ­ ehrere Exemplare derselben Tageszeitung kauft.18 Umgekehrt ist es nicht möglich zu m wissen, dass man etwas weiß, ohne dabei diejenigen Vermögen in Anspruch zu nehmen, die bei der Überprüfung ihrer Wahrheitsfähigkeit auf dem Prüfstand stehen, sodass an dieser Stelle kein vitiöser Begründungszirkel, sondern eine unvermeidliche Selbstbezüglichkeit gegeben ist. Gelingt es, eine auf Wissen zulaufende Reihe von Vermögen im Ausgang von dieser Selbstbezüglichkeit, die Schelling als Ich bzw. als Selbstbewusstsein bezeichnet, auf das Ziel der Selbsterfassung des Wissens hin anzuordnen, ist der Systemanspruch eingelöst. Damit ist die Methode der Transzendentalphilosophie bestimmt, die Schelling in diesem Zusammenhang mit der Philosophie gleichsetzt: Philosophie überhaupt ist also nichts anders, als freye Nachahmung, freye Wiederholung der ursprünglichen Reihe von Handlungen, in welchen der Eine Act des Selbstbewußtseins sich evolvirt. (HGS I/9.1, 89; SW I/3, 397)

Um einen Eindruck von der Methode einer „Geschichte des Selbstbewußtseyns, die verschiedene Epochen hat“ (HGS I/9.1, 91; SW I/3, 399) zu erhalten, möchte ich nun die Grundzüge der ersten Epoche skizzieren. Diese entwickelt den Übergang „von der ­ursprünglichen Empfindung bis zur productiven Anschauung“ (HGS I/9.1, 92–150; SW I/3, 399–454). Schelling geht davon aus, dass das Selbstbewusstsein gleichsam in zwei Richtungen zeigt. Einerseits handelt Selbstbewusstsein von etwas, es ist intentional. Wovon es handelt, kann ein gewöhnlicher Gegenstand sein, über den etwas Wahres ausgesagt und gedacht werden kann, z. B. eine Wiese. Das Selbstbewusstsein ist also intentional, Bewusstsein von etwas. Als Selbstbewusstsein handelt es aber immer auch von sich selbst, wenn auch nicht intentione recta, also in unmittelbarer Ausrichtung auf einen von ihm unabhängigen Gegenstand. Wer sich bewusst ist, dass er sich einer Wiese bewusst ist, ist sich seines Bewusstseins der Wiese nicht auf derselben Ebene bewusst wie der Wiese. Das Bewusstsein erscheint nicht wie ein Gänseblümchen oder ein Spaziergänger in demjenigen Bereich, den die Wiese einnimmt. Im Selbstbewusstsein können wir uns des Umstandes bewusst werden, dass wir uns vieler Umstände bewusst sein können, nicht nur desjenigen, der gerade unser Bewusstsein ausfüllt. 18 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., 1984, S. 225–580, hier S. 363 f./§ 265: „‚Aber ich kann doch auch von einer Erinnerung an eine andre appellieren. Ich weiß (z. B.) nicht, ob ich mir die Abfahrzeit des Zuges richtig gemerkt habe und rufe mir zur Kontrolle das Bild der Seite des Fahrplans ins Gedächtnis. Haben wir hier nicht den gleichen Fall?‘ – Nein; denn dieser Vorgang muß nun wirklich die richtige Erinnerung hervorrufen. Wäre das Vorstellungsbild des Fahrplans nicht selbst auf seine Richtigkeit zu prüfen, wie könnte es die Richtigkeit der ersten Erinnerung bestätigen? (Als kaufte einer mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt.) In der Vorstellung eine Tabelle nachschlagen, ist so wenig ein Nachschlagen einer Tabelle, wie die Vorstellung des Ergebnisses eines vorgestellten Experiments das Ergebnis eines Experiments ist.“

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II. Werkstruktur

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Das Selbstbewusstsein ist in diesem Sinne einerseits unbegrenzt, d. h. imstande, sich auf vieles (einschließlich sich selbst) zu richten, andererseits dadurch begrenzt, dass es jeweils einen gegebenen Inhalt hat, den ihm ein Gegenstandsfeld vorführt. Sofern das Selbstbewusstsein sich seiner selbst versichert, bezieht es sich primär auf den Umstand, dass es sich vieler Umstände bewusst werden kann. Auf dieser Ebene der strukturellen Allgemeinheit gibt es keinen Grund, irgendeinen gegebenen Inhalt als Paradigma anzusehen. An der Wiese liegt es nicht, dass ich mich zu einem späteren Zeitpunkt dem Bonner Hauptbahnhof gegenüber finde, der in anderen bewusst erfassbaren Inhalten eine Rolle spielt. Das aber heißt, dass im Selbstbewusstsein eine Ausrichtung auf Gegenstände angelegt ist, die es ihm erlauben, einen Fall des Selbstbewusstseins „als Etwas sich fremdes zu finden“ (HGS I/9.1, 95; SW I/3, 402). Die Fremdheit besteht darin, dass wir keinen Grund im Selbstbewusstsein im Allgemeinen finden können, dass wir uns auf einer Wiese oder vor dem Bonner Hauptbahnhof befinden. Diese gegebenen Gegenstände können nicht aus dem Selbstbewusstsein im Allgemeinen irgendwie abgeleitet werden, sie sind ihm strukturfremd. Gleichwohl können wir sie erfassen und damit gleichsam ins spezifische Selbstbewusstsein, das sie als Gegenstände hat, hineinholen. Diese Aneignung setzt voraus, dass die Gegenstände nicht radikal anders sind als das Selbstbewusstsein, sie müssen im selben Gefüge, d. h. in der Intentionalitätsrelation, auftauchen können, obwohl sie ihm zugleich fremd sind. Schelling drückt dies so aus, dass es im Selbstbewusstsein etwas Negatives gibt, das dafür sorgt, dass gegebene Gegenstände als etwas erscheinen, was wir nicht hervorgebracht haben. Das Negative wird gefunden als nicht gesetzt durch das Ich, und es ist eben deßwegen das, was überhaupt blos gefunden werden kann, (was sich späterhin in das blos Empirische verwandelt). (HGS I/9.1, 96; SW I/3, 403)

Schelling arbeitet hier mit einem etymologischen Wortspiel, indem er Empfindung als Ent-Findung versteht: Eine Empfindung, die wir haben, ist etwas, was wir nicht hervorgebracht haben. Empfinde ich Schmerz oder einen Roteindruck, gehört es nicht zum damit einhergehenden Bewusstsein, dass ich diese Empfindungen irgendwie produziert habe, ich bin in diesen Einstellungen „das afficirte Ich“ (HGS I/9.1, 98; SW, I/3, 405). Doch diese Empfindungen kann ich letztlich dennoch nur mir selbst zurechnen. In der Empfindung finde ich noch keinen Gegenstand, sondern allenfalls einen Inhalt, d. h. eine Erscheinungsweise eines Gegenstands. Wenn ich die Wiese aus einer bestimmten Perspektive sehe, muss ich die Empfindungen, wozu mein Grüneindruck sowie die Blickrichtung auf die Wiese zählen, letztlich mir selbst zurechnen, was meine Empfindungen von der Wiese selbst unterscheidet. Dies entspricht dem Unterschied zwischen Gegenstand (Wiese) und Inhalt (Empfindung). Damit kann ich nun aber den Gegenstand von meiner Empfindung unterscheiden. Als schlechthin von meiner Empfindung unterschieden, ist er „das Ding an sich“ (HGS I/9.1, 115; SW I/3, 421).

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228 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Da nun das Ding an sich als etwas eingeführt wird, das zwar in Empfindungen auftaucht, von ihnen aber prinzipiell unterschieden ist, ist der Gedanke eines solchen Dings Ergebnis einer „reine[n] ideelle[n] Thätigkeit, an welcher nichts, als ihre Entgegensetzung gegen die reelle Thätigkeit des Ichs erkennbar ist.“ (HGS I/9.1, 130; SW I/3, 434) Der Inhalt der Empfindung muss also zumindest formal produziert sein. Sofern es gelingt, über Empfindungen eine Anschauung eines von ihnen unabhängigen Wirklichen zu erreichen, geht das Ich über die Sphäre seiner immanenten Tätigkeit hinaus und erfasst Gegenstände im Modus seiner produktiven Anschauung, d. h. einer Anschauung, die wir uns partiell zuschreiben können müssen, weil sie unsere Perspektive, unseren egozentrischen Index ausmacht, wie dies in der gegenwärtigen Bewusstseinsphilosophie etwa von Tyler Burge genannt wird.19 Im Einzelnen geht Schelling so weit, die Dynamik des Selbstbewusstseins als Spiegel der Natur zu betrachten. Insbesondere assoziiert er die beiden Richtungen des Selbstbewusstseins mit der „Repulsiv- und Attractivkraft“ (HGS I/9.1, 139; SW I/3, 443), womit er sich an Kants Naturphilosophie anschließt und diese als Ausdruck des Selbstbewusstseins versteht.20 Dass sich Naturgegenstände anziehen und abstoßen, ist dieser Analyse zufolge deswegen für uns verständlich, weil das Selbstbewusstsein diese Struktur ebenfalls instanziiert: Einerseits eignen wir uns die von uns unabhängigen Gegenstände bewusst an und ordnen sie damit ins Gefüge des Selbstbewusstseins ein, indem wir etwas über sie wissen. Andererseits stoßen wir sie ab, weil sie ja von uns unabhängig sein können sollen, wodurch sie aber zu epistemischen Grenzpunkten, Dingen an sich, werden. Die Abstraktionsleistung der Physik, die qualitativ komplexe Phänomene als Massepunkte beschreibt, für die sich Gesetze finden lassen, ist für Schelling damit Ausdruck unserer Fähigkeit zur produktiven Anschauung. Die Modellproduktion für eine von uns unabhängige Umwelt im Medium des Selbstbewusstseins löst freilich noch nicht das epistemologische Problem. Solange das Ding an sich prinzipiell von den Inhalten unterschieden werden muss, in denen es uns erscheint, ist entweder seine Unabhängigkeit von diesen Inhalten oder seine Erkennbarkeit gefährdet. Wenn wir die Wirklichkeit nur im Raum von Modellen erfassen können, wie können wir dann sicherstellen, dass sie überhaupt ein verständliches, erkennbares System bildet, das an gewissen Punkten in unsere Modellierung eintritt?21 Um dieses Problem nach den verschiedenen Durchläufen durch die Epochen des Selbstbewusstseins zu lösen, rekurriert Schelling am Ende des Systems des transscendentalen Idealismus überraschenderweise auf das Kunstwerk. Das Kunstwerk soll die nun 19 Zuerst in Tyler Burge, „Memory and Persons“, in: The Philosophical Review 112/2, 2003, S. 289–338 und später ausführlich in ders., Origins of Objectivity, Oxford, 2010, Kapitel 9–10. 20 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Kants Werke, Bd. IV, 1968; siehe dazu Michael Friedman, Kant’s Construction of Nature. A Reading of the Metaphysical Foundations of Natural Science, Cambridge u. a., 2013; Erik Watkins (Hg.), Kant and the Sciences, Oxford, 2001; Konstantin Pollok, Kants ‚Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘. Ein kritischer Kommentar, Hamburg, 2001. 21 Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin, 2018, insbesondere S. 258 f.

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II. Werkstruktur 229 schon einige Male angesprochene Schwierigkeit lösen, wie wir das Unbedingte erfassen können, ohne dadurch eine Spaltung zwischen dem Unbedingten (Unendlichen) und dem Bedingten (Endlichen) zu erzeugen, durch die das Unbedingte auf einer zweiten Theoriestufe bedingt wäre. Der Name für die Lösung ist 1800 weiterhin „intellectuelle[] Anschauung“ (HGS I/9.1, 325; SW I/3, 625), die Schelling nun im Kunstwerk objektiviert sieht. Die ästhetische Erfahrung des Kunstwerks ist eine Manifestation der intellektuellen Anschauung, die uns in der Gestalt eines schönen Gegenstands entgegentritt. Denn, so Schelling, „das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit.“ (HGS I/9.1, 321; SW I/3, 620) Das System des transscendentalen Idealismus kulminiert in der These, dass die ästhetische Anschauung „die objectiv gewordene transscendentale [hierzu Anmerkung in HGS:] intellektuelle [mit Zusatz des Herausgebers in SW: „Correktur“]“ (HGS I/9.1, 328; SW I/3, 627) ist.22 Und […] so versteht sich von selbst, daß die Kunst das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie sey, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produciren, und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten. (HGS I/9.1, 328; SW I/3, 627–628)

Schelling spart an dieser Stelle nicht mit weiteren Superlativen und kündigt zuletzt gar „eine neue Mythologie“ an, „welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn“ (HGS I/9.1, 329; SW I/3, 629) könne. Allerdings ist er zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung noch nicht dazu vorgedrungen, dieses urromantische Postulat, das auch aus dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus vertraut ist und das sein Freund Hölderlin vorangetrieben hat, theoretisch einzulösen, was einer der philosophischen Gründe für seine Hinwendung zur Projektphase der Identitätsphilosophie ist.23

22 Dieter Jähnig, Schelling. Die Kunst in der Philosophie, 2 Bde., Pfullingen, 1966 und 1969. Bd. 1: Schellings Begründung von Natur und Geschichte. Bd. 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. 23 Eine kritische Edition des Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus findet sich in: Mythologie der Vernunft. Hegels ‚ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‘, hg. v. Christoph Jamme u. Helmut Schneider, Frankfurt a. M., 1984; Eine umfangreiche Darstellung der Interpretations- und Rezeptionsgeschichte des Ältesten Systemprogramms findet sich bei Frank-Peter Hansen, ‚Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‘. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York, 1989. Manfred Frank widmet dem kurzen Text eine umfangreiche Analyse in Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, 1. Teil, Frankfurt a. M., 1982, insbesondere S. 153–187. Vielfältige Besprechungen des Systemprogramms auch bei Manfred Frank, Gerhard Kurz (Hg.), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt a. M., 1975 (darin etwa die Arbeiten von Harald Holz, Wolfgang Wieland, Xavier Tilliette und die Einleitung der Herausgeber). Der erste Rezipient des Systemprogramms, der Schelling für den einzig möglichen Verfasser hält, ist ­Wolfgang Wieland, „Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur“, a. a. O.

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Identitätsphilosophie (1801–1809) Eine wichtige Quelle für den Übergang zur sogenannten Identitätsphilosophie stellt die Darstellung meines Systems der Philosophie dar, die Schelling 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik vorgelegt hat.24 Dieses System bezeichnet er dort ausdrücklich als „das absolute Identitäts-System“ (HGS I/10, 115; SW I/4, 113), das er mit der Versicherung einleitet, es handele sich bei diesem Projekt nicht etwa um eine tiefgreifende Veränderung seiner vorherigen Positionen zur Natur- und Transzendentalphilosophie, sondern vielmehr um die erstmalige Darstellung seines Systems als solchem. Nachdem ich seit mehreren Jahren die Eine und selbe Philosophie, welche ich für die wahre erkenne, von zwei ganz verschiednen Seiten, als Natur- und als Transscendental-Philosophie darzustellen versucht habe, sehe ich mich nun, durch die gegenwärtige Lage der Wissenschaft, getrieben, früher als ich selbst wollte, das System selbst, welches jenen verschiednen Darstellungen bei mir zu Grunde gelegen, öffentlich aufzustellen (HGS I/10, 109; SW I/4, 107)

Damit stellt Schelling in Aussicht, dass es ihm nun um die alles entscheidende Schnittstelle geht, die Natur und Selbstbewusstsein, Materie und Geist, in ein System integriert, das sie beide vom Standpunkt eines übergeordneten Absoluten in den Blick nimmt. Dieses übergeordnete Absolute kann weder von der Art der Natur noch von der Art des Ichs sein. Schelling bezeichnet es in § 1. des Systems als Vernunft, die sein Ausgangspunkt ist. „Der Standpunct der Philosophie ist der Standpunct der Vernunft“ (HGS I/10, 117; SW I/4, 115). Dieser Standpunkt ist der „Standpunct des Absoluten“ (HGS I/10, 117; SW I/4, 115). Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven gedacht wird. […] Das Denken der Vernunft ist jedem anzumuthen; um sie als absolut zu denken, um also auf den Standpunct zu gelangen, welchen ich fordere, muß vom Denkenden abstrahirt werden. Dem, welcher diese Abstraction macht, hört die Vernunft unmittelbar auf, etwas Subjectives zu seyn, wie sie von den meisten vorgestellt wird, ja sie kann selbst nicht mehr als etwas Objectives gedacht werden, da ein Objectives oder Gedachtes nur im Gegensatz gegen ein Denkendes möglich wird, von dem hier völlig abstrahirt ist; sie wird also durch jene Abstraction zu dem wahren An sich, welches eben in den Indifferenzpunct des Subjectiven und Objectiven fällt. (HGS I/10, 116–117; SW, I/4, 114–115)

24 In: HGS I/10, 107–211. Auch erschienen in: F. W. J. Schelling, Zeitschrift für spekulative Physik, Teilband 2, S. 327–436.

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II. Werkstruktur 231 Der Gedanke, der dem Identitätssystem zugrunde liegt, kann unter Rekurs auf eine jüngere Diskussionslage in der Gegenwartsphilosophie dargestellt werden.25 Wer einen Wissensanspruch erhebt, unterstellt sich damit einer epistemischen Normativität: Der Anspruch kann gelingen, dann weiß man etwas, oder er kann scheitern, dann weiß man dasjenige, was man zu wissen beansprucht, eben nicht. Nun folgt daraus genau besehen, dass der Erfolgsfall nicht fallibel sein kann: Wenn ich weiß, dass p, dann folgt daraus, dass p, da man nichts wissen kann, was falsch ist.26 Diesen Befund kann man so deuten, dass zwei Subjekte, die wissen, dass p, in diesem wahren Gedanken ihre Subjektivität abstreifen. Zwei Subjekte können im Erfolgsfall dasselbe denken, was aber bedeutet, dass die Denker des wahren Gedankens gleichsam im Hinblick auf die Tatsache, die sie erfassen, verschmelzen. Deswegen gibt es einen objektiven Sinn von „Wissen“, wenn man etwa vom Wissen der Menschheit oder einer Wissensgesellschaft spricht. Das Wissen der Menschheit kann in einer Bibliothek hinterlegt sein, ohne dass daraus folgt, dass dort Subjekte hinterlegt sind, die erfolgreiche Wissensansprüche erheben. Erfasst man die Wirklichkeit vom Standpunkt des Erfolgsfalls, hat man sich in den Indifferenzpunkt begeben, für den weder Subjektivität noch Objektivität den Ausschlag geben. Denn der Indifferenzpunkt ist weder subjektiv noch objektiv, er ist die Mitte, die beide grundlegenden Perspektiven miteinander verbindet. Die Urvariante dieses Gedankens findet man in Parmenides’ vieldiskutiertem Vers, dem zufolge Sein und Denken dasselbe sind.27 Im paradigmatischen Erfolgsfall einer Erfassung der Wirklichkeit ist ein Abstand zwischen demjenigen, was man denkt, dem Sein, und dem Denken dieses Seins, nicht mehr denkbar. Schelling drückt dies in § 4. so aus: Das höchste Gesetz für das Seyn der Vernunft, und da außer der Vernunft nichts ist, (§. 2.) für alles Seyn (insofern es in der Vernunft begriffen ist), ist das Gesetz der Identität, welches in Bezug auf alles Seyn durch A – A ausgedrückt wird. (HGS I/10, 118; SW I/4, 116)

Hierbei kann man Schellings Ansatz insgesamt im Rahmen der sogenannten Identitätstheorie der Wahrheit verorten, die seit einigen Jahrzehnten im Ausgang von Ansätzen 25 Sebastian Rödl, Self-Consciousness and Objectivity, Cambridge (MA)/London, 2018 und Irad Kimhi, Thinking and Being. A Two Way Capacity, Cambridge (MA), 2018, beide im Ausgang von John ­McDowell, Mind and World, Cambridge (MA), 1994. 26 Zu diesem Aspekt des Wissensbegriffs, der als „Faktivität“ bezeichnet wird, vgl. Gabriel, Die Erkenntnis der Welt, S. 44. 27 Hermann Diels, Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 10. Aufl., Berlin, 1961. DK, B 3, S. 231: „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι“. Zu einer philologischen und philosophischen Verteidigung einer identitätsphilosophischen Lesart dieses Satzes vgl. Markus Gabriel, Skeptizismus und Idealismus in der Antike, Frankfurt a. M., 2009, § 3; zu Schelling und Parmenides vgl. Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, Berlin/New York, 2006, S. 266–283.

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232 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bei George Edward Moore, Francis Herbert Bradley, aber auch bei Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein viel diskutiert wird.28 Die Identitätstheorie besagt in diesem Zusammenhang, dass es objektive Gedanken (üblicherweise auch als „Propositionen“ bezeichnet) gibt, deren Wahrsein nicht darin besteht, dass es Wahrmacher gibt, mit denen sie irgendwie übereinstimmen oder korrespondieren. Vielmehr sind die objektiven, wahren Gedanken die Tatsachen, wie Frege sich etwa ausgedrückt hat.29 Die Wirklichkeit befindet sich demnach nicht unterhalb der Schwelle der Wahrheit, sie liegt nicht auf der anderen Seite einer epistemisch prinzipiell nicht überwindbaren Grenze. Schelling geht allerdings unmittelbar einen Schritt weiter, indem er die beiden In­ stanzen von „A“ in der Identitätsgleichung „A – A“ als „Subject“ und „Prädicat“ (HGS I/10, 118; SW I/4, 117) voneinander unterscheidet. Damit behauptet er natürlich nicht, dass Subjekt und Prädikat eines wahren Urteils identisch seien, was absurd wäre. Wenn es wahr ist, dass die Wiese grün ist, sind die Wiese und ihr Grünsein nicht identisch. Aber, und das ist der relevante Gedanke hier, damit wir denken können, dass die Wiese wirklich grün ist, muss es etwas geben, das sowohl eine Wiese als auch grün ist, in diesem Fall: die grüne Wiese selbst. Die grüne Wiese ist damit Teil des Absoluten, d. h. der Totalität des Wahren, wodurch wir im wahren Gedanken erfassen können, dass die Wiese grün ist. Doch wie verhält sich das Grünsein der Wiese (der wahre Gedanke – die Tatsache) zu unserem Denken? Wenn das Grünsein der Wiese ein objektiver Tatbestand wäre, dem wir uns vermittelst eines Denkakts oder einer Aussage zu versichern hätten, rückte das Absolute auf die Seite des Objekts, womit die Auflage verletzt wäre, dass das Absolute der Indifferenzpunkt ist. Deswegen sieht sich Schelling einmal mehr berechtigt, die Erkenntnis des Absoluten im Absoluten selbst zu verorten: Das Gesammte, was ist, ist an sich, oder seinem Wesen nach, die absolute Identität selbst, der Form seines Seyns nach das Selbsterkennen der absoluten Identität in ihrer Identität. (HGS I/10, 124; SW I/4, 122)

Doch dies wirft erneut die Frage auf, wie angesichts der absoluten Identität, d. h. der Totalität der Tatsachen, eine Differenz möglich ist. Wie können wir das Absolute verfehlen, wenn die Selbsterkenntnis darin eingebaut ist? Verfehlt sich das Absolute im falschen Gedanken etwa selbst? In der Darstellung meines Systems gelingt es Schelling 28 Vgl. den Überblicksartikel von Richard Gaskin, „The Identity Theory of Truth“, in: The Stanford Ency­ clopedia of Philosophy, hg. v. Edward N. Zalta, online unter: . Leider krankt diese Debattenlage daran, dass sie die offensichtlichen Wegbereiter, die bei Moore und Bradley noch eine explizite Rolle spielen, vor allem Hegel, aber eben auch Schelling, nicht berücksichtigt. Dennoch kann sie zur Illustration des letztlich erheblich komplexeren Ansatzes bei Schelling als analytisches Instrument herangezogen werden. 29 Gottlob Frege, „Der Gedanke: Eine logische Untersuchung“, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1, 1918–1919, S. 58–77, hier S. 74: „Was ist eine Tatsache? Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist. […] Die Arbeit der Wissenschaft besteht nicht in einem Schaffen, sondern in einem Entdecken von wahren Gedanken.“

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II. Werkstruktur 233 nicht, überzeugend darzulegen, wie Irrtum möglich ist, wenn Subjekt und Objekt im Absoluten, d. h. im Wahren selbst, verschmelzen. Vielmehr scheint er einer problematischen, weil jedenfalls paradoxen Irrtumstheorie zustimmen zu wollen, die es als Irrtum betrachtet, dass es Irrtum gibt.30 Schelling delegiert diese Problemlage an den Bereich der praktischen Philosophie, in der er die Irrtumsfrage nach dem Modell eines Sündenfalls diskutiert, womit er sich im Fahrwasser von Kants Religionsschrift befindet, die unsere Konstitution als endliche Denker und Akteure als radikal böse Abstandnahme vom richtigen Gefüge von Maxime und moralischem Gesetz versteht.31 Ausdrücklich räumt Schelling in Philosophie und Religion (1804) ein, dass er das Problem der Absonderung in der Darstellung meines Systems noch nicht geklärt habe, da seine Darstellungen, die in der Zeitschrift für spekulative Physik erschienen sind, „noch nicht bis zu demjenigen Gebiet (dem der praktischen Philosophie) fortgeführt worden sind, auf welchem allein die Auflösung vollständig gegeben werden kann.“ (SW I/6, 29) Die Auflösung, die Schelling anbietet, lautet, dass ein „Sprung“, eine „Entfernung“, ein „Abfall von dem Absoluten“ (SW I/6, 38), anzunehmen sei. Diesen Abfall versteht er so, dass das Absolute in seiner „Selbstrepräsentation“ (SW I/6, 34) ein „Gegenbild“ (SW I/6, 34) seiner selbst erzeugt, mit dem es identisch ist. Insofern das Absolute sich selbst erkennt, tritt die Möglichkeit auf, dass es sich verfehlt. Diese Möglichkeit wird aber nicht durch das Absolute aktualisiert, da dieses ja der maximale Erfolgsfall der Koinzidenz von Sein und Denken, von Wirklichkeit und Wahrheit ist. Was das Absolute allerdings hervorbringt, ist die Möglichkeit einer Absonderung. Diese wird dadurch wirklich, dass sich das Gegenbild des Absoluten ohne weiteren Grund, also in einem Sprung, vom Absoluten losreißt. Das Gegenbild, als ein Absolutes, das mit dem ersten alle Eigenschaften gemein hat, wäre nicht wahrhaft in sich selbst und absolut, könnte es nicht sich in seiner Selbstheit ergreifen, um als das andere Absolute wahrhaft zu seyn. (SW I/6, 39)

Wenig später bringt Schelling dies folgendermaßen auf den Punkt: Die Freiheit in ihrer Lossagung von der Nothwendigkeit ist das wahre Nichts, und kann eben deßhalb auch nichts als Bilder ihrer eignen Nichtigkeit, d. h. die sinnlichen und wirklichen Dinge, produciren. (SW I/6, 40) 30 Vgl. etwa HGS I/10, S. 130; SW I/4, S. 128: „Wie es aber möglich sey, daß von dieser absoluten Totalität irgend etwas sich absondere oder in Gedanken abgesondert werde, dieß ist eine Frage, welche hier noch nicht beantwortet werden kann, da wir vielmehr beweisen, daß eine solche Absondrung nicht an sich möglich, und vom Standpunct der Vernunft aus falsch, ja (wie sich wohl einsehen läßt) die Quelle aller Irrthümer seye.“ 31 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, in: Kants Werke, Band VI, 1968.

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234 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Die „Lossagung“ kann man prädikationstheoretisch wenden. Durch die Aussage kommt es zu einer potentiellen Differenz von Wahrheit und Führwahrhalten. Was wir aussagen, kann falsch sein, womit die Aussage die Identität von Wirklichkeit und Wahrheit gleichsam durchbricht. Eine faktisch falsche Aussage ist insofern eine Lossagung von der Identität von Sein und Denken, als sie eine Differenz einführt, die in der Wirklichkeit zuvor nicht bestehen konnte: diejenige von Wahrheit und Falschheit. Während Wahrheit sich identitätsphilosophisch als Struktur der Wirklichkeit charakterisieren lässt, gilt dies für Falschheit jedenfalls nicht in derselben Weise. Daher liegt es nahe, Falschheit anders zu erklären als Wahrheit. An dieser Stelle rekurriert Schelling auf ein Manöver, das er in seiner teils scharfen Fichte-Kritik, im Anti-Fichte, entfaltet und das sich durch den Rest seines Werks ziehen wird. Sofern wir ein Ich sind, d. h. individuelle Denker von Gedanken, befinden wir uns schon im Irrtum.32 Die von Fichte durchexerzierte „Ichheit“ (SW I/6, 42) ist ein Prinzip des Bösen, d. h. des Abfalls vom Absoluten. Vom Standpunkt der Ichheit aus erscheint uns eine endliche „Sinnenwelt“ (SW I/6, 38), die konstitutiv auf uns bezogen zu sein scheint. Philosophiert man aus dieser Perspektive, derjenigen der Ichheit, betreibt man „nur eine negative Philosophie“ (SW I/6, 43), der es nicht gelingen kann, eine Verschmelzung mit dem Absoluten zu verstehen, das prinzipiell auf Distanz bleibt. Dagegen mobilisiert Schelling eine ontologisch begründete „Sittlichkeit“ (SW I/6, 50–59), in der die Versöhnung mit dem Absoluten durch Erreichung seines Standpunkts erscheint. Kurzum: Die Philosophie wird insofern praktisch, als sie Teil eines Erlösungsgeschehens ist, an dessen Ende das Gegenbild wieder ins Urbild aufgenommen wird. Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr. Jene Seite ist gleichsam die Ilias, diese die Odyssee der Geschichte. In jener war die Richtung centrifugal, in dieser wird sie centripetal. Die große Absicht der gesammten Welterscheinung drückt sich auf diese Art in der Geschichte aus. (SW I/6, 57)

Als wichtiges identitätsphilosophisches Hauptwerk, in dem Schelling seine gesamte Philosophie in einem Gebäude zusammenführt, gilt das als Würzburger System geläufige System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804). Dieses umfangreiche System hat zwei Teile. Im ersten Teil entwickelt Schelling „die allgemeine Philosophie“, d. h. insbesondere seine identitätsphilosophische Grundthese von der Identität von Denken und Sein, die er dort als Verhältnis von Gott und All ausbuchstabiert. Im zweiten Teil liefert er sodann (A) eine „allgemeine Naturphilosophie“, 32 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre. Eine Erläuterungsschrift der ersten, in: SW I/7, S. 1–130.

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II. Werkstruktur 235 (B) eine „specielle Naturphilosophie“ und schließlich seine Geistphilosophie, die er als (C) „Construktion der idealen Welt und ihrer Potenzen“ bezeichnet. Anders als seine naturphilosophischen Schriften und das System des transscendentalen Idealismus enthält das Würzburger System eine Logik, die es Schelling erlaubt, der absoluten Vernunft eine Art Binnenstruktur zuzuschreiben. Dabei baut er das Erkennen in der Form des Urteils in die Vernunft ein. Während der Begriff „die bloße Möglichkeit des Objekts“ (SW I/6, 516) enthalte, stehe das Urteil „unter dem Schema der Wirklichkeit“ (SW I/6, 516), weil es einen Wahrheitsanspruch erhebe. Die Wirklichkeit erscheint uns als aufgeteilt in besondere Episoden, weil wir sie im einzelnen Urteil gleichsam epistemisch spalten, d. h. ur-teilen, ein Wortspiel, das seit Hölderlin im fragilen Freundeskreis der Tübinger Zeit beliebt ist. Der Schluss etabliert sodann das „Schema der Nothwendigkeit“ (SW I/6, 516), weil er festlegt, wie ein Gefüge wahrheitswerterhaltender, komplexer Gedanken aussieht. Sofern eine Konklusion gültig aus Prämissen folgt, sodass wir einen Schluss formulieren können, ist die Gedankenfolge notwendig. Diese drei Sphären werden aber wiederum nur durch die Reflexion getrennt, und sind an sich nie getrennt. Im wirklichen Vernunftgebracht laufen Begriffe, Urtheile und Schlüsse durcheinander; der Schluß aber ist durchgängig das Erste und Herrschende, dem der Begriff und das Urtheil nur untergeordnet ist. (Uebrigens ist auch hierin ganz das Erscheinungsmäßige offenbar: der Begriff ist das Affirmative, nur inwiefern das Reale nicht mit ihm zugleich gesetzt ist. Urtheil – Differenz des Affirmirten von seinem Affirmativen. Schluß nur Synthese – nicht absolute Identität). (SW I/6, 516)

Weil im Urteil die Wahrheitswertdifferenz auftaucht, gibt es schlüssige und nichtschlüssige Schlüsse, was davon abhängt, dass Prämissen wahr oder eben falsch sein können. Sofern Prämissen Urteile sind, deren faktischer Wahrheitswert davon abhängt, wie die vom Urteil unabhängige Wirklichkeit beschaffen ist, tritt im Urteil die Differenz zutage, die Wahrheit und Fürwahrhalten, das „Affirmative“ vom „Affirmirten“, trennt. Die einzelnen Systemteile des Würzburger Systems behandeln detailreich die Grundstrukturen der Natur (wie Raum, Zeit, Materie, Magnetismus, Elektrizität, Chemischer Prozess, Klang, Licht, Wärme, Organismus, den Begriff des Tiers, usw.) und laufen jeweils auf die Selbsterfassung der behandelten Wirklichkeitsstrukturen hinaus. So kulminiert die Naturphilosophie in der Erscheinung des Menschen und die Geistphilosophie in der Philosophie als der Selbsterfassung des Systems. Eine Innovation des Würzburger Systems besteht darin, dass die Einheit von „Wissenschaft, Religion und Kunst“ objektiv als Staat und subjektiv als Philosophie erscheint (vgl. SW I/6, 575). „Der Staat“ ist hierbei eine „Vernunftidee“, kein „Bild des Staats aus der wirklichen Erfahrung“ (SW I/6, 575). Alle bisher wirklich existierenden Staaten seien nämlich „bloße Zwang- und Nothstaaten“ (SW I/6, 575). Der Staat als „bloßes Zwangsinstitut“ (SW I/6, 575) besteht in der Reduktion einer allen anderen Institutio-

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236 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling nen übergeordneten Institution zum System „zur wechselseitigen Sicherstellung der Rechte“ (SW I/6, 575). Was einem rein formalen Rechtsstaat, der lediglich auf Verfahren zur Herstellung von Rechtsfrieden basiert, ermangelt, ist eine Orientierung an der faktischen Wirklichkeit, der Wahrheit, die sich nicht auf Verfahren reduzieren lässt. Dafür soll ein Gefüge aus Wissenschaft, Religion und Kunst sorgen, was Schelling allerdings nicht weiter ausführt, sondern nur utopisch auf wenigen Seiten anklingen lässt. Bemerkenswert ist ferner, dass die Philosophie als Schlussstein des Systems nicht nur eine Form des Selbstbewusstseins des Strukturganzen der Wirklichkeit ist, d. h. nicht nur Wissenschaft, sondern dass die Philosophie zur höchsten politischen Aktivität, zu demjenigen wird, „was Plato das πολιτεύειν“ (SW I/6, 575) nennt. Die Philosophie wird utopisch „als harmonischer Genuß und Theilnahme an allem Guten und Schönen in einem öffentlichen Leben“ (SW I/6, 576) bestimmt. Wie der Staat objektiv potenzlos, so die Philosophie subjektiv. Vernunft: Weltbau = Philosophie: Staat. Die Philosophie in diesem Sinn ist das Ziel aller Wissenschaft der Philosophie, obschon auch Philosophie nur in den Schranken der Wissenschaft und nur als Wissenschaft, nicht an sich selbst leben kann, solange es an dem öffentlichen Leben fehlt, in dem sie sich anschauen könnte. (SW I/6, 576)

Diese Bestimmung der Philosophie als politischem Beitrag zur Öffentlichkeit hängt eng mit Schellings Rollenverständnis im damaligen Bayern zusammen, wo er institutionell durchaus einflussreiche Positionen besetzt hat, um eine philosophisch wirksame Monarchie mitzugestalten – ein Thema seines Denkens und Handelns, das ihn später bis Berlin begleiten wird, wo er auf ein kritisches, linkshegelianisches Publikum und erneute revolutionäre Unruhen treffen wird.

