System und Körper: Der Körper als Ressource in der systemischen Praxis 9783666401916, 9783525401910, 9783647401911

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System und Körper: Der Körper als Ressource in der systemischen Praxis
 9783666401916, 9783525401910, 9783647401911

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András Wienands (Hg.)

System und Körper Der Körper als Ressource in der systemischen Praxis Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40191-0 ISBN 978-3-647-40191-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Jana Kiewitt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 András Wienands Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Familien und Kindern Alfons Aichinger Mit Familien spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17 Roland Kachler Trauerbegleitung als hypnosystemische Körperarbeit. Ein neuer Ansatz für die Trauerarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Joseph Richter-Mackenstein Leiblicher Ausdruck und Familie in der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie. Zugänge über die systemisch-psychomotorische Familienberatung . . . . . . . . . . . . 45 Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Paaren Tobias Günther Mehr Lust für Paare. Wie leidenschaftlicher Sex in langjährigen Beziehungen (wieder) möglich wird . . . . . . . . . . . 63 Liane Stephan und Mohammed El Hachimi Paare in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 Stefan Beier und Berit Lütteke Liebe in Bewegung – die Wachheit des Augenblicks . . . . . . . . .  87 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Inhalt

Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Einzelnen András Wienands Körperorientierte systemische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  107 Alexander Korittko Trauma und Körper: Der Körper merkt sich alles . . . . . . . . . . .  122 Sabine Strübing und Jürgen Roming Dem Körper (m)eine Stimme geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 Maja Dshemuchadse und Stefan Scherbaum Improtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  160 Elisabeth Breit-Schröder Die Nutzung des Körperwissens. Körperorientierte Interventionen in der systemischen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . 177 Der Körper als Ressource im systemischen Coaching Irmgard Bohmann und Josef Bohmann Den Körper im Coaching nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195 Bernd Ahrendt Das Schürfen nach Gold: Kommunikation mit dem Körpersystem mittels Kinesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  214 Ella Gabriele Amann Resilienzförderung nach dem Bambus-Prinzip. Methoden der Improvisation und Bodybliss® im systemischen Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  243

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Vorwort

In meinen beruflichen Anfängen in den diversen psychosomatischen Kliniken habe ich diesen Satz besonders gefürchtet: »Verstanden habe ich das, aber verändern kann ich es nicht.« Ich kann mich gut daran erinnern, wie mir in der Reaktion auf diese Worte stets ein wenig wärmer geworden ist. Auch ich hatte damals noch keine Ideen dazu, wie dieser Missstand behoben werden könnte. In den vergangenen Jahren meiner beruflichen Tätigkeit als Psychologe, Psychotherapeut und Leiter einer systemischen Ausbildungsstätte bin ich vielen Kolleginnen und Kollegen begegnet, die mich mit ihren ganz eigenen Ansätzen, den Körper als Ressource für Veränderung zu nutzen, bereichert haben. Wenn ich an dieses Buch denke, freut es mich sehr, diese Vielzahl an Möglichkeiten, sicherlich nicht in ihrer Vollständigkeit, in Form von Fallbeispielen, methodischen Bausteinen und Übungen vereint zu haben. Einem Buch, wie ich es damals gebraucht hätte und von dem ich glaube, dass es heute vielen Kolleginnen und Kollegen von hohem Nutzen sein kann. Zudem haben ja die meisten von uns diesen Beruf nicht umsonst gewählt. Zumindest ich laufe noch heute durch die Welt und versuche möglich zu machen, was mir, meinen Geschwistern und Eltern in Kindheit und Jugend nicht möglich war. Und dies war ein herausragendes Merkmal meiner Eltern: Verstanden hatten sie vieles, ändern konnten (oder wollten?) sie nur weniges. Möge dieses Buch allen, die ähnlich veränderungsresistente Eltern hatten und haben wie ich, eine willkommene Lektüre sein. Auf dass sie sich (oder wir uns?) nun endlich doch noch ändern! Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen. András Wienands

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András Wienands

Einleitung

Dieses Buch gibt anhand von Beispielen, methodischen Übungen und der Erläuterung theoretischer Aspekte eine Einführung in vierzehn unterschiedliche Möglichkeiten, den Körper als Ressource in Therapie, Beratung und Coaching zu nutzen. Dabei werden im Wesentlichen vier Themenbereiche unterschieden: ȤȤ der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Familien und Kindern; ȤȤ der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Paaren; ȤȤ der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Einzelnen; ȤȤ der Körper als Ressource im systemischen Coaching. Im Folgenden möchte ich die einzelnen Beiträge der vier Themenbereiche kurz zusammenfassen.

Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Familien und Kindern Alfons Aichinger, Autor von »Einzel- und Familientherapie mit Kindern. Kinderpsychodrama Band 3« (2012) und jahrelanger Leiter der Familienberatungsstelle Ulm, zeigt in seinem Beitrag »Mit Familien spielen« auf, wie bei Kindern mit Hilfe des psychodramatischen Familienspiels entwicklungsfördernde Gefühle, Einstellungen und Bewertungen erzeugt werden können. Anhand unterschiedlicher Sequenzen aus der Praxis wird deutlich, wie Kinder im Spiel mit ihren Eltern die verloren gegangene Einheit mit ihrem Körper wieder finden und den Zugang zur Selbststeuerung zurückerobern können. Ein Fokus liegt dabei auch auf der Stärkung der Eltern als Förderer von den durch das Familienspiel angeregten Entwicklungsprozessen ihrer Kinder. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Der Verlust von geliebten Personen, insbesondere eines Kindes, ist für viele Menschen kaum vorstellbar. Roland Kachler, Autor von »Gemeinsam trauern – gemeinsam weiter lieben. Das Paarbuch für trauernde Eltern« (2013, gemeinsam mit Christa Majer-Kachler), zeigt in seinem Beitrag »Trauerbegleitung als hypnosystemische Körperarbeit« Wege auf, wie Menschen geholfen werden kann, ein Leben mit der verstorbenen Person zu gestalten. Der Körper wird dabei als wesentliche Ressource zur Verarbeitung und Integration, aber auch zur Gestaltung von Lösendem und Lösungserleben genutzt. Zahlreiche Interventionen auf der körperlichen Ebene werden dabei in gut nachvollziehbarer Weise dargestellt. Prof. Dr. Joseph Richter-Mackenstein, Autor von »Spielend gelöst. Systemisch-Psychomotorische Familienberatung« (2012) zeigt in seinem Beitrag Möglichkeiten und Wege auf, wie die Familientherapie durch psychomotorische Elemente im Therapieraum bereichert werden kann. Ausgelöst durch das freie Spiel von Eltern und Kindern mit den zur Verfügung gestellten Elementen ergeben sich Interaktionen, die in Folge therapeutisch aufgegriffen werden können. Wie Bewegung und Spiel dabei zu Lösungsbewegungen und spielerischen Lösungen führen können, erläutert Joseph RichterMackenstein anhand von Fallbeispielen.

Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Paaren Tobias Günther, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts für systemische Personal- und Organisationsentwicklung, stellt in seinem Beitrag ein Konzept der systemischen Sexualtherapie vor, das es Paaren nach einigen Jahren des Zusammenseins erlaubt, aus dem Dilemma von zu viel Routine, zu wenig erlebter Intimität, Lustempfinden und sexueller Erfüllung herauszukommen und ihre Beziehung zu »revitalisieren«. Anhand von fünf konkreten Therapieschritten wird aufgezeigt, anhand welcher (Tabu-)Themen und Fragestellungen ein Paar in seinem Entwicklungsprozess angeregt und begleitet werden kann. Liane Stephan und Mohammed El Hachimi, Autoren von »Paartherapie – bewegende Interventionen, Tools für Paartherapeuten« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

Einleitung11

(2012), veranschaulichen anhand von Interventionen und methodischen Bausteinen, wie Paare durch Achtsamkeit, Settingwahl, Metaphern und ihre Geschichte als Paar in Bewegung gebracht werden können. Der Therapeut hört dem Paar dabei nicht nur zu, sondern öffnet all seine Sinne, um das Paar in seiner emotionalen, kognitiven und körperlichen Bewegung annähernd zu erfassen. Die dadurch entstehenden Resonanzen nimmt der Berater wahr und kann sie dem Paar für seinen Entwicklungsprozess zur Verfügung stellen. Ein Dialog in Bewegung, nicht nur des Paares. In dem Beitrag »Liebe in Bewegung – die Wachheit des Augenblicks« von Berit Lütteke und Stefan Beier wird der Ansatz der Transparenten Kommunikation nach Thomas Hübl vorgestellt. Es wird veranschaulicht, wie Paare sich auf den Augenblick ihrer Begegnung einlassen können. Die Qualität von Partnerschaft besteht für die Autoren darin, dass Partner lernen, aus einer tieferen Verbindung zu sich selbst im gemeinsamen Beziehungsraum zunehmend anwesend zu sein – selbst dann, wenn unangenehme Gefühle oder Schmerz berührt werden. Die Integrale Lebenspraxis nach Ken Wilber und Terry Patten stellt diesem Modell einen ganzheitlichen Ansatz zur Verfügung, der neben dem Körper und dem Verstand auch spirituellen Aspekten Raum gewährt.

Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Einzelnen In meinem Beitrag »Körperorientierte systemische Therapie« (András Wienands) möchte ich zeigen, wie der Körper als Ressource genutzt werden kann, um Wahrnehmungen, Gefühle, Bewegungen oder Interaktionen zu ermöglichen, die in einem als problematisch erlebten Kontext bisher nicht möglich schienen. Grundlegendes Ziel einer Verlebendigung des emotionalen Erlebens sollte es sein, in jenen Situationen, die mit einem Erleben von Lähmung und Ohnmacht einhergehen, ein intensives Erleben der eigenen Kompetenzen zu ermöglichen. Das bedeutet, dass nicht nur die Verstärkung des emotionalen Erlebens, sondern insbesondere die Verstärkung des emotional kompetenten Handelns das Ziel einer Integration des Körpers in die Systemische Therapie darstellt. Der Beitrag möchte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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anhand von einem Fallbeispiel konkrete Impulse für die therapeutische Begleitung solcher Prozesse geben. Alexander Korittko, gemeinsam mit Karl Heinz Pleyer Autor von »Traumatischer Stress in der Familie. Systemtherapeutische Lösungswege« (2010), gibt in seinem Beitrag »Trauma und Körper. Der Körper merkt sich alles« einen Einblick in die hirnphysiologische Verknüpfung von traumatischem Erleben und entsprechenden Reaktionen. Erste heilsame und vertiefende Lösungsschritte werden durch den Einblick in die Körper-, Ressourcen- und Systemorientierte Traumatherapie (KReST) aufgezeigt, wie sie am Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (ZPTN) von Lutz Ulrich Besser entwickelt und von Alexander Korittko weiterentwickelt wurde. Sabine Strübing und Jürgen Roming, Leiter des systemischen Ausbildungsinstituts für systemisch-integrative Therapie, stellen in ihrem Beitrag »Dem Körper (m)eine Stimme geben« die Ressourcen des Körpers bei der Technik des Doppelns, einer Interventionsform des Psychodramas, dar. Anhand von Übungen wird veranschaulicht, wie Therapeut und Klient den Körper und seine Reaktionen nutzen können, um in bisher als lähmend empfundenen Situationen verbale und emotionale Handlungsimpulse zu entwickeln. Die Wahrnehmung für die körperlichen Signale zu schärfen und sie während des Doppelns für die Klienten als Dolmetscherin nutzbar zu machen, wird anhand eines Fallbeispiels, Übungen und den »Zehn goldenen Regeln des Doppelns« nach Peter Soppa erklärt. In dem Beitrag »Improtherapie« stellen Dr. Maja Dshemuchadse und Dr. Stefan Scherbaum eine Integration von Elementen aus dem Improvisationstheater in die systemische Therapie vor. Improtherapie wird von den Autoren in erster Linie als Mittel verstanden, um kindliche Kreativität und Fantasie zurückzuerobern. Das Improvisieren verschiedener Szenen verspricht dabei nicht nur Freude, sondern bereichert auch den Darsteller durch vielfältige neue Erfahrungen und Wachstumsimpulse. Grundvoraussetzung ist eine Atmosphäre, in der alles richtig und erlaubt ist. Diese wiederum kann in den unterschiedlichsten Kontexten wie zum Beispiel Psychiatrie, Psychosomatik, Pädagogik etc. therapeutische Qualitäten entfalten. Übungen und Beispiele runden diese Einführung ab. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Elisabeth Breit-Schröder, Vorsitzende des Münchener Instituts für Systemisch-integrative Therapie (MISIT e. V.), stellt in ihrem Beitrag »Die Nutzung des Körperwissens. Körperorientierte Interventionen in der systemischen Therapie« die Integration von Konzepten und Vorgehensweisen der Körperpsychotherapie nach George Downing in die systemische Therapie vor. Downings Methode basiert auf Erkenntnissen aus der Bindungs- und Säuglingsforschung. Die Auswirkungen frühkindlicher Beziehungserfahrungen auf das spätere Körperrepertoire des Erwachsenen werden dargestellt. Die Autorin beschreibt anhand von Fallbeispielen verschiedene körperorientierte Interventionen, die die Wahrnehmung und Entfaltung positiver Körperempfindungen, die Regulation von Gefühlen und die Aktivierung von Fähigkeiten sowie interaktiven Kompetenzen unterstützen.

Der Körper als Ressource im systemischen Coaching Dr. Irmgard Bohmann, Leiterin des Instituts für persönliche Entwicklung und Gesundheit, zeigt in ihrem Beitrag gemeinsam mit Dr. Josef Bohmann auf, wie der Körper des Klienten (und der des Coachs) in jeder Phase eines Coachings als Türöffner und Katalysator für gewünschte Veränderungen bzw. als Supervisor genutzt werden kann. Anhand von kleinen Übungen wird deutlich, wie die Beachtung körperlicher Signale und Ausdrucksmittel auf schnellem Weg zu Erkenntnissen und Lösungen führen kann. Mit einem Blick auf entsprechende Forschungsergebnisse und Beispielen aus der Coachingpraxis werden die Aussagen begründet und Anregungen für die Praxis gegeben. Dr. Bernd Ahrendt, Leiter des Bereichs Weiterbildung und Personaltransfer der Hochschule Merseburg, zeigt in seinem Beitrag »Das Schürfen nach Gold: Kommunikation mit dem Körper mittels Kinesiologie« auf, wie das Körpersystem des Coachee wertvolle Informationen liefern kann, um Ressourcen zu aktivieren. Wie das im Rahmen der Analytischen Kinesiologie nach Dr. Christa Keding möglich ist, wie die Grundtechnik hierzu aussieht und wie dieses Instrument im Rahmen des Einzelcoachings integriert werden kann, wird dabei vorgestellt. Die Kinesiologie stellt innerhalb dieses Prozesses ein wertvolles Instrument dar, das den systemischen Werkzeugkoffer sinnvoll ergänzen kann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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András Wienands

Ella Gabriele Amann, Leiterin der »impro live! Akademie für Angewandte Improvisation« und Mitbegründerin des ResilienzForums Berlin, stellt in ihrem Beitrag »Resilienzförderung nach dem Bambus-Prinzip: Methoden der Improvisation und Bodybliss im systemischen Coaching« die Grundzüge des Bodybliss-Trainings im Einzelcoaching auf. Beim Bodybliss-Training, welches von der Körpertherapeutin Divo G. Müller entwickelt wurde und seine Ursprünge im Continuum Movement von Emilie Conrad hat, wird mit verschiedenen Bewegungsbildern aus der Natur gearbeitet. Lehrer sind geschmeidige Katzen, urzeitliche Echsen, ausströmende Algen und die Kraft der Elemente. Ziel ist es, das natürliche Improvisationstalent im Umgang mit unvorhergesehenen Situationen abrufen und in belastenden Situationen spontaner reagieren zu können.

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Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Familien und Kindern

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Alfons Aichinger

Mit Familien spielen

Das Psychodrama ist eine Methode, die »die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet« (Moreno, 1959, S. 77) und von einer untrennbaren Verknüpfung seelischer und körperlicher Vorgänge ausgeht. Eine körperliche Darstellung bringt vielfältigere Informationen und tiefere Emotionen hervor als das bloße Sprechen über eine Situation. Daher ist für Moreno Handeln heilender als Reden und sind »körperlicher Kontakt, Körpertherapie und Körpertraining […] ein wesentlicher Teil der psychodramatischen Situation« (Moreno, 1959, S. 84). Gebundene Kreativität soll durch das psychodramatische Spiel befreit und alternative Formen des Körpererlebens und des Ausdrucks eröffnet werden. Wer mit Kindern arbeitet, muss erst recht den Körper – seinen und den der Kinder – mit einbeziehen. Denn je weniger Kinder die Sprache als Ausdrucksmittel zur Verfügung haben, desto beredter sind ihr Leib, ihre Körpersprache und ihre ganzkörperlichen Inszenierungen. Da der Körper einen leichten Zugang »zu allen Phänomenen und Ebenen des Erlebens und Verhaltens, also den Sinneswahrnehmungen, den Affekten, den motorischen Impulsen, den Gefühlen, aber auch zu Erinnerungen aus allen Altersstufen« (Gottwald, 2005, S. 140) bietet und die Bühne der Gefühle (Damasio, 2000) ist, bezieht das Kinderpsychodrama die körpernahen Sinne in die Psychotherapie mit Kindern ein. Dadurch können Kinder Erfahrungen gewinnen, »die den entwicklungspsychologisch relevanten, natürlich auftretenden Bedürfnissen des Kindes entsprechen« (Gäbler, 2006, S. 802). Wenn wir Kinder in die Familientherapie mit einbeziehen wollen, ohne sie als kleine Erwachsene zu behandeln und so zu überfordern, dann müssen wir uns auf ihre Welt, ihre Sprache, ihre Ausdrucks- und Verarbeitungsweise einstellen: auf das Symbolspiel. Das Symbolspiel ist nach Moreno der »Königsweg zu Kindern«. Es ist Darstellung der Wirklichkeit, gerade so, wie das Kind sie gegenwär© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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tig erlebt, erfährt, fühlt und interpretiert. Und es ist zugleich auch Aneignung und Gestaltung der Wirklichkeit. Zu einem Zeitpunkt, da andere Techniken und Möglichkeiten dem Kind noch nicht zur Verfügung stehen, übernimmt es die Aufgabe der Lebensbewältigung (Oerter, 1999). Und im Symbolspiel, in dem Kinder leib-seelisch als Ganzheit, mit allen Sinnen beteiligt sind, finden sie – ebenso wie die Eltern – einen Zugang zu ihrer Spontaneität und Kreativität, was nach Moreno die heilenden Kräfte des Spiels ausmacht. Wie das psychodramatische Symbolspiel mit der Familie, in dem der Fokus auf die gemeinsame Handlung in der Familie gelegt wird, ablaufen und was es bewirken kann, möchte ich an einem Beispiel darstellen. Der fünfjährige Oliver wird angemeldet, weil er nicht ohne seine Eltern im Kindergarten bleibt. Im Erstgespräch berichten die Eltern, dass vor einem Jahr schon ein erster Eingewöhnungsversuch nach schrecklichen Szenen gescheitert sei. Da Oliver in einem halben Jahr eingeschult werden soll, seien sie sehr in Sorge. Denn egal, wer ihn in den Kindergarten bringe, Mutter oder Vater, er klammere und bleibe nicht. Bleibe ein Elternteil da, setze er sich neben ihn und lasse sich nicht auf andere Kinder ein. Auch gegenüber allen nicht sehr vertrauten Menschen verhalte er sich scheu und zurückgezogen. In den ersten zwei Jahren sei er ein lebhaftes Kind gewesen, nach der Geburt der Schwester, auf die alle »fliegen«, habe er mit Aggressionen reagiert, sei dann aber, nachdem die Mutter seine Eifersucht sehr ablehnend beantwortet habe, zunehmend gehemmter geworden. Die anderen Eltern sprechen die Mutter immer wieder darauf an, was denn mit Oliver los sei. Dies sei ihr sehr peinlich und sie reagiere zunehmend aggressiver auf ihn. In der zweiten Stunde, zu der Oliver mitkommt, sitzt er abgewandt da, schaut mich nicht an und gräbt sich immer mehr in die Jacke des Vaters. Nachdem die Eltern kurz ihre Sorge geschildert haben, gehe ich zur Teilearbeit mit Tierfiguren (Aichinger, 2012) über. Ich bitte Oliver, für die Seite, die nicht allein im Kindergarten bleiben will, ein Tier auszuwählen. Nachdem der Vater mit ihm zu den am Boden stehenden Figuren hingeht, wählt er ein kleines Huhn aus. Als ich nachfrage, was er an dem Huhn mag, was das gut könne,

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flüstert er dem Vater ins Ohr, das könne sich gut ankuscheln. Für die Seite, die sich etwas traut (im Erstgespräch beklagte die Mutter, zu Hause habe er eine große Klappe), sucht er den Adler aus, der habe einen scharfen Schnabel, und für sich einen Igel, der könne sich gut einrollen. Für den Vater, der Arzt ist, findet er den Bernhardiner, der rette Leben, für die Mutter ein großes Huhn, das habe weiche Federn, und für die dreijährige Schwester eine kleine Ente, die sei ganz schön frech. Ich lasse ihn dann zeigen, wie die Tiere zueinander stehen. Der Igel und das kleine Huhn drehen sich vom Adler weg, das große Huhn und der Bernhardiner stoßen ihn weg und sperren ihn hinter einen Zaun.

Abbildung 1: Die Familie in Tierfiguren

Die Mutter rechtfertigt sich, sie müsse ja dazwischen gehen, wenn er die Schwester grob behandle. Als ich kommentiere, es sei ja verständlich, dass die Bauernhoftiere Bernhardiner und Huhn sich nicht mit Adlern auskennen und daher vor Adlern erschrecken, lachen alle. Dann lasse ich Oliver die Kindergartensituation aufstellen. Exemplarisch für die Kinder, die ihn ängstigen, wählt er einen kleinen Löwen, für Kinder, mit denen er gern spielen würde, einen kleinen Hasen, für die Erzieherin eine Giraffe. Als Oliver das Küken und den Igel dem Löwen gegenüberstellt, erkennen die Eltern, dass

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diese, solange der Adler eingesperrt ist, nicht ohne den Schutz des Huhns oder des Bernhardiners in den Kindergarten gehen können, dass die Wildnis kein Ort für Küken, jedoch für Adler ist. Anknüpfend an diese Einsicht der Eltern, dass Oliver nur dann allein im Kindergarten bleiben kann, wenn er auch über den Adlerteil verfügt, frage ich, was sich verändern müsste, damit der Adler in die Freiheit entlassen werde und alle Bauernhoftiere sich freuen könnten, einen Adler zum Freund zu haben. Als die Mutter antwortet, der Adler müsste eben friedfertiger werden, und ich nachfrage »Wie ein Huhn?«, lachen die Eltern. Da sie keine andere Idee finden, frage ich, was wäre, wenn die Eltern neben dem Huhn- und Bernhardinerteil auch einen Adlerteil zeigen oder entwickeln würden. Als Adlereltern, bestätigt der Vater, könnten sie sicher besser mit einem jungen Adler umgehen und sich an ihm freuen.

Mit der Aufstellung der Teile von Oliver und wichtiger Bezugspersonen wird die Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Systemdynamik recht deutlich. Die Ablehnung des Adlerteils durch die Eltern führte bei Oliver zu einer inneren negativen Bewertung dieses Ego-States. Er muss den Adlerteil wegsperren und sein Selbst einigeln. Da die Beziehung zwischen den Eltern und Oliver sehr gespannt ist, schlage ich eine Familienspieltherapie (ohne Tochter, die im Spiel zu sehr die Eltern binden und für sich einnehmen könnte) vor, um über das Spiel erstens eine positive Familienatmosphäre und damit einen Kontext zu schaffen, der überhaupt Veränderungen ermöglicht; zweitens Spiel-Räume zu schaffen und neue Erfahrungen zu vermitteln mit dem Ziel, bei allen auch die Adlerseite zu fördern. Außerdem könnte drittens das Spiel alle in eine andere, wirksame Haltung bringen, vor allem, dass die Eltern sich als Eltern wieder kompetent und nicht hilflos fühlen. In der ersten Familienspieltherapiestunde versteckt sich Oliver hinter seinem Vater, schaut mich nicht an und reagiert auf meine Beziehungsaufnahme mit Rückzug. Als ich vorschlage, zusammen mit der Familie eine Geschichte zu spielen, die er bestimmen dürfe, flüstert er nach längerem Zögern dem Vater ins Ohr, er wolle – für

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mich völlig überraschend – Pirat spielen. Und auf mein weiteres Nachfragen flüstert er dem Vater zu, er sei ein Piratenkapitän, der Vater soll sein Matrose sein und ich ein feindlicher Pirat, der eine Prinzessin, die Mutter, gefangen halte. Nach der Themen- und Rollenfindung lasse ich die Szene aufbauen. Oliver baut mit seinen Eltern mit Polsterelementen ihr Schiff auf, und ich errichte in der gegenüberliegenden Ecke das feindliche Schiff. Danach verkleiden wir uns mit Tüchern. Ich lege in mein Schiff Schätze (goldene Tücher), Schwerter (Schaumstoffröhren, wie sie zur Isolierung von Rohren benutzt werden) und Kanonenkugeln (Kissen), was Oliver sofort nachmacht. Nach der Verwandlung in die Piraten und in die Prinzessin kann das Spiel beginnen. Zunächst schickt Oliver den Vater zum Kämpfen vor. Der Vater will aber seinen Befehl zum Angriff nicht ausführen und fordert ihn auf mitzukämpfen, worauf Oliver mit Rückzug reagiert. Anstatt als Vorbild zu zeigen, wie man mit Angst vor Gefahren umgeht, wie man Unsicherheit aushält und Spannungen zulassen kann, schiebt der Vater ihn vor sich her, mir entgegen. Oliver sperrt sich, worauf der Vater ihn als Angsthase auslacht.

Da der Erwerb einer guten Emotionsregulation behindert wird, wenn erstens das Coaching in emotionalen Situationen fehlt, zweitens keiner ein Modell anbietet und drittens in schwierigen Situationen abwertet (Berking u. Znoj, 2007), versuche ich im Sinne der Mentalisierung, den Druck, den der Vater auf Oliver ausübt, zu spiegeln und zu verändern. Ich wundere mich als feindlicher Seeräuber, dass ein Matrose es wagt, den Kapitän vor sich herzuschieben und als Deckung zu benutzen, statt ihn mit seinem Körper zu decken. Spontan sagt Oliver: »Hörst du!« Erst nach dieser Spiegelung zieht der Vater allein in den Kampf. Im Schutze seines Schiffes beobachtet Oliver, wie der Vater mit mir Schwertkämpfe ausficht. Dass Oliver sich versteckt, deute ich positiv um. Der rote Kapitän würdige mich keines Blickes, nehme mich, den gefürchtetsten Piraten der Weltmeere, als Gegner wohl nicht ernst. Und ich rege mich über diese Nichtbeachtung auf. Daraufhin wagt Oliver, hinter dem Rücken des Vaters versteckt, kurze

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Ausfälle, reißt schnell mein Segel herab oder schlägt mit seinem Schwert auf mein Schiff ein. Wieder ärgere ich mich über seine blitzartigen Ausfälle. Obwohl ich viele Wachen aufgestellt habe, überrasche dieser Kapitän uns immer wieder und beschädige unser Schiff.

Mit diesem stützenden Doppeln versuche ich Oliver zu ermutigen, seinen Körper einzusetzen, seine gebundene Kreativität zur freien Entfaltung zu bringen und einen nicht gelebten Teil zuzulassen. Im Symbolspiel hat Oliver, wie ich es bei Kindern häufig beobachtet habe, in einem intuitiven Körperwissen über die in seinem Symptom versteckten unverzichtbaren Bedürfnisse, die in seiner Familie keinen Platz haben durften, und über die anstehenden Entwicklungsaufgaben ein beeindruckendes Lösungsbild gefunden, auch wenn er in der Rollenperformanz diese Rolle noch nicht ausspielen kann. Aufgabe des Therapeuten in der Familienspieltherapie ist es, die noch nicht gelebten Möglichkeiten als Schatz zu heben. Daher nehme ich nicht die Rollenausführung, sondern die Rollenwahl ernst, sehe in Oliver immer den Piratenkapitän, auch wenn er sich noch so gehemmt verhält, und gebe über die Interventionen des bewundernden Spiegelns und stützenden Doppelns diesen noch nicht gelebten Möglichkeiten immer mehr Raum und Beachtung. Storch (2006) bezeichnet die Erzeugung dieser grundsätzlichen Erlebnisbereitschaft, die Zugang zur Schöpferkraft, zur Kreativität findet, »BasisEmbodiment« (S. 70). Mit der Piratengeschichte hat Oliver ein gutes Bild für seine Entwicklungsaufgabe gefunden. Denn im Kindergarten wird von ihm verlangt, sich von der Mutter zu lösen, aus dem »sicheren Hafen auszulaufen«, und sich auf neue Erfahrungen, auf »Abenteuer« einzulassen. Diese ersten Erfahrungen in der Kindergruppe sind aber auch mit Kämpfen verbunden, bis man seinen Platz erobert hat, das heißt, auf den »Meeren« gibt es andere »Seeräuber«, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat. Da sein Bedürfnis nach totaler Sicherheit sich mit seinem Selbst assoziiert und alle anderen Bedürfnisse blockiert hat, setzt Oliver unbewusst mit seiner Piratengeschichte einen Ausgleich unter den Bedürfnissen in Gang. In der Familienspieltherapie stütze ich zunächst den Vater, seinen Sohn in seinem Bedürfnis nach Wirksamkeit und Selbstwerterhö© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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hung zu ermutigen und ihm zu zeigen, wie man kämpfen kann und »Herr der Meere« wird. Da die Mutter sich ängstlich und energielos zeigt, mit Olivers Aggressionen nicht umgehen kann und sie blockiert, muss ich sie als Prinzessin auf Olivers Regieanweisung hin gefangen halten, damit sie seine Kampfübungen nicht unterbinden kann. Außerdem verweist das Bild der gefangenen Prinzessin auch auf die gebundene Kreativität der Mutter, die im Erstgespräch von ihrer Gehemmtheit und Ängstlichkeit als Kind berichtet hat. So schaut die Mutter zunächst auch entsetzt den Kämpfen zu, bremst Oliver sofort aus, wenn er mal mit seinem Schwert, dem Rohr, heftig auf mein Schiff einschlägt, und ermahnt ihn, nichts kaputt zu machen. Statt die Mutter zu korrigieren, freue ich mich als Seeräuber, dass die gefangene Prinzessin den mächtigen Seeräuberkapitän daran zu hindern versucht, mein Schiff fahruntüchtig zu machen. Sofort beschwert sich Oliver, sie müsse doch ihm helfen und nicht dem Feind.

Dieses Piratenspiel spielt Oliver weitere Stunden, denn diese neue Rolle muss – so Moreno – dem Kind ins »Fleisch dringen und sein Handeln von innen heraus bestimmen« (Moreno, zit. nach Storch, 2006, S. 67). Um neuronale Musterveränderungen anzuregen, bedarf es, dass die Inhalte emotional geladen sind und oft wiederholt werden, wie die Neurowissenschaften belegen (Kandel, zit. nach Schwing, 2011). Ein effektives Neulernen kann aber nur sichergestellt werden, wenn die Eltern miteinbezogen werden und das Familiensystem so verändert wird, dass neue Muster erlaubt sind, Platz haben und aktiv geübt werden (Schwing, 2011). In den ersten drei Stunden kämpft Oliver nur im Schutz des Vaters, der hauptsächlich in den Kampf geschickt wird und so Oliver das Kämpfen beibringen kann. Nachdem die Mutter ihren Sohn nicht mehr beim Kämpfen ausbremst, im Gegenteil von Stunde zu Stunde ihn mehr anfeuert und gelungene Angriffe beklatscht, befreit Oliver in der dritten Stunde die Prinzessin aus der Gefangenschaft. In den nächsten Stunden muss sie ihm dann die Kugeln (Kissen) reichen.

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Er feuert, unterstützt vom Vater, »Kanonenkugeln« auf mein Schiff. Ich stütze seine Intention, indem ich mich treffen lasse und verletzt umfalle oder mich empöre, dass er mir mit einem gezielten Schuss meine Haare abgesengt habe. Und ich staune über die Treffsicherheit dieses Kapitäns. Darüber freut sich Oliver. Ich dagegen feuere noch mit dosierter Kraft und schieße knapp an ihm vorbei, um ihn noch nicht zu überfordern, wobei Oliver mich auslacht: »Nix getroffen, Schnaps gesoffen!« Nach der fünften Stunde berichten die Eltern erfreut, dass er allein im Kindergarten bleibe. In der sechsten Stunde will die Mutter, die immer mehr Vitalität zeigt, auch mitkämpfen. Prinzessin zu spielen oder nur Kugeln zu reichen sei ihr zu langweilig. Und die ganze Familie genießt es, mich auf Olivers Kommando mit einem Kugelhagel einzudecken. Vor allem Oliver und die Mutter freuen sich riesig, wenn mich eine Kugel trifft und ich zu Boden gehe. Als ich in der Nacht leise anschwimme und auf ihr Schiff zu klettern versuche, stoßen sie mich ins Meer zurück. Und der Vater entwickelt mit einer Gummischnur, die im Eck zwischen zwei Wänden aufgespannt ist, ein Katapult und freut sich wie ein Kind, wenn er damit mein Segel abschießen kann. Dann bringt er Oliver bei, damit zu schießen. Zunehmend wird Oliver mutiger. Er steht auf seinem Schiff (hoch auf Polstern), verspottet mich, greift mich zunehmend direkt an und schlägt mit seinem Schwert auf mich ein, was ich stützend dopple, indem ich seine Kampfkunst bewundere oder mein Schwert nach einem heftigeren Schlag aus der Hand fallen lasse. Zugleich fordere ich ihn mehr heraus, indem meine Schüsse schärfer werden, ich ihn auch häufiger treffe oder meine Angriffe massiver werden.

Mit dieser angemessenen Dosierung von Gefahren versuche ich, seine Situationskontrolle nicht überzuerregen. Er soll keine Situation der Hilflosigkeit im Spiel erleben, keine Ohnmacht und keinen Kontrollverlust, die für die »Biologie der Angst« (Hüther, 1997), für pathogenen Stress kennzeichnend sind. Vielmehr soll er eine leibliche Erfahrung der Kraft und Angstfreiheit erleben, die hemmend auf die neurophysiologische Angstkaskade wirkt. Die Bedeutung positiver Emotionen, die ja gerade im Spiel ausgelöst werden, für © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Neulernen und Veränderung wird aus neuropsychotherapeutischer Perspektive von Berking und Grawe (2005) betont. Die in den positiven Emotionen steckenden »Entwarnungssignale gehen zum einen direkt ins implizite Bewertungssystem ein, zum anderen wirken sie über den Umweg der durch diese Emotionen eingeleiteten körperlichen Veränderungen« (Berking u. Grawe, 2005, S. 411). Wenn Kinder im verkörperten Erleben Spaß haben, wenn sie ihre angstauslösenden Themen spielen, ist dies ein wichtiger »somatischer Marker« (Damasio, 2000), der bei der Umbewertung der angstauslösenden Situation eine zentrale Rolle spielt. Positive Gefühle in der korrektiven verkörperten Erfahrung der bewältigten Herausforderung verfestigen daher die neuronalen Muster, die die Bewältigung der Angst ermöglichen. Im Laufe der Spiele erweitert Oliver auch draußen seinen Spielraum. Er besucht nachmittags andere Kinder, geht allein auf den Spielplatz und tritt Erwachsenen gegenüber zunehmend offener auf. Und im Familienspiel wagt Oliver, mich anzufassen und zu fesseln. Er lässt mich kielholen und wirft mich den Haien vor, was nun auch die Mutter zulassen kann, ja ihn sogar zu den Strafaktionen anstachelt. Obwohl er den Übergang in die Schule problemlos schafft, wollen die Eltern zur Absicherung gemeinsam mit ihrem Sohn weiter zu Therapiesitzungen kommen, zumal sie auch die belebende Auswirkung auf ihre Beziehung spüren. In der letzten Phase kämpft Oliver zusammen mit der Mutter gegen den Vater und mich. Nachdem das Elternpaar schon zunehmend Spaß am Kampf gegen mich fand und beide sich freuten, wenn sie einen Volltreffer landeten, genießen sie es, sich gegenseitig im Kampf zu messen. Vor allem die Mutter lacht schallend, wenn sie ihren Mann mit der Kugel trifft oder ihm mit dem Schwert eine »überbraten« kann. Und Oliver ist stolz, gegen mich und den Vater zu siegen, raubt unser Schiff aus und zertrümmert es, so dass es sinkt und wir auf Planken treiben. Im abschließenden Elterngespräch berichten die Eltern, dass nicht nur Oliver viel lebendiger geworden ist, sondern auch sie alte Hemmungen abbauen konnten.

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Mit dem sehr körperlichen Piratenspiel, in dem alle Sinne einbezogen sind und das zu einem anderen »Embodiment« (Storch, 2006) führt, können Oliver und seine Eltern eine positive und kreative, korrigierende Neuerfahrung einer geglückten Selbstbehauptung machen. Nach Hüther und Sachsse (2007) prägen sich nämlich die Lösungen ein, die über eine vermehrte Ausschüttung von Dopamin und Opiaten die Beruhigung verstärken. Und da außerdem multiple neuronale Systeme gleichzeitig aktiviert werden, führt diese handlungsbezogene Veränderungsarbeit schneller und nachhaltiger zu positiven Ergebnissen. Nach Schwing (2011) können wir davon ausgehen, »dass therapeutische und pädagogische Strategien, die mit Humor, Spaß, Lachen, körperlicher Aktivierung verbunden sind, Lernen und Umlernen begünstigen« (S. 28). Auch bei Eltern kann über eine gezielte Veränderung der Haltung und Bewegung das Körpergedächtnis aktiviert und die emotionale Befindlichkeit verändert werden. Ihre Körperkoordination durch Interventionen willkürlich zu verändern, trägt nach kurzer Zeit zu einer erheblichen Verbesserung der unwillkürlichen Erlebnismuster bei. Die Körperkoordination wirkt nach Schmidt (2004) als starker Attraktor im Erlebnismuster und zieht die anderen unwillkürlichen Musterelemente nach sich, obwohl es sich zunächst nur um ein So-tun-als-ob handelt. Und da jede Rolle eine unterschiedliche Körperhaltung beinhaltet, biete ich vor allem hilflosen Müttern, die klagen, dass sie mit ihrem vitalen Kind nicht zurechtkommen, eine körperliche Inszenierung der positiven aggressiven Kraft an. Wenn die Mutter zum Beispiel die Rolle einer Löwin verkörpert und ausspielt, wie sie ihr Löwenkind vor Angriffen eines Tierfängers verteidigt und beschützt oder es begrenzt, zeigt sie in dieser Rolle meist ein Stehvermögen, ein Rückgrat und eine Kraft, die sie zuvor in der Rolle der Mutter vermissen ließ. »Wenn das ›Ich‹ die Verbindung mit seinem Körper wieder zurückgewinnt, spürt der betreffende Mensch nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auf eine reale, verkörperte Weise, dass er ein Rückgrat hat, dass er sich aufrichten und sich aufrecht im Leben bewegen kann. Der Körper ist der Ausgangspunkt und das Empfangsorgan für solche elementaren Erfahrungen« (Hüther, 2006, S. 97). Die Embodimentforschung betont ja die starke Wechselwirkung zwischen Körperhaltung, Gefühlsempfindung und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Handlungsweisen und bestätigt, dass bestimmte körperliche Ausdrucksformen das Auftreten bestimmter Gefühlslagen begünstigen oder erschweren. Eigentlich ist das uralte schamanische Wissen, »psychische und physische Leiden mit quasi psychodramatischen Methoden« (Moreno, 1959, S. 14) zu behandeln. Das Symbolspiel kann auch helfen, die Bindung zwischen Eltern und Kindern zu fördern. Es ermöglicht Diagnose und Intervention sowohl auf der Bindungs- oder Familieninteraktionsebene als auch auf der individuellen Ebene. Der Therapeut kann die Eltern unterstützen, ihre Feinfühligkeit als Grundlage für eine sichere Bindung weiterzuentwickeln. Daher eignet es sich sehr für Adoptiv- und Pflegefamilien oder Familien mit unsicher oder desorganisiert gebundenen Kindern. Eine alleinerziehende Mutter meldet ihre achtjährige Tochter an, weil sie in der ersten Klasse wegen Provokationen und Leistungsverweigerung schon von einer Grundschule ausgeschult wurde und in der zweiten Schule eine Überweisung in die Schule für Erziehungshilfe droht. Im Erstgespräch mit der Mutter schiebt die Mutter zunächst alle Schuld auf die Schulen, kann dann aber im Laufe des Gesprächs eingestehen, dass Sarah sie auch provoziere und überhaupt nicht gehorche. Sobald sie etwas von ihr fordere, verweigere sie sich total und gehe in einen Machtkampf. Sie habe Sarah jung bekommen und habe sie während ihrer Ausbildung und ihrer Schichtarbeit in den ersten sechs Jahren vorwiegend von ihrer Mutter betreuen lassen. Sie habe Sarah nicht so oft gesehen, da sie keine gute Beziehung zu ihrer Mutter habe. Nach Beginn ihrer Arbeitslosigkeit habe sie ihre Tochter zu sich genommen, zumal es mit ihrer Mutter immer mehr Konkurrenz gab, wer die eigentliche Mutter sei. Jetzt habe sie seit einem Jahr wieder einen Job und habe Sarah tagsüber in einen Hort gegeben, damit sie nicht mehr von ihrer Mutter abhängig sei. Im ersten Familienspiel will Sarah eine junge Prinzessin spielen, die Mutter soll die Königin sein, ich der Diener. Sie klettert auf einen hohen Berg, was die Mutter als Königin gar nicht registriert, sondern sich mit ihrem Handy beschäftigt. Um die Mutter ins Spiel

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mit einzubeziehen, komme ich als Diener und reiche ihr ein Fernrohr, damit sie sehen könne, welch wagemutige Bergsteigerin die Prinzessin sei. Über meine Kommentierung lässt sich die Mutter mehr in das Spiel einbeziehen. Ich frage sie, ob sie sich sorge, die zarte Prinzessin könnte die Gefahr nicht absehen und es könnte ihr etwas zustoßen. Die Königin äußert aber nur Anerkennung für die Leistung. Da zeigt Sarah ihr Bedürfnis nach Versorgung und Trost, indem sie als Prinzessin abstürzt. Ich äußere meine Befürchtung, sie könnte sich ernsthaft verletzt haben. Wir müssten uns schnell auf den Weg machen, sie zu retten. Als wir aber bei der am Boden liegenden Prinzessin ankommen, kitzelt die Mutter sie. Sarah steigt kurz aus dem Spiel aus und sagt: »Mama, ich bin doch verletzt!« Die Mutter hört aber nicht auf zu kitzeln, obwohl Sarah sie wiederholt bittet aufzuhören, da sie verletzt sei.