Mittlere Periode – Freiheitsschrift und das Weltalterprojekt (1809–1820) Als ein Wende- und Höhepunkt (insbesondere für die Rezeptionsgeschichte) in Schellings Schaffen gilt vielen die mittlere Phase, die man als radikale Freiheitsphilosophie betrachten kann. Ihr Ausgangspunkt ist die sogenannte Freiheitsschrift, die Schelling 1809 als Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände publiziert hat. Biographisch motiviert ist dieser Wendepunkt sicherlich durch den frühzeitigen Tod seiner ersten Ehefrau, Caroline Schelling, die einen großen intellektuellen Einfluss auf die Romantikerzirkel und eben auch auf Schelling ausgeübt hat.33 Für Schelling stellt sich durch diesen tiefen Bruch in seiner Lebenserfahrung die Frage, wie die Wirklichkeit überhaupt noch als Ausdruck eines göttlichen Grundes der Alleinheit verstanden werden kann, wenn sie 33 Vgl. zu ihrer Biographie und ihren philosophischen Beiträgen Sabine Appel, Caroline Schlegel-­ Schelling. Das Wagnis der Freiheit, München, 2013.

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von endlichen Lebewesen als brüchig, schmerzlich und voll von Krankheit und Zerstörung erfahren wird. Kurzum, Schelling wendet sich angesichts seines persönlichen Schmerzes der Theodizeeproblematik zu, zu der er mit seiner Freiheitsschrift einen der wichtigsten Beiträge seit Leibniz beisteuert. Die Freiheitsschrift wirft die bis heute philosophisch brisante Frage auf, wie sich das Bewusstsein unserer selbst als freier Akteure mit dem Umstand vereinbaren lässt, dass wir uns als Teil eines Ganzen verstehen, das von Gesetzmäßigkeiten geprägt ist, die nicht in unserer Hand liegen. Angesichts der gesetzesförmigen Struktur des Gesamtsystems, zu dem wir gehören, scheint ein „Widerspruch von Nothwendigkeit und Freyheit“ (HGS I/17, 112; SW I/7, 338) zu drohen. Schelling versucht die Spannung von Determinismus und Freiheit, wie man dies heute meistens formuliert, durch nichts Geringeres als durch eine neuartige Ontologie aufzulösen, die gleichzeitig einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Hauptschwierigkeit des Identitätssystems liefern soll: Weil die Wirklichkeit selbst aus Freiheit entspringt, kommt es zu einer Spaltung des Absoluten von der Geschichte, die nur durch eine Dynamisierung des Absoluten überwunden werden kann, das im Raum endlicher Akteure, d. h. in der Geschichte, zu sich zurückkehrt. Ausgangspunkt der teils äußerst spekulativen Anmutungen der Theorieentwicklung ist ein neuer Wurf einer Ontologie der Prädikation.34 Dazu wendet sich Schelling dem Thema „des Sinns der Copula im Urtheil“ (HGS I/17, 114; SW I/7, 341) zu. Er antizipiert dabei eine mit dem Namen Freges verbundene Lösung des Identitätsrätsels, das darin besteht, dass es scheinbar keine sowohl widerspruchsfreien als auch informativen Identitätsaussagen geben kann.35 Entweder, eine Identitätsaussage ist uninformativ (etwa „Otto ist Otto“) oder sie scheint widersprüchlich zu sein (etwa „Dr. Jekyll ist Mr. Hyde“), weil zwei verschiedene Dinge als dasselbe behauptet werden. Schelling antwortet auf dieses Problem, das seinen neuzeitlichen Ursprung in Spinozas Monismus hat, damit, dass in allen, d. h. sowohl den informativen als auch in den uninformativen Identitätsaussagen, von etwas behauptet wird, dass es in einer Hinsicht „Subjekt“ und in einer anderen „Prädikat“ eines Gedankens sei. Die alte tiefsinnige Logik unterschied Subjekt und Prädikat als vorangehendes und folgendes (antecedens et consequens) und drückte damit den reellen Sinn des Identitätsgesetzes aus. Selbst in dem tautologischen Satz, wenn er nicht etwa ganz sinnlos seyn soll, bleibt dieß Verhältniß. Wer da sagt: der Körper ist Körper, denkt bei dem Subjekt des Satzes zuverläßig etwas anders als bei dem Prädikat; bei jenem nämlich die Einheit, bei diesem die einzelnen im Begriff des Körpers enthaltnen Eigenschaften. (HGS I/17, 116; SW I/7, 342) 34 Dazu ausführlich Markus Gabriel, „Die Ontologie der Prädikation in Schellings Die Weltalter“, in: Schelling Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 2, 2014, S. 3–20 im Ausgang von Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings Die Weltalter, Frankfurt a. M., 1989. 35 Gabriel, „Die Ontologie der Prädikation in Schellings Die Weltalter“, S. 3 ff.

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238 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Konkret kann man dies zunächst anhand des Geist-Materie-Themas illustrieren, das Schelling u. a. vorschwebt. Geist und Materie sind demnach insofern identisch, als es etwas gibt, das in einer Hinsicht als Geist und in einer anderen Hinsicht als Materie erscheint. Es gibt etwas Drittes, das beides ist. An dieser Stelle geht Schelling freilich weiter, indem er dieses Modell dynamisiert. An die Stelle einer absoluten Identität, die sich in einer paradoxen Differenz zum Differenzgeschehen der Erscheinungswelt befindet, führt er nun einen Unterschied ein, der einen Vorläufer in der Naturphilosophie hat, den er allerdings radikal modifiziert. Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist. (HGS I/17, 129; SW I/7, 357)

In der umfangreichen Literatur zu dieser Distinktion wird häufig übersehen, dass Schelling hier seine Identitätsanalyse zum Einsatz bringt. Er unterscheidet nämlich nicht etwa zwischen Grund und Existenz, sondern zwischen zwei Hinsichten, in denen das Wesen eine Rolle spielt. Dieses Wesen ist zugleich im Titel der Freiheitsschrift angesprochen, die nicht direkt von der menschlichen Freiheit, sondern von ihrem Wesen handelt, bei dem es sich um „den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung“ (HGS I/17, 170; SW I/406) handelt. Es […] muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen, als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar, noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als Identität; es kann nur als die absolute Indifferenz beyder bezeichnet werden. (HGS I/17, 170; SW I/7, 406)

Doch damit nicht genug: Schelling geht noch über eine solche, bereits tiefgreifende Abgrenzung vom Identitätssystem hinaus, indem er umgehend das Problem angeht, wie sich die Indifferenz bzw. der Ungrund als das Wesen in zwei Erscheinungsweisen spaltet. Sein wegweisender Gedanke, den er von nun an in verschiedenen Varianten bis an sein Lebensende durchspielen wird, lautet, dass der Ungrund als solcher hinsichtlich auftauchender Dualitäten (er führt insbesondere Gut und Böse an) neutral ist. Die Extrempole, die wir als das Böse und das Gute, „Reales und Ideales, Finsterniß und Licht, oder wie wir die beyden Prinzipien sonst bezeichnen wollen“ (HGS I/17, 171; SW I/7, 407) aus unserer Erfahrungswirklichkeit kennen, […] können von dem Ungrund niemals als Gegensätze prädicirt werden. Aber es hindert nichts, daß sie nicht als Nichtgegensätze, d. h. in der Disjunktion und jedes für

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II. Werkstruktur 239 sich von ihm prädicirt werden, womit aber eben die Dualität (die wirkliche Zweyheit der Prinzipien) gesetzt ist. In dem Ungrund selbst ist nichts, wodurch dieß verhindert würde. (HGS I/17, 171; SW I/7, 407)

Das Wesen der Wirklichkeit ist selbst nicht identisch mit irgendeinem Element, das wir identifizieren können. Gleichwohl sind die Elemente, die wir erfolgreich als existierende Gegenstände, als Dinge, identifizieren können, darauf angewiesen, dass sie miteinander zusammenhängen. Der ultimative Zusammenhang der Dinge, ihre Ordnung, kann selbst letztlich kein weiteres Element der Ordnung, kein Ding sein – ein Motiv, das inzwischen vertraut sein sollte. Neu ist bei Schelling 1809, dass das Auftreten eines geordneten Raums von Dingen in Extrempolen (Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Natur usw.) darin gründet, dass es vom Wesen der Wirklichkeit nicht ausgeschlossen wird. Der neutrale Hintergrund, vor dem alles, was es gibt, hervortritt, tritt selbst nicht hervor. Im Unterschied zu den endlichen Dingen, die in Gegensätzen erscheinen, erscheint der Ungrund nur als dasjenige, vor dessen Hintergrund alles andere in Erscheinung tritt, d. h. ex-sistiert, hervortritt. Für die Freiheit, die gleichsam auf Augenhöhe mit dem Wesen im Zentrum von Schellings Untersuchungen steht, bedeutet dies, dass sie sich selbst als „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ (HGS I/17, 125; SW I/7, 352) bestimmt. An sich ist Freiheit neutral, indifferent gegenüber allen spezifischen Handlungsmodi. Das nennt Schelling den „bloß formellen Begriff der Freyheit“ (vgl. HGS I/17, 122–125; SW I/7, 350–352). Dieser formelle Begriff, den er insbesondere Kant und Fichte attestiert, erklärt allerdings nicht, wie es zur „Realität des Bösen“ (HGS I/17, 125; SW I/7, 353) und damit zu einer wirklichen Distinktion von guten und bösen Handlungen kommt. Das Böse kann nicht darin liegen, dass ein endlicher Raum entsteht, in dem Gutes und Böses unterschieden sind, wie Schelling nun gegen Philosophie und Religion (vgl. HGS I/17, 126–129; SW I/7, 353–357) anerkennt, was in der Aussage gipfelt: „wir läugnen, daß die Endlichkeit für sich selbst das Böse sey.“ (HGS I/17, 140; SW, I/7, 370) Böse sei „nicht die Trennung der Kräfte“, sondern eine positive, reale „Disharmonie“, die er als „falsche Einheit“ der Kräfte (HGS I/17, 140–141; SW I/7, 370–371) bezeichnet. Ontologisch bedeutet dies, dass eine Handlung bzw. ein Handlungssystem in dem Maße böse ist, in dem es die Ordnung des Wesens verkehrt, die darin besteht, dass dasjenige, was existiert, vor einem Hintergrund hervortritt, auf den es angewiesen ist: Der Baum existiert im Waldgefüge, der Bundespräsident im Gefüge eines demokratischen Rechtsstaats, der Besucher eines Fußballstadiums im Rahmen des Eventmanagements, usw. Das Gefüge, in dem etwas als dasjenige hervortreten kann, als was es sich in seiner Wahrheit zeigt (als Baum, als Bundespräsident, als Fußballfan, usw.), stellt im Erfolgsfall einen Rahmen zur Verfügung, der durch die Elemente, die in ihm auftauchen, nicht unterminiert werden soll. Doch das Gefüge ist fragil: Der einzelne Baum kann krank werden und den Wald infizieren, der Bundespräsident kann sich gegen den Rechtsstaat wenden, der Fußballfan kann zum Hooligan werden, usw. Dieses Können wird in dem

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240 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Augenblick aktualisiert, in dem sich das Element gegen die Ordnung wendet, dank derer es überhaupt als dasjenige existieren kann, als welches es in Erscheinung tritt. Damit entfernt sich das Element nicht von demjenigen System, in dem allein es existieren kann, sondern modifiziert es. Ein kranker Wald, ein durch anti-demokratische Ausübung eines hohen Amts gefährdeter Rechtsstaat, ein von Hooligans gestörtes Fußballspiel, usw. sind positive Phänomene in dem Sinne, als sie das Gefüge der Wirklichkeit in eine aktive Unordnung versetzen, die kausale Auswirkungen auf den Fortbestand des Gefüges und damit aller Elemente hat, die in ihm eine Rolle spielen. Während das Gute strukturkonservativ ist, weil es darin besteht, dass ein System sein fragiles Gleichgewicht aufrechterhält, attackiert das Böse die Struktur, in der es sich verwirklicht, weil es darin besteht, dass sich das Existierende gegen seinen Grund wendet. Damit verdreht sich das Gefüge: Der Grund tritt ins Zentrum bzw. an die Spitze der Ordnung, weil sich ein Element der Ordnung selbst zum Grund der Ordnung als ganzer macht. Als geschichtsphilosophisches Beispiel einer Ordnung des Bösen führt Schelling bemerkenswerterweise den Imperialismus, spezifisch die namensgebende Spielart des imperium romanum an, das in einer Verdrehung der griechischen Naturreligion besteht, wie er meint. Es erschien die Zeit der höchsten Verherrlichung der Natur in der sichtbaren Schönheit der Götter und allem Glanz der Kunst und sinnreicher Wissenschaft, bis das im Grunde wirkende Prinzip endlich als welteroberndes Prinzip hervortrat, sich alles zu unterwerfen und ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen. Weil aber das Wesen des Grundes für sich nie die wahre und vollkommne Einheit erzeugen kann: so kommt die Zeit, wo alle diese Herrlichkeit sich auflöst, und wie durch schreckliche Krankheit der schöne Leib der bisherigen Welt zerfällt, endlich das Chaos wieder eintritt. (HGS I/17, 149; SW I/7, 379)

Ein weltumspannendes Imperium kann deswegen nicht existieren, weil es keinen Außenbereich mehr übrig lässt, aus dessen Eroberung und Ausbeutung sich das Zentrum speist. Daher wendet sich entweder die Peripherie gegen das Zentrum oder das System kollabiert durch seinen Erfolg, weil es nicht mehr imstande ist, das Gefüge zu steuern, das es erzeugt hat. Der weltumspannende Imperialismus sprengt die Dimensionen seiner eigenen Verwaltbarkeit. Schelling antizipiert in der Skizze seiner Geschichtsphilosophie in der Freiheitsschrift viele Themen der Spätphilosophie, auch die Christologie seiner späteren Philosophie der Offenbarung, indem er annimmt, der theologische Lehrsatz der Menschwerdung Gottes ließe sich dahingehend philosophisch übersetzen, dass eine gute Ordnung von Individuum und System hergestellt werden kann, indem ein „Mittler“ „dem persönlichen und geistigen Bösen“ (HGS I/17, 148; SW I/7, 380) des Imperiums entgegentritt. Unabhängig von der Frage, inwieweit sich Schelling hier als Philosoph zu Recht oder zu Unrecht an die christliche Theologie anschließt, kann man den Gedanken so rekons-

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II. Werkstruktur 241 truieren, dass eine sanfte Kraft sich gegen die Aggression des Imperiums wendet und damit zeigt, dass es möglich ist, ein Individuum, ein Element des Systems, zu sein, ohne die Sphäre der anderen Individuen an sich zu reißen. Auf diese Weise steht die Menschwerdung Gottes für den Gedanken einer ausgleichenden Gerechtigkeit und damit einer Verteilung von Ressourcen, die es ermöglichen soll, dass alle in einer gleichen Weise vom Gefüge profitieren, ohne das sie nicht existieren können. Damit kehren wir ins spekulative oder, wie Schelling selbst sagt, „dialektische[]“ (vgl. HGS I/17, 166 und 171; SW I/7, 401 und 407) Feld zurück. Denn der Gedanke eines Ausgleichs, der durch einen Mittler hergestellt wird, führt zum Begriff der „Liebe“ als einer Versöhnung der Gegensätze. Indem die Gegensätze, v. a. in der allgemeinen Form von Grund und Existenz, anerkennen, dass sie auf einen neutralen Grund und damit auf etwas angewiesen sind, was ihnen als Ungrund vorausgeht, können sie sich an ihrer ontologischen Konstitution ausrichten. Diese Ausrichtung transformiert den an sich neutralen Ungrund in Liebe, d. h. eine Manifestation der Erfolgsbedingungen von Beziehungen im Allgemeinen in den Modus individueller Verhältnisse zwischen Elementen. In seinem ontologischen Hohelied der Liebe formuliert Schelling das folgendermaßen: Das Wesen des Grundes, wie das des Existirenden, kann nur das vor allem Grunde Vorhergehende seyn, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber (wie bewiesen) nicht anders seyn, als indem er in zwey gleich ewige Anfänge auseinander geht, nicht daß er beyde zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist. Der Ungrund theilt sich aber in die zwey gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwey, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er theilt sich nur, damit Leben und Liebe sey und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern […] dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andre. (HGS I/17, 171–172; SW, I/7, 407–408)

Die Liebe ist der im Hinblick auf das Gute modifizierte Ungrund, der in Erscheinung tritt. Sie ist der Raum, in dem Individuen, die in einem Differenzverhältnis stehen, sich so begegnen, dass sie miteinander gekoppelt sein wollen, ohne den Anderen in seiner Differenz zu überrollen. Unterminiert ein Relatum, ein Partner, in einer Liebesbeziehung (die komplexer als die Anordnung einer Paarbeziehung sein kann) die Position des Anderen, wird die gesamte Beziehung als Liebesbeziehung gefährdet. Das richtige Maß an Nähe und Abstand, das jegliche auf Liebe basierende Einstellung zwischen Menschen reguliert, ergibt sich nur aus dynamischen Aushandlungsprozessen, in denen sich die Individuen in ihrer Persönlichkeit begegnen. Die Liebe ist insofern ontologisch paradigmatisch, als sie zeigt, dass Extrempole in einen aggressiven Widerstreit

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242 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling geraten, wenn der Mittler, die versöhnende Mitte, fehlt. Mit dem Ungrund stellt Schelling ein Theorieelement zur Verfügung, das die Position der Neutralität besetzt, die in Liebe verwandelt werden kann, indem Extreme aufeinander bezogen werden, ohne dass die Beziehung ihrerseits eines der Extreme wird. Schelling spricht hier von „Einheit und Sanftmuth“, welche „die Härte und Abgeschnittenheit der Dinge“ (HGS I/17, 172; SW I/7, 409) kompensiert. Die Freiheitsschrift kulminiert in einer in der Forschung unterbelichteten Selbstanwendung, die uns die Methodologie der Untersuchungen als „eine dialektische Philosophie“ (HGS I/17, 177; SW I/7, 414) erklärt. Die Selbstanwendung besteht darin, dass die Philosophie als Gespräch zwischen Positionen, die in Extreme ausarten können (Dogmatismus vs. Kritizismus, Realismus vs. Idealismus, libertarische Freiheitsphilosophie vs. harter Inkompatibilismus/Determinismus, usw.), ihrerseits auf strukturellen Ausgleich, auf Synthese, aus ist. Die Philosophie hat ihren Namen einerseits von der Liebe, als dem allgemein begeisternden Prinzip, andrerseits von dieser ursprünglichen Weisheit, die ihr eigentliches Ziel ist. (HGS I/17, 178; SW I/7, 415)

Dabei antizipiert Schelling wichtige Grundeinsichten der späteren philosophischen Hermeneutik, die aus der insbesondere mit dem Namen Schleiermachers, aber auch anderer romantischer Theoretiker verbundenen Theorie der Übersetzung und Interpretation von Texten hervorgegangen ist. Für Schelling ist die Philosophie wesentlich ein Gespräch, in dem Positionen im Hinblick auf Weisheit, also auf Ausgleich, bewertet werden, und nicht der zum Scheitern verurteilte Versuch, ein maximales System schlüssiger Syllogismen zu etablieren, das irgendwie aus einem einzigen Prinzip abgeleitet werden kann, von dem aus man mittels wiederholter Anwendung gültiger Schlüsse nur noch Theoreme deduzieren muss, um auf diese Weise die Wirklichkeit als Ganze zu erfassen. Denn jedes solcher überzogenen, ehrgeizigen Verfahren scheitert schlicht daran, dass die Wahrheit und Wirklichkeit, die an irgendeinem Punkt ins System eintreten müssen (denn ohne wahre und gehaltvolle Prämissen kollabiert entweder die Schlüssigkeit oder die explanatorische Relevanz des Systems), nicht unter Rekurs auf eine rein logische Ordnung garantiert werden können. Daher setzt sich Schelling in der Freiheitsschrift fortwährend und teils etwas unterschwellig mit Friedrich Schlegel, insbesondere mit dessen Klassifikation verschiedener Formen des Pantheismus, auseinander, die dieser 1808 in seiner Schrift Über die Sprache und Weisheit der Indier vorgelegt hat.36

36 Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band I/8: Studien zur Philosophie und Theologie, hg v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Paderborn u. a., 1975, S. 105–432.

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II. Werkstruktur 243 Der Verfasser hat nie durch Stiftung einer Sekte andern, am wenigsten sich selbst die Freyheit der Untersuchung nehmen wollen, in welcher er sich noch immer begriffen erklärte und wohl immer begriffen erklären wird. Den Gang, den er in gegenwärtiger Abhandlung genommen, wo, wenn auch die äußre Form des Gesprächs fehlt, doch alles wie gesprächsweise entsteht, wird er auch künftig beybehalten. Manches konnte hier schärfer bestimmt und weniger lässig gehalten, manches vor Misdeutung ausdrücklicher verwahrt werden. Der Vf. unterließ es zum Theil absichtlich. Wer es nicht so von ihm nehmen kann oder will, der nehme überhaupt nichts von ihm: er suche andre Quellen. (HGS I/17, 173–174, Anmerkung AJ; SW I/7, 410, Fußnote 2)

Die dialektische Rahmung der Freiheitsschrift nimmt den Gedanken ernst, dass Philosophie als Wissenschaft nur in einem Gespräch realisiert werden kann, das unter Bedingungen der Fallibilität und Endlichkeit der Beteiligten steht. Dies setzt eine Form der Freiheit voraus, die nicht damit vereinbar ist, die Philosophie als das Projekt auf­ zufassen, von ihr völlig unabhängige Strukturen der Wirklichkeit metaphysisch zu erfassen. Der metaphysische Realismus, der in der gegenwärtigen Metaphysik seit einigen Jahrzehnten trotz der Widerrede der Kritik an einer naiven, objektstufigen Metaphysik im zwanzigsten Jahrhundert (von Seiten Rudolf Carnaps, Edmund Husserls, Martin Heideggers, Hans-Georg Gadamers, Ludwig Wittgensteins, Willard van Orman Quines und Hilary Putnams, um nur einige der Protagonisten zu nennen) Einzug gehalten hat, wird von Schelling im nachkantischen Kontext radikal abgelehnt. Denn selbst wenn die Wirklichkeit in Strukturen eingeteilt ist, die wir irgendwie abbilden können, ist und bleibt die Philosophie kein „Spiegel der Natur“, weil der Gedanke der Naturspiegelung immer schon daran scheitert, dass wir als geistige Lebewesen Teil jedes Systems sind, das wir untersuchen können.37 Der Geist modifiziert die Natur, indem er in ihr auftaucht, es gibt Kreisläufe der Verursachung, die eben nicht nur von unten nach oben, sondern auch von oben nach unten verlaufen, eine auch heute noch hochaktuelle Einsicht, die Schelling methodisch und metaphysisch in Rechnung stellt.38 In dem Zirkel, daraus alles wird, ist es kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andre und doch nicht ohne das andre ist. (HGS I/17, 130; SW I/7, 358)

Die Freiheit bildet in der mittleren Periode das Zentrum der Philosophie Schellings, sowohl in methodologischer als auch in metaphysischer Hinsicht. Dies verfolgt er in vieldiskutierter Weise in seinem Projekt der Weltalter weiter, das in den Augen mancher 37 Vgl. die klassische Kritik des Gedankens der Philosophie als Weltspiegelung bei Richard Rorty, ­Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton, 1979. 38 Markus Gabriel, Jan Voosholz (Hg.), Top-Down Causation and Emergence, Synthese Library Book ­Series, Dordrecht, (i. Ersch.).

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244 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Interpreten als gescheitert gilt, da Schelling lediglich Fragmente hinterlassen hat.39 Allerdings ist die Sachlage nicht ganz so offensichtlich, gehört es bei genauerer Betrachtung doch zum Gedankengut der Weltalter selbst, das die drei anscheinend geplanten Bücher, Die Vergangenheit, Die Gegenwart und Die Zukunft, nicht abschließend dargestellt werden können. Im Zentrum der Weltalter, die in verschiedenen Entwürfen überliefert sind, steht der Gedanke einer ontologischen Priorität der Zeit vor dem Sein.40 Das Sein selbst wird derart als temporal gedacht, dass der gesamte Bereich dessen, was wir als wirklich klassifizieren (die Gegenwart) von einer Vergangenheit und Zukunft gerahmt wird, die „außer und über der Welt“41 (WA I, 4) stattfinden. Die Weltalter befassen sich so mit der „Geschichte der Entwickelungen des Urwesens […] anfangend von seinem ersten noch unaufgeschlossenen Zustand, der vorweltlichen Zeit.“ (AS 4, 222; WA I, 10) Dieser vorweltlichen Zeit, die Schelling als „eigentliche Vergangenheit“ (AS 4, 223; WA I, 11) bezeichnet, wird am anderen temporalen Pol „die eigentliche Zukunft, die Zukunft schlechthin, die nachweltliche“ (AS 4, 223; WA I, 11) entgegengesetzt.42 Der Grund, den Schelling für diese radikale Auffassung der Temporalität anführt, lautet, dass es keine echte Zeit gäbe, wenn alle Ereignisse, d. h. alles, was geschieht, „nur zu Einer großen Zeit“ (AS 4, 223; WA I, 11) gehörte. Seine Argumentation kann man anhand einer späteren Unterscheidung von John McTaggart Ellis McTaggart rekonstruieren.43 Dieser Unterscheidung zufolge besteht die sogenannte A-Reihe der Zeit in der geläufigen Vorstellung, dass die Vergangenheit über die indexikalisch ausgezeichnete Gegenwart in die Zukunft verläuft. Was war, liegt hinter uns, was ist, können wir direkt von unserem Standpunkt aus, d. h. deiktisch im Jetzt, erfassen, was sein wird, ist noch nicht eingetreten, die Zukunft ist offen. Die anders geartete B-Reihe hingegen gliedert Ereignisse auf der Zeitachse lediglich anhand der Begriffe _ ist früher als, _ ist gleichzeitig mit, _ ist später als. In der B-Serie gibt es keinen ausgezeichneten Punkt der Gegenwart, kein Jetzt, durch das die Zeit verläuft, 39 Karl Jaspers, Schelling. Größe und Verhängnis, München, 1955; Siehe auch Xavier Tilliette, Schelling. Biographie, Stuttgart, 2004, S. 263–281, der Schelling gar eine Baudelaire’sche „Prokrastination“ (ebd., S. 268) attestiert, statt nach einem genuin werkimmanenten Grund des Scheiterns Ausschau zu halten. Anders die neueren Arbeiten von Katia Hay, Die Notwendigkeit des Scheiterns. Das Tragische als Bestimmung der Philosophie bei Schelling, Freiburg/München, 2012 und Peter Neumann, Zeit im Übergang zu Geschichte. Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant, Freiburg/ München, 2020. 40 Vgl. dazu Wolfgang Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalter-Philosophie, Heidelberg, 1956. Für die Priorität der Zeit vor dem Sein siehe auch Rainer Adolphi, „Warum ist überhaupt Zeit und nicht vielmehr ewiges Sein und Wahrheit? Schellings spekulative Theorie der Zeit und ihre antiken Bezüge – eine Skizze“, in: Das antike Denken in der Philosophie Schellings, hg. v. Rainer Adolphi u. Jörg Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2004, S. 355–396. 41 Friedrich Wilhelm Schelling, Ausgewählte Schriften in 6 Bänden, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M., 1985, Bd. 4, S. 214. (Im Folgenden zitiert unter der Sigle AS) 42 Vgl. dazu die subjekttheoretische Rekonstruktion bei Cem Kömürcü, Sehnsucht und Finsternis. ­Schellings Theorie des Sprachsubjekts, Wien, 2011. 43 John M. E. McTaggart, „Die Irrealität der Zeit (1908)“, in: Klassiker der modernen Zeitphilosophie, hg. v. Walther C. Zimmerli u. Mike Sandbothe, Darmstadt, 1993, S. 67–86.

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II. Werkstruktur 245 oder das wie ein Boot auf dem Fluss der Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft treibt. Die B-Serie lässt sich so auffassen, dass sie auf ein Blockuniversum hinausläuft, in dem keine Zeit „verläuft“, sondern das lediglich durch Ereignisse beschrieben werden kann, die an einer Zeitstelle zu finden sind, die sich relational als gleichzeitig mit einer anderen oder als früher als eine andere charakterisieren lässt. Dabei kann man zusätzliche Ordnung, vielleicht sogar einen gerichteten Zeitpfeil, in der B-Serie installieren, indem man sie als Ursache-Wirkungs-Kette auffasst. Eine Ursache ist dann früher als ihre Wirkung und retroaktive Kausalität, also eine Wirkung von der Wirkung auf ihre Ursache kann ausgeschlossen werden. Schelling weigert sich von vornherein, ein solches System anzuerkennen. Wäre die Welt, wie einige sogenannte Weise gemeynt haben, eine rück- und vorwärts ins Endlose auslaufende Kette von Ursachen und Wirkungen; so gäbe es im eigentlichen Verstande weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Aber dieser ungereimte Gedanke sollte billig mit dem mechanischen System, welchem allein er angehört, zugleich verschwunden seyn. (AS 4, 222–223; WA I, 10–11)

Wenn die Welt ein geschlossenes System der Raumzeit wäre, innerhalb dessen der Zeitparameter nur eine weitere Dimension neben den räumlichen ist, gäbe es in der Tat keine indexikalisch geordnete A-Reihe und in diesem Sinne keine Zeit. Dagegen hält Schelling an den „drey großen Abmessungen“ (AS 4, 225; WA I, 13), d. h. den Dimensionen der A-Reihe fest und beschreibt diese als eine Entwicklung des Urwesens. Um Schellings teils äußerst spekulative Gedankenführung zu verstehen, hat es sich seit den bahnbrechenden Arbeiten Wolfram Hogrebes und Manfred Franks eingebürgert, die prädikationstheoretischen Erwägungen, die eine wichtige Rolle in den Weltaltern spielen, zum Dreh- und Angelpunkt der Argumentation zu machen.44 Vor diesem Hintergrund kann man die Gegenwart als diejenige Dimension der logischen Zeit verstehen, die auf Faktizität zielt. Die Gegenwart entspricht dem atemporalen, sich nicht weiterentwickelnden Sein, das mit Wahrheit verbunden ist. Wenn es wahr, d. h. der Fall ist, dass es am 7.10.2020 um 7:59 Uhr in Bonn regnet, dann ändert sich an dieser Tatsache nichts, auch wenn es später aufhört zu regnen. Was einmal der Fall ist, ist immer der Fall, und wird damit der Gegenwart als der Gesamtheit des Wirklichen, der Welt, zugeordnet. Kategorischen Behauptungssätzen in der klassischen Standardform, S ist P (ein Subjekt ist so, wie ein Prädikat es sagt), entspricht im Erfolgsfall der Wahrheit eine Wirklichkeit, die ein für alle Mal so ist, wie es das Erfolgsurteil aussagt. Insofern sind Subjekt und Prädikat nur Entfaltungen einer als Tatsache bestehenden Einheit, die Schelling insgesamt als „Seyn“ bezeichnet. Doch er bleibt gerade nicht bei einer Tatsachenontologie stehen, die etwa mit einer reinen B-Theorie der Zeit vereinbar wäre, der zufolge die Welt als die Gesamtheit der Tatsachen schlichtweg besteht 44 Hogrebe, Prädikation und Genesis und Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie; ders., ‚Reduplikative Identität‘. Der Schlüssel zu Schellings reifer Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2018.

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246 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und sich nicht temporal so entwickelt, wie man sich dies als indexikalisch situierter Denker vorstellen mag. Es ist nur Ein Laut in allen höheren und besseren Lehren, daß das Seyn schon ein tieferer Zustand des Wesens, und daß sein urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist. Einem jeden von uns wohnt das Gefühl bey, daß die Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt. Alles Seyn strebt zu seiner Offenbarung und in sofern zur Entwicklung; alles Seyende hat den Stachel des Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich, Unendliches ist in ihm beschlossen, das es aussprechen möchte; denn ein jedes Seyendes verlangt nicht bloß innerlich zu seyn, sondern das, was es ist, auch wieder, nämlich äußerlich zu seyn. Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist. (AS 4, 226; WA I, 14)

Dieses Zitat kann man folgendermaßen deuten. Das Urteil „S ist P“ ist wahr genau dann, wenn S P ist, wenn es also eine entsprechende Tatsache gibt. Die Urteilsfindung hingegen besteht nicht darin, dass S P ist, sondern darin, dass wir uns dieser Tatsache zuwenden, sie uns vergegenwärtigen. Im Hinblick auf das noch zu fällende Urteil liegt die Tatsache in der Zukunft. Ist das Urteil gefällt, rutscht sie insofern in die Vergangenheit, als sie nun unveränderlich besteht. Die Notwendigkeit ist insofern das Verhängnis des Seins: Die Vergangenheit, die im Urteil eingefangen wird, kann nicht mehr verändert werden.45 Die Gegenwart als der gesamte Tatsachenraum (die Welt) kommt nun ihrerseits nur in den Blick, wenn ein Urteil gefällt wird, das nicht immer schon gefällt war. Die Beurteilung der Sachlage gehört nicht in derselben Weise zur Sachlage wie die Tatsachen erster Stufe, die beurteilt werden. Das Urteil in seiner Urteilsfindung gehört nicht in die Raumzeit, was man daran sieht, dass die logischen Verhältnisse der Selbstbeurteilung der Urteilsfindung, d. h. Logik und Erkenntnistheorie, nicht sinnvoll physikalisch bzw. mechanisch, wie Schelling sagt, abbildbar sind. Logik ist nicht Teil der Physik, sondern Grundlage der Ausübung rationaler Fähigkeiten zur Urteilsfindung bezüglich eines von uns unabhängigen, raumzeitlichen Universums. Wie deter­ ministisch auch immer sich der Tatsachenraum dem Denken darstellt, die Urteilsfindung, die sich einem Tatsachenraum gegenübersieht, lässt sich nicht in diesen einordnen, weil die Urteilsfindung erstpersonal, indexikalisch geprägt ist. Insofern steht die Urteilsfindung „über allem Seyn“, sie ist offen für das Wirkliche, ohne selbst nahtlos ins Gefüge des Wirklichen eingereiht werden zu können. Nun lässt es Schelling natürlich nicht mit einer solchen Beschreibung der Differenz von urteilendem Subjekt und zu beurteilendem Objekt bewenden. Denn dies unterliefe seine ursprüngliche Einsicht, dass wir vom Standpunkt des Absoluten aus philo45 Für eine Theorie der logischen Zeit im Zusammenhang der Ontologie der Modalitäten vgl. Markus Gabriel, Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin, 2016, §§ 9–10.

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II. Werkstruktur

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sophieren müssen, d. h. so, dass die Spaltung von Subjekt und Objekt sich als Artikulation einer ihnen vorhergehenden Einheit verstehen lassen muss, weil ansonsten „das Band“ verloren geht, das beide verbindet.46 Wer glaubt, die Welt sei eine modal als notwendig einzustufende Verkettung von Ereignissen in einer B-Serie, bezieht sich damit auf den gesamten Tatsachenraum. Nennen wir diese Art der Bezugnahme das metaphysische Urteil. Das metaphysische Urteil kann sich nicht im Tatsachenraum wiederfinden, ein Problem, das bis heute ungelöst bleibt, wenn man versucht, die indexikalische Perspektive des urteilenden Physikers unverkürzt in Rechnung zu stellen.47 Um ein metaphysisches Urteil fällen zu können, muss man einen Standpunkt außer oder über allem Sein beziehen, was Schelling, anders als viele Metaphysikkritiker des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht ablehnt. Das erste Buch der Weltalter ist eine Beschreibung der vorweltlichen Vergangenheit, nicht der Vergangenheit im Rahmen der bereits vorgegebenen Welt. Es geht also nicht um dasjenige, was früher war, sondern um dasjenige, was metaphysisch der Urteilsfindung metaphysischer Urteile vorausliegt. An dieser Stelle knüpft Schelling an eine bisher noch nicht besprochene Passage aus der Freiheitsschrift an, die er in den Weltaltern dynamisch weiterentwickelt. Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein andres Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden. (HGS I/17,123; SW, I/7, 350)

Wille heißt Selbstbejahung. Wenn ich etwas will, bestätige ich mich damit selbst in meiner Subjektivität. Auch wenn ich etwas behaupte, will ich damit etwas, zum Beispiel: die Wahrheit ausdrücken. Behauptungen sind Teil unseres Lebens, das sich als Serie von Willensakten entfaltet. Insofern besteht eine enge Verbindung von Sein (Tatsachenraum) und Wille, als es ohne den Willen, zu einem Urteil zu gelangen, keine Bezugnahme auf den Tatsachenraum und damit auch nicht denjenigen Tatsachenraum gebe, der uns zur Kenntnis kommt. In diesem tauchen wir nämlich als Lebewesen auf, ohne in ihm aufzugehen, weil die Selbstbeurteilung unserer selbst als Lebewesen unmittelbar in Probleme der Temporalität (wie dem Problem der personalen Identität über die Zeit hinweg) zurückführt.

46 Der logische Ausdruck „Copula“ entspricht demjenigen, was Schelling hier als „Band“ bezeichnet. Er hat eine wichtige platonische Vorgeschichte, die Schelling vorschwebt. Platon spricht vom δεσμός, also dem Band, das eine epistemische Verbindung zwischen dem tatsächlichen Sein und seiner logischen Gliederung, zwischen ὄν und λόγος, herstellt. 47 Zur kritischen Diskussion einiger quantentheoretischer Spekulationen zur Lösung des Messproblems durch die Installation von Indexikalität im Universum vgl. Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin, 2020, § 7.

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248 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Wer urteilt, bejaht oder verneint. Verneinung und Bejahung sind beide Ausdruck desselben Willens, d. h. unseres Vermögens, unsere Urteilsfähigkeit auszuüben (vgl. AS 4, 227; WA I, 15). Auf diesem Weg führt Schelling den Begriff des „Wille[ns], der nichts will, der keine Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind“ (AS 4, 227; WA I, 15) ein. Der Wille, der nichts will, wird von Schelling als „Lauterkeit“ (AS 4, 227; WA I, 15) und als „gelassene Wonne“ (AS 4, 228; WA I, 16) bezeichnet, womit die Tradition der Gelassenheit aufgerufen wird, die eine lange Vorgeschichte in Antike und Mittelalter hat.48 Was dieser Tradition unter anderem vorschwebt, ist der Umstand, dass wir im Allgemeinen fähig sind, uns eines Urteils zu enthalten, oder es qua Bejahung und Verneinung zu fällen. Ein Urteil zurückzuhalten ist eine Ausübung unserer Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten, ohne die wir nicht überlebensfähig wären, da es unmöglich ist, den Versuch zu unternehmen, über alles und jedes ein erfolgreiches Urteil zu fällen. Dagegen setzt Schelling den „bestimmte[n] Wille[n], der etwas will“ (AS 4, 230; WA I, 18), d. h. eine spezifische Ausübung unserer Urteilsfähigkeit, die sich auf einen bestimmten Sachverhalt oder eine bestimmte auszuführende Handlung (wozu das Urteilen zählt) bezieht. Aus diesem Willen ergibt sich erst eine Wirklichkeit, eine Existenz, da er Gegenstände identifiziert, die einer Beurteilung zuführbar sind. Hierbei ist daran zu erinnern, dass der Tatsachenraum, in dem Gegenstände in einer Anordnung erscheinen – alias die Gegenwart –, erst zu einem Gesamtgegenstand, einer Welt, wird, indem er in den Horizont einer Beurteilung tritt. „Existenz ist Eigenheit, ist Absonderung“ (AS 4, 231; WA I, 19), bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich der Wille, der etwas will, versucht, vom Willen, der nichts will, abzusondern, in diesem Akt aber immer wieder scheitert, weshalb er stets in sich selbst zurückkehrt und anschließend nach neuen Gegenständen Ausschau halten muss, um sich in seiner Besonderheit aufrechtzuerhalten, eine Grundstruktur des Begehrens, der ὄρεξις, die aus verschiedenen Traditionslinien, der antiken Philosophie, dem Buddhismus, der Psychoanalyse, usw. vertraut ist. ὀρέγω heißt wie das Lateinische intendo unter anderem so viel wie ausstrecken. Intentionalität ist deswegen nicht zufällig Ausdruck sowohl der theoretischen Bezugnahme auf etwas als auch eines handlungsleitenden Begehrens. Alles Urteilen, das sich auf etwas bezieht, geht von einem Willenszentrum aus, das wesentlich umtriebig ist: „Umtrieb“ „zeigt sich“, so Schelling, „als die erste Form und Offenbarung des gesonderten Lebens.“ (AS 4, 250; WA I, 38) Wie schon die Freiheitsschrift sind die Weltalter voll von Antizipationen der späteren Formen des Existentialismus, was natürlich kein Zufall ist, sondern unter anderem daher rührt, dass Søren Kierkegaard Hörer Schellings in Berlin war und dass Schopenhauer von Schellings Willensmetaphysik maßgeblich beeinflusst war, die damit einen indirekten, aber über Jakob Burkhardt (ebenfalls Schelling-Hörer in Berlin) auch einen

48 Vgl. dazu Emmanuel Cattin, Sérénité. Eckhart, Schelling, Heidegger, Paris, 2012.

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II. Werkstruktur 249 direkten Einfluss auf Nietzsche ausgeübt hat.49 Heidegger befasst sich explizit mit Schelling und knüpft an seine Willensthematik an. Dabei diskutiert Schelling existentialistische Themen wie „Schmerz“ und „Angst“ als Erlebnisformen eines Willens, der sich immer wieder selbst an Gegenstände verliert, aus ihnen zu sich zurückkehrt und anschließend gleichsam wieder an die Welt verfällt. In diesem Zusammenhang findet man in den Weltaltern einen klaren Anklang an Goethes Faust, dessen Publikation in die Zeit von Schellings mittlerer Periode fällt. „O daß dem Menschen nichts Vollkomm’nes wird, Empfind’ ich nun. Du gabst zu dieser Wonne, Die mich den Göttern nah’ und näher bringt, Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr Entbehren kann, wenn er gleich, kalt und frech, Mich vor mir selbst erniedrigt, und zu Nichts, Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt. Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer Nach jenem schönen Bild geschäftig an. So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde.“50

49 Lore Hühn, Philipp Höfele (Hg.), Schopenhauer liest Schelling. Freiheits- und Naturphilosophie im Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Mit einer Edition von Schopenhauers handschriftlichen Kommentaren zu Schellings ‚Freihheitsschrift‘, Stuttgart-Bad Cannstatt, (i. Ersch.); Lore Hühn (Hg.), Die Philosophie des Tragischen. Schopenhauer, Schelling, Nietzsche, Berlin/New York, 2011; Judith ­Norman, „Schelling and Nietzsche. Willing and Time“, in: The New Schelling, hg. v. Judith Norman u. Alistair Welchman, London/New York, 2004, S. 90–105; Lore Hühn, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs, Tübingen, 2009. Für einen Vergleich zu Jean-Paul Sartres L’Être et le néant vgl. Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, 2. erw. u. überarb. Aufl., München, 1992, Kapitel 3, 4 und 8. Hierzu auch Manfred Frank, „Schelling and Sartre on Being and Nothingness“, in: The New Schelling, a. a. O., S. 151– 166. Siehe auch Paul Tillich, „Schelling und die Anfänge des Existentialistischen Protestes“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 9/2, 1955, S. 197–208. Über Jakob Burckhardt als Hörer Schellings siehe Sigrun Bielefeldt, „Das Wirkliche und das Freie. Bemerkungen zu Schellings ‚Erster Vorlesung‘ vom 15.11.1841“, in: Schelling Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 4, 2016, S. 161–184. 50 Johann Wolfgang Goethe, Faust, historisch-kritische Edition, hg. v. Anne Bohnenkamp, Silke Henke u. Fotis Jannidis, Göttingen, 2018, S. 143 f.

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250 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Erlanger Übergang und Spätphilosophie (1821–1854) Im Wintersemester 1820/1821 hält Schelling in Erlangen eine Vorlesung mit dem Titel Initia Philosophiae Universae.51 Diese Vorlesung kann man als Übergang zu Themen der Spätphilosophie betrachten, weil nun der Systemgedanke, der die Weltalter noch leitete, seinerseits zum Problem wird. Seine Frage lautet jetzt, wie es überhaupt zu Ordnung, zu irgendeinem Zusammenhang, also einem System kommen kann, womit er das epistemologische Problem der Rechtfertigung von Wissensansprüchen ontologisch gleichsam tieferlegt: Die Frage ist nicht nur, wie wir angesichts widerstreitender Wissensansprüche Wahrheitsgarantien gewinnen können, sondern, wie es überhaupt dazu kommt, dass irgendetwas mit irgendetwas in Verbindung steht.52 Der Gedanke oder das Bestreben, ein System des menschlichen Wissens zu finden, oder, anders und besser ausgedrückt, das menschliche Wissen im System, im Zusammenbestehen zu erblicken, setzt natürlich voraus, daß es ursprünglich und von sich selbst nicht im System – daß es also ein ἀσύστατον, ein nicht Zusammenbestehendes, sondern vielmehr sich Widerstreitendes ist. Um diese Asystasie, diesen Unbestand, diese Uneinigkeit, gleichsam dieses bellum intestinum in dem menschlichen Wissen zu erkennen – (denn dieser innere Widerstreit muß offenbar werden), mußte der menschliche Geist sich in allen möglichen Richtungen schon versucht haben. (IPU, 8; SW I/9, 209)

Wie gelingt es, die Asystasie systematisch zu erfassen? Wie können wir eine Wirklichkeit beurteilen, deren Struktur uns nur in einem Urteil zugänglich ist, das ihr Ordnung unterstellt, die allerdings im Widerstreit gerade in Frage steht? Das gelingt nicht dadurch, dass man Wissensansprüche aggregiert, da sich zu jedem Wissensanspruch ein kontradiktorisch entgegengesetzter formulieren lässt, der solange gleichberechtigt zu sein scheint, wie uns kein direkter Zugriff auf diejenige Wirklichkeit gelingt, die als Richtschnur der Wahrheit zu dienen hätte. Um diesen Gordischen Knoten der Erkenntnistheorie zu lösen, hat Schelling immer wieder die intellektuelle Anschauung bemüht, was er nun revidiert: Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so ist es besser, ihn ganz bei Seite zu setzen. Eher könnte man für jenes Verhältnis die Bezeichnung Ekstase gebrauchen. Nämlich unser Ich wird außer sich, d. h. außer seiner Stelle, gesetzt.

51 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Initia Philosophiae Universae. Erlanger Vorlesung WA 1820/21, hg. u. komm. v. Horst Fuhrmans, Bonn, 1969 (im Folgenden zitiert unter der Sigle IPU). 52 Vgl. Markus Gabriel, „Die metaphysische Wahrheit des Skeptizismus bei Schelling und Hegel“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5, 2007, S. 126–156 sowie darauf aufbauend Michael Forster, „Schelling and Skepticism“, in: Interpreting Schelling. Critical Essays, hg. v. Lara Ostaric, ­Cambridge, 2014, S. 32–47.

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II. Werkstruktur 251 Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also muß es den Ort verlassen, es muß außer sich gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes. (IPU, 39; SW I/9, 229)

Diese Überlegung führt Schelling zu seinem Aufbruch zum Projekt einer neuartig konzipierten Bewusstseinsgeschichte, die er in seiner Spätphilosophie ab den 1830er-Jahren in der Form einer Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung entfaltet. Deren Ausgangspunkt ist die vieldiskutierte Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie, die er etwa in Zur Geschichte der neueren Philosophie zum ersten Mal in aller Klarheit in Abgrenzung gegen Hegel entwickelt. Schelling liest Hegels Begründungsanspruch in der Wissenschaft der Logik sowie in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse als einen Versuch, „ein ewiges Geschehen“ (AS 4, 540; SW I/10, 124), eine reine Bewegung des Begriffs abzubilden. Ein ewiges Geschehen ist aber kein Geschehen. Mithin ist die ganze Vorstellung jenes Processes und jener Bewegung eine selbst illusorische, es ist eigentlich nichts geschehen, alles ist nur in Gedanken vorgegangen, und diese ganze Bewegung war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens. Dieß hätte jene Philosophie ergreifen sollen; damit setzte sie sich außer allen Widerspruch, aber eben damit begab sie sich ihres Anspruchs auf Objektivität, d. h. sie mußte sich als Wissenschaft bekennen, in der von Existenz, von dem, was wirklich existirt, und also von Erkenntniß in diesem Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen, und da Existenz überall das Positive ist, nämlich das, was gesetzt, was versichert, was behauptet wird, so mußte sie sich als rein negative Philosophie bekennen, aber eben damit den Raum für die Philosophie, welche sich auf die Existenz bezieht, d. h. für die positive Philosophie, außer sich frei lassen, sich nicht für die absolute Philosophie ausgeben, für die Philosophie, die nichts außer sich zurückläßt. (AS 4, 540–541; SW I/10, 124–125)

Die Distinktion von negativer und positiver Philosophie, die für Schellings Spätphilosophie ausschlaggebend ist, kann man so verstehen, dass die negative Philosophie sich mit der Begrenzung der Vernunft angesichts der schieren Faktizität bescheidet. Sie zieht sich auf eine Selbsterforschung des Denkens zurück und maßt sich im schlimmsten Fall an, damit zugleich eine Ontologie, d. h. eine Ableitung der kategorialen Grundstruktur des Seins selbst, zu liefern, was Schelling insbesondere Hegel attestiert. Die positive Philosophie ist hingegen eine „geschichtliche Philosophie“ (SW II/1, 571) im folgenden Sinne: Sie befasst sich mit der Entwicklung verschiedener Formen von Bewusstsein aus dem Sein selbst. Das Sein selbst heißt beim späten Schelling „unvordenkliches Seyn“ (SW I/10, 36 oder II/3, 264), bei dem es sich um eine Form der

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252 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Faktizität handelt, die nicht durch einen Gedanken hervorgebracht worden sein kann. Das Sein geht dem Denken radikal voran, es begründet das Denken auf eine Weise, die sich im Denken allein niemals erfolgreich darstellen lässt. Dieser allgemeine Gedanke einer Selbstbegrenzung der Vernunft gehört freilich noch in den Bereich der negativen Philosophie, die den Weg für einen praktischen Sprung in die positive Philosophie bereitet.53 Schelling entwickelt den konkreten Übergang von der negativen in die positive Philosophie vor allem in der 24. Vorlesung der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie. Dort teilt er mit, dass die positive Philosophie mit dem „Ausspruch: ‚Ich will das, was über dem Seyn ist‘“ (SW II/1, 564) beginnen könne. Er bezeichnet dasjenige, was über dem Sein ist, auch als „Herrn des Seyns“ (SW II/1, 564) und damit als einen „persönlichen, wirklichen Gott“ (SW II/1, 564), dessen Existenz niemals dadurch abgesichert werden könne, dass die Vernunft ihren begrifflichen Apparat untersucht. Hierbei gibt Schelling nicht etwa die Philosophie zugunsten eines theistischen Fideismus auf, sondern möchte vielmehr zeigen, dass sich das unvordenkliche Sein über religiöse Vorstellungen, d. h. über Götterwelten, selbst personalisiert: Es gibt schlichtweg bisher kein menschliches Bewusstsein, das jegliche Mythologie völlig abgestreift hätte, ein Motiv, mit dem Schelling u. a. Ernst Cassirer, Hans Blumenberg und Kurt Hübner beeinflusst hat.54 Mythos und Religion sind demnach keine Verfallsformen der Vernunft, die man durch Rekurs auf wissenschaftliche Wahrheit ersetzen könnte, schon deswegen nicht, weil der Gedanke einer wissenschaftlichen Vernunft, die ohne narrative Einbettung zu operieren meint, ihrerseits eine Form der Mythologie generiert.55 Die positive Philosophie ist wesentlich eine „geschichtliche Philosophie“ (SW II/1, 571; II/3, 125, 138, Anm.1). Sie befasst sich mit einer Rekonstruktion der Geschichte des Selbstbewusstseins, gibt dabei aber den transzendentalen Rahmen auf, innerhalb dessen Schelling noch um 1800 operierte. Denn nun transformiert sich das Bewusstsein selbst, womit sich die positive Philosophie in der Tat von Hegels Projekt abgrenzt, die Geschichte als eine protologische Entfaltung begrifflicher Strukturen aufzufassen. Diesen Grundgedanken kann man sich folgendermaßen vergegenwärtigen. Das „mythologische Bewußtseyn“ (II/1, 20, 108, 184 u. passim) bezieht sich auf die Wirklichkeit als einer Manifestation eines Pantheons, einer Götterwelt. Bewusstsein ist theogo53 Vgl. dazu insbesondere Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln, 1955 und Christian Iber, Das Andere der Vernunft. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin, 1994. 54 Vgl. zu diesen Zusammenhängen ausführlich Gabriel, Der Mensch im Mythos, §§ 16–18. Vgl. auch die herausragende Studie von Axel Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt a. M., 1996 und die systematische Weiterentwicklung in Axel Hutter, Narrative Ontologie, Tübingen, 2017. 55 Was auch eine der Einsichten der Dialektik der Aufklärung ist, vgl. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1981.

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II. Werkstruktur 253 nisch: Verschiedene Götterwelten, die indische, chinesische, griechische, usw. entspringen den Vorstellungen von Menschen, die alle Phänomene im Licht göttlicher Ereignisse betrachten. Dem mythologischen Bewusstsein ist der Gedanke völlig fremd, dass es Naturerscheinungen gibt, die anonymen Gesetzmäßigkeiten unterstehen. Deswegen lehnt Schelling in seiner Historisch Kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie die bis heute verbreiteten Erklärungen der Mythologie als Proto-Naturwissenschaft bzw. als Poesie ab. Die mythologischen Vorstellungen sind für das Bewusstsein wirklich, sie verdecken keine andere Schicht, sie sind keine Allegorien, wie er sagt, sondern Tautegorien: In der Mythologie spricht sich die Erfahrungswirklichkeit des Menschen genau so aus, wie sie ist.56 Auf diese Weise entsteht der Polytheismus als eine Vorstellungsreihe, welche die Bewusstseinsstruktur des Menschen formt. Niemand kann verkennen, daß eine Succession von Vorstellungen, durch die das Bewußtseyn wirklich hindurch gegangen ist, die einzige naturgemäße Erklärung des mythologischen Polytheismus ist. (SW, II/1, 126)

Der in Schellings Augen aus der griechischen Mythologie hervorgehende Gedanke, dass es letztlich nur einen Gott gibt, der allen anderen Göttern überlegen ist, überwindet die Mythologie noch nicht, sondern bleibt in ihrem Horizont. Deswegen kommt es in den philosophisch-monotheistischen Systemen, die mit Namen wie Xenophanes, Platon und Aristoteles verbunden sind, nicht zu einer Überwindung des Polytheismus, sondern zu einem relativen Monotheismus, den Schelling vom absoluten Monotheismus unterscheidet (vgl. etwa SW II/1, 128 f.). In der mythologischen Phase der Menschheit ist der Mensch wesentlich „natura sua Gott setzendes Prinzip“57, alles erscheint hier voll von Göttern, welche die gesamte Erfahrungswirklichkeit in das Licht tiefer Bedeutsamkeit rücken. Was geschieht, ist keine Reihe zufälliger bzw. von Naturgesetzen gesteuerter anonymer Prozesse, sondern ein Ausdrucksgeschehen, in dem die Götter ihren Willen zeigen; ein Welt- und Menschenbild, das aus den großen Epen, für Schelling vor allem aus den Homerischen Epen sowie der Theogonie Hesiods, vertraut ist. Der Unterschied zwischen diesem mythologischen Bewusstsein und dem Bewusstsein der Offenbarung, das der zweite Teil der positiven Philosophie, die Philosophie der Offenbarung, thematisiert, besteht in dem Gedanken eines kommenden Gottes, eines Gottes, „der einst seyn wird“ (SW II /1, 171), wie Schelling die biblische Selbstbeschreibung Gottes in Exodus 3,14 deutet, was eine mögliche Lesart der entsprechenden hebräischen Aussage ist. Die Gründungsgeste des absoluten Monotheismus der abrahamitischen Religionen durchbricht die mythologischen Götterwelten, 56 Gabriel, Der Mensch im Mythos, § 11. 57 Friedrich Wilhelm Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. u. mit Nachwort v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg, 2004, S.12. (Im Folgenden zitiert unter der Sigle UPO); vgl. auch SW II/1, S. 185, 198.

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254 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling steht aber noch „unter der Bedingung der Mythologie“ (SW II/1, 171), weshalb für Abraham selbst der absolute Monotheismus eine „Religion der Zukunft“ (SW II/1, 171) ist. Der wahre Gott ist der, der seyn wird, das ist sein Name. Als Moses fragt, unter welchem Namen der den Gott verkündigen soll, der das Volk aus Aegypten führen werde, antwortet dieser: „Ich werde seyn der ich seyn werde“; hier also, wo der Gott in eigener Person spricht, ist der Name aus der dritten in die erste Person übersetzt, und ganz unstatthaft wäre es, auch hier den Ausdruck der metaphysischen Ewigkeit oder Unveränderlichkeit Gottes zu suchen. (SW II/1, 171)

Schelling wendet sich damit im Namen des abrahamitischen Verständnisses von Gott als Person gegen den Gott der Philosophen, der in der ontotheologischen Gleichsetzung Gottes mit einem obersten Seinsprinzip besteht.58 Dies entspricht der Maxime der positiven Philosophie: „Person sucht Person“ (SW II/1, 566).59 Der Mensch sucht in der Geschichte des Selbstbewusstseins nach einem personalen Sein, in dem sein eigenes Selbst begründet ist. Unser Selbstsein kann nämlich nicht in anonymen Naturprozessen begründet sein, weil in jeder solchen naturalistischen Annahme das Problem wiederkehrt, dass die Naturprozesse einen Sprung durchlaufen müssen, ehe ein Selbst entstehen kann. Doch damit verschiebt man die Erklärungslast von den Naturprozessen auf den Sprung und ist folglich daran gescheitert, das menschliche, bewusste Selbstverhältnis in Naturprozessen zu begründen. Stattdessen entwickelt Schelling eine personale Ontologie, indem er die Seinsgeschichte als „Erhöhung in Selbstheit“ (SW II/1, 389) auffasst: Das unvordenkliche Sein, die Faktizität der Wirklichkeit, die jedem bewussten Zugriff vorangeht, transformiert sich ohne weiteren Grund in personale Strukturen der Selbstheit, wofür Schelling geschichtliche Belege anführt, die sich nicht a priori ableiten oder in einem metaphysischen Begründungsgang verankern lassen. Diese Methode der positiven Philosophie nennt er eine „höhere Stufe des philosophischen Empirismus“ (SW II/3, 115), einen „wahren Empirismus“ (SW II/3, 112), den er von einem „bloße[n] Empirismus“ (SW II /3, 112) abgrenzt. An anderer Stelle spricht er auch von einem „apriorische[n] Empirismus (SW II /3, 102, 130) bzw. einem „Empirismus des Apriorischen“ (SW II/3, 130), der darin besteht, Belege dafür zu sammeln, dass unser ontologischer Status als Person eine Personalisierung des Seins selbst ist. Das Universum kulminiert im menschlichen Selbstverhältnis und kann deswegen nicht sinnvoll darauf reduziert werden, ein gigantisches physikalisches Experiment mit Kräften und Massepunkten zu sein. 58 Vgl. dazu Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a. M., 1972. 59 Vgl. zu diesem Thema die Beiträge in Thomas Buchheim, Friedrich Hermanni (Hg.), ‚Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde‘. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin, 2004.

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II. Werkstruktur 255 Die Aufgabe der Philosophie der Mythologie besteht darin, diesen personalen Standpunkt unter Rekurs auf die Verlaufsform des mythologischen Bewusstseins zu begründen, womit sich Schelling strikt von der negativen Philosophie abgrenzt, die in der Methode der rationalen Analyse unseres Vernunftapparats besteht, dabei aber übersieht, dass dieser Apparat eine Geschichte hat, die man nicht von ihrem Ende her, der rationalen Selbsterfassung, rekonstruieren kann. Vernunft ist demnach das Ergebnis eines Prozesses, der in seiner Verlaufsform noch nicht vernünftig ist, weshalb das mythologische Bewusstsein nicht imstande ist, sich logisch zu erfassen. In seiner Münchener Vorlesung Grundlegung der positiven Philosophie (WS 1832/33 und SS 1833) drückt Schelling dies in einer einzigen Frage aus: „Die ganze Welt liegt gleichsam in der Vernunft gefangen, aber die Frage ist: wie ist sie in dieses Netz gekommen …?“60 Die Vernunft entspringt Prozessen, die nicht von ihrem Ziel her, d. h. von der Vernunft aus, rekonstruierbar sind. Das entspricht Schellings Begriff der Geschichte als einer kontingenten Entwicklung, die in der Retrospektive Struktur hat, die aber nicht im Hinblick auf diese Retrospektive ablaufen kann. Diese temporale Struktur steht im Zentrum der Darstellung der positiven Philosophie, die wir der sogenannten Urfassung der Philosophie der Offenbarung verdanken, bei der es sich um eine zuverlässige Abschrift von Schellings Münchener Vorlesungen der 1830er-Jahre zu halten scheint.61 Dort spricht Schelling von einer „geschichtliche[n] Anschauung des Universums“ (UPO, 5), die behauptet, „daß alles auf Willen, Freiheit und wirklicher Tat beruhe.“ (UPO, 5) Vor diesem Hintergrund entwickelt die Philosophie der Offenbarung eine Ontologie der Freiheit, d. h. eine Theorie des „absichtlich gesetzte[n] Sein[s]“ (UPO, 23). Der Grundgedanke, der hier gemeint ist, kann mittels des Begriffs der Anpassungsrichtung (direction of fit) aus der neueren Handlungstheorie erläutert werden.62 Wer eine Handlung ausführt und damit etwas erreichen will, hat ein Handlungsziel vor Augen. Die Wirklichkeit wird im Lichte dieses Handlungsziels daran gemessen, ob sie der Ausgangslage der Handlung entspricht. Im Fall intentionaler, absichtlicher Handlungen soll sich die Wirklichkeit nach den Vorstellungen des Handelnden richten, während im Fall theoretischer Urteile über anonyme Naturverläufe nur zählt, ob die Theoriebildung des Urteilenden richtig oder falsch ist; die theoretische Urteilsfindung bemisst sich nach der Wirklichkeit. Gäbe es nur theoretische Urteile, bestünde kein Raum für irgendeinen Handlungsbegriff. Wir könnten uns nicht als Akteure verstehen. Die Frage der positiven Philosophie lautet nun, wie die Wirklichkeit beschaffen sein muss, damit Raum für ein unreduziertes Verständnis unserer selbst als Akteure besteht. 60 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. und komm. v. Horst Fuhrmans, Turin, 1972, S. 222 (vgl. auch SW I/10, S. 143 f.). 61 Vgl. Walter E. Ehrhardt, „Nachwort des Herausgebers“ in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Hamburg, 1992 (im Folgenden zitiert unter der Sigle UPO), S. 729–742. 62 Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, Intention, Oxford, 1958 und John Rogers Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge, 1969.

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256 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling An dieser Stelle wendet Schelling in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung einen theoretisch raffinierten Kniff an. Er weist nämlich darauf hin, dass die Ausführung eines philosophischen Systems eine absichtliche Handlung ist. Wir beobachten in der philosophischen Theoriekonstruktion nicht einfach eine von dieser völlig unabhängige Wirklichkeit. Man liest der Wirklichkeit ihre Ontologie nicht so ab, wie man etwa einem Geigerzähler das Ausmaß ionisierender Strahlung in seiner Reichweite entnehmen kann. Wenn das philosophische System aber eine freischwebende Erfindung wäre, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätte, wäre die Theoriewahl und ihre Ausführung völlig arbiträr. Daraus schließt Schelling: Die erste Voraussetzung der Philosophie ist, daß in dem Sein – in der Welt – Weisheit sei. Die Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Voraussicht, mit Freiheit, entsteht. Ich verlange Weisheit – heißt soviel – als ich verlange ein absichtlich gesetztes Sein. Die erste Erklärung der Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist. (UPO, 23)

Doch das bedeutet wiederum, dass „die anfängliche Stellung der Philosophie“ (UPO, 23) sich vor dem Sein befindet. Die Philosophie beginnt als „das, was vor dem Sein ist“ (UPO, 23), und bewegt sich auf dasjenige zu, „was sein wird, das absolut Zukünftige“ (UPO, 24). Aufgabe ist dabei eine Umkehrung des ontologischen Gottesbeweises:63 Es gilt nachzuweisen, dass sich die dem Urteil gegebene Tatsachenwirklichkeit, das Sein, als etwas verstehen lässt, das absichtlich gesetzt ist. Dafür begibt sich Schelling in die Tiefendimension des mythologischen Bewusstseins und versucht insbesondere zu zeigen, dass die griechische Mythologie sich in den sogenannten Eleusinischen Mysterien auf einen kommenden Gott vorbereitet, der reiner Geist ist und die Wirklichkeit als solche setzen kann.64 Die Geschichte der Vorstellungsweisen eines solchen rein geistigen Gottes in den antiken Mysterienspielen ist für Schelling kein reines Theater, pure Fiktion, sondern vielmehr eine Konfiguration des menschlichen Bewusstseins, durch die sich die Gottesvorstellung transformiert. Nichts anders war der Hauptinhalt der Mysterien, als die Geschichte des religiösen Bewußtseins selbst, oder objektiv gesagt, die Geschichte des Gottes selbst, der aus ursprünglicher Ungeistigkeit zur vollkommenen Geistigkeit sich verklärt und überwunden hat. Der letzte Inhalt der Mysterien ist also der rein geistige Gott. (UPO, 351)

63 Vgl. dazu ausführlich Gabriel, Der Mensch im Mythos, § 9 sowie die ausführliche Interpretation der Urfassung der Philosophie der Offenbarung bei Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen, 2008. Zum Thema des kommenden Gottes, in dem ­Dionysos und Christus im romantischen Denken verschmelzen, vgl. das Standardwerk von Frank, Der kommende Gott. 64 Vgl. dazu wiederum Gabriel, Der Mensch im Mythos, § 18. Zu den Mysterien vgl. insbesondere Walter Burkert, Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, 5. Aufl., München, 2012.