Im Spiel zeigt die Mutter eine misslungene Affektregulierung. Ihre Art der Affektantwort ist, über Überstimulation das Kind vom »Alsob«-Schmerz abzulenken. Damit reagiert sie inkongruent, denn Sarah sucht Trost und nicht Spaß. Indem sie im Spiegelungsprozess die Affektäußerungen ihres Kindes nicht aufnimmt und modifiziert, sondern aufnimmt und verbiegt, erfährt Sarah eine Verzerrung und Verfremdung ihres Selbsterlebens. Da die Mutter große Schwierigkeiten zeigt, auf das Bindungsbedürfnis einzugehen und die Gefühle und Bedürfnisse der Tochter richtig zu mentalisieren, versuche ich über das Mentalisieren einen Wandel der interpersonellen Wahrnehmungen und des Bindungsverhaltens zu fördern. Als Diener versuche ich, die Königin zu mehr Einfühlung anzuregen. Ich sehe und beschreibe die Wunden (zuvor fragte ich Sarah, aus der Rolle kurz aussteigend, welche Verletzungen sie sich zugezogen habe) und spiegele den Schmerz, den die Prinzessin klaglos erdulde. Da die Mutter diesen »Als-ob«-Schmerz immer noch nicht ernst nimmt, versuche ich, sie in eine Pflegehandlung mit einzubeziehen (damit warte ich nicht nur ab, bis die Mutter zu einer gelingenden Interaktion kommt, um sie dann positiv zu würdigen, sondern unterstütze sie aktiv dabei, eine gelingende Bindungserfahrung zu machen). Sie habe doch so heilsame Salben

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in ihrer Hausapotheke, ob sie diese nicht schnell holen könne, um den Schmerz der Prinzessin zu lindern, frage ich sie. Da sie immer noch nicht reagiert, korrigiere ich mich, natürlich sei dies Aufgabe des Dieners. Wo sie denn diese Heilsalbe aufbewahrt habe? Da antwortet sie, im Nachttisch. Ich eile zum Schloss und bringe die Salbe. Und ich bitte sie, da ich raue Hände hätte, sie dagegen zarte, vorsichtig die Salbe über die Wunden an Beinen, Armen und Kopf zu streichen. Da gelingt es der Mutter als Königin, sanft die Wunden, die ich ihr zeige, einzusalben, worauf Sarah strahlt. Sofort bestätige ich ihre gute Behandlung. Ob sie gesehen habe, wie sich das schmerzerfüllte Gesicht der Prinzessin entspannt habe. In den folgenden Spielen, in denen Sarah Prinzessin, wertvoller Hund oder Reitpferd spielt, gelingt es mir als Diener in kleinen Schritten, der Mutter als Königin zu mehr Feinfühligkeit zu verhelfen.

Da Bindungsmuster in einem emotionalen, körpersprachlichen Austausch zwischen Mutter und Kind entstehen, zeigt sich das Bindungsbedürfnis in einer Sehnsucht nach dem Körper der Mutter. Über das Körpererleben der Berührung erfährt Sarah eine heilsame neue Erfahrung, eine heilsame Antwort auf ihr Mangelerleben. Nach Panksepp (2004) (zit. nach Schwing, 2011) erhöht die Aktivierung der drei Systeme, des Bindungssystems (Care), des Erkundungssystems (Seeking) und des Spielsystems (Play), die therapeutische Wirkung und Nachhaltigkeit, da ein Annäherungslernen mit gleichzeitigen positiven Gefühlen aktiviert wird. Diese Beispiele zeigen, wie im psychodramatischen Familienspiel über Veränderungen des Körperzustandes positive Wirkungen erzielt und entwicklungsfördernde Gefühle, Einstellungen und Bewertungen erzeugt werden können. Damit Kinder wieder ihre natürliche Begabung zum »Embodiment«, zur Verkörperung, zurückerobern, die sie mit auf die Welt bringen, die aber durch einengende Erziehung und durch den gesellschaftlichen Druck zur »Entkörperung« unterdrückt und abgetrennt wurde, müssen sie in der Therapie die verloren gegangene Einheit mit ihrem Körper wiederfinden und den Zugang zur Weisheit ihres Körpers zurückgewinnen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Mit seinen vielen Möglichkeiten des spielerischen Umgangs mit Systemen und der Aktivierung der verschiedenen Sinne im Spiel kann das Kinderpsychodrama die Arbeit mit Familien bereichern (Aichinger, 2008, 2012).

Literatur Aichinger, A. (2008). Sie beißen und zerfetzen, sie wollen gefüttert und gestreichelt werden – der Einsatz des Körpers im Psychodrama mit Kindern. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 1, 1–17. Aichinger, A. (2012). Einzel- und Familientherapie mit Kindern. Kinderpsychodrama Bd. 3. Wiesbaden: Springer VS. Berking, M., Grawe, K. (2005). Angststörungen aus einer »neuropsychotherapeutischen« Perspektive. Psychotherapie im Dialog, 4, 408–412. Berking, M., Znoj, H. (2006). »Neuropsychotherapie« – theoretische und praktische Implikationen eines »gewagten Konstruktes«. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 38, 777–786. Damasio, A. (2000). Ich fühle, also bin ich. München: List. Gäbler, N. (2006). Zurück zu den körpernahen Sinnen – somatische Psychotherapie mit Kindern. In G. Marlock, H. Weiss (Hrsg.), Handbuch der Körperpsychotherapie (S. 796–802). Stuttgart: Schattauer. Gottwald, C. (2005). Bewusstseinszentrierte Körperpsychotherapie – angewandte Neurobiologie? In S. Sulz, L. Schrenker (Hrsg.), Die Psychotherapie entdeckt den Körper (S. 105–198). München: CIP-Medien. Hüther, G. (1997). Biologie der Angst. Göttingen: Hogrefe. Hüther, G. (2006). Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann. In M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther, W. Tschacher (Hrsg.), Embodiment (S. 73–97). Bern: Huber. Hüther, G., Sachsse, U. (2007). Angst- und stressbedingte Störungen. Auf dem Weg zu einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie. Psychotherapeut, 52 (3), 166–179. Moreno, J. L. (1959). Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Stuttgart: Thieme. Oerter, R. (1999). Psychologie des Spiels. Ein handlungstheoretischer Ansatz. Weinheim: Beltz PVU. Schmidt, G. (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Heidelberg: Carl-Auer. Schwing, R. (2011). Liebe, Neugier, Spiel – Wie kommt das Neue in die Welt? Systemische und neurobiologische Betrachtungen. In H. Bonney (Hrsg.), Neurobiologie für den therapeutischen Alltag (S. 11–41). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Storch, M. (2006). Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde. In M.  Storch, B. Cantieni, G. Hüther, W. Tschacher (Hrsg.), Embodiment (S. 37–72). Bern: Huber.

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Roland Kachler

Trauerbegleitung als hypnosystemische Körperarbeit Ein neuer Ansatz für die Trauerarbeit

Vorbemerkungen Die bisherigen Traueransätze betonen das Abschiednehmen. Demgegenüber wird hier ein Traueransatz vorgestellt, in dem eine innere Beziehung zum Verstorbenen bleiben darf. Dabei spielen der Körper und die Körperarbeit in der Trauerbegleitung eine zentrale Rolle. Die hypnosystemische körperorientierte Trauerbegleitung greift hypnotherapeutische und systemische Ansätze auf und integriert sie zu einer hypnosystemischen Trauerarbeit über den Körper.

Theoretischer Hintergrund einer hypnosystemischen Körperarbeit in der Trauerbegleitung »Ich will dich in meinem Inneren bewahren«: Trauern ist mehr als Abschiednehmen, Trauerarbeit ist kreative Beziehungsarbeit

Trauernde haben bei einem schweren Verlust größte Schwierigkeiten mit dem gängigen Ansatz des »Loslassens«. Sie wehren sich gegen diese so häufig wie unbedacht geäußerte Empfehlung. Das hier vorgestellte Modell des Trauerns greift den Widerstand der Trauernden gegen das »Loslassen« auf und hilft den Hinterbliebenen mit (!) dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Liebe des Hinterbliebenen beendet er nicht. In den klassischen Phasenmodellen der Trauer wird Trauernden teils explizit, teils implizit zu einem »Loslassen« und zu einem Abschließen des Trauerprozesses geraten (Kast, 1977). Dies widerspricht dem tiefen Wunsch von Trauernden bei schweren Verlusten, ihren geliebten Menschen auf Dauer im Inneren zu bewahren und eine innere Beziehung zu ihm weiterzuleben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Wie die Untersuchungen von Klass (1996) und Bednarz (2003, 2005) zeigen, leben viele Hinterbliebene mit dem Verstorbenen als inneres Gegenüber eine andere, nämlich innere Beziehung weiter. Von daher ist insbesondere für schwere Verluste wie zum Beispiel beim Tod eines Kindes oder eines langjährigen Partners oder einer Partnerin ein neues Trauerverständnis zu entwickeln, wie ich es in verschiedenen Veröffentlichungen (Kachler, 2007a, 2009, 2010, 2011, 2012a, 2012b) vorgelegt habe. In diesem Artikel wird nun die besondere Rolle des Körpers und der Körperarbeit für eine hypnosystemische Trauerarbeit herausgearbeitet. »Ich bleibe in der Beziehung zu dir«: Ein neues hypnosystemisches Verständnis von schweren Verlusten

Der hier vorgelegte neue beziehungsorientierte Traueransatz speist sich aus systemischen und hypnotherapeutischen Ansätzen und übernimmt auch Ideen aus der Traumatherapie (bes. Kachler, 2012a, 2012b). Die moderne Hypnotherapie arbeitet mit internalen, meist zunächst unwillkürlichen, körpernahen, unbewussten Prozessen, insbesondere mit imaginativen und bildhaften Elementen. Dies kann für die Arbeit an der weitergehenden inneren Beziehung der Trauernden zum Verstorbenen genutzt werden. Zugleich kann die innere Beziehung zum Verstorbenen unter systemischen Aspekten als kommunikativer Prozess mit eigenen Systemregeln verstanden werden. Damit ergänzen sich hypnotherapeutischer und systemischer Ansatz zu einem hypnosystemischen Ansatz der Trauerpsychologie. Schmidt, auf den ich mich im Wesentlichen beziehe, hat schon ab 1980 systemische und hypnotherapeutische Ansätze zu einem hypnosystemischen Ansatz zusammengeführt und weiterentwickelt (Schmidt, 2004, 2005). Zunächst kann der Trauerprozess als systemischer Prozess verstanden werden: Man kann sich gegenüber dem Verstorbenen nicht nicht verhalten. Die Hinterbliebenen müssen eine eigene, für sie stimmige Beziehung zu ihm finden. Trauerbegleitung ist die Arbeit an dieser inneren Beziehung. Dazu gehören oft auch Konfliktklärungen mit dem verstorbenen Menschen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Des Weiteren kann Trauerarbeit als erzwungene und schmerzliche Realisierungsarbeit begriffen werden. Der Tod, der Verlust und die bleibende Abwesenheit des nahen Menschen müssen von den Trauernden in einem schmerzlichen Prozess realisiert und als nun gültige äußere Realität anerkannt werden. Diese äußere Realität wird über die Gefühle und das Körperempfinden zunehmend zu einer eigenen, allmählich akzeptierten Realität. Der »Widerstand« gegen diese Realisierung ist aber zunächst ganz normal, wünschen Trauernde sich doch als ersehnte beste Lösung das Wiederkommen des Verstorbenen. Drittens kann Trauerarbeit als internalisierende und internale Beziehungsarbeit aufgefasst werden: Die Trauernden reinternalisieren die Repräsentanzen des Verstorbenen angesichts seiner äußeren, oft auch innerlich erlebten Abwesenheit und etablieren so gewissermaßen eine zweite Objektkonstanz und damit eine zweite Bindungssicherheit (Brisch, 2009). Hierfür ist die Konstruktion eines sicheren Ortes für den Verstorbenen von zentraler Bedeutung für ein hypnosystemisches Konzept der Trauerarbeit. So ist die Trauerarbeit eine Suche nach dem sicheren Ort für den Verstorbenen (Kachler, 2012a); dies gilt auch für Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen (Kachler, 2007b). Wesentliche sichere Orte für den Verstorbenen sind konkrete Orte wie das Zimmer der Verstorbenen, die Unfallstelle oder andere frühere wichtige Begegnungsorte. Der Erinnerungsraum ist für die Trauerbegleitung ein wesentlicher internaler sicherer Ort. Das Verorten des Verstorbenen im Familiensystem über das Gedenken und Erzählen lässt die Familie zu einem sicheren Ort werden. Orte in der Natur wie der Regenbogen oder ein Stern am Himmel und transzendente Orte wie das ewige Licht werden von Trauernden als existenziell wichtige sichere Orte für ihren Verstorbenen gewählt. Näheres zum Körper als sicherer Ort wird später ausgeführt. Schließlich mündet der Trauerprozess in eine Neukonstruktion des Lebens nach dem Verlust. Für Trauernde ist das Leben nach einem Verlust ein anderes Leben, das noch einmal neu angeeignet und konstruiert werden muss. Dabei werden die bleibende Abwesenheit und die innere Beziehung zu den Repräsentationen des Verstorbenen ein integraler Bestandteil des Lebens nach dem Verlust. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Auch Gedenkrituale wie der Gang zum Friedhof am Todestag sind für Hinterbliebene äußerst wichtig. »Mein ganzer Körper trauert«: Die Rolle des Körpers in der Trauerarbeit Der Körper als Basis der Trauerarbeit

Der Körper ist die zentrale Basis des gesamten Trauerlebens und des Trauerprozesses. Der Verlust wird entsprechend den Arbeiten von Damasio als somatischer Marker (Gottwald, 2007) bewusst und unbewusst im Körper erlebt; der Verlust wird – wie die neuere Embodimentforschung (Petzold, 2007) zeigt – im Körper embodied und über den Körper verkörpert. Der Verlustschmerz und die Trauer werden über den Körper erlebt, weil diese Gefühle im Gehirn dieselben neuronalen Netzwerke benutzen wie der körperliche Schmerz (Grawe, 2004). In der akuten Verlustsituation wird der ganze Körper unter Phänomenen des Schocks und der Dissoziation als schmerzend und schmerzsensitiv erlebt. Nach etwa vier bis sechs Monaten verortet sich die Trauer an zentralen Orten des Körpers. Doch entsprechend des hypnosystemischen Traueransatzes erleben Trauernde auch ihre Beziehungsgefühle, ihre internale Beziehung zum Verstorbenen und die Repräsentanzen des Verstorbenen über den Körper und im Körper. Der Körper als Prozessbegleiter im Trauerprozess

Der Körper mit seinen unbewussten Selbstheilungstendenzen, wie das exemplarisch im Immunsystem oder im Stressantwortsystem deutlich wird, kann in der Trauerarbeit auch als Prozessbegleiter durch den Trauerprozess utilisiert werden. Im Körper sind auf einer evolutionsbiologisch frühen Ebene, tiefenpsychologisch gesprochen auf der archetypischen Ebene des kollektiven Unbewussten, das Selbstorganisationswissen im Sinne eines Heilungswissen angelegt und gespeichert. In der Trauerarbeit weiß der Körper bzw. das unbewusste Körperwissen immer schon, was angesichts eines schweren Verlustes sinnvoll und heilsam ist. Dabei ist zu beachten, dass in der akuten Verlustsituation der Körper als hilfreiche Ressource noch nicht zugänglich ist. Der Zugang zum Körper als Prozessbegleiter muss in der Trauerbegleitung behutsam aufgebaut werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Die Praxis der hypnosystemischen Körperarbeit in der Trauerbegleitung Körperarbeit mit den Verlustgefühlen als Realisierungsarbeit

Die unterschiedlichsten Gefühle des Verlustes wie Schmerz, Trauer, Ohnmacht, Leere und Verzweiflung werden nun in der Trauerbegleitung aufgegriffen, empathisch gespiegelt und im Körper der Trauernden verortet. Es versteht sich von selbst, dass die verschiedenen Verlustgefühle als für den Verlust angemessen gewürdigt werden, damit für die Trauernden in einem nahen Pacing eine sichere Bindung in der Beziehung zu den Therapeuten entstehen kann. Bei schweren Verlusten wie zum Beispiel bei dem Tod eines Kindes oder bei einem Verlust nach einem Suizid sollte unbedingt die aus der Traumatherapie bekannte Stabilisierungsarbeit (Reddemann, 2001) vorgeschaltet sein. Wenn dann die Trauernden sich sicher im Umgang mit ihren Verlust- und Trauergefühlen fühlen, kann die Realisierungsarbeit über den Körper begonnen werden. Dabei bewähren sich folgende Prozessschritte: ȤȤ Die Klienten werden eingeladen, ein zentrales, zu bearbeitendes Verlustgefühl achtsam und genau zu spüren, auch wenn das zunächst schmerzlich oder unangenehm ist. ȤȤ Die Klienten werden nach dem Körperort dieses Gefühls mit der Frage »Wo im Körper spüren Sie Ihre Trauer?« gefragt. Hier ist eine psychoedukative Erklärung hilfreich, in der der Körper als wichtige Basis der Trauerarbeit eingeführt wird. ȤȤ Die Klienten werden gebeten wahrzunehmen, wie sie das Gefühl als Körperempfindung an diesem Körperort spüren. Hier können Fragen zu den Submodalitäten des Kinästhetischen gestellt werden: »Erleben Sie dort in Ihrem Herzen den Schmerz stechend, dumpf, pulsierend?« oder »Erleben Sie den Schmerz dort rund oder kantig, leicht oder schwer, kalt oder heiß?« Über diese Fragen werden die Klienten eingeladen, ihr Verlustgefühl genauer und ohne Bewertung kennen zu lernen. ȤȤ Durch diese Arbeit mit den Submodalitäten verändert sich häufig das Erleben des Verlustgefühls in Richtung Intensivierung oder Milderung.

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Von hier aus gibt es zwei unterschiedliche Pfade des weiteren Vorgehens. Pfad 1 – Arbeit mit Metaphern und Symbolen für das Körpergefühl: ȤȤ Die Klienten werden gebeten, aus dem Körper ein Bild, eine Metapher oder ein Symbol für dieses Verlustgefühl an diesem Körperort aufsteigen zu lassen. Haben Klienten hiermit zunächst Schwierigkeiten, kann man verschiedene typische Symbole anbieten (siehe im Folgenden). ȤȤ Die Klienten werden gebeten, das Symbol ihres Verlustes achtsam, freundlich und genau zu betrachten und zu beschreiben. ȤȤ Die Klienten sollen nun einen Rahmen aus Holz, Metall oder Kunststoff in einer eigenen Farbe um das Symbol legen, damit ein gerahmtes Bild entsteht. ȤȤ Die Klienten sollen nun einen guten Ort für das gerahmte Bild außerhalb (!) ihres Körper suchen und das Bild dort gut aufbewahren. Dabei wird das Körperunbewusste gebeten, an diesem Bild bis zur nächsten Sitzung weiterzuarbeiten. Der Pfad 1 wird eher in früheren Phasen der Trauerbegleitung gewählt, wenn es zunächst um die Gestaltung der Trauergefühle geht. Überflutende Schmerz- und Trauergefühle sind zwar zunächst normal, langfristig aber sind nur selbst begrenzte und gestaltete Trauergefühle für den Trauerprozess hilfreich. Pfad 2 – Arbeit mit dem Atem in das Körpergefühl: ȤȤ Die Klienten werden angeleitet, ihren Atem beim Einatmen an die Körperstelle des Verlustgefühls zu leiten. Dabei ist wichtig, dass sie mit offenem (!) Mund bewusst den Atem durch die Kehle fließen lassen. ȤȤ Die Klienten sollen achtsam wahrnehmen, was mit der Körperstelle und dem Verlustgefühl geschieht, wenn der Atem dorthin und durch diese Stelle fließt. ȤȤ Klienten werden ermutigt, dabei den Verlustschmerz im Atem zum Fließen oder Aufsteigen zu bringen und im Fließenlassen der Tränen nach außen zu bringen. ȤȤ Die Tränen und das Weinen werden als Zeichen der schmerzenden Liebe zum Verstorbenen reframed und gewürdigt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Der Pfad 2 wird gewählt, um die Trauer und damit den Trauerprozess in Bewegung zu bringen. Nur ein sich im Fließen befindlicher Trauerprozess wird zu einem gelingenden Trauerprozess. Hierfür ist der Atem ein zentrales Medium, weil er die Verlustgefühle aus dem Körper lösen und ins Fließen bringen kann. Dies ist insbesondere auch in der Psychotherapie bei chronifizierten oder somatisierten Trauerverläufen sehr zentral. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Durch die Körperarbeit mit dem Verlustgefühl werden diese Gefühle und damit der Verlust selbst am und über den Körper erlebt und realisiert. Dies führt zu einer auch emotionalen Anerkennung und einem Annehmen der Realität der bleibenden Abwesenheit des Verstorbenen. Häufige Körperorte der Trauer und die dazugehörigen Symbole

Jede Trauernde und jeder Trauernder verortet nach der akuten Trauer seine Trauer und andere Verlustgefühle in der Regel an ein bis zwei Körperorten mit dem dazugehörigen Körperempfinden. Bei einem komplizierten Trauerverlauf einer somatisierenden Trauer fixiert sich das Trauererleben dann als Symptom an dieser Körperstelle, wie zum Beispiel bei massiven Herzbeschwerden; manchmal fluktuiert das Trauergefühl durch den Körper oder bleibt diffus. Im Folgenden die wichtigsten Körperorte der Verlustgefühle: ȤȤ Kehle: Die Verlustgefühle werden hier als Enge, als Einschnürung und als Kloßgefühl erlebt. Das passende Symbol ist der Kloß in der Kehle und die Schlinge um den Hals. Die Kehle ist die zentrale Pforte und Schleuse für den Zugang und das Fließenlassen der Trauer. Trauernde regulieren über das Schlucken und Zusammenpressen der Lippen und des Kiefers den Fluss der Trauer. Hier ist die Arbeit mit dem Atem zentral. ȤȤ Herz: Hier wird der Trauerschmerz häufig stechend, heiß und brennend erlebt. Das Symbol ist häufig das verwundete oder gebrochene Herz; oft auch ein Dolch oder Messer, die ins Herzen stechen. Oft wird auch eine Enge ums Herz erlebt, die mit Schnüren oder Seilen um das Herz symbolisiert wird. Auch das Herzstolpern bis hin zu Herzrhythmusstörungen wird häufig in Folge eines Verlustes erlebt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Brustkorb: Hier werden die Verlustgefühle als Druck und Einengung erlebt. Oft wird als Symbol eine Steinplatte oder ein schweres Holzbrett genannt. Die Einengung wird meist mit dem Bild von Seilen um den Brustkorb, einer Rüstung oder eines Panzers beschrieben. Auch hier ist die Atemarbeit das Mittel der Wahl. ȤȤ Bauchraum: Hier wird die Trauer oft als schweres, drückendes und zusammenziehendes Körpergefühl erlebt. Bilder hierfür sind ein Kloß, ein Stein oder ein Schlag in den Magen. ȤȤ Muskeln, besonders im Rücken-, Schulter- und Lendenbereich: Hier wird der Trauerschmerz oft als hart und angespannt beschrieben. Bilder hierfür sind ein hartes Brett oder Stahlseile. Männer somatisieren ihren Verlustschmerz sehr viel häufiger als Frauen über die Muskeln, weil sie dazu tendieren, die Trauer abzuwehren oder festzuhalten. ȤȤ Augen: Die Augen als Produktionsort der Tränen werden häufig in ihrer wichtigen Bedeutung für den Trauerprozess übersehen. Dort wird die Trauer oft als Entzündung, als Schwere oder Trockenheit erlebt. Hier sind leichte Massagen mit den Handballen sehr hilfreich. Natürlich gibt es immer wieder ganz besondere Körperorte der Verlustgefühle und ganz eigene Bilder und Metaphern. Die hier benannten sind aber bei der überwiegenden Zahl der Trauernden zu finden und können deshalb den Trauernden angeboten werden, die zunächst keine eigenen Körperorte oder Symbole finden. Körperarbeit mit den Beziehungsgefühlen als internalisierende Beziehungsarbeit

Entsprechend dem beziehungsorientierten Traueransatz, wonach die Trauernden eine innere Beziehung zum Verstorbenen finden, bewahren und gestalten wollen, ist auch die Körperarbeit mit den Beziehungsgefühlen wesentlich für die Trauerbegleitung. Dabei schwingt die Trauerarbeit zwischen der Arbeit an den Trauergefühlen und den Beziehungsgefühlen. Die Arbeit mit den Beziehungsgefühlen (Näheres auch bei Kachler, 2007a, 2012b) durchläuft folgende Prozessschritte: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Trauernde werden einfühlsam nach ihren Verbundenheits- und Liebesgefühlen zum Verstorbenen gefragt und gebeten, diese achtsam im Körper an der für sie stimmigen Körperstelle zu spüren. ȤȤ Trauernde werden gebeten, mit ihrem Aufmerksamkeitsfokus an diese Körperstelle zu gehen und über Fragen zu den Submodalitäten die Körperempfindungen ihrer Beziehung zum Verstorbenen genau wahrzunehmen. ȤȤ Trauernde werden eingeladen, nun an diesem Körperort eine Farbe für ihre Beziehungsgefühle entstehen zu lassen. Meist sind das Rot-, Gelb- und Orangefarbtöne. Trauernde werden nun gebeten, diese Farbe in ihrem Körper als Farbstrom ausdehnen zu lassen, dann wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren zu lassen und dort gut im Körper zu verankern. Ein andere Möglichkeit wäre wieder, für das Körpergefühl der Verbundenheit ein Symbol entstehen zu lassen, dieses als Bild zu rahmen und dann im (!) Körper zu verankern. Mit dieser internalisierenden Beziehungsarbeit wird die innere Beziehung zum Verstorbenen nicht nur erlaubt, sondern als internale Beziehung gestärkt. Zu beachten ist dabei Folgendes: Gibt es offene Konflikte, Schuldthemen oder Delegationen in der Beziehung zum Verstorbenen wie zum Beispiel häufig nach einem Verlust durch Suizid, müssen diese Themen in einer dialogischen Begegnungsarbeit (Näheres bei Kachler, 2007a, 2012b) zuerst angegangen und gelöst werden. Das gilt auch für die Arbeit mit dem Körper als sicherer Ort für den Verstorbenen. Der Körper als sicherer Ort für den Verstorbenen

Werden Trauernde gefragt, wo sie ihren Verstorbenen im Körper spüren, antworten fast alle Trauernden mit einer spontanen, nonverbalen Geste und weisen meist auf das Herz, den Brustbereich oder den Körpernahbereich rechts oder links, leicht nach hinten versetzt neben dem Brustkorb. Frauen, die ein Kind in der Schwangerschaft oder bei der Geburt verlieren, erleben oft den Bauchraum als sicheren Ort für das verstorbene Kind. Auch hier kann man wie bei der Arbeit mit den Beziehungsgefühlen über Ankertechniken diesen sicheren Ort gut im Körper verorten. Der Körper als sicherer Ort hat zwei Vorzüge: Erstens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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kann der Verstorbene überallhin mitgenommen werden. Trauernde können so ohne Loyalitätsprobleme allmählich wieder in das Leben zurückkehren, indem sie den Verstorbenen mit ins Leben mitnehmen. Zweitens kann der Verstorbene in der Wahrnehmung in den Hintergrund treten und ist im Körper dennoch sicher bewahrt. Es genügt dann eine bewusste Fokussierung auf die verankerte Körperstelle, dann wird der Verstorbene wieder als präsent erlebt. Der Körper ist ein verlässlicher sicherer Ort, weil das im limbischen System verankerte Bindungssystem unmittelbar über den Körper und das Körpererleben verbunden ist. In der ganz akuten Verlustsituation, bei einem chronifizierten Trauerverlauf oder bei Traumatisierungen, die im Kontext des Verlustes erlebt wurden, ist der Zugang zum Verstorbenen über den Körper allerdings zunächst blockiert. Gibt es in der Beziehung zum Verstorbenen massive Konflikte, wie zum Beispiel eine missbräuchliche Beziehung des verstorbenen Vaters zu seiner Tochter, wird der Körper als sicherer Ort zu nah und zu bedrohlich erlebt. Neben der Klärungsarbeit mit dem Verstorbenen ist hier an einer Externalisierung zu arbeiten und dem Verstorbenen ein externer Ort zuzuweisen. Die hypnosystemische Körperarbeit als Schwingungsprozess hin zu einem wieder gelingenden Leben der Hinterbliebenen

Die beschriebene Körperarbeit schwingt zwischen der Körperarbeit mit den Trauergefühlen und der Körperarbeit mit den Beziehungsgefühlen und dem Körper als sicheren Ort (Kachler, 2012b). Die Klientinnen werden über das Pacing zu den verschiedenen Aspekten der Körperarbeit eingeladen. Dabei soll ein Prozess des Schwingens entstehen, der den Trauerprozess im Fließen hält und dabei die Tendenz hin zu einem wieder gelingenden Leben des Trauernden in sich trägt. Es sei noch einmal betont, dass zu diesem gelingenden Leben auch eine innere, nun leichte, oft auch heitere Verbundenheit zum Verstorbenen gehört. Die massive Anfangstrauer wandelt sich in eine bleibende Wehmut und Sehnsucht. An bestimmten Gedenktagen kann die Trauer in abgemilderter Form auch wieder präsent werden und hat dann die – von den Hinterbliebenen oft gewünschte – Wirkung, die Präsenz des Verstorbenen und die Beziehung zu ihm zu reaktualisieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Komplizierte Trauerverläufe wie somatisierende oder depressive Trauerverläufe zeigen sich durch einen Stillstand dieses schwingenden, fließenden Prozesses. Einige Hinweise, wie damit gearbeitet werden kann, gibt das folgende Fallbeispiel.

Fallbeispiel einer hypnosystemischen Trauerbegleitung Dieses Fallbeispiel stammt aus meiner praktischen Arbeit mit komplizierten Trauerverläufen, die sich in massiven psychosomatischen Symptomen äußern. Diese Trauertherapie ist neben der Arbeit mit verwaisten Eltern (Kachler u. Majer-Kachler, 2013) ein Schwerpunkt meiner eigenen Praxis. Ich stelle hier nicht den gesamten therapeutischen Prozess dar, sondern arbeite nur die für die hypnosystemische Körperarbeit wesentlichen Aspekte heraus. Vorausgesetzt werden dabei immer eine fundierte medizinische Abklärung der somatischen Symptome, eine Auftragsklärung, eine Anamnese der aktuellen Verlustsituation und eine biografische Anamnese, besonders mit dem Blick auf andere, oft sehr frühe Verluste. Seit du gestorben bist, sind meine Arme gelähmt Eine Mitte fünfzigjährige Yogalehrerin erlebt starke Schmerzen und eine Lähmung in den Armen, wenn sie versucht, diese nach oben zu heben. Dieses Symptom gefährdet ihre Tätigkeit als Yogalehrerin. Vor drei Jahren starb ihr Sohn in Südamerika durch einen Unfall. Sie konnte sich nicht mehr von ihm verabschieden, sondern erhielt einige Wochen später seine Asche in einer Urne. Ihre Trauer um den einzigen Sohn ist sehr groß. Prozessschritte der hypnosystemischen Körperarbeit: –– Ich bitte die Klientin aufzustehen und die Augen zu schließen, damit sie sich ganz auf ihre Arme fokussieren kann. Ich bitte sie, beide Arme bis zur ersten Schmerzgrenze zu heben und die nur wenig erhobenen Arme dort zu halten. Dann lasse ich sie den Schmerz in den Armen achtsam spüren und stelle ihr Fragen zu den Submodalitäten des Schmerzes. –– Ich lade sie ein, in den Schmerz der Arme zu atmen und über den Atem den Schmerz aufsteigen zu lassen. Sie beginnt zu weinen und schüttelt ihre Arme während des heftiger werden-

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den Schluchzens. Ich bitte sie, sich vorzustellen, wie der Verlustschmerz über die Arme und Hände nach unten abfließt. Ich bitte die Klientin erneut, die Arme wieder bis zur Schmerzgrenze zu heben. Sie kann nun die Arme deutlich weiter nach oben bewegen. Ich erläutere behutsam, dass die Schwere der Trauer aus den Armen geflossen ist und deshalb die Arme schon deutlich leichter sind. Ich lasse die Klientin den Schmerz an der neuen Schmerzgrenze wieder achtsam spüren und deute an, dass im Schmerz neben der Trauer noch etwas anderes, möglicherweise etwas aus der Beziehung zu ihrem Sohn, verkörpert sein könnte. Sie nickt spontan. Nun bitte ich ihren Körper, die Klientin über den Schmerz in die Beziehung zu ihrem Sohn zu führen und ein entsprechendes Bild auftauchen zu lassen. Die Klientin erzählt, dass es ein letztes Bild von ihrem Sohn aus Südamerika gibt. Dort steht er lachend auf einer Mauer in Machu Picchu mit hoch erhobenen Armen. Während sie das erzählt, weint sie wieder heftig. Nachdem das Weinen abgeklungen ist, bitte ich sie, sich vorzustellen, dass sie ihren Sohn in die Arme nimmt. Spontan vollzieht sie die Umarmung als Geste und hebt dabei die Arme. Ich begleite dies mit der behutsamen Erläuterung, dass sie über das Heben der Arme ihre Liebe zu ihrem Sohn direkt ausdrücken kann und ihr Sohn sich über die Umarmung und das Heben der Arme freut. Sie kann ihre Arme fast wieder frei nach oben bewegen. In der nächsten Stunde bringt sie das Fotos ihres Sohnes von Machu Picchu und ein weiteres Foto von ihrem Sohn mit. Auf letzterem ist er als zehnjähriger Junge zu sehen, wie er mit erhobenen Armen auf einem Baumstamm balanciert. Ich bitte die Klientin wieder aufzustehen, sich bei geschlossenen Augen vorzustellen, ihren zehnjährigen Sohn zu umarmen, ihn dabei zu spüren und ihn dann nach innen an eine für sie stimmige Körperstelle zu nehmen. Ich erläutere, dass sie nun ihren Sohn in sich trägt und ihn nicht mehr verlieren kann. Sie könne nun die Beziehung zu ihrem Sohn direkt und nicht mehr über das – zunächst sinnvolle – Symptom spüren und leben.

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–– Ich bitte sie nochmals, ihre Arme zu heben und den Armen zu danken, dass sie über die Symptome geholfen haben, ihren Sohn als den mit erhobenen Armen dastehenden Jungen und jungen Mann bewusst zu sehen und nach innen zu nehmen. Falls das Symptom erneut auftreten solle, so meine Deutung, wäre das wieder der spürbare Impuls, sich ihres strahlenden, lachenden Sohnes zu erinnern und die beiden Fotos wieder anzuschauen.

Mit der Auflösung der Somatisierung über die Körperarbeit ist die Trauerbegleitung noch nicht abgeschlossen, kann doch die Klientin ihre Trauer, aber auch ihre innere Beziehung zu ihrem verstorbenen Sohn nun bewusster leben. Doch ist damit der in Stillstand geratene Trauerprozess wieder ins Fließen und in Bewegung gekommen, so dass er sich in Richtung eines wieder gelingenden und in Augenblicken wieder glücklichen Lebens für die Klientin entwickeln kann.

Ausblick: Hypnosystemische Körperarbeit – auch für andere psychosomatische Störungen hilfreich! Die hier beschriebene körperorientierte Trauer- und Beziehungsarbeit ist ein wesentlicher Teil einer Trauerbegleitung, die systemische, hypnotherapeutische und körpertherapeutische Ansätze integriert. Die hypnosystemische Körperarbeit bewährt sich besonders bei somatisierenden Trauerverläufen und wird hier zum Schlüssel für eine Trauertherapie bei schweren, lebensbehindernden Symptomen in Folge eines schweren Verlustes. Aus meiner Sicht kann man davon einiges auf anders verursachte Somatisierungsstörungen übertragen und nutzen. Das allerdings muss an anderer Stelle diskutiert werden.

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Literatur Bednarz A. (2003). Den Tod überleben. Deuten und Handeln im Hinblick auf das Sterben eines Anderen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bednarz A. (2005). Mit den Toten leben. Über Selbst-Sein und das Sterben eines Anderen. Familiendynamik, 30 (1), 4–22. Brisch, K. H. (2009). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Gottwald, C. (2007). Neurobiologische Perspektiven zur Körperpsychotherapie. In G. Marlock, H.Weiss (Hrsg.), Handbuch der Körperpsychotherapie (S. 119–137). Stuttgart: Schattauer. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hofgrefe. Kachler, R. (2007a). Damit aus meiner Trauer Liebe wird. Neue Wege in der Trauerarbeit (4. Aufl.). Stuttgart: Kreuz. Kachler, R. (2007b). Wie ist das mit der Trauer (2. Aufl.). Stuttgart u. Wien: Gabriel. Kachler, R. (2009). Meine Trauer geht – und du bleibst. Wie der Trauerweg beendet werden kann (4. Aufl.). Stuttgart: Kreuz. Kachler, R. (2010). Für immer in meiner Liebe: Das Erinnerungsbuch für Trauernde. Ostfildern: Schwabenverlag. Kachler, R. (2011). Was bei Trauer gut tut. Hilfen für schwere Stunden (2. Aufl.). Stuttgart: Kreuz. Kachler, R. (2012a). Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit (12. Aufl.). Stuttgart: Kreuz. Kachler, R. (2012b). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Kachler, R. u. Majer-Kachler, C. (2013). Gemeinsam trauern – gemeinsam weiter lieben. Das Paarbuch für trauernde Eltern. Stuttgart: Kreuz. Kast, V. (1977). Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart: Kreuz. Klass, D., Silverman, P. R., Nickman, S. L. (Eds.) (1996). Continuing bonds: New understandings of grief. Philadelphia, PA: Taylor & Francis. Petzold, H. G. (2007). Der »informierte Leib«: »embodied and embedded« – ein Metakonzept für die Leibtherapie. In G. Marlock, H. Weiss (Hrsg.), Handbuch der Körperpsychotherapie (S. 100–118). Stuttgart: Schattauer. Reddemann, L. (2001). Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumfolgen mit Ressourcenorientierten Verfahren (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schmidt, G. (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl-Auer. Schmidt, G. (2005). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer.

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Leiblicher Ausdruck und Familie in der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie Zugänge über die systemisch-psychomotorische Familienberatung

Vorbemerkung Körper- und Leibarbeit sind oftmals viel alltagsnäher, als im ersten Moment der Schein vermuten lässt. Um das zu veranschaulichen, werde ich keinen Streifzug durch die Landschaft systemischer Therapie machen – dieser bildet sich im Buch selbst facettenreich genug ab –, sondern mich auf ein einziges systemisches Konzept konzentrieren, um hieran exemplarisch zu zeigen, dass leiborientiertes Arbeiten eine wichtige Bereicherung für die systemische Therapie und Beratung ist. Bei dem Konzept handelt es sich um die systemisch-psychomotorische Familienberatung (Richter, 2011, 2012). Diese nutzt den leiblichen Ausdruck, um systemisch-lösungsorientiert familientherapeutisch mit Kindern zu arbeiten.

Grundzüge systemisch-psychomotorischer Familienberatung Systemisch-psychomotorische Familienberatung versteht sich als familieninklusive Methode systemischer Therapie und Beratung. Das Besondere an dieser Interventionsform ist die Kombination aus systemischen Strukturierungs- und Gesprächsformen, symbolischem Spiel (in all seinen Facetten) und leiborientierten Techniken. Was das aber heißt, soll das folgende Fallbeispiel – wenn auch nur ausschnittsweise – veranschaulichen. Zugleich dient das Beispiel als analytische Folie, um hiermit schließlich leiborientiertes Arbeiten verdeutlichen zu können. Eine alleinerziehende Mutter (Frau Fischer) sucht ihres Sohnes wegen (Leon, fünf Jahre) telefonisch Kontakt zur Erziehungsberatungsstelle. Sie hat den Eindruck, dass er sich zu sehr an sie

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klammere und mit anderen Menschen – sowohl Kindern als auch Erwachsenen – nicht so recht in Kontakt kommen kann. Dies mache ihr Sorgen, da Leon es so möglicherweise im Leben schwer haben könnte. Zwar ginge er in den Kindergarten, fehle jedoch sehr oft, und wenn er mal da ist, dann sei er auch eher einzelgängerisch. Auf die Frage, seit wann das Verhalten bestünde, gab die Mutter an, dass Leon eigentlich schon immer eher skeptisch gegenüber anderen Menschen gewesen sei (mal mehr, mal weniger). Und auf die Frage hin, was sie glaube, wer auf dieses Verhalten einen positiven Einfluss nehmen, also einen Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, sagte Frau Fischer: »Nur ich.« »Na, dann bringen Sie mal sich und Leon mit«, lud der Berater ein und machte einen Termin zum Erstgespräch.

Ersttermin (Auftragsklärung) Nachdem Mutter und Sohn die Erziehungsberatungsstelle betreten haben, begrüßt wurden und sich im Spielzimmer (Psychomotorikraum) wiederfinden, löst sich die erste Anspannung. Leon wirkt zwar schüchtern, aber sehr am Raum interessiert. Nachdem er immer wieder zur Hängematte blickt, fragt der Berater ihn, ob er denn Lust hat, sich hineinzusetzen. Er schaut erst zu seiner Mutter, um dann lächelnd zu nicken. Nun beginnt der Berater die Hängematte leicht zu schaukeln und eröffnet das Gespräch. Frau Fischer sitzt währenddessen auf einer großen Weichbodenmatte in unmittelbarer (Sicht-)Nähe. Berater: »Ich will nicht lange um den heißen Brei reden und trau mich einfach mal gleich auf rutschiges Gelände. Wenn es Ihnen zu flott geht, dann bremsen Sie mich bitte aus. Denn Sie sind hier Kundin und sollen sich sehr gut fühlen – so weit wie möglich. Also … Sie sprachen am Telefon davon, dass Sie die Einzige sind, die Leon helfen kann. Und Sie sagten das zudem in einem eher niedergeschlagenen Ton – schien mir. Was also bewegt Sie dazu, das anzunehmen? Ich frage das nicht, weil ich hieran Zweifel hätte, sondern weil ich den Eindruck habe, dass diese Worte aus einer Hoffnungslosigkeit heraus entstanden sind. Ist da was dran?« Mutter: »Ja.«

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Berater: »Und was ist der Grund?« (Dass der Vater eine Rolle im Leben spielen soll – zum Beispiel in übertragener Weise – wird auch noch zum Thema gemacht, aber zu einem anderen Zeitpunkt.) Mutter: »Ich glaube, Leon klammert nur meinetwegen so.« Berater: »Und was für eine Idee haben Sie, bewegt ihn, das zu tun?« Mutter: »Ich hab mit Depressionen zu kämpfen und war längere Zeit in der Klinik.« Berater: »Hat Leon Angst, Sie könnten wieder weggehen?« (beobachtet hierbei Leon) Mutter: »Ja, auch … ich bin dann auch weg, wenn ich da bin.« Berater: »Meinen Sie, wenn Sie Depressionen haben, aber zu Hause sind?« Mutter: »Ja.« Berater: »Also so in dem Sinne, Leon versucht mich täglich am Leben zu halten … also in der Präsenz?« Mutter: »Ja.« (sie bekommt Tränen in den Augen) (Berater reicht Frau Fischer Taschentücher) Berater: »Und wenn es Ihnen super geht, dann klammert er weniger?« Mutter: »Ja, dann ist er auch öfter im Kindergarten.« Berater: »Sie sind also gezwungen, nicht depressiv zu sein, damit Leon sich frei bewegen kann und Kontakte zu anderen Menschen knüpft?« Mutter (schaut etwas verwundert über diesen Satz): »Emm … nee, so hab ich das noch gar nicht gesehen.« (Der Berater hätte an dieser Stelle fast einen geschmeidigen und lösungsorientierten Zugang zu Depression als gesundem Eigenanteil. Da der Auftrag aber ein anderer ist, nutzt er diesen noch nicht.) Berater: »Nee heißt nein?« Mutter: »Ich weiß nicht.« Berater: »Würde eine andere Formulierung besser passen, oder ist es inhaltlicher Quark, den ich produziere?« Mutter: »Ich weiß nicht.« Berater (zu Leon): »Ist die Mama manchmal traurig?« Leon: »Hmm.« Berater: »Macht dich das dann auch traurig?« Leon: »Hmmm.«

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Berater: »Und dann?« (Leon steht aus der Hängematte auf, geht zu seiner Mutter rüber und nimmt sie in den Arm.) Berater: »Bist du jetzt traurig?« Leon (schüttelt den Kopf): »Die Mama.« Berater (zur Mutter gewandt): »Dürfen Sie auch mal depressiv sein?« Mutter: »Ja, wenn Leon nicht dabei ist … Aber das will ich gar nicht.« Berater: »Das verstehe ich, und das können wir auch noch mal angucken. Mir geht’s nur gerade darum zu schauen, was Leon dazu bewegt, sich anderen Dingen zuzuwenden, wie zum Beispiel der Hängematte.« Mutter: »Verstehe.« Berater: »Können Sie es in Worte fassen?« Mutter: »Ich darf nicht depressiv sein, damit es Leon gut geht.« Berater: »Und wer verlangt das?« Mutter: »Leon.« Berater: »Absichtlich?« Mutter: »Nee, weil er sich um mich sorgt.« (Leon geht zurück zur Hängematte, umläuft sie letztlich jedoch, da er die Rollbretter entdeckt hat.) Berater: »Geht’s hier also darum zu gucken, was Sie beide benötigen, dass Sie immer dann, wenn Sie es wollten – nur mal so angenommen –, depressiv sein könnten, und Leon, wann immer er es wollte, sich frei bewegen könnte? Geht’s also darum, um’s mal mit anderen Worten zu formulieren, dass Ihre Depression und die Kontaktfreude Leons entkoppelt werden?« Mutter: »Ja, genau; und dass er im Kindergarten mehr Kontakt findet …«

An dieser Stelle wird nun gemeinsam daran gearbeitet, wie sich das Gewünschte in Verhalten zeigen würde (z. B. »Leon kann auch ausgelassen spielen und Kontakt haben, wenn ich mal Zeit [auch in der Depression] für mich brauche«). Es findet also eine klassische Auftragsklärung mit lösungsorientierter Zielformulierung (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 1996; Friedman, 1999) statt. Dann folgt eine Produktinformation, die eine Erklärung zum Vorgehen einer systemisch-psychomotorischen Familienberatung beinhaltet, und schließlich wird ein Folgetermin vereinbart. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Die Familie spielt (psychomotorischer Spielmultilog) Zum Anfang der folgenden Sitzung findet eine kurze Rekapitulation des Auftrags statt (ca. 15 Minuten), und es wird nachgefragt, ob und was sich möglicherweise schon verändert hat. Gegebenenfalls wird der Auftrag so nochmals überarbeitet, bevor die Familie in ein gemeinsames, gut 45 Minuten dauerndes, freies Spiel geht. Die Gesprächssequenz überspringen wir an dieser Stelle und wenden uns gleich dem Spiel zu. Leon sucht sich nach kurzer Orientierungsphase das Rollbrett aus, um hiermit durch den Raum zu fahren. Der Berater baut sich währenddessen eine kleine Höhle aus Schaumstoffwürfeln, Matten und Decken. Frau Fischer indes sucht sich die Hängematte aus, um ein wenig zu entspannen. Leon wirkt zu Beginn noch ein bisschen schüchtern und beobachtend. Er erkundet den Raum und beobachtet immer wieder sehr genau, was der Berater und seine Mutter tun. Nach einer Weile (gut zehn Minuten) fragt er den Berater, was er da baue. »Eine Höhle … Willst du mal gucken?« »Ja«, sagt Leon und erkundet die Höhle; erst von außen, dann auch von innen. Schließlich sagt Leon, dass es aussehe wie ein Schiff. Im Handumdrehen wird aus der Höhle ein Schiff. Auf das Dach baut Leon noch ein Steuerhaus mit Steuer, zwei Sitzen vorn und zwei dahinter dazu. Zudem brauche das Schiff noch einen Anker und gut zu verschließende Türen. Als es schließlich fertiggestellt ist, schickt Leon das Schiff auf große Fahrt (zur Mama, die auf einer Insel ist) und lässt es erst von Haien, dann von Piraten und schließlich von einer Flotte Seemonstern angreifen. Immer wieder muss er sich hierbei als Kapitän rettend zur Verfügung stellen. Zwar muss auch mal der Bootsmann (Berater) ins Wasser springen, aber grundsätzlich rettet Leon. Als schließlich alle Angriffe abgewehrt sind, laden wir Mama ins Boot ein. Sie aber lehnt ab. »Wohin also jetzt?«, fragt der Berater. »Zurück.« Also machen sich die beiden wieder auf den Weg. Diesmal mit weniger Gefahren. Nur beim Ankerwerfen und Fischen zwischendurch wird es immer mal wieder heikel – aber

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nicht mehr gefährlich. Angekommen im Heimathafen – nach mehreren weiteren Fahrten –, wird Frau Fischer ins Schiff geladen, um mit der Mannschaft den selbst gefangenen Fisch zu verspeisen. Frau Fischer ist hier nun die stolze Mama eines Kapitäns.

Zwischenfazit: Leibliche Phänomene, therapeutischer Prozess und familiäre Strukturen Das zumeist schon Intuitive

Da wir als Menschen immer schon leiblich zur Welt sind (MerleauPonty, 1966), sind wir natürlich auch in allen lebendigen Situationen leiblich. Insofern ist auch jegliche zwischenmenschliche Interaktion leiblich (Mattner, 1989). Wir nehmen Räume atmosphärisch wahr (Schmitz, 1998), kommunizieren stetig nonverbal und rückversichern uns – besonders als Kinder im Beisein unserer Eltern – nonverbal und gefühlt. Dieses grundsätzliche Prinzip und wie es zumeist sogar intuitiv bereits genutzt wird, möchte ich anhand der ersten Sequenz des obigen Beispiels deutlich machen: Zum Beginn des Ersttermins löst sich – dem Empfinden des Beraters nach – die Anspannung mit Betreten des psychomotorischen Spielzimmers. Leon flirtet mit der Hängematte, nachdem er sich einen Überblick verschafft hat. Die Hängematte erscheint ihm als interessantes Objekt (symbolisch, gegebenenfalls sogar als Ort der Sicherheit und Geborgenheit, wie der Schoß der Mutter). Der Berater bemerkt das Interesse an der Hängematte und verbalisiert den vermeintlichen Wunsch Leons als auffordernde Frage. Leon nimmt dieses Angebot nach Rückversicherung über den Blickkontakt zur eigenen Mutter an.

In dieser kurzen Sequenz werden also wenigstens drei Variablen zwischenleiblichen Verstehens deutlich, welche für die systemische Kinder- und Jugendlichentherapie von Nutzen sind, ohne zugleich schon körperpsychotherapeutisch zu sein: ȤȤ Das empathische Verstehen der Bedürfnisse des Gegenübers: Der Berater spürt Leons Wunsch und versteht das Bedürfnis nach © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Ankommen in Geborgenheit und Sicherheit (Wohlfühlen). Er unterstützt darüber hinaus dieses Ankommen später noch durch das Wiegen der Hängematte. ȤȤ Das atmosphärische Hineinspüren in den Raum und das damit einhergehende Suchen nach dem, was es braucht, um sich wohl zu fühlen: Leon schaut für sich, was er braucht, um in diesem Raum ankommen zu können, vermittels reflexiver Leiblichkeit – was also stimmig ist. ȤȤ Die zwischenmenschliche Rückversicherung zum Thema Sicherheit und Akzeptanz des Gegenübers in abhängigen Beziehungen: Leon sucht die Rückversicherung bei seiner Mutter bezüglich Hängematte. Das weniger Augenscheinliche

Das Arbeiten mit leiblichen Entäußerungen ist aber nicht nur intuitiv, sondern braucht so manches Mal der bewussten Hinwendung, da nicht immer augenscheinlich ist, was den Klienten auf den Weg hilft. So ist es zum Beispiel in den Gesprächssequenzen hilfreich, auf das sogenannte eigenleibliche Spüren in Form einer reflexiven Leiblichkeit (Seewald, 2007) einzugehen. Hiermit ist das gemeint, was wir landläufig als Bauchgefühl bezeichnen und was von Eugene Gendlin (einem Schüler Carl Rogers) als »felt-sense« beschrieben wurde (Gendlin, 2001). Eugene Gendlin stellte in seinen Untersuchungen zur Wirksamkeit nondirektiver Gesprächspsychotherapie fest, dass diejenigen Menschen besser von der Therapie profitierten, welche die besprochenen Sachverhalte auf ihre gefühlte Stimmigkeit hin überprüften. Dieses Körpergefühl ist ähnlich den körperlichen Begleiterscheinungen des Aha-Erlebens; zum Beispiel wenn uns ad hoc doch noch einfällt, wo wir unsere Schlüssel hingelegt haben. In der Regel arbeiten wir täglich mit diesem Körper- oder Bauchgefühl, ohne uns dessen bewusst zu sein. Sobald wir jedoch in Zwickmühlen und psychosozial stressigen Situationen sind, verlieren wir leicht den Kontakt zum Körper und damit auch zum Bauchgefühl. Wir switchen dann oftmals entweder in Emotionen (z. B. Angst, Trauer, Wut) oder in den Kopf (Grübeln), um uns Rat bzw. Sicherheit zu holen. Rein emotionale oder rationale Ratgeber sind für sich je allein genommen zumeist jedoch wenig hilfreich, darum ist es besonders in der Therapie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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mit Menschen, welche akut oder dauerhaft im innerseelischen Stress sind, sinnvoll, dieses Körpergefühl (»felt-sense«) bewusst zu fokussieren (reflexive Leiblichkeit nach Seewald). Durch das Fokussieren des »felt-sense« bekommen wir dann einen klaren Eindruck zum für uns ganz individuell Passenden: »Ah, das ist es!«, »Ach ja, genau; ich habe Angst … fühle mich unsicher« usw. Da man aber in der Therapie nicht immer direkte Techniken vermitteln kann, ist es hilfreich, wenn sich Therapeuten auf diejenigen sprachlichen Äußerungen konzentrieren, welche deutlich machen, dass Klienten eben noch keinen klaren Eindruck zu Inhalten, Fragen usw. haben (Gendlin, 1998), um hieran anknüpfend dann bei der »leiblichen« Klärung zu helfen. Als Beispiel sei an dieser Stelle wieder eine Sequenz aus dem Erstgespräch mit Frau Fischer genommen. Zur Erinnerung: Es ging recht schnell auch um die Funktion von Leons Verhalten, wenn Frau Fischer sich depressiv zeigt. Der Berater ist gerade dabei, ein Reframing zu machen: Berater: »Und wenn es Ihnen super geht, dann klammert er weniger?« Mutter: »Ja, dann ist er auch öfter im Kindergarten.« Berater: »Sie sind also gezwungen nicht depressiv zu sein, damit Leon sich frei bewegen kann und Kontakte zu anderen Menschen knüpft?« Mutter (schaut etwas verwundert über diesen Satz): »Emm … nee, so hab ich das noch gar nicht gesehen.« Berater: »Nee heißt nein?« Mutter: »Ich weiß nicht.« Berater: »Würde eine andere Formulierung besser passen, oder ist es inhaltlicher Quark, den ich produziere?«

Der Berater geht konsequent dem unklaren Eindruck zur Frage bei Frau Fischer nach. Er versucht ihr dabei zu helfen, einen »Griff« zu bekommen. Er geht mit Eugene Gendlin davon aus, dass sich über eine klare Aussage auch der Griff und damit das Stimmige hergestellt hat, Frau Fischer also ein klares Bauchgefühl zum Inhalt bekommt. Erst eine solche »Antwort« erweist sich als hilfreich für den weiteren Prozess. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Da es in dem vorliegenden Fall naheliegend ist, direkten Bezug zur Situation herzustellen (schließlich ist Leon anwesend), nutzt der Berater eine Variante der Dramatisierung (Gammer, 2007). Berater (zu Leon): »Ist die Mama manchmal traurig?« Leon: »Hmm.« Berater: »Macht dich das dann auch traurig?« Leon: »Hmmm.« Berater: »Und dann?« (Leon steht aus der Hängematte auf, geht zu seiner Mutter rüber und nimmt sie in den Arm.) Berater: »Bist du jetzt traurig?« Leon (schüttelt den Kopf): »Die Mama.« Berater (zur Mutter gewandt): »Dürfen Sie auch mal depressiv sein?« (Hier kommt der Berater auf den unklaren Eindruck der Mutter zur Aussagen des Beraters zurück.) Mutter: »Ja, wenn Leon nicht dabei ist … aber das will ich gar nicht.« Berater: »Das verstehe ich, und das können wir auch noch mal angucken. Mir geht’s nur gerade darum zu schauen, was Leon dazu bewegt, sich anderen Dingen zuzuwenden, wie der Hängematte zum Beispiel.« Mutter: »Verstehe.« (Aha-Erlebnis, jetzt ist der Griff da. Frau Fischer hat ein klares Körpergefühl, einen felt-sense, und kann diesen anschließend auch in Worte fassen.) Berater: »Können Sie es in Worte fassen?« Mutter: »Ich darf nicht depressiv sein, damit es Leon gut geht.«

Das Symbolische

Das Spiel ist in der therapeutischen Arbeit mit Kindern bis zu einem Alter von etwa zwölf Jahren – da es für diese Altersspanne als das native Kommunikationsmittel gilt – das methodische Mittel der Wahl. Das symbolische Spiel (inklusive des Rollenspiels) nimmt hierbei eine Schlüsselposition ein (z. B. Russ, 2004; Seewald, 1992, siehe auch Aichinger in diesem Band), da Kinder über dieses exemplarisch ihre Welt entwerfen, Erlebnisse zu eigenen Erfahrungen machen bzw. verarbeiten, nicht genügend erlebte Erfahrungen nachholen und zum Beispiel Entwürfe einer möglichen (personellen) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Zukunft gestalten. Das symbolische Spiel hat demnach eine zentrale Bedeutung in der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung (Russ, 2004; Seewald, 1992). Das Spannende am Spiel ist, dass es Kindern sehr leicht fällt, ganz und gar im Tun versunken zu sein. Sie sind dann quasi ganzleiblich im Leben. Das Spiel wird zum Leben selbst, auch wenn sie in der Regel ihren Realitätssinn bewahren. Dieser Sachverhalt trifft natürlich besonders auf das großräumige Symbolspiel zu, wie es im obigen Fallbeispiel angedeutet wird. Kinder inszenieren hier jene Anteile ihrer Lebens-, Entwicklungs-, Leib-, Beziehungs- und damit auch Familiengeschichte, welche sie akut – in welcher Weise auch immer – beschäftigt. Aber auch Erwachsene präsentieren Sinn im Spiel; auch ihre Lebens-, Leib-, Beziehungs- und Entwicklungsthemen offenbaren sich hier. Zugleich ist das Spiel selten reine Reinszenierung. Vielmehr bietet gerade das Spiel die Möglichkeit, vielfältige Lösungsansätze zur Problembewältigung auszuprobieren. So wird auch das »Familienspiel«, wie im obigen Beispiel, zugleich zur Bühne möglicher Lösungsversuche des alltäglichen Lebens. Die Lösungsversuche wiederum können vom Berater aufgegriffen und zieldienlich für den Beratungsprozess nutzbar gemacht werden. Man könnte Leons symbolisches Spiel mit dem Schiff und ihm als Kapitän so verstehen, dass er versucht, sich und seine Familie vor Gefahren zu bewahren, zu verteidigen, zu retten und zu beschützen (z. B. vor den Depressionen). Da das therapeutische Vorgehen in der systemisch-psychomotorischen Familienberatung ein lösungsorientiertes ist, wird der Fokus eben auf im Spiel gesehene Lösungsansätze und -muster gelegt. Dies geschieht selbstredend am Auftrag orientiert. Hierzu gibt es zumindest eine Schlüsselszene: Frau Fischer lehnt es – nach Leons exzessivem Kämpfen um den Schutz des Schiffes – ab, von ihm gerettet zu werden. Sie zieht es vor, auf ihrer Insel zu bleiben (Selbstsorge – gegebenenfalls auch im depressiven Verhalten?). Dass Frau Fischer dennoch Leons Job zu bewundern scheint und stolz auf ihn ist, zeigt sich in der Szene, in der Frau Fischer zum Abendessen auf das Schiff geladen wird. Nachdem dies in der Reflexion im Anschluss an das gemeinsame Spiel auf die Agenda kommt, arbeitet die Familie mit dem Berater

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an der Aufgabenverteilung zur Sicherung des Wohls der Mutter, Leons und der Gesamtfamilie.

Wie ist mit leiblichen Entäußerungen umzugehen? Während unsere Sprache in der Regel stark an das Bewusstseinserleben gekoppelt ist, dieses einer seriellen Aufmerksamkeitsfokussierung unterliegt und sonach Inhalte einer Therapie oftmals nur aufeinander bezogen präsent werden, scheint das symbolische Spiel seine Stärke in der Mehrwertigkeit der Deutungsmöglichkeiten der Inhalte zu haben. Während also in der Sprache Inhalte eher vertikal abgebildet werden, liegt der Vorteil des symbolischen Spiels darin, dass sich Sinn und Bedeutung horizontal mehrschichtig abbilden (Psychoanalytiker ordnen darum das symbolische Spiel dem Primärprozesshaften zu). Dieser Vorteil mehrwertiger Abbildungen im Spiel ist zugleich auch deren Nachteil. Eine eindeutige Identifizierung von Bedeutungen des Ausgedrückten ist schwer, wenn nicht gar unmöglich zu erreichen. Wie also hiermit umgehen? Für die systemisch-psychomotorische Familienberatung ist diese Frage einfach zu beantworten, da die Deutung der Inhalte nie auf eine vermeintlich tatsächliche Wahrheit abzielt, sondern ausschließlich auf die damit verbundene mögliche Wirkung. Die Inhalte werden also auftragsspezifisch und lösungsorientiert gedeutet. Und hierbei sind Klienten selbst die Interpreten ihrer Wahrheit; entweder indem sie selbst ihre Lösungsideen aus dem Spiel deuten, oder indem – ähnlich dem Modell des Realitäten-Kellners (Schmidt, 2010) oder eines »Reflecting Teams« (Anderson, 1996) – von therapeutischer Seite aus Deutungs-Vorschläge unterbreitet werden, von welchen sich die Klienten die jeweils passenden oder eben stimmigen heraussuchen.

Zum leiblichen Wohl und Wehe systemischer Therapie Nun kann – oder muss – man sich die Frage stellen, wie systemische Therapie und Leib bzw. Körper aus einer psychosozialen Perspektive gesehen zusammengehen; sind doch systemische Therapie und Beratung spätestens mit der konstruktivistischen bzw. konstruktionistischen Wende sehr auf Sprache fixiert – besonders ausgeprägt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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natürlich bei narrativen und lösungsorientierten Ansätzen (de Shazer, 2008; Kim-Berg u. de Jong, 2003; White u. Epson, 1992). Schaut man sich jedoch die historische Entwicklung systemischer Therapie an, so kann man herauslesen, dass der Körper – wenn auch nur am Rande – durch eine verstehende, psychoanalytische, tiefenhermeneutische und mitunter phänomenologische Tradition immer schon seinen Platz in der systemischen Therapie hatte; so zum Beispiel bei Virginia Satir (2007) oder in der strukturellen Familientherapie (Minuchin u. Fishman, 1983). Eine verstehende Tradition ist sogar der Ursprung systemischer Therapie und Beratung (von Schlippe u. Schweitzer, 1996), und so manche Koryphäe des Fachs wandte sich schon bald nach der mitunter von ihr selbst eingeläuteten Wende wieder den Wurzeln systemischer Therapie zu (so z. B. Selvini-Palazzoli, zit. nach Pisarsky, 2000). Dennoch muss einschränkend zumindest erwähnt werden, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit hermeneutischen und phänomenologischen Zugängen und Positionen nur rudimentär stattgefunden hat (z. B. bei Fischer, Retzer u. Schweitzer, 1993; Kriz, 1999; Schweitzer, Retzer u. Fischer, 1992; Strunk u. Schiepek, 2006) und somit das Körper-Leib-Thema auch nur implizit abgehandelt wurde. Die Auseinandersetzung mit verstehenden Zugängen wurde und wird eher pragmatisch geführt. Systemische Therapie und Beratung verstehen sich aber auch nicht als Wissenschaft, sondern als wissenschaftlich reflektierte Methode, insofern verwundert das Vorgehen nicht. Eine wissenschaftliche oder gar wissenschaftstheoretische Aufarbeitung ist also vielleicht gar nicht notwendig, da sich systemische Therapie oder Beratung wissenschaftstheoretisch sowieso als postmodern versteht, als Referenzpunkt den die Klienten in seinen bzw. ihren Bedürfnissen und Wünschen sieht und hierbei einem wissenschaftstheoretischen Eklektizismus frönt. Insofern reicht es vollkommen aus, sich am Klienten orientiert die Frage nach dem Nutzen leib- und körperbezogener Zugänge für eben diesen/ diese Klienten zu stellen. Da hierbei deutlich wird, dass wir als systemische Therapeuten und Berater in der Praxis zuerst Menschen begegnen – und eben keinen Systemen –, welche schlicht leiblich zur bzw. in der Welt sind, erleben und erfahren wir unsere Klienten und uns selbst eben immer auch leiblich, genauso, wie sie uns und sich selbst. In der Regel tun wir dies, auch ohne uns ständig darü© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ber bewusst zu sein. Wäre es nicht so – so möchte ich behaupten –, würden unsere Klienten sich nicht angenommen fühlen und Rapport wäre unmöglich (vgl. Bachelor u. Horvath, 2001). Zudem würden wir nicht auf Stimmungen und Atmosphäre achten. Das aber tun wir intuitiv. Wir fragen unsere Klienten, wie es ihnen geht, schildern Eindrücke zur Stimmung oder zur Atmosphäre im Raum: »Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es zwischen Ihnen knistert«, »Mir scheint, Sie sind gedrückter Stimmung …«, »Kommt es Ihnen auch so vor, als sei eine unglaubliche Schwere im Raum?« Wir arbeiten also immer schon auch mit dem Leib und dem leiblichen Spüren. Darüber hinaus nutzen wir leibliche Ausdrücke (Mimik, Gestik, Spontanbewegungen, Haltung usw.) als diagnostische Hinweise und wir achten darauf, wie sich Menschen (leiblich) zueinander verhalten bzw. positionieren. Was sollte uns also, dem Prinzip der Utilisierung folgend, daran hindern, noch mehr des Leiblichen zu nutzen? Gerade in der Arbeit mit Kindern scheint dies besonders sinnvoll zu sein, da sich Kinder vor allem über ihren Körper, ihr Leiblichsein mitteilen. Sie sind noch viel mehr Leib und viel weniger reflektiert als wir Erwachsenen. Ihr leiblicher Ausdruck ist noch weniger sozial überformt als unserer, sie sind durchlässig für das Innerseelische und drücken sich entsprechend auch im freien Spiel aus. Leib und Spiel – und hier besonders das Spiel mit dem ganzen Leib (großräumiges Rollenspiel, Raufen usw.) – sind so auch die natürlichen Kommunikationsmedien von Kindern (Seewald, 1992; Russ, 2004, aber auch Retzlaff, 2010, und Reiners, 2013).

Fazit Ich denke, jedem ist klar, dass sich systemische Therapie und Beratung nicht in Richtung einer Körperpsychotherapie entwickeln werden. Das macht meines Erachtens auch wenig Sinn, gibt es doch eine Fülle körperpsychotherapeutischer Ansätze und Zugangsweisen, die gut aufgestellt sind, wie ich meine. Eine Zuwendung zu Leib und Körper, und zwar über die klassisch darstellenden Varianten systemischer Methodik hinaus, scheint aber lukrativ zu sein. Das spezifisch Systemische oder Systemisch-Konstruktivistische hierbei ist dann die eigene Herangehensweise an körperliche und leibliche Ausdruckswei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sen, Kommunikation usw. Die systemische bzw. systemisch-konstruktivistische Herangehensweise und der damit einhergehende Umgang zum Beispiel mit Symboliken qualifiziert letztlich also erst den leibbzw. körpertherapeutischen Zugang als genuin eigenständigen (siehe auch Balgo, 1998). Als Beispiel mag die systemisch-psychomotorische Familienberatung gelten. Es bilden sich gerade jedoch weit mehr solcher Zugänge (z. B. Wienands, 2005; vgl. auch Wienands, 2013; und wenn auch nicht explizit benannt, bei Schmidt, 2010, 2013).

Literatur Anderson, T. (Hrsg.) (1996). Das Reflektierende Team – Dialoge und Dialoge über die Dialoge. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Bachelor, A., Horvath, A. (2001). Die therapeutische Beziehung. In M. A. ­Hubble, B. L. Duncan, S. D. Miller (Hrsg.), So wirkt Psychotherapie. Empirische Ergebnisse und praktische Folgerungen (S. 137–192). Dortmund: Verlag modernes Lernen. Balgo, R. (1998). Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. Schorndorf: Hofmann. Fischer, H. R., Retzer, A., Schweitzer, J. (1993). Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Friedman, S. (1999). Effektive Psychotherapie. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Gammer, C. (2007). Die Stimme des Kindes in der Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Gendlin, E. (1998). Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebnisbezogenen Methode. München: Pfeiffer. Gendlin, E. (2001). Focusing. Reinbek: Rowohlt. Kim-Berg, I., de Jong, P. (2003). Lösungen (er-)finden. Das Werkstattbuch der lösungsorientierten Kurztherapie. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Kriz, J. (1999). Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner: Eine Einführung. Stuttgart: UTB. Mattner, D. (1989). Zur Dialektik des gelebten Leibes. Eine ganzheitliche Analyse des menschlichen Körpers. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Merleau-Ponty, M. (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter. Minuchin, S., Fishman, C. (1983). Praxis der strukturellen Familientherapie. Freiburg i. Br.: Lambertus. Pisarsky, B. C. (2000). Die Mailänder Schule. Systemische Therapie von der paradoxen Intervention zum epigenetischen Ansatz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Reiners, B. (2013). Kinderorientierte Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Retzlaff, R. (2008). Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta. Richter, J. (2011). Freie Fundamente. Wissenschaftstheoretische Grundlagen für eklektische und integrative Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Richter, J. (2012). Spielend gelöst. Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Russ, S. W. (2004). Play in child development and psychotherapy. Toward empirically supported practice. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates Publishers. Satir, V. (2007). Das Satir-Modell: Familientherapie und ihre Erweiterung. Paderborn: Junfermann. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (1996). Lehrbuch systemischer Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schmidt, G. (2010). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl-Auer. Schmidt, G. (2013). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Schmitz, H. (1989). Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Paderborn: Junfermann. Schweitzer, J., Retzer, A., Fischer, H. R. (1992). Systemische Praxis und Postmoderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Seewald, J. (1992). Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München: Wilhelm Fink. Seewald, J. (2007). Der verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. München: Reinhardt. de Shazer, S. (2008). Worte waren ursprünglich Zauber. Heidelberg: Carl-Auer. Strunk, G., Schiepek, G. (2006). Systemische Psychologie: Eine Einführung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. Heidelberg: Springer. White, M., Epson, D. (1992). Die Zähmung der Monster: Der narrative Ansatz in der Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Wienands, A. (2005). Choreographien der Seele: Lösungsorientierte Systemische Psycho-Somatik. München: Kösel. Wienands, A. (2013). Einführung in die körperorientierte systemische Therapie. Heidelberg: Carl-Auer.

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Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Paaren

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Mehr Lust für Paare Wie leidenschaftlicher Sex in langjährigen Beziehungen (wieder) möglich wird

Ein sexualtherapeutisches Behandlungsprogramm für Paare: Ausgangssituation Sexualität ist uns Menschen angeboren, und eine wichtige Motivation für die Paarbindung ist unser Wunsch nach praktizierter Sexualität. Doch kaum haben wir uns diesen Wunsch erfüllt und sind im scheinbar sicheren Beziehungshafen angelangt, der uns regelmäßige Sexualität erlaubt, verschwindet die Lust meist wieder (zumindest auf den Partner). Irrwitz der Geschichte oder unvermeidliches Geschehen? Lustlosigkeit ist aktuell das dominierende Thema in der Paartherapie. Gesellschaftlich noch tabuisiert, stellt es inzwischen die größte Herausforderung für Therapeuten und Berater dar, wieder »Feuer« und Leidenschaft in die Beziehung zu bringen. Dabei helfen traditionelle therapeutische Kommunikationskonzepte nicht weiter, die über das Gespräch als Interventionsmethode (inklusive Vereinbarungen für mehr Zeit füreinander etc.) das Verständnis der Partner füreinander fördern und diese so zu mehr Lust bringen wollen. Eine gute Sexualität benötigt Spannung, Begehren und Aufregung. Paare haben sich jedoch nach einer längeren Zeit des Zusammenseins so gut austariert, dass im Grunde jeder zu wissen glaubt, was in dieser Beziehung sexuell möglich ist und was nicht. Es hilft also nicht, mehr Verständnis für den Partner zu erzeugen, sondern eine Ver-Störung oder Erschütterung dieser Aushandlungen muss die Grundlage für eine andere Sexualität der Partner bilden. Eine Thematisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse der Partner jenseits der bisher miteinander gelebten Sexualität kann hierfür der Ausgangspunkt sein. Dafür braucht es ein Konzept der Neuentdeckung der Körperlichkeit der eigenen Person und des Partners, um wieder positive © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Spannung, Neugier und die Sehnsucht nach neuer Lust zu wecken. Im Folgenden wird daher ein Konzept der Paartherapie beschrieben, wie Lebenspartner nach einigen Jahren des Zusammenseins aus dem Dilemma von zu viel Routine, zu wenig erlebter Intimität, Lustempfinden und sexueller Erfüllung herauskommen und somit ihre Beziehung »revitalisieren« können. Dieser Wachstums- und Reifeprozess geht in der Regel auch mit einem wieder wachsenden Liebesgefühl für sich, den Partner und die Beziehung einher. Das in diesem Beitrag vorgestellte Modell soll einen Beitrag leisten für eine andere – provokative und Impuls gebende – Form der Paartherapie mit dem Fokus auf die individuelle Sexualentwicklung der Partner.

Differenzierungsmodell als Bezugsrahmen Das hier ausgeführte Verständnis von Sexualität unterscheidet sich grundlegend von gängigen Therapie- und Beratungsmodellen, die sich hauptsächlich auf die Beseitigung sexueller Funktionsstörungen konzentrieren. In den meisten Modellen der Sexualtherapie wird implizit davon ausgegangen, dass die Entwicklung der Sexualität mit der biologischen Reife des Erwachsenseins abgeschlossen ist und es daher höchstens Abweichungen gibt, die als behandlungswürdige Störungen definiert werden. Hier wird dagegen die Entwicklung der Sexualität als ein lebenslanger Lern- und Entwicklungsprozess verstanden, der erst durch Erfahrung, Reflexion und unterstützende fachliche Begleitung eine permanente Reifung und authentische Erfüllung erfährt. Wie jede Entwicklung verläuft auch die Sexualentwicklung wellenförmig und lebenslang über neue Entdeckungen und über das Festigen von bereits Praktiziertem. Symptome der Lustlosigkeit, sexueller Langeweile, aber auch Funktionsstörungen wie Anorgasmie, vorzeitiger Samenerguss oder lähmende Schamgefühle werden hier als Ausdruck eines sexuellen Stillstands definiert, der durch Prozesse der Individuation und partnerschaftlichen Differenzierung überwunden werden kann, um eine authentische sexuelle Variation und Erfüllung zu erreichen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Deshalb stehen in diesem Konzept der Sexualtherapie das (Wieder-)Entdecken bisher ungelebter erotischer und sexueller Impulse, Wünsche und Sehnsüchte im Vordergrund, die die Klienten dabei unterstützen, eine authentische, erfüllte und lustvolle Sexualität zu leben (z. B. Perel, 2006). So betrachtet, wird die sexuelle Entwicklung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung der Klienten verstanden. Dies steht im Einklang mit den Ansätzen, die unter anderem von Ulrich Clement (2008, 2010, 2011), David Schnarch (2009, 2013) und Jean-Yves Desjardin (vgl. Gehrig, 2006) vertreten werden. Während David Schnarch und Ulrich Clement das Hauptgewicht auf die psychische Differenzierung legen, fokussiert Jean-Yves Desjardin (im deutschsprachigen Raum durch das Züricher Institut für klinische Sexologie und Sexualtherapie – ZISS – repräsentiert) die körperliche Differenzierung im Bereich Sexualität. Allen gemein ist das Verständnis, (individuelle) Einzigartigkeit in der Beziehung zu stärken und so die Begegnung mit dem Partner wieder zu erotisieren. Leider wird keine menschliche Fähigkeit in ihrer Entwicklung von den Eltern und der Gesellschaft so wenig unterstützt, begleitet und verstanden wie die der Sexualität. Deshalb kann man auch nicht annehmen, dass Therapeuten nach Absolvierung ihrer Ausbildungen selbstverständlich über die spezifischen Fähigkeiten verfügen, um (in ihrer professionellen Rolle) sexuelle Lust bei ihren Klienten zu steigern. Wenn Therapeuten nicht über diese sexualspezifischen Kompetenzen verfügen, besteht auch im systemischen Ansatz die Gefahr, sexuelle Probleme in Paarbeziehungen als Symptome zu verstehen, die funktional durch Transferieren auf eine andere Ebene gelöst werden können und damit sexuelle Probleme in der Beziehung quasi von selbst zum Verschwinden bringen. Nach Meinung des Autors ist Sexualität vielmehr ein eigenständiges Feld, das auf gleicher Bearbeitungsebene eine Entwicklung und Veränderung bei Klienten fordert. Sexualität drückt sich immer im Körper aus, deswegen muss Körperlichkeit im Hinblick auf Empfindungsvermögen, Genussfähigkeit und Selbstakzeptanz explizit in der Sexualtherapie integriert sein. Die Person des Therapeuten ist aus dieser Sicht zentrales Medium für einen gelingenden Therapieprozess. Nur Therapeuten, die in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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einem intensiven Selbsterfahrungsprozess ihre eigenen sexuellen Grenzen erweitert haben, ohne Hemmungen über alle Aspekte der Sexualität sprechen und diese authentisch leben können, sind in der Lage, ihren Klienten notwendige Freiräume, Orientierung und Unterstützung für deren Wachstumsprozesse zu geben.

Beratungsphasen von Paaren für mehr Lust Im Folgenden wird ein Behandlungsmodell für Paare im Gruppensetting mit maximal sechs Paaren vorgestellt, die unter Lustlosigkeit leiden und in einem Zeitraum von fünf Therapiesitzungen zu je vier Stunden ihre Beziehung erotisieren wollen. Dabei werden in jeder Sitzung sowohl fachliche Impulse gesetzt als auch die Reflexion der Partner zu diesen Impulsen angeregt. Diese sexualtherapeutische Gruppen-Paartherapie schließt dann mit einer Paar-Einzelsitzung ab. Die nachfolgende Beschreibung fokussiert die Interventionsrichtungen aus Sicht des Therapeuten. Diese sind eher als Orientierungsleitlinien denn als konkretes Programm zu verstehen. Ebenfalls wird fast vollständig darauf verzichtet, methodische Erläuterungen zur Steuerung des Gruppenprozesses zu geben. Entscheidend ist, den Paaren Freiräume für eine andere Sexualität anzubieten, ohne diese in normativer Hinsicht einzuengen. Insofern grenzt sich der Autor entschieden von verhaltenstherapeutischen Konzepten der konkreten Übungs- sowie Hausaufgabenverschreibung ab, die das Ziel haben, Paare zum Zweck einer anderen Sexualität zu funktionalisieren. Wenn Paare auf Grundlage dieser paartherapeutischen Behandlung entscheiden, ihre bisherige Sexualität lieber beizubehalten oder sogar weiter zu reduzieren (zumindest auf Paarebene), bewertet der Autor auch dies als angemessenen Reifungsschritt und Therapieerfolg. Auswahl der Teilnehmer für die Paar-Gruppentherapie

Mittels telefonischer Vor-Interviews wird geprüft, ob die interessierten Paare geeignet sind, an diesem Behandlungskonzept teilzunehmen. Voraussetzung ist, dass neben der Sexualität keine weiteren tiefgreifenden Konflikte vorhanden sind, die erhebliche Trennungsgedanken bei den Partnern entstehen lassen. Wenn dies der Fall ist, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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muss zuerst eine Klärung hinsichtlich der Fortführung der aktuellen Beziehung stattfinden. Eine zweite Voraussetzung ist, dass beide Partner an einer Veränderung ihrer Sexualität interessiert sind, auch wenn dies in einem (stark) unterschiedlichen Ausmaß vorhanden sein kann. Sexuelle Funktionsstörungen bei einem oder gar beiden Partnern stellen keinen Hinderungsgrund für die Teilnahme an diesem Programm dar. Entpathologisierung von Lustlosigkeit

In der ersten Sitzung geht es darum, die Paare zu entlasten, indem ausführlich dargestellt und begründet wird, dass sexuelle Lustlosigkeit nach einigen Jahren der Beziehung ein nicht nur normales, sondern vielmehr ein zwangsläufiges Phänomen ist, das in etwa folgendermaßen verstanden werden kann: Weil Sexualität in der Zeit des Kennenlernens und des Sichverliebens stark von Erwartungsspannung und Sehnsucht getrieben ist, funktioniert Sex quasi von selbst oder die beiden Individuen kommen erst gar nicht als Paar zusammen. In dieser Zeit handeln beide ihre Sexualität meist nonverbal miteinander aus und konstruieren damit den Möglichkeitsrahmen der sexuellen Begegnungen in dieser Beziehung. Diese Zeit der Paarfindung ist nach dem Konsensprinzip aufgebaut. Damit sich eine stabile Beziehung bilden kann, werden vor allem Gemeinsamkeiten gesucht und gefunden, diese bilden das Gerüst der beginnenden Paarbeziehung. Auf den Bereich der Sexualität bezogen bedeutet dies, dass beide Partner – um die noch fragile Beziehung nicht zu gefährden – nur den Teil von Sexualität miteinander leben, der auch vom Partner als angenehm und lustvoll signalisiert wird. Der Verzicht auf die Umsetzung individueller, darüber hinausgehender oder sogar diskrepanter sexueller Wünsche wird in dieser Zeit (noch) nicht als einschränkend wahrgenommen, da die Paarbildung als wichtiger empfunden wird als maximaler sexueller Genuss. Mit der Etablierung der Paarbeziehung und der Gewöhnung aneinander beginnt die typische »Beziehungsarbeit«, in der neue Aushandlungen getroffen werden, um sich als Individuum in der Paarbeziehung besser wiederzufinden. Dabei werden (meist kalkulierte) Risiken zur Steigerung der Beziehungsreife eingegangen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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und führen zu den typischen Konfliktbildungen bei Paaren. Davon ausgenommen ist jedoch sehr oft der Bereich der Sexualität, da ein In-Frage-Stellen dieses Bereichs als besonders belastend für das Selbstwertgefühl und die Beziehungsstabilität eingeschätzt wird. Die meisten Paare »rütteln« lieber nicht am bisher bestens bewährten und Sicherheit stiftenden Modus gemeinsamer Sexualität, obwohl in anderen Bereichen über die Jahre längst viele Reifungsschritte gelungen sind. Paradoxerweise entsteht so aus dem übermäßigen Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung ein sexueller Stillstand, der sich schließlich in individuellem Leidensdruck und sexueller Langeweile äußert. In der Folge reduzieren die Partner ihre Sexualkontakte und können dies über vielfältige familiäre, berufliche und individuelle Verpflichtungen plausibilisieren. Nach einiger Zeit wird dieser Zustand jedoch zumindest für einen Partner unerträglich, so dass entweder Außenbeziehungen gesucht werden oder die gemeinsame Sexualität kritisch thematisiert und dabei meist stark abwertend thematisiert wird. Beide Formen dieser Problemlösung führen jedoch nicht gerade zu einer Bereicherung der Sexualität auf Paarebene. Das Aufsuchen einer sexualtherapeutischen Behandlung für Paare ist so als Versuch der Beteiligten zu verstehen, sich aus den lähmenden Fesseln des sexuellen Stillstands zu lösen, und stellt damit bereits einen ersten Schritt zur Problemlösung auf dem Weg zum nächsten Reifungsschritt dar. Dieser in der ersten Sitzung von den Paaren reflektierte Bezugsrahmen soll die Motivation für mehr Lust und Wachstum bei den Klienten stärken und diese für die zweite Sitzung motivieren. Den Partner und sich selbst »ent«-schuldigen

In der zweiten Sitzung geht es darum, den vorhandenen Leidensdruck der Paare zur Sprache zu bringen. Aufgestaute sexuelle Frustrationen, Aggressionen und Verletzungen sollen thematisiert werden, um die Relevanz dieses Themas hervorzuheben. Damit wird zum einen die Sprachfähigkeit der Partner im Bereich Sexualität gefördert, zum anderen wird der Druck der Beteiligten abgebaut, in dem bisher Ungesagtes formuliert und damit schließlich losgelassen werden kann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Ein zweites Ziel dieser Sitzung ist, die Verantwortung für die unbefriedigende sexuelle Situation zu depersonalisieren. Weder der Partner noch der Klient selbst sind »böse« oder »unfähig«, vielmehr ist die Sorge und Angst vor einer möglichen Zerstörung der bestehenden Beziehung »schuld« daran, bisher nicht die Risiken eingegangen zu sein, die für eine Entwicklung der eigenen und partnerschaftlichen Sexualität förderlich wären. Somit werden die Partner aufgefordert, bisherige Frustrationen hinter sich zu lassen und sich stattdessen besser auf Experimentierfreude und Neuentdeckungen in punkto Sexualität einzulassen und sich auf eine Entwicklungsreise zu sich selbst und zum Partner zu begeben. Eigene körperliche Sexualität erforschen

Der Fokus der dritten Sitzung liegt darauf, sich mit der eigenen körperlichen Sexualität zu beschäftigen. Die Teilnehmer nehmen eine strukturierte Selbstdiagnose ihrer Sexualität und ihrer körperlichen Reaktionsmuster vor. Ansatzpunkte hierfür sind unter anderem: ȤȤ Wie nehmen die Teilnehmer ihren angeborenen sexuellen Erregungsreflex wahr und wie empfinden sie diesen? ȤȤ Wie verläuft ihre körperliche Erregungs- und psychische Lustkurve im Rahmen von Selbstbefriedigung und partnerschaftlicher Sexualität? ȤȤ Wie bringen sie sich zum Orgasmus und wie können sie diesen steuern? ȤȤ Wie nutzen sie im sexuellen Erleben und in der sexuellen Begegnung Variationen in Rhythmus, Raum, Tonalität und Verbalität? Mit dieser Selbstdiagnose wird beabsichtigt, die Wahrnehmung der Teilnehmer auf ihre eigene gelebte und bisher ungelebte Art von Sexualität zur fokussieren. Sie erkennen, wie unterschiedlich Menschen im Bereich der Sexualität empfinden und agieren, dass »sexuelle Identitäten« sehr variantenreich sein können. Und sie verstehen, dass es in der Tat eine wirkliche Herausforderung darstellt, mit dem Partner eine größtmögliche Übereinstimmung im Bereich Sex zu erzielen. Idealerweise ist damit bereits der Boden bereitet, damit Partner sich über ihr individuelles Sexualerleben und ihre © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sexuellen Wünsche mit weniger Hemmungen auf Basis einer Entwicklungsperspektive austauschen. Die Teilnehmer werden aufgefordert, bis zur nächsten Sitzung mittels Selbstbefriedigung und/oder partnerschaftlichem Sex zu überprüfen, ob ihre vorgenommenen sexuellen Selbstdiagnosen tatsächlich mit ihren formulierten Aussagen übereinstimmen und welche zusätzlichen Lustaspekte eventuell auftauchen, damit sie sich in diese Richtung weiterentwickeln können. Sexuelle Entwicklungswünsche und Fantasien definieren

Unter dem Motto »Ist das denn erlaubt?« werden die Teilnehmer aufgefordert, über ihre Erfahrungen zu berichten. Dabei wird unterschieden zwischen Bestätigungen der Selbstdiagnose und Überraschungen/Erweiterungen. Vom Therapeuten wird insbesondere vermittelt, dass eine experimentierende Haltung mehr Potenziale erschließt als eine (von Angst getriebene) Komforthaltung, die nur Bewährtes zulässt. Damit soll auch die Frustrationstoleranz der Teilnehmer gestärkt werden, wenn sie neue Erfahrungen mit sich oder ihrem Partner machen und dies nicht (gleich) als lustvoll erleben. Die Verarbeitung von Frustrationen (wie auch die durch Ausprobieren »geplatzter« erotischer Fantasien) gehört zum sexuellen Wachstumsprozess dazu und stärkt ebenfalls die Identität der Klienten und die Differenzierung auf Paarebene. Im zweiten Teil dieser Sitzung werden auslösende Faktoren für sexuelle Stimulation eruiert. Hier wird das systemische Wechselspiel zwischen Fantasie und körperlichem Lustempfinden thematisiert inklusive der Fragestellung, welche Fantasien »man haben darf« und welche vor sich selbst oder für den Partner verboten sind. Die Thematisierung »anmachender« Fantasien findet vorzugsweise in zwei parallelen Gruppen statt, damit die Beziehungspartner sich frei von ihren bereits konstruierten Partnerschafts-Wertenormen artikulieren und Ideen generieren können, indem sie Fantasien anderer Teilnehmer erfahren und für ihr Verhaltensspektrum adaptieren können. In der gemeinsamen abschließenden Reflexionsrunde äußern sich die Teilnehmer nicht inhaltlich, sondern nur, ob sie das eben Erlebte in punkto Sexualität bereichert oder eher abgeschreckt hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Sexuelle Unterschiede als Bereicherung in der Beziehung »wahr«-nehmen

In der gemeinsamen Abschlusssitzung geht es darum, Unterschiede hinsichtlich sexueller Wünsche als Möglichkeit zur Bereicherung der eigenen Sexualität zu verstehen und nicht als »bedrohlich« wahrzunehmen. Hierzu werden analog zur Fisch-Bowl-Technik ein Innenund ein Außenkreis gebildet. Zuerst gehen die Frauen in den Innenkreis und die Männer im Außenkreis hören zu, danach werden die Rollen getauscht. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren wird der eher männliche Part den Männern und der eher weibliche Part den Frauen zugeordnet. Die Personen im Innenkreis unterhalten sich über ihre sexuellen Erfahrungen im Zeitraum dieser Gruppen-Sexualtherapie, während die Personen im Außenkreis nur zuhören. Dabei sollen im Innenkreis sowohl positive wie enttäuschende Erfahrungen in Bezug auf neue Praktiken und das Ausleben von Fantasien ausgedrückt werden. Ebenfalls geäußert werden sollen noch unerfüllte Wünsche sowie Wertschätzung hinsichtlich der bereits länger praktizierten sexuellen Erfahrungen mit dem Partner. Auf diese Weise können sich die Teilnehmer geschlechtstypische Wünsche und Einstellungen des anderen Geschlechts aneignen, ohne Stellung hierzu beziehen zu müssen. In der nächsten Einheit dieser Sitzung haben die Paare die Aufgabe, sich (ohne Zuhörer) darüber zu auszutauschen, was sie beim Sex anmacht und abtörnt und wodurch ihr sexueller Erregungsreflex in alltäglichen Situationen ausgelöst werden kann (Bilder, Worte, Berührungen). Sie erhalten vom Therapeuten die Idee, mit dem Partner ein Signal zu vereinbaren, dass es diesem ermöglicht, sexuelle Lustbereitschaft des anderen leichter zu erkennen, damit beide »so viel Sex miteinander haben können, wie sie eigentlich wollen«. Zum Abschluss des Gruppensettings weist der Therapeut auf die Gefahr des Funktionalisierens von Sexualität in der Beziehung hin. Ebenso wie sexueller Missbrauch ist auch der »Missbrauch von Sexualität« zu verurteilen. Dieser findet immer dann statt, wenn Sexualität in der Paarbeziehung zur Durchsetzung anderweitiger Interessen gewährt oder verweigert wird. Sexualität als eine Ausdrucksform persönlicher Identität sollte nicht funktionalisiert werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Abschlusssitzung im separaten Paarsetting

Jedes Paar erhält im Rahmen dieses Programms zum Abschluss eine separate Paarsitzung. So soll den individuellen Bedürfnissen der Paare Rechnung getragen werden, indem parallel aufkommende Paarthemen jenseits der Sexualität sowie bisher ungelöste Aushandlungsfragen zur gemeinsamen Sexualität thematisiert werden können. Häufig haben Paare, begleitet durch einen höheren Grad an Intimität während dieses Programms, auch auf anderen Feldern Probleme bzw. Entwicklungsbedürfnisse, die sie, eventuell auch mittels therapeutischer Begleitung, nutzen möchten. Ebenfalls werden häufig Klärungen zur gemeinsamen Sexualität notwendig, die im Rahmen von fünf Sitzungen nicht ausreichend thematisiert werden konnten. Insbesondere Bedürfnisse und Wünsche auf den Themengebieten Selbstbefriedigung, homoerotische Fantasien und Neigungen sowie Sexualität außerhalb der Beziehung können Grundüberzeugungen der Partner erschüttern und erfordern häufig eine individuelle Bearbeitung. Auch kommt es vor, dass (meist) Frauen Probleme damit haben, sich selbst als lustvolle Person zu definieren, ohne sich deshalb als Prostituierte zu empfinden. Dieser Konflikt wird häufig durch Abwehr eigener sexueller Impulse gelöst und verhindert damit natürlich eine lustvolle Sexualität auf Paarebene. Neben einer Veränderung dieser Annahme ist es auch oftmals nötig, mit gezielten Körperübungen einen besseren Kontakt zum eigenen Körper, seinen Empfindungen und sexuellen Impulsen zu trainieren. In diesem Fall sind auch anschließende Einzelsitzungen möglich. Bei Männern geht es dagegen häufig darum, sich als lustvoll erleben zu können und Sexualität nicht nur auf (den richtigen Zeitpunkt) des Orgasmus zu reduzieren. Auch hier können Körperübungen im Einzelsetting diesen Prozess unterstützen.