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II. Werkstruktur

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Das klingt für viele gegenwärtige Leser befremdlicher, als es in der Sache ist. Man kann den Gedanken folgendermaßen rekonstruieren. Bezeichnen wir den Tatsachenraum der Wirklichkeit wiederum als Sein. Dieses Sein ist Gegenstand unserer theoretischen Bemühungen, wobei man es an dieser Stelle offenlassen kann, ob etwa eine künftige Physik das ganze Sein erschöpfend erklären können wird (wie der Physikalismus meint), oder ob das Sein irgendwie ontologisch plural ist, also von verschiedenen Wissenschaften erforschbar bleiben wird. Was auch immer das Sein ist, es muss jedenfalls in einigen Fällen damit vereinbar sein, dass wir es verändern. Dazu gehört insbesondere der schiere Umstand, dass wir Theorien entwickeln, die das Sein zu erfassen suchen, womit sich diese Theorien noch längst nicht im Sein selbst finden lassen. Es gibt etwa Physisches, lange bevor es die Physik als Disziplin gibt. Die Physik als Disziplin ist nicht auf dieselbe Weise entstanden wie etwa Planeten, sodass es bis heute fragwürdig ist, ob und wie sich die Physik als Disziplin im Gegenstandsbereich ihrer Forschung (im Universum) vorfinden lässt. Nun stellt sich die Frage, wie sich das absichtlich gesetzte Sein, etwa die Theorie, zu demjenigen Sein verhält, das sie vorfindet. Und an dieser Stelle führt Schelling den Gedanken ein, dass es möglich ist, das gesamte Sein als Produkt eines Willens aufzufassen, der in der Tatsachenstruktur selbst nur in der Form von Handlungen erkennbar sein kann. Auf diese Weise werden die Handlungen des Menschen, welcher der eindeutige Beleg für Freiheit ist, als Indikator dafür gesehen, dass es einen Gott geben kann, der sich zum Sein insgesamt so verhält wie wir zu einem Fall von Sein, den wir absichtlich hervorbringen. Dieser Gedanke, der zur Gottesfrage führt, stellt sich erst, wenn der Mensch einen Begriff von sich selbst gewonnen hat, der es uns erlaubt, uns als autonome Akteure zu verstehen, deren Handlungen die Wirklichkeit, das Sein, modifizieren können. Dieses Selbstverständnis nennt Schelling in ausführlicher Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie „Menschwerdung“: „Die Offenbarung selbst besteht in der beschlossenen, vollendeten Menschwerdung.“ (UPO, 398) Das ist insofern ein radikaler Gedanke, als Schelling ihn so wendet, dass die gesamte Wirklichkeit im Hinblick auf das Format menschlicher Handlungen ausgedeutet werden soll. Das Sein wird zum Austragungsort menschlicher Freiheit, die sich an dem Gedanken orientiert, dass das Sein als solches absichtlich gesetzt sein könnte, womit der für die Spätphilosophie charakteristische Gedanke eines „absolute[n] Geist[es]“ (UPO, 63, 69 et passim.) bzw. „absolut freien Geiste[s]“ (UPO, 70) eingeführt ist. So ist Gott erst in der Offenbarung persönlicher Gott und steht dem Menschen wie ein Mensch gegenüber, und was von Moses gesagt wird, Gott habe mit ihm, nicht, wie mit den Propheten, durch Visionen, sondern von Angesicht zu Angesicht gesprochen, dies kann in der Offenbarung überhaupt gesagt werden; er stellt sich dem Menschen, wie eine Person der Person, entgegen. (UPO, 423)

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258 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Dieser Vorgang findet dabei im Bewusstsein statt, weil „Gott“ keine Entität im natürlichen Universum bezeichnet, sondern vielmehr eine prä- und postontologische Dimension der Seinssetzung, die metaphysisch in Analogie zur Handlungsontologie verstanden wird. Offenbarung ist deswegen nicht nach dem alten Modell der Diskussion von Wundern zu verstehen. Gott modifiziert keine Naturgesetze, sondern gehört genuin der Dimension des Geistes an, die sich nicht restlos im physikalischen Universum abbilden lässt. [J]ede Offenbarung besteht darin, daß Gott sich selbst mitteilt; Gott teilt sich selbst mit und somit kann alle Offenbarung nur ein Sich selbst Hervorbringen im Bewußtsein sein. Eine bloße Mitteilung durch Wort und Schrift könnte dies nicht tun; eine Offenbarung muß auf einem innern Vorgange beruhen. (UPO, 490)

An dieser Stelle ist es eine noch offene Frage der Schelling-Forschung und -Deutung, wie das Thema einer Religion der Zukunft, einer „johanneischen Religion“, wie Schelling sagt, zu verstehen ist.65 Einerseits tritt Schelling als eindeutiger Fürsprecher des Christentums auf, was den Verdacht weckt, seine Spätphilosophie sei christliches Denken. Andererseits ist die von ihm entworfene Vision einer Philosophie und Religion der Zukunft jedenfalls nicht problemlos theologisch abbildbar, sodass es Aufgabe der philosophischen Interpretation der Philosophie der Offenbarung wäre, den theologischen Jargon dieses Spätwerks philosophisch zu rekonstruieren. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass sich in der Spätphilosophie eine Entwicklung vom Absoluten hin zum absoluten Geist konstatieren lässt. Aus der radikalen Ungegenständlichkeit des Unbedingten wird im Laufe von Schellings Denkweg ein personales Verhältnis, womit er u. a. Positionen wie derjenigen von Franz Rosenzweig sowie der Ethik Emmanuel Lévinas vorgreift.66 Wenn der Sinn von Sein in Personalität gefunden wird, verändert sich unser Bild der Wirklichkeit, weil wir in dieser nicht mehr als Fremdkörper, sondern vielmehr als eigentliches Zentrum der an uns gerichteten ethischen Ansprüche auftreten. Der Primat des Praktischen, der im Übergang von der negativen zur positiven Philosophie intendiert 65 An dieser Stelle wäre die Frage zu diskutieren, wie sich Schellings Projekt der Ankündigung einer neuen Religion zur neuen Mythologie und im Allgemeinen zu radikalen Utopien der Hoffnung verhält. Zur Diskussion dieses Komplexes vgl. Walter Kasper, Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. George Augustin, Freiburg, 2010 sowie bereits die Bonner Dissertation von Jürgen Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Bonn, 1954. Die Nähe zu Ernst Bloch wurde ebenfalls früh von Habermas bemerkt, vgl. Jürgen Habermas, „Ein marxistischer Schelling. Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus“, in: Merkur 153, 1960. Zum Zusammenhang von Schellings Hegelkritik mit der Frühgeschichte des Marxismus vgl. Frank, Der unendliche Mangel an Sein.  66 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, in: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften 2, hg. v. Rahel Rosenzweig, Den Haag, 1976; Emmanuel Lévinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, La Haye, 1961.

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Literatur 259 ist, erhebt in dieser Lesart äußerst starke metaphysische Ansprüche, weil er uns dazu auffordert, Wirklichkeit primär als Ort der Manifestation von Absichten und nicht als ein stabiles Sein zu verstehen, mit dem wir primär theoretisch, epistemisch und kognitiv in Verbindung stehen.67

Literatur Werke Friedrich Wilhelm Schelling SW – Sämmtliche Werke Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings, hg. v. Karl F. A. Schelling, Stuttgart/

Augsburg, 1856–1861. IPU – Initia Philosophiae Universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21, hg. u. komm. v. Horst Fuhrmans,

Bonn, 1969. Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. und komm. v. Horst Fuhrmans, Turin, 1972. HGS – Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Schellings, im Auftrag der Bayerischen

Akademie der Wissenschaften hg. v. Jörg Jantzen, Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs und Siegbert Peetz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1976 ff. AS – Ausgewählte Schriften in 6 Bänden, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M., 1985.

Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter, hg. v. Lothar Knatz, Hans Jörg Sandkühler u. Martin Schraven, Hamburg, 1994. Zeitschrift für spekulative Physik, 2 Bde., hg. v. Manfred Durner, Hamburg, 2001 f. Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816. Die Weltalter II – Über die Gottheiten von Samothrake, hg. v. Lothar Knatz, Hans Jörg Sandkühler u. Martin Schraven, Hamburg, 2002. UPO – Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. u. mit Nachwort v. Walter E. Ehrhardt,

Hamburg, 2004.

Weitere Autoren Adorno, Theodor Wiesengrund/Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor Wiesengrund Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1981. Frege, Gottlob, „Der Gedanke: Eine logische Untersuchung“, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1, 1918–1919, S. 58–77. Hölderlin, Friedrich, „Urtheil und Seyn“, in: Stuttgarter Hölderlin Ausgabe, Bd. 4.1, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart, 1961. 67 Vgl. dazu ausführlicher Markus Gabriel, „Aarhus Lectures. Schelling and Contemporary Philosophy. Third Lecture: The Prospects of Schelling’s Critique of Hegel“, in: SATS. Northern European Journal of Philosophy 16/1, 2015, S. 114–137 sowie ders., „Aarhus Lectures. Schelling and Contemporary Philosophy. First Lecture: Schelling on Why There is Something Rather than Nothing in the Original Version (Urfassung) of the Philosophy of Revelation“, in: SATS. Northern European Journal of Philosophy 14/1, 2013, S. 70–101 sowie Markus Gabriel, Slavoj Žižek, Mythology, Madness, and Laughter. Subjectivity in German Idealism, New York/London, 2009.

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260 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Jacobi, Friedrich H., David Hume oder über den Glauben oder Realismus und Idealismus (1787), Werke, Bd. 2, hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske, Hamburg, 2004. Kant, Immanuel, Kants Werke, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Photomechanischer Nachdruck, Berlin, 1968. Oken, Lorenz, Die Zeugung, Bamberg/Würzburg, 1805. Schubert, Gotthilf Heinrich, Die Symbolik des Traumes, Bamberg, 1814. Spinoza, Benedictus de, Ethica Ordine Geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta, in: Opera, Bd. 2, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Carl Gebhardt, Heidelberg, 1925 (Nachdruck 1973). Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1., Frankfurt a. M., 1984.

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Literatur 265

Georg Wilhelm Friedrich Hegel Anton Friedrich Koch (Heidelberg)

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Inhalt I. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 II.

Die 25 Jahre der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

III.

Die Wissenschaft der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

IV.

Ausblick in die Realphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

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I. Biographisches Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Nach dem Besuch des Stuttgarter Gymnasiums studierte er ab 1788 als Stipendiat des Evangelischen Stifts an der Universität Tübingen. Auf das obligatorische philosophische Grundstudium mit Magisterabschluss 1790 folgten drei Jahre Theologie bis zum Kirchenexamen 1793. Danach wurde er jedoch nicht Vikar und Pfarrer in Württemberg, sondern Hauslehrer zuerst in Bern und dann in Frankfurt am Main, 1801 Privatdozent in Jena, 1807 Chefredakteur in Bamberg, 1808 Gymnasialprofessor und Rektor in Nürnberg, schließlich von 1816 bis 1818 Professor für Philosophie in Heidelberg und ab 1818 in Berlin, wo er am 14. November 1831 starb. Über die Details seines Lebenslaufs geben Nachschlagewerke und Biographien Auskunft.1 Hier soll sein reifes Philosophieren behandelt werden, dessen frühe Gestalt in der in Jena verfassten und 1807 in Bamberg und Jena erschienenen Phänomenologie des Geistes (kurz Phänomenologie, bei Nachweisen: PhG) erstmals sichtbar wird. Auf die Phänomenologie folgte in den Nürnberger Jahren sein Hauptwerk, die Wissenschaft der Logik (kurz Logik) in zwei Teilen und zugleich drei Büchern: der Lehre vom Sein (1812) und vom Wesen (1813) als der objektiven Logik und der Lehre vom Begriff (1816) als der subjektiven Logik. Die Lehre vom Sein erschien neu bearbeitet noch einmal posthum in zweiter Auflage 1832. Zur Neubearbeitung der Lehre vom Wesen und vom Begriff ist Hegel nicht mehr gekommen. Die ganze Logik jedoch publizierte er in Kurzform auch als ersten von drei Teilen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (kurz Enzyklopädie, bei Nachweisen: Enz), die 1817 in Heidelberg als Leitfaden für seine Hörer erschien und deren zweiten und dritten Teil die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes bilden, die man ein wenig missverständlich als Realphilosophie zusammenfasst (missverständlich, weil schon die Logik auf ihre Weise vom Realen handelt). 1827 und 1830 veröffentlichte er die Enzyklopädie in Berlin in erweiterter zweiter bzw. dritter Auflage. Die enzyklopädische (oder „kleine“) Logik in der dritten Auflage von 1830 ist somit Hegels letztes publiziertes Wort zur Lehre vom Wesen und vom Begriff. Bleibt zum Schluss noch ein weiteres Buch zu nennen: die 1821 in Berlin erschienenen Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in der Literatur kurz Rechtsphilosophie oder Grundlinien genannt. Sie enthalten die Lehre vom objektiven Geist: dem Recht, der Moralität und der Sittlichkeit, die die mittlere Abteilung der Philosophie des Geistes ausmacht, deutlich ausführlicher als in der Enzyklopädie, allerdings wiederum 1

Rechtzeitig vor Hegels 250. Geburtstag ist die fortan maßgebliche Biographie erschienen, deren 824 inhaltsreiche Seiten sogar durch (Nach‑)Recherchen an allen Wohnorten Hegels validiert sind: Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München, 2019. Zum runden Geburtstag erschienen kompakte, gut lesbare Gesamtdarstellungen von Hegels Philosophie, insbesondere von Sebastian Ostritsch, Hegel. Der Weltphilosoph, Berlin, 2020, und Günter Zöller, Hegels Philosophie. Eine Einführung, München, 2020. Eine ältere Gesamtdarstellung ist die von Hans Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München, 2003.

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268 Georg Wilhelm Friedrich Hegel nur im Grundriss und als Leitfaden für die Hörer der Vorlesungen. Dies sind alle zum System der Philosophie gehörigen Bücher, deren Veröffentlichung Hegel selbst besorgt hat. Verschiedene seiner Vorlesungen  – über die Philosophie der Geschichte, die Philosophie der Religion, die Ästhetik und die Geschichte der Philosophie – wurden posthum von Freunden und Schülern ediert. Im Folgenden wird Hegels philosophisches System von seiner logischen Grundlage, der Wissenschaft der Logik, her erschlossen. Maßgebend für die Lehre vom Sein ist dabei deren zweite Auflage von 1832. Für die Lehre vom Wesen und die Lehre vom Begriff werden neben den Ausgaben von 1813 bzw. 1816 die späteren Kurzdarstellungen in der Berliner Enzyklopädie von 1830 zu berücksichtigen sein. Wir betrachten aber zuerst noch einige Aspekte des Weges von Kant zu Hegel, bevor wir im dritten Abschnitt ausführlich die Wissenschaft der Logik behandeln und im vierten einen flüchtigen Blick aufs System werfen.

II. Die 25 Jahre der Philosophie Die Überschrift zitiert Eckhart Försters bekannten Buchtitel und bezieht sich wie dieser auf die 25 Jahre zwischen dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft 1781 und dem Abschluss von Hegels Manuskript der Phänomenologie des Geistes 1806.2 In jenem Zeitraum hat selbstverständlich nicht die Philosophie überhaupt, wohl aber die klassische deutsche ihre miteinander konkurrierenden Gestalten und in den folgenden 25  Jahren bis zu Hegels Tod 1831 ihre Hegel’sche Fortsetzung und Ausarbeitung gewonnen. Dass es andere Fortsetzungen gibt, eine kurze und intensive bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und eine lange bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775– 1854), soll damit nicht kleingeredet werden, ebenso wenig das Wirken Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819), der 1785 die Philosophie Spinozas als Alternative zu Kant in die Diskussion gebracht hatte und später als Kritiker, Anreger und Stichwortgeber die Theoriebildung bei Fichte, Schelling und Hegel beeinflusste.3

Kants Kritik der reinen Vernunft Kant hat die Kritik der reinen Vernunft (Riga 1781, 2. Aufl. 1787, fortan: KrV, A und B) mit einer kurzen transzendentalen Ästhetik eröffnet, der eine lange transzendentale Logik folgt. In der transzendentalen Ästhetik werden Raum und Zeit als die allgemeinen und reinen, d. h. empiriefreien, Formen unserer sinnlichen Anschauung und zugleich des außerlogischen Mannigfaltigen, in der transzendentalen Logik sodann die reinen 2 3

Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a. M., 2011. Vgl. Jacobi, Friedrich Heinrich, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau, 1785. Jacobi rühmt Spinozas Philosophie als das einzig konsequente philosophische System, das aber, qua System, mit der Annahme der Freiheit unverträglich und daher zurückzuweisen sei.

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II. Die 25 Jahre der Philosophie 269 Begriffe des Verstandes und zugehörige reine Urteile sowie die reinen Begriffe der Vernunft, genannt Ideen, und zugehörige rein vernünftige (Fehl‑)Schlüsse behandelt. Als transzendental galt den „Alten“, wie Kant sich ausdrückt, die Lehre von den höchsten, transgenerischen (somit auch transkategorialen) Allgemeinheiten gemäß dem Merksatz: „quodlibet ens est unum, verum, bonum“ (KrV, B 113), und den Modernen die reine und dabei sachbezogene, kategorematische Theorie, somit die Metaphysik, nicht jedoch die allgemeine Logik und die Mathematik, die beide rein, aber auf je verschiedene Weise synkategorematisch sind.4 Kant hält an der modernen Doppelbestimmung des Transzendentalen zwar fest, aber er kommt gegen seine rationalistischen Vorgänger – Wolff, Baumgarten et al. – zu dem Ergebnis, dass eine reine und kategorematische, somit transzendentale Philosophie keine Gegenstandswissenschaft sein kann, also weder allgemeine noch spezielle Metaphysik, weder Ontologie noch rationale Psychologie, Kosmologie oder Theologie. Sie ist vielmehr die Lehre von den reinen, kategorematischen Zügen unseres Erkennens von Gegenständen. Neben rein und kategorematisch tritt damit epistemologisch als drittes Merkmal des Transzendentalen. Die transzendentale ist die objektive Logik, die allgemeine die subjektive. Erstere untersucht die logische Form als diejenige, in der Objekte sich dem Denken präsentieren, somit als kategorematische, spezifischer gesagt, kategoriale Form. Letztere untersucht die logische Form als diejenige des Denkens als solchen, somit als synkategorematische, propositionale Form. Diese Dualität der logischen Form als kategorialer und als propositionaler macht Kant sich zunutze, wenn er letztere als einen unstrittigen Leitfaden für die Herleitung der ersteren verwendet (KrV, A 76–83/B 102–109). Unstrittig, nämlich seit Aristoteles eine reife Wissenschaft, war die Lehre von den Vernunftschlüssen oder Syllogismen (und ist es bis heute geblieben, auch wenn sie mittlerweile in die moderne, an Frege orientierte Prädikatenlogik eingebettet werden kann). Dies vor Augen, räsoniert Kant zunächst kurz von unten herauf: Begriffe sind Prädikate zu möglichen Urteilen und Urteile Prämissen und Konklusionen zu möglichen Schlüssen, und sodann ausführlich von oben herab: Erstens gibt es kategorische, hypothetische und disjunktive Schlüsse. Das betrifft die Relation der Pole des Obersatzes. Sie stehen zueinander im Verhältnis entweder von Subjekt und Prädikat („S ist P“) oder von Antezedens und Sukzedens („Wenn p, so q“) oder von Subjekt und Disjunktion von Prädikaten („S ist P0 oder … Pn-1“). Zweitens werden Teilsätze von Syllogismen in verschiedenen Geltungsmodi vorgetragen: Prämissen werden behauptet im assertorischen Modus, Konklusionen relativ zu den Prämissen demonstriert im apodiktischen Modus, und Antezedentien hypothetischer Urteile erwogen im problematischen Modus, der 4

Termini, die sich auf Objekte beziehen, nannte Ockham (und nennt man seither) kategorematisch, logische Partikeln synkategorematisch. Mathematische Termini beziehen sich auf Abstrakta – bei Kant in letzter Analyse auf Aspekte der formalen Anschauungen des Raumes und der Zeit – und sind insofern (mit Aristoteles, Wittgenstein und Sellars, entgegen Platon, Frege und Quine) in letzter Analyse als synkategorematisch zu klassifizieren.

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270 Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich auf die Sukzedentien vererbt. Drittens hat das Subjekt eines kategorischen Urteils eine bestimmte Quantität: ist allgemein, besonders oder einzeln, und viertens das Prädikat-mit-Kopula eine bestimmte Qualität: ist bejahend, verneinend oder indefinit (bei Kant: „unendlich“). So entsteht eine vollständige Tafel von vier mal drei logischen Leistungen (bei Kant: „Funktionen“) des Verstandes in Urteilen (KrV, A 70/B 95), an die Hegel sich in seiner subjektiven Logik gebunden fühlt, obgleich sie von den sonst von ihm gepflegten Dreifach-Einteilungen durch ihr Vierfach-Muster störend abweicht. So viel zur propositionalen logischen Form, der Grundlage der subjektiven oder allgemeinen Logik. Die kategoriale logische Form, die Grundlage der objektiven oder transzendentalen Logik, leitet Kant daraus ab. Den synkategorematischen Denkleistungen in Urteilen entsprechen nämlich eins zu eins kategorematische logische Inhalte: die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe. Da diese nicht bloß notwendig unser Denken prägen, sondern als Termini auf Objekte zutreffen sollen, muss die beanspruchte objektive Gültigkeit allerdings noch eigens nachgewiesen werden. Das unternimmt Kant in der transzendentalen Deduktion. Die Hegel’sche Logik transzendental zu nennen, wäre irreführend. Denn erstens beerbt sie auch die allgemeine Logik, und zweitens abstrahiert sie nicht vom Realen als solchem, sondern nur von dessen raumzeitlicher Form. Hegels Problem ist nicht, wie Denken und Sein zusammenkommen, sondern wie sie auseinandertreten. Transzendental ist seine Logik daher allenfalls in einem vorkantischen, nichtepistemologischen Sinn. Bei Hegel geht die kategoriale Form der propositionalen, die objektive Logik als realitätsgesättigte der subjektiven voraus, und wenn sie es zu Recht tut, erübrigt sich für Hegel eine separate transzendentale Deduktion der reinen, kategorematischen Inhalte. Die reinen Inhalte der Rubriken Qualität und Quantität werden in der Seinslogik, die der Modalität und der Relation in der Wesenslogik abgehandelt; erst darauf folgt die Begriffslogik als die subjektive Logik. Allerdings ist, was Hegel bietet, alles andere als eine bloße Umgruppierung traditioneller Stoffe. Die kategorematischen Inhalte der ­objektiven Logik sind keine Kategorien im engen Sinn, d. h. keine Prädikate, keine ­ungesättigten Termini, die jeweils noch logischer Subjekte zur Vervollständigung ­bedürften, sondern selbstständige Inhalte des Denkens, also satzwertig, somit Wahrheitskandidaten, wenn auch noch nicht satzförmig (darüber mehr im dritten Abschnitt). Und die subjektive Logik botanisiert keineswegs nur unsere Urteile und Schlüsse, sie botanisiert überhaupt nicht und enthält ausweislich ihrer Dreiteilung in die Abschnitte Subjektivität, Objektivität und Idee einen überraschenden Rückgang in die Sphäre der Objektivität und somit der objektiven Logik. Was schließlich Kants transzendentale Ästhetik angeht, so bekommt sie, wenn auch nicht unter diesem Namen und nicht als unveränderte Doktrin, bei Hegel ihren Platz im unmittelbaren Anschluss an die Logik. Raum und Zeit als die allgemeinen Formen der außerlogischen Mannigfaltigkeit realer Einzelner sind, mit anderen Worten, die ersten Themen der Hegel’schen Naturphilosophie. Damit erst eröffnet sich für Hegel der Bereich wirklicher Aussagesubjekte und Prädikate, somit wirklicher Urteile und

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II. Die 25 Jahre der Philosophie

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Schlüsse. Seine Logik betrachtet den qualitativen, logischen Raum in qualitativer, logischer Sukzession. Erst mit der außerlogischen Mannigfaltigkeit in einem quantitativen, physikalischen Raum-Zeit-Kontinuum werden die in der Logik thematisierten, rein logischen Begriffe, Urteile und Schlüsse zu dem, was wir gewöhnlich unter Begriffen, Urteilen und Schlüssen verstehen und was Hegel etwas abwertend bloße Vorstellungen nennt. Darauf wird zurückzukommen sein.

Nach Kant Die Logik und die Mathematik waren reife, lehrbuch- und paradigmenfähige Wissenschaften seit alters, die Physik seit ihrer neuzeitlichen Umstellung auf mathematische Formulierung und experimentelle Überprüfung bei Galilei, Kepler und zuletzt Newton. Durch die erfolgreiche Bindung der Physik an die Mathematik war die Metaphysik aber ins Abseits geraten, was seitdem zu immer neuen Versuchen führte, sie ebenfalls in den Rang einer reifen Wissenschaft zu erheben. Kant blickte auf eine Reihe erfolgloser Bemühungen dieser Art zurück, ohne sich klarzumachen, dass eine inhaltliche Lehre nur durch Mathematisierung und Experiment zu einer reifen Wissenschaft werden kann, was für die Metaphysik als die Erste Wissenschaft freilich keine Option sein durfte. Kants revolutionäre Engführung der Philosophie mit der Logik erbrachte daher zwar eine Fülle an neuen Einsichten, aber nicht dieses eine besonders erwünschte Resultat. Vielmehr ging der philosophische Meinungsstreit weiter wie zuvor – und wird auch künftig weitergehen, denn die Philosophie kann prinzipiell nicht in eine aperspektivische, mathematisierte Wissenschaft umgeformt werden, sondern ist, was erst durch Heidegger ins allgemeine Bewusstsein gebracht wurde, eine perspek­tivengebundene, hermeneutische Disziplin wie die Rechts-, Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft, doch im Unterschied zu diesen allen die basale hermeneutische Wissenschaft a priori. Kant und seiner Zeit blieb dies verborgen. So versuchte in Jena Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) die kantische Lehre mittels einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens dem fortdauernden Meinungsstreit doch noch zu entziehen und auf eine unbestreitbare Tatsache, diejenige des Bewusstseins, als auf ein neues, skepsisresistentes Fundament zu gründen. Den Satz des Bewusstseins, der diese Tatsache ausdrücken sollte, hat Reinhold in mehreren Varianten als den Grundsatz der Philosophie formuliert, u. a. wie folgt: Durch keinen Vernunftschluss, sondern durch blosse Reflexion über die Thatsache des Bewusstseyns […] wissen wir: dass die Vorstellung im Bewusstseyn durch das Subjekt vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beyde bezogen werde.5 5

Karl Leonhard Reinhold, Über das Fundament des philosophischen Wissens (1791), Hamburg, 1978, S. 78. Erstmals vorgetragen hatte Reinhold seine Position in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag/Jena, 1789.

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272 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Aber die Skepsis ließ sich auch so nicht zum Verstummen bringen. Insbesondere war bei Reinhold unklar, wie aus dem Satz des Bewusstseins eine ganze Philosophie herausgesponnen werden könnte: nicht durch einfache logische Folgerungen, sondern, wie einigen aufging, nur durch logische Archäologie der schon von Kant visierten Art, nämlich durch gezieltes Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit eines gesicherten Faktums, hier eben der Tatsache des Bewusstseins. So erhalten wir übrigens das vierte und heute dominante Merkmal des Transzendentalen: Transzendentale Lehren und Argumente sind rein, kategorematisch, epistemologisch und im umrissenen Sinn archäologisch. In die Definition des Transzendentalen gehören aber nur die beiden erstgenannten Merkmale, die beiden letztgenannten sind kantische Korollarien. Hegel hat später den Satz des Bewusstseins zu dem Methodenprinzip der Phänomenologie des Geistes abgewandelt. Aber auf dem Weg zu Hegel gibt es zuvor noch einige Zwischenstationen zu erwähnen. Insbesondere ist das rund um Reinholds antiskeptische Fundierungsversuche neu erwachte Interesse an der klassischen, pyrrhonischen Skepsis zu nennen. Zum Ehrgeiz anspruchsvoller Philosophie musste es in der Folge gehören und gehörte es insbesondere bei Hegel, den Skeptiker in der Theoriebildung zu berücksichtigen, der sich anheischig macht, zu jedem beliebigen Satz den kontradiktorischen Gegen-Satz zu beweisen, und der seinerseits nicht mehr sagen will, was der Fall ist, sondern nur noch, was ihm der Fall zu sein scheint. Es lässt sich freilich antizipieren, dass die Mitnahme der Skepsis ins Boot der Theoriebildung an den Rand des philosophischen Schiffbruchs führen musste. Das Philosophieren im Schatten der Skepsis bzw. im Angesicht des Widerspruchs bildet eine von drei Neuerungen, die Hegel von Fichte lernen konnte. Die beiden anderen passen unter die Stichworte „Kategorienverflechtung“ und „Unfundiertheit“. Dies sei anhand der drei Grundsätze kurz erläutert, mit denen Fichte die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 eröffnet. Der erste, schlechthin unbedingte (§ 1) besagt: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn“, und führt, da das sich setzende Ich der Inbegriff aller realen Bestimmtheiten ist, zur Kategorie der Realität, die in die Kategorienrubrik der Qualität gehört.6 Dem zweiten, seinem Gehalt nach bedingten Grundsatz zufolge „wird dem Ich schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich“, woraus Fichte die Kategorie der Negation gewinnt (§ 2).7 Die Wissenschaftslehre beginnt also in Inkonsistenz, da ja dem Ich als dem Inbegriff des Realen ein Nicht-Ich kontradiktorisch entgegengesetzt wird. Dem dritten, seiner Form nach bedingten Grundsatz (§ 3), fällt so die Aufgabe zu, die Inkonsistenz zu beheben. Er lautet: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen“8, und soll „die Kategorie der Bestimmung (Begrenzung, bei Kant Limitation)“ zeitigen.9 Ohne auf Details einzugehen, sei bloß angemerkt, dass dieser dritte Grund6 7 8 9

I. H. Fichte (Hg.), Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Berlin, 1845/46, Bd. 1, S. 98 f. Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 122.

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satz den Widerspruch zwischen den beiden ersten nur vorläufig auflöst, sodass Fichte in einer sehr besonderen archäologischen Grabungskunst eine fortgesetzte logische Katastrophenbewältigung inszenieren und dabei immer neue, widerspruchsaufschiebende Lehrsätze finden muss und so weitere Kategorien ableiten kann. Am Ende und Fixpunkt der Wissenschaftslehre zeigt das Sich-Setzen des Ichs sich als unendliches Sollen: einerseits schon vollzogen, weil das Sollen als Vernunftforderung in Kraft ist, andererseits stets noch zu vollziehen, weil das Sollen kein Sein ist. Hegel wird diesen Vorschlag zur Lösung des Ausgangswiderspruchs als im Gegenteil dessen Perpetuierung kritisieren. Aber Fichtes Methode der logischen Katastrophenbewältigung mittels einer logischen Archäologie, die in systematischer Ordnung Kategorien freilegt, wird er sich in der Wissenschaft der Logik zu eigen machen. Den Widerspruch darf man nicht verdrängen, sondern muss sich ihm stellen. Zwar ist er nicht wahrheitsfähig, sodass es bei ihm nicht bleiben kann; aber gerade darin liegt sein theoretischer Segen: Er zwingt uns, weiterzugehen, nötigt uns, immer neue begriffliche Strukturen, neue Kategorien, zu entdecken, die sich dabei als in interner Sukzession miteinander verflochten erweisen, während sie bei Kant nur eins zu eins aus den Funktionen des Denkens in Urteilen hergenommen wurden. So viel zu Inkonsistenz und Kategorienverflechtung. Bleibt die Unfundiertheit. Dieser Terminus, den Fichte und Hegel nicht verwenden, stammt aus der Mengenlehre. Mengen heißen unfundiert, wenn sie selbst in ihrer Ε-Nachkommenschaft vorkommen, also unter ihren eigenen Elementen oder unter Elementen von (Elementen von …) ihren eigenen Elementen. Der einfachste Fall einer unfundierten Menge ist die Einermenge-ihrer-selbst, W, für die gilt W = {W} = {{W}} = {{{W}}} = … = {{{…}}}

Wollte man die Operation der (Einer-)Mengenbildung als eine konkrete Konstruktion verstehen, so käme die Vorstellung von Ω der Vorstellung eines unmöglichen, zirkulär konstituierten Objektes gleich. Doch mathematische Objekte sind Abstrakta, und für die Menge Ω und ihresgleichen lässt sich beweisen, dass wir sie ohne Widerspruch annehmen können, sofern die übliche Axiomatisierung der Mengenlehre wider­ spruchsfrei ist. Natürlich muss das Fundierungsaxiom dann durch ein geeignetes ­Antifundierungsaxiom ersetzt werden.10 Die Wendung „Einermenge-ihrer-selbst“ lässt erkennen, wie Fichte und Hegel Fälle von Unfundiertheit sprachlich fassen würden: als Selbstbeziehungen. So spricht Fichte vom sich selbst setzenden Ich, Hegel vom Anderen seiner selbst, vom sich auf sich beziehenden Unterschied, von der Beziehung des Negativen auf sich selbst, usw. Setzen, lateinisch ponere, ist ein logischer Arbeitsbegriff, sein Gegenbegriff ist aufheben, tollere (vgl. modus ponens und modus tollens). Was sich setzt, setzt sich selbst in Kraft, gibt 10 Vgl. Peter Aczel, Non-Well-Founded Sets, CSLI Lecture Notes 14, Stanford, 1988.

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274 Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich Gültigkeit, so nach Fichte das absolute Ich bzw. die Vernunft. Aber wie könnte sich Gültigkeit verleihen, was nicht schon Gültigkeit besäße? Bereits früh, in der Aenesidemus-Rezension von 1794, hatte Fichte diese Problematik vor Augen, als er Reinhold gegen den Skeptiker (Gottlob Ernst Schulze) in Schutz nahm, der jetzt, sowie das Wort: „Vorstellungs-Vermögen“ sein Ohr trifft, sich dabei nichts Anderes denken kann, als irgend ein (rundes oder vierecktes?) Ding, das unabhängig von seinem Vorstellen als Ding an sich, und zwar als vorstellendes Ding existirt. […] – Das V. V. existirt für das V. V. und durch das V. V.; diess ist der nothwendige Zirkel, in welchem jeder endliche, und das heisst, jeder uns denkbare, Verstand eingeschlossen ist. Wer über diesen Zirkel hinaus will, versteht sich selbst nicht, und weiss nicht, was er will.11

Der Zirkel des Vorstellungsvermögens (oder des Ichs) ist also nicht vitiös, sondern Fichtes philosophische Grundpointe. Dass wir ihn anerkennen müssen und können, dürfte seine ursprüngliche Einsicht gewesen sein.12 Was freilich nur für sich und nicht unabhängig von seinem Vorstellen, nicht auch an sich, existiert, existiert strenggenommen nur als Aufgehobenes (sich selbst Aufhebendes) und Ideelles. Mit Sartres zugespitzter Unterscheidung von An-sich und Für-sich könnte man sagen: Was sich selbst ursprünglich setzt und sich damit ein Für-sich-Sein gibt, hebt sich ipso facto als An-sich-Seiendes auf und annihiliert sich, macht sich zu einer nichtigen, seinsohnmächtigen Quasi-causa sui. Sich-Setzen und Sich-Aufheben fallen in eins und münden dabei in ein nichtiges Für-sich-Sein. So depotenziert hatte Fichte das absolute Ich nicht gemeint (sondern als Inbegriff aller Realitäten), aber so wurde er gelesen, namentlich von Jacobi, der die Wissenschaftslehre folgerichtig des Nihilismus zieh. Schelling und Hegel attestierten ihr mit ähnlicher Tendenz einen leeren, rein subjektiven Idealismus. Fichte hat 1800 in der Bestimmung des Menschen auf den Vorwurf des Nihilismus bzw. Subjektivismus reagiert und sich in späteren Vorträgen der Wissenschaftslehre mit Gründen dagegen verwahrt. Das absolute Ich konzipierte er im Spätwerk als ein völlig durchsichtiges, unverstelltes Bild des Absoluten, das sich demnach nicht leer in sich spiegelt, sondern aus und über sich hinaus ins wahrhaft Reale weist. Aber Fichtes späte Wissenschaftslehren sind nicht unser Thema; Hegel hat sie wohl auch nicht mehr zur Kenntnis nehmen können und wollen. Durch seine enge Zusammenarbeit mit Schelling in Jena wurde er in einer Position bestärkt, die unter das Etikett eines objektiven Idealismus passt. Subjekt und Objekt, Denken und Sein sind ihr zufolge logisch miteinander verschränkt bis hin zur Identität, sei es einer spannungsvollen (Hegel), sei es einer indifferenten (Schelling), 11 Fichte (Hg.), Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, S. 11. 12 Vgl. den entsprechenden Buchtitel von Dieter Henrich, 1966. Der Text jener Abhandlung ist un­ verändert neu erschienen und im Denken weitergeführt in: Dieter Henrich, Das Ich, das viel besagt. ­Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt a. M., 2019.

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und keineswegs eins aufs andere reduzierbar, weder das Denken aufs Sein, wie der Materialismus, noch das Sein aufs Denken, wie der subjektive Idealismus lehrt. Dieser Position ist Hegel, wie wir sehen werden, auch später treu geblieben.