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Literatur Clement, U. (2008). Guter Sex trotz Liebe: Wege aus der verkehrsberuhigten Zone. Berlin: Ullstein. Clement, U. (2010). Wenn Liebe fremdgeht: Vom richtigen Umgang mit Affären. Berlin: Ullstein. Clement, U. (2011). Systemische Sexualtherapie (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Gehrig, P. (2006). Das Konzept des Sexocorporel nach Texten von J.-Y. Desjardins und D. Chatton. Zugriff am 08. 10. 2013 unter http://www.ziss.ch/sexocorporel/ Sexocorporel-Grundlagen.pdf Perel, E. (2006). Wild Life – Die Rückkehr der Erotik in die Liebe. München: Pendo. Schnarch, D. (2009). Die Psychologie sexueller Leidenschaft. München: Piper. Schnarch, D. (2013). Intimität und Verlangen: Sexuelle Leidenschaft in dauerhaften Beziehungen. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Paare in Bewegung »Jedes Wort, jedes Wesen klopft an deine Tür, um dir sein Rätsel zu überbringen. Wenn du es einläßt, wird es dich mit seinem Reichtum überschwemmen.« Irénée Guilane Dioh

Paare … … sie wissen nichts voneinander, sie sehen sich, sie begegnen sich, sie treten in Kontakt, sie berühren sich, sie vereinigen sich, sie tanzen zusammen, sie spielen zusammen, sie vermehren sich, sie distanzieren sich, sie setzen sich auseinander, sie trennen sich … und vielleicht begegnen sie sich wieder, da sie sich ja schon einmal kannten! Bewegte Paare – ein Bewegungsspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Oben und Unten, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Hingabe und Flucht, zwischen Autonomie und Abhängigkeit, zwischen Liebe und Hass, zwischen Geben und Nichtnehmen, Nichtgeben und Nehmen, Nehmen und Geben … Es gibt so viele Formen, ein Paar(er)leben zu gestalten, dass uns eine Definition, was eigentlich ein Paar ist, nicht möglich erscheint: multikulturelle Paare, heterosexuelle Paare, homosexuelle Paare, Paare zusammen und getrennt lebend, verheiratet, hassend, liebend, mit kleinen und großen Altersunterschieden, dicke und dünne, unterschiedliche Schichtzugehörigkeiten, arbeitende und nicht arbeitende, Zweckgemeinschaftspaare, Elternpaare … diese Liste ließe sich unendlich fortführen. Im Laufe der vielen Jahre unserer Paartherapiepraxis hat sich unsere Art und Weise, unsere Haltung, mit Paaren zu arbeiten, gewandelt. Schienen uns zu Beginn viele Interventionen und intensive »Diagnostiken« sehr wesentlich, so haben wir erfahren müssen, dass wir nur in sehr geringem Maß die Selbstorganisation eines Paares bzw. der jeweiligen Partner beeinflussen können. »Die Selbstorganisation lebender Systeme weist […] darauf hin, dass vor allem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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die innere Selbstorganisation des Individuums letztendlich bestimmend für sein Erleben ist« (Weber, 2006, S. 21). Aber nicht nur das. Auch schienen uns viele Arten der Paarbeziehung fremd, weil sie nicht unserem persönlichen Paarhorizont entsprachen und wir uns nicht sicher waren, inwiefern wir mit unseren Erfahrungen hilfreich sein konnten. Heute verstehen wir uns mehr als Begleiter, die den Paaren Zeit und Raum geben, sich selbst neu oder anders zu erfahren, zu erleben und daraus die eigenen Rückschlüsse oder Verhaltensänderungen zu ziehen bzw. zu machen. Man könnte auch sagen, wir sind auf eine gewisse Art und Weise »reduzierter« geworden. Wir warten und lassen mehr entstehen anstelle von intervenierendem Aktionismus. Warten bedeutet aber nicht »nichts tun« – Bewegung kann auch in einem Raum der Stille stattfinden, innere Bewegung, die sich dann auch im Außen zeigen kann. Wenn Paare zur Therapie oder Beratung kommen, haben sie sehr häufig schon eine Paargeschichte miteinander geteilt. Sie kommen dann in einem Status quo, sich voneinander entfernt zu haben oder erstarrt zu sein. Von der anfänglichen Bewegung miteinander und aufeinander zu sind sie dann eher in einem Modus, sich beid- oder einseitig voneinander wegzubewegen. Es ist meist nicht diese Bewegung an sich, die die Paarirritationen verursacht, sondern die Interpretation dessen, die individuelle Bedeutungsgebung. Voneinander weg zu sein kann ja auch durchaus hilfreich und unterstützend für zukünftige Entwicklungen sein. Damit beschreiben wir aus konstruktivistischer Sicht auch gleichzeitig unser Angebot, nämlich dem Paar wieder die Möglichkeit zu eröffnen, sich in viele Richtungen zu bewegen, ohne dies zu bewerten. Den Spielraum wieder zu erweitern und sich (wieder) neu kennen zu lernen, ist dabei zielführend. Hierfür kann ein Ebenenwechsel hilfreich sein. Paare haben sehr eingeübte Kommunikationsmuster, die sie immer wieder abspulen. In diesen Schleifen entsteht nichts Neues, im Gegenteil, es verfestigt die altgewohnten Strukturen. »Das Aufspüren von ungenutzten Ressourcen und die Suche nach der Ablösung hinderlicher Beschreibungen durch förderliche zeichnen den Weg von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft des Paares« (Wirth u. Kleve, 2012, S. 300). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Indem wir den Paaren Raum und Zeit zum Erfahren, zum Explorieren anbieten, der sich auch nichtsprachlich ausgestaltet, unterbrechen wir die endlosen sich wiederholenden, häufig auch vorwurfsvollen Rede- bzw. Vorwurfsschleifen.

Unser Blick Unser Ansatz ist vom Grundsatz her ein konstruktivistisch-systemischer. Dies spiegelt sich vor allem in unserer Haltung der Wertschätzung für die zu diesem Zeitpunkt bestmögliche Lösung des Paares wider. Wir gehen davon aus, dass jedes Paar das Potenzial in sich trägt, um die Paarbeziehung bestmöglich zu gestalten (wenn es überhaupt darum geht). Dabei spielen sowohl die zu den jeweiligen Partnern gehörende individuelle Biografie, die Paargeschichte als solche wie auch der Kontext, in dem diese gelebt und die Geschichte erzählt wird, eine wesentliche Rolle. Unser Blick ist nicht nur ausschließlich auf den interaktionellen Teil, also das in Wechselseitigkeit entstehende Verhalten gerichtet, sondern auch auf das Individuum mit seinen Einstellungen, Werten und Haltungen als auch der Verantwortung für die eigenen Bewegungen innerhalb des Paarkontextes. Dies bedeutet anstelle von »der andere, der nicht das macht, was ich möchte; der andere, der nicht so aussieht, wie ich es mir vorstelle; der andere, der mich verletzt; der andere, der mir den Wunsch nicht erfüllt; der andere, der mich betrügt oder mich zu viel liebt etc.« einzuladen, den Fokus auch auf die eigenen Veränderungsmöglichkeiten zu legen. Mit diesem konstanten Blick auf bzw. inneren Monolog über den anderen kann eine »Selbstentfremdung« stattfinden. Das Glück kann sich nicht mehr allein entfalten, Zufriedenheit wird abhängig vom anderen. Dies bedeutet nicht, dass völlige Autonomie möglich ist oder sogar erwünscht wäre, dennoch bleibt die Selbstregulierung und Selbstverantwortung für das eigene Lebensglück bei jedem Einzelnen. Schauen wir auf die Bewegung einer Paarbeziehung, so startet sie in den meisten Fällen mit einer sich aus der Distanz annähernden Bewegung, die in einem engen Miteinander mündet, sich weiterentwickelnd in ein Spiel zwischen Nähe und Distanz. Durch vielfältige © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Einflüsse, interne wie auch externe, Entscheidungen oder neue Sichtweisen, wird die Bewegung des Paares ungeschmeidiger, entfernt sich voneinander oder erstarrt bis zu einem Punkt, an dem beide die Paarbeziehung nicht mehr so deutlich spüren können. Diese Bewegung voneinander weg muss sich nicht immer im Äußeren widerspiegeln, viele Paare können äußerlich eine intakte Paarbeziehung spiegeln, während sie sich innerlich weit voneinander entfernt fühlen – ihr Schein (be-)trügt. Ob es die schon äußerlich sichtbar gewordene Distanz ist oder die innere, an diesem Bewegungspunkt entscheiden sich Paare häufig, Unterstützung von außen zu holen.

Das Begleitsystem Als Begleiter/Berater in einem Paarprozess haben wir mehrere kybernetische Ebenen zu beachten: ȤȤ ich als Begleiter/Berater; ȤȤ ich als Begleiter/Berater und Teil der Triade; ȤȤ ich in meinen jeweiligen Beziehungen zu den jeweiligen Partnern; ȤȤ ich als Begleiter/Berater für das Paar; ȤȤ ich als Begleiter/Berater in meinem Kontext, in dem die Beratung stattfindet. Die Reflexion und die Bildung von Hypothesen auf jeder Ebene entfaltet eine Vielzahl an differenten Denk- und Fühlweisen über das System und den Prozess. Jede dieser Ebenen ist wiederum zu betrachten auf der ȤȤ emotionalen, ȤȤ physischen, ȤȤ kognitiven und auf der ȤȤ Handlungsebene. Die hohe Komplexität der Triade und die unterschiedlichen kybernetischen Ebenen stellen einige Fallen für den Berater bereit: ȤȤ Verführung zur Parteilichkeit einerseits und Koalition andererseits; ȤȤ eigene Themen, die sich mit dem Kontext Paartherapie vermischen; © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ in das Paarsystem hineingezogen zu werden (Koalitions- und Triangulationsgefahr); ȤȤ Paardynamiken sind sehr komplex und nicht leicht zu verstören (El Hachimi u. Stephan, 2012, S. 302). Je achtsamer ein Paarberater oder eine Paarberaterin ist, je mehr Präsenz er oder sie in jedem Moment bereitstellen kann, umso mehr ist es möglich, das, was gerade in Raum und Zeit entsteht, wahrzunehmen und für die Entwicklung des Paares bereitzustellen. Voraussetzung hierfür ist die Herz-Geist-Körper-Synchronisation des Beraters. In dieser Synchronisation oder auch Zentrierung kann der Berater mit all seiner Aufmerksamkeit sowohl bei sich selbst als auch bei dem Paar sein. Er hört nicht nur mit den Ohren zu, sondern öffnet all seine Sinne (das Riechen, das Schmecken, das Beobachten, das Hören, das Spüren und Fühlen), seine Intuition, seinen Körper und sein Herz, um das Paar in seiner emotionalen, kognitiven und körperlichen Bewegung annähernd zu erfassen. Die dadurch entstehenden Resonanzen nimmt der Berater wahr und kann sie entsprechend gefiltert und fokussiert dem Paar für seinen Entwicklungsprozess zur Verfügung stellen. Um diese Fähigkeit zu erlangen, bei sich und beim anderen zu sein, kann Achtsamkeit und die daraus resultierende Entschleunigung unterstützend sein.

Achtsamkeit Achtsamkeit ist die auf den Moment gerichtete absichtslose Aufmerksamkeit, die nicht bewertend ist. Der Geist, der Körper und alle Sinne sind in diesem Moment präsent. Diese Form der entspannten Wachheit ermöglicht es, gelassen wahrzunehmen, nirgendwohin zu wollen, kreativ zu sein und das eigene Herz zu spüren, sich als Berater so anzunehmen, wie man ist. Es ist schwer, mit einem angespannten Geist und Körperzustand Kreativität abzurufen, genauso wie beim Multitasking (ich höre zu und denke auch über den nächsten Schritt nach) die Qualität einer Handlung leidet. Bin ich als Berater zu sehr damit beschäftigt, was ich als Nächstes fragen oder tun möchte, oder ob ich gut bin oder nicht, ob mich das Paar mag oder nicht, bin ich nicht mehr im Kontakt mit mir und dem Paar und verpasse womög© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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lich wichtige Hinweise. Wie schon vielfach untersucht und bewiesen, ist gerade der Kontakt, die Beziehungsebene zum Paar, wesentlicher Garant für einen konstruktiven gemeinsamen Prozess. Achtsamkeit bedeutet aber auch, achtsam mit dem Paar umzugehen, die Wertschätzung zu zeigen, um gleichzeitig auch ein Modell zur Verfügung zu stellen, wie achtsames Miteinander sein kann. »Eine wertvolle Begegnung ist daher immer eine Begegnung, innerhalb derer ich die Zeit habe, mir in einer liebevollen Weise selbst zu begegnen« (Wienands, 2005, S. 180). Regelmäßige Achtsamkeitsübungen unterstützen den Berater sowohl darin, sich selbst zu zentrieren, den Geist zu beruhigen und das Herz zu öffnen als auch die Selbstbeobachtungsfähigkeit zu stärken und zu verbessern. Wir haben den Paaren sehr häufig zu Beginn der Sitzungen Achtsamkeitsübungen angeboten, zum einen, um den Übergang von »draußen nach drinnen« deutlich zu markieren, um jedem Einzelnen Zeit zu geben zu erforschen, wie der eigene Status quo gerade ist, aber auch, um dem Paar zu ermöglichen, in Stille eine andere Form der Begegnung zu erleben. Übung: Ein achtsamer Einstieg Wir haben das Paar (und uns selbst auch) gebeten, sich aufrecht auf den Stuhl zu setzen, die Augen zu schließen, die Hände entspannt auf die Oberschenkel zu legen und beide Füße flach auf den Boden zu stellen, die Knie etc. hüftbreit auseinander: –– »Nehmen Sie Ihren Atem wahr. Spüren Sie, wie der Atem in den Körper strömt und wieder ausströmt. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Atem. Bleiben Sie einige Atemzüge dabei.« –– »Nehmen Sie Ihren Körper wahr: Wo erleben Sie ein Wohlgefühl, wo erleben Sie Spannungen? Welche Körperregionen haben Sie heute im Blick? Zu welchen haben Sie eher schwerer Zugang? Welche Farbe würde heute Ihre Körperempfindungen widerspiegeln?« –– »Nehmen Sie Ihre Gedanken wahr. Was beschäftigt Sie besonders? Welche Art von Gedanken begleiten Sie jetzt besonders?

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Sind es konstruktive Gedanken oder destruktive, Gedanken über sich selbst, über andere, Gedanken über die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?« –– »Nehmen Sie Ihre Gefühle wahr. Wie geht es Ihnen gerade jetzt? Welche Gefühle, Stimmungen sind jetzt gerade da? Können Sie diese in Worte fassen? Wo genau spüren Sie diese?« Anschließend tauscht sich das Paar über seine Erfahrungen aus.

Diese kleine Achtsamkeitsübung unterstützt auch den Berater, im Hier und Jetzt anzukommen und sich auf die Paarsituation einzustellen. Wir haben diese kleine Übung auch öfters während einer Sitzung angewendet, wenn wir den Eindruck hatten, dass das Paar sich in altbewährten Negativschleifen befindet.

Mögliche Settingkonstellationen Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass Settingkonstellationen einen wesentlichen Einfluss auf den Paarprozess haben. Die Art und Weise, wie das Paar sich erfährt, kann durch das Setting unterstützt werden. Man könnte bekanntlich sagen, dass jedes Setting eine Intervention darstellt. Das Paar kann sich folgendermaßen positionieren: ȤȤ nebeneinander (wie weit auseinander?), ȤȤ Rücken an Rücken, ȤȤ gegenüber (wie weit auseinander?), ȤȤ oben (stehend) und unten (sitzend). Es ist hilfreich, immer wieder zu überprüfen, wie weit (oder wie nah) auseinander das Paar sitzen möchte. Dasselbe gilt für den Berater. Es gilt zu überprüfen, welche Distanz zum Paar eine angemessene für jetzt, für diesen Moment ist. Der Dialog über diesen Abgleich ist immer wieder für das Paar und den Berater interessant und aufschlussreich und kann zur Sensibilisierung eingeführt werden: ȤȤ Wie weit erleben Sie derzeit Ihre Beziehung voneinander entfernt? (Stellen Sie entsprechend die Stühle oder sich selbst so hin.) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Wie ist die Blickrichtung/Körperhaltung? Was sagt das Herz/der Körper? Welche Gefühle sind da? Welche Gedanken? ȤȤ Was oder wer steht dazwischen? ȤȤ Wie sieht das Dazwischen aus? Welche Farbe hat es? Wie groß ist es? ȤȤ Was müsste als Erstes mit dem Dazwischen passieren? Was braucht es? Wozu könnte es hilfreich sein, es noch eine Weile zu pflegen? Für wen von den Partnern ist das Dazwischen das größere Problem, für wen weniger? ȤȤ Wie erleben die sozialen Kontakte das Dazwischen? ȤȤ Wann ist das Dazwischen nicht da? Gibt es Ausnahmen? ȤȤ Was/wer zieht von außen/hält fest? Wie genau sieht das aus? Welche Farbe, Töne, Sätze lassen sich zuordnen? ȤȤ Wenn das Dazwischen oder auch das, was von außen zieht/hält weg wäre, was wäre dann stattdessen? ȤȤ Was denken Sie, wie weit der Berater von Ihnen weg sitzen sollte? Was macht den Unterschied aus, wenn er näher, weiter weg sitzen würde? Welchen Einfluss hätte das auf das gemeinsame Kommunikationsverhalten? Manchmal kann es aber auch unterstützend sein, das Setting zu bestimmen. Dies ist als Intervention zu verstehen und hat weitreichende Auswirkungen. Es kann hilfreich sein, bei Paaren, die sehr schnell auf redundante und festgeschriebene körpersprachliche Reaktionen des Partners frustriert oder ärgerlich reagieren, das Paar Rücken an Rücken zu setzen, um das Visuelle zu reduzieren und das Zuhören zu fördern. So hat jeder Partner die Möglichkeit, mit dem Berater, der sich jeweils einem der Partner zuwendet, ungestört zu kommunizieren. Ganz anders ist die Intention, wenn die Partner sich gegenüber hinsetzen sollen. Hier geht das Paar in einen intensiven Dialog, schaut sich an, der Berater tritt in den Hintergrund. Es ist immer wieder zu überprüfen, auch während einer Sitzung, welche Settings geeignet scheinen, um somit auch auf dieser Ebene in Bewegung zu bleiben und die Vielfalt an Möglichkeiten aufzuzeigen.

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Metaphern in Bewegung Nach dem Motto »Der Körper lügt nicht« oder »Eine körperliche Geste sagt mehr als tausend Worte« bieten wir gern an, Metaphern des Paares in Bewegung zu übersetzen. Metaphern werden in der Kommunikation häufig da gebraucht, wo eine genaue Beschreibung nicht greifen kann. Dies trifft vor allem auf körpernahe Empfindungen zu, sprich Gefühle, die über die Metaphern ihren Ausdruck finden (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2012). »[D]ie Aktivierung innerer Bilder und kinästhetischer Prozesse […] sowie das Nutzen von Raum und Zeit« (Weber, 2006, S. 10) erweitern als erlebnisorientierte Interventionen die emotionalen und interaktionellen Ressourcen des Paares bzw. des Individuums. Sie: »Wenn P. abends nach Hause kommt, dann möchte er seine Ruhe haben. Er sieht nicht und fragt nicht nach, was ich den ganzen Tag gemacht habe.« (sie haben drei Kinder) Er: »Ich arbeite hart den ganzen Tag und wenn ich nach Hause komme, brauche ich mal einen Moment Ruhe, um zu mir zu kommen, aber da kommen gleich die Vorwürfe.« Sie: »Manchmal bitte ich meinen Mann, dass er entweder den Abendbrottisch deckt oder mal endlich mit unserem Großen Mathe übt. Aber ich laufe da ja sowieso gegen eine Wand, immer wieder laufe ich dagegen und komme nicht durch.« Berater: »Frau Sch., wie sieht diese Wand denn aus?« Sie: »Aus Stahl, leicht angerostet, hoch, unendlich hoch, da komme ich nicht gegen an, egal wie ich mich anstrenge.« Berater: »Möchten Sie mal aufstehen und stellen Sie sich vor, da hinten die Wand würde so aussehen, wie Ihre beschriebene Stahlwand … und Sie laufen dagegen. Wollen Sie das mal probieren? Wie genau laufen Sie drauf zu und was passiert dann?« Sie: »Ich bin früher immer dagegen gelaufen und habe mir so oft wehgetan, dass ich eigentlich jetzt nicht mehr laufen will, fällt mir gerade auf.« Berater: »Was könnten Sie anders tun?« Sie: »Ich könnte mal langsam auf die Wand zugehen.« Berater: »Probieren Sie es aus.«

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(Sie geht langsam auf die Wand zu, geht einige Schritte wieder zurück.) Berater: »Experimentieren Sie weiter mit der Distanz zu dieser Wand. Welche Richtungen könnten Sie noch ausprobieren?« (Frau Sch. wird zunehmend leichter in ihrem Gang, sie fängt an, mit der Wand und den Richtungen zu spielen, manchmal dreht sie sich weg und entfernt sich von der Wand.) Berater: »Wie geht es Ihnen?« Sie: »Besser, es ist, als ob ich wieder bestimmen kann, wie ich mit der Wand umgehen kann.« Berater: »Spielen Sie weiter. Herr Sch., wenn Sie so Ihre Frau beobachten, wie geht es Ihnen dabei?« Er: »Erst dachte ich, schon wieder diese Leier mit der Wand, das habe ich mir schon so oft angehört, da entsteht bei mir auch eine Wand. Wenn ich meine Frau aber jetzt sehe und die Möglichkeiten, dann denke ich, dass ich auch flexibler sein könnte, und vielleicht würde es uns das Leben leichter machen.« Berater: »Stehen Sie doch auch mal auf. Wenn wir zwischen Ihnen mal diese Wand visualisieren und Sie beide weit auseinanderstehen und diese Wand zwischen Ihnen steht, was und wie könnten Sie sich damit anders bewegen?« Sie: »Ich habe es grad schwer, diese Wand zu spüren. Wenn ich in Bewegung bleibe, dann wird es in mir nicht so starr.« (Er probiert seine ersten Schritte aus, sie fangen an, sich aufeinander zu, voneinander weg, miteinander, gegeneinander zu bewegen. Sie lachen. Es scheint ihnen Spaß zu machen. Nach einer Weile bittet der Berater sie, wieder Platz zu nehmen und anhand der Stühle aufzuzeigen, wie nah bzw. wie weit entfernt sie sich jetzt gerade voneinander entfernt fühlen.) Sie: »Ich habe mich schon lange nicht mehr so gespürt, das tut gut.« Er: »Ich weiß noch nicht so genau. Dennoch sehe ich irgendwie meine Frau mal anders. Besser.« Berater: »Was könnte das, was Sie eben ausprobiert haben, für die Situation zu Hause, wenn Sie von der Arbeit kommen und Sie den ganzen Tag zu Hause gearbeitet haben, bedeuten?« Sie: »Ich muss nicht gleich diese Wand aufbauen. Ich kann meinem Mann eigentlich die zehn Minuten Ruhe geben, vielleicht kann ich mir sogar auch zehn Minuten Ruhe gönnen.«

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Metaphern wie »gegen die Wand rennen« werden immer wieder in dem Beratungsprozess von dem Paar benannt. Sehr häufig eignen sich diese Metaphern für eine körperlich-räumliche Umsetzung, weil sie so bildhaft und klar sind. Manchmal kann man diese Metaphern aber auch für eine Trance nutzen und das Paar auf eine Bilderreise schicken, um dort Lösungen zu generieren. Hier bedienen wir uns gern des hypnosystemischen Ansatzes. Im Folgenden bieten wir eine kleine Auswahl häufig geäußerter Metaphern an, die wir schon gehört haben: ȤȤ »Ich erstarre zur Salzsäule«: Wie sieht diese Salzsäule aus? Stellen Sie die Salzsäule einmal dar. Was wäre eine gute Alternative, wie können Sie sich besser fühlen? Welche Auswirkungen hat das auf den Partner und wie stellt sich der Partner dazu? Wie kann die Salzsäule transformiert werden? Wofür ist sie hilfreich, wofür weniger? ȤȤ »Wir tanzen immer im Kreis«: Stehen Sie einmal auf, wie sieht es aus, wenn Sie im Kreis tanzen? Wer führt, wer folgt? Was würde Sie zum Anhalten bringen können? Was würde dann bestmöglich passieren? Wer oder was beobachtet Sie, während Sie im Kreis tanzen? Was würde fehlen, wenn Sie aufhören? ȤȤ »Er ist stumm wie ein Fisch, wir können nicht miteinander reden«: Ich lade Sie jetzt ein, sich anzuschauen und vier Minuten zu schweigen. Was ist der Unterschied zu sonst? Was ist gut daran, so zu schweigen und im Kontakt zu sein? Was ist neu? ȤȤ »Wir sind so verknotet ineinander«: Ich lade Sie ein, einmal aufzustehen und sich ganz zu verknoten. Fühlt es sich so an, wenn Sie von verknotet sprechen? Welche Gefühle sind da? Welche Gedanken? Wozu ist das hilfreich? Wer von außen sieht Sie auch so? Wie anstrengend ist das? Wie lange denken Sie, können Sie das aushalten? Was verhindert und was befördert es? Um die bisherige Paargeschichte in Bewegung zu bringen, laden wir die Paare zu einem Paarfilm ein. Diesen Film kann man vor- und zurückspulen und unterstützt somit die Wiederholung wesentlicher Szenen und gibt dem Paar ein Gefühl für den bisherigen Paarprozess.

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Übung: Bewegte Paargeschichte Das Paar markiert wie bei einer Timeline die wesentlichen Meilensteine seiner Paargeschichte in der Reihenfolge seit dem Kennenlernen bis heute im Raum und schreibt diese Meilensteine mit Begriffen auf eine Metaplankarte. Nun stellt das Paar sich an den Anfang und versucht, zueinander eine Position zu finden, die die Gefühle des Anfangs widerspiegelt. Es ist wichtig, hier Zeit zu geben und das Paar wirklich ins Spüren zu bringen, in Kontakt zu kommen. Folgende Fragen auf Seiten des Beraters können hilfreich sein: –– Was hat Ihnen besonders damals an Ihrer Frau gefallen? –– An Ihrem Mann? –– Was hat Sie fasziniert? –– Was hat Ihr Herz gesagt bzw. bewegt? –– Wo haben Sie die Gefühle in Ihrem Körper wahrgenommen? Dann fordert der Berater das Paar auf, ganz langsam bis zum nächsten Meilenstein zu »tanzen« und zu spüren, was passiert. Immer wenn der Berater »zurück« sagt, geht das Paar wie im Rückspulmodus den Weg zurück und noch einmal vor. –– Wer hat sich wem zugewendet? –– Wer ist in die Distanz, wer in die Nähe gerückt? –– Wer hatte den Fokus auf den anderen gerichtet, wer eher abgewendet? –– War die Bewegung kreisförmig, eckig, linear? –– War Leichtigkeit, Schwere, Helligkeit oder Dunkelheit spürbar? –– Welche Art von Musik hätte zu dieser Bewegung gepasst?

So tanzt sich das Paar durch die Paargeschichte hindurch, durch alle damit verbundenen Gefühle, Ereignisse, Verhaltensweisen, physischen Zustände und Gedanken. Manchmal gemeinsam, weil ähnlich empfunden, manchmal unterschiedlich, weil ganz anders erlebt und gedeutet. Es ist immer wieder erstaunlich, welch breite Palette an Gefühlen und Bewegungen einem Paar schon zur Verfügung steht bzw. gestanden hat, wenn ein körperlicher Ebenenwechsel induziert wird. Das Bewusstsein über diese Möglichkeiten ist schon ein erster © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Schritt, an die schon erlebten nährenden Bewegungsmuster anknüpfen zu können, aus der gelebten Vielfalt neue entstehen zu lassen oder festzustellen, dass alle bisherigen Bewegungen im Paarprozess darauf hinweisen, dass der Tanz zu Ende geht oder vom Neuem anfängt. Für uns ist es nach wie vor eine spannende Herausforderung, Paare zu begleiten – wir lernen gemeinsam mit ihnen und von ihnen und, wie wir annehmen, auch umgekehrt.

Literatur Bleckwedel, J. (2009). Systemische Therapie in Aktion: Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Clement, U. (2010). Wenn Liebe fremdgeht: Vom richtigen Umgang mit Affären. Berlin: Ullstein. El Hachimi, M., Stephan, L. (2008). Paartherapie – bewegende Interventionen: Tools für Paartherapeuten (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Jellouschek, H. (2010). Die Paartherapie: Eine praktische Orientierungshilfe. Stuttgart: Kreuz. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Welter-Enderlin, R. (2009). Paare – Leidenschaft und lange Weile: Die Kunst des Lebens zu zweit. Freiburg: Herder Spektrum. Weber, R. (2006). Paare in Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Wienands, A. (2005). Choreographien der Seele. München: Kösel. Wirth, J. V., Kleve, H. (Hrsg.) (2012). Lexikon des systemischen Arbeitens. Heidelberg: Carl-Auer.

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Liebe in Bewegung – die Wachheit des Augenblicks

Wie wach wollen Sie sein? Was passiert in Ihnen, wenn Sie diese Frage hören? Lauschen Sie vielleicht noch einmal zurück an den Anfang Ihres Lesens und nehmen Sie sich wahr. Wie wach wollen Sie sein? Es ist nicht nur die Antwort auf diese Frage, die interessiert, sondern das, was sie auslöst; welche Gedanken, Bilder, Emotionen entstehen. Wohin fällt sie in Ihrem System? Wir laden Sie ein, immer wieder innezuhalten, während Sie diesen Aufsatz lesen. Wann immer Ihnen danach ist, nehmen Sie sich ein paar Momente, um nach innen zu spüren. Die immer feinere, subtile Wahrnehmung des eigenen Inneren ist ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit mit Paaren – gerade weil sie im Kontakt mit anderen oft verloren geht. Begegnung findet in jedem Moment statt, auch jetzt. Sie gehen in Kontakt – über den Text zu uns, den Autorinnen und Autoren, zu Hause mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin wie auch in der Arbeit mit Ihren Klienten und Klientinnen. Immer wieder neu entsteht ein Beziehungsraum, in dem wir gerade stattfinden. Dieser Raum kann mit mehr und mehr Wachheit und Präsenz gefüllt werden, während wir gleichzeitig eine lebendige Verbindung zu dem eigenen inneren Erfahrungsraum halten. Das ist für uns der Ausgangspunkt für einen tiefen und erfüllten Kontakt mit anderen Menschen und mit dem Leben. Die heilende und transformatorische Kraft von Begegnung kann sich in dem Moment entfalten, wo wir uns erlauben, alles zu fühlen und wahrzunehmen – und damit wach und anwesend zu bleiben. Wir alle haben ein genaues Gespür dafür, wie tief und umfassend Kontakt sein kann, auch in therapeutischen Settings. Wenn wir uns mit weniger zufrieden geben, warum? Mit unserem Ansatz von »Liebe in Bewegung« möchten wir erfahrbar machen, wie wesentlich ein präsenter und eingestimmter Kontakt für die Arbeit mit Einzelnen wie mit Paaren ist. In unserer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Wahrnehmung macht es einen fundamentalen Unterschied, ob wir unsere Werkzeuge eher kognitiv-zielorientiert einsetzen oder ob die therapeutischen Prozesse in einem mit Bewusstheit gefüllten Beziehungsraum stattfinden. Mit der Fokussierung auf Präsenz im Beziehungsraum gehen wir über ein systemisches Setting hinaus, in dem der Schwerpunkt auf den Dynamiken und Prozessen innerhalb eines (Paar- oder Familien-) Systems liegt. Obwohl sich die meisten Beziehungsprobleme mit einer gewissen Dringlichkeit im Jetzt zeigen, erzählen sie von individuellen Erfahrungen mangelnden oder nichtbezogenen Kontaktes in der Vergangenheit. Diese Erfahrungen können heute nur in einem präsenten Kontakt heilen.1 Der wohl heilsamste Aspekt besteht darin, dass der Kontakt nicht abbricht in dem Moment, in dem etwas Unangenehmes oder Schmerzhaftes auftaucht. Oft sind erwachsene Beziehungen damit überfordert, diesen heilenden Raum zu kreieren, unter anderem aus den eigenen unerfüllten Anteilen der Partner heraus. Der eigentliche therapeutische Wirkmechanismus ist daher, einen solchen Beziehungsraum herzustellen, in dem die Paarbeziehung stattfinden und alte Verletzungen heilen können. Die neue Qualität von Partnerschaft besteht für uns darin, dass beide Partner lernen, aus einer tieferen Verbindung zu sich selbst im gemeinsamen Beziehungsraum zunehmend anwesend zu sein – selbst dann, wenn unangenehme Gefühle oder Schmerz berührt werden. Diesen Lernprozess zu begleiten, verstehen wir als unsere Aufgabe als Berater/-innen und Therapeut/-innen. Auf den folgenden Seiten gehen wir darauf ein, was einen heilsamen Beziehungsraum in unserem Verständnis ausmacht und welche Settings helfen, dass er entstehen kann. Wir beschäftigen uns damit, wie wir einen wachen Kontakt im therapeutischen Prozess unterstützen und stabilisieren und wie er für neue Dimensionen von Lebendigkeit, Heilung und Entwicklung genutzt werden kann. Anhand eines Ausschnittes aus einem Workshop stellen wir dar, wie wir konkret die Lernschritte eines Paares begleiten.2 1

Vgl. hierzu auch die große Bedeutung von Kontakt in der Gestalttherapie und anderen Ansätzen aus der humanistischen Psychologie (z. B. Perls, Hefferline u. Goodman, 2006). 2 Wir danken Dr. Markus Strobel für seine Anregungen zu diesem Text.

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Transparente Kommunikation auf dem Weg zu einem neuen Wir3 Eine Stunde, bevor die ersten Paare eintreffen, sitzen mein Kollege und ich im noch leeren Gruppenraum und stimmen uns auf den Workshop ein. Ich schließe die Augen, genieße ein paar tiefe Atemzüge und nehme wahr, wie viel in mir in Bewegung ist. Gedanken und Ideen, Vorfreude und Aufregung, Anspannung in meinem Körper. Die Sinne erforschen den neuen Raum, in dem wir beide sitzen. Allmählich lasse ich mich nieder und entspanne. Während ich tiefer sinke, öffnet sich der innere Raum und subtilere energetische Wahrnehmungen treten in den Vordergrund. Feinste Bewegungen im Körperenergiefeld, das Pulsieren und Strömen von Lebensenergie, ein Gefühl der Auflösung fester Formen und Grenzen und des Eingebettetseins in eine viel größere schöpferische Intelligenz. Aus diesem inneren Lauschen heraus richte ich die Aufmerksamkeit zu meinem Kollegen hin: Was empfange ich von dort an Informationen, wie nehme ich ihn wahr und wie den Raum zwischen uns? Während sich unser Energiefeld synchronisiert, dehne ich meine Wachheit aus in den Gruppenraum und darüber hinaus. Ich lade ein, dass das höchste Potenzial unseres gemeinsamen Wirkens und jedes Teilnehmers in jedem Moment hier einfließen und sich entfalten kann. Zwischendurch bietet mein Verstand Vorstellungen an von dem, was hier passieren soll, und Bilder und Ideen zu den Teilnehmern, die wir teilweise schon kennen. Hinter diesen Informationen ahne ich einen Ozean an Möglichkeiten, die mein Verstand gar nicht denken kann. Mich ganz auf das Jetzt einzulassen, in dem ich nichts weiß und zu wissen brauche, fühlt sich in diesem Moment an wie ein tiefes Anvertrauen ans Leben.

3 Vgl. zu diesem Absatz auch Hübl (2013). Außerdem danken wir unseren Kollegen Markus Hirzig und Susanne Ahlendorf für ihre Hinweise hierzu.

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Seit wir mit dem Bewusstseinslehrer Thomas Hübl zusammenarbeiten, inspiriert und beflügelt uns das Loslassen. Indem wir uns mit weniger Vorannahmen mehr zur Verfügung stellen für den Reichtum jedes Moments, entsteht mehr Platz im therapeutischen Prozess, mehr Informationen können einfließen und die Richtung weist sich meist wie von selbst. Ein Kernstück unserer Arbeit ist die Transparente Kommunikation. Die Bedeutung von Körperwahrnehmung, Achtsamkeit und Präsenz hat bereits seit einigen Jahren Einzug gehalten in die Vermittlung verschiedenster therapeutischer Methoden. In der Transparenten Kommunikation nach Thomas Hübl (2007, 2009, 2013) sind diese Variablen enthalten und fließen ein in einen umfassenderen Ansatz, der über die intra- und interpersonellen Ebenen hinaus auch transpersonale Dimensionen mit einlädt. Konkret bedeutet das, die Welt in ihren Ausformungen nicht nur zu erfassen, zu verstehen und zu gestalten, sondern uns immer tiefer und letztlich bedingungslos auf sie einzulassen und zugleich das Bewusstsein zu schulen für den Raum zwischen und hinter allen Erscheinungen. Thomas Hübl spricht in diesem Zusammenhang auch von der Kompetenz der Stille und der Kompetenz der Bewegung. Die Transparente Kommunikation als Werkzeug ist damit weit mehr als eine therapeutische Methode; sie bietet einen radikalen Weg der Praxis, mehr im Leben anzukommen und kann letztlich alle Bereiche erfassen, befruchten und transformieren.

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Subtil-energetische Kompetenz

Der erste Schritt ist eine immer genauere und umfassendere Wahrnehmung all dessen, was in unserem Inneren geschieht (vgl. hierzu auch Nidiaye, 2006). Diese Fähigkeit lässt sich über die Sinnesorgane hinaus ausdehnen auf subtilere Ebenen. Hierfür nutzen wir unsere feinstofflichen Wahrnehmungskanäle wie zum Beispiel inneres Wissen, Gefühle oder Bilder, energetische Schwingungen oder feinste Körperempfindungen. Plötzlich sehen, fühlen oder wissen wir Dinge, die wir »gar nicht wissen können« – untergründige oder intuitive Informationen, denen Bedeutung beizumessen wir nicht gelernt haben.

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Erfahrungsinnenräume – bei mir und beim anderen

Diese Kompetenz hilft uns auch beim Wahrnehmen des Erfahrungsinnenraums von anderen. Je mehr wir uns öffnen und in andere einfühlen, desto mehr Informationen werden uns zugänglich und Menschen werden durchscheinender. Die jeweiligen Filtersysteme, die ihre Wahrnehmung der Welt prägen, werden für uns spürbar; wir merken, wo sie Energie zurückhalten, welche Konditionierungen und Glaubenssysteme sie mitbringen, wo sie »Stopp« sagen usw. Immer mehr realisieren wir dann, dass jeder Mensch in seinem eigenen Erfahrungsinnenraum lebt, einer Art eigenem Universum mit einer spezifischen Färbung der Wirklichkeit. Keiner erlebt die Welt so wie wir. Wenn wir diese Tatsache in ihrer Tiefe anerkennen, hat das Konsequenzen. Zum einen sind wir aufgefordert, uns von unserem Inneren her zu zeigen, wenn wir wirklich verstanden werden wollen. Zum anderen merken wir, dass in der Kommunikation mit unserem Gegenüber Quantensprünge möglich sind, wenn es uns gelingt, auch seine Innenräume wahrzunehmen (vgl. Hübl, 2013, S. 1). Jenseits dessen, was wir über die Person denken oder vermuten, können wir eine direkte Wahrnehmung ihres Erfahrungsinnenraums entwickeln. Sind wir bereit, uns dafür zu öffnen? Lassen wir uns ein auf eine viel tiefere Begegnung, jenseits aller persönlichen Standpunkte? Meist sind Menschen, die diese Erfahrung zum ersten Mal machen, fasziniert und zutiefst berührt. Unser Menschsein wird in seiner Tiefe angesprochen, wenn wir spüren, welche Intimität möglich ist – und sogar normal sein könnte, sei es mit unseren Partnerinnen/Partnern, Kindern, Kolleginnen/Kollegen oder Klienten/ Klientinnen. Offener Beziehungsraum

Zugleich wirft dieser Ansatz Fragen auf: Was, wenn ich mich gar nicht sehen lassen will? Soll etwa immer alles harmonisch sein? Was ist, wenn ich mit der Sicht meines Gegenübers nicht einverstanden bin? In solchen Momenten, wo uns der Inhalt einer Begegnung oder die in uns ausgelösten Gefühle nicht gefallen, wird es spannend. Oft ziehen wir uns dann subtil aus dem gemeinsamen Beziehungsraum zurück – es scheint, als ginge der Austausch weiter, aber einer oder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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beide sind nicht mehr ganz beteiligt. Wir trennen uns von unserem Gegenüber und von unserer eigenen Wahrnehmung und Kreativität. Meist lässt uns das frustriert oder müder aus einer Begegnung gehen als wir hineingegangen sind. Transparente Kommunikation bedeutet, auch und gerade in Situationen präsent zu bleiben und den Beziehungsraum offen zu halten, in denen wir uns gewohnheitsgemäß kontrahieren würden. So bekommen wir mit, wenn die Intensität abnimmt, wir können das Potenzial des Augenblickes erforschen und unsere Wahrnehmung mitteilen: Wo bewegen wir uns gerade und was ist die authentische Antwort auf das, was zwischen uns passiert? Was will einer von uns nicht sagen oder nicht fühlen? Gibt es ein unausgesprochenes Nein, das respektiert werden will? Vielleicht geht es darum, für diesen Moment bewusst den Kontakt zu beenden. Oder wir lassen uns darauf ein, das, was auftaucht, ganz zu fühlen und gemeinsam eine Stufe tiefer zu gehen. Wenn wir diese Art der Begegnung trainieren, öffnen sich neue Räume, und mit der Zeit realisieren wir, dass wir gar nicht so getrennt sind, wie wir oft meinen. Mitgefühl und Verbundenheit als selbstverständliche Qualitäten unseres Menschseins werden aktiviert. Authentischer Ausdruck

Das heißt selbstverständlich nicht, dass alles harmonisch und konfliktfrei sein soll. Im Gegenteil, Transparente Kommunikation braucht all die Impulse, die in jedem Augenblick in uns entstehen, wie auch immer sie aussehen. »Jede Energie oder Kraft in uns, die nicht leben kann, schiebt sich als Filter vor unsere Wahrnehmung. […] Wir erleben dies als Spannungen in unseren Körpern, auf emotionaler Ebene oder als übersteigerte Denkaktivität« (Hübl, 2013, S. 6). Der freie Ausdruck dessen, was in uns entsteht, ist willkommen und wichtig – entscheidend ist, ob er mit Präsenz gefüllt ist oder ein unbewusstes Ausagieren alter Muster. Was immer ich ausdrücke oder ausspreche, ich kann dabei im Kontakt bleiben, sowohl mit mir als auch mit meinem Gegenüber. Nur so lernen wir, den kreativen Ausdruck, der aus einem authentischen Lebensfluss entsteht, von einem zu unterscheiden, der aus alten Automatismen oder Glaubenssätzen stammt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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In dem hier vorgestellten Ansatz der Transparenten Kommunikation nach Thomas Hübl geht es darum, die Möglichkeit eines neuen Miteinanders zu praktizieren. Obwohl uns allen die Fähigkeiten dazu gegeben sind, braucht es vielfach Übung, denn die wenigsten von uns haben in unserem Bildungssystem die Gelegenheit hierzu gehabt. Der immer tiefere und umfassende Kontakt, der sich durch diese Praxis unweigerlich einstellt, ermöglicht letztlich eine Transformation unseres Miteinanders auf eine Ebene, in der viel mehr Energiefluss, Kreativität und Bewegung selbstverständlich sind. Als Menschheit können wir einen Evolutionsschritt in eine neue Dimension von »Wir« machen.

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Kontakt und Bewusstsein in der Arbeit mit Paaren 18 Teilnehmer gehen durch den Raum, ohne einander anzusehen, sie nehmen ihre Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen wahr: Wie bin ich hier? Sie lernen den Raum kennen mit ihren Sinnen: Wo bin ich hier? Sie fokussieren darauf, was sich im Inneren und im Raum um sie herum verändert, während andere vorbeigehen, und bleiben dann in wechselnden Dyaden mit Blickkontakt voreinander stehen: Wer bist du? Wie geht es mir in der Begegnung mit dir?

In der Arbeit mit Paaren greifen wir auf eine Vielfalt an systemischen, körpertherapeutischen und anderen Methoden und Erfahrungen zurück. Sie dienen uns als Toolbox, aber sie bestimmen nicht den Prozess. Unser Fokus liegt auf der Qualität des Kontaktes – der Klientin/des Klienten mit sich selbst, des Paares miteinander und der Begegnung mit uns. Unbegrenzte Möglichkeiten

Wollen wir das Potenzial wirklich ausschöpfen, das in jedem Augenblick angelegt ist, brauchen wir ein Bewusstsein dafür, wann wir aus einem authentischen Impuls heraus fühlen und handeln und wann aus einer Konditionierung. Eine Grundlage dafür ist die in Physik und Neurowissenschaften seit einiger Zeit etablierte Erkenntnis, dass das, was wir Realität nennen, weniger fix(iert) ist, als es unser sinnlich-körperliches Erle© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ben uns nahelegt. Hochkomplexe und variable Realitäten, die dort mittlerweile selbstverständlich sind, sind uns in unserem körperlichen und emotionalen Alltagserleben oft nicht zugänglich. Häufig versuchen wir, uns auf eine verlässliche Wirklichkeit zu beziehen und – geprägt von unserem Nerven- und Sinnessystem – die Möglichkeiten des gegenwärtigen Augenblickes und der Zukunft aus der Vergangenheit abzuleiten. Bezogen auf Paarbeziehungen und den therapeutischen Kontext heißt das, dass sich Wahrnehmung und Erleben sowie Verhalten und Kommunikation mehr aus Erfahrungen speisen, als uns meistens bewusst ist. Damit bleiben wir in der Regel weit unter den Möglichkeiten dessen, was sich entwickeln könnte (vgl. hierzu auch Hüther, 2010, 2011). Heilung in Kontakt

Wenn in wichtigen frühen Beziehungen Verunsicherungen und Verletzungen entstehen, lernen wir einen Teil unseres Fühlens zurückzuziehen – die Entstehung eines Traumas. Auch als Erwachsene zieht sich dann ein Teil von uns aus dem Fühlen zurück, sobald ein relevanter Schmerzpunkt berührt wird. Nicht immer ist dies an unseren (Körper-)Reaktionen ablesbar, aber wir sind nicht mehr ganz anwesend. In der therapeutischen Arbeit besteht die Chance, in einem eingestimmten und wachen Kontakt genau an solchen Stellen eine neue Erfahrung zu machen. Ein wirklicher Kontakt, der in diesen kritischen Momenten bestehen bleibt, ist essenziell für Heilung – und ist das, was wir als Therapeuten zur Verfügung stellen können (vgl. hierzu auch Heller u. LaPierre, 2013; Levine u. Frederick, 1999). Wir gehen davon aus, dass ein solcherart präsentes Beziehungsangebot bereits den Großteil der »Intervention« ausmacht. Hierbei geht es uns nicht nur um die Bedeutung einer guten Therapeut-Klient-Beziehung, sondern um die Qualität eines tief eingefühlten Beziehungsraumes, der zugleich in einen größeren Bewusstseinsraum hinein offen ist. Wie stellen wir einen solchen Beziehungsraum her? Zunächst einmal über Körperverbundenheit und tiefes Spüren in uns selbst – wir gehen mit unserem Gewahrsein nach innen, sinken tiefer in uns hinein und nehmen alles wahr, was dort geschieht. Von hier aus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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können wir unsere subtil-energetische Aufmerksamkeit zu unserem Gegenüber hin ausdehnen und ihn oder sie in uns fühlen lernen. Unser gemeinsamer Beziehungsraum findet nicht zwischen uns statt, sondern in uns – und wir in ihm. Über körpertherapeutische und systemische Ansätze hinaus beziehen wir in unsere Arbeit das Kontaktieren eines transpersonalen Bewusstseinsraumes mit ein. Wir sind uns bewusst, dass wir alle Teil von etwas Größerem sind, das über unser Vorstellungsvermögen als Person hinausgeht. »Der Schritt von einem empathischen Zuhören zu einem schöpferischen Hinhören von einer tieferen Quelle aus öffnet auch eine Verbindung mit einem zukünftigen Möglichkeitsraum« (Scharmer, 2011, S. 194). Wir stellen uns zur Verfügung, aus diesem Raum Inspiration und Information zu empfangen, und stellen die Beziehungs»arbeit«, die gerade geschieht, bewusst in diesen Kontext. Hierzu laden wir auch unsere Klient/-innen ein.

Einblicke in die Praxis Vorstellungsrunde: Eines der neun ganz unterschiedlichen Paare erzählt von Entfremdung und dass sie sich mehr Klarheit erhofften, was sie als Paar noch zusammenhalte. Nicht nur, dass sie beide vom Job und der Sorge für die Kinder erschöpft seien – die Frau (Anja) fragt sich vor allem, ob mit ihrem Mann (Martin) überhaupt ein erfüllender Kontakt möglich ist. Sie sehne sich gerade nach Veränderung und Aufbruch. Er beschreibt, dass ihn ihr Rückzug und ihre Stimmungsschwankungen verunsichern und frustrieren. Im Moment fühle es sich eher nach Trennung an.

Wenn Paare zu uns kommen, schauen wir zuerst auf unsere eigene Wachheit und innere Haltung: Von welchem Platz aus höre ich zu? Was in mir geht in Resonanz? Je präziser mein Instrument gestimmt ist, desto klarer kann ich hinhören. Je leerer und nichtwissender ich mich öffne für die Klientinnen und Klienten, desto mehr Ebenen an neuer Information erreichen uns. Je ausgedehnter mein Bewusstsein ist, desto feiner kann ich wahrnehmen, wie sich die Energie im Raum und in der Gruppe verändert, während einer der Partner/innen spricht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Wir untersuchen mit unserer Wahrnehmung, ob und wie sehr die beiden jeweils in Kontakt sind mit sich selbst und miteinander, an welchen Stellen es sich eng anfühlt und wo flüssig. In diesem Moment geht es weder darum, ein Ziel zu formulieren noch die Konfliktdynamiken aufzudecken. Zuerst wollen wir einen Raum schaffen, in dem beide tiefer ankommen können bei sich selbst, und der zugleich größer ist als die subjektiv empfundene Enge. Unsere Haltung vermittelt auf verschiedenen Kanälen, dass wir nichts vorfestlegen, sondern dass wir das Spiel an unbegrenzten Möglichkeiten in uns wie auch im Kontakt mit ihnen offenhalten. Wieder Bewegung im Raum – bis jeweils zwei Teilnehmende (keine Partner) voreinander stehenbleiben. Unter unserer Anleitung erforschen sie ihren eigenen inneren Raum und dann den gemeinsamen Beziehungsraum: Was passiert in mir, kann ich offen bleiben oder verschließt sich ein Teil, wie agiert auf subtiler Ebene mein Körper? Später dehnen sie ihre Wahrnehmung aus auf ihr Gegenüber und sein Energiefeld. Spielerisch erkunden sie seinen Erfahrungsraum, versuchen zu erspüren, wie die Welt aus seinen Augen aussieht. Wir laden ein, ihre Intuition spielen zu lassen und auch diejenigen Wahrnehmungskanäle auszuprobieren, die im Alltag nicht so präsent sind. Sie teilen ihre Wahrnehmungen mit und bekommen durch Rückmeldungen ein Gefühl dafür, das eigene von dem des Gegenübers zu trennen. Es entsteht eine Atmosphäre von großer Aufmerksamkeit und Zugewandtheit. Einige sind sehr berührt von der Qualität der Begegnungen.

Der Erfahrungsraum, den wir hierdurch schaffen, baut sich zu einem Container auf, in dem die Teilnehmenden gehalten sind und gesehen werden – nicht nur von uns, sondern von allen. Der größere Bewusstseinsraum im Sinne einer kollektiven Intelligenz ist von hier aus leichter kontaktierbar, auch für Menschen, die mit dieser Arbeit noch keine Erfahrung haben. Die Ausrichtung einer ganzen Gruppe auf ein höheres Bewusstsein erzeugt eine enorme Kraft und Offenheit. Die anderen Gruppenteilnehmer stellen fühlende Spiegel dar, die durch ihre Präsenz und durch eingestimmte Rückmeldungen das einzelne Paar unterstützen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Diese Qualität von Kontakt mit uns und innerhalb der Gruppe hat zugleich Modellfunktion. Wir demonstrieren, dass und wie wir aufeinander bezogen bleiben können, egal was passiert. Wenn auch nur eine Person den Zugang zu einem größeren Raumbewusstsein offen hält, wirkt das auf alle anderen – nicht nur im therapeutischen Setting, sondern in jeder Begegnung. Transparente Kommunikation steht für den täglich gelebten Alltag zur Verfügung. Erst hier entwickelt sie ihre eigentliche transformatorische Kraft. Immer wieder laden wir die Teilnehmenden in unserer gemeinsamen Zeit ein, kurz innezuhalten und in der Stille nachzuspüren, was gerade im Einzelnen und in der Gruppe passiert. Dadurch können sie diese Erfahrung tiefer verankern und die Kompetenz der Stille bekommt eine Chance, in den Alltag Einzug zu halten. Die Paare begegnen sich wieder. Anja und Martin nehmen ihre eigenen inneren Vorgänge genauer wahr – Vorwürfe, (Selbst-)Bewertungen, Ablehnung und Automatismen als Reaktion aufeinander. Sie trauen sich, einander mehr zu sehen und zu zeigen. Aus dem größeren Wahrnehmungsraum heraus können sie klarer auf ihre eigenen Filter und Handlungsmuster schauen und körperlich erleben, wie diese in ihnen wirken in Form von Anspannung, Verschließen, Zurückhalten von Energie etc. Anja stellt fest, wie viele Bilder und Glaubenssätze sie in sich trägt, wie eine innige Beziehung sein sollte. Damit einher geht der innere Konflikt, sie müsse sich entscheiden zwischen Beziehung und Selbstverwirklichung. Martin findet es gut, die Erkenntnisse aus den anderen Begegnungen jetzt im Kontakt mit seiner Frau zu erforschen. Auch er bekommt mit, wie seine inneren Schutz- und Kontrollmuster anspringen, und experimentiert damit, trotzdem präsent und im Kontakt mit ihr zu bleiben. Beide erleben bewusster, wie sie sich voneinander abtrennen, und spüren wieder mehr ihre Sehnsucht nach tiefem Kontakt.

In der Regel erleben wir in unserer Arbeit, dass Paare sich auf eine Weise zeigen und Aspekte voneinander erfahren, die sie bisher geschützt haben – auch weil es hier nicht darum geht, ein Ziel oder ein Ideal zu verfolgen. Der wertschätzende Raum der Begegnung lässt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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die innere Wahrnehmungswelt durchscheinender werden. Unbewusste Anteile und verborgene Muster treten zutage – an diesen Stellen bietet sich manchmal eine therapeutische Einzelarbeit vor der Gruppe an. Die Teilnehmer/-innen und wir machen meist die Erfahrung, dass in diesem offenen Raum Veränderung erstaunlich flüssig geschieht und Dinge wie von selbst in Bewegung kommen. Kurze Feedbacks und Interventionen unsererseits können reichen, um festgehaltene Energie in Bewegung zu bringen. Oft übernimmt nach kleinen Impulsen schon die Intelligenz des Körper-Geist-Systems und führt zu einer Selbstregulation auf höherer Ebene. Weiterführende therapeutische Prozesse können in Einzelsitzungen vertieft werden. Wozu Beziehung? Das Potenzial von Partnerschaft Angeleitete Reise nach innen: Mit geschlossenen Augen lassen die Teilnehmenden die Frage im Inneren lebendig werden: Was heißt für mich eine wache Beziehung? Wie fühlt sich das in mir an, mit allen Sinnen? Wer bin ich, wer möchte ich sein in einer wachen Beziehung? Wie schaue ich in einer wachen Beziehung in die Welt und zu meinem Partner hin? Danach Austausch in Dyaden, jedoch nicht mit der Partnerin oder dem Partner. Die jeweils Zuhörenden üben sich darin, offen wie ein weiter Raum zu sein und auf allen Frequenzen hinzuhören.

Falls die Fragen in Ihnen nachklingen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit dafür. In der Begleitung von Paaren wie auch in unserem eigenen Leben können wir unser Bewusstsein dafür schärfen, mit welchem Blick wir auf Beziehung schauen. Darf Partnerschaft ein Raum sein für ehrliches Hinschauen, für echte Erkenntnis und tiefe Transformation? Wir laden Paare dazu ein, ihre Liebesbeziehung als tägliche Praxis zu erleben, um wacher zu werden, um über die eigenen Begrenzungen, Muster und Gewohnheiten hinauszuwachsen und sich gegenseitig in ihrem Potenzial zu fördern. Das erfordert ein hohes Maß an Präsenz und Achtsamkeit sowie den Mut zu Verletzlichkeit, Wahrhaftigkeit und Transparenz. Die eigenen, bislang wenig bewussten Anteile werden sichtbarer. Wenn das Aufwachen aus dem Däm© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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merschlaf der Gewohnheit zur obersten Priorität wird, können wir immer weniger auf die andere oder den anderen projizieren. Die romantische Vorstellung von Paarbeziehung als intimem, geschlossenem Beziehungsraum, in dem wir ganz füreinander da sind, gleicht metaphorisch eher einem Kreis, in dem wir ein Leben lang Karussell fahren. Wer möchte das? Ein geöffneter Kreis, das Symbol des Zen, erlaubt uns Menschen vielmehr, uns als evolutionäre Wesen zu entfalten: zutiefst aufeinander bezogen und zugleich offen und wach für den Impuls, der aus einer größeren Intelligenz kommt. Radikal gesehen bedeutet dies auch, nicht nur mich als Person, sondern auch die Beziehung weniger wichtig zu nehmen. Oder anders gesagt, sie nicht primär zu benutzen, um mich selbst zu verwirklichen oder mich und meine Partnerin/meinen Partner glücklich zu machen, sondern um dem Leben auf allen Ebenen tiefer zu begegnen: als einen Weg zum Aufwachen in ein größeres Bewusstsein (vgl. auch Welwood, 2007; Ucik, 2012). Wenn ich meine Liebesbeziehung in diesen größeren Kontext stelle und in ihr präsent und bezogen bleibe, egal wie angenehm sich das gerade anfühlt, wird sie zum Landeplatz für neue Information, Inspiration und Kreativität. In unserem Verständnis ist dies ein wahrhaftigerer Ausdruck von Liebe als der lebhafte Tauschhandel von Bedürftigkeit und Anerkennung, in dem sich viele Partnerschaften wiederfinden. Economy of Love

Eine große Antriebskraft in unseren Beziehungen sind unbefriedigte Bedürfnisse, die in der persönlichen Geschichte ihren Ursprung haben. Wenn uns diese nicht bewusst sind, beginnen wir aus ihnen heraus zu handeln, empfinden dies als unseren authentischen Ausdruck und erwarten von unserem Partner deren Erfüllung. Im Gegenzug erfüllen wir seine Bedürfnisse und ernten dafür Anerkennung. Das Ganze nennen wir Liebesbeziehung (vgl. auch Spezzano, 2009). Die unausgesprochenen Verträge, die wir dafür miteinander schließen, nennt Thomas Hübl »Economy of Love«. Das befriedigt uns eine Weile, ist aber letztlich nicht wirklich erfüllend, weil sich hier nicht zwei Erwachsene mit ihrem ganzen Potenzial treffen, sondern zwei Kinder, die ihre ungenährten oder verletzten Anteile heilen wollen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Welche Verträge und Vereinbarungen habe ich in meiner Partnerschaft geschlossen? Diese Frage reflektieren die Teilnehmenden jeweils einzeln für sich. Dann kommen wir in getrennten Männerund Frauenkreisen zusammen und vertiefen das Thema: Wie sieht der »Tauschhandel« in meiner Beziehung aus und wieso haben wir uns darauf geeinigt? Wofür habe ich dieses Muster in meinem Leben eingebaut? Was heißt das für mein Potenzial als Frau oder Mann und für unsere Partnerschaft?

Die Trennung in Frauen- und Männerkreise ist ein kraftvolles Werkzeug. Wir kreieren damit einen nochmals geschützteren Raum, den viele so nicht kennen und der ihnen erlaubt, noch mehr mit ihrer Energie in Kontakt zu kommen. Zugleich können sie eine große Unterstützung und Bestärkung durch die anderen erfahren und einander schenken. Nach einem halben Tag der Trennung kommen die Geschlechter wieder zusammen, zunächst ohne Worte. Männer und Frauen stehen sich gegenüber. Sie spüren Unterstützung und Rückhalt durch ihre eigene Gruppe und nehmen von diesem Platz aus Kontakt zum Partner/zur Partnerin auf. Zugleich sind sie der Muster gewahr, die ihren Alltag mit diesem Menschen prägen. Weil das feinstoffliche Spüren nun deutlich ausgeprägter ist, erleben sie sehr körperlich, wie dies in ihnen wirkt. Aus diesem Zustand gehen sie in eine Bewegungsübung, sie »tanzen ihre Verträge«. Die Aufgabe ist, ganz physisch in die Energie ihres wichtigsten Vertrages hineinzugehen und aus dieser heraus zu »tanzen«. Zunächst allein und dann mit einer Partnerin/einem Partner lassen sie sich spüren, wie ihr subtiles Alltagshandeln wirkt – auf sie selbst, aber auch aufs Gegenüber. Bei einigen, so auch bei Anja und Martin, löst diese ganz unmittelbare Erfahrung tiefe Berührung aus. Sie spüren einerseits, wie mächtig und prägend diese Muster sind, andererseits aber auch, dass sie sich bewegen lassen und dadurch veränderbar werden.

Eine solche Erfahrung braucht Raum zur Integration. Die »Economy of Love« sieht diesen nicht vor, sie lebt geradezu von der Verengung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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des Raumes. Solange wir im Aktions-Reaktions-Muster gefangen sind, leben wir von der Energie des Handels, der schnellen Befriedigung. Erst wenn Platz wird für Spüren und Gewahrsein, entziehen wir diesem Kreislauf das Futter. Wir brauchen die Kompetenz der Stille … Bewegung in Beziehung Im letzten Teil des Workshops bekommen die Partner/-innen Zeit, miteinander in Kontakt zu bringen, was sie erfahren haben und wo sie gerade stehen – still oder mit Worten, mit Bewegungen oder Papier und Farben. Jedes Paar hat sich einen eigenen Platz im Raum gesucht. Anja und Martin sitzen sich gegenüber und beginnen – wie einige andere auch – erst nach einer Zeit von Schweigen und Blickkontakt langsam zu sprechen. Martin hat in der direkten und tiefen Begegnung unter den Männern mehr von seiner Lebendigkeit und Kraft wiederentdeckt. Jetzt merkt er im Zusammensein mit Anja, dass er sich durchaus energievoll und zugleich mit ihr ganz verbunden fühlen kann. Eine angenehme Entspannung und Leichtigkeit geht durch seinen Körper und er hat das Gefühl, seine Liebe für Anja wiederzufinden. Anja ist überrascht, wie weich und kraftvoll Martin wirkt. Durch seine ungewohnt klare Präsenz fühlt sie sich fast verunsichert. Mit den anderen Frauen war ihr deutlich geworden, wie sie tiefe Begegnung selbst verhindert aus Scheu, wirklich gesehen zu werden – und wie sehr sie sich wünscht, ihren Platz ganz einzunehmen an Martins Seite. Sie entdeckt, dass Kontakt auf mehr Ebenen möglich ist als bisher, und beginnt das Kribbeln und die Aufregung zu genießen, dass sie gemeinsam neues Terrain betreten.

Wir hören von Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass sie aus unseren Coachings und Workshops eine größere Beweglichkeit und Bandbreite an Möglichkeiten mitnehmen, sich selbst zu spüren und sich aufeinander zu beziehen. Damit sind nicht alle Fragen beantwortet, und manche Herausforderungen werden überhaupt erst spürbar und sichtbar. Im Fall von Anja und Martin geht es weiter um die Forschungsreise, ihren ganz eigenen Weg als Paar zu finden – teilweise jeder für © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sich und doch in Beziehung. Während des Workshops haben beide mehrfach ein Auf und Ab ihrer Gefühle füreinander durchlaufen und sie haben ein Gespür dafür entwickelt, dies als eine organische Wellenbewegung wahrzunehmen. Sie haben erfahren, auch in den weniger verbundenen Momenten ihre Gefühle ganz wahrzunehmen und einander zu zeigen. Indem sie lernen, anwesend und präsent zu bleiben mit dem, wie es ist, kann immer wieder neuer und tiefer Kontakt entstehen. Für den Alltag in einer Liebesbeziehung heißt das auch, dass Gefühle ihren authentischen Ausdruck suchen und in ihrer Essenz wahrgenommen werden wollen. Sie können ein Wegweiser sein zu nichtintegrierten Anteilen einer Person oder zu tatsächlichen Unstimmigkeiten im Beziehungsleben, die der Veränderung bedürfen. Dies unterscheiden zu lernen, ist eines der wichtigsten Ziele von Paartherapie und -beratung. Die Wachheit, die es dafür braucht, kann man üben. Vor allem aber bedarf es der Bereitschaft, die Beziehung als Wachstumsraum ohne Bedingungen und Kontrolle anzuerkennen und nicht meine Partnerin/meinen Partner auszubremsen, wenn es unbequem wird.

Der eigene Weg An dieser Stelle laden wir Sie noch einmal ein, das Gelesene nachklingen zu lassen, sich Stille zu erlauben und wahrzunehmen: Was bewegt sich in Ihnen an Gedanken, Gefühlen, Sinneswahrnehmungen? Wo sind Resonanzen entstanden in Bezug auf Ihre Arbeit als Therapeut/-in, Berater/-in oder Coach? Die Transparente Kommunikation nach Thomas Hübl erfahren wir als eine allen Menschen innewohnende Fähigkeit. Sie ist ein Schatz, der umso leichter zu bergen ist, je mehr man sich auf sie einlässt. Für die therapeutische Arbeit bedeutet sie eine enorme Erweiterung des Horizontes, weil sie alles, was passiert, in einen umfassenderen Bewusstseinsraum stellt und mit Präsenz füllt. Es geht also nicht darum, die Arbeit mit Paaren neu zu erfinden. Wissen und Methodik des Therapeuten oder der Therapeutin haben ihren Platz, aber in diesem größeren Kontext können Erkenntnis- und Heilungsprozesse tiefer und wesentlich effektiver verlaufen.

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Was braucht es dafür? Die Kunst ist, den reichen Schatz an Erfahrung und Handwerkszeug verfügbar zu haben und zugleich vollkommen loszulassen. Jeden Moment alles gehen zu lassen und uns radikal einzulassen auf die Tatsache, dass wir nichts wissen. Auch wenn das zunächst einfach klingen mag, fordert es uns in unserem ganzen Sein heraus. Wollen wir Klienten in den Raum von Nichtwissen begleiten, kommen wir mit ihnen unweigerlich an Punkte, wo es keine Wegweiser mehr gibt. An dieser Schwelle spüren sie sehr genau, ob wir kontrahieren und auf Bekanntes zurückgreifen oder ob wir vollkommen präsent mit ihnen bleiben, offen und durchlässig, und ob wir bereit sind, den überpersönlichen Raum an Möglichkeiten zu betreten. In diesem Moment gibt es nichts zu tun, sondern vielmehr eine Erfahrung zuzulassen, die unser Verstand gewöhnlich zu verhindern versucht in seinem Bemühen um Sicherheit. Jenseits der persönlichen Filter und Konditionierungen verwandeln wir uns in einen immer klareren Spiegel. Unsere subtil-energetische Wahrnehmung wird zu einem laserscharfen Schwert und ermöglicht einen Dimensionssprung in der Differenzierung, Verfeinerung und Präzision unserer Arbeit. Der Weg dahin führt über unsere eigene Praxis. Um in unserem Alltag immer mehr aus einem Raum von Wachheit, Präsenz, Intuition und Kreativität heraus zu leben und zu arbeiten, braucht es unserer Erfahrung nach eine regelmäßige Meditationspraxis ebenso wie die Auseinandersetzung mit eigenen unerlösten Themen, die sich gerade in der Stille zeigen können. Die Integrale Lebenspraxis nach Ken Wilber und Terry Patten stellt hier einen möglichen ganzheitlichen Ansatz zur Verfügung, der sowohl Schattenthemen und spirituelle Praxis als auch Körper und Verstand berücksichtigt (vgl. Wilber, Patten, Leonard u. Morelli, 2010; Wilber, 2009; Tolle, 2002; Ott, 2010). Um andere wirklich in die Wachheit des Augenblicks zu begleiten, sind wir gefordert, diese Kompetenz in unserem eigenen Leben zu etablieren. Indem wir selbst uns tief einlassen und verankern im Nichtwissen, können wir uns als Teil von etwas viel Größerem erfahren und begreifen – einer schöpferischen Intelligenz, die durch jeden von uns wirkt. Wie wach sind Sie … jetzt? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Literatur Heller, L., LaPierre, A. (2013). Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen – Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. München: Kösel. Hübl, T. (2007). Transparenz. Sharinggruppen – ein Abenteuer, sich selbst und Andere klarer zu sehen. Wardenburg: Sharing the Presence UG. Hübl, T. (2009). Sharing the Presence – Wo warst du bis jetzt? Bielefeld: J. Kamphausen. Hübl, T. (2013). Transparente Kommunikation. Zugriff am 08. 10. 2013 unter http:// www.integrale-lebenskunst.org/tl_files/pdf/Transparente_Kommunikation. pdf Hüther, G. (2010). Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn (10. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hüther, G. (2011). Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (12. Aufl.). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Levine, P., Frederick, A. (1999). Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrung zu transformieren. Essen: Synthesis. Nidiaye, S. (2006). Wieder fühlen lernen. Wie wir uns selbst und die Welt heilen können. München: Integral. Ott, U. (2010). Meditation für Skeptiker: Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst. München: O. W. Barth. Perls, F. S., Hefferline, R. F., Goodman, P. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung (7. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Scharmer, O. (2011). Theorie U. Von der Zukunft her führen (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Spezzano, C. (2009). Von ganzem Herzen lieben. Die innerste Kraft des Lebens geben und empfangen. München: Heyne. Tolle, E. (2002). Leben im Jetzt. Lehren, Übungen und Meditationen aus ›The Power of Now‹. München: Arkana. Ucik, M. (2012). Integrale Beziehungen: Ein Ratgeber für Männer. Sencelles: Phänomen-Verlag. Welwood, J. (2007). Vollkommene Liebe – und wie sie vielleicht sogar in einer Beziehung gefunden werden kann. Freiamt: Arbor. Wilber, K. (2009). Integrale Vision. Eine kurze Geschichte der integralen Spiritualität. München: Kösel. Wilber, K., Patten, T., Leonard, A., Morelli, M. (2010). Integrale Lebenspraxis: Körperliche Gesundheit, emotionale Balance, geistige Klarheit, spirituelles Erwachen. Ein Übungsbuch. München: Kösel.

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Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie mit Einzelnen

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András Wienands

Körperorientierte systemische Therapie

Der Körper in der Psychotherapie Während sich einerseits der Eindruck aufdrängt, dass die klassischen körperpsychotherapeutischen Verfahren wie Bioenergetik (Lowen, 2002), Vegetotherapie (Reich, 1989), Core-Energetik (Pierrakos, 1997), Hakomi (Kurtz, 2002), Biosynthese (Boadella, 2009), Biodynamik (Boyesen, 2006) etc. sich zu einem Nischenprodukt entwickelt haben, ist andererseits zu beobachten, dass die klassischen verbalen Therapieverfahren wie Verhaltenstherapie, systemische Therapie, tiefenpsychologische und analytische Therapie den Körper als Ressource mehr und mehr in den therapeutischen Prozess integrieren. Suchen wir nach einer für den Klienten maximal nützlichen Form der Psychotherapie, ist der Körper eine bedeutsame Ressource. Würde man versuchen, die zentralen Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften, die von den unterschiedlichsten Therapieverfahren gern zitiert werden, zusammenzufassen, könnte das Ergebnis lauten (vgl. Hüther, 2006): Gedanken, Gefühle und Handlungen basieren auf Einstellungen. Einstellungen basieren auf Erfahrungen. Wollen wir Gedanken, Gefühle oder Handlungen verändern, müssen wir die zugrunde liegenden Einstellungen verändern. Hierfür benötigen wir korrigierende Erfahrungen, was den Therapieraum neben einem Erkenntnisraum im Idealfall immer auch zu einem Erfahrungsraum werden lässt. Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu. Dennoch hat sie zu einer emotionalen Wende in der psychotherapeutischen Landschaft geführt. Da der Körper mit seinen unterschiedlichsten Einsatzmöglichkeiten einen wirksamen Zugang zu den Gefühlen darstellt, bietet er sich als eine wesentliche Ressource an, um Erkenntnisse in emotional bedeutsame Erfahrungen zu transformieren.

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Systemische Körperpsychotherapie1 Da ich zu dem Thema der Integration des Körpers in die systemische Therapie schon manches geschrieben habe (vgl. Wienands, 2012a, 2012b, 2013) und ich die im Rahmen dieser Veröffentlichungen angestellten Überlegungen nicht wiederholen möchte (um weder den Leser noch mich selbst zu langweilen), will ich im Folgenden einige spezifische Aspekte einer körperorientierten systemischen Therapie herausgreifen. Eine kurze Überblicksarbeit zu dem Thema findet sich in »Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie« (Wienands, 2013). Eine einführende Darstellung findet sich in der »Einführung in die körperorientierte systemische Therapie« (Wienands, 2012a). Eine recht ausführliche Darstellung findet sich in den »Choreographien der Seele« (Wienands, 2012b). Ziel einer systemischen Körperpsychotherapie bzw. körperorientierten systemischen Therapie ist es, den Körper als Ressource zu nutzen, um Wahrnehmungen, Gefühle, Bewegungen oder Interaktionen zu ermöglichen, die in einem als problematisch erlebten Kontext bisher nicht möglich waren. Der Fokus liegt dabei auf dem Versuch, mit dem Klienten neue Bewegungen auf emotionaler, verbaler Ebene und der Handlungsebene für bisher lähmende Situationen zu entwickeln. Im systemischen Sinn stellen problematisch erlebte Gefühle, Gedanken oder Handlungen unglückliche Versuche dar, Beziehungen zu gestalten. Mit Hilfe des Körpers, das heißt Atmung, Berührung, Bewegung, Interaktion und Stimme, können Reaktionsmuster, die dem aktuellen Kontext nicht mehr angemessen sind, weiterentwickelt werden.

Grundlegende Annahmen Die Seele als Entwicklungshelfer

Grundlegende Annahme einer den Körper integrierenden systemischen Therapie ist es, dass das Unbewusste als Ort des intuitiven Wissens dessen, was mir gut tut oder in der Vergangenheit gut getan hätte, verstanden wird. Diese Annahme folgt der theoretischen Tra1

Vgl. dazu auch Marlock u. Weiss (2006).

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dition von Erich Fromm (1977), Milton H. Erickson (1998) und weiterer Autoren, die das Unbewusste nicht als Ort destruktiver Triebe betrachten, die durch ein Ich gelenkt werden müssen. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass das Verbundensein mit diesem intuitiven Wissen von dem, was mir gut tut, in spezifischen Kontexten verloren gegangen ist. Aufgabe des Therapeuten ist es, dabei behilflich zu sein, diese Verbindung in den als problematisch erlebten Kontexten wiederherzustellen. Ziel dabei ist es, die Wahlfreiheit der Klienten in ihren Reaktionen innerhalb dieser Situationen zu erhöhen. Darüber hinaus wird in den verschiedenen Wissenschaftszweigen (Physik, Biologie, Mathematik, Soziologie) davon ausgegangen, dass Systeme sich selbst organisieren. In der Physik wird dies mit Synergie, in der Biologie mit Autopoiesis, in der Mathematik mit der Chaostheorie, in der Soziologie mit der Theorie sozialer Systeme beschrieben. In der Psychologie bzw. der systemischen Therapie wird davon ausgegangen, dass dies auch für das Individuum und seine Beziehungssysteme gilt. Ich würde diese Annahme gern um den Begriff der »Seele« erweitern. Ich gehe davon aus, dass die Seele stets um maximales Wachstum bemüht ist. Wenn wir daran denken, wie oft wir manche psychische Aufgaben im Leben (unbewusst) wiederholen, auch wenn es sich dabei um sehr schmerzhafte Erfahrungen handelt, können wir eine Ahnung davon entwickeln, mit welcher Hartnäckigkeit die Seele darum kämpft, dass wir lernen, was wir zu lernen haben. Als Ziel dieser Entwicklungsmöglichkeiten, die uns durch die unermüdlichen Wachstumsbemühungen der Seele zur Verfügung gestellt werden, würde ich, im bewusst pauschalen Sinne, die Freiheit von (insbesondere frühen) Ängsten, besser gesagt, die Fähigkeit, sich selbst und anderen liebevoll zu begegnen, betrachten. Indem wir lernen, heute das zu tun, was damals nicht möglich war bzw. heute (oder zukünftig) nicht möglich erscheint, können wir das Erlernte auch an unsere Partner, Kinder, Freunde und Kollegen weitergeben. Zu erlernen gilt es heute, mit unserer Kinderseele jenen liebevollen und wertschätzenden Umgang zu entwickeln, den wir in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter vermisst haben. Das Unbewusste oder die Seele ist daher auch jener Ort, der das intuitive Wissen von dem, was uns damals gut getan hätte und heute bzw. zukünftig gut tun würde, beinhaltet. Der unerschütterliche Glaube daran, dass der Zugang zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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diesem Wissen wiederentdeckt werden kann, ist für mich ein wesentlicher Bestandteil einer wertschätzenden und ressourcenorientierten Haltung innerhalb einer körperorientierten systemischen Therapie. Zirkularität: Selbst- statt Fremdsteuerung

Im zirkulären Denken der systemischen Therapie (siehe auch Wienands, 2012a, S. 25 ff.) wird davon ausgegangen, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen wechselseitig bedingen. Konkreter kann das bedeuten, dass Phänomene, die am Gegenüber beklagt, immer auch unbewusst erzeugt werden. Wird sich über die mangelnde Wertschätzung des Partners beklagt, könnte man als Hypothese zweierlei formulieren: zum einen die Annahme, dass der Partner unbewusst dazu eingeladen wird, sich auf den kritischen Bereich zu fokussieren, und zum anderen, dass die geringe Wertschätzung des Partners die geringe Selbstwertschätzung (in spezifischen Aspekten) ausdrückt. Kürzer formuliert könnte das bedeuten: Wir erzeugen, was wir beklagen. Sicherlich wird jedes zwischenmenschliche Phänomen in dauerhaften Beziehungen gemeinsam erzeugt. Um eine Perspektive zu fokussieren, in der ich zum Gestaltenden werde, ist es jedoch nützlicher, sich auf die eigenen Anteile zu konzentrieren. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass insbesondere jene Aspekte im Umgang mit der eigenen Person an Bezugspersonen delegiert werden, die nicht bewusst sind. Dies sicherlich, um im Spiegel, das heißt dem Verhalten der Bezugspersonen, betrachten zu können, was sich dem Blick auf die eigene Person entzieht. Um die Selbstgestaltungskompetenzen zu erhöhen, bietet sich die Möglichkeit an, Aussagen über eine Bezugsperson als Aussagen über die eigene Person zu lesen. »Mein Partner hat keine Lust auf mich« könnte dann lauten: »Ich habe keine Lust auf mich.« »Mein Sohn hört mir nicht zu« folglich »Ich höre mir nicht zu.« »Meine Mutter überschreitet ständig meine Grenzen« bedeutete »Im Kontakt mit meiner Mutter überschreite ich ständig meine Grenzen.« Im Sinne einer nützlichen Betrachtungsweise könnte dann gefragt werden, in welchen spezifischen Situationen ein wertschätzender Umgang mit der eigenen Person abhandenkommt und welche Möglichkeiten es gibt, innerhalb dieser Situationen wieder Zugang zu dem intuitiven Wissen von dem, was mir gut tut, zu erlangen. Zentral © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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scheint mir, die Opferperspektive gegenüber einer vermeintlich destruktiven Umwelt durch eine Perspektive der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu ersetzen, indem die eventuell unbewusste Selbstdestruktivität anerkannt wird. Die Würdigung des erfahrenen Leids schließt dies in keiner Weise aus, da ja heute in eben jenen Aspekten (in denen so viel Leid erfahren wurde oder noch wird) ein liebevoller Umgang mit der eigenen und anderen Personen erlernt werden soll. Eine Würdigung der seelischen Not (insbesondere als Folge von Verhaltensweisen anderer) ohne eine Fokussierung auf die, wenn auch unbewusste, Quelle (in Form der eigenen Person), erscheint mir jedoch verkürzt. Erst das Bewusstsein, dass die eigene Person jenen Umgang mit sich selbst erlernen will, der seitens der Bezugspersonen (Partner, Kinder, Freunde, Kollegen) eingefordert wird, macht es möglich, diesen Lernprozess aktiv zu gestalten, statt ihn passiv zu erleiden.