Bemerkungen zur Phänomenologie des Geistes Während die 25 Jahre der Philosophie langsam zu Ende gingen, plante Hegel ein System der Wissenschaft in zwei Teilen, einer Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins und einer Logik, und arbeitete am ersten Teil, der im Frühjahr 1806 erscheinen sollte. Durch Entdeckungen während des Schreibens wuchs sich die Wissenschaft von der ­Erfahrung des Bewusstseins indes zu einer veritablen Phänomenologie des Geistes aus, die erst mit über einem Jahr Verspätung 1807 erschien.13 Nach Hegels Diagnose hatte das natürliche Bewusstsein in jahrtausendelanger Arbeit nun den Punkt erreicht, an dem die wissenschaftliche Philosophie erschienen und in einigen Individuen aufgetreten war. Kant und Fichte hatten alles Wesentliche bereitgestellt, und in der hegelsch modifizierten Identitätsphilosophie Schellings war die philosophische Wissenschaft zum wirklichen Phänomen geworden. Ihre sprachliche Darstellung existierte in Büchern und ihr Inhalt im denkenden Bewusstsein von deren Autoren und Rezipienten. Der produktivere der beiden Hauptautoren war bislang zwar Schelling, doch für den einsichtsvolleren mochte Hegel mit Blick auf sein werdendes System bereits sich selber halten. Die philosophische Wissenschaft war in nuce erschienen und konnte ausgearbeitet und damit hoffentlich vom De-facto-Status eines Wissenschaftsprätendenten unter vielen in den Rang der allgemein anerkannten Wissenschaft erhoben werden, womit die Entwicklung des natürlichen Bewusstseins zur Wissenschaft sich vollendet haben würde. Teil I von Hegels System sollte den Weg des natürlichen Bewusstseins von frühesten Anfängen bis zum absoluten Wissen, dem Ausgangspunkt der spekulativen Logik und Realphilosophie, idealtypisch rekonstruieren. Dies musste ohne Dogmatismus, d. h. so geschehen, dass der Skeptiker im Prinzip zustimmen konnte. Als konstantes Szenarium hält Hegel dabei das raumzeitliche Bewusstseinsfeld fest, dies aber stillschweigend in skeptischer Epoché, d. h. im Modus des Scheinens.14 Das natürliche Bewusstsein selbst gibt sich damit freilich nicht zufrieden, sondern erhebt Wissensansprüche auf dem Boden einer impliziten Vorstellung von der kategorialen Form der Gegenstände seines Wissens. Die einzelnen Wissensansprüche sind empirische, aber als solche kein Thema der Phänomenologie. Deren Gegenstand ist die Proto-Ontologie des Bewusstseins, d. h. der generelle, apriorische und kategoriale Wissensanspruch, der die empirischen Wissensansprüche des betreffenden Bewusstseins prägt und formt. 13 Vgl. dazu Eckart Förster, „Hegels ‚Entdeckungsreisen‘. Entstehung und Aufbau der Phänomenologie des Geistes“, in: Klaus Vieweg, Wolfgang Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a. M., 2008, S. 37–57. 14 Unerwartet zeigt sich hier eine Affinität zur transzendentalen Epoché als dem Methodenprinzip der ganz andersartigen, eher botanisierenden Phänomenologie Husserls.

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276 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Wenn nun, wie Hegel meint, der historischen Evolution der Proto-Ontologie des natürlichen Bewusstseins eine verborgene begriffliche Notwendigkeit zugrunde liegt, die es unter Mitwirkung des Skeptikers darzustellen gilt, so darf nicht botanisierend verfahren werden. Vielmehr muss der Anfang mit der denkbar einfachsten und noch ganz unmittelbaren Proto-Ontologie gemacht werden. Das anfängliche Bewusstsein muss demgemäß die raumzeitliche Szenerie als eine schiere Mannigfaltigkeit unmittelbarer, distinkter Einzelner konzipieren. Als distinkte Einzelne sollten sie dem Bewusstsein dann auch epistemisch zugänglich sein, etwa als einzelne Sinneseindrücke. Allerdings zeigt sich im ersten Kapitel der Phänomenologie, dass die vielen unmittelbaren, distinkten Einzelnen dem Bewusstsein nicht als solche, sondern im Gegenteil nur in Form allerallgemeinster Züge zugänglich sein können. So generiert die Proto-Ontologie des Ausgangsbewusstseins eine Proto-Epistemologie, die ihr diametral entgegengesetzt ist. Die Konzeption der an sich seienden und die Konzeption der für es, das Bewusstsein, seienden kategorialen Form der Dinge fallen beziehungslos auseinander. Das Anfangsbewusstsein – Hegel nennt es die sinnliche Gewissheit – ist insofern strukturell falsches Bewusstsein oder vielmehr noch gar kein wirkliches Bewusstsein, weil seine Proto-Ontologie und seine Proto-Epistemologie nicht nur nicht zur Deckung kommen, sondern gar keine Berührungspunkte haben. Die superplatonistische (sit venia verbo) Proto-Epistemologie geht an der supernominalistischen Proto-Ontologie schlicht vorbei. Die Argumentation, die zu diesem Ergebnis führt, soll hier nicht rekonstruiert,15 sondern es soll anhand des kurzen Ergebnisreferats die Methode der Phänomenologie erläutert werden. Sie kann vor der inhaltlichen Arbeit, will man den Skeptiker nicht verlieren, zwar nicht hinreichend gerechtfertigt, sondern erst nachträglich am Gang der Entwicklung abgelesen werden. Aber Hegel zeichnet den Lesern in der Einleitung vorab eine Skizze der Methode aufgrund seiner Kenntnis des Fortgangs. Dabei formuliert er seine Variante des Satzes des Bewusstseins. Das Bewusstsein, sagt er, unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein für ein Anderes unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird ebenso von ihm unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung; die Seite dieses Ansich heißt Wahrheit.16

15 Vgl. dazu vom Vf. „Sinnliche Gewißheit und Wahrnehmung. Die beiden ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes“, in: Anton Friedrich Koch, Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels Nichtstandard-Metaphysik, Tübingen, 2014, S. 29–44. 16 G. W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1969–71, S. 67. (Im Folgenden zitiert unter der Sigle TW = Theorie-Werkausgabe) –G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 5, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg, 1968 ff., S. 58. (Im Folgenden zitiert unter der S­ igle GW).

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Das Bewusstsein wird hier eingeführt als Dualität eines Für-es und eines An-sich, also einer Proto-Epistemologie und einer Proto-Ontologie. Dabei soll die epistemische Seite (das Wissen, das Für-es) bestimmt sein durch die ontische Seite (die Wahrheit, das Ansich) als die bestimmende. Das Bewusstsein erhebt somit den Anspruch, es lasse sein Wissen durch das An-sich bestimmt sein. Wenn Hegel sagt, dass vom Für-es-Sein „wir aber das Ansichsein“ unterscheiden, so ist das adversative „aber“ zu „das Ansichsein“, nicht zu „wir“ zu ziehen. Nicht wir im Kontrast zum natürlichen Bewusstsein, sondern wir als das natürliche Bewusstsein unterscheiden vom Für-das-Bewusstsein-Sein „aber das Ansichsein“. Der Fortgang bestätigt dies. Denn auf ein wahres An-sich dürften wir als Theoretiker uns ja gar nicht festlegen; das wäre illegitimer Dogmatismus. Wir dürfen nur den naiven Dogmatismus des natürlichen Bewusstseins zur Kenntnis nehmen, ohne ihn zu unterschreiben. Das An-sich ist die kategoriale Konzeption, die das Bewusstsein vom Wahren und Realen besitzt, und das Für-es die kategoriale Konzeption der epistemischen Zugänglichkeit dieses Realen. Dem Wissensanspruch des Bewusstseins zufolge müssten beide Konzeptionen sachlich identisch und nur der Rolle nach verschieden sein. Das liegt im Wissensanspruch, den das Bewusstsein erhebt. Wenn beispielsweise das Reale nach seiner kategorialen Form eine Mannigfaltigkeit distinkter, unmittelbarer Einzelner ist, so sollte es unter ebendieser kategorialen Form auch epistemisch zugänglich sein. Die Prüfung im ersten Kapitel ergab aber das Gegenteil: Wenn das Reale aus distinkten Einzelnen besteht, ist es zugänglich in Form von höchst allgemeinen Zügen. Damit ist zunächst dieses Für-es als die bestimmte Seite oder abhängige Variable in der Dualität des Bewusstseins diskreditiert. Das An-sich als die bestimmende Seite oder unabhängige Variable ist der Maßstab der Wahrheitsbewertung des Für-es. Doch die negative Wahrheitsbewertung fällt auf den Maßstab zurück; denn er wurde vom Bewusstsein angenommen im Zuge seines generellen kategorialen Wissens- und Wahrheitsanspruchs. Das anfängliche Bewusstsein setzt, das Reale bestehe an sich aus Einzelnen, und macht die Erfahrung, dass es ihm dann nur als Vielheit allgemeiner Züge zugänglich wäre. Die Setzung, es bestehe aus Einzelnen, ist also prinzipiell nicht verifizierbar, sondern falsifiziert das setzende Bewusstsein als solches. Das Bewusstsein müsste zwar sein Für-es verändern, was es aber gar nicht ohne Weiteres kann, weil das Für-es eben die abhängige Variable ist, die sich nur ändert, wenn die unabhängige Variable, das An-sich oder der Gegenstand, geändert wird. Daher hält in der Prüfung des kategorialen Wissensanspruchs, in Hegels Worten, auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht; und die Prüfung ist nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabes.17

17 TW 3, S. 78 = GW 5, S. 60.

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278 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Doch woher sollte bei negativem Ausgang der Prüfung ein neuer Maßstab kommen? Für ein neues An-sich gibt es an der Stelle, an der wir stehen, genau einen möglichen Kandidaten: das vormalige Für-es. Die raumzeitliche Szenerie muss daher nun vom Bewusstsein konzipiert werden als an sich aus höchst allgemeinen, sinnlichphäno­ menalen Qualitäten bestehend. Hegel nennt diese neue Bewusstseinsgestalt die Wahrnehmung (PhG, Kapitel II ) und spricht in der Einleitung mit Blick auf die Methode von einer „Umkehrung des Bewusstseins“.18 Das vormalige Für-es wird zum neuen An-sich, und die neue Prüfung besteht darin, zu eruieren, ob das neue An-sich ein kategorial deckungsgleiches, neues Für-es generiert. Leider oder vielmehr glücklicherweise ist dem nicht so; leider, weil somit das Bewusstsein seine Selbstübereinstimmung nicht erreicht; glücklicherweise, weil die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins weitergehen muss und mehr kategoriale Struktur freilegen kann. Das Bewusstsein können wir uns vorstellen als das (in Epoché eingeklammerte) phänomenale, raumzeitliche Feld in der Rolle eines Eingabe-Ausgabe-Apparates: Wir geben das denkbar einfachste An-sich ein, und der Apparat gibt ein de facto inkongruentes Für-es aus. Wir geben dieses Für-es als neues An-sich ein und erhalten wiederum ein inkongruentes Für-es, das wir sodann als drittes An-sich eingeben, usw., bis hoffentlich ein Fixpunkt erreicht wird, an dem Ein- und Ausgabe zur Deckung kommen und ein kategorial adäquates, „absolutes“ Wissen eintritt. Auf dem Weg dahin macht das Bewusstsein die Erfahrung – deren Notwendigkeit wir als Theoretiker einsehen – einer fortlaufenden Selbstkorrektur im Kategorialen. Hegel hatte ursprünglich angenommen, dass mit dem Durchgang durch die Gestalten des Bewusstseins im engeren Sinn in den Kapiteln I–III (sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstand) und des Selbstbewusstseins (Kapitel IV) sowie der Vernunft (Kapitel V) die Untersuchung abgeschlossen und der Fixpunkt erreicht sein würde. Tatsächlich füllt dieser Gang aber nur die erste Texthälfte der Phänomenologie. Die Erfahrung des Bewusstseins reicht offenbar nicht hin zur Erreichung des Fixpunktes. Hegel musste sich, wie Eckart Förster überzeugend darlegt,19 korrigieren und die Untersuchung unter großem Zeitdruck durch Materialien anreichern, die eigentlich in die Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes gehören. Es folgen daher noch die langen Kapitel VI über den Geist und VII über die Religion und dann erst das kurze Schlusskapitel VIII über das absolute Wissen. So war aus der Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins eine Phänomenologie des Geistes geworden. Der Fixpunkt des absoluten Wissens ist zweischneidig und muss es sein, damit von ihm her ein Fortgang in die Logik möglich und notwendig wird. Einerseits ist der generelle kategoriale Wissensanspruch des Bewusstseins nun erfüllt, erfüllt mit Wahrheit. Die Fehlbarkeit des endlichen Bewusstseins, das Wissensansprüche bezüglich eines unabhängigen Gegenstandes erhebt, ist in der Identität von Für-es und An-sich über18 TW 3, S. 79 = GW 5, S. 61. 19 Vgl. Förster, „Hegels ‚Entdeckungsreisen‘“.

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wunden. Wir beanspruchen nicht mehr bloß zu wissen, sondern sind im kategorialen Wissen, auch wenn wir natürlich in empirischen Überzeugungen fehlbar bleiben. Und in diesem kategorialen, genuin philosophischen Wissen zeigt sich das Wahre ex post als der Prozess der einander ablösenden Gestalten des Bewusstseins, von denen keine für sich das Wahre des Bewusstseins ist, wie auch weder die Knospe noch die Blüte noch die Frucht für sich das Wahre der Pflanze bilden.20 Andererseits bleibt, wenn das Für-es und das An-sich zur Deckung kommen, nichts übrig, was ihre Rollendifferenz fundieren könnte. So kollabiert mit der Dualität des Bewusstseins dieses selbst, und das absolute Wissen wird zu einem „Insichgehen“ des Geistes, in welchem „er in der Nacht [!] seines Selbstbewußtseins versunken“ ist; „sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt“, und so hat der Geist „unbefangen von vorn […] anzufangen und sich […] wieder großzuziehen, als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre“.21 Dies soll in der Wissenschaft der Logik geschehen und sich in der Realphilosophie fortsetzen.

III. Die Wissenschaft der Logik Mit der Ausweitung der Wissenschaft des Bewusstseins zur Phänomenologie des Geistes hat Hegel sein Jenaer Systemkonzept über den Haufen geworfen, ohne dabei ein anderes zu gewinnen. Vielmehr bezeichnet die Phänomenologie eine Phase produktiver Unordnung in seinen Plänen, die erst in der Wissenschaft der Logik (1812–1816) ihr Ende findet. Die neue und stabile Systemkonzeption tritt von 1817 an verbindlich zutage in der Enzyklopädie, deren dritte Auflage von 1830 im Folgenden zugrunde gelegt wird. Die ersten fünf Kapitel der Phänomenologie von 1807, die die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins bildeten, werden nun unter der eigentlich zu weiten, daher per Untertitel eingeschränkten Überschrift „Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewusstsein“ zum mittleren Abschnitt der ersten Abteilung („Der subjektive Geist“) der Philosophie des Geistes komprimiert. Die Materialien aus der zweiten Hälfte der Phänomenologie, den objektiven Geist und die Religion betreffend, werden in den restlichen Abschnitten und Abteilungen der Philosophie des Geistes untergebracht. An die Stelle des absoluten Wissens, das 1807 den Fortgang in die Logik vermitteln sollte, tritt der absolute Geist in seiner – nach Kunst und Religion – dritten und höchsten Gestalt: als Wissenschaft bzw. Philosophie. Hatte Hegel 1807 die Erfahrung des Bewusstseins als „Weg der Verzweiflung“ und „sich vollbringende[n] Skeptizismus“ und als „die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“ angekündigt,22 so heißt es nun (Enz § 78) im Irrealis: 20 Vgl. Hegels Verweis auf den Lebensprozess einer Pflanze im Vorwort zum System, das der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes (PhG) vorausgeht, PhG: TW 3, S. 12 = GW 5, S. 10. 21 PhG: TW 3, S. 590 f. = GW 5, S. 433. 22 PhG: TW 3, S. 72 f. = GW 5, S. 56.

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280 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Der Skeptizismus, als eine durch alle Formen des Erkennens durchgeführte negative Wissenschaft, würde [!] sich als eine Einleitung darbieten […]. Aber er würde […] auch darum ein überflüssiger Weg sein, weil das Dialektische [das Negativ-Vernünftige (Enz § 79), Skeptische] selbst ein wesentliches Moment der affirmativen Wissenschaft ist. […] Die Forderung eines solchen vollbrachten Skeptizismus ist dieselbe mit der, daß der Wissenschaft das Zweifeln an allem, d. i. die gänzliche Voraussetzungslosigkeit an allem vorangehen solle. Sie ist eigentlich der Entschluß, rein denken zu wollen, durch die Freiheit vollbracht, welche von allem abstrahiert und ihre reine Abstraktion, die Einfachheit des Denkens, erfaßt.

Die Wissenschaft kann also nun kraft des freien Entschlusses, rein denken zu wollen, direkt mit der Logik beginnen, der nichts als „die gänzliche Voraussetzungslosigkeit“ vorangeht. So ist die Logik die singuläre, streng voraussetzungslose Theorie bzw. Wissenschaft, und als solche soll sie jetzt betrachtet werden.

Der Anfang der voraussetzungslosen Theorie Selbstverständlich handelt die Logik und handelt das Hegel’sche System von ebenjenen Themen und Problemen, mit denen sich Kant und Spinoza, Reinhold und Aenesidemus, Fichte und Jacobi, Schelling und der Jenaer Hegel beschäftigt hatten. Aber das dürfen, ja sollen wir fürs Erste vergessen. Um voraussetzungslos beginnen zu können, müssen wir uns möglichst dumm stellen und von allem abstrahieren, was wir glauben oder wissen. Wir setzen also nichts voraus, keine Lehre, keine Begrifflichkeit, keine Methode, kein Thema. In allen genannten Hinsichten – doktrinal, terminologisch, methodisch und thematisch – soll die gesuchte Theorie voraussetzungslos sein. In gewissem Sinn suchen wir also etwas Unmögliches, denn eine wissenschaftliche Theorie ist ein sprachlich und argumentativ artikuliertes und kontrolliertes Fürwahrhalten. Wie sollten wir von diesem Minimum an Begrifflichkeit und Methode abstrahieren und zugleich Wissenschaft betreiben können? Wir sehen sofort, dass wir zweistufig verfahren und unser Denken auf zwei Ebenen verteilen müssen, auf die Ebene des reinen, streng voraussetzungslosen Denkens, das wir suchen, und auf die Ebene unseres Hintergrunddenkens, mittels dessen wir die Suche durchführen. In Hegels Diktion wäre das gesuchte Denken die Sache selbst und das suchende Denken eine äußere Reflexion zu nennen. Hier soll fortan von Vordergrund- und Hintergrundtheorie, Vordergrund- und Hintergrundlogik die Rede sein. Die Vordergrundtheorie ist das reine, voraussetzungslose Denken, und die Hintergrundtheorie ist Hegels und unsere Wissenschaft der Logik, die wir möglichst voraussetzungsarm und philosophisch neutral angehen wollen. Das Thema der Vordergrundlogik (VL) kennen wir noch nicht, unsere Hintergrundlogik (HL) aber hat ein Thema: VL einschließlich dessen, was sich als Thema von VL ergeben wird. Wir verfügen in HL auch über Ansätze einer Begrifflichkeit und einer

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III. Die Wissenschaft der Logik 281 Methode. Denn wir sprechen eine natürliche Sprache und reden insbesondere davon, dass wir eine voraussetzungslose Theorie suchen, müssen also ein Vorverständnis des Voraussetzungs- und des Theoriebegriffs mitbringen. Was unsere Methode angeht, so ist sie die unspezifisch wissenschaftliche des begründeten Fürwahrhaltens und spezifischer die des Abbaus von Voraussetzungen. Radikal soll der Abbau für VL erfolgen und so gut es geht auch für HL. Wir wollen HL möglichst frei von substantiellen Vorentscheidungen terminologischer, methodischer und doktrinaler Art halten und nur tentativ die Arbeitshypothese aufstellen, dass es ein streng voraussetzungsloses, reines Vordergrunddenken gibt, die wir zusammen mit dem Skeptiker auf ihre Haltbarkeit prüfen wollen. Jene absolut voraussetzungslose VL mag demgegenüber anfangs wie etwas ganz Abwegiges erscheinen, das mit unserem Denken nichts zu tun hat. Schließlich müsste VL sich unter anderem wortlos vollziehen, wenn keinerlei Terminologie vorausgesetzt werden darf. Doch auf dem Weg bis zum Ende der Hegel’schen Unternehmung sollte, wenn alles gut geht, der Abstand zwischen uns (HL) und dem reinen Denken (VL) immer kleiner geworden und schließlich verschwunden sein, sodass wir unsere HL als die entwickelte VL erkennen. Innerhalb der Logik wird dies aber aus dem einfachen Grund noch nicht möglich sein, dass wir Menschen raumzeitliche Wesen sind und daher auf die Realphilosophie warten müssen, die das Raumzeitliche betrachtet. Am Ende der Philosophie des Geistes aber werden als Krönung des Hegel’schen Systems die Kulturleistungen Kunst, Religion und zuletzt Philosophie unter der Überschrift „Absoluter Geist“ betrachtet, und dort sollten wir in der Philosophie uns selbst und unsere HL als das letzte Thema der Hegel’schen Philosophie erkennen können. Aber das ist am Anfang der Logik fernste Zukunftsmusik. Wir müssen dem Gesagten zufolge also stets zwischen unserer äußeren Reflexion (HL) und dem reinen Denken (VL) unterscheiden. Doch es ist ebenso wichtig, auch innerhalb von HL noch einen Ebenenunterschied zu beachten. Stellen wir uns Hegel als einen Schausteller vor, der auf einem Festplatz eine Achter- und Geisterbahn errichtet, die in einem Looping aus drei Loopings – einem Kreis aus drei Kreisen, einer Enzyklopädie aus drei zyklischen Wissenschaften – bis zum absoluten Geist führt. VL ist die Bahn, auf der das reine Denken fährt, und Hegel ist ihr Konstrukteur. Er kennt erstens die Konstruktionsprinzipien und weiß, wie die Geisterbahn aufgebaut wird, und hat zweitens schon Probefahrten absolviert und weiß, was auf das Denken an den verschiedenen Stationen zukommt bzw. was die Benutzer dort denkend erleben werden. Er könnte daher innerhalb von HL zwei verschiedene Perspektiven einnehmen, eine Konstrukteurs-Perspektive und eine Benutzerperspektive, und dementsprechend zwei Versionen von HL schreiben, eine lange, komplizierte Bauanleitung für potentielle Konstrukteure, die wie er eine logische Geisterbahn errichten möchten, und eine kürzere für potentielle Konsumenten, denen er die Fahrt des reinen Denkens vorab beschreiben und erklären möchte. Wir wollen daher im Folgenden nicht nur zwischen VL und HL, sondern bei Bedarf auch innerhalb von HL zwischen der Konstrukteurs-

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282 Georg Wilhelm Friedrich Hegel perspektive HL K und der Benutzerperspektive HL B unterscheiden. Und noch etwas: VL ist die feste Bahn des reinen Denkens, doch wie ein Vogel seine Kreise ohne Gleise zieht, könnte ein Virtuose des Denkens womöglich auf die Gleise von VL verzichten und in freien Denkbewegungen desselben Weges ziehen wie ein VL-Nutzer längs seiner festgefügten Bahn. Solche Virtuosität schwebt Hegel als Ideal vor, und gern beschreibt er in HL B den freien Flug des reinen Denkens. Insofern ist HL K eher die Hintergrundtheorie von VL und HL B eher die des reinen Denkens selber. Da VL wortlos ist, kann man den Vollzug des reinen Denkens nicht sprachlich artikulieren, sondern höchstens äußerlich durch Einwortsätze („Sein!“, „Nichts!“, „Werden!“ usw.) oder deren Modifikationen („Nicht-Sein!“ usw.) andeuten. HL hingegen bedient sich auf beiden Ebenen der gewöhnlichen philosophischen Umgangssprache. In HL K wird die Bahn des reinen Denkens argumentativ aufgebaut, d. h. im Detail konstruiert, und in HL B werden die Gedanken, die das reine Denken an den verschiedenen Stationen denkt, in äußerer Reflexion benannt („das Sein“, „das Nichts“, „das Werden“ usw.) und beschrieben („Das Sein ist unbestimmt und unmittelbar“ usw.) und die Übergänge von einer Station zur nächsten motiviert. Für Virtuosen des reinen Denkens, die von der logischen Bahn hinreichend emanzipiert sind, mögen die Hegel’schen Motivationen so zwingend sein wie ein skizzenhafter Beweisvortrag eines versierten Mathematikers für seine avancierte Fachkollegenschaft. Aber den staunenden Erstsemestern fehlen die Zwischenschritte. Diese wären, was die Logik angeht, in HL K zu liefern, während Hegel, um voranzukommen mit dem Werk, das am Ende dennoch auf drei Bände anwachsen wird, fast durchweg die kürzere HL B bevorzugt. So kommt er schneller voran, fördert aber Unverständnis und halbgare Interpretationen, die in der Tat den Spott verdienen, dem Hegel selbst seitens naseweiser Scharfsinniger oft ausgesetzt war. Zur Illustration, und weil es ohnehin unserer Agenda entspricht, sei nun der Beginn des Haupttextes der Logik zitiert, der erste Unterabschnitt, „A. [Sein]“, des ersten Kapitels, „Sein“, des ersten Abschnitts, „Bestimmtheit (Qualität)“, der Lehre vom Sein: Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen. […] Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. – Es ist nichts [kleingeschrieben] in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts [großgeschrieben] und nicht mehr noch weniger als Nichts.

Darauf folgt umgehend der nicht viel längere nächste Unterabschnitt: „B. Nichts“, und dann der längere Unterabschnitt „C. Werden“ bis zum Ende des ersten Kapitels. Hegel leiht dem wortlosen reinen Denken zunächst ein Wort, einen unvollständigen Satz, eine Art Ausruf: „Sein“, dann präzisierend: „reines Sein“. Der Zusatz „ohne alle

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III. Die Wissenschaft der Logik 283 weitere Bestimmung“ erläutert die Reinheit. Gewöhnlich werden verschiedene Seinssinne unterschieden, so bei Aristoteles (vgl. Metaphysik D 7), und auf andere Weise bis heute (Der-Fall-Sein, Existenz, Kopula, Identität). In unserem Text aber ist offenbar etwas Allgemeineres, Einfacheres gemeint, ein Sein noch jenseits dieser Unterscheidungen. Zweitens teilt Hegel uns mit, dass dieses unbestimmte Sein etwas Unmittelbares und drittens etwas Singuläres und Unvergleichliches sei. Unmittelbar ist es, sofern es in VL, also vom reinen Denken, hingenommen werden muss, wie es ist; es lässt sich nicht erklären oder aus etwas anderem herleiten. Unvergleichlich ist es, weil es in VL durch keinen Vergleich mit irgendetwas anderem erläutert werden kann. Es ist ferner, viertens, leer, hat keinen Anschauungs- oder Denkinhalt. Sofern von Anschauen oder Denken die Rede sein soll, wäre es fünftens das leere, reine (a) Anschauen oder (b) Denken selber. Hegel mutet uns also eine erstaunliche Abfolge von Gleichsetzungen zu: Reines Sein = Leergehalt des Anschauens oder Denkens = reines Anschauen = reines Denken. Zuletzt erfahren wir noch, dieses reine Sein oder Anschauen oder Denken sei Nichts, großgeschrieben, also nominalisiert das Nichts. Aber wir erhalten keine Instruktion, was unter dem großgeschriebenen „Nichts“ vorzustellen sei. Für ein Verstehen durch Textinterpretation ist die Sache hoffnungslos, hier wie überhaupt in der Hegel’schen Logik. In sonst nicht vielem, aber darin gleicht sie einem mathematischen Lehrbuch, das ebenfalls nicht philologisch-exegetisch erschlossen werden kann, sondern nur durch sachbezogenes Mitargumentieren bzw. Mitrechnen. Das Problem mit der Ebene HL B ist aber, dass auf ihr nur skizzenhaft und oberflächlich argumentiert wird. Wer Hegels Logik verstehen will, muss daher  – nach Hegels Spielregeln, versteht sich – eine eigene Hintergrundtheorie HL K entwickeln und sie schrittweise mit Hegels Hintergrundtheorie (meistens HL B) abgleichen. Im Grunde muss dafür Hegels singuläre Grund-Spielregel genügen: Man baue eine voraussetzungslose VL auf oder vielmehr die voraussetzungslose VL, denn in ihr muss ja alles streng alternativlos zugehen. Es darf nur einen möglichen Anfang und in der Folge jeweils nur einen möglichen Fortgang zur nächsten Theoriestation geben. In der Konstruktion der Bahn des reinen Denkens, die wir in HL K durchführen, sind wir hingegen freier und können uns aus pragmatischen Gründen entweder für das eine oder für das andere Vorgehen entscheiden, zum Beispiel die Stationen alle streng nach Reihenfolge konstruieren oder zunächst auch einmal eine Lücke zwischen zwei Stationen lassen und sie im Nachhinein durch eine oder mehrere Zwischenstationen schließen (oder Ähnliches). Am Ende muss jedoch bei allen Konstruktionsvarianten dieselbe alternativlose Bahn des reinen Denkens herauskommen. Indem wir Wissenschaft vollziehen, erheben wir Wissensansprüche und halten dies und das für wahr. Mit welchem Wissensanspruch oder Fürwahrhalten könnte VL als reines Denken beginnen? Es müsste sich um ein singuläres, übermäßiges und alternativloses Wissen oder Meinen handeln, dem aus logischen Gründen niemand effektiv widersprechen kann. Also postulieren wir auf dem Boden unserer Arbeitshypothese etwas Minimales und Gemeinsames, Einfaches und Allgemeines, das in jedem be-

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284 Georg Wilhelm Friedrich Hegel liebigen Wissens- oder Wahrheitsanspruch, den jemand je erheben kann, stereotyp mitgemeint und mitbeansprucht wird, also nicht irgendein bestimmtes Sein (wie das Weiß-Sein des Schnees oder das Älter-Sein des Sokrates relativ zu Platon, usw.), über das man im Prinzip immer streiten kann, sondern das reine Sein selbst in allem je bestimmten Sein. Dass wir es „Sein“ nennen, ist beliebig; wir könnten ihm irgendeinen Namen geben, „Gustav“ oder „Frieda“ oder wie auch immer; aber „Sein“ scheint nahezuliegen und eine mnemotechnische Funktion zu erfüllen: Es erinnert uns an das, was übrig bleibt, wenn wir von allen Bestimmtheiten verschiedener Wahrheitsansprüche abstrahieren und nur noch das Erheben eines Wahrheitsanspruchs rein als solches bzw. das ihm entsprechende, unmodifizierte Der-Fall-Sein rein als solches übrigbleibt. Wenn das reine Denken sprechen könnte, würde es diesen anfänglichen, alternativlosen und völlig neutralen Wahrheitsanspruch vielleicht mittels des Einwortsatzes „Sein!“ erheben, und so beginnt die Logik, wie wir sahen, ja tatsächlich. Das ist der sprachliche Ausdruck, den Hegel der VL leiht. Dann ergreift er in HL B das Wort in eigener Person und beschreibt den Inhalt des Wahrheitsanspruches, der in VL erhoben wurde, in äußerer Reflexion: Weil von al­len Bestimmtheiten gewöhnlicher Wahrheitsansprüche abstrahiert wurde, ist dieser Inhalt unbestimmt, jedenfalls für VL, wenn auch natürlich nicht für uns (HL), denn wir, Hegel und die Leser, bestimmen ihn ja gerade als unbestimmt und in der Folge außerdem als unmittelbar, unvergleichlich (usw.). Das reine Denken aber könnte, wenn es nicht ohnehin wortlos wäre, nichts von ihm prädizieren, sondern ihn nur ganz unartikuliert für der Fall seiend halten. Das soll mit dem Einwortsatz „Sein!“ angedeutet werden. Jener Inhalt – das reine Sein – ist zweitens unmittelbar, wiederum für das reine Denken, das ihn in seinem allerersten Gedanken denkt, ohne ihn von irgendwoher abzuleiten. Für uns, Hegel und die Leser, hingegen ist das Sein vermittelt durch das gedankliche Weglassen aller bestimmten Differenzen zwischen möglichen Wahrheitsansprüchen, also durch Verneinung, Weglassung oder Abstraktion. Drittens ist das Sein unvergleichlich. Wenn wir a mit b vergleichen, müssen wir Bestimmtheiten finden, die sie gemeinsam haben (beide sind z. B. rot), und Bestimmtheiten, durch die sie sich unterscheiden (a ist z. B. rund und b eckig). Im Fall des Seins aber haben wir nur dies, das Sein, und es hat für das reine Denken keinerlei Bestimmtheiten. Es ist daher in VL eine unvergleichliche Singularität, während wir in HL diese VL-Singularität natürlich mit anderem vergleichen können. Normalerweise müssen wir zwischen einer Theorie und ihrem Gegenstand oder Thema unterscheiden. Das ergäbe hier die Differenz von reinem Denken (=  VL) und reinem Sein (= Thema von VL). Unser Thema in HL ist VL, und das Thema von VL ist das Sein. Das sind drei Ebenen: Hintergrundtheorie, Vordergrundtheorie, Sein. Doch der unbestimmte, unmittelbare, unvergleichliche Gegenstand Sein ist in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit und Unvergleichlichkeit viertens völlig inhaltsneutral und leer und wird daher in einem Anschauen oder Denken erfasst, das keine Urteilsform mehr hat. Infolgedessen verschmelzen fünftens das reine Anschauen oder Denken und das reine Sein, sodass nur zwei Ebenen übrig bleiben, die der Hintergrundtheorie und

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III. Die Wissenschaft der Logik 285 die der Vordergrundtheorie, die zugleich diejenige ihres Themas oder Gegenstandes ist. Dieses Zusammenfallen von Anschauen, Denken und Sein gilt es nun zu begründen und zu erläutern. Dazu wäre ein Exkurs in die Theorie der unzusammengesetzten (asyntheta) bzw. ungeteilten (adiaireta) Sachverhalte hilfreich, die sich bei Aristoteles, indirekt schon bei Platon, in anderer Form auch in Bertrand Russells Annahme eines Wissens durch Bekanntschaft und im Übrigen bei allen Sinnesdatentheoretikern findet.23 Hier müssen indes Andeutungen genügen. Das Sein wurde in HL K konzipiert als der gemeinsame Kern, der in allen Aussagen mitausgesagt wird, abzüglich aller denkbaren Modifikationen, durch die sich Der-Fall-Seiendes von Der-Fall-Seiendem unterscheiden könnte. Bezüglich eines solchen Kerns ist das reine Denken irrtumsimmun: Es kann ihn im Denken nicht verfehlen. Mit der Möglichkeit des Irrtums entfällt aber die Dualität des Bewusstseins von objektivem An-sich und subjektivem Für-es. Es tritt die Unmittelbarkeit des absoluten Wissens ein und mit ihr Subjekt-Objekt-Identität. So erreichen wir in HL K auf kurzem Weg, durch den Entschluss, rein denken zu wollen, bzw. durch die Arbeitshypothese, es gebe eine voraussetzungslose Theorie, das Resultat des langen Weges der Phänomenologie, allerdings vorerst bloß als Konsequenz unserer Arbeitshypothese, in der Phänomenologie hingegen als (dem Anspruch nach) gesichertes Ergebnis. Analog zu den Sinnesdaten, deren Annahme Wilfrid Sellars zu Recht als den Mythos des Gegebenen gegeißelt hat, wäre das reine Sein dann als ein Denkdatum zu bezeichnen. Im Erfassen eines Datums aber gleicht sich das Denken der sinnlichen Anschauung an, sofern diese Sinnesdaten erfassen soll, und wird zu dem, was als intellektuelle Anschauung bezeichnet wurde. Hegel verschmäht diesen Terminus und begnügt sich damit, vom reinen Sein zu sagen, es sei, „wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann“, nur das „reine, leere Anschauen selbst“ oder, was auf dasselbe hinausläuft, das reine, leere Denken selbst. Denkendes, Denken und Gedachtes oder Anschauendes, Anschauen und Angeschautes fallen hier in eins.