Einstiegsmöglichkeiten Lösende Hypothesen

Die Integration des Körpers in den therapeutischen Prozess kann erfolgen, indem Hypothesen entwickelt werden, die das Ziel, welches mithilfe des Körpers (Wahrnehmung, Ausdruck, Handlung) erreicht werden soll, formulieren. Dies hat den Vorteil, dass der Klient bereits im Vorfeld der Umsetzung eine Vorstellung entwickeln kann von dem, was er erreichen möchte. Mögliche Hypothesen und aus diesen resultierende Ziele könnten sein: die eigene Überforderung rechtzeitig wahrzunehmen, statt die Wut (darüber, sich selbst zu überfordern) gegenüber dem Sohn auszudrücken. Oder die Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit wahrzunehmen und, mit dem Risiko der Ablehnung, dem Partner gegenüber zu formulieren, statt diese unreflektiert bei der Tochter zu suchen (die in der Folge mit massiven Aggressionen dem Bruder gegenüber reagiert). Therapeut: »Wenn du der beschriebenen Spannung im Nacken mehr Aufmerksamkeit schenkst, welche Gefühle werden durch diese Spannung ausgelöst?«

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Klientin: »Vor allen Dingen Wut und Enttäuschung.« Therapeut: »Und wenn du dieser Wut (im Kontakt mit dem Sohn so überfordert zu sein) nachspürst, gegen wen richtet sie sich?« Klientin: »Gegen meinen Exmann, der mich verlassen hat.« Therapeut: »Und bist du bei dir geblieben, als dein Exmann dich verlassen hat?« Klientin: »Ich habe mich andauernd gefragt, was ich falsch gemacht habe, aber keine Antwort gefunden. Diese Selbstzweifel haben mich am Ende nur noch wütender gemacht.«

Atmung vertiefen

Es kann aber auch der Erlebnisraum vergrößert werden, um feedbackgeleitet im Prozess eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was erreicht werden soll. Indem der Klient gebeten wird, im Sitzen, Liegen oder Stehen seine Atmung leicht zu vertiefen, um sein Körpererleben bewusster wahrnehmen zu können, kann die Einladung erfolgen, dem Erleben mehr Raum zu geben. Die Frage »Wo spürst du das im Körper?« hilft, die Aufmerksamkeit vom verbalen Geschehen auf das Erleben von Spannungen im Körper und mit diesen einhergehenden Gefühlen zu lenken. Das Erleben dieser Spannungen oder Gefühle kann wiederum in die relevanten Kontexte eingeordnet werden. Therapeut: »Wenn du diese Selbstzweifel für einen Moment festhältst und deine Atmung fließen lässt, was geschieht dann?« Klientin (beginnt zu weinen): »Ich fühle mich so hilflos, schutzlos und ausgeliefert.« Therapeut: »Und wo spürst du das im Körper?« Klientin: »Im Bauch.« Therapeut: »Lass dich mal in den Bauch atmen. Welche Gefühle entstehen da?« (das Weinen verstärkt sich) Klientin: »Ich habe so Sehnsucht nach einem Mann, der endlich einmal dableibt, wenn ich ihn am dringendsten brauche. Alle sind sie gegangen, mein Vater, mein Bruder, mein Mann, und jetzt fängt auch noch mein Sohn an, sich gegen mich zu stellen.«

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Lösungsbewegungen

Das emotionale Erleben zu intensivieren, mag über den beschriebenen Zugang relativ einfach zu ermöglichen sein. Ich gehe davon aus, dass die Verlebendigung jener Gefühle in als schwierig oder traumatisch erlebten Situationen als hilfreich erlebt werden kann, wenn mit diesen neue gedankliche, verbale, emotionale und motorische Reaktionsweisen einhergehen. Grundlegendes Ziel einer Verlebendigung des emotionalen Erlebens sollte es daher sein, in jenen Situationen, die mit einem Erleben von Lähmung und Ohnmacht einhergehen, ein intensives Erleben der eigenen Kompetenzen zu ermöglichen. Das bedeutet, dass nicht nur die Verstärkung des emotionalen Erlebens, sondern insbesondere die Verstärkung des emotional kompetenten Handelns das Ziel einer Integration des Körpers in die systemische Therapie darstellt. Neben dem Intensivieren und Ausdrücken ist demnach das Formen und Gestalten des emotionalen Erlebens von zentraler Bedeutung. Das bedeutet, dass die Suche nach den Reaktionen, die in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft bisher nicht möglich waren, aber erwünscht werden, einen bedeutsamen Anteil der Zeit in Anspruch nimmt. Die Suche nach und das gemeinsame Ausformen der Lösungsbewegungen, das heißt der lösenden Gefühle, Worte und Handlungen, steht von daher im Mittelpunkt einer den Körper integrierenden systemischen Therapie. Therapeut: »Welchen Umgang mit deiner Wut würdest du dir denn wünschen?« Klientin: »Am liebsten würde ich sie laut in diese ungerechte Welt hinausschreien. Und von meinem Exmann würde ich gern konsequent mehr Präsenz gegenüber unserem Sohn einfordern.« Therapeut: »Wollen wir beides probieren? Das In-die-Welt-Schreien und das Einfordern von deinem Exmann?«

In den folgenden Stunden arbeiten wir sowohl daran, dass sich jene Wut zeigen darf, was aufgrund der zum Teil traumatischen Kindheitserfahrungen der Klientin (Verlust des Vaters etc.) nur langsam und Schritt für Schritt vonstattengeht. Andererseits arbeiten wir an einer konsequenten Haltung gegenüber dem Exmann; dies auch unter Einbezug des Exmannes in die Therapie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Fallbeispiel Thomas Ein Mann Mitte vierzig, als Manager erfolgreich und seit 14 Jahren glücklich verheiratet, kommt nach Herzinfarkt und Klinikaufenthalt in meine Praxis mit dem Anliegen, verstehen zu wollen, warum er sich seiner Umwelt gegenüber als latent aggressiv erlebt. Er kann nicht nachvollziehen, warum er kontinuierlich in dieser Art auftritt, obwohl kein Anlass dazu besteht. Zudem ärgert er sich nach den Begegnungen über sein die Mitmenschen vergraulendes Auftreten. Er wünscht sich, freundlicher und entspannter sein zu können. Bei unseren Gesprächen stellt sich heraus, dass Thomas sein Verhalten schon früh erlernt und im Laufe seines Lebens häufig als überlebensnotwendig erlebt hat. Heute könnte er sich im beruflichen Kontext eine sehr viel entspanntere Haltung erlauben, die sich jedoch nicht einstellen will. Privat besteht zu dem beschriebenen Verhalten kein Anlass, es gelingt ihm jedoch nicht, dieses abzulegen. Beim Erforschen der Ängste, die hinter diesem Verhalten stehen, tritt eine tiefe Angst vor Beschämung und Ablehnung zutage. Als entscheidenden Wendepunkt seines Lebens beschreibt Thomas den Weggang seines Vaters in seinem sechsten Lebensjahr. Sein Vater war »der Sparringspartner« seines Lebens, der ihn jedoch durch seinen Weggang verraten hat. Nachdem der Vater über Nacht verschwunden war, hat er sich nur noch selten gemeldet. Dennoch kann Thomas bis heute nicht verstehen, wie der Vater seine erste Familie nahezu vergessen konnte. Inzwischen hat er erfahren, dass die beiden weiteren Kinder des Vaters diesen als zugewandt und liebevoll erlebt haben, so wie auch er ihn in der Zeit bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Erinnerung hat. Durch den frühen Tod seines Vaters war es ihm leider nicht mehr möglich, mit ihm diesbezüglich ins Gespräch zu kommen. Hypothesen bilden

Auf der Suche nach Hypothesen für das aggressiv-zynische Verhalten von Thomas nähern wir uns der Vermutung, dass ihm dies in seiner Kindheit als Schutz vor dem Schmerz, vom Vater vergessen worden zu sein, gedient hat. Da es heute keinen Sinn mehr ergibt, fassen wir Angst, Aggressivität und Zynismus als kontinuierliche Erinnerung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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daran auf, dass sich seine Kinderseele bis heute vom Vater enttäuscht fühlt; aber auch als Aufforderung, der eigenen Kinderseele gegenüber jene liebevoll väterliche Haltung zu entwickeln, die Thomas in seiner Kindheit so vermisst hat. Der eigenen Kinderseele gegenüber selbst eine solch väterlich liebevolle Haltung zu entwickeln, erscheint Thomas als wünschenswerte Alternative zur kontinuierlichen Angst, in seinem (kindlichen) Hoffen auf ein stabiles Gegenüber enttäuscht zu werden. Suche nach der Szene

Bei der Suche nach einer Szene, innerhalb derer Thomas die erwünschte Haltung seiner eigenen Kinderseele gegenüber ausprobieren möchte, stellt Thomas fest, dass der für ihn schmerzlichste Moment der Morgen war, an dem seine Mutter ihm mitgeteilt hat, dass sein Vater nicht wiederkommen wird. Eine heilsame Vorstellung wäre ein liebevoller Vater, der zu ihm zurückkommt, ihn in den Arm nimmt und ihm versichert, dass er ihn noch genauso lieb hat wie eh und je, auch wenn er zukünftig nicht mehr zu Hause wohnen wird. Imaginatives Probehandeln

Bei dem Gespräch über dieses Lösungsbild steigt in Thomas jedoch so viel Wut auf, dass wir beschließen, dieses Bild zu verändern. Thomas will seinem Vater erst einmal ins Gesicht schreien, wie sehr er ihn dafür hasst, dass er ihn verraten hat. Für den Moment scheint die Wut auf den Vater Vorrang zu haben. In seiner Vorstellung schreit er ihn mit den Worten an: »Du hast mich verraten!« Das tut ihm, wie er sagt, in der Vorstellung sehr gut; zumal sich dieses Gefühl mit der Angst vor Vertrauensmissbrauch in vielen seiner Beziehungen deckt. Choreografie

Thomas sucht sich eine Stelle im Raum, an der in seinem Kinderzimmer die Couch gestanden haben könnte. Dann versucht er sich an die Situation zu erinnern. Zur Unterstützung bitte ich ihn, die Augen zu schließen und sich an verschiedene Kontextmarker wie Kleidung, Lieblingsspielzeug, Tisch, Lichtverhältnisse, Frisur etc. zu erinnern. Ich stelle mich vor ihn und bitte ihn die Augen zu öffnen, sobald er mit der Situation, das heißt seiner Kinderseele bzw. seiner © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Wut auf den Vater, in Kontakt ist. Sehr plötzlich öffnet Thomas seine Augen und schreit mich an: »Du Arschloch, du hast mich verraten!« Daraufhin beginnt er zu weinen, stoppt den Tränenstrom jedoch schnell wieder. Nach einer Weile frage ich ihn, ob er seiner Kinderseele die liebevolle Aufmerksamkeit bzw. den Raum gewähren konnte, die sie damals nicht bekommen hat. Das verneint er. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er nicht viel Wut in seine Stimme gelegt hat. Den Raum für seinen nachfolgenden Schmerz um den Verlust des Vaters habe er sich auch nicht gewähren können. Die Geburt des Lösungserlebens

Im Gespräch gehen wir noch einmal detaillierter das Wunscherleben (seiner Kinderseele) in der betreffenden Situation und das Wunschverhalten des (inneren) Vaters durch. Thomas möchte dem Sohn in ihm alle Rechte gewähren, die große Ungerechtigkeit, vom Vater vergessen worden zu sein, in die Welt hinauszuschreien. Ebenso möchte er dafür sorgen, dass sich der gute Vater, den er bis zu seinem sechsten Lebensjahr kennen- und lieben gelernt hat, seiner Kinderseele annimmt. Reale und innere Elternfiguren

Als hilfreich bei dem Versuch, heute jenen Umgang mit der eigenen Seele zu entwickeln, der bisher nicht möglich war, halte ich die Unterscheidung von realen und inneren (Eltern-)Figuren. Den realen Eltern gegenüber kann eine Haltung entwickelt werden, die wahrzunehmen erlaubt, dass diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten, das heißt auch im Rahmen ihrer »seelischen Behinderungen«, ihr Bestmögliches gegeben haben. Oder aber ihrer Aufgabe als Eltern, sich in einer verantwortlichen Weise um ihre Verletzungen zu kümmern (um diese nicht ungebremst an die Kinder weiterzugeben), weniger gut nachgekommen sind. In Abgrenzung zu der Auseinandersetzung mit den realen Eltern halte ich die Entwicklung guter, innerer Elternfiguren für einen wichtigen Schritt. Das Augenmerk liegt dabei auf den inneren Eltern, da auf diese Weise das Gefühl der Selbstgestaltungskompetenzen gestärkt wird. Im zirkulären Sinn kann mir die Umwelt nur gewähren, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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was ich mir selbst gewähre. Die Illusion zu zerstören, dass sich der Partner in so liebevoller Weise um die Verletzungen der Kinderseele kümmern könne, wie die Eltern das nie getan haben, halte ich für bedeutsam. Erst die Entwicklung guter innerer Elternfiguren, die gewähren, was in der Vergangenheit so schmerzlich vermisst wurde, schafft für Partner oder Freunde die Möglichkeit zu geben, ohne sich in elterliche Rollen gedrängt zu fühlen. Die Erfahrung, dass mir niemand geben kann, was ich mir selbst nicht gewähre (und die Akzeptanz dieser Erkenntnis), ist zwar schmerzlich, aber wie alle Ent-Täuschung auch eine Möglichkeit der Entwicklung. Entwicklung der guten, inneren Vaterfigur

Nachdem Thomas die Haltung und das Verhalten seiner guten inneren Vaterfigur, das heißt sein Wunschverhalten sich selbst gegenüber, im Gespräch deutlich geworden ist, gehen wir über zur Umsetzung. Der innere Vater hat Verständnis für seine Wut und befürwortet diese in vollem Umfang. Ebenso fängt er ihn in seinem Schmerz über den Verlust des realen Vaters auf. Thomas steht wieder in seinem Kinderzimmer, als der Vater zur Tür hereinkommt. Er öffnet die Augen und brüllt den Vater an. Langsam steigern wir uns bis zum maximalen Ausdruck seiner gefühlten Wut. Im Zuge dessen meint Thomas, wie gut ihm das tut und er nicht verstehen kann, warum er diesen Zorn (auf seinen Vater und in Folge auf die Welt) so lange mit sich herum getragen hat. Nach ungefähr einer halben Stunde beenden wir diesen Teil der Szene. Trauer um den Verlust des Vaters

In der nächsten Stunde, 14 Tage später, berichtet Thomas, dass er sich nach der Stunde zuerst wie gelöst gefühlt, sich dann jedoch eine tiefe Traurigkeit breitgemacht hat. So ganz könne er das nicht verstehen, sei es ihm doch nun, nach vierzig Jahren, endlich gelungen, seinen Vater und nicht mehr seine Stellvertreter anzuschreien. Wir erforschen seine Traurigkeit und gelangen zu der Erkenntnis, dass mit dieser Wut auch eine große Sehnsucht nach dem Vater lebendig geworden ist. Thomas berichtet, er habe letzte Woche den Impuls verspürt, das Grab seines Vaters aufzusuchen, was er bisher erst einmal getan habe. Wir spüren seiner Sehnsucht nach. Im Zuge © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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dessen kann Thomas benennen, dass es sich vor allen Dingen um die Sehnsucht nach Halt, Liebe, Wärme und Geborgenheit handelt. Wieder bringe ich den guten inneren Vater ins Spiel und versuche mit Thomas herauszuarbeiten, was dieser damals getan hätte bzw. heute der Kinderseele gegenüber tun würde. In Thomas entsteht das Bild eines Vaters, der ihn liebevoll in den Arm nimmt und ihm versichert, wie lieb er ihn hat und dass er ihn nicht verlassen wird. Geben oder Nehmen

Um das Gefühl der Handlungsfreiheit und Selbstgestaltungskompetenz im Umgang mit lähmenden bzw. traumatischen Situationen zu maximieren, halte ich es für bedeutsam, dass neben einem aktiven Umgang mit Wut ein aktiver Umgang mit Schmerz angeregt wird. Ich halte es im Zuge dessen für weniger sinnvoll, dass der Therapeut in dem zuvor beschriebenen Moment seinen Klienten in den Arm nimmt. Vielmehr glaube ich, dass der Prozess, das heißt der Weg, sich mit Händen, Armen, Brust und Bauch den ersehnten Halt zu holen, um sich diesen ganz bewusst zu gewähren, ein entscheidender ist. Der Aufbau jener guten, liebevollen, heilsamen inneren (Eltern-) Figuren, die nach all den Jahren jene Liebe gewähren, die solange vermisst worden ist, erlebe ich häufig als sehr viel schmerzlicher als die Arbeit an Abgrenzung und Aggression. Der körperlich-geistigseelische Prozess, die Arme zu heben, die Hände zu aktivieren, Brust und Bauch, das heißt den Körper, in Richtung der guten Elternfigur zu bewegen, sie aktiv zu umarmen, ist häufig ein die Seele im positiven Sinne erschütternder. Für essenziell halte ich es daher, dass der Klient so viel Zeit erhält, wie er benötigt, um diese (seelische) Bewegung hin zu dem liebevollen Aspekt seiner eigenen Person in vollem Umfang abzuschließen. Lösungschoreografie

Thomas begibt sich zu seiner Couch im Zimmer und lässt, nach einer Phase der Imagination relevanter Kontextmarker (siehe Arbeit an der Aggression), seiner Traurigkeit ihren Lauf. Nach einer Weile und mit Thomas besprochen, signalisiere ich durch eine sanft auf die Schulter gelegte Hand meine Zuwendung. Wiederum nach einer Weile frage ich ihn, ob er sich den erwünschten Halt vom (guten) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Vater holen möchte? Da er mit angezogenen Knien und den Rücken mir zugewandt dasitzt, müsste er sich dafür umdrehen. Thomas hatte beschrieben, dass es ihm mit seinen sechs Jahren nicht möglich gewesen war, um den Verlust des Vaters zu trauern. Ein ähnliches Ringen findet nun statt. Mit jedem erneuten Tränenstrom will sich Thomas zum Vater umdrehen. Aber jeder Versuch wird auch von der Angst, abgelehnt zu werden, unterbunden. Dieses Ringen dauert seine Zeit. Thomas sagt, dass er Angst hat, der Vater würde aufstehen und gehen, sobald er sich ihm zuwendet. Ich frage ihn, welche Worte der (liebevolle) Vater sagen könnte, um ihn (in seiner Kinderseele) zu ermutigen. »Ich bleibe bei dir«, sind die Worte, die der Vater sagen müsste. Nach mehreren Anläufen und kontinuierlicher Ermutigung gelingt es Thomas schließlich, sich am (guten, inneren) Vater festzuhalten. Als ich meine Arme um Thomas schließe, beginnt er intensiv und lange zu weinen. In der darauffolgenden Stunde berichtet Thomas, dass ihm viele Kilogramm Gepäck aus seinem Rucksack genommen worden seien. So wütend und so behütet habe er sich in seiner Vergangenheit selten erlebt. Er sei sehr stolz darauf, dass es ihm gelungen sei, sich diese intensiven Gefühle jetzt endlich, nach so vielen Jahren, erlauben zu können. Auch erlebe er sich sehr viel weicher im Umgang mit seinen Mitmenschen. Zudem habe er ein Foto gefunden von sich selbst im Alter von sechs Jahren, das heißt dem Zeitpunkt, zu dem der Vater ihn und seine Mutter verlassen habe. Darunter habe er geschrieben: Ich bleibe bei dir! Dieses Bild begleite ihn von nun an. Differenzierung der Ebenen

Solange Thomas den Prozess selbst gestalten und sich seine Lebendigkeit, das heißt seine Gefühle, körperlichen Empfindungen und Bewegungen, schrittweise (zurück-)erobern kann, gehe ich davon aus, dass er den liebevollen Umgang mit seinen kindlichen Aspekten (bzw. denen des guten, inneren Vaters mit seiner Kinderseele) auf sich selbst beziehen kann. Entscheidend bleibt die lediglich sanft moderierende, letztendlich jedoch passive Rolle des Therapeuten, der an der inhaltlichen Gestaltung wenig Anteil hat. Die therapeutische Aufgabe besteht in der Prozessgestaltung, das heißt der Unterstützung des Klienten dabei, in seinen Worten, Gefühlen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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und Handlungen beweglich zu bleiben. Kann der Klient erleben, dass Kontrolle und Steuerung bei ihm liegen, kann die erfahrene Ohnmacht und Hilflosigkeit in den lähmenden bzw. traumatischen Situationen durch das Erleben seiner Selbstgestaltungskompetenzen überschrieben werden. Wirksamkeit

Zu der Frage, inwieweit so eine Erfahrung im Therapieraum nachhaltig wirken kann, möchte ich folgende Überlegung anbieten. Die erste Antwort kann nicht anders lauten als: Man weiß es nicht. Die zweite könnte darauf hinweisen, dass das bewusste Ausformen der erwünschten (Lösungs-)Haltung im Gespräch, in Verbindung mit dem emotionalen und psychomotorischen Erlebnis derselben, durchaus eine sehr bedeutsame Erfahrung darstellen kann. Diese mag in vielen Fällen dazu in der Lage sein, das unbewusst ablaufende Problemmuster durch die Erinnerung an das im Therapieraum erlebte Lösungsmuster zu unterbrechen und sogar durch das erwünschte Lösungserleben zu ersetzen. Sicherlich ist in vielen Fällen eine Wiederholung, Differenzierung und Weiterentwicklung des Lösungserlebens notwendig. Dennoch: Der neuropsychologische Grundgedanke, dass Gedanken, Gefühle und Handlungen auf Haltungen basieren, die durch Erfahrungen geformt und daher nur durch korrigierende Erfahrungen verändert werden können, wird dabei umgesetzt. Der Körper macht den Therapieraum zum Erfahrungsraum und in Folge zu einem Raum, in dem neue Gedanken, Gefühle und Handlungen erlebt werden können.

Fazit Die Integration des Körpers in die systemische Praxis basiert auf sehr einfachen, um nicht zu sagen rudimentären Elementen aufstehen, gehen, schreien, wegstoßen, festhalten, umarmen, loslassen etc. Aber es sind nicht diese körperlichen Bewegungen, die als passende Übungen zu einzelnen Situationen wertvoll sind. Im Gegenteil, als Übung im Sinne von »Komm, wir stehen mal auf und bewegen uns durch den Raum« würde das mehr an Gymnastik denn an Psychotherapie erinnern. Es ist der Kontext, das heißt die Aufladung mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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psychischen Inhalten, durch die eine Bewegung tiefgreifende emotionale Erfahrungen verändern kann. Nicht das Weinen, Schreien, Schlagen, Umarmen ist von Wert. Es geht um das Weinen, Schreien, Schlagen und Umarmen in ganz spezifischen Situationen, gegenüber ganz spezifischen Personen und innerhalb ganz spezifischer Kontexte, das möglich macht, was bisher unmöglich schien. In diesem Sinne erobern wir mit unseren Klienten nicht nur die Lebendigkeit ihres Körpers in bisher als lähmend empfundenen Situationen zurück, sondern auch die Lebendigkeit ihrer Seele.

Literatur Boadella, D. (2009). Befreite Lebensenergie. Eine Einführung in die Biosynthese. München: Schirner. Boyesen, G. (2006). Über den Körper die Seele heilen. München: Kösel. Erickson, M. H. (1998). Gesammelte Schriften (Bde. 1–6). Heidelberg: Carl-Auer. Fromm, E. (1977). Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek: Rowohlt. Hüther, G. (2006). Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kurtz, R. (2002). Hakomi. Eine körperorientierte Psychotherapie. München: Kösel. Lowen, A. (2002). Bioenergetik. Therapie der Seele durch die Arbeit mit dem Körper. Reinbek: Rowohlt. Pierrakos, J. (1997). Core-Energetik. Zentrum deiner Lebenskraft. Essen: Synthesis. Reich, W. (1989). Charakteranalyse. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Marlock, G., Weiss, H. (2006). Handbuch der Körperpsychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Wienands, A. (2012a). Einführung in die körperorientierte systemische Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Wienands, A. (2012b). Choreographien der Seele. Lösungsorientierte systemische Psycho-Somatik. München: Kösel. Wienands, A. (2013). Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie. In H. Schemmel, J. Schaller (Hrsg.), Ressourcen. Ein Hand- und Lesebuch zur therapeutischen Arbeit (S. 335–348). Tübingen: dgvt-Verlag.

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Trauma und Körper: Der Körper merkt sich alles Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Schiller, Wallensteins Tod

Vorbemerkung Die Begriffe Trauma und Körper stehen auf unterschiedliche Art miteinander in Verbindung: Erstens kann ein Blick in die Neurobiologie und die traumabedingten Spuren im Gehirn Aufschluss darüber geben, wie existenziell bedrohliche Erfahrungen auf den Körper einwirken. Zweitens kann die Betrachtung von Körpersignalen und körperlichen Störungen retrospektiv nachweisen, wie traumatische Erfahrungen die gesunde Funktionalität des Körpers dauerhaft beeinträchtigen können. Und drittens kann die Anwendung körperbezogener Therapietechniken bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen zeigen, wie über die konsequente Einbeziehung des Körpers Genesung von seelischen Wunden ermöglicht werden kann.

Trauma, Gehirn und Körper Paul McLean (1974) beschreibt das menschliche Gehirn in seinen evolutionär biologisch herausgebildeten Strukturen auf drei Ebenen: ȤȤ Gehirnstamm und Hypothalamus (Reptiliengehirn), zuständig für die Regulierung des inneren Körpergleichgewichtes (Blutkreislauf, Verdauung, Sauerstoffaufnahme usw.); ȤȤ limbisches System (Säugetiergehirn), zuständig für die Balance zwischen der inneren und der äußeren Welt (z. B. Anpassungsverhalten bezüglich Angst und Wut); ȤȤ Neokortex (Primatengehirn), zuständig für die Analyse der Signale der Außenwelt und die Interaktion mit ihr (Bewertung, Kosten-Nutzen-Analyse, Aktion, Gedächtnis). »The body keeps the score« – der Körper merkt sich alles, dies ist der Titel einer der frühesten Artikel des Traumaforschers Bessel van der Kolk (van der Kolk, 1994; van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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2000). Er beschreibt, dass wir Menschen nicht nur über das explizite Gedächtnis im Neokortex verfügen, sondern ebenso in der Lage sind, über das limbische System und ein sogenanntes Körpergedächtnis Erfahrungen zu speichern, auch wenn der Neokortex nicht oder noch nicht in der Lage ist, seine Aufgabe wahrzunehmen. Wissenschaftler nennen diesen Teil implizites Gedächtnis, weil sich das Gespeicherte schwerlich in Worte fassen lässt. Es ist verkörpert. Es sind vor allem die körperlich oder emotional besonders bedrohlichen und schmerzhaften Ereignisse, die wir auch Traumata nennen, die im Körper gespeichert werden. Bei Konfrontation mit bedeutenden Erinnerungsfragmenten werden die traumatischen Erlebnisse »in Form von affektiven Zuständen, somatischen Empfindungen oder visuellen Vorstellungen (Albträume oder Flashbacks)« (van der Kolk et al., 2000, S. 215) lebendig. Die Erinnerungsfragmente sind zeitlos und können durch neue Erfahrungen nicht ohne Weiteres modifiziert werden. Die Erlebnisse stecken noch in den Knochen und überwältigen das Bewusstsein. Wird jemand an eine außergewöhnliche Bedrohung erinnert, spürt er zuerst körperliche Stresssignale, unter Umständen entsteht zusätzlich das mit dem Stress verbundene Atemschema. Beides – Atemschema und körperliche Stresssignale – gelten als fragmentierte Traumaerinnerungen und sind nicht bewusst steuerbar. Schon die Pioniere der körperorientierten Psychotherapie wie zum Beispiel Gregor Groddeck und Sándor Ferenczi wussten, dass die Schlüssel zum Verständnis der präverbalen Vergangenheit, einschließlich präverbaler Traumata, in Phänomenen der Muskulatur, der Atmung und in psychosomatischen Symptomen zu finden sind (Downing, 2007, S. 346 ff.). Die Speicherung von Erlebnissen im Körper eines kleinen Kindes beginnt also früher, bevor der Neokortex als die am spätesten entwickelte Struktur des Gehirns seine Aufgabe als kognitives Gedächtnis mit circa zweieinhalb bis drei Jahren erfüllen kann. Ferenczi konnte Patienten durch Interventionen mit dem Körper zu frühen Entwicklungsstadien bringen, in denen bei noch nicht erfolgter Ausbildung des Denkorgans nur körperliche Erinnerungen registriert waren. Joachim Bauer fasst die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung zusammen und beschreibt, dass das kindliche Gehirn schon © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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vor der Geburt neuronale Netzwerke bildet und nach der Geburt eine konstante, fürsorgliche und liebevolle Betreuung Voraussetzung für eine ungestörte neurobiologische Entwicklung des Kindes ist. Ist dies nicht der Fall, zeigen sich später schwere Beeinträchtigungen der Lernfähigkeit, des Sozialverhaltens, ja, sogar eine Verminderung des Hirnvolumens (Bauer, 2006). Der Neurobiologe Gerald Hüther geht davon aus, dass sich in der traumatischen Bedrohung nach dem Prinzip der nutzungsbedingten Strukturierung des Gehirns ein neuronales Verschaltungsmuster über alle drei Ebenen – Neokortex, limbisches System, Hirnstamm – als »Notfallschaltung« bildet, bei dem in größter Not und Gefahr die neuronalen Netzwerke auf der Ebene des Hirnstamms noch funktionieren und auf der Verhaltensebene zu Flucht, Angriff, Erstarren und Unterwerfung führen. Wird jemand an eine frühere Traumaerfahrung erinnert, fährt das Denken ungebremst in die untere Ebene dieses neuronalen »Schachtes« und produziert das damals sinnvolle, weil für die Stressregulation erfolgreiche, Körper-, Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmuster (Hüther, Korittko, Wolfrum u. Besser, 2010, 2012). »Frühe Gewalterfahrungen, Vernachlässigung oder der Verlust Sicherheit bietender Bezugspersonen sind die wichtigsten Auslöser unkontrollierbarer Stressreaktionen während der frühen Phasen der Hirnentwicklung und führen bei Kindern auch weitaus rascher als bei Erwachsenen zur Aktivierung der autoprotektiven archaischen Notfallreaktionen im Hirnstamm« (Hüther et al., 2010, S. 25). Die Verbindung zwischen traumatischen Erfahrungen und körperlichen Symptomen wurde schon von den frühen Traumaforschern des 19. Jahrhunderts erkannt und von der modernen Psychotraumatologie, aufbauend auf einem gründlicheren Verständnis neurophysiologischer Zusammenhänge, aufgegriffen. Ellert Nijenhuis bezog sich auf die Arbeiten Pierre Janets aus der Salpêtrière in Paris von 1893 und zeigte, wie bei Traumata nicht nur die seelische, sondern auch die körperliche Kohärenz verloren geht. Die Traumafolgestörung Dissoziation, so Nijenhuis, kann zum »teilweisen oder völligen Verlust der normalerweise gegebenen Fähigkeit zur Integration unmittelbarer Empfindungen und der Kontrolle über Körperbewegungen führen« (2006, S. 17). Er entwickelte einen Frage© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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bogen zur somatoformen Dissoziation, mithilfe dessen über zwanzig Items (in verkürzter Form fünf Items) diagnostiziert werden kann, ob Traumatisierte eine dissoziative Störung entwickelt haben. Die Fragen der Fünf-Item-Version betreffen mögliche Schmerzen beim Urinieren, mögliche Schmerzunempfindlichkeit des Körpers, einen möglichen Tunnelblick oder teilweises Sehen von Objekten, die mögliche Nichtwahrnehmung des Körpers oder von Teilen des Körpers und mögliche Mühe beim Sprechen. Über Fragen nach Störungen von Körperfunktionen diagnostiziert Nijenhuis also eine psychische Beeinträchtigung (2006, S. 266). In der Bindungstheorie wird das sogenannte »Fenster der Toleranz« (Odgen u. Minton, 2000) als Erklärungsmodell genutzt. Man geht davon aus, dass der Mensch im Normalfall leichten Stress durch eigene Affektsteuerung selbst regulieren kann und sich im Laufe seiner Kindheit durch feinfühlige Bindungspersonen einen Bereich der optimalen Erregung zwischen Übererregung (Panik, Druck, Zittern, zwanghaft kreisendes Denken) und Untererregung (flacher Affekt, geistiges Abschalten, emotionale Betäubung) angeeignet hat. Waren keine feinfühligen Bezugspersonen vorhanden, also keine Menschen, die die Bedürfnisse des Kindes wahrgenommen haben, sie richtig interpretiert und prompt und angemessen darauf reagiert haben, wird dieses Fenster äußerst schmal. Erleben kleine Kinder zusätzlich Traumata durch Vernachlässigung oder Misshandlung, werden sie als Folge davon immer wieder ein Zuviel an körperlichem Empfinden (plötzliche Schmerzen, wiederkehrende Entzündungen, allgemeines Krankheitsgefühl) zusammen mit emotionaler Übererregung (plötzliche Wutanfälle, Panikattacken) oder ein Zuwenig an körperlichem Empfinden (Taubheitsgefühle, Schmerzunempfindlichkeit, Lähmungserscheinungen) zusammen mit emotionaler Untererregung (nicht ansprechbar sein, wie »weggebeamt«) entwickeln. Diese Menschen benötigen auch bei leichtem äußerem Stress später immer wieder eine Affektregulierung von außen. Der Physiologe Johann Caspar Rüegg sieht die komplexen Wechselwirkungen von Gehirn, Psyche und Körper in einem biologisch fundierten psychosomatischen Rahmen. Dabei interessiert ihn auch ein neuer Forschungsbereich, die sogenannte Epigenetik. Er referiert die Arbeit von Michael Meaney in Montreal, der nachgewie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sen hat, dass frühkindliche traumatische Erfahrungen »unter die Haut gehen« und tiefe Spuren im Erbgut hinterlassen (Rüegg, 2010). Umweltfaktoren wirken demnach auf die Gene ein, verändern sie und schalten sie dabei ein oder ab. Diese genetischen Veränderungen werden an die nächste Generation vererbt. Rachel Yehuda hat das bei Kindern in New York festgestellt, deren Mütter während des Zusammenbruchs des World Trade Centers mit ihnen schwanger waren. Durch eine stressbedingte hormonelle Kortisolüberflutung wurde ein Anti-Stressgen bei den Müttern lahmgelegt, ihre Kinder zeigten sich besonders stressanfällig (Yehuda et al., 2005). Nach Vincent Felitti haben Menschen, die vor ihrem 18. Lebensjahr drei oder mehr traumatische Kindheitsereignisse zu verkraften hatten, im Erwachsenenalter ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen, chronisch beeinträchtigte Lungenfunktion, Diabetes und Schlaganfälle (Felitti, 2002). »Zeit heilt nicht alle Wunden der ersten Jahre«, sagt Felitti, »Zeit konserviert sie. Sie sind nicht verloren, sie sind verkörpert« (Felitti, zit. nach Possemeyer, 2013, S. 89). Es ist wahrscheinlich so, dass Gehirn und Körper nicht genug Energie mobilisieren können, um dem autonomen Nervensystem und dem gesamten Immunsystem ausreichend Resistenz gegen schwere Erkrankungen mitzugeben. Im neuronalen Daueralarm hemmen Stresshormone die Entwicklung jener Hirnareale, die helfen, Impulse zu kontrollieren und die Erregung des Nervensystems in einem mittleren Bereich zu halten. Michaela Huber schreibt: »Belastungsfaktoren aus der Kindheit werden den Organismus das Leben lang quälen. Es sei denn, die Erosion des körperlichen Stress-Systems und der Immunabwehr kann gestoppt werden, indem die zugrunde liegende Störung, die Posttraumatische Belastungsstörung, bearbeitet wird. Anders geht es nicht« (Huber u. Frei, 2009, S. 49).

Implikationen für Beratung und Therapie Schon Sándor Ferenczi erkannte in den 1930er Jahren, dass es für einen Patienten nicht ausreicht, durch regressive Arbeit einfach nur zu früheren Konflikten, Verletzungen, Wut, affektiver Lähmung usw. zurückzukehren (Ferenczi, 1988, S. 191). George Downing hält die körperliche Regression für einen ersten wichtigen Schritt. »Wenn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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aber außer diesem Erleben nichts weiter passiert, nehmen diese Zustände die Qualität eines festgefahrenen Wiederholungsmusters an. Ihr offensichtlich heilendes Potential wird nicht voll verwirklicht. […] Der wichtigere Schritt ist die Entfaltung latenter Körperressourcen (des affektmotorischen Körperschemas), die früher nicht als entwickelt und verfügbar erlebt wurden« (Downing, 2007, S. 357). Im aktuellen Diskurs der Traumatherapie werden unterschiedliche Methoden beschrieben, die die Arbeit mit dem Körper als zentralen Aspekt ansehen. Am bekanntesten sind die Ansätze von Peter Levine (Somatic Experiencing, 1998, 2011), Albert Pesso (Psychomotorische Therapie, 1969), Pat Ogden (Sensomotorische Psychotherapie, 2010), Babette Rothschild (Somatic Trauma Therapy, 2011) und Ralf Vogt (Handlungsaktive Symbolisierung, 2008). Die Autoren stimmen darin überein, dass bei Menschen körperliche Empfindungen die Grundlage emotionaler Zustände bilden. Diese emotionalen Zustände wiederum führen zu Bewegungen des Körpers: Bei negativen Emotionen gehen wir der Gefahrenquelle aus dem Weg, bei positiven Emotionen bewegen wir uns in Richtung Reizquelle. Im Vergleich zu Tieren hat der Mensch dabei die Fähigkeit, eine Vielzahl von internen und externen Informationen zu integrieren, um die langfristige Wirkung jeder Handlung einzuschätzen und die Reaktionsweisen laufend auf komplexe Weise zu modifizieren. Diese Fähigkeit zur flexiblen Reaktion haben Traumatisierte verloren. Wenn sie an ihr Trauma erinnert werden, setzen sie mit körperlichen Reaktionen den Versuch der autoprotektiven Handlungen fort, den sie im Trauma begonnen haben, und erschöpfen sich durch diese unablässigen Wiederholungen selbst. Sie reagieren immer wieder mit Formen der körperlichen Über- bzw. Untererregung. Hier setzen körperorientierte Therapien an: »Körperorientierte Therapien basieren auf der Vorstellung, dass das in der Vergangenheit Erlebte in den gegenwärtigen physiologischen Zuständen und Handlungstendenzen zum Ausdruck gelangt: Das Trauma schlägt sich in Atmung und Gestik, in sensorischen Wahrnehmungen sowie in Bewegungen, Emotionen und Gedanken nieder« (van der Kolk, 2010, S. 24). Peter Levine versteht ein Trauma als eine biologisch unvollständige Antwort des Körpers auf eine als lebensbedrohlich erfahrene Situation. Das Nervensystem habe dadurch seine volle Flexibilität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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verloren und müsse in der Therapie angeleitet werden, seine gesamte Spannbreite und Kraft zurückzufinden (Levine, 2011). Innerhalb körperorientierter Ansätze werden Klienten dabei unterstützt, sich des eigenen Körpers bewusst zu werden, Körperempfindungen zu verfolgen und körperliche Bewegungen auszuführen. Auf diese Weise können eingefrorene Handlungsimpulse befreit und die persönliche Kompetenz zurückgewonnen werden. In der Körper-, Ressourcen- und Systemorientierten Traumatherapie (KReST)1 wird diese Grundidee differenziert umgesetzt (Besser, 2001; Korittko u. Pleyer, 2010). Die im Folgenden beschriebenen Beispiele zeigen einige körperorientierte Teile dieses in seiner Anwendung sehr viel komplexeren Modells.

Direkt nach einer traumatischen Einwirkung: Der Körper als wichtigste Ressource Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat 2010 Qualitätsstandards und Leitlinien zur Psychosozialen Notfallversorgung herausgegeben. Zur Bewältigung von kritischen Lebensereignissen und psychosozialen Belastungen (Traumata) seien zunächst personale Ressourcen und soziale Ressourcen im informellen sozialen Netz der Betroffenen zu aktivieren. Traumatisierte Menschen sollen unmittelbar nach einem Trauma im eigenen sozialen Netzwerk (Familie, Freunde, Kollegen) emotional unterstützt werden. Dabei sollte allerdings nicht unbedingt das traumatische Erlebnis immer wieder zum Thema werden, weil dadurch wahrscheinlich implizite Erinnerungen in Form von traumabasierten Körperempfindungen, physiologischer Dysregulation in Verbindung mit Hilflosigkeit, Angst und Scham oder Wut noch mal neu aktiviert werden. In der Therapie sollte in den ersten Wochen danach, wenn akute Belastungsreaktionen berichtet werden (z. B. intrusive Erin1 Das Modell der Körper-, Ressourcen- und Systemorientierten Traumatherapie (KReST) wurde am Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (ZPTN) von Lutz Ulrich Besser für die Arbeit mit Einzelnen und von Alexander Korittko für die Arbeit mit Paaren und Familien entwickelt.

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nerungen, Albträume, Vermeidungsverhalten, körperliche Zustände von Über- oder Untererregung), eher körperliche Aktivitäten empfohlen werden, die als wichtigste Ressource der Ablenkung dienen und gleichzeitig physischen Erstarrungszuständen entgegenwirken: Sport, Spaziergänge, Rad fahren oder andere gemäßigte körperliche Betätigungen. Neben ausreichend Schlaf und regelmäßiger gesunder Ernährung sind dies die Eckpfeiler eines primären Genesungsprozesses: Wenn sich der Körper erholt, kann sich auch die Seele erholen. Eine einfache Übung hilft vielen frisch Traumatisierten bei der Ablenkung von sich aufdrängenden Bildern und körperlich unangenehmen Zuständen. Übung: Dissoziations-Stopp Der Klient wird gebeten, sich an eine leicht belastende Situation zu erinnern und wahrzunehmen, in welchem Körperteil die Belastung jetzt zu spüren ist. Dann wird er dazu angeregt, die Zahlen von zehn bis null laut herunterzuzählen, wobei jeweils zwischen den Zahlen ein tiefer Atemzug genommen werden soll (durch die Nase ein- und durch den spitzen Mund ausatmen). Ist er bei null angekommen, wird er nach den aktuellen körperlichen Empfindungen befragt. In der Regel wird ein angenehm ruhiges Körpergefühl berichtet.

Gelingt diese Übung, kann sie auch außerhalb der Therapie selbstständig als gezielte Ablenkung (Dissoziations-Stopp) genutzt werden. Manchen Klienten hilft es zusätzlich, die Wirkweise dieser Übung zu verstehen. Sie erfahren, dass bei heftigen Emotionen wie zum Beispiel Angst oder Wut eher die rechte Hirnhälfte aktiviert wird und beim Zählen eher Bereiche der linken Hemisphäre. Eine als angenehm erlebte Balance entsteht innerhalb dieser Übung im Gehirn. Zusätzlich kann durch ein intensives, langsames Atmen auf den Körper kontrollierend Einfluss genommen werden. Falls jemand in der Therapie in den ersten Wochen nach einer Traumatisierung über das Ereignis sprechen möchte, werden ebenfalls körperlich spürbare Hyper-Erregungszustände (oder dissoziative Zustände!) als Gradmesser dafür genutzt, ob das weitere © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Erzählen heilsame oder destabilisierende Wirkung zeigt. Treten Phänomene körperlicher Dysregulation in Erscheinung, haben Klienten wahrscheinlich keinen Gewinn durch ihren Bericht des Ereignisses. Immer dann, wenn es Traumatisierten schwer fällt, ihre inneren Empfindungen bewusst zu registrieren, werden Therapeutinnen und Therapeuten zum »Hilfs-Neokortex«. Ein Beispiel: Klient: »Also, das war so seltsam, als ich auf dieses andere Auto zufuhr, wie in Zeitlupe, ich sehe die glatte Straße immer noch vor mir, und dieses große Auto, das sich nicht bewegt, und dann kommt dieser Gedanke, dass es jetzt aus ist mit mir …« Therapeut: »Bitte halten Sie einen Augenblick inne. Wie geht es Ihnen im Moment, was spüren Sie jetzt in Ihrem Körper, während Sie von Ihrem Autounfall berichten?« Klient: »Oh, ich merke, wie ich am ganzen Körper schwitze und mein Herz klopft wie verrückt.« Therapeut: »Tut es Ihnen im Moment gut, weiterzuerzählen, oder brauchen Sie jetzt etwas anderes?« Klient: »Nein, mir geht es richtig schlecht.« Therapeut: »Gut, wie Sie das bei sich wahrnehmen können und auch ausdrücken können. Ich möchte Sie bitten, auf einen Punkt hier im Raum zu gucken, sich zu vergegenwärtigen, dass Sie jetzt hier bei mir im Therapieraum sitzen und dass Sie hier sicher sind. Bitte nehmen Sie ein paar ruhige Atemzüge und tun Sie dies solange, bis das heftige Herzklopfen nachlässt.«

Auf diese Weise lernt der Klient, dass er sich in seiner Wahrnehmung dem traumatischen Ereignis nähern (hier: ein Autounfall), aber sein Erleben auch wieder bewusst in das Hier und Jetzt lenken kann. »Going in, going out«, heißt es in der englischen Sprache. Bessel van der Kolk merkt dazu an: »Traumatisierte müssen, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, ihren medialen präfrontalen Cortex und damit ihre Introspektionsfähigkeit aktivieren. Die Therapie muss ihnen helfen, eine tiefe Neugierde bezüglich ihres inneren Erlebens zu entwickeln. Diese Neugierde ist unverzichtbar, wenn sie lernen wollen, ihre physischen Empfindungen zu erkennen und ihre Emotionen und Empfindungen in einer verständlichen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Sprache auszudrücken – verständlich vor allem für sie selbst« (van der Kolk, 2010, S. 25).

Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung: Integration von Körper, Emotion, Verhalten und Gedanken Hat jemand eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, berichtet er Symptome, die zum unerwünschten Wiedererleben des Ereignisses in Träumen, Tagträumen (Flashbacks) und zu Grübeleien führen, die meist mit heftigen Emotionen und körperlich spürbarer Panik, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht oder Erstarren einhergeht. Weitere Symptome sind zum Beispiel Vermeidungsverhalten, emotionales Taubheitsgefühl, Schlafstörungen, Hyperwachsamkeit, psychosomatische Erkrankungen und Konzentrationsschwäche. Mit anderen Worten: Die Symptomatik zeigt sich in Emotionen, Verhalten, Gedanken und im Körper. War man früher der Ansicht, dass nur eine baldige Konfrontation und Durcharbeitung des Traumas zu einer Symptomreduzierung führen kann, herrscht heute die Meinung vor, dass vor der Exposition eine Phase der Stabilisierung notwendig ist – je intensiver die Traumatisierung erfolgte, umso umfangreicher. Stabilisierung

Bei Menschen mit Traumafolgestörungen sind Vergangenheit und Gegenwart somatisch, emotional und kognitiv nicht klar voneinander getrennt. Reaktivierte Traumafragmente signalisieren selbst in friedlichsten Augenblicken Gefahr. Pat Ogden schreibt: »Für die Stabilisierung geeignete Interventionen haben zum Ziel, die Integrationsfähigkeit der Klienten zu verbessern und so ihre adaptive Funktionsfähigkeit im Alltagsleben zu steigern. Sie müssen lernen, dysregulierend wirkende Emotionen und das damit verbundene Arousal [körperliche Erregung] zu erleben, ohne selbstdestruktiv (z. B. in Form von selbstschädigendem Verhalten, gefährlichen Aktivitäten, Gewalttätigkeit und suizidalen Vorstellungen) oder anderweitig dysfunktional darauf zu reagieren« (Ogden, Minton u. Pain, 2010, S. 283). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Neben der äußeren Sicherheit und der Fähigkeit, gut für sich selbst zu sorgen, beginnt Stabilisierung mit der Wiederherstellung der Kontrolle über den eigenen Körper. Dazu gehört vor allem die Selbstregulationsfähigkeit. Traumatisierte geraten häufig in Zustände, die aus ihrer Sicht plötzlich und unkontrollierbar über sie hereinbrechen. Sie beschreiben sich als schlagartig abwesend oder wie betäubt (und verletzen sich dann manchmal selbst, um wieder im Hier und Jetzt zu landen), oder spüren eine mörderische Wut, die oft zur Verletzung anderer führt. Spricht man mit ihnen über diese urplötzlich erlebten Zustände und fragt man nach ersten kleinen Anzeichen des »bald ausbrechenden Vulkans« oder des nahenden Taubheitsgefühls, werden oft körperliche Signale berichtet: ein mulmiges Gefühl im Bauch (vermutlich verbunden mit der Produktion des Stresshormons Adrenalin in der Nebennierenrinde), ein verengter Brustkorb und die Unfähigkeit, ausreichend Luft einzuatmen (vielleicht als Atemschema von Angst und Schrecken), oder eine verspannte Muskulatur in den Beinen oder den Armen und der Schulter (möglicherweise die im Trauma erstarrte Motorik). Diese körperlichen Phänomene können als Signale des neuronalen Prozesses gesehen werden, den Gerald Hüther im Bild des traumaassoziierten »Schachtes« beschreibt (Hüther et al., 2010). Wird jemand durch Schlüsselreize an das traumatische Ausgeliefertsein erinnert, werden über alle Ebenen des Gehirns neuronale Verschaltungen aktiviert, die damals zur Bewältigung dieser Ohnmacht dienten. Diese gekoppelten Erregungsmuster lösen ungebremst auf der Ebene des Hirnstamms Alarmreaktionen aus. Sie äußern sich in körperlichen Reaktionen, die gleichzeitig einer kognitiven Bewertung nicht mehr zugänglich sind. Der Körper erinnert sich, der Verstand kann nicht einordnen. In der Therapie lernen die Betroffenen, diese Mechanismen zu verstehen (Psychoedukation) und die ersten körperlichen Anzeichen wahrzunehmen. Wollen sie ihr Verhalten wirklich verändern, sind sie offen für alternative Handlungsweisen, die sie umsetzen, wenn sie die ersten körperlichen Stressreaktionen registrieren und auf diese Weise den »Vulkanausbruch« verhindern. Eine Alternative kann der Einsatz von scharfen geschmacklichen Reizen, scharfen Gerüchen oder intensiv spürbaren taktilen Reizen sein. Als ebenso © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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wirksam können auch Sicherheit bietende Imaginationen (Reddemann, 2001) erlebt werden. In der Literatur werden zahlreiche Techniken beschrieben, die im therapeutischen Kontext eingeübt und von Betroffenen im Alltag angewandt werden. Sie werden, wie bereits erwähnt, auch mit »Dissoziations-Stopp« bezeichnet. Die Traumaerinnerungen werden dadurch nicht ausgelöscht, aber der Betroffene umgeht den »Schacht« und den »Ausbruch des Vulkans.« Durch die kortikale Kontrolle entsteht eine vergrößerte Affekttoleranz – und somit auch ein Wiedererlangen der Kontrolle über den eigenen Körper. Neben den bisher beschriebenen Methoden der Stabilisierung gilt in der KReST das von Lutz Ulrich Besser entwickelte Screenen eines positiven Erlebnisses, verbunden mit Zufriedenheit, Freude, Stolz oder Glück, als wirkungsvolle körperbezogene Technik (Besser, 2001). Hierbei stellen sich Klient und Therapeut vor, einen Film über ein solches reales Ereignis aus dem Leben des Klienten zu betrachten. An den jeweils passenden Abschnitten des Filmes wird ein Standbild imaginiert und der Therapeut leitet den Klienten an, die positive Emotion mit allen Sinnen wahrzunehmen. Ein Beispiel, in dem der erwachsene Klient Markus sein erstes Fahrradfahren ohne Stützräder als kleiner Junge screent: Therapeut: »Was ist dort jetzt auf dem Bildschirm zu sehen?« Klient: »Da kann der kleine Markus plötzlich allein auf seinem Fahrrad fahren. Weil er vorher so unsicher war, ob er das überhaupt jemals schafft, ist er jetzt sehr glücklich.« Therapeut: »Woran ist das zu erkennen, dass er nach all dem Selbstzweifel so glücklich ist?« Klient: »Er strahlt über beide Backen. Und er schaut seinen Vater so triumphierend an.« Therapeut: »Ah ja. Und wenn Sie jetzt den kleinen Markus sehen, wie er den Vater triumphierend ansieht und ganz stolz ist auf seine Fahrkünste, was spüren Sie jetzt im Körper?« Klient: »Da breitet sich ein warmes Gefühl aus, so im Bauch und auch im Oberkörper. Und ich spüre ein paar Tränen in mir aufsteigen, so Tränen der Rührung.« Therapeut: »Nehmen Sie es wahr, erlauben Sie es, lassen Sie das

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angenehm warme Gefühl in sich ausbreiten und atmen Sie weiter … Ja, gut so … Und welche Gedanken entstehen jetzt dazu?« Klient: »Ja, merkwürdig. Ich hab ja nicht viel von dem kleinen Markus gehalten. Hab immer gedacht, ich war als Kind ein Versager. Aber jetzt bin ich ganz froh, dass ich meinem Vater doch bewiesen hab, dass ich was kann. Jetzt find ich den Kleinen richtig klasse.« Therapeut: »Mögen Sie das mal dem kleinen Jungen in Ihnen sagen?«

Durch die Bildschirmtechnik entsteht neben dem Therapeuten und dem Klienten eine dritte Person, hier der kleine Junge Markus. Das frühere Erlebnis kann dadurch vom erwachsenen Markus völlig neu betrachtet und multimodal verankert werden. Durch die Einbeziehung der aktuellen Körperreaktionen auf den imaginierten »Film« im Hier und Jetzt entsteht eine heilende Bedeutung für das früh beschädigte Selbstwertgefühl des Klienten. Hier wird deutlich, dass die Emotion durch die Verknüpfung mit spontanen Reaktionen des Körpers ihr veränderndes Potenzial entfalten und auf neuronaler Ebene zu bedeutsamen neuen Mustern führen kann. Gehirn und Körper sind wechselseitig abhängige Beziehungssysteme. Der Körper trägt einerseits die Narben des Traumas und ist gleichzeitig des Menschen wertvollste Ressource. Er ist nicht nur das Medium der Erinnerung, sondern auch der Veränderung. Exposition

Traumaexposition bezeichnet einen therapeutischen Prozess, der darauf abzielt, dass sich Betroffene mit der traumatischen Erinnerung (oder Erinnerungen) auseinandersetzen, die Spuren in den Gedanken, den Emotionen und im Körper wahrnehmen und verändern und auf diese Weise die Erinnerungen »entgiftet« und »vergangenheitsfähig« werden. Es wird deswegen für diesen therapeutischen Schritt auch der Ausdruck »Integration« verwendet. Eine Traumaintegration ist möglich, wenn sich die Betroffenen in äußerer Sicherheit befinden und in der Phase der Stabilisierung schon eine ausreichende Affekttoleranz erreicht haben. Für viele Traumatisierte hat sich die Exposition in vivo als hilfreich herausgestellt: Man sucht mit dem Therapeuten zusammen den Ort des traumatischen Geschehens auf (Pieper u. Bengel, 2007). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Für andere wirkt eine solche Konfrontation zu bedrohlich oder ist aus anderen Gründen nicht angemessen. So wurde die Exposition in sensu (in der Vorstellung) entwickelt, zum Beispiel mit der Bildschirmtechnik. Eine weitere Form stellt das sogenannte EMDR dar (Shapiro, 1999). Ich stelle die von Lutz Besser entwickelte im KReSTModell genutzte Bildschirmtechnik vor (Besser, 2001), die besonders reich an körperorientierten Interventionen ist. »Wir können den Organismus nur ändern, wenn wir die alten Gefühle in einem sicheren Umfeld zulassen und ihnen dann einen neuen Weg weisen«, sagt Bessel van der Kolk (zit. nach Possemeyer, 2013, S. 91). Nehmen wir an, der im obigen Beispiel beschriebene Klient Markus möchte in der Exposition eines der traumatischen Erlebnisse mit seinem gewalttätigen Vater bearbeiten. Nach einer kurzen Einführung und Fokussierung auf das speziell ausgewählte Ereignis schaut er sich den imaginierten Film zusammen mit seinem Therapeuten an. Zunächst beschreibt der Klient Szene für Szene dieses Filmes. Falls eine Ressource zu sehen ist, kann der Therapeut ihn bitten, ein Standbild dieser Situation zu betrachten und die Ressource zu würdigen. Ein Ausschnitt aus einem Screening eines Traumas: Therapeut: »Markus, können Sie sehen, wie sich der Kleine dort in dem Film auf dem Weg von der Schule nach Hause über seine guten Leistungen im Unterricht freuen kann?« Klient: »Ja, der strahlt richtig.« Therapeut: »Und was fühlen Sie in Ihrem Körper, wenn Sie das dort sehen?« Klient: »Mir wird richtig warm und es entsteht ein angenehmes Gefühl im Kopf.« Therapeut: »Und wie würden Sie dieses Gefühl nennen?« Klient: »So eine Mischung aus Freude und Stolz.« Therapeut: »Ah ja. Nehmen Sie dieses Gefühl von Freude und Stolz in Ihrem Körper wahr, erlauben Sie es, lassen Sie sich dieses angenehm warme Gefühl ausbreiten und atmen Sie weiter …«

Noch deutlicher werden die körperorientierten Techniken genutzt, wenn der bedrohlichste Teil des Filmes, der dramatische Höhepunkt des Traumas, betrachtet wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Therapeut: »Was ist jetzt zu sehen?« Klient: »Jetzt schlägt der Vater auf den kleinen Jungen ein.« Therapeut: »Wie macht er das? Mit der Hand?« Klient: »Nein. Der hat sich den Handfeger geschnappt. Damit schlägt er zu.« Therapeut: »Und was tut der kleine Markus da in dem Film?« Klient: »Der hält die Arme über den Kopf. So als Schutz.« Therapeut: »Aah, der ist selbst im Moment der schlimmsten Bedrohung in der Lage, sich zu schützen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das sehen?« Klient: »Der tut mir leid.« (zittert am ganzen Körper und weint dann) Therapeut: »Nehmen Sie dies Gefühl von Traurigkeit und Mitleid wahr, erlauben Sie es, lassen Sie es ablaufen und atmen Sie weiter.« Klient: (weint stärker) »Meine Schulter tut mir so weh, da ist alles verspannt.« Therapeut: »Wie gesund Ihr Körper reagiert. Der erinnert sich genau daran, wie er Schulter- und Armmuskulatur zusammengezogen hat, um sich zu schützen. Und vielleicht ist jetzt auch für die Gefühle Platz, die damals nicht ausgedrückt werden konnten.« K. (nickt und weint weiter) … Therapeut: (nach einer Weile) »Als Sie eben Ihre Traurigkeit ausgedrückt haben, haben Sie gleichzeitig Ihre Faust geballt. War da noch ein anderes Gefühl im Körper zu spüren?« Klient: »Ja, Wut!« Therapeut: »Wo spüren Sie die Wut jetzt im Körper?« Klient: »In den Händen und in den Beinen.« Therapeut: »Welche Körperbewegung passt jetzt dazu?« Klient: »Die Fäuste ballen und mit den Füßen trampeln.« Therapeut: »Tun Sie das, wenn Sie mögen.« Klient: (ballt die Fäuste und trampelt zaghaft mit den Füßen auf den Boden) Therapeut: »Geht es noch ein wenig stärker? Mögen Sie die Bewegung ein wenig übertreiben?« Klient: (trampelt heftiger) »DU BLÖDE SAU.« Therapeut: »Das ist okay so. Vielleicht ist jetzt auch endlich der Platz für die Wut, die damals klugerweise nicht von Ihnen gezeigt wurde.« Klient: »Klugerweise?«

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Therapeut: »Ja, sicher hat der kleine Markus instinktiv gewusst, dass er gegen den großen Vater keine Chance gehabt hätte. Was denken Sie?« Klient: »Wenn er sich gewehrt hätte, wäre es sicher viel schlimmer geworden. Ja, das stimmt. Und es ist auch ein bisschen bewundernswert, wie der kleine Markus das ausgehalten hat ohne einen Mucks.« Therapeut: »Mögen Sie ihm das mal nach innen sagen, wie Sie den Kleinen bewundernswert finden?« Klient: »Ja. Kleiner Markus, ich finde es bewundernswert, wie du das damals geschafft hast. Du hast richtig gut für dich gesorgt, um das zu überleben.« Therapeut: »Und wie fühlt sich Ihre Schulter jetzt an?« Klient: »Richtig gut, ich bin im ganzen Körper entspannt.« Therapeut: »Können wir uns jetzt den Film weiter ansehen? Was ist da jetzt zu erkennen?«

Wieder wird durch die Methode des imaginierten Films eine dritte Person geschaffen: die Person des kleinen Markus. Der Klient wird zum distanzierten kontrollierenden Beobachter seiner eigenen Vergangenheit. Durch diese sinnvolle distanzierende Trennung zwischen dem Dort und Damals auf dem Bildschirm und dem Hier und Jetzt des Betrachters kann der Therapeut die Körperreaktionen, die Emotionen und die Gedanken erfragen, die durch die Betrachtung des Films wachgerufen werden. Gelingt es innerhalb der imaginierten Filmbetrachtung, damals unterdrückte oder nicht umfangreich ausgedrückte Emotionen wahrzunehmen, körperlich auszudrücken und sie auch gedanklich zuzuordnen, können also die eingefrorenen Affekte und Körperimpulse in der sicheren Umgebung des Therapieraumes befreit werden, hat der Klient eine Chance, sein traumatisches Erlebnis zu integrieren und als vergangenheitsfähig in der Bibliothek seiner Erfahrungen abzulegen. Der Gradmesser für eine psychische Integration ist der Körper. Reaktionen des Körpers können immer wieder als »gesund« übersetzt werden: die Reaktionen im Dort und Damals, weil sie intuitiv dem Überleben dienten, und die Reaktionen im Hier und Jetzt, weil sie zeigen, welche Körpererinnerungen in der traumatischen Bedro© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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hung gespeichert worden sind. Durch die Bitte der Übertreibung eines körperlichen Impulses kann eine Bewegung Bahn finden, die zum ersten Mal empfunden und ausgedrückt werden kann. Sie setzt ebenfalls fördernde Kräfte frei, die zu neuen Emotions-, Kognitionsund Verhaltensmustern führen können. Durch die Betonung der Atmung wird das Atemschema gestoppt, das mit Angst und Schock einhergeht. Und durch die Frage nach dem Zustand des Körpers nach der Beendigung einer Sequenz behält der Klient mit seinem Reaktionsmuster die Kontrolle über das Tempo der Filmbetrachtung. Auch am Ende des Films wird nach den Körperreaktionen gefragt, um festzustellen, inwiefern der Klient durch die Traumaexposition eine Verbesserung seines Zustandes erfahren hat, bzw. ob er die Sitzung entspannt beenden kann. Ist beim Klienten noch eine Restbelastung körperlich spürbar, kann durch eine Atemübung ein Abklingen dieser Belastung erzielt werden. Die Sitzung kann abgeschlossen werden, wenn keine Belastung mehr zu spüren ist und das Trauma jetzt erinnert werden kann, ohne dass eine emotionale Überflutung entsteht. Das Trauma ist nicht vergessen, sondern integriert. Die Neurobiologen würden sagen, es führt auf der Ebene des Neokortex zu neuen Überlegungen und Bewertungen, auf der Ebene des limbischen Systems und des Hirnstamms zu verringerter Alarmbereitschaft, die sich in einem körperlich optimalen Erregungsniveau bemerkbar macht, einem Gleichgewicht jenseits von Über- bzw. Untererregung. Bessel van der Kolk bemerkt: »Aufgabe des Therapeuten ist es bei alldem, Selbstgewahrsein und Selbstregulierung zu fördern, statt das Trauma zu bezeugen und zu deuten. In der Therapie wird an Empfindungen und Handlungstendenzen gearbeitet, um dem Klienten neue Arten der Orientierung in der Welt und der Bewegung durch die Welt zu erschließen. […] Bei der Arbeit an einem Trauma geht es ebenso sehr darum, dass sich der Klient erinnert, wie es ihm gelungen ist zu überleben, wenn es um die Arbeit an der Heilung geht. […] Es geht darum, die im Stich gelassenen befähigenden aktiven Abwehrmöglichkeiten zu entdecken, die zur Zeit des Traumas unwirksam waren« (van der Kolk, 2010, S. 24). Unter Zuhilfenahme des KReST-Modells setzten sich Menschen schrittweise und kontrolliert mit den Geschehnissen der Vergangen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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heit auseinander, nehmen die Reaktionen ihres Körpers bewusst wahr, registrieren sorgfältig die Ebbe- und Flutbewegungen der Körperempfindungen und lernen physische Handlungen auszuführen, die ihre Kompetenz vergrößern. Das obige Beispiel hat einen kleinen Ausschnitt daraus gezeigt, ohne die komplexen Abläufe insgesamt zu beschreiben, die in dieser Methode Anwendung finden.

Der Körper als ursprüngliche Basis des zersplitterten Selbst Haben Menschen in ihrer frühen Kindheit eine Traumatisierung erlitten und handelte es sich hierbei um wiederkehrende Misshandlungen oder Vernachlässigungen, spricht man von einer sequenziellen Traumatisierung bzw. von einer Entwicklungstraumatisierung (van der Kolk, 2005). Einige Therapeuten gehen davon aus, dass sich das Resultat dieser frühen Trauma- und Bindungsstörungen in Form von in Unordnung geratenen Ich-Zuständen zeigt. Jemand mit einer sogenannten Ego-State-Disorder gerät immer wieder in Persönlichkeitszustände, die zum Beispiel zu besonders aggressiven, depressiven, suizidalen oder selbstzerstörerischen Handlungen neigen. Diese Persönlichkeitszustände sind komplexe Körper-Kognitions-Emotions-Verhaltensmuster, die sich in nutzungsbedingten neuronalen Verschaltungen herangebildet haben, also auf der Ebene des Gehirns kortikal isoliert verknüpfte Aktionssysteme darstellen (Hüther et al., 2010). Neben alltagstauglichen und funktionalen Seiten der Persönlichkeit existieren andere, dysfunktionale Seiten, die zwar wahrgenommen, aber nur sehr ungenügend gesteuert werden können oder sich bewusster Einflussnahme völlig entziehen. Die Menschen sind immer wieder »außer sich«, »nicht sie selbst«, »die Pferde gehen mit ihnen durch«, sie »verlieren den Boden unter den Füßen«. Betrachtet man diese von Onno van der Hart so bezeichnete »sekundäre strukturelle Dissoziation« (van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2008) unter Aspekten der Hirnentwicklung, können wir annehmen, dass bei diesen Menschen die Verschaltungsmuster im Hirnstamm, im limbischen System und anderen subkortikalen Strukturen bereits vorgeburtlich weitgehend ausgereift und miteinander verknüpft worden sind (Hüther et al., 2010). Ohne jetzt die erforder© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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lichen Bedingungen für eine therapeutische Veränderung der EgoState-Disorder und die dazu erforderlichen Schritte differenziert zu schildern (siehe dazu beispielsweise Peichl, 2007), will ich an dieser Stelle lediglich anmerken, dass aufgrund des gemeinsamen Körpers all dieser Ich-Zustände ein wesentlicher Integrationsaspekt in körperzentrierten Ansätzen liegt. Schon lange ist bekannt, dass zum Beispiel Qi-Gong, Massage und Yoga nicht nur die Selbstkontrolle des Körpers stabilisieren, sondern auch der Psyche zu einer vermehrten Steuerung der ungewünschten Zustände verhelfen. Die Wahrnehmung eines gemeinsamen Körpers als Basis des in der traumabelasteten Biografie zersplitterten Selbst ist der Beginn der Kontrolle über zerstörerische Persönlichkeitsanteile. Die Genesung kann dort beginnen, wo in der pränatalen Entwicklung des Gehirns noch keine Zersplitterung der neuronalen Strukturen stattgefunden hat. Rhythm is it!

Systemische Traumaarbeit: Körper und Beziehung Auch wenn mit Paaren oder Familien gearbeitet wird, darf der Körper nicht außer Acht gelassen werden. In der Arbeit mit Paaren begegnet uns das Trauma häufig als Teil der Vergangenheit eines Partners, sei es aus der jüngsten Vergangenheit, wie zum Beispiel bei einem Soldaten, der in Afghanistan stationiert war, oder wie zum Beispiel bei einer Partnerin, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erleiden musste. Auch wenn das vorrangige Setting der Wahl in beiden Fällen Einzeltherapie wäre, könnten doch ergänzend Paargespräche zu den systemischen Auswirkungen, den sogenannten sekundären Traumatisierungen, angeboten werden (Korittko, 2010). Hierbei wird unter anderem in der Methodik darauf zu achten sein, dass jede im Paargespräch erzielte Veränderung auch einen körperlichen Ausdruck findet. In einem therapeutischen Gespräch mit einem Soldaten und seiner Frau beklagte sich die Ehefrau, dass der Mann sich immer mehr zurückziehe und sie offensichtlich nicht mehr lieben würde. Der Soldat, der seine Frau vor seinen plötzlichen Wutausbrüchen als Symptom seiner Posttraumatischen Belastungsstörung schützen wollte, hatte keine Ahnung, wie sehr sie nun unter seiner selbst © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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gewählten Isolation litt. Er versprach, zukünftig wieder häufiger ihre Nähe suchen zu wollen, wenn es ihm gut ginge. Diese Aussage erschien erst dann für seine Partnerin authentisch, als er gegen Ende des Gesprächs aufstand und sie in den Arm nahm. Er war tatsächlich physisch »auf sie zugegangen«. Gefühle (»e-motions«), die in zwischenmenschlicher Interaktion entstehen, suchen einen Weg, uns oder unser Gegenüber derart zu bewegen, dass unser Körper ins Gleichgewicht zurückfindet. In der gemeinsamen Arbeit mit Eltern und Kindern nach einer simultanen Traumatisierung kann ein Modell genutzt werden, das von Bennett Braun als BASK-Modell bekannt gemacht wurde (Braun, 1988) und in seiner Anwendung in Familien nach außerfamiliären Traumata von mir ausführlich bereits andernorts beschrieben wurde (Korittko u. Pleyer, 2010). Die Grundidee ist hierbei, die Familienmitglieder nach einer Phase der Stabilisierung in einer Art »kollektiver Exploration« zum Beispiel Zeichnungen der bedrohlichsten Situation anfertigen zu lassen (etwa der Zusammenprall zweier Autos bei einem Unfall) und diese Zeichnungen in drei Schritten gemeinsam zu betrachten. Dabei können in einer ersten Runde Fragen zu den Inhalten der Zeichnungen gestellt und beantwortet werden (B = Behavior, Verhalten: Was oder wer ist dort dargestellt? Wer macht was? Was ist sonst noch zu sehen? Welche Bedeutung haben die gezeichneten Gegenstände?). In der zweiten Runde wird ein Familienmitglied gefragt, welche Gefühle dabei entstehen, wenn er oder sie diese Zeichnungen betrachtet (A = Affekt: Welche Emotionen werden bei der Betrachtung der Zeichnungen ausgelöst?). »Wo sind diese Gefühle im Körper wahrzunehmen?«, kann die nächste Frage an dasselbe Familienmitglied sein (S = Sensation, Körpergefühl, Körperempfindung). Und anschließend wird nach einem Satz gefragt, der zu dem Gefühl und der Körperempfindung passt (K = Kognition, Gedanke). Die anderen Familienmitglieder werden im dritten Schritt um Rückmeldung zu dem geäußerten Satz gebeten. Ein Gespräch miteinander wird an diesem Punkt gefördert. Danach wird das nächste Familienmitglied nach Gefühl, Körperempfindung und Kognition befragt. Die Zeichnungen würden in diesem Beispiel einen gemeinsamen Fokus der Eltern und Kinder erleichtern. Das BASK-Modell © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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spricht wesentliche Wahrnehmungskanäle an und stellt gleichzeitig ein Modell dar, das auch die unterschiedlichen Ebenen der traumaassoziierten neuronalen Verschaltungen im Gehirn berührt. Die Frage nach dem Inhalt spricht die äußere Schale, den Neokortex an, die Frage nach dem Gefühl das limbische System und die Frage nach den Körperempfindungen den Hirnstamm. Die abschließende Kognition passt zur Ebene der Bewertung, die wiederum im Neokortex, und hier in der präfrontalen Rinde, verortet ist. Es ist vielleicht ein wenig gewagt, doch die Idee einer »hirnfreundlichen Therapie« bietet sich im Rahmen dieser Betrachtung an. Ein anderes Bild, das mir hierzu einfällt, wäre der Dialog der Gehirne miteinander, die sich gegenseitig zu einer Neubewertung des Traumas anregen und durch die Informationen, die sie von ihren Körpern im Hier und Jetzt bekommen, sagen können: Wir sind in Sicherheit, das Trauma ist überwunden, wir haben überlebt.

Ausblick Gehirn und Körper sind Beziehungssysteme. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, hat er in seinem Gehirn die Erfahrung von Nähe und Verbundenheit gespeichert, aber auch von Autonomie und Freiheit. Dies sind die grundsätzlichen Bedingungen, die das menschliche Leben ausmachen: dazuzugehören und selbstständig zu werden. Der Körper benötigt die Erfüllung dieser »neurobiologischen Erwartungen«, um sich gesund zu entwickeln. Werden diese Erwartungen erfüllt, stellt sich ein zufriedenes Gefühl ein, das im Körper zu spüren ist. »Weil er ursprünglich so eng mit dem Gehirn und allem, was dort geschah, verbunden war, bietet der Körper einen besonders leichten Zugang zu allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens, zu den im Gehirn abgespeicherten Sinneseindrücken, den Gefühlen, den unbewusst gesteuerten Verhaltensmustern und nicht zuletzt zu den frühen Erinnerungen« (Hüther, 2010, S. 97). Wenn der Körper mit der äußeren Welt im Einklang ist, entsteht eine neurobiologische Kohärenz. Dabei spielen besonders emotional nahestehende Menschen eine Rolle. Hier passt das Konzept des Embodiment: Der Geist und die Psyche stehen mitsamt ihrem Organ, dem Gehirn, immer in Bezug zum gesamten Körper, wobei © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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wiederum Gehirn und Körper in die restliche Umwelt eingebettet sind (Storch, Cantieni, Hüther u. Tschacher, 2010). Traumatisierte erleben diese Kohärenz zwischen innerer und äußerer Welt häufig nur schwer. Sie sind oft in einem Kreislauf von emotionaler Überflutung, körperlicher Notfallreaktion und dissoziativen Betäubungszuständen gefangen, dass der eigene Körper als fremd oder sogar feindlich erlebt wird. Manchmal sind auch die Erfahrungen mit Menschen so negativ gewesen, dass der Körper keine korrigierenden Erlebnisse mit Menschen zulassen kann. Dann kann zum Beispiel durch tiergestützte Therapie mit Pferden Selbstwirksamkeit und Kontrolle, Fähigkeit zu Konzentration und positiven Emotionen reifen und nicht zuletzt durch den psychischen Kontakt zum Tier ein Gefühl von Kohärenz entstehen. Hierzu sind vielversprechende Ansätze entwickelt worden (Heintz, 2005; Opgen-Rhein, Kläschen u. Dettling, 2011; Wilhelm, 2013). Der Mensch wird durch das Pferd im Getragensein berührbar, lässt sich auf Bindung ein und entdeckt seine inneren Ressourcen. Der Körper ist Ausgangspunkt und Medium für elementare Erfahrungen. Wenn er wieder als Zuhause erlebbar wird, kann ein Mensch sich auf den Weg machen, besser für sich zu sorgen. Der eigene Leib kann zum wichtigsten Ort werden, um Sinn, Halt und Orientierung zu finden. Während in der postindustriellen Gesellschaft die Optimierung unserer äußeren Erscheinung – schöner, allzeit jung und fit – befreit von Rollenvorgaben inszeniert wird und der Körper durch Piercings, Tattoos, Schönheitschirurgie und Fitnesskult aufgewertet wird, verschwindet er in SMS- und Online-Kommunikation, Twitter und Chatrooms aus der persönlichen Begegnung. Gehen wir also wieder häufiger »in uns«, um herauszufinden, was uns gut tut.

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Dem Körper (m)eine Stimme geben

Vorbemerkungen Als wir begannen, uns mit diesem Beitrag zu beschäftigen, stellten wir uns zunächst die Frage, ob es überhaupt einen Themenbereich im Psychodrama gibt, in dem der Körper, seine Signale, seine Informationen und Hinweise, seine Aussagen keine Relevanz haben. Wir waren uns einig: Das gibt es nicht. Unsere zweite an uns gestellte Frage war dann, an welcher Stelle die Relevanz des Körpers einen ganz besonderen Wert hat. Die Antwort, die wir auf diese Frage fanden: bei der (Königs-)Technik »Doppeln«, in der Psychodramatischen Einzelarbeit mit seinen beiden relevanten Varianten, dem Monodrama und dem Psychodrama à deux. Da dieser Beitrag nicht (nur) für Psychodramatikerinnen geschrieben ist, sondern in erster Linie für Kollegen aus anderen Disziplinen, natürlich vor allem für die Systemikerinnen, wollen wir auf die Unterschiede nicht näher eingehen, sondern uns zunächst der von allen nutzbaren Technik des »Doppelns« widmen. Wenn wir uns im Folgenden bei unserer Arbeit auf den Bereich der Therapie beziehen, schließen wir mit ein, dass das Doppeln auch in der beraterischen Arbeit Anwendung findet. Für die bessere Lesbarkeit dieses Beitrags und um beide Geschlechter anzusprechen, haben wir uns entschieden, die männliche und weibliche Schreibweise abwechselnd zu verwenden. Der Begriff Psychodrama setzt sich aus den beiden Worten Psyche und Drama zusammen. Die Übersetzung aus dem Griechischen bedeutet Seele und Handlung. Jedes körperliche Signal ist im Psychodrama von Relevanz, liefert dem Therapeuten Informationen, Hinweise und dient gleichzeitig als Feedbackschleife. Seelische Empfindungen zeigen sich unwillkürlich körperlich, bevor wir diese verbalisieren. Im Prozess des Psychodramas spielen der Körper mit all seinen Varianten des Ausdrucks und die Wahrnehmung desselben durch die Therapeutin eine entscheidende Rolle. Damit bietet der Körper© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ausdruck die unmittelbare Möglichkeit, diesen für hilfreiche Interventionen innerhalb therapeutischer Arbeit zu nutzen. Das Doppeln ermöglicht einen hilfreichen Perspektivwechsel und hat durch den im Grunde innerlich vorzunehmenden Rollentausch mit den Klienten zirkulären Charakter. Hier öffnen sich für die Klientinnen neue Möglichkeitsräume, die überprüft und ausprobiert werden können. Das Psychodrama, vom Ursprung her von Moreno als gruppentherapeutische Methode gedacht, ist im Laufe der Jahrzehnte immer weiterentwickelt und modifiziert worden. Geblieben sind natürlich die von Moreno benannten Ziele, die Spontaneität und die Kreativität des Menschen (wieder) zu entdecken und ihm mehr oder gar neue Lebendigkeit zu ermöglichen. Bei der Erreichung dieser Ziele hat sich das »Doppeln« nicht nur in der psychodramatischen Einzelarbeit als enorm hilfreich erwiesen. Auch für das systemische Arbeiten und andere therapeutische Verfahren eignet sich dessen Anwendung. Was aber ist denn eigentlich dieses »Doppeln« und wie geht es? Da die Technik des Doppelns enorm komplex und vielseitig anwendbar ist, wird es uns in diesem Rahmen nicht gelingen, sie in allen Dimensionen vorzustellen. Was wir uns an dieser Stelle wünschen, ist, dass es uns gelingt, ein Stückchen neugierig zu machen, an unserer eigenen Begeisterung teilhaben zu lassen und für die Arbeit mit Klienten Möglichkeiten eines Einsatzes der Methode aufzuzeigen.

Die Telebeziehung – Gefühle wahr- und aufnehmen Das Doppel, die Therapeutin, versucht sich in die Körperhaltung und die damit verbundenen Gefühle des Klienten hineinzuversetzen, spricht die wahrgenommenen Gefühle in der Ich-Form, zum Beispiel »Ich bin wütend, ängstlich etc.«, aus und versucht so, die Empfindungen des Protagonisten zu verbalisieren. In der Einzeltherapie dient das Doppeln im Besonderen der ȤȤ Bewusstmachung/Wahrnehmung von Körpersignalen, ȤȤ Vertiefung emotionaler Einsichten der Protagonistin, ȤȤ Bewusstmachung von Widersprüchen, ȤȤ Maximierung emotionaler Involviertheit und körperlicher Befindlichkeit, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Überbrückung aufkommender Blockaden im Therapieprozess, ȤȤ Entdeckung von Handlungsimpulsen und ȤȤ dem Einstieg in die Entwicklung von Handlungsalternativen und dem Neugestalten im Rahmen der Abschluss- und Integrationsphase. Von zentraler Bedeutung für den Therapeuten ist die Möglichkeit der Überprüfung eigener Hypothesen und der Telebeziehung. Moreno versteht unter der Telebeziehung den Kontakt zwischen Therapeutin und Klient im Sinne einer »Zweifühlung«, die über die »Einfühlung« hinausgeht. Körper und Gefühl der Therapeutin und des Klienten bilden eine Einheit, einen gemeinsamen Raum, der für den therapeutischen Prozess notwendig ist. Wer mehr über das Telekonzept erfahren möchte, dem sei ein Beitrag von Rainer T. Krüger zum Thema »Was ist Tele? Eine Weiterentwicklung des Telekonzeptes von Moreno« (2010) empfohlen. Das vorrangige Ziel beim Einsatz der Doppeltechnik ist zumeist die Vertiefung und Klärung von Gefühlen und Empfindungen, die in einer spezifischen Situation, in einer wichtigen Beziehung und/oder bei einem angestrebten Ziel beteiligt sind.

Kleine Gebrauchsanleitung für das Doppeln Das Setting: Idealerweise stehen oder bewegen sich Therapeutin und Klient im Raum. Sitzen ist natürlich auch möglich. Hierbei besteht allerdings die Gefahr, dass die Körperenergien der Klientin blockiert werden, jedoch auch die Energien des Therapeuten, diese Technik einzusetzen. Wichtig ist es, dass die Therapeutin nicht nur genau auf das Wie und Was des gesprochenen Wortes achtet, sondern auch sehr genau auf die Sprache der Körper, sowohl die des Klienten als auch auf die des eigenen. Der Körper der Therapeutin stellt die Resonanzfläche für das Erleben des Klienten dar. Hier liegt die besondere Herausforderung der Therapeutin darin, sich mit ihrem Körper zur Verfügung zu stellen, die Körpersignale aufzunehmen und diese für den Klienten zu übersetzen. Der Körper der Klientin zeigt sich hier wie das Schaufenster eines großen Kaufladens, in dem wir das ganze reiche Angebot der Gefühle erkennen können, welches im Moment © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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noch verstaubt und unsortiert wirken kann. Um einen Zugang zu erhalten, um das Angebot zu entstauben und die Farben neu leuchten zu lassen, benötigt unser Klient einen Schlüssel. Diesen Schlüssel können wir ihm in Form des Doppelns anbieten. Ob er passt oder nicht, weiß die Klientin. Zentrale Hinweise, ob er passt, gibt in Folge des Doppelns ad hoc der Körper. Er wird heiß oder kalt, verliert seine Kraft, geht in Anspannung etc. Ein Beispiel: Herr B. ist in einer Szene aus seiner Schulzeit direkt mit einem Mitschüler konfrontiert. Dieser ist symbolisch dargestellt durch einen Stuhl, der vom Klienten mit einem roten Tuch und einem Kissen abgedeckt ist. Im Vorfeld berichtete er davon, dass er in der Schule häufig mit Worten wie »Fettkloß« oder »Walross« gehänselt wurde, jedoch keine Möglichkeit sah, sich zu wehren, weder körperlich noch verbal. Er beschreibt ein Gefühl von Hilflosigkeit, welches er auch in der Gegenwart verspürt, wenn er mit dem Thema Macht konfrontiert ist. Die Körperhaltung, Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, beide Arme neben dem Körper mit kräftig geballten Fäusten, die Lippen zusammengepresst und ein zunehmendes Erröten des Gesichts, lassen anderes erahnen.

Der Therapeut nimmt in dieser Situation die Körperhaltung auf und vollzieht sie nach. Dies kann bei mit dem Doppeln erfahrenen Therapeutinnen auch innerlich geschehen. Aus den Wahrnehmungen entstehen Hypothesen. In unserem Beispiel entsteht die Hypothese, dass die geschilderte Hilflosigkeit gepaart ist mit einer enormen Wut. Um diese Hypothese zu überprüfen, macht der Therapeut eine leichte Rückwärtsbewegung, um aus dem Sichtfeld des Klienten zu treten und formuliert mit einer entsprechenden Modulierung der Stimme einen Satz in der Ich-Form, zum Beispiel: »Ich bin unglaublich wütend!« Bernhard Dufeu beschreibt diesen Prozess so: »Der Körper hat direkten Anteil an der Äußerung der Mitteilung. Gestik, Haltung und Mimik begleiten, unterstützen, verstärken und verfeinern die verbale Aussage, sie führen sie weiter oder stehen gar im Widerspruch dazu. Der Körper lässt die Kluft zwischen dem, was gesagt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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wird, und dem, was ausgedrückt wird, bewusst werden. Er hebt die konnotativen Anteile der Mitteilung hervor und fügt dem verbal Vermittelten zusätzliche Informationen hinzu. Manchmal gibt der Körper dem Schweigen seine Bedeutung. Dem Körper zuzuhören macht es leichter; das unterschwellig, das verdeckt oder stillschweigend Ausgedrückte im Sprechakt sowie das Unausgesprochene in einer Beziehung zu erfassen« (Dufeu, 2008, S. 57 f.). Der Therapeut wird im weiteren Prozess zur inneren Stimme der Klientin. Hierbei ist es wichtig, kurze und klare Sätze zu formulieren, und dem Klienten Zeit zu geben, das Gesagte bei sich ankommen zu lassen. Diese kann das Gesagte bestätigen. In diesem Fall können wir mit dem Thema Wut, bei gleichzeitig gefühlter Hilflosigkeit und zurückgehaltener Wut, weiterarbeiten. Der Klient kann den Satz aber auch als nichtzutreffend zurückweisen. Dann müssen bzw. können wir unsere aufgestellte Hypothese überprüfen und/oder uns die Frage stellen, warum es der Klientin im Hier und Jetzt eventuell nicht möglich ist, dieses Gefühl zuzulassen, oder was es sonst noch bedeuten könnte. Hierbei gilt es, die Dimensionen des Doppelns zu beachten und zu nutzen, die da wären: ȤȤ Dimension des Gefühls, ȤȤ Dimension der Gedanken, ȤȤ Dimension der verbalen und nonverbalen Kommunikation, ȤȤ Dimension des Handelns. Innerhalb dieser vier Perspektiven besteht die Möglichkeit für den Therapeuten, Impulse durch entsprechende Formulierungen zu setzen, beispielsweise: ȤȤ Gefühl – »Ich bin traurig …« ȤȤ Gedanken – »Sie liebt mich nicht …« ȤȤ Kommunikation – »Ich möchte mich abwenden …« ȤȤ Handeln – »Ich wende mich ab …« Die Klientin hat so die Chance, den inneren Faden wieder aufzunehmen, das heißt zu bestätigen und weiteren Impulsen nachzugehen, abzulehnen, das Gesagte zu übergehen oder neue Impulse zu äußern. Oft ist die Zurückweisung der gedoppelten Aussage ver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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bunden mit Handlungsimpulsen: »Ich würde am liebsten …« oder auch mit Körperwahrnehmungen wie zum Beispiel Herzklopfen oder der Empfindung von Hitze. Diese können dann vom Therapeuten im Bewusstsein, dass Körper und Sprache untrennbar sind, aufgenommen werden.