Die Verneinung als erster Theorieschritt Damit haben wir in HL K Hegels HL B-Aussagen über das Sein rekonstruiert und gerechtfertigt  – bis auf die letzte, das reine Sein sei (das) Nichts. Die Rede vom großgeschriebenen, nominalisierten Nichts mag zunächst wie eine unsinnige Verdinglichung des Existenzquantors mit vorangestelltem Negationszeichen anmuten. „Nichts ist umsonst“ lässt sich quantorenlogisch formalisieren als „~($x)(x ist umsonst)“; an die Stelle des umgangssprachlichen „Nichts“ treten somit die Zeichen „~($x)(x …)“, die nichts 23 Vgl. Aristoteles, Metaphysik Q 10, 1051b17 ff. (asyntheta), de anima III 6, 430a26 ff. (adiaireta), ebd. II 6, 418a7 ff. (Irrtumsimmunität bei den propria sensibilia, den eigentümlichen Sinnesgehalten), Platon, Sophistes 261d ff. (Irrtumsanfälligkeit durch Verknüpfung von Nomen und Verb zur Aussage), und Bertrand Russell, The Problems of Philosophy (1912), Oxford, 1967, Kapitel 5 „Knowledge by Acquaint­ ance and Knowledge by Description“.

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286 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Bestimmtes bezeichnen. Natürlich ist es uns unbenommen, das Sein beliebig umzubenennen, in Gustav, Frieda oder eben Nichts. Wir hatten es „Sein“ genannt, weil es als der konstante Rest alles Der-Fall-Seienden eingeführt wurde. Wir können es „Nichts“ nennen, weil dieser Kern leer ist und nichts Bestimmtes enthält. Aber um eine bloße Umbenennung geht es hier nicht, wie der Fortgang zeigt. Denn Hegel tut im Unterabschnitt „B. Nichts“ zwar zunächst, was man aufgrund der Gleichsetzung von Sein und Nichts erwarten muss: Er sagt über das Nichts ungefähr dasselbe wie zuvor über das Sein. Wiederum beginnt er mit einem der VL geliehenen Einwortsatz: „Nichts“, zu dem wir ein Ausrufezeichen hinzudenken dürfen, und teilt sodann in HL mit, das Nichts sei unvergleichlich („einfache Gleichheit mit sich selbst“, „Ununterschiedenheit in ihm selbst“), „vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit“, das leere Anschauen und Denken selbst, und es sei „damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist“.24 Einzig die Unmittelbarkeit fehlt unter den Bestimmungen des Nichts, wohl weil es an zweiter Stelle kommt und in Beziehung auf das Sein eingeführt wurde. Darin aber deutet sich bereits ein Unterschied zwischen Sein und Nichts an, der im dritten Unterabschnitt „C. Werden“ auch ausdrücklich behauptet wird: Aber ebensosehr ist die Wahrheit [über Sein und Nichts] nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern dass sie nicht dasselbe, dass sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet.25

Also erhalten wir statt zweier Benennungen desselben einen direkten Widerspruch: Das Sein ist identisch mit dem Nichts und ist unterschieden vom Nichts, also nicht identisch mit ihm. Ein Widerspruch ist nicht wahr. Also dürfen wir uns in HL K keineswegs auf diesen Widerspruch festlegen und wollen auch Hegel nicht so interpretieren, als lege er sich in HL B darauf fest. Eher muss es so sein, dass er das reine Denken bei einem Widerspruch ertappt, den er in HL B eher zitiert als selbst vertritt. Was Hegel sagen will, können wir uns so zurechtlegen: Das reine Denken vollzieht in VL das Sein und das Nichts als identisch und als unterschieden, und zwar absolut unterschieden, da Sein und Nichts keine Bestimmungen haben, in denen sie sich unterscheiden könnten. Folglich ist das reine Denken am logischen Anfang unwahr und darf bei seiner anfänglichen Unwahrheit nicht stehen bleiben, sondern muss sich korrigieren. Doch zuerst müssen wir verstehen, wie es überhaupt zu dem Denkdatum Nichts kommt, das mit dem Denkdatum Sein sowohl identisch als auch nicht identisch sein soll. Es wurde oben schon gesagt, dass zwar die Stationen des reinen Denkens in VL alternativlos sein müssen, bei der Konstruktion der Bahn in HL K aber Spielraum für alter24 TW 5, S. 83 = GW 21, S. 69. 25 Ebd.

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III. Die Wissenschaft der Logik 287 native Vorgehensweisen möglich ist. Man kann sich vorstellen, dass zwei Schaustellerfirmen baugleiche Geisterbahnen errichten, aber in den Konstruktionsschritten hier und da voneinander abweichen. Die eine Firma baut zunächst Station 1 und Station 3 und fügt dann Station 2 ein, die andere geht streng der Reihe nach vor. Für das reine Denken ist diese Differenz nachher irrelevant und unsichtbar; es fährt in beiden Fällen von Station 1 über Station 2 zu Station 3. So seien nun ohne Vollständigkeitsanspruch drei alternative Konstruktionsverfahren vorgestellt. Erstens die modelltheoretische Konstruktion. Um die strenge Voraussetzungslo­ sigkeit des reinen Denkens in HL K in größtmöglicher Annäherung abzubilden, ­beschreiben wir die Anfangssituation des reinen Denkens (1) ohne nichtlogische ­Kon­stanten, nur mit Individuenvariablen und logischen Ausdrücken, also ohne sachhaltig-terminologische Voraussetzungen, und (2)  skepsisverträglich mittels einer Kontradiktion. Hans-Peter Falk hat dieses Verfahren 1983 vorgeschlagen.26 Konkret ­bilden wir mit den beiden ­Variablen „x“ und „y“ und den beiden logischen Ausdrücken „~“ und „=“ die beiden offenen Sätze „x=y“ und „~(x=y)“. Offene Sätze sind i. A. nicht wahr oder falsch, sondern treffen auf manches zu und auf anderes nicht. Wir stellen also mit diesen Sätzen keine Behauptung auf. Sie sind ferner thematisch und terminologisch neutral, präjudizieren nichts, und methodisch haben sie die willkommene Eigenschaft, im Duett der Skepsis Rechnung zu tragen, die zu jedem Satz den GegenSatz annimmt. Die Anfangssituation von VL müsste also eine Struktur sein, welche die Satzmenge {„x=y“, „~(x=y)“} erfüllen würde, d. h. ein Modell dieser Satzmenge wäre. Der grammatische Irrealis ist hier unverzichtbar und vertritt einen logischen Impossibilis, denn ein Modell einer inkonsistenten Satzmenge kann es nicht geben; es wäre so inkohärent – mit sich selbst nicht übereinstimmend, von sich selbst unterschieden – wie die Satzmenge inkonsistent. Hegel nennt jenes kontralogische Modell das Werden, und die Variablen „x“ und „y“ heißen bei ihm „Sein“ und „Nichts“. Man kann sich zwar vorstellen, dass „Sein“ Identität konnotiert und „Nichts“ Nichtidentität: Sofern Identität herrscht, haben wir nur eines: das Sein (= x), sofern Nichtidentität herrscht, zwei: Sein (= x) und Nichts (= y). Aber das ist eher Mnemotechnik als Logik. In Beziehung auf das kontralogisch-fiktive Werden muss sodann in HL K eine widerspruchslösende Maßnahme ergriffen werden, die zu einem neuen Denkdatum, einem neuen logischen Ur-Sachverhalt (vorprädikativen Sachverhalt) führt, de facto zu dem von Hegel so genannten Dasein. Aber so weit sind wir noch nicht. Zweitens die Konstruktion des Nichts. Auf die Frage, warum es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, lautet die korrekte Antwort: weil es, wenn es nichts gäbe, per impossibile das Nichts gäbe als kontradiktorisches Gegenteil seiner selbst. Denn angenommen, es gäbe nichts. Dann wäre eben dies der Fall, nämlich dass es nichts gibt. In der Regel ist, was der Fall ist, ein propositionaler Sachverhalt, der an etwas anderem, Gegenständ26 Hans-Peter Falk, Das Wissen in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Freiburg/München, 1983, S. 24–28.

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288 Georg Wilhelm Friedrich Hegel lichem, der Fall ist, etwa dass die Erde sich dreht, an der (sich drehenden) Erde. In einer Ausnahmesituation aber wie der angenommenen, in der es nichts, insbesondere nichts Gegenständliches gibt, muss, dass es nichts gibt, an sich selbst der Fall sein. Der propositionale Sachverhalt, dass es nichts gibt, schrumpft daher im Fall seines Bestehens zu einem Ursachverhalt, und zwar zu dem rein negativen und leeren Ursachverhalt, den wir das Nichts nennen können. Wenn es nichts gäbe, gäbe es somit das Nichts: ein Widerspruch. Es gibt also notwendig irgendetwas, weil die Annahme, es gebe nichts, zum Widerspruch führt, nämlich zur Existenz des inkohärenten Nichts. Dieses kleine Räsonnement wäre freilich ein Grund, die Annahme des Nichts, gerade weil wir nun verstehen, was unter diesem Etikett zu denken ist, tunlichst zu vermeiden. Das Nichts nämlich ist nichts als sein kontradiktorischer Gegensachverhalt in völlig ­unentwickelter, einfacher Form: absolute Negativität komprimiert zum einfachen Gegenteil ihrer selbst. Sie anzunehmen, zu setzen, heißt den Widerspruch zu setzen, statt ihn zu vermeiden. Das Räsonnement wäre also, wie gesagt, ein Grund, das Nichts zu umgehen, wenn wir nicht im ersten Schritt den Ursachverhalt des reinen Seins angenommen hätten, der in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit den kontradiktorischen Gegensachverhalt zum Nichts bildet. Das Nichts aber ist bereits sein eigener Gegensachverhalt, also ist es identisch mit dem Sein; und wegen der Symmetrie der Identität ist das Sein dann seinerseits identisch mit dem Nichts. Das vermeintlich rein affirmative Sein wird also, sozusagen ohne Selbstbeteiligung, in die Antinomie des Nichts hineingezogen. Wir mochten in HL denken, dass wir am Sein etwas rein Affirmatives haben. Aber das k­ leine Räsonnement zeigt uns, dass wir an ihm nur eine, die vermeintlich gutartige, Seite des antinomischen Nichts hatten. Dieses uranfängliche, einfache Grundmuster wird den weiteren Fortgang der Logik in vielerlei entwickelteren Formen durchziehen. Drittens die negationstheoretische Konstruktion mit nachträglicher Interpolation des Nichts. Wir haben als erste VL-Station das reine Sein angesetzt, das in jeder Aussage mitausgesagt wird und daher nicht effektiv verneint werden kann; denn die Verneinung wäre ja ihrerseits eine Aussage, die das reine Sein mitaussagt, also impliziert. Wir wissen aber, schon weil wir das reine Sein in HL K durch Verneinung (Weglassung, Abstraktion) aller Modifikationen konstruiert haben, dass es mehr gibt und geben muss als nur dieses Sein. Parmenides und seine Schüler würden freilich sagen, das Mehr sei bloßer Schein. Aber selbst dann ist dieser Schein nicht das Sein, sondern scheint außer ihm zu sein. (Am Anfang der Lehre vom Wesen wird diese Situation explizit zum Problem werden.) Wie also kommen wir in einem alternativlosen Schritt zu einer weiteren Station der VL? Wir sprachen gerade über die Operation der Verneinung, die von der bunten Realität zum unbestimmten Sein führte und die vom Sein zu etwas Neuem, sei es auch Schein, führen könnte. Anders gesagt, wir haben uns in die Lage des Parmenides manövriert, aus der wir, wenn die Phänomene gerettet werden sollen, irgendwie weiterkommen müssen. Also müssen wir eine – alternativlose – logische Operation am Sein vornehmen, die Neues liefert. Da der mit „Sein!“ angedeutete Gedanke ein Wahrheits-

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III. Die Wissenschaft der Logik 289 anspruch oder Für-wahr-Nehmen ist, brauchen wir eine Wahrheitsoperation, und zwar  – da als Operandum nur das reine Sein zur Verfügung steht  – eine einstellige Wahrheitsoperation. Nun gibt es in der Aussagenlogik rein kombinatorisch vier einstellige Wahrheitsoperationen, von denen aber nur eine, eben die erwähnte Verneinung, zu einem neuen Wahrheitsanspruch führt, nämlich zum kontradiktorischen Gegenanspruch zum ersten, den wir mit dem Zweiwortsatz „Nicht (Sein)!“ andeuten können.27 Die VL beginnt also mit dem Anfangsgedanken „Sein!“ und gelangt von dort zu dem Nachfolgegedanken „Nicht (Sein)!“, der die Verneinung des ersten ist. Damit freilich widerspräche sie – skepsisverträglich, aber wahrheitsunverträglich – sich selbst, es sei denn, man nähme an, dass es sich hier um indexikalische Gedanken handelt wie „Die Sonne scheint“ oder „Es regnet“, deren Wahrheitswert an einem ­gegebenen Ort mit der Zeit variiert: Manchmal scheint die Sonne, manchmal regnet es. In indexikalischen Sätzen kommen indexikalische, äußerungsrückbezügliche Ausdrücke vor wie „hier“, „dort“, „jetzt“, „damals“, „ich“, „du“ und das Tempus verbi. Deswegen hängt ihr Wahrheitswert von der Äußerungsgelegenheit ab. Die nicht-indexikalischen Sätze hingegen haben einen konstanten Wahrheitswert, sind immer und überall wahr oder nie und nirgends. Offenbar braucht die VL ein logisches Analogon der raumzeitlichen Indexikalität (das sich im Fortgang als die logische Basis der uns vertrauten raumzeitlichen Indexikalität herausstellen könnte). Glücklicherweise bringt das Problem, das uns nach logischer Indexikalität Ausschau halten lässt, sogleich die Lösung in den Blick, denn zuerst dachte das reine Denken das Sein und dann anschließend seine Verneinung. Damit ist der Anfang einer eindimensionalen, gerichteten, also zeitanalogen Stellenmannigfaltigkeit, nämlich eine Stellendualität, gegeben, die logische Indexikalität ermöglicht: An Stelle 1 gilt „Sein!“, an Stelle 2 „Nicht (Sein)!“. So entsteht vor unseren Augen eine rein logische „Zeit“, die sich zu Beginn der Philosophie der Natur als die logische Grundlage der physikalischen Zeit erweisen wird; und das entschärft prima facie den Widerspruch zwischen „Sein!“ und „Nicht (Sein)!“. Prima facie. Denn unser Problem ist noch nicht wirklich gelöst, weil der Gedanke „Nicht (Sein)!“ nicht nur dem Gedanken „Sein!“, sondern auch sich selbst widerspricht. Das Sein ist nämlich dadurch definiert, dass es in jeder möglichen Aussage mitausgesagt wird. Also sagt „Nicht (Sein)!“ unweigerlich „Sein!“ mit aus und widerspricht sich damit. Indexikalität im Allgemeinen hilft hier nicht weiter, aber es gibt einen ­interessanten Sonderfall indexikalischer Sätze und Gedanken, der sich als Basis einer möglichen Lösung anbietet. In der Gattung zeitlich indexikalischer Gedanken finden wir nämlich eine Art, die man als Augenblicksgedanken bezeichnen kann. Ein gewöhn27 Die Identitätsoperation lässt alles beim Alten, die Wahrmacheroperation bestätigt die Wahrheit des Anspruchs, an dem sie operiert, und lässt daher ebenfalls alles beim Alten. Die Verneinung hingegen führt zu einem neuen Anspruch, der die Negation des vorigen ist, ebenso zwar auch die Falschmacher­ operation, die aber von der Verneinung hier nicht zu unterscheiden ist, zumal das Gegenteil des Wahren bei Ursachverhalten als asynthetischen Denkdaten nicht das Falsche, sondern das bloße Nichtwissen ist. Die Verneinung übrigens ist im Fall eines Ursachverhaltes, da dessen Der-Fall-Sein und Existenz dasselbe sind, seine Vernichtung.

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290 Georg Wilhelm Friedrich Hegel licher, zeitlich indexikalischer Gedanke ist etwa „Die Sonne scheint“ oder „Der Torwart hat den Ball“. Die Sonne scheint, wenn sie scheint, in der Regel etwas länger, als ein Torwart in einem Fußballspiel jeweils den Ball hat, denn er hat ihn nur einige Sekunden, und wenn er das Spiel verzögern will, vielleicht einige Minuten (bis der Schiedsrichter einschreitet); dann gibt er ihn zurück ins Spiel. Doch beide Sätze sind jeweils eine Zeitlang wahr und danach wieder falsch. Hingegen ist der Satz „Der Torwart fängt den Ball“ nicht einfach nur ein zeitlich indexikalischer Satz, sondern spezifischer ein solcher, der aufgrund seines eigenen Gehaltes nur einen Augenblick lang wahr sein kann. Sowie er wahr ist, muss er kraft seiner Bedeutung wieder falsch werden, denn das Fangen ist ein instantanes Werden, ein Umschlagen vom Nichthaben zum Haben des Balles, und es gibt diesen einen Moment, in dem der Ball die Handschuhoberflächen des Torwarts gerade noch nicht und doch auch schon berührt: den Moment des Umschlagens. Auf diesen Moment trifft ein Widerspruch zu. Und weil ein Widerspruch nicht wahr sein kann, muss der Moment des Wahrseins verschwindend oder infinitesimal, also ein unmöglicher Grenzfall sein. „Nicht (Sein)!“ ist also ein logischer Augenblickssatz, der aufgrund seines Selbstwiderspruchs ein logisch infinitesimales Werden ausdrückt und sich ohne Weiteres selbst falsifiziert, sodass „logisch sofort“ wieder sein Gegenteil gilt: „Sein!“ Das infinitesimale, logische Werden ist eine Verbindung von Negativität („Nicht“) und Unmittelbarkeit („Sein“), und zwar eine völlig instabile, die sofort in sich zusammenfällt und ihrem Gegenteil, dem Sein, Platz macht. Der Anfang der VL (bzw. des reinen Denkens) besteht demnach aus der Gedankenfolge: „Sein!“ – „Nicht (Sein)!“ – „Nicht (nicht (Sein))!“ bzw. wiederum „Sein!“. Daran lassen sich einige Beobachtungen knüpfen. (1) Weil das Sein in allen Wahrheitsansprüchen mitausgesagt bzw. mitgedacht wird, ist „Sein!“ als ein Satz mit konstantem Wahrheitswert bzw. als ein logisch ewiger Gedanke aufzufassen. Auf seinem Boden gilt für einen logischen „Augenblick“ sein kontradiktorisches Gegenteil: „Nicht (Sein)!“, das dem Sein und sich selbst widerspricht und daher sofort wieder falsch wird: „Nicht (nicht (Sein))!“. Das Umschlagen im logischen Augenblick, angedeutet durch: „Nicht (Sein)!“, nennt Hegel das Werden, und die neue Form von Sein, die aus dem Zusammenbruch des Werdens resultiert, nennt er das Dasein. (2) Laut dem Nichtwiderspruchsprinzip kann es keine wahren Widersprüche geben; doch es gibt richtige Widersprüche, d. h. solche, die auf eine Situation zutreffen, sie korrekt beschreiben, aber auf eine Situation, die ihrerseits inkohärent und insofern unwahr ist. Hegels Logik rechnet mit Unwahrem (Inkonsistentem) nicht nur im Denken, sondern mit Unwahrem (Inkohärentem) auch im Sein, was natürlich schon daraus folgt, dass Denken und Sein am Anfang von VL zusammenfallen. Der Widerspruch erweist sich dann als der Motor der logischen Entwicklung. Denn weil es jeweils bei ihm nicht bleiben kann, entwickeln sich logisches Denken und logisches Sein immer weiter, bis eventuell Ruhe, nämlich Widerspruchsfreiheit, einkehrt. Insofern ist die Logik (HL ) eine

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III. Die Wissenschaft der Logik 291 logische, nicht-zeitliche Evolutionstheorie des Denkens und des Seins bzw. eine Evolutionstheorie des logischen Raumes, wenn man unter dem logischen Raum die Gesamtheit dessen versteht, was der Fall sein und gedacht werden kann. Nach Parmenides ist er das reine Sein – das Eine Seiende, die homogene Seinskugel –, nach Platon der Ideenkosmos, nach Aristoteles die Menge der Substanzen, nach Spinoza die singuläre, unendliche Substanz, nach David Lewis die Menge der möglichen Welten, usw. Die Klassiker der Metaphysik bieten jeweils statische Augenblicksaufnahmen des logischen Raumes als den ganzen logischen Raum an. Hegel aber lehrt, dass die metaphysische Wahrheit in der Evolution bzw. im ganzen Prozess des logischen Raumes b ­ esteht. Hegels logische Nichtstandard-Metaphysik ist eine Evolutionstheorie des logischen Raumes. (3) Der logische Raum evolviert in der logischen Zeit. Die logische „Raum-Zeit“ ist die strukturelle, rein logische Grundlage der physikalischen Raum-Zeit, die aber erst in der Real­philosophie thematisiert wird. Die logische Evolution beginnt mit dem logischen Urknall des Werdens; und das Dasein, das aus der Explosion und dem Zusammensinken des Werdens resultiert, ist der erste halbwegs stabile Zustand des logischen Raumes. Das anfangs anvisierte Sein ist die ewige Grundlage des logischen Prozesses. Es kann keinen bestimmten logischen Augenblick geben, bis zu dem es rein für sich war und ab dem dann die Negativität des Nicht-Seins bzw. Werdens ins Spiel gekommen wäre. Vielmehr muss dies immer schon, im apriorischen Perfekt, geschehen sein. Die Negativität war also von Anfang an mit dabei. Wir müssen daher in HL K im Nachhinein zwischen das Sein und das Werden als gleichursprünglich mit dem Sein das Nichts interpolieren, das in Beziehung auf das Sein immer schon den Urknall des Werdens ausgelöst hat. In VL stellt sich dies so dar, dass das reine Denken als reines Sein beginnen will, das aber zugleich absolute Negativität ist und denkt, sodass das Denken mit dem Werden de facto daher wegen dessen infinitesimaler Natur mit dem Dasein anhebt. Sein, Nichts, Werden, sind so die imaginäre Vorgeschichte des reinen Denkens; der erste greifbare, wirklich vollziehbare Gedanke ist der des Daseins. Parmenides hat ihn mit dem rein affirmativen Sein verwechselt. (4) „Nicht (nicht (Sein))!“ ist als Verneinung eines indexikalischen Gedankens selbst ein indexikalischer Gedanke, also nur fast, nicht vollkommen äquivalent mit dem anfänglichen „Sein!“, das einen logisch ewigen Gedanken andeuten sollte. Allerdings ist die Verneinung eines Augenblicksgedankens ihrerseits kein Augenblicksgedanke. Der Torwart fängt den Ball im Nu, dann hat er ihn eine Zeitlang und fängt ihn währenddessen nicht mehr. So ist das Dasein nicht mehr umschlagendes Werden, sondern relativ ruhiges Sein; doch kein ewiges, stehendes Sein, denn es resultiert aus einem anderen, seinem Negativen; es ist vermittelt durch das Werden und auch selber ein sozusagen langsames Werden. Das sehen freilich nur wir in HL. Das reine Denken sieht es nicht. Für dieses ist das Dasein ein Erstes und Unmittelbares, mit dem es scheinbar anfängt. Zugleich ist das Dasein bestimmtes Sein, bestimmt als das Negativ des Werdens. Es ist siegreich aus dem Werden hervorgegangen; doch das unterlegene Werden hält sich am siegreichen Nachfolger schadlos, indem es ihn im Untergehen bestimmt und profiliert:

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292 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Das Dasein ist fürs Erste das Nicht-Werden. Da aber das reine Denken (in VL) zwischen dem Dasein und seiner Bestimmtheit nicht unterscheiden kann, weil das bestimmende Werden spurlos verschwunden ist, erscheint ihm das Dasein als eins mit seiner Bestimmtheit. Eine solche Bestimmtheit, die mit ihrer Sache identisch ist, nennt Hegel Qualität.

Bemerkungen zur Logik der Qualität Die für HL K nötige Ausführlichkeit der Argumentation kann in einem Handbuchartikel nur exemplarisch für ausgewählte Stellen der Logik – wie hier für ihren Anfang – durchgehalten werden und muss alsbald wieder summarischem Bericht und Sprüngen weichen. Es folgen einige sehr allgemeine Bemerkungen zur Logik der Qualität.28 Die Verneinung in VL erfolgte bisher längs der logischen Entwicklung und war Vernichtung eines logischen Ursachverhalts durch einen Nachfolger, der im Gegenzug vom vernichteten Vorgänger bestimmt wurde. Quer zur logischen Entwicklung gab es bisher keine Verneinung, der logische Raum war vielmehr so homogen, dass Parmenides ihn für reines, affirmatives Sein halten konnte. Doch nun spitzt sich aus Gründen, die wir übergehen, das qualitative Dasein zu einem Daseienden oder Etwas zu und gibt einem Anderen seinesgleichen neben sich Raum. Der logische Raum teilt sich also in zwei qualitativ identische Teilräume, die nur aus der Perspektive des jeweils raumbesetzenden Daseienden unterscheidbar sind. Für uns in HL hingegen sind sie ununterscheidbar und insofern tendenziell identisch, was sie im Übrigen auch in der Perspektive des Daseienden als eines Endlichen bald wieder werden. Bis dahin aber kommt im zweigeteilten Raum des Daseins nunmehr auch Querverneinung vor, die keine zeitartige Vernichtung, sondern eine raumartige Abschattung ist. Zwei in HL ununterscheidbare Daseiende unterscheiden sich in VL als jeweiliges Etwas und abgeschattetes Anderes. Da wir es in der Logik mit satzwertigen, aber nicht satzartigen Denkdaten, logischen Ursachverhalten, zu tun haben, deren Existenz und Der-Fall-Sein dasselbe sind, sind auch logische Beziehungen zwischen ihnen ipso facto sachliche Beziehungen. So ist die Längsverneinung Vernichtung, die Querverneinung Abschattung. Erstere ist asymmetrisch, letztere symmetrisch. Für erstere gilt, dass determinatio, Bestimmung, das Inverse der negatio, Verneinung, ist; für letztere, dass negatio und determinatio in Symmetrie zusammenfallen. Die vorübergehende Zweiteilung des logischen Raumes des Daseins kann nur eintreten dank Querverneinung, die wir mit Hegel terminologisch als Andersheit oder 28 Für ausführlichere Rekonstruktionen sei auf die Kommentarliteratur zur Logik verwiesen, etwa auf Michael Quante, Nadine Mooren (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hegel-Studien, Beiheft 67, Hamburg, 2018, und auf die von Friedrike Schick jeweils mit anderen herausgegebenen Bände G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik, Berlin, 2002, und Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg, 2014, ferner speziell für die Seinslogik auf Pirmin Stekeler, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Qualitative Kontraste, Mengen und Maße, Hamburg, 2020.

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III. Die Wissenschaft der Logik 293 Anderssein fassen und deren Längsäquivalent die Veränderung ist. Da die Andersheit keinem der beiden Daseienden mehr als dem anderen anhaftet – jedes ist ja von seiner Warte aus das Etwas, das sein Gegenüber als das Andere abschattet –, da also keines das intrinsisch Andere ist, muss die Andersheit, die zwischen beiden waltet, für sich gedacht werden als die intrinsisch andere Quelle der Teilung des logischen Raums des Daseins. Damit tritt nun der für die Logik insgesamt konstitutive Typus von Unfundiertheit erstmals in Operation, eine Unfundiertheit nicht ursprünglich des Setzens oder Meinens oder Wissens wie bei Fichte, sondern die basalere des Verneinens, hier zunächst als unfundierte Querverneinung im logischen Raum des Daseins. Aufs Äußerste kondensiert und unartikuliert kennen wir die absolute, unfundierte Negation zwar bereits als das Nichts; doch im Dasein kommt sie nun erstmals in artikulierter Gestalt zum Vorschein als das intrinsisch Andere oder das Andere seiner selbst. Die aussagenlogische Verneinung-ihrer-selbst wäre in Strukturanalogie zur Einermenge-ihrer-selbst, W, als eine Aussage, n (um beim griechischen Alphabet zu bleiben), auszudrücken, die ihrer eigenen Verneinung logisch äquivalent ist. Unterhalb der Aussagenlogik, in der Logik der Ursachverhalte, ist wegen der Indifferenz von Der-Fall-Sein und Existenz das Bikonditional nicht von der Identität unterscheidbar. Wir erhalten also zwei Reihen von Äquivalenzen, mit Blick auf die Aussagenlogik zunächst folgende: n ↔ ~(n) ↔ ~(~(n)) ↔ … ↔ ~(~(~(…)))

In der Logik des Daseins können wir sodann die Verneinung als Anderssein, „a( )“, fassen, das Andere-seiner-selbst mit „A“ andeuten und das Bikonditional durch Identität ersetzen: A = a(A) = a(a(A)) = … = a(a(a(…)))

Die jeweils rechts angedeuteten, unendlich langen Ausdrücke wären, per impossibile ausgeschrieben, keine Ausdrücke einer finiten Sprache. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich die Selbstverneinung in der Umgangssprache leicht formulieren lässt, wenn auch nur indirekt mittels semantischen Aufstiegs, d. h. mittels einer Bezugnahme auf die Selbstverneinung und des Wahrheitsprädikates. Dies geschieht in sogenannten Lügnersätzen wie etwa diesem: (L) Der Satz, den sie gerade lesen, ist nicht wahr.

Der Satz (L) ist eine Antinomie, nicht einfach ein Widerspruch, den man ja verneinen könnte, sondern ein untilgbarer, nicht effektiv verneinbarer Widerspruch, also eine logische Katastrophe. (L) besteht aus einem Ausdruck, der sich auf (L) bezieht („Der Satz, den Sie gerade lesen“), dem Wahrheitsprädikat („ist … wahr“) und der Verneinung („nicht“). Die Quelle des logischen Ungemachs ist nicht das Wahrheits-

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294 Georg Wilhelm Friedrich Hegel prädikat, das hier nur als technisches Hilfsmittel des semantischen Aufstiegs fungiert, sondern die Verneinung im Zusammenwirken mit dem Selbstbezug, der für sich freilich ebenso harmlos ist wie das Wahrheitsprädikat (vgl. „Der Satz, den Sie gerade lesen, besteht aus zehn Worten“). Die Antinomie der Lügnersätze ist also in ihrer logischen Tiefenstruktur die Antinomie der Verneinung, vor der Parmenides sich aus nachvollziehbarem Grund scheute. Man würde sich ihrer nur dadurch entledigen, dass man aufhörte zu verneinen. Entgegen Parmenides würde man dann jedoch aufhören zu denken. Es scheint also, dass das Denken, sowohl das diskursive in (L) wie das prädiskursive in VL , mit einer logischen Antinomie behaftet ist, die Denken ermöglicht und verunmöglicht in einem. In VL tritt diese Antinomie unartikuliert als das Nichts und artikuliert erstmals als das Andere-seiner-selbst auf. Natürlich sinnt Hegel in HL auf einen Ausweg und findet einen dualen, mit einer affirmativen und einer negativen Flanke, die jedoch umschlossen bleiben von einer aporetischen Gesamtperspektive, in der sich der duale Ausweg als ungenügend erweisen wird. Affirmativ ist das Andere-seiner-selbst das Andere des Anderen, also das durch die Andersheit hindurch wieder mit sich identische Etwas; negativ ist es das Andere selbst, sozusagen die platonische Idee des Anderen und somit das Andere in Reinform, das den logischen Raum immer schon geteilt hat in ein mit sich identisches Etwas und das Andere. Die aporetische Gesamtperspektive ist die des antinomischen Selbstverhältnisses der Andersheit, das sich in VL als Veränderung und ständiges Außer-sich-Kommen bemerkbar macht. In der Konstrukteursperspektive von HL K lässt sich dies wie folgt explizieren: Fassen wir in den oben angedeuteten infiniten Formeln „~(~(~(…)))“ und „a(a(a(…)))“ die  Negationszeichen jeweils paarweise zusammen: „~~(~~(~~(…)))“ bzw. „aa(aa(aa(…)))“, so erhalten wir, weil doppelte Verneinung Bejahung ist, die unfundierte Affirmation bzw. Querbejahung. In der Umgangssprache entsprechen dem sogenannte Wahrsagersätze wie dieser: (W) Der Satz, den Sie gerade lesen, ist wahr.

Der Satz (W) ist wahr, sofern wir annehmen, er sei wahr, und falsch, sofern wir annehmen, er sei falsch; aber er ist nicht offensichtlich inkonsistent. In der Daseinslogik wird daraus das er­wähnte, mit sich identische Etwas. Aber wir müssen sogleich einräumen, dass unendlich viele Negationszeichen nicht geradzahlig viele sind. Vielleicht also bleibt bei ihrer paarweisen Zusammenfassung eines übrig? Wir berücksichtigen diese Möglichkeit, indem wir neben der unfundierten Affirmation auch deren Verneinung: „(W) ist nicht wahr“, bzw. neben dem mit sich identischen Etwas auch das Andere anerkennen. Darin bestand Hegels dualer Ausweg. Doch unendlich viele Negationszeichen sind nicht nur nicht geradzahlig, sondern auch nicht ungeradzahlig viele. Wir haben folglich bloß eine unzulässige Einseitigkeit durch eine andere korrigiert, aber das Kernproblem unberührt gelassen: die aporetische Gesamtperspektive.

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III. Die Wissenschaft der Logik 295 Diese bringt sich im Fortgang der Daseinslogik dadurch zur Geltung, dass die Grenze zwischen Etwas und Anderem sich als unfundierte Grenze-ihrer-selbst und das Etwas und das Andere sich als ein und dasselbe Endliche entpuppen, das sich ewig selbst vernichtet und in jedem Akt der Selbstvernichtung als ein neues Endliches wiederersteht – und so fort ins Unendliche. Diese Floskel würde man hier gerne wörtlich nehmen und dahingehend affirmativ verstehen dürfen, dass das Endliche tatsächlich über sich hin­ aus bis zu einem transfiniten Ziel fortschreitet bzw. sich zum Unendlichen erhebt. Doch es erfordert eine Reihe von Theoriemaßnahmen in HL, um einzusehen, wie dies zu guter Letzt wider anfängliches Erwarten geschehen kann. Ein Hauptgedanke dabei ist, dass im unendlichen Progress der einander vernichtenden Endlichen keines von ihnen unverneint und unvernichtet bleibt. Man tut ihnen daher keine fremde Gewalt an, sondern denkt ihre eigene Negativität zu Ende, wenn man ihre ganze unendliche Reihe in einer unendlichstelligen Generalnegation negiert denkt. Das so resultierende Andere der ganzen Reihe ist das Unendliche, dem nun die Reihe als das Gesamt-Endliche gegenübersteht. Offenkundig aber ist diese Interimslösung unzureichend, denn sie würde dazu führen, das Unendliche und das Endliche als Etwas und Anderes zu fassen und das zu lösende Problem so zu reinszenieren. Das Endliche muss vielmehr zu einem Ideellen depotenziert werden, welches dem Unendlichen als dem in einem höheren Sinn Realen nicht wie ein Anderes gegenüberstehen kann, sondern ab ovo durch es und in ihm aufgehoben ist. „Die Negation ist so als Idealität bestimmt“, sagt Hegel. Und: „Die Idealität kann die Qualität der Unendlichkeit genannt werden“.29 Verneinung war anfangs Längsverneinung und näher Vernichtung, spurlose Vernichtung. Aufhebung ist demgegenüber Verneinung, die das Verneinte als Verneintes bewahrt. Im Propositionalen ist das eine Trivialität: Dass Sokrates lebte, ist in „Sokrates lebt nicht mehr“ als ein Vergangenes aufgehoben. Aber im Vorpropositionalen ist Aufhebung ein Extra, und es bedarf einiger Theoriemaßnahmen, bis der Punkt erreicht ist, an dem das Andere nicht bloß vom Etwas abgeschattet wird, sondern im Etwas auch aufgehoben ist als für es seiend. Das Problem der Endlichkeit war, dass das im Etwas aufgehobene Andere zugleich als ein qualitatives Daseiendes unaufgehoben fortbestand. Dieser Standpunkt der Endlichkeit ist der des Realismus, der für die Dualität des Bewusstseins charakteristisch ist, d. h. für unsere alltägliche Praxis des Erhebens von objektiven Wissens- und Wahrheitsansprüchen. Was wir zu wissen beanspruchen und was insofern für uns, in unserem Wissen, aufgehoben sein soll, setzen wir zugleich als unabhängig von unserem Wissen an sich bestehend voraus und verstehen uns ipso facto als epistemisch endlich, d. h. als fehlbar. Hegel behauptet, dass die Philosophie als solche über diesen Standpunkt des Realismus und der Endlichkeit hinausgehe und wesentlich Idealismus und Theorie des Unendlichen sei. Nicht nur naturalistische und materialistische, sondern auch hermeneutische Varianten des Realismus sind damit unvereinbar, auch Heideggers hermeneutische Phänomenologie. 29 TW 5, S. 165 bzw. 166 – GW 21, S. 137.

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296 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Ideell im Hegel’schen Sinn ist, was nur als Aufgehobenes und nicht auch noch unaufgehoben der Fall ist oder existiert. In diesem Sinn ist Idealität Negation, ist Idealisierung Verneinung. Das Endliche wird im affirmativen, wahrhaften Unendlichen dahingehend verneint, dass es (a) immer schon aufgehoben war und (b) in keiner Weise neben dem Unendlichen als ein Anderes fortbestehen kann. Die „Realität im höheren Sinn“30 des Unendlichen ist dann zugleich die Idealität im höheren Sinn und die Qualität der Unendlichkeit. Bei dem Unendlichen zeigt sich also eine „Doppelseite“ der Idealität, nämlich daß das eine Mal das Ideelle das Konkrete, wahrhaft Seiende ist, das andere Mal aber ebensosehr seine Momente das Ideelle, in ihm Aufgehobene sind, in der Tat aber nur das Eine konkrete Ganze ist, von dem die Momente untrennbar sind.31

Die Idealität im höheren Sinn mag Fichte vor Augen gestanden haben, als er das sich setzende, für sich seiende Ich als Inbegriff aller Realitäten bestimmte. Sie ist unfundierte, selbstbezogene Negation, konkret Idealisierung-ihrer-selbst. Denn die affirmative Unendlichkeit ist die Idealisierung nicht nur „der Endlichkeit als solcher“, sondern auch „der ihr nur gegenüberstehenden, nur negativen Unendlichkeit“. Kraft des letztgenannten Punktes ist sie negativ auf sich selbst bezogen, also „sich auf sich beziehende Negation“ und daher „das Dasein, welches Fürsichsein genannt wird“.32 Aufheben und Setzen sind Gegenbewegungen. Aber was nur als (durch ein Anderes) Gesetztes und nicht auch unabhängig von seinem Gesetztsein vorkommt, ist ipso facto aufgehoben und spezifischer ideell. Was jedoch sich selbst setzt und nicht unabhängig von seinem Selbstgesetztsein vorkommt, ist ideell im höheren, affirmativen Sinn und Fürsichsein. Fichtes selbstsetzendes Ich hat daher das Fürsichsein zu seiner seinslogischen Grundlage.33 Allerdings handelt das Kapitel „Das Fürsichsein“, das die Logik der Qualität abschließt, von der Instabilität der Idealität-ihrer-selbst (was zu Jacobis Nihilismusverdacht Fichte gegenüber passt). Es fehlt ihr die Härte der endlichen Realität, sodass sie ihre Momente – sich als setzendes Fürsichsein und sich als gesetztes Seinfür-Eines  – nicht auseinanderhalten kann, die daher immer schon „in Unterschiedslosigkeit zusammengesunken“ sind. „Das Fürsichsein ist so Fürsichseiendes und, indem in dieser Unmittelbarkeit seine innere Bedeutung verschwindet, die ganz abstrakte Grenze seiner selbst – das Eins.“34 Das Eins also ist die in Unmittelbarkeit zusammengesunkene, zirkuläre Idealisierung, während das anfängliche Nichts die noch unartikulierte, zirkuläre Verneinung 30 31 32 33

Ebd., S. 164 bzw. S. 136 Ebd., S. 172 bzw. S. 142 f. Ebd., S. 166 bzw. S. 137. Seine wesenslogische Grundlage ist wohl am ehesten der absolute Schein qua setzende Reflexion und seine begriffslogische Grundlage der Begriff. 34 TW 5, S. 182 = GW 21, S. 150 f.

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überhaupt, also unbestimmte absolute Negativität war, die im Übrigen auf inkonsistente Weise das Sein zu seinem Widerpart hatte. Das Eins hingegen hat nur sich, ist also auch in diesem Sinn für sich (getrennt, chôris: ganz auf sich gestellt wie eine aristotelische Substanz). Seine vormalige Idealität ist in ihrem negativen Selbstverhältnis „in die festeste, abstrakteste“ Realität umgeschlagen.35 Wenn wir uns einmal die bisherige Karriere des logischen Raumes vor Augen führen, so fing er an als homogenes, qualitatives Dasein, teilte sich in Etwas und Anderes und wurde zum Endlichen, das sich über einen Progress ins Unendliche hinaus zum Unendlichen erhob und zuletzt unendliches Fürsichsein war. Nun aber ist dieser unendliche logische Raum in einen harten, negativ selbstbezüglichen Punkt kollabiert, der mangels eines Anderen, das zum Ziel seiner Negativität werden könnte, sich gleichsam selbst nicht leiden kann, nämlich sich von sich repelliert zu vielen seinesgleichen, vielen Eins, die einander alsbald ebenso repellieren, wie sie sich ursprünglich der Repulsion verdanken. Wieder finden wir hier, diesmal an der Repulsion, die Indifferenz von logischen und sachlichen Beziehungen, deren Kern wir gleich anfangs am Zusammenfallen von Sein, Anschauen und Denken vor Augen hatten. Der logische Raum ist nunmehr das Leere des klassischen Atomismus, in dem sich viele Eins als metaphysische Atome repellieren. Ihrer Repulsion entspricht in HL die punktförmige Negativität der Eins. Doch stellt sich in HL die Vielheit der Eins, da letztere vollkommen ununterscheidbar sind, als eine Verletzung der schwachen, rein logischen Variante der Identität des Ununterscheidbaren dar; sie ist also unwahr und transitorisch. In VL drückt sich dies durch eine Gegenbewegung zur Repulsion, durch Attraktion, aus. Die vielen einander repellierenden Eins attrahieren einander auch, was am Ende über ein vorübergehendes Gleichgewicht von Repulsion und Attraktion zum Einen Eins der Attraktion und damit zur Quantität führt. Die Henologie der Hegel’schen Logik ist also im Unterschied zur platonischen erstens transitorisch – wie die Wahrheit jeder Metaphysik –, denn das eine Eins muss einer Nachfolgergestalt des logischen Raumes weichen, und zweitens atomistisch, nicht ideentheoretisch. Allerdings führt sie, darin der platonischen doch wieder ähnlich, alsbald zu einer Metaphysik der Mathematik, die den logischen Raum in seiner Nachfolgergestalt als Quantität erfasst.

Vom Sein zum Wesen Die Logik der Quantität und die daran anschließende des Maßes werden hier im Wesentlichen übersprungen. In aller Kürze nur so viel: Die Quantität „ist die Bestimmtheit, die dem Sein gleichgültig geworden […] – die Repulsion der vielen Eins, die unmittelbar Nicht-Repulsion, Kontinuität derselben ist“.36 Sie ist als reine, noch nicht begrenzte, das logische Urbild für „Raum und Zeit, auch […] Materie überhaupt, Licht usf., selbst Ich“, also das Urbild des Kontinuierlichen, wobei der Raum als das „absolute 35 Ebd., S. 183 bzw. S. 151. 36 TW 5, S. 209 = GW 21, S. 173.

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298 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Außersichsein“ und die Zeit als „absolutes Außersichkommen“ wohl die schlagendsten außerlogischen Beispiele der Quantität bilden.37 Da sie vom Fürsichsein ihre Momente erbt, nämlich die Kontinuität und die Diskretion als Nachfolger der Attraktion und der Repulsion, tritt sie als kontinuierliche und als diskrete Größe auf und ist in dieser Dualität begrenzt und als begrenzte Quantum, als Quantum Zahl. Frege hat bekanntlich die klassische Vorstellung von der Zahl als einer Anzahl völlig gleicher Einheiten als inkonsistent zurückgewiesen, weil völlig gleiche Einheiten nicht unterscheidbar und mithin numerisch identisch wären. Hegel hingegen macht seiner Übung gemäß aus der Inkonsistenz eine Pointe und setzt den Grundwiderspruch der Zahl als Motor der quantitätslogischen Entwicklung ein. Diese führt über die quantitative Unendlichkeit und das quantitative Verhältnis, die die logischen Grundlagen des Differentialkalküls darstellen, zurück zur Qualität, jetzt einer quantitativ unterlegten, wie sie für die moderne Physik stilbildend geworden ist. Mit dem Rückgang der Quantität in Qualität ist auf den ersten Blick ein logischer Großkreis geschlossen, was bedeuten könnte, dass die Logik ihr widerspruchslösendes Ziel schon erreicht hat. In einem logischen Großkreis nämlich sind die Widersprüche entzerrt; man denke zum Vergleich an die Pflanze, deren Lebensstadien – Keim, Knospe, Blüte, Frucht, Keim  – jeweils inkohärent über sich hinaustreiben, deren ganzer kreisförmiger Prozess aber ihre Wahrheit ist. Allerdings wäre der Großkreis, wenn weiter nichts hinzukäme, eine Art Hamsterrad und ewige, unruhige Wiederkehr des Gleichen. Er müsste außerdem in einem Endgedanken zusammengefasst und zur Ruhe gekommen sein. Für die absolute Idee am Ende der Logik darf man Nämliches erwarten. Sie soll einerseits an den unmittelbaren Anfang zurückleiten und andererseits der Gedanke der Methode, methodos, d. h. des ganzen Weges sein, der vom reinen Sein bis zu ihr geführt hat. So weit sind wir am Ende der Logik der Quantität aber noch nicht. Der vermeintliche Großkreis wird nicht in einem artikulierten Gedanken zusammengefasst, sondern kollabiert in „die einfache Beziehung des Quantums auf sich“, die als qualitatives Quantum ein unmittelbares Maß, nämlich „zunächst ein unmittelbares spezifisches Quantum“ ist,38 wie etwa dasjenige Quantum, durch das sich eine Wiese nach oben von einer Prärie und nach unten von einem Vorgartenrasen unterscheidet. Auch das Ende der Maßlogik und damit das der Seinslogik im Ganzen ist noch kein versöhnliches. Zwar hat sich schließlich die ganze seinslogische Entwicklung in einen Abschlussgedanken zusammengezogen, aber in einen antinomischen, nämlich den des der Entwicklung konstant zugrunde liegenden ewigen Seins, das nun aus dem Untergrund als Ursachverhalt eigenen Zuschnitts und als Substrat hervorgetreten ist, an dem der Wechselkreislauf von Qualität und Quantität sich zu einem Wechsel zweier Zustände im umgekehrten Verhältnis fortgebildet hat, der sich zum allseitigen Wider37 Ebd., S. 214 f. bzw. S. 178. 38 Ebd., S. 394 bzw. S. 329.

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III. Die Wissenschaft der Logik 299 spruch zuspitzt und das ewige Sein in absolute Indifferenz übergehen lässt. Ex contradictione quodlibet, aus dem Widerspruch folgt Beliebiges und insofern absolute Bestimmungslosigkeit, Indifferenz. Bisher wurde diese vermieden durch den indexikalischen, transitorischen Charakter der einzelnen seinslogischen Ursachverhalte: Der Widerspruch trieb voran. Doch vom ewigen Sein als dem konstanten Substrat der Entwicklung kann es kein Übergehen durch Längsverneinung zu einem Nachfolger-­ Ursachverhalt mehr geben. Wenn die Logik nicht im allseitigen Widerspruch der absoluten Indifferenz scheitern soll, muss ein Fortgang unbekannten Typs möglich sein, der kein zeitartiges Übergehen zu Folgestadien des logischen Raumes (oder raumartiges Abschatten von Teilräumen des Raumes) mehr ist, sondern den logischen Raum als solchen neu konzipieren müsste. Gesucht ist demnach eine neuartige Verneinung, die das Verneinte nicht hinter oder neben sich lässt, es (und sich) auch nicht zu etwas Ideellem aufhebt und ins Eins kollabiert, das seinerseits in Quantität, dann ins Maß und zuletzt in Indifferenz übergeht. Ein Virtuose des reinen Denkens zwar wird sie vielleicht auf Anhieb finden und mit traumwandlerischer Sicherheit vollziehen; wir aber wollen sie in HL K argumentativ konstruieren. Denken und Sein gehörten in der Seinslogik von Anfang an zusammen. Das Denken war unmittelbar bei seiner Sache. Aber dieses sachnahe Denken hat sich als unwahr erwiesen. Wenn weiterführendes Denken noch möglich sein soll, muss es die vermeintliche Sache restlos preisgeben, sich ganz aus ihr zurückziehen und sich mit sich als sachentkerntem Schein zufriedengeben. Als absoluter Schein nämlich könnte sich die Antinomie der Verneinung, die das Grundproblem ist, eventuell stabilisieren lassen. Natürlich ist der Schein, der so vom Sein allein übrig bliebe, nicht das Affirmative und nicht der neue logische Raum, zu dem uns die gesuchte Negation führen soll. Für den Anfang müssen wir vielmehr einräumen, dass sich das Neue noch ganz hinter dem Schein verbirgt. Das Denken, das leer in sich scheint, kann nicht zu ihm durchdringen, nicht transzendieren; es bleibt in der Immanenz des Scheinens eingeschlossen. Aber die Unzugänglichkeit des Neuen für ein unmittelbares Erfassen legt schon eine Benennung für es nahe: Es ist das Wesen all dessen, was sich in VL bisher gezeigt hat, das verborgene Wesen hinter jenem Sein, das nach unserer Diagnose zu absolutem Schein regrediert ist. Das Wesen hat den Schein bzw. das zu Schein regredierte Sein als Schein immer schon gesetzt. Die Generalnegation, die vom Sein zum Wesen führt, ist also das Gesetztsein des Seins durch das Wesen. Die Seinslogik begann mit vorgefundenem, qualitativem Dasein, das im Fortgang allenfalls aufgehoben werden konnte. In der Wesenslogik haben wir es mit der Gegenbewegung zum Aufheben, dem Setzen, zu tun: Was Dasein schien, ist in Wahrheit Gesetztsein. Das Daseiende war ein Gesetztes, ein Negatives, aber in der Seinslogik gesetzt wie ein Affirmatives. Der Schein aber als „der ganze Rest, der noch von der Sphäre des Seins übriggeblieben ist“, ist nun „das Negative gesetzt als Negatives“.39 Mit seiner Untersuchung, nicht mit der des Wesens als solchen, beginnt 39 TW 6, S. 1 = GW 11, S. 246.

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300 Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Wesenslogik. Aber es ist von vornherein klar, dass der Schein nicht dem Wesen gegenübersteht, sondern dessen „eigener Schein“ ist, dass also das Wesen „in ihm selbst“ scheint bzw. „Reflexion in ihm selbst“ ist.40 Dieses leere Scheinen in ihm selbst ist Thema der Reflexionslogik, des ersten Abschnitts der Wesenslogik. Erstmals haben wir hier ein Auseinandertreten, noch nicht von Subjektivität und Objektivität, doch von Denken, qua Schein oder Reflexion, und Sein, qua Wesen. Freilich fehlt noch die Verbindung. Wir sind ganz auf der Seite des Denkens, das sich als Schein selbst im Weg steht und sich in sich verschließt, so als wäre das Rundumfenster der Transzendenz auf das Sein oder Wesen nun zu einem Spiegel geworden, in dem das Denken allein sich selbst reflektiert. Transzendieren ist übrigens auch für das seinslogische Verhältnis von Denken und Sein, das ja noch ein ganz unmittelbares ist, ein unpassender Terminus. Passend wird er erst im Fortgang der Wesenslogik, wenn in deren zweitem Abschnitt die Verbindung im dualen Verhältnis von Reflexion und verborgenem Wesen sich aufzubauen beginnt. Das Wesen nämlich lässt sich nicht unmittelbar erfassen, sondern nur durch die Reflexion hindurch. Hegel klärt diese Verhältnisse im Unterabschnitt „C. Die Reflexion“ des wesenslogischen Anfangskapitels („Der Schein“), indem er zwischen der setzenden, der äußeren und der bestimmenden Reflexion unterscheidet. Als setzende erhebt die Reflexion noch keinen über sich hinausgehenden Anspruch. Ihr Gesetztes ist da nur durch und für die Reflexion. So ist sie die Grundbewegung des subjektiven Idealismus, der von vielen zu Unrecht Kant und Fichte unterstellt wird. Eine Reflexion mit Transzendenzanspruch dagegen ist voraussetzend und wird am Vorausgesetzten zur äußeren Reflexion. Die Denkbewegung des Voraussetzens ist charakteristisch für das Bewusstsein und für sein endliches Erkennen und bereitet den Boden für den metaphysischen Realismus. Voraussetzend ist die Reflexion, die in ihrem Setzen ihr Setzen aufhebt; sie ist ein Setzen des Gesetzten als nicht gesetzt, sondern als unabhängig vom Setzen vorhanden. So verfahren wir in unseren alltäglichen Wahrheitsansprüchen, die sich von setzenden, performativen Akten eben dadurch unterscheiden, dass sie sich nicht selbst wahr machen, sondern ihre Wahrheit im Erfolgsfall einem unabhängigen Realen verdanken. Diesem Realen aber ist die voraussetzende Reflexion dann äußerlich, und so bleibt ihr Transzendenzanspruch uneingelöst. Was den metaphysischen Realismus begünstigt, treibt so zugleich in die – metaphysisch realistische – Skepsis, der das Reale zum prinzipiell unerkennbaren Ding an sich wird. Den Ausweg aus ihr bietet die bestimmende Reflexion, die mit der Sache selbst logisch verschränkt ist, sodass ihr spontanes Bestimmen die Bestimmungen der Sache trifft. Ein einprägsames Beispiel dafür ist das Lesen eines einfachen Gebrauchstextes. Zwischen geschriebenem Text und gelesenem Sinn vermittelt hier anstelle logischer Verschränkung die von Autor und Leser geteilte Schriftsprache. Den Schriftzeichen ist ihr Sinn nicht rezeptiv zu entnehmen – sonst sähen ihn auch Analphabeten –, sondern er muss beim Lesen spontan auf die 40 Ebd., S. 17 bzw. S. 244.

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III. Die Wissenschaft der Logik 301 Zeichen projiziert werden, dies jedoch nicht erfinderisch und invasiv, sondern vollkommen konservativ, sodass er genau den kraft Autorintention in den Zeichen kodierten Sinn freilegt. In dieser Weise projizieren wir nach Kant – allerdings nicht kraft Intention eines Weltautors, sondern kraft logischer Verschränkung  – die kategoriale Form aufs raumzeitliche Reale und so nach Fichte die Struktur des absoluten Ichs aufs Absolute. Die Hegel’sche Logik steht diesen ihren Vordenkern also näher, als Hegel glaubt. Wie er haben auch sie die logische Verschränkung von Denken und Sein und damit die bestimmende Reflexion ins Zentrum ihres Denkens gestellt. In der Hegel’schen Logik tritt diese im dritten Buch als der Begriff in Operation und bereits innerhalb der Wesenslogik in deren drittem Abschnitt als die Substanz. Die setzende Reflexion dominiert im ersten wesenslogischen Abschnitt und im Rückblick von dort ex post in der Lehre vom Sein. Für die äußere Reflexion bleibt somit das mittlere Buch, die Lehre vom Wesen selber, übrig und innerhalb dieser ihr mittlerer Abschnitt („Die Erscheinung“). Zu den Reflexionsbestimmungen – Identität, Unterschied und Widerspruch (1813) bzw. Identität, Unterschied und Grund (Enz §§ 115–122) – ist noch zu bemerken, dass sich in ihrer Abfolge wieder der duale Ausweg aus der Antinomie der Verneinung und deren aporetische Gesamtperspektive bemerkbar machen. In der Seinslogik war die unfundierte Negation mit qualitativem Dasein kontaminiert und verlief sich an diesem. Jetzt verläuft sie sich an sich selbst und ergibt (1) affirmativ die pure Identität im reflexionslogischen Obergeschoss anstelle des mit sich identischen Etwas im qualitativen Erdgeschoss, (2) negativ den puren Unterschied anstelle des qualitativen Anderen und (3) in der Gesamtperspektive den puren Widerspruch, der zugrunde geht, anstelle des widersprüchlichen Endlichen, das sich zum Unendlichen erhebt. Aus dem Grund geht sodann die Existenz als wesenslogischer Erbe des Daseins hervor sowie das Existierende und das Ding als Erben des Daseienden und des Etwas. Damit ist die duale Sphäre der Erscheinung eröffnet mit ihren Dualitäten von Wesen und Existenz, Ansich-Seiendem und Erscheinung, Ganzem und Teilen, Kraft und Äußerung und zuletzt Äußerem und Innerem, deren Identität sich schließlich im logischen Ursachverhalt der Wirklichkeit herstellt. Als Wirklichkeit ist der logische Raum sodann die Substanz, die die Macht über ihre Akzidentien ist, als deren substanzgewirkte notwendige Abfolge sich damit die bisherige Evolution des logischen Raumes ex post zu erkennen gibt. Jacobi hielt die spinozanische Substanz für das Nonplusultra der philosophischen Systembildung und glaubte, dass von ihrer internen Notwendigkeit kein theoretisch geregelter Fortgang zu freier Subjektivität mehr möglich sei, sondern nur ein gedanklicher Salto mortale in den Glauben an einen freien, persönlichen Gott. Die Hegel’sche Logik jedoch bringt die Substanz als aktive und als passive in Wechselwirkung mit sich und bietet so einen geregelten Fortgang in die Lehre vom – freien – Begriff an.

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Zur Begriffslogik Der Begriff soll in nuce schon die Auflösung der Antinomie sein und wäre es, wenn er nicht alsbald unter sein eigenes Niveau zurückfiele und sich in zwei seiner drei Momente – sich als Einzelnes (E) und sich als Allgemeines (A) – teilte, verbunden nicht durch sich als Besonderes (B), sein drittes Moment, sondern durch eine Kopula im schlichten Wert des Seins: „E ist A“. Er teilt sich also ins Urteil – und zunächst in das Urteil des Daseins bzw. (nach Enz § 172 f.) in das qualitative Urteil. Die Begriffslogik handelt dann von seiner stufenweisen und durch einen Rückfall in Objektivität glücklich verzögerten Wiedergewinnung seiner selbst. Der erste Abschnitt, Subjektivität, hat die Kapitel „Begriff “, „Urteil“, „Schluss“, der zweite Abschnitt, Objektivität, die Kapitel „Mechanismus“, „Chemismus“, „Teleologie“, und der letzte Abschnitt, Idee, die Kapitel „Leben“, „Erkennen“, „absolute Idee“. Es ist instruktiv, sich zu erinnern, wie wir zu Beginn der Seins- und der Wesenslogik jeweils eine inkonsistente Situation des reinen Denkens in HL K durch ein geeignetes Modell interpretiert und entschärft haben. Für die inkonsistente Verneinung des Seins bot sich das umschlagende Werden an, wie wir es in Augenblickssätzen ausdrücken („Der Torwart fängt den Ball“). In der Daseinslogik stießen wir danach auf die Antinomie der (Selbst-)Vernei­nung, ein logisches Syndrom, das nicht geheilt, aber durch immer neue Interimsmaßnahmen behandelt werden konnte, bis das seinslogische Werden in der absoluten Indifferenz zum Stillstand kam. Als stehende war die Antinomie mit seinslogischen Mitteln nicht weiter therapierbar. Zur Abwendung der drohenden Endkatastrophe interpretierten wir sie daher nach dem Modell des Wahrnehmungsscheins als logischen, absoluten Schein, gesetzt durch das in-sich-scheinende Wesen, und seine Bestimmungen als Reflexionsbestimmungen. Am Ende der Wesenslogik, im Ursachverhalt der Wechselwirkung, tritt die Struktur der Antinomie nun erneut zutage. Aber diesmal soll die Lösung, sogar die finale, also die vollständige Heilung, auf der Hand liegen, denn als Modell passt nun „das Ich oder das reine Selbstbewußtsein“41, das nach Kant als die analytische Einheit aller meiner Vorstellungen deren allgemeiner Begriff ist (KrV, B 133 f.) und sich in ungetrübter Allgemeinheit durch alle divergierenden Vorstellungen hindurch erhält, ohne dadurch in inkohärente Differenz zu sich selbst zu treten. So soll auch der Begriff als Singularetantum und als ganzer logischer Raum sich in ungetrübter Allgemeinheit durch seine Besonderungen und Vereinzelungen hindurch erhalten. Er ist eine weitere Form der Trias aus den beiden einseitigen Varianten und drittens der Gesamtperspektive der antinomischen Verneinung-ihrer-selbst, aber diesmal modellgemäß eine kohärente und somit wahre, wie Hegel glaubt. Im Dasein war die Trias mit unmittelbarer Qualität kontaminiert, im Schein nur noch mit ihrer eigenen Unmittelbarkeit qua Negation – wir verstanden sie nach wie vor letztlich von der Aus41 Vgl. TW 6, S. 253 = GW 12, S. 12.

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III. Die Wissenschaft der Logik 303 sagenlogik her –, im Begriff ist sie nun absolute Selbstvermittlung und durchsichtige Klarheit. Die Richtung des Verstehens kehrt sich damit um: Wir verstehen die aussagenlogische Negation bzw. das negative Urteil vom Begriff her. Er ist die absolut selbstvermittelnde und selbstbestimmende Quelle alles logischen Verstehens. Die Rede von absoluter Selbstbestimmung klingt paradox: Was sich selbst so oder so bestimmen soll, müsste irgendwie schon bestimmt sein, um sich gezielt fortbestimmen zu können – das Grundrätsel der Freiheit. Doch dass der Begriff sich tatsächlich aus nichts Vorgegebenem ursprünglich selbst bestimmt haben muss, lernen wir staunenden Auges aus dem Rückblick auf die überall alternativlose seins- und wesenslogische Evolution, die jetzt in ihr Prinzip, eben den Begriff, zurückgekehrt ist. Alle Bestimmungen, die auf dem Weg zu ihm auftraten, müssen also Aspekte seiner Selbstbestimmung gewesen sein. Ihm selber, wenn man ihn eng für sich betrachtet, hätte man das nicht ohne Weiteres angesehen. Stellen wir uns die Operation der Verneinung als einen Eingabe-Ausgabe-Apparat vor. Zu Beginn der Logik haben wir sie aus der Aussagenlogik übernommen und für unsere Zwecke vom Propositionalen ins Vorpropositionale umgebaut, damit wir den Ursachverhalt Sein in sie eingeben konnten, den wir uns als ein Unmittelbares bereits zuvor beschafft hatten. Sie bzw. der Apparat gab auf die Eingabe hin das Werden aus, das danach verlangte, sofort wieder eingegeben zu werden, woraufhin wir als Ausgabe das Dasein bzw. die Qualität erhielten. Diese gediegene Einheit von Sein und Negativität passte so gut zur stofflichen Seite des Apparats, dass er sie bei der Wiedereingabe, jetzt der des qualitativen Daseins, einbehielt und absorbierte. Er lief nun kontaminiert mit Sein als das Andere-seiner-selbst im Leerlauf und baute sich sukzessive in seinem Ausgeben und Wiedereingeben immer weiter um, bis er am Ende der Seinslogik zusammenbrach. Ursache des Zusammenbruchs war die erste Eingabe, deren Absorption der Apparat nicht gut vertragen hatte. Nun wurden ihre Schlacken aus seiner Textur entfernt, und danach lief er in einem neuen, unkontaminierten Leerlauf weiter, nachdem er sich selbst aus seiner eigenen Materialität eine Ausgabe als ursprüngliche Eingabe, ein vermitteltes Unmittelbares, geliefert hatte. Am Ende der Wesenslogik, in der absoluten Wechselwirkung der Substanz mit sich, verflüssigte sich seine Materialität, und zu Beginn der Begriffslogik gibt es nun keinen Apparat mehr, nur noch ein freies, selbstorganisierendes Ein- und Ausgeben. Nichts mehr verdankt sich externen Vorgaben, also der unmittelbaren Ersteingabe Sein oder der Materialität der Negationsoperation. Die Selbstverneinung baut sich als Begriff vielmehr frei aus und in sich selbst auf, und wir erkennen, dass alles Vorherige sich in Wahrheit diesem Selbstaufbau verdankt. Ein Bild wie dieses ist natürlich vage und verwirrend, teils auch irreführend. Vergessen wir es also besser wieder und behalten nur in Erinnerung, dass die Seinslogik zwei alternativlose Vorgaben benötigt: Sein und Verneinung, die Wesenslogik nur noch eine: Verneinung, und die Begriffslogik keine mehr. Ex post ist damit die Voraussetzungslosigkeit von VL vollendet. Der Begriff verdankt alles, was er ist und tut, nur

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304 Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich selbst. Das mit sich identische Etwas und die Reflexionsbestimmung der Identität sind zu seiner ungetrübten Allgemeinheit, das Andere und der Unterschied zu seiner Besonderheit, das Endliche/Unendliche und der Widerspruch/Grund zu seiner Einzelheit verklärt. Diese Begriffsmomente bilden keine harte, inkohärente Struktur mehr, sondern durchdringen einander irenisch. Das Allgemeine, A, besondert sich in sich: A, und nicht sich: B, die ihm beide subordiniert, also beide allgemein sind. In ihrer Subordination unter A sind sie einander koordiniert und daher auch Besondere gegeneinander, also ebenso unter B subordiniert; und ferner ist jedes zugleich ein Einzelnes. Der Begriff ist insofern jedes seiner Momente, A, B und E, und jedes Moment ist zugleich der ganze Begriff. So ist auch jeder faktische Begriff, der sich irgendwo in einer Baumstruktur der Begriffseinteilung findet – etwa Tier unter Lebewesen, neben Pflanze und über Säugetier – alles in einem: allgemeiner, besonderer und einzelner Begriff. Kants transzendentaler Ästhetik und Strawsons deskriptiver Metaphysik,42 auch Hegels eigener Philosophie der Natur, könnten wir indes entnehmen, wenn wir es nicht ohnehin wüssten, dass es eine basale, außerbegriffliche Einzelheit gibt, deren allgemeine Formen Raum und Zeit sind. Der Begriff Pferd, Frege möge verzeihen, ist ein einzelner Begriff neben anderen Begriffen, doch ein Pferd ist ein außerbegriffliches Einzelnes neben anderen Pferden und Dingen. Auch diese außerbegriffliche, in Raum und Zeit realisierte Einzelheit wird im Begriffskapitel logisch vorgebildet, und eben dies führt zur Ur-Teilung des Begriffs ins Urteil. Aus seiner Selbstbesonderung nämlich kehrt der allgemeine Begriff zwar einerseits als einzelner zu sich zurück, verliert sich andererseits aber als opakes Einzelnes. Wenn Strawson die raumzeitlichen Einzelnen als die paradigmatischen logischen Subjekte unserer Urteile ausweist,43 so entspricht dem in Hegels Logik, dass das opake Einzelne als Bruchstück des Gesamtbegriffs der Ergänzung zu einem Urteil mittels Kopula und Prädikat bedarf – was ins Urteilskapitel überleitet, das den Wiederaufstieg der Kopula aus dem Dasein über die Reflexion und die Notwendigkeit in den Begriff nachzeichnet. So erhält Hegel seine Variante der kantischen Urteilstafel. Aber es gibt signifikante Differenzen. Erstens ist bei Kant jedes Urteil nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität in je einer von drei Hinsichten bestimmt. Nach Hegel dagegen gehört ein Urteil primär in jeweils nur eine solche Rubrik, das Urteil des Daseins in die der Qualität, das der Reflexion in die der Quantität, das der Notwendigkeit in die der Relation und das des Begriffs in die der Modalität. Zweitens denkt Kant an die gewöhnlichen Urteile, die schematisierte Begriffe und damit die Raum-ZeitStruktur zur Bedingung ihrer Möglichkeit haben, während die Hegel’sche Logik von den logischen Grundlagen und Urbildern gewöhnlicher Urteile handelt, die ihrerseits logische Ursachverhalte, keine diskursiven Vorstellungen sind. Drittens zeigt Hegel im Unterschied zu Kant, wie sich die Kopula vom Dasein über die Reflexion und die Not42 Vgl. P. F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, 1959. 43 Ebd., Kapitel 6.