Rollenerweiterung = Möglichkeitserweiterung Wenden wir uns nun einem zentralen Thema Morenos, der »Rollentheorie« zu. Moreno beschreibt diese so: »Wir definieren Rolle als die funktionale Form, die der Mensch in dem spezifischen Moment annimmt, in dem er auf eine spezifische Situation reagiert, an der andere Personen oder Dinge beteiligt sind. Die symbolische Repräsentation dieser funktionellen Form, die der einzelne und andere wahrnehmen, wird Rolle genannt. Die Form wird aus vergangenen Erfahrungen und kulturellen Mustern der Gesellschaft, in der das Individuum lebt, geschaffen und wird dann durch die spezifische Art seiner Produktivität ausgefüllt. Jede Rolle ist eine Fusion persönlicher und kollektiver Elemente« (Moreno, 1989, S. 105). »Morenos Rollentheorie [hat] zwei Seiten, einerseits Rollenmuster einzuüben und andererseits spontanes, kreatives Handeln auszuüben« (Erlacher-Farkas u. Jorda, 1996, S. 76). In unserem Beispiel ging es darum, den Klienten in die Lage zu versetzen, die erlernte und stark verinnerlichte Rolle des Unterlegenen, Ausgelieferten und Hilflosen zu verlassen und in die Rolle desjenigen zu versetzen, der seine Möglichkeiten des Handelns erkennen und in der Konsequenz umsetzen kann. In der Szene aus der Schulzeit wurde der Klient als sich zunächst hilflos fühlend wahrgenommen. Gleichzeitig präsentierte er aber körperliche Signale, die Aufschluss gaben über seine nonverbalen Botschaften, die ihm in diesem Augenblick nicht bewusst waren. Sie werden mit den mit Kraft ausgesprochenen Worten »Ich bin Klaus, ich bin stark« gedoppelt. Ausgelöst wurde beim Klienten der Impuls, sich gegen sein hänselndes Gegenüber körperlich zur Wehr zu setzen, was durch heftiges, wutgetriebenes Einschlagen (Dimension des Gefühls und des Handelns) auf das sich auf dem

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Stuhl befindliche Kissen erfolgte. Begleitet wurde dieses Ausagieren durch den immer wieder vom Klienten mit lauter Stimme formulierten Satz »Ich bin Klaus, ich bin stark« (Dimension verbaler Kommunikation), der auch vom Therapeuten mit dem gleichen Wortlaut, jedoch maximierend, im Sinne des Doppelns begleitet wurde, was ebenfalls von Herrn B. aufgegriffen wurde. Nach dem »Wiedererleben« der damaligen Situation wurde durch das Doppeln eine für ihn neue Wahrnehmung möglich. Die sich im Körper artikulierenden Gefühle erlaubten einen Zugriff auf die ihm eigenen Handlungsoptionen. Die Worte »Ich bin Klaus, ich bin stark« mit der entsprechend erlebten und erinnerten Körperwahrnehmung (Dimension der Gedanken) ermöglichen Herrn B. auch in anderen Situationen, in denen er mit dem Thema Macht konfrontiert wird, einen neuen Umgang zu finden, und in andere ihm neu erschlossene Rollen zu schlüpfen. Die entsprechenden Ressourcen, welche mit dem Kernsatz und dem entsprechenden Körpergefühl verknüpft sind, konnten mit Herrn B. in weiteren Sitzungen erarbeitet werden. Herr B. entdeckte in diesen Sitzungen im Besonderen die Fähigkeit, schon kleine Körpersignale wahrzunehmen. Im Weiteren probierte er neue Umgangsweisen, seinen Standpunkt in Konfliktsituationen zu vertreten, frühzeitig dem Gegenüber Grenzen zu setzen und eigene Bedürfnisse zu formulieren.

Wahrnehmen der eigenen »Körpersensationen« Im Folgenden soll der Fokus auf der Nutzung der Wahrnehmung des eigenen Körpers der Therapeutinnen liegen. Er dient als wesentliche Resonanzfläche für die Gefühle und Empfindungen der Klienten. Sicherlich gibt es Kolleginnen, die diese Körperwahrnehmungskompetenz mit in die Wiege gelegt bekommen haben. Für diejenigen, die dieses Geschenk nicht zur Geburt erhalten haben, bedarf es der Schulung dieser Kompetenz. Im Anschluss werden wir einige Übungen vorstellen, mit der sie diese Kompetenz trainieren können. Deutlich machen wollen wir die große Relevanz der Körperwahrnehmungskompetenz wiederum an einem Fall aus unserer Praxis. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Frau R., 42 Jahre alt, Chefsekretärin bei einem großen Unternehmen, macht nach außen zunächst einen fröhlichen, sicheren Eindruck, scheint kaum durch irgendetwas erschütterbar. Allerdings fällt es ihr schwer, Blickkontakt zu halten. Fröhlich berichtet sie, dass sie sich völlig überfordert fühlt, gibt an, bis an die Grenze der Erschöpfung zu arbeiten. Ihre Körperhaltung ist gerade und wirkt angestrengt gehalten, kontrolliert. Während sie gewählt und schnell spricht, lächelt sie ununterbrochen. Ihre Atemzüge sind kurz. Wenn sie spricht, schildert sie das, was sie im Kontext ihrer Arbeit alles schafft, erzählt nichts Persönliches. Ein Privatleben scheint nicht zu existieren, obwohl sie als Anlass für ihr Kommen Schwierigkeiten in ihrer Ehe benannt hat. Sie scheint unter großem Druck zu stehen und nimmt das Angebot, beim Erzählen durch den Raum zu gehen, dankbar an. Sie läuft mühelos in schnellem Tempo, während sie ebenso schnell weiterredet. Der Therapeut nimmt die Körperhaltung, die Atemfrequenz und das Tempo auf und versucht, den Dialog in der gleichen Sprechgeschwindigkeit wie die Klientin zu führen. Schon nach wenigen Minuten spürt der Therapeut, obwohl in keiner Weise unsportlich, Atemnot und das Aufkommen eines leichten Schwindels, feuchte Hände und Verspannungen im Nackenbereich. Der Therapeut bittet die Klientin, stehen zu bleiben und einen Moment zu schweigen. Er berichtet ihr, was er im eigenen Körper wahrgenommen hat, und bittet sie, in ihren Körper zu horchen, ob sie möglicherweise Ähnliches wahrnimmt. Die Körperhaltung verändert sich merklich, die Schultern fallen nach unten, der Kopf senkt sich. Das Lächeln verschwindet völlig. Der Therapeut verändert die Körperhaltung in gleicher Weise und spürt, wie sich Traurigkeit in ihm breit macht. Er verleiht dem Gefühl Ausdruck, indem er doppelt: »Ich bin traurig.« Klientin: »Ja genau, ich bin traurig.« (sie weint) »Ich fühle mich so allein, ich will das nicht mehr.« Doppel: »Das kann ich niemandem sagen.« Klientin: »Das kann ich niemandem zeigen. Ja, ich muss immer stark sein.« Frau R. schlingt ihre Arme um sich und wiegt sich leicht. Dabei wird das Weinen weniger und ihr Atem beruhigt sich.

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Im Folgenden arbeiten wir heraus, dass Frau R. in einem Elternhaus aufwuchs, in dem sie als Älteste schon früh Verantwortung für ihre Geschwister übernahm, da ihre Eltern beruflich sehr eingespannt waren. Als Leitsatz für ihr Leben hat sich das elterliche »Du schaffst das schon« verankert. Auf der Suche nach anderen Erfahrungen stellte sich heraus, dass ihre Großmutter eine Ressource darstellte, deren Botschaft beinhaltete: »Ich bin da, wenn du mich brauchst.«

Um so handeln zu können, ist es wichtig, dass der Therapeut einen guten Zugang zu seinem eigenen Körper und seinen Empfindungen hat und dabei unterscheiden kann, welche Empfindungen zu eigenen Erfahrungen gehören und welche durch die Befindlichkeit der Klientin bestimmt sind. Hier stellt der Therapeut seinen eigenen Körper als Resonanzboden im Sinne eines Werkzeuges zur Verfügung. Die Therapeutin versucht, durch das Doppeln die Sprache des Körpers in formulierte Sätze umzusetzen, die den noch unbewussten Befindlichkeiten und Gefühlen des Klienten in diesem Moment entsprechen. Unserer Erfahrung nach weisen Klientinnen ein nichtzutreffendes Doppeln spontan und sehr deutlich zurück. Das Doppeln, so wie es im Psychodrama Anwendung findet, stellt eine innere Stimme des Klientensystems dar. Ist diese tatsächlich vorhanden, wird sie auch von der Klientin angenommen und bestätigt. Vielleicht ist sie auch ärgerlich oder verhalten, manchmal mit Scham besetzt oder mit starken Gefühlen, doch eine Bestätigung findet statt. Das Doppeln ist so auch eine wertvolle Überprüfung der Hypothesen des Therapeuten. Es gibt die berechtigte Frage danach, ob beim Doppeln nicht das Risiko besteht, die Klientinnen zu manipulieren. Wenn der Therapeut das Doppeln der Situation angemessen einsetzt, das heißt auch, der Klientin Zeit zu geben, dem Gesagten nachzuspüren und die daraus entstehenden eigenen Gedanken, Gefühle und Impulse zu äußern, sowie bereit ist, eigene Hypothesen über Bord zu werfen, besteht hier keine Gefahr. Wichtig ist auch, die verschiedenen Rollen als Therapeut und Doppler deutlich anzuzeigen und die Rollen langsam zu wechseln. Die Therapeutin kann das Doppeln einleiten, indem sie zum Beispiel sagt: »Ich bin für einen Moment mal deine innere Stimme.« Hilf© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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reich ist es auch, die Position so zu verändern, dass der Therapeut als Doppel nur im Augenwinkel der Klientin sichtbar ist, das heißt kein Gegenüber darstellt. So fällt es dem Klienten leicht, bei sich zu bleiben und den Rollenwechsel der Therapeutin annehmen zu können.

Perspektiven des Doppelns Im Laufe der Therapie lernt der Therapeut die Perspektive der Klientin kennen. Mit Hilfe des Doppelns hat er die Möglichkeit, einen Perspektivwechsel einzuleiten. In unserer Praxis haben sich vor allem folgende verschiedene Perspektiven des Doppelns im Einzelsetting bewährt. Innerhalb der Gruppentherapie erweitern sich die Möglichkeiten des Doppelns, auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen. ȤȤ Einfühlendes, unterstützendes Doppeln: Die Therapeutin spricht Empfindungen, Gedanken aus, die sie bei dem Klienten wahrzunehmen glaubt, wie zum Beispiel: »Ich fühle mich unverstanden, du hörst mir überhaupt nicht zu.« ȤȤ Doppeln von Körperwahrnehmungen: Der Therapeut beschreibt körperliche Reaktionen, die er bei seiner Klientin wahrnimmt, wie zum Beispiel: »Ich bekomme keine Luft.« ȤȤ Anregendes Doppeln: Die Therapeutin regt zur Wahrnehmung an, indem sie wahrgenommene Gefühle, Körperempfindungen, Wünsche in Halbsätzen formuliert und den Klienten auffordert, diese zu vervollständigen, wie zum Beispiel: »Ich würde am liebsten …« ȤȤ Zur Handlung aufforderndes Doppeln: Der Therapeut formuliert mögliche Handlungsoptionen, um zu ermutigen, wie zum Beispiel: »Ich könnte meinem Partner sagen, wie es mir geht, wenn er mich auf der Firmenfeier allein lässt.« ȤȤ Maximierendes Doppeln: Die Therapeutin maximiert dem Klienten von ihm Gesagtes/Gezeigtes, wenn sie den Eindruck hat, der Klient traut sich noch nicht, seine Empfindungen ganz auszudrücken, wie zum Beispiel: Der Klient sagt: »Ich würde gern …«, die Therapeutin doppelt: »Ich möchte …« oder auch »Ich will …« ȤȤ Paradoxes Doppeln: Das paradoxe Doppeln ist von dem Therapeuten nur dann einzusetzen, wenn eine stabile Beziehung zwischen ihm und der Klientin besteht und er annimmt, dass © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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die Klientin diese auch annehmen kann. Hier ist besonders der achtsam gewählte Zeitpunkt wesentlich. Ein Beispiel dazu: Der Klient sagt: »Ich fürchte mich …« Die Therapeutin doppelt: »Ich bin unglaublich mutig!«

Klientenstimmen Wir haben sowohl Klientinnen als auch Teilnehmer unserer Weiterbildungen befragt, wie sie das Doppeln erlebt haben. Hier ein paar Rückmeldungen: ȤȤ »Was das Doppel formulierte, passte zunächst nicht für mich. Es machte mir jedoch dadurch eine genaue Positionierung meines Standpunktes möglich. Das hat mir geholfen.« ȤȤ »Es hat mich erleichtert, dass das Doppel meine begonnenen Sätze weiter formuliert hat.« ȤȤ »Ich erschreckte zunächst über die Stimme im Hintergrund, fühlte mich dann jedoch erleichtert, dass die Stimme das formulierte, was mir nicht möglich war zu sagen.« ȤȤ »Ich spürte, dass sich mein Körper entspannte, als die Stimme formulierte, was ich fühlte.« ȤȤ »Ich war überrascht über die Stimme im Hintergrund. Als ich mich ihr zuwandte, war mir, als würde ich in einen Spiegel schauen.« ȤȤ »Ich hatte Momente der Scham, als eine Stimme meine Gefühle formulierte.« ȤȤ »Ich war überrascht, dass die innere Stimme einfach alles sagen ›darf‹, was ich mir sonst verbiete.« ȤȤ »Meine Standfestigkeit in den Beinen wurde sicherer, als die innere Stimme meine Befindlichkeit formulierte.« ȤȤ »Mein Nacken entspannte sich, als ich meine Gefühle hörte und dann auch spürte.« ȤȤ »Meine Kopfschmerzen vergingen, als meine innere Stimme über meine Schuldgefühle sprach.«

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Anregungen für Therapeutinnen Doppeln erfordert, wie schon benannt, einige Übung, besonders die Schulung der eigenen Körperwahrnehmung. Hier ein paar Möglichkeiten, die sich leicht in den Alltag integrieren lassen. Übungen: Körperwahrnehmung Setzen Sie sich ganz entspannt bei einer guten Tasse Kaffee in ein Café oder einen Biergarten, lassen Sie den Blick schweifen und schauen Sie, was für Menschen sonst noch da sind. Weckt jemand Ihr Interesse, versuchen Sie in die entsprechende Körperhaltung zu gehen, greifen Sie die Mimik und die Bewegungen auf, konzentrieren Sie sich ganz auf Ihren Körper, nehmen Sie alles wahr, was sich zwischen Fußsohle und Haarspitzen abspielt. Wo im Körper erkennen Sie besondere Signale? Versuchen Sie zu ergründen, wie es dem Menschen am anderen Tisch geht, was ihn gerade bewegen könnte. Welche Sätze könnten die seinen sein? Was könnten Sie für Hypothesen bilden? Besonders schön ist diese Übung, wenn man sie zu zweit durchführt und sich über das Wahrgenommene und über die entstandenen Sätze und Hypothesen austauschen kann. Eine weitere Übung, die man sehr gut allein ausprobieren kann, ist, zum Beispiel auf einer Parkbank Platz zu nehmen und sich jemanden zu imaginieren, der neben einem selbst Platz genommen hat, zum Beispiel die Partnerin, der Chef, eine Widersacherin, ein Kind, ein Kampfhund etc. Versuchen Sie zu erspüren, welchen Einfluss dies auf Ihre Haltung und Ihr Körperempfinden hat. Sie werden staunen, was sich da so alles tut.

An dieser Stelle möchten wir Sie ermutigen, in der Arbeit mit Klienten einmal einen Perspektivwechsel vorzunehmen und sich direkt neben die Klientin zu setzen oder zu stellen, um die praktische Erfahrung zu machen, welche Unterschiede sich aus dem Wechsel ergeben. Für diejenigen unter Ihnen, die Meditationserfahrung haben, bietet es sich an, ähnlich wie bei der bekannten Bergmeditation © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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nach Kabat-Zinn, sich während der Meditation in eine Person mit bestimmten Eigenschaften zu versetzen, zum Beispiel Einstein, das Genie, den stolzen Sitting Bull, die mutige Hannah Arendt oder andere, eigene Helden- oder Antiheldenfiguren.

Zehn goldene Regeln für das Doppeln Nun zum Ende noch »Zehn goldene Regeln« für das Doppeln von Peter Soppa: 1. Versuche, dich in die Gefühlswelt des anderen hineinzuversetzen. Stell dir vor, was er denken könnte, aber nicht sagt. Werde ein guter Beobachter. Versuche, das zu fühlen, was der andere fühlt. Nimm Kontakt zu seiner »inneren Stimme« auf. Erinnere dich an deine eigenen Gefühle in einer ähnlichen Situation. 2. Mache deine Aussagen so, dass sie der/die Protagonist/-in als seine/ ihre eigenen annehmen kann. Dazu ist es nötig, deine Rolle zu verlassen und in seine/ihre zu schlüpfen. Achte auf den Augenblick. 3. Empfinde die Körpersprache des/der Protagonist/-in nach. Nimm seinen/ihren Rhythmus auf. Es wird dann einfacher, die richtigen Worte zu finden. 4. Erweitere das Doppeln auf der psychosomatischen Ebene: »Ich bin so nervös, ich kann kaum das Zittern meiner Hände verbergen« etc. 5. Sprich nur dann, wenn der/die Protagonist/-in blockiert ist und sich selbst nicht ausdrücken kann. Unterbrich ihn/sie nicht. 6. Beobachte dich selbst und sei dir eines »Rutsches« in eigene Gefühle bewusst. Merke, wenn du dich durch eigene Gefühle vom Protagonisten/von Protagonistinnen entfernst. 7. Achte auf die Anweisungen der Leiterin/des Leiters. Er/sie gibt die Informationen, die nötig sind, um seinem/ihrem »roten Faden« sowie dem Gefühlsfluss des Protagonisten/der Protagonistin zu folgen. 8. Sollte der/die Protagonist/-in nicht mit deinen Aussagen einverstanden sein, so insistiere nicht, selbst wenn du der Meinung bist, recht zu haben. 9. Erwärme dich zum Protagonisten/zur Protagonistin hin. Sei taktvoll und vorsichtig, wähle beruhigende Aussagen, bevor du provokatorische machst. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

Dem Körper (m)eine Stimme geben159

10. Spiele deine Vermutungen über das Problem des Protagonisten/ der Protagonistin aus. Trainiere deine Beobachtungsfähigkeit und prüfe, ob der/die Protagonist/-in deine Ansicht annimmt oder abweist (vgl. Soppa, 2004, S. 54). Unsere Erfahrung in der therapeutischen Arbeit hat uns gezeigt, wie wertvoll es ist, die Wahrnehmung der körperlichen Signale zu schärfen, genau auf deren Stimmen zu hören, um sie für die Klienten als Dolmetscherin nutzbar machen zu können. Das gute Doppeln wird oft als hohe Kunst bezeichnet, die zu erlernen es sich unseres Erachtens nach unbedingt lohnt, insbesondere wenn man die Klientenstimmen liest bzw. hört. Für die Klientinnen bringt sie einen erheblichen Nutzen, für uns, die Therapeuten, ist diese Technik immer wieder eine Herausforderung. Diese anzunehmen und erfolgreich einzusetzen, erweist sich immer wieder als äußerst befriedigend und sogar lustvoll. Wir würden uns freuen, wenn dieser Beitrag einige Kolleginnen inspiriert hat, sich durchaus spielerisch dieser wunderbaren Möglichkeit zu nähern.

Literatur Dufeu, B. (2008). Die Bedeutung des Körpers in der Psychodramaturgie. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 1, 57–58. Erlacher-Farkas, B., Jorda, C. (Hrsg.) (1996). Monodrama. Heilende Begegnung. Vom Psychodrama zur Einzeltherapie. Wien: Springer. Krüger, R. T. (2010). Was ist Tele? Eine Weiterentwicklung des Telekonzeptes von Moreno. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 9 (2), 225–238. Moreno, J. L. (1989). Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften. Köln: Edition Humanistische Psychologie (EHP) Andreas Kohlhage. Soppa, P. (2004). Psychodrama. Ein Leitfaden (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Maja Dshemuchadse und Stefan Scherbaum

Improtherapie

Vorbemerkungen Als wir anfingen, Improvisationstheater (kurz: Improtheater) zu lehren, geschah dies zunächst parallel zu unserer beraterisch-therapeutischen Tätigkeit. Doch mit jedem Improtheaterworkshop, den wir leiten, verschmelzen die beiden Bereiche immer mehr, und wir entwickeln neue Formen und Übungen, die unsere Teilnehmer zu alternativen Verhaltensweisen einladen und Veränderungen anstoßen, die aus dem bloßen Spiel in den Ernst des Lebens überschwappen. In meiner ersten Zeit als Improspieler wollte ich mich am liebsten auf der Bühne verstecken. Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und fiel, wenn ich nicht weiter wusste, aus meiner Rolle. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer weckte in mir die Angst, bewertet zu werden. Bei einem Workshop geschah es wieder, dass ich abbrechen wollte, in der Meinung, ich hätte die Szene in eine Sackgasse geführt. Der Workshopleiter ließ jedoch nicht locker, sondern bestand darauf, dass ich meine Ratlosigkeit ausspielen sollte. Er ermunterte mich, mir viel Zeit zu nehmen um das Gefühl auszukosten und zu genießen. Am Ende starrten die Zuschauer gebannt auf mein Nichtstun. Später entdeckte ich in anderen Kontexten, dass ich, wenn ich meinen Fehlern und meiner Verwirrung Raum gebe, anstatt sie zu vertuschen, den Kontakt zum Gegenüber stärke und mich damit viel besser gegen Abwertung schützen kann.

Der folgende Beitrag soll eine kurze Einführung in unsere Denkund Arbeitsweise geben, wobei wir die von uns entwickelte und eingesetzte Form der Improtherapie in theoretischen Überlegungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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und praktischen Beispielen vorstellen.1 Wir beginnen mit einer kurzen Beschreibung von Improvisationstheater, um anschließend die systemischen Grundsätze der Improtherapie zu erläutern und mit einem zusammenfassenden Fazit unserer bisherigen Erfahrungen zu schließen.

Was ist Improvisationstheater? Improvisationstheater ist improvisiertes Theater, das heißt, es werden spontan Szenen gespielt, die nicht vorher einstudiert wurden. Die Schauspieler werden dabei inspiriert von den Vorgaben des Publikums (Themen, Spielorte, Personenbeschreibungen etc.), welche meist vor dem Beginn einer Szene eingeholt werden. Diese Vorgaben sind Ausgangspunkt oder Leitfaden für die spontan entstehenden Szenen bzw. Stücke. Die Szenen können in Spielformen mit spezifischen Regeln eingebettet sein (z. B.: es darf nur Kauderwelsch gesprochen werden; beim Klatschen friert die Szene ein und eine neue startet aus der eingefrorenen Position; eine Szene wird anschließend in einer bestimmten Emotion wiederholt). Das Improtheater bedient dabei die vollständige Bandbreite theatraler Möglichkeiten von kurzen, meist komödiantischen Szenen bis zum abendfüllenden, komplexen Drama der sogenannten Langform. Doch neben dieser für das Publikum unterhaltsamen Seite bietet das Improtheater für die Spieler einen besonderen Erfahrungsraum. So versteht Keith Johnstone (2010), einer der Entwickler aktueller Improvisationsformen, das Improtheater nicht nur als eine Kunstform, sondern in erster Linie als Mittel, um die kindliche Kreativität und Fantasie zurückzuerobern, die dem Erwachsenen im Laufe seiner Ausbildung ausgetrieben wurde. Improtheater verspricht damit nicht nur dem Zuschauer Spaß und Unterhaltung, sondern bereichert den Darsteller selbst, dessen Leben durch das Erlernen und Annehmen des Improtheaterspiels an Farbe, Intensität und Spontaneität gewinnt. Dies gelingt insbesondere, indem das Improspiel drei allgemeine 1

Alle Beispiele entstammen unserer eigenen Praxis. Die Übungen sind zum Teil selbst entwickelt, zum Teil aus der zitierten Literatur und von www. improwiki.com.

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Fähigkeiten vermittelt, die im Folgenden genauer ausgeführt werden: Impulse setzen, präsente Wahrnehmung und Bereitschaft zur Reaktion. Impulse setzen

Improtheater ist wie ein einfaches Ballspiel, bei dem sich mehrere Spieler Bälle zuwerfen. Auch wenn die Zahl der Bälle und Spieler variieren kann ebenso wie die Regeln, nach denen geworfen wird (z. B. immer im Kreis oder frei, möglichst ohne dass der Ball herunterfällt, oder Fehler provozierend), so beginnt ein »Spielzug« stets mit dem Wurf des Balles. Dabei führt der Werfer das Spiel fort, indem er dem Ball einen neuen Impuls gibt. Einerseits ist dieser Impuls die Fortsetzung des Vorangegangenen und von diesem beeinflusst, zum Beispiel im Tempo oder der Präzision, andererseits fügt der Werfer eigene Energie hinzu, die sowohl in Richtung als auch Stärke variieren kann. Ebenso wie beim Ballspiel spielen sich die Akteure in einer Improszene gegenseitig immer wieder den Ball »Szene« zu: Jeder Spieler gibt einen weiteren Impuls, so dass mit der Zeit aus einer Kette von Impulsen die Szene entsteht. Für das Setzen eines präzisen Impulses beim Improtheater sind zwei Komponenten ausschlaggebend: Mut und Klarheit. So wie beim Ballspiel ein Zweifel an den eigenen Wurfkünsten oder die plötzliche Entscheidung, doch in eine andere Richtung zu werfen, den Ball ins Schleudern bringen wird, so bringen schwache oder unklare Impulse die Weiterentwicklung der Szene in Gefahr. Der Improspieler trainiert daher, seinem allerersten Impuls zu vertrauen und an ihm festzuhalten, auch wenn dieser extrem, langweilig oder seltsam erscheint. Grundvoraussetzung dafür ist eine Atmosphäre, in der alles richtig und erlaubt ist und der Spieler verantwortungs- und absichtsfrei agiert. Verantwortungsfrei ist der Spieler, wenn er versteht, dass ein Impuls oder eine Assoziation nicht sein Inneres widerspiegelt, sondern die Umwelt, Kultur, den Assoziationsraum, in dem er existiert und den er mit anderen Menschen teilt, weshalb diese überhaupt seinen Impuls als sinnhaft einordnen und interpretieren können. Absichtsfrei agiert ein Spieler, wenn er versteht, dass das Erstreben eigener Originalität die Kontinuität des Annehmens und Weitergebens von Impulsen zerstört. Durch Originalität entzieht sich der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Spieler der gemeinsamen Assoziationskette zugunsten einer eigenen losgelösten Idee, wodurch er letztlich das Spiel zerstört. Haben die Spieler diese beiden Grundsätze des Improtheaters verinnerlicht, dann entsteht die Szene aus der Gesamtsituation und nicht mehr aus dem Geist eines Spielers. Ein wichtige Grundlage ist dabei, die automatische innere Bewertung, den inneren Zensor (Lösel, 2004) auszuschalten. Übung: Ein-Satz-Geschichte Ich lasse die Workshopteilnehmer im Kreis stehend reihum eine Geschichte erzählen, wobei sie jeweils nur einen Satz sagen, danach setzt der Nächste fort. »Peter wachte auf und wusste nicht mehr, wo er war.« »Ihn starrte ein großer brauner Bär an.« »Da klingelte sein Telefon.« »Plötzlich wurde es dunkel.« Die Teilnehmer wollen originell sein, jeder führt ein neues Problem ein und die Geschichte droht zu zerfallen. Ich lasse sie noch einmal beginnen mit der zusätzlichen Aufgabe, dass jeder Satz mit dem nächsten Buchstaben im Alphabet anfangen soll, beginnend mit »A«. »Anna wachte auf.« »Besorgt schaute sie sich um.« »China, sie war in China.« »Dirk lag neben ihr und schnarchte leise.« »Es war immer noch seltsam, neben ihm aufzuwachen.« Durch die zusätzliche Aufgabe müssen sich die Teilnehmer mit dem Naheliegenden zufriedengeben, und die Geschichte gewinnt an Konsistenz und Spannung. Dieser Trick der kognitiven Überlastung durch Multitasking oder Zeitdruck soll den Teilnehmern helfen, den inneren Zensor auszuschalten und absichtslos zu agieren. Während solche Übungen oft zunächst als unangenehme Einengung empfunden werden, trainieren sie letztlich die Befreiung des Spielers von seiner eigenen bewertenden Unfreiheit und eröffnen die Tür zu einem neuen, von Unvoreingenommenheit und Unkontrolliertheit geprägten Erfahrungsraum der Spontaneität im Miteinander.

Wahrnehmung

Ebenso wie beim soeben beschriebenen Ballspiel eine aufmerksame Beobachtung die Voraussetzung ist, den Ball im richtigen Moment © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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aufzunehmen, so verlangt auch das Improspiel Aufmerksamkeit für den Impuls des anderen. Für den Improspieler bedeutet dies, dass er seine gesamte Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt richtet, um möglichst alle Impulse der Mitspieler zu sehen, zu hören und zu fühlen (Johnstone, 2010). Eine Vielzahl an Übungen zielt daher auf eine Schärfung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung und holt den Spieler aus seiner inneren Gedankenwelt, dem Suchen nach dem Zukünftigen und der Bewertung des Vergangenen ins Hier und Jetzt. Übung: Gehen und Stehen Ich lasse die Teilnehmer sich frei im Raum verteilen. Die Aufgabe ist nun, dass immer genau ein Teilnehmer durch den Raum geht, während alle übrigen stehen. Der Wechsel der Rolle des Gehenden zwischen den Teilnehmern erfolgt dabei frei und möglichst fließend. Zunächst passiert es häufig, dass entweder mehrere Teilnehmer gleichzeitig losgehen oder der Gehende stehen bleibt und eine Pause entsteht, bevor ein anderer die Rolle übernimmt. Mit der Zeit lernen die Spieler, immer sensibler auf die visuellen und akustischen Signale der anderen zu reagieren, entwickeln ein Raumgefühl und nutzen den Blickkontakt für die Rollenübergabe. Ich setze diese Übung gern zu Beginn von Workshops ein, um die Aufmerksamkeit der Teilnehmer aufeinander zu lenken und ihre Empfänglichkeit für minimale Impulse zu erhöhen (vgl. http://de.improwiki.com/ improtheater/Gehen_und_Stehen).

Reaktion

Wie der Fänger beim Ballspiel den Ball so annehmen muss, wie ihn sein Mitspieler geworfen hat, so muss auch der Improspieler lernen, den Impuls seines Mitspielers anzunehmen, so wie dieser ihn geformt hat. Am Anfang lehnen Spieler allerdings häufig Impulse ab, um Kontrolle zu erlangen, ähnlich, wie ein Ballspieler den Ball in Ruhestellung bringt, um seine Energie auf Null zu senken und den folgenden Wurf optimal zu kontrollieren. Dadurch wird das Spiel verlangsamt und der Entstehungsprozess der gemeinsamen Geschichte kommt zum Erliegen. Lernt der Spieler aber, den Impuls © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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anzunehmen und selbst anzureichern und damit größer zu machen, kommt es zur Resonanz. Dann entwickelt das Spiel eine Eigendynamik, bei der fühlbar aus den kleineren Einzelimpulsen der Spieler etwas größeres Gemeinsames entsteht, das keiner der Spieler vorher erahnt noch gedacht hat. Dieses Ziel erfordert ein Training der Einstellung, automatisch und von vornherein alles, was geschieht, zunächst zu bejahen, um es anschließend größer zu machen, anstatt wie so oft im Alltag eine skeptisch bis ablehnende Haltung einzunehmen (Lösel, 2004). Übung: Au ja! Zwei Teilnehmer spielen eine Einkaufsszene. »Guten Tag, was wünschen Sie?« »Ich hätte gern ein Kilo Orangen.« »Oh, die sind leider aus.« »Dann nehme ich eine Schale von den Erdbeeren da.« »Das sind aber Himbeeren.« »Okay.« »Die sind aber teuer.« Der Verkäufer blockiert alle Vorschläge des Käufers und die Szene gerät dadurch ins Stocken. Ich gebe ihm die Aufgabe, alles zu bejahen und dabei größer zu machen, und lasse die Teilnehmer die Szene wiederholen. »Guten Tag, was wünschen Sie?« »Ich hätte gern ein Kilo Orangen.« »Ja gern, wir haben gerade die Extrasaftigen geliefert bekommen.« »Oh, dann nehme ich zwei Kilo.« »Ja natürlich, und vielleicht noch ein drittes?« »Ihnen zuliebe nehme ich die ganze Kiste.« »Wunderbar, ich mache Ihnen auch einen ganz besonders günstigen Preis.« Indem die Teilnehmer trainieren, die Impulse der anderen anzunehmen und weiterzuführen, automatisieren sie eine positive und bejahende Grundhaltung.

Systemische Grundsätze für die Improtherapie Das aktive Improspiel ist, unserer Erfahrung nach, unabhängig von dem konkreten Kontext (Hobby oder Therapie, unter Leitung oder autodidaktisch) für die meisten Menschen ein starker Wachstumsimpuls. Allerdings verstehen wir unter Improtherapie einen Ansatz, der darüber hinaus einen professionellen therapeutischen Rahmen bietet, der sowohl schützende als auch unterstützende Funktionen hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Die Aufgaben eines Improtherapietrainers umfassen dabei einerseits typische Aufgaben von Leitern therapeutischer Gruppen (Yalom, 2010), andererseits typische Aufgaben von Leitern von Improtheatergruppen (Johnstone, 2010; Vlcek, 2011). Zur Ersten gehört die Bildung eines geschützten Rahmens, in welchem alle Teilnehmer gleichzeitig Spieler und Zuschauer sind und Rückmeldung und Reflexion Raum haben. Auf dieser Basis unterstützt der Improtherapietrainer die Entwicklung von Beziehungen der Gruppenmitglieder, indem er authentisch kommuniziert, alle Teilnehmer einbezieht und Gruppeninteraktion fördert. Zur Zweiten gehören die Strukturierung des Ablaufs (Auswahl und Reihenfolge der Übungen bzw. Spiele), die Motivierung der Teilnehmer und die Übernahme der Verantwortung für alles, was auf der Bühne geschieht (Johnstone, 2010). Dadurch, dass der Trainer die Verantwortung für den Rahmen und den Inhalt des Spiels und damit die Rolle des Zensors übernimmt (Lösel, 2004), wird es dem Spieler möglich, Kontrolle abzugeben und spontan zu agieren. Jenseits dieser konkreten Aufgaben bestimmt der Trainer mit seinen eigenen Tabus und Grenzen die Wachstumsmöglichkeiten der Teilnehmer. Dem kann er einerseits durch die Bereitschaft begegnen, gemeinsam mit den Teilnehmern zu wachsen (Whitaker u. Bumberry, 1992), andererseits durch sein systemisches Handwerkszeug. Daher skizzieren wir im Folgenden die Bedeutung zentraler systemischer Aspekte im Kontext der Improtherapie. Konstruktivistische Aspekte

Eine zentrale Annahme der Systemik entspringt dem Konstruktivismus und besagt, dass alle Wahrnehmungen und Kognitionen subjektabhängig sind (Pörksen, 2008). Das bedeutet für die Improtherapie größtmögliche Zurückhaltung bei der Bewertung der gespielten Szenen: Weder gibt es einen objektiv richtigen Ablauf einer gespielten Szene (auch kein: Besser wäre an dieser Stelle gewesen, wenn der Liebende einen Brief geschrieben hätte und dann die Angebetete ihn zerrissen hätte.), noch gibt es die objektiv richtige Darstellung (auch kein: Besser hätte man die Handlung verstanden, wenn die Mörderin mehr Zorn gezeigt hätte.). Dennoch liegt ein großer Zugewinn der Improtherapie darin, dass Feedback und alternative Handlungs© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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vorschläge verbalisiert und umgesetzt werden können. Dies kann jedoch nur dann in konstruktiver Art und Weise erfolgen, wenn Feedback stets als subjektive Wahrnehmung verstanden und kommuniziert wird (Fengler, 1998). Entsprechend werden alternative Handlungsvorschläge lediglich als Angebote formuliert, die angenommen oder auch abgelehnt werden können. Nur so kann eine Atmosphäre geschaffen werden, in der alles erlaubt ist. Auf einer übergeordneten konstruktivistischen Betrachtungsebene (Maturana u. Varela, 2012) ist die gespielte Szene selbst soziale Konstruktion und damit ein gemeinsames Produkt aller Beteiligten (der Spieler, der Zuschauer, des Trainers, der Gesellschaft etc.). Das bedeutet, dass eine zum Beispiel obszön interpretierbare Szene ebenso viel über die sexuellen Einstellungen der Spieler wie der Zuschauer, wie des Trainers, wie der Gesellschaft verrät und eine entsprechende Schlussfolgerung von der gespielten Szene auf vermutete Einstellungen oder Charaktereigenschaften der Spieler unzulässig ist (Johnstone, 2010). Erst wenn diese Grundannahme bei den Spielern fest verankert ist, wird es ihnen möglich, den inneren Zensor auszuschalten (Lösel, 2004) und so die eigenen Grenzen zu erweitern. Übung: Assoziationskreis Im sogenannten Assoziationskreis geben die Teilnehmer Worte im Kreis weiter, wobei sie auf das erhaltene Wort frei assoziieren. Besonders Assoziationen aus dem sexuellen Themenbereich führen bei vielen Teilnehmern zu Verzögerungen, da sie die erste Assoziation vermeiden und eine weitere, »harmlose« Assoziation suchen, während alle anderen Mitspieler grinsend warten. Ich unterbreche und greife dieses Grinsen als Beispiel auf, dass der in Not geratene Spieler gerade gar nicht selbst die sexuelle Assoziation hatte, sondern sie vielmehr für uns alle im Raum stand und nur geerntet werden wollte – sonst hätte sie ja auch keiner verstehen können. Daraufhin entspannen sich die Teilnehmer und werden immer wagemutiger, wissend, dass tatsächlich alles erlaubt ist und die Assoziationen in allen Köpfen sind (vgl. http://de.improwiki. com/improtheater/Assoziationskreis).

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Wachstumsorientierte Aspekte

Die der wachstumsorientierten Perspektive entlehnten fünf Grundfreiheiten nach Satir (2011) gehören zum Fundament der Improtherapie. Diese Freiheiten sollten den Teilnehmern möglichst früh nicht nur kognitiv, sondern auch durch Handlungs- und Beobachtungserfahrungen vermittelt werden. Die erste Freiheit, »zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist«, bezieht sich auf eine der Grundvoraussetzungen des Improspiels: die Wahrnehmung der Situation und des Gegenübers. Einfache Beobachtungsübungen und der Austausch über das Gesehene öffnen den Blick auf unterschiedliche Perspektiven und die eigenen blinden Flecken. Die zweite Freiheit, »das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke«, zielt auf den inneren Zensor (Lösel, 2004) ab, der den Improspieler dazu verführt, »falsche« Impulse zu unterdrücken und »richtige« zu forcieren. Um dem erstbesten Impuls bedingungslos zu folgen, benötigt der Improspieler die bereits erwähnte wertungsfreie Atmosphäre und zudem Übung darin, schneller zu reagieren als zu denken. Die dritte Freiheit, »zu meinen Gefühlen zu stehen«, ermöglicht dem Improspieler, seine Rolle mit Leben und echten Gefühlen zu füllen. Übung: Plitsch-Platsch Zwei Teilnehmer spielen eine Gesprächsszene, wobei das Gespräch freundlich beginnt und dann immer aggressiver wird, bis die Wut der beiden Gesprächspartner aufeinander ihr Maximum erreicht, um dann wieder abzuflauen, bis die Freundlichkeit des Beginns wieder hergestellt ist. Dabei simulieren die Teilnehmer lediglich ein Gespräch, indem sie zu einander »Plitsch« und »Platsch« sagen. Wichtig ist, dass sie versuchen, ihr Maximum an Wut tatsächlich zu erreichen, und die Steigerung möglichst langsam vollziehen. Durch diese und ähnliche Übungen gelingt es, Gefühle groß und nach außen sichtbar zu machen und die damit oft verbundene Scham zu überwinden (Spolin, 2005).

Die vierte Freiheit, »um das zu bitten, was ich brauche«, betrifft das Miteinander im Spiel und erfordert die Grundeinsicht, dass keiner © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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für sich allein Improspielen kann, jeder die Mitspieler braucht und jeder selbst die Verantwortung dafür trägt, sich seinen Raum auf der Bühne zu nehmen. Übungen, die den Szenenaufbau betreffen und die Übergänge zwischen den Szenen sowie die Aufmerksamkeitslenkung innerhalb der Szene trainieren, erweitern das Bewusstsein des Spielers für seine eigene Präsenz und wie er den Fokus der Zuschauer gewinnt (Lösel, 2004). Die fünfte Freiheit, »in eigener Verantwortung Risiken einzugehen«, betrifft den erforderlichen Mut, um eine Szene oder Geschichte aktiv voranzutreiben und nicht nur »mitzuspielen«. Dazu gehört es insbesondere, die Angst auszuhalten, die der Spieler empfindet, wenn er in die Rolle des Helden schlüpft und als dieser im Spiel große Risiken eingehen muss. Fallhöhe aufzubauen, wie es im Improtheater heißt, ist eine Grundvoraussetzung für einen spannenden Plot (Vogler, 2010). Anstatt dem Fluchtimpuls nachzugeben und die spannungsvolle, risikoreiche Szene zu verlassen, lernt der Spieler, diesen Gefühlen Raum zu geben, sie zu ertragen und sich dem Publikum als Identifikationsfläche anzubieten. Während spezielle Übungen die fünf Grundfreiheiten trainieren, kann sie der Trainer bei den Spielern besonders festigen, wenn er sich die Freiheiten selbst nimmt und damit als Vorbild dient und den Spielern durch Eingreifen und spezifische Anleitung in der Szene selbst immer wieder Mut macht, sich die Freiheiten zu erobern. Ressourcen- und lösungsorientierte Aspekte

Ressourcenorientierung in der Improtherapie bedeutet zunächst, den Blick auf die Fähigkeiten und die Persönlichkeit des einzelnen Spielers offen zu legen und ihm damit einen individuellen Zugang zu seinem Improspiel zu ermöglichen (Walker, 2010). Eine Herausforderung, der jeder Improspieler begegnet, ist die, verschiedene Rollen (und nicht immer nur sich selbst) konsequent zu spielen. Ein häufig genutzter Einstieg, um leichter in eine neue Rolle zu finden, ist die Veränderung der Körperhaltung (z. B. Becken vorschieben, Kinn nach hinten etc.). Ich selbst hatte damit große Schwierigkeiten, weil mir die rollenspezifische Körperhaltung innerhalb kurzer Zeit entglitt. In einer Übungsstunde, in der wir uns mit dem Einsatz der Stimme beschäftigten, entdeckte ich über-

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raschend, dass mir die Etablierung einer Rolle spielend leicht fiel, wenn ich anstelle der Körperhaltung die Stimme nutzte.

Dieses Beispiel veranschaulicht, dass der Blick auf die individuellen Ressourcen in der Improtherapie nicht in erster Linie zur Motivation im Sinne eines »Sieh mal, das kannst du alles schon!« dient, sondern der Entwicklung spezifischer Strategien, die an individuelle Fähigkeiten anknüpfen. Um dies zu ermöglichen, vermittelt der Trainer den Spielern einen wertschätzenden Blick auf die Vielfalt ihrer Fähigkeiten und Rollen, indem er zunächst möglichst unterschiedliche Formate und Übungen einsetzt, die unterschiedliche Fähigkeiten erfordern. Indem die Spieler ihre eigenen »Standardrollen« schätzen lernen, entdecken sie die Sicherheit dieses Rückzugsraumes und die Neugier, sich Schritt für Schritt neue Rollen anzueignen, gleichermaßen. Daran knüpft die Lösungsorientierung an (de Shazer, 2012). Indem der Trainer die Aufmerksamkeit auf Ausnahmen vom üblichen Rollenverhalten lenkt und diese verstärkt, entwickelt der Spieler seine Rollenflexibilität weiter. Darüber hinaus werden Ausnahmen zusätzlich kreiert, zum einen durch die Vorgaben der Zuschauer (z. B. indem dem Spieler eine ihm fremde Eigenschaft oder Aufgabe zugewiesen wird), zum anderen durch das Eingreifen des Trainers (z. B. indem er den Spieler zu alternativem Verhalten einlädt). Die dadurch gewonnene Rollenflexibilität dient dann dazu, ebenso wie im Alltag eine gute Balance zwischen den Extremen zu finden (z. B. sehr viel zu reden versus sehr wenig) und sich damit an wechselnde Mitspieler anzupassen sowie durch die Wechsel innerhalb der Szenen die Aufmerksamkeit des Publikums wach zu halten. Strukturelle Aspekte

Strukturelle Aspekte (Minuchin, 1987) kommen in der Improtherapie überall dort zum Tragen, wo die Spieler in Szenen und Geschichten miteinander interagieren. Wie in der realen Familie, so führen starre Rollenmuster und dysfunktionale Regeln auch im Spiel zu Stagnation und damit zu Langeweile beim Zuschauer. Die im vorangegangenen Abschnitt bereits angesprochene Rollenflexibilität bezieht sich in diesem Falle in erster Linie auf