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III. Die Wissenschaft der Logik 305 wendigkeit zum Begriff steigert und als Begriff zur „Kopula“ des Schlusses, d. h. zu dessen Mittelbegriff wird (was ins Folgekapitel überleitet). Mit dem Wert der Kopula variieren dabei die Sorten der Prädikate: Im Urteil des Daseins wird das qualitative Dasein auseinandergelegt in ein Daseiendes als Subjekt, eine Kopula im Wert des Daseins und eine daseiende Qualität (wie Röte) als Prädikat, im Urteil der Reflexion werden Dispositionen prädiziert (Sterblichkeit, Nützlichkeit, usw.), im Urteil der Notwendigkeit Gattungen und Arten und im Urteil des Begriffs Begriffsangemessenheiten oder -unangemessenheiten. – Viertens ist die Form gewöhnlicher Urteile als subjektive synkategorematisch und daher nicht direkt ontologisch relevant; nur indirekt entspricht ihr nach Kant eine objektive, kategoriale Form. Bei Hegel aber gilt auf dem erreichten Stand, dass der logische Raum selber sich zum Urteil entwickelt hat; „alle Dinge sind ein Urteil“ (Enz § 167), sind urteilsförmig, mithin Tatsachen: Das Absolute oder der logische Raum ist eine Tatsache. Die subjektive, logische Form wird mithin als kategorematische interpretiert, nicht von Hegel in eigener Sache, sondern vom reinen Denken auf der Stufe des Urteils. Die Begriffslogik setzt so die in der objektiven Logik begonnene kritische Darstellung der Metaphysik fort,44 zumindest in ihrer breiten Mitte, ab dem Selbstverlust des affirmativen Begriffs bis vor das Erreichen der absoluten Idee. Demgemäß ist auch das Urteilskapitel kritische Darstellung, und zwar des logischen Bodens der Tatsachenontologie, die zu Hegels Zeiten noch gar nicht prominent vertreten worden war. Insofern eignet der Logik sogar eine prognostische Kraft für noch nicht vorgetragene, mögliche Standardmetaphysiken (die jeweils ein Entwicklungsstadium des logischen Raumes zum ganzen logischen Raum erklären). Das erste Kapitel hatte den freien Begriff in der offenen Baumstruktur seiner Selbstbesonderung gefeiert und beschrieben und war bis zu seinem Selbstverlust am Kapitelende affirmativ, freilich auch einleitend und vorläufig geblieben. Man mag dies als eine wohlwollend kritische Darstellung einer dihairetisch strukturierten, platonischen Ideenontologie lesen, deren Mangel nur darin besteht, dass sie den Selbstverlust des Begriffs nicht aufhalten kann. Das dritte Kapitel, über den Schluss, handelt von der Wiedergewinnung des Begriffs. Im Schluss nämlich ist die Kopula Begriff und kann als Mittelbegriff das Subjekt der Konklusion mit ihrem Prädikat, den Unter- mit dem Oberbegriff des Schlusses, so vermitteln, dass die verlorene Begriffseinheit provisorisch wiederhergestellt wird. Der logische Raum, „das Absolute“, ist nun ein Schluss: „Alles ist ein Schluß“ (Enz § 181 Anm.) – ein Einzelnes, das durch seine besondere Art mit seiner allgemeinen Gattung zusammengeschlossen ist. Vielleicht wird man dieses Kapitel daher als vorweggenommene Kritik einer inferentialistischen Tatsachenontologie interpretieren dürfen, die in der Linie von Carnaps 44 Michael Theunissen und im Anschluss an ihn Hans-Peter Falk verstehen die objektive Logik als kritische Darstellung der Metaphysik und die Begriffslogik als Hegels affirmative transmetaphysische Alternative, als Theorie der kommunikativen Freiheit (Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M., 1978) bzw. als transzendentalphilosophische Theorie der Subjektivität (Falk, Das Wissen in Hegels „Wissenschaft der Logik).

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306 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Syntaktizismus und Sellars’ und Brandoms Inferentialismus erst noch zu entwickeln wäre. Ihr Mangel wäre es, dass die Einheit des Begriffs in seinen Momenten E, B, A zwar am Ende, im disjunktiven Schluss, völlig wiederhergestellt ist, dies aber noch nicht in haltbarer Weise. Der subjektiven, logischen Form in der Rolle der Struktur des logischen Raumes fehlt der objektive Widerhalt, die Reibung am Faktischen. So resultiert ein Spinnen  – Spindeldrehen  – im Leeren45, das sich als die Idealität der Begriffsmomente bemerkbar macht (Enz § 192). Im Fürsichsein hatte die Idealität den Umschlag in die härteste Realität herbeigeführt, das Eins. Hier liefert sie, durchaus vergleichbar, die „Realisierung des Begriffs […], die durch Aufheben der Vermittlung [im Schluss] als unmittelbare Einheit sich bestimmt hat, […] das Objekt“ (Enz § 193). Das Objekt ist so die Totalität des Schlusses, komprimiert zu einem metaphysischen Punkt nach Art der Leibniz’schen Monade (Enz § 194 Anm.), der wie das Eins in viele seinesgleichen, viele Objekte, zerfällt. Mitunter wurde Hegel vorgehalten, ein Abschnitt über die Objektivität sei deplatziert in einer Wissenschaft der Logik und zumal in einer Logik des Begriffs. Dem liegt ein Missverständnis der Logik im Ganzen zugrunde. Erinnern wir uns: Gleich anfangs waren in ihr das subjektive Denken und das objektive Sein unterschiedslos amalgamiert. Erst in der Wesenslogik traten sie als Schein und Wesen vorläufig auseinander und vereinigten sich wieder im Grund und später in der Substanz, die der Begriff beerbte. Mit dessen Selbstverlust und Ur-Teilung gewann die subjektive, logische Form einseitig die Oberhand; nun schlägt das Pendel, wie es musste, zurück, und der logische Raum oder das Absolute zeigt sich einseitig als Objekt. Nicht anders war es zu erwarten. Soll der Begriff wirklich die Substanz beerben können, muss er die Objektivität und die kategoriale logische Form ebenso einschließen wie die Subjektivität und die propositionale logische Form. Als letztere allein würde er, wenn ihre Idealität nicht die Objektivität herbeiführte, zu bloßem Schein, einem Hirngespinst im Leeren, regredieren. Das Kapitel über den Mechanismus handelt dann, grob gesprochen, von der logischen Grundlage der Makrophysik, die nicht spezifisch differente Objekte, sondern Objekte überhaupt in ihren mechanischen und gravitationalen Beziehungen untersucht. Mit dem Chemismus tritt im zweiten Kapitel die logische Grundlage nicht nur der Chemie mit ihren verschiedenen Verbindungen und Elementen, sondern ipso facto, von Hegel nicht vorhersehbar, die der heutigen Mikrophysik mit ihrem ausdifferenzierten Teilchenzoo in den Fokus. Im dritten Kapitel, zur Teleologie, wird – prima facie überraschend – nicht etwa die Grundlage der Biologie und des Organischen, also der von Kant so genannten Naturzwecke, sondern die der äußeren, handlungsbezogenen Teleologie gelegt. Der logische Raum präsentiert sich hier als eine prä-Heidegger’sche ZeugGanzheit, die auf den „in freie Existenz getretene[n]“ Begriff als ihren „Zweck“ bezogen ist (Enz § 204), mit Heidegger zu reden, auf das Sein des Daseins als ihr Worumwillen. 45 Vgl. in verwandtem, doch nicht Hegel’schem Kontext John McDowell, Mind and World. With a New Introduction, Cambridge (MA)/London, 1996, S. 11: „a frictionless spinning in a void“.

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III. Die Wissenschaft der Logik 307 Die Grundlage des Organischen gehört dagegen schon der Idee an und wird im ersten Kapitel („Das Leben“) des letzten Abschnitts (Die Idee) behandelt. Nachdem der logische Raum sich bisher logisch diachron erst in einseitig subjektiver und dann in einseitig objektiver Form entwickelt hatte, sind beide Formen nun synchron übereinander geschoben oder vielmehr aus der seriellen logischen Verflechtung in eine parallele übergegangen. Die erste Variante dieser Verflechtung ist erwartungsgemäß die unmittelbare: das Leben, die unmittelbare Einheit des subjektiven Begriffs und der Objektivität (vgl. Enz §§ 213, 216). Auch hier gab es Zweifel, ob das Leben als Thema in die Logik gehöre, und gut gemeinte Ausflüchte, dass vom Leben in der Logik in einem übertragenen, rein rationalen Sinn die Rede sein müsse. Zweifel wie Ausflüchte sind grundlos; es geht um das logische Urbild dessen, was in Raum und Zeit als natürliches Leben auftritt, also um das Leben im primären Wortsinn. Das zweite Kapitel des Abschnitts rekonstruiert das intelligente, kognitive Leben, die logische Grundlage des theoretischen und praktischen Erkennens. „Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes“, merkt Hegel über den Fortgang zum Erkennen an (Enz § 222). Ein Trost ist das nicht; wir sterben bei Hegel ungetröstet, was im Allgemeinen schade und im Besonderen angesichts der Millionen, die in Folterkammern, Todeslagern oder Naturkatastrophen entsetzlich zu Tode kamen, skandalös ist. Aber so steht es einmal da und hat ja auch den weniger anstößigen Neben-, wenn nicht gar Hauptsinn, dass jenseits der opaken Einzelheit die Allgemeinheit des Denkens und Erkennens anhebt. Im Erkennen sind Subjektivität und Objektivität immer schon aus der Unmittelbarkeit des Lebens hervorgetreten und parallelisiert; im theoretischen Erkennen, der Idee des Wahren, unter dem einseitigen Primat der Objektivität, im praktischen Erkennen, der Idee des Guten, unter dem ebenso einseitigen Primat der Subjektivität. In der spekulativen oder absoluten Idee werden diese Einseitigkeiten zuletzt ausgeglichen und der Fixpunkt der Logik erreicht. Dazu Hegel: Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit. [Absatz] Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie.46

Falls sie dies ist, war sie in der Logik von Anfang an unser ausschließliches Thema, und so ist es in der Tat gemeint: Sie ist „die reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich selbst anschaut. […] Dieser Inhalt ist das System des Logischen. Als Form bleibt hier der Idee nichts als die Methode dieses Inhalts“ (Enz § 237). Mit anderen Worten, der logische Raum wird in seiner Endgestalt, der absoluten Idee, sich selbst zum Inhalt, wird zum denkenden Anschauen des Weges oder der Methode seiner Entwicklung.

46 TW 6, S. 549 = GW 12, S. 236.

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308 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Damit ist eine von zwei Anforderungen, denen ein gutes Ende genügen muss, erfüllt: Der Großkreis der logischen Entwicklung muss zum Inhalt eines Abschlussgedankens werden, der nicht in unmittelbare Einheit kollabiert, sondern in sich differenziert bleibt. Die andere Anforderung geht aufs Gegenteil: Der Kreis muss sich schließen, der Schlussgedanke zum Anfangsgedanken, die absolute Idee zu unmittelbarem Sein werden. Beides zusammen ergäbe eine ungute Dualität wie jene, in welcher der Begriff sich aus seiner Selbstbesonderung als einzelner wiederherstellte und als Einzelnes verlor. Was zunächst die erfüllte erste Anforderung angeht, so hat der Abschlussgedanke die windungsreiche, „dialektische“ Methode des Ganzen zum Inhalt. Jetzt also darf endlich von der Dialektik die Rede sein, die keineswegs unsere Methode in HL K sein konnte, weil sie als solche eine dogmatische Voraussetzung und dem Skeptiker nicht zumutbar gewesen wäre. Sie ist vielmehr der Weg – die hodos oder methodos –, den das reine Denken in der Vordergrundlogik in ständigen Wechseln von Aufbrechen des Widerspruchs und vorläufiger Überwindung zurückgelegt hat und den wir naturgemäß erst am Ende überblicken und in seiner Musterung erkennen können. – Wie steht es um die noch zu erfüllende zweite Anforderung, der zufolge, wenn der Großkreis sich schließen soll, die absolute Idee andererseits auch unmittelbares Sein werden muss? Sie wird dies indirekt. Indem sie sich nämlich „in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt, so ist sie als die Totalität in dieser Form […] – Natur“. Doch die Natur ist in ihrer Unmittelbarkeit nicht strikt dasselbe wie reines Sein. Das Ende der Logik führt also zwar zu ihrem unmittelbaren Anfang als einem nunmehr durch den Großkreis vermittelten zurück, geht aber nicht in ihm auf, sondern durch ihn hindurch ins Außerlogische und eröffnet – ohne Not, aus Freiheit – einen neuen Großkreis, den der Natur, wie Hegels letztes Wort zur Logik uns zu erkennen gibt: Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie […] in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen. (Enz § 244)

IV. Ausblick in die Realphilosophie Das duale Ende des Begriffskapitels mit Rückkehr und Selbstverlust antizipiert in nuce das duale Ende der Logik mit Methode und Natur. Doch nach dem Begriffskapitel ging die Logik weiter, in der absoluten Idee erreicht sie ihren Fixpunkt. Woher diese Differenz? Dort war die Rede von Selbstverlust und Ur-Teilung, hier ist die Rede von Freiheit, Sich-Entschließen und freiem Sich-Entlassen. Ein Ent-Schließen kann eintreten, wenn ein Zusammen-Schließen, ein Schluss, vorausging, also erst nach den Kapiteln über Urteil und Schluss, Freiheit allerdings schon früher. Denn Freiheit ist die Vollzugsweise des Begriffs als solchen im Unterschied zur Notwendigkeit als der Vollzugsweise der

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IV. Ausblick in die Realphilosophie 309 Substanz. Freiheit ist durchsichtig und einsichtig gewordene, aufgeklärte Notwendigkeit. Der substantiellen Notwendigkeit haftet hingegen die Dunkelheit des Zufalls und die Blindheit des Fatums an, wie nicht nur die Faktizität der Naturnotwendigkeit illustriert, sondern auch die von Quine bemerkte, subtilere Faktizität der Liste von logischen Ausdrücken, die der aussagen- und prädikatenlogischen Notwendigkeit zugrunde liegt.47 Der Begriff also fiel, indem er sich verlor, in opaker Notwendigkeit hinter seine transparente Freiheit zurück. Die Idee aber verharrt in ihrer Freiheit und Wahrheit und entschließt sich zugleich, den Zusammenschluss, der ihre Methode ist – von allgemeinem Anfang, besonderndem Fortgang und wiedervereinigtem Ende (vgl. Enz §§ 238–242) –, so weit zu öffnen, dass sie dessen mittleres Moment bzw. sich selbst als dieses Moment frei aus sich entlassen kann, und zwar als ihr Anderes und ihren Widerschein, als außerlogische Natur. Opak ist die Notwendigkeit des Fortgangs für das reine Denken, solange nur wir in HL stellvertretend für es einsehen, was sein nächster fälliger Schritt jeweils zu sein hat. Die Notwendigkeit klart auf zur Freiheit, wenn das Denken in VL selbst auf die Höhe jenes Einsehens kommt. Diese Höhe sieht Hegel in der absoluten Idee als dem Gedanken der Methode der ganzen Logik offenbar erreicht. Der nächste Schritt wird also vom reinen Denken in VL initiiert, und wir schließen uns in HL nur an und folgen nach. Es ist der Schritt des Denkens ins Außerlogische, in diskursives Vorstellen und in die Abhängigkeit von der raumzeitlichen Stellenmannigfaltigkeit. Die absolute Idee wird zu unmittelbarem Sein also nicht in der Logik, dort bleibt sie als Methode die Form der logischen Inhalte und ihrerseits der finale Inhalt, sondern erst in Raum und Zeit, in denen das unmittelbare Sein in drei räumlichen Dimensionen und einer zeitlichen quantitativ ausgedehnt wird. Kant nennt das raumzeitliche Reale Erscheinung und das, was an dieser der Empfindung zugänglich ist, ihre Materie; Raum und Zeit aber ihre Form (vgl. KrV, A 20/B 34). In der transzendentalen Ästhetik abstrahiert er von der Materie und vom Logischen und betrachtet nur die Form der Erscheinung. In der transzendentalen Logik tritt ­sodann das Logische als Thema hinzu. Doch die Materie bleibt der kantischen Tran­ szendentalphilosophie fremd und äußerlich, relevant allein für das empirische Erkennen. Die Wissenschaft der Logik hingegen abstrahiert nur von Raum und Zeit, nicht jedoch von der Materie der Erscheinung. Diese ist vielmehr als unmittelbares Sein logisch verschränkt mit dem Denken, und zwar bei Hegel im Unterschied zu Kant unabhängig von raumzeitlicher Vermittlung, und gehört daher von Anfang an in die logische Thematik. Davon zeugt die anfängliche Gleichsetzung von Anschauen und Denken. Wird nämlich von Raum und Zeit abstrahiert, so fallen die Rezeptivität des Anschauens und die Spontaneität des Denkens in eins. Im unmittelbaren Sein als Inhalt des Anschauens ist also das ganze Gewicht der Welt, die ganze Masse des Faktischen, 47 „Our […] notion of logical truth depends not only on the language but on how we grammaticize it.“ (W. V. Quine, Philosophy of Logic, Englewood Cliffs (NJ), 1970, S. 60.)

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310 Georg Wilhelm Friedrich Hegel wenn auch unter Abstraktion von allen denkbaren Modifikationen, aufbewahrt. Insofern ist diese unmodifizierte Masse einerseits wohlunterschieden vom Nichts, von dem sie andererseits als unmodifizierte aber ununterscheidbar ist und mit dem sie daher auch identisch sein muss. Mit diesem Anfangswiderspruch begann die logische Entwicklung. Bei solchem Licht besehen ist es daher falsch, zu sagen, dass die Hegel’sche Philosophie das Gewicht der Faktizität ignoriere. Der späte Schelling hat bekanntlich diesen Vorwurf erhoben und Hegels Philosophie als negative, rein rationale Philosophie gedeutet, die durch eine positive, auf Faktizität gegründete Philosophie, Schellings eigene, zu ergänzen sei. Man sieht, was Hegel der Kritik entgegenzusetzen hätte: Die Logik hat es mit den Denkbestimmungen nicht als mit Prädikaten – ergänzungsbedürftigen Inhalten, bloßen Vorstellungen – zu tun, sondern als mit Ursachverhalten, an denen die Unterscheidungen (a) von Denken und Anschauen und (b) von Akt und Inhalt abprallen. So ist das faktische Sein stets mit im Blick. Erst die Logik selber lässt Akt und Inhalt auseinandertreten und in der Idee wieder zusammenkommen. Dabei geht der Inhalt nicht verloren, sondern von seiner Fülle zehrt sodann die Realphilosophie, die ihn in raumzeitlicher Zerstreuung als mannigfaltiges Material für ein diskursiv und vorstellungshaft gewordenes Denken betrachtet. Nur wenn Hegel die Naturphilosophie an den Anfang seines Systems gestellt hätte, müsste man Schellings Diagnose und Kritik auf Anhieb unterschreiben. Die Logik aber ist in Anlage und Programm positive und negative Philosophie zumal und in ihrem Kielwasser die Realphilosophie – als Philosophie der Natur und des Geistes – desgleichen. Die Philosophie der Natur beginnt mit Raum und Zeit im ersten Abschnitt ihrer ersten Abteilung48 („Die Mechanik“) und endet mit dem tierischen Organismus im dritten Abschnitt der dritten Abteilung („Die Organik“). Die mittlere Abteilung („Die Physik“) entspricht ungefähr dem objektivitätslogischen Kapitel über den Chemismus. Das Teleologie-Kapitel der Objektivitätslogik hat in der Naturphilosophie erwartungsgemäß kein Korrelat, und die dritte naturphilosophische Abteilung, zur Organik, hat ihr Korrelat im ersten Kapitel („Das Leben“) der Logik der Idee. An diesen Strukturdifferenzen wird augenfällig, dass die Realphilosophie keine schlichte Anwendung der Logik auf Raumzeitliches ist, sondern nach ihren eigenen, internen Notwendigkeiten entwickelt werden muss. Das Unternehmen einer Naturphilosophie ist inzwischen längst aus der Mode gekommen. Zu Unrecht, denn man übersieht, dass die Naturwissenschaften  – Makrophysik, Mikrophysik mit Chemie, Lebenswissenschaften – Fragen offenlassen müssen, die die Natur selbst betreffen. Die Modi der Zeit etwa  – Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit – gehören nicht unserer subjektiven Imagination, sondern der Natur an. Es ist ein objektives, natürliches Faktum, dass, was jetzt geschieht, hier am Ort des Geschehens den Charakter der Gegenwart hat, ein Faktum, das sich naturwissenschaft48 Den jeweils drei Abteilungen in der Enzyklopädie entsprechen die drei Bücher der (großen) Logik.

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IV. Ausblick in die Realphilosophie 311 lichen Erklärungen entzieht. Es wäre bedauerlich, wenn, was de facto jetzt geschieht, bereits den Charakter hundertfünfzigjährigen Vergangenseins besäße, denn dann wären wir alle tot. Die Physik aber kann die Natur der Zeitmodi nicht begrifflich fassen und überdies den Pfeil der Zeit nicht erklären, sondern ihn nur der Zunahme der Entropie zuordnen, die sie ebenfalls nicht fundamental erklären kann. Auch die phänomenalen Qualitäten der Dinge, die wahrnehmbaren Farben, Klänge, Düfte, usw., finden sich nicht etwa einseitig nur in einem je individuellen Bewusstsein, sondern primär in dem ausgedehnten, allen empfindenden Lebewesen gemeinsamen, raumzeitlichen Bewusstseinsfeld, das nur jeweils verschieden um jedes von ihnen zentriert ist. Auch diese sogenannten Qualia sind also Teil der äußeren Natur und dennoch keine möglichen Gegenstände exakter, mathematisierter Naturwissenschaften. Vor allem aber können die Naturwissenschaften nicht beweisen, dass zum Realen als solchem, zu einem beliebigen materiellen Raum-Zeit-System, notwendig Organismen gehören, die sich irgendwann und irgendwo in ihm entwickeln, geschweige denn, dass sich einige der Organismen zu geistigen Lebewesen fortbilden müssen. Hegels Naturphilosophie hingegen tut ihrem Anspruch nach nicht nur die Notwendigkeit des Lebens in jeder beliebigen Raum-Zeit zwingend dar, sondern im Übergang zur Philosophie des Geistes auch die des geistigen Lebens. Letzteres wird in den drei Abteilungen der Philosophie des Geistes als subjektiver, objektiver und absoluter Geist betrachtet. Der subjektive Geist ist individuelles Fühlen, Wahrnehmen und Denken. Der objektive Geist ist der intersubjektive, der sich allgemein als Recht, dann im jeweiligen Individuum als Moralität und schließlich als substantielle Sittlichkeit in Familie, Gesellschaft und Staat zur Geltung bringt. Zuletzt krönt der absolute Geist die logisch-philosophische Entwicklung in Gestalt der Kulturleistungen Kunst, Religion und Philosophie, d. h. durch Darstellungen des logischen Raumes oder des Absoluten in sinnlicher Anschauung (Kunst), in imaginativdiskursiver Vorstellung (Religion) und im begreifenden Denken (Philosophie). In der klassischen griechischen Kunst wurde das Absolute, ihm durchaus angemessen, in idealisierter Menschengestalt  – als Apoll, Athene, usw.  – zur sinnlichen Anschauung gebracht. In der geoffenbarten Religion, namentlich der christlichen, wurde es als der seit dem Ende seines Erdenlebens abwesende Gottmensch imaginativ und diskursiv vorgestellt. In der Philosophie, abschließend im Hegel’schen System und dort erstmals erschöpfend, wird es denkend begriffen, und dies ist die ihm angemessenste Weise seiner Darstellung. In ihr hat sich der philosophische Kreis aus drei Kreisen endgültig geschlossen, ohne dass nochmals ein duales Ende und auf dessen einer Flanke ein Kollaps in Unmittelbarkeit eintreten könnte. Denn die Philosophie liegt nun faktisch als System vor in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, noch sehr ausbau- und verbesserungsbedürftig zwar, aber im Prinzip schon so, dass sie den Anschluss an ihren eigenen Anfang ermöglicht, weil sie sich selbst und diesen Anfang thematisiert und reflektiert, nicht aber dadurch, dass sie sich in Unmittelbarkeit zusammenzöge.

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312 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Ob das alles programmgemäß aufgeht, sei dahingestellt. Die Konzeption und die faktisch vorliegenden, wenn auch im Detail oft kaum nachvollziehbaren Ausarbeitungen sind bewundernswert und stellen trotz allen Dunkelheiten, die ihnen anhaften, eine nicht zu ignorierende Herausforderung für jede künftig noch mögliche Philosophie dar. Im Zusammenhang mit Kant und Reinhold wurde oben erwähnt, dass die Erste Philosophie keine reife Wissenschaft werden kann, weil sie sich dazu von der Mathematik abhängig machen und ihr Eigenes preisgeben müsste. Hegel hat sein System als reife, lehrbuchfähige Wissenschaft intendiert, ohne den dafür fälligen, aber abwegigen Preis der Mathematisierung je auch nur in Erwägung zu ziehen. Dass er Unmögliches wollte, blieb ihm verborgen, und vermutlich ebenso die monumentale Einseitigkeit in seinem Diktum, dass der „Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit […] das Hervorgehen des Geistes“ sei (Enz § 222). Gewiss, der Geist geht übers Individuum hinaus ins Allgemeine; aber er bleibt dabei gebunden an lebendige Individuen und an deren je persönliche Perspektiven. Daher ist der Tod einer „unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit“ stets auch ein partieller Untergang des Geistes. Kierkegaard hat in diesem Sinn gegen Hegel protestiert und Heidegger hat den Faden des Protests fortgesponnen und rückwärts durch die Philosophiegeschichte hindurch an Heraklit und Parmenides (einen Heidegger’schen Nichtstandard-Parmenides) geknüpft. Parmenides’ Fragment 3: to gar auto noein estin te kai einai, „das nämlich Selbe ist Denken sowohl als Sein“, liest er im Horizont von Heraklits Fragment 123: physis kryptesthai philei, „Natur liebt es, sich zu verbergen“. In der Heidegger’schen Zusammenschau beider Fragmente läuft ihre Botschaft darauf hinaus, dass Denken und Sein in einer logischen Verschränkung zusammengehören (Parmenides), die nicht zu durchsichtiger Klarheit gebracht werden kann (Heraklit), sondern eine wesentlich opake Identität bleibt – wie auf andere, doch vergleichbare Weise in der Quantenmechanik die Identität von Welle und Teilchenstrom. Zwar ist das Seiende unverborgen fürs Denken, aber gerade im denkenden Entbergen und für dieses verbirgt es sich jeweils auch. Es zeigt sich im Sich-Verbergen und verbirgt sich im Sich-Zeigen. Alles Erkennen, auch und gerade das philosophische, ist insofern notwendig endlich und perspektivisch. Wenn das Perspektivische in der mathematisierten Naturwissenschaft aus dem Denken und dem Sein herausgerechnet wird, so um den Preis einer verkürzenden Abstraktion, die wesentliche Züge des Realen, auch des physischen Realen, abschattet. Glücklicherweise ist nicht nur diese abstrakte, sondern in den hermeneutischen Wissenschaften, als deren erste und apriorische die Philosophie sich verstehen muss, auch eine konkrete Allgemeinheit erreichbar, die aber stets neu ausgehandelt werden muss und vorläufig ist. Daher kann sich die philosophische Wissenschaft nicht endgültig zu einem Kreis schließen, sondern bleibt, weil die Physis im Sich-Zeigen sich stets auch verbirgt, für Überraschungen offen, nicht nur im Detail, sondern auch im Prinzipiellen. So jedenfalls lehrt es der hermeneutische Realismus. Zwischen ihm und Hegels absolutem Idealismus kann hier nicht mit hinreichenden Gründen entschieden, aber es musste auf diese basale Theoriealternative wenigstens noch hingewiesen werden.

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Literatur Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegel Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg, 1968 ff. (Sigle: GW). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M., 1969–71 (Theorie-Werkausgabe, Sigle: TW).

Andere Autoren Aristoteles, de anima, hg. v. W. D. Ross, Oxford, 1956. Aristoteles, Metaphysik, hg. v. W. Jaeger (Aristotelis Metaphysica), Oxford, 1957. Fichte, Immanuel Hermann (Hg.), Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Berlin, 1845/46. Jacobi, Friedrich Heinrich, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau, 1785. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Riga, 1781, 2. Aufl. 1787 (Sigle: KrV, A bzw. B). Platon, Sophistes, in: Platonis opera, Bd. 1, hg. v. I. Burnet, Oxford, 1900, S. 357–442. Reinhold, Karl Leonhard, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag/ Jena, 1789. Reinhold, Karl Leonhard, Über das Fundament des philosophischen Wissens (1791), Hamburg, 1978.

Sekundärliteratur Aczel, Peter, Non-Well-Founded Sets, CSLI Lecture Notes 14, Stanford, 1988. Falk, Hans-Peter, Das Wissen in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Freiburg/München, 1983. Förster, Eckart, „Hegels ‚Entdeckungsreisen‘. Entstehung und Aufbau der Phänomenologie des Geistes“, in: Klaus Vieweg/ Wolfgang Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a, M., 2008, S. 37–57. Förster, Eckart, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a. M., 2011. Fulda, Hans Friedrich, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München, 2003. Henrich, Dieter, Das Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt a. M., 2019. Koch, Anton Friedrich, „Sinnliche Gewißheit und Wahrnehmung. Die beiden ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes“, in: Anton Friedrich Koch, Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels Nichtstandard-Metaphysik, Tübingen, 2014, S. 29–44. Koch, Anton Friedrich, Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels Nichtstandard-­ Metaphysik, Tübingen, 2014. McDowell, John, Mind and World. With a New Introduction, Cambridge (MA)/London, 1996. Ostritsch, Sebastian, Hegel. Der Weltphilosoph, Berlin, 2020. Quante, Michael/Mooren, Nadine (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hegel-Studien, Beiheft 67, Hamburg, 2018. Quine, W.V., Philosophy of Logic, Englewood Cliffs (NJ), 1970.

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314 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Russell, Bertrand, The Problems of Philosophy (1912), Oxford, 1967. Schick, Friedrike/Koch, Anton Friedrich (Hg.), G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik, Berlin, 2002. Schick, Friedrike/Vieweg, Klaus/Wirsing, Claudia/Koch, Anton Friedrich (Hg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg, 2014 (= Deutsches Jahrbuch Philosophie 5). Stekeler, Pirmin, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Qualitative Kontraste, Mengen und Maße, Hamburg, 2020. Strawson, P. F., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, 1959. Theunissen, Michael, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M., 1978. Vieweg, Klaus/Welsch, Wolfgang (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a. M., 2008. Vieweg, Klaus, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München, 2019. Zöller, Günter, Hegels Philosophie. Eine Einführung, München, 2020.

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Klaus Vieweg, Prof. Dr., geb. 1953, lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Gastprofessuren /Forschungsaufenthalte: Seattle, Rom, Bochum, Erlangen, Shanghai, Medellin, Pisa, Prag, Tokyo, Kyoto Aktuelle Forschungsinteressen: Deutscher Idealismus, besonders Hegel; Skeptizismus Publikationen u. a.: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie (2019), Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (2012), The Idealism of Freedom. For a Hegelian Turn in Philosophy (2020), Philosophie des Remis – Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skeptizismus‘ (1999), Hegels Phänomenologie des Geistes (Hg. K. Vieweg/W. Welsch) (2008), Skepsis und Freiheit (2007), Genius loci. An-Sichten großer Philosophen in Text und Bild (2014), Idealismus und Romantik in Jena (Hg. M. Forster/J. Korngiebel/K. Vieweg (2018), La logica della libertá (2017). Andrea Marlen Esser, Prof. Dr., geb. 1963, lehrt Philosophie an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Aktuelle Forschungsinteressen: Politische Philosophie, Kantforschung, Pragmatismus, Eigentum, Tod und Sterben Publikationen u. a.: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart (2004). Kants Verbot der Lüge in der Metaphysik der Sitten – Irrweg eines ›Moralpathologen‹ oder konsequentes moralphilosophisches Denken? In: Jean-Christophe Merle/Carola Villiez (Hrsg.): Kants Metaphysik der Sitten: Der Zusamm enhang von Rechts- und Tugendlehre (2019), Freiheit und Autonomie im Republikanismus – Überlegungen in Anschluss an Philip Pettit, Immanuel Kant und John Dewey. In: P. Stekeler-Weithofer u. a. (Hrsg.): Philosophie der Republik (2018), S. 95–109.

Martin Bondeli, PD Dr., geb. 1954, lehrte bis 2019 Philosophie an den Universitäten Bern und Freiburg (CH) und ist seit 2010 Dozent für Wirtschaftsphilosophie an der Privaten Hochschule für Wirtschaft in Bern. Er ist Hauptherausgeber der von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften geförderten Edition von Karl Leonhard Reinholds Gesammelten Schriften (Basel, 2007ff.). Aktuelle Forschungsinteressen: die Philosophie Kants und der Deutsche Idealismus Publikationen u. a.: Hegel in Bern (1990), (Co-Autor) Das „Methodenkapitel“ von Karl Marx (1994), Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold (1995), Der Kantianismus des jungen Hegel (1997), Kantianismus und Fichteanismus in Bern (2001), Apperzeption und Erfahrung (2006), Reinhold und Schopenhauer (2014), Kant über Selbstaffektion (2018), Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin (2020).

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Andreas Schmidt, Prof. Dr., geb. 1966, lehrt Philosophie mit Schwerpunkt Deutschem Idealismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aktuelle Forschungsinteressen: Deutscher Idealismus, Rationalismus des 17. Jahrhunderts, analytische Philosophie Publikationen u. a.: Der Grund des Wissens. Zu Fichtes Wissenschaftslehren in den Versionen von 1794/95, 1804/II und 1812 (2004), Göttliche Gedanken. Zur Metaphysik der Erkenntnis bei Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz (2009), Herausgeber und Übersetzer von René Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe (2004, 22011).

Markus Gabriel, Prof. Dr., geb. 1980, lehrt Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Aktuelle Forschungsinteressen: Kant und deutscher Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), Philosophie des 20. Jahrhunderts (Heidegger, Wittgenstein, analytische und postanalytische Philosophie), Erkenntnistheorie, Metaphysik / Ontologie, Religionsphilosophie, Ästhetik Publikationen u. a.: Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings „Philosophie der Mythologie“ (2006), Warum es die Welt nicht gibt (2013), (Hrsg.) Der neue Realismus (2014), mit Malte Dominik Krüger: Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie (2018), mit Gerd Scobel: Zwischen Gut und Böse: Philosophie der radikalen Mitte (2021).

Anton Friedrich Koch, Prof. Dr., geb. 1952, wurde 1980 in Heidelberg promoviert und habilitierte sich 1989 in München. Er lehrte als Professor in Halle, Tübingen und zuletzt Heidelberg ist seit Oktober 2020 im Ruhestand. Aktuelle Forschungsinteressen: Die logische Verschränkung von Denken und Sein in der klassischen griechischen, klassischen deutschen und gegenwärtigen analytischen und hermeneutischen Philosophie. Publikationen u. a.: Subjektivität in Raum und Zeit (1990), Versuch über Wahrheit und Zeit (2006), Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels NichtstandardMetaphysik (2015), Hermeneutischer Realismus (2016), Philosophie und Religion (2020).

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Am Anfang war Kant. Darin sind sich die drei Hauptrepräsentanten des Deutschen Idealismus – Fichte, Schelling und Hegel – einig, auch die wesentlich die nachkantische Ära mitprägenden Karl Leonhard Reinhold, Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin gingen damit konform. Mit Andrea Esser, Martin Bondeli, Markus Gabriel, Andreas Schmidt, Anton Friedrich Koch und Klaus Vieweg suchen in diesem Handbuch sechs Experten der Zeit je eigenständige und originelle Zugänge zu den betreffenden Denkern und den verschiedenen philosophischen Strömungen und zeigen für die heutige Debatte relevante Problemlagen und Perspektiven auf. So wird klar, dass diese Epoche der Weltphilosophie keinesfalls ins Museum gehört.

Klaus Vieweg ist Professor für klassische deutsche Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere Hegel, sowie der Skeptizismus.

VIEWEG KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS

Eine Schlüsselperiode der Philosophiegeschichte

KLAUS VIEWEG (HRSG.)

Kant und der Deutsche Idealismus EIN HANDBUCH

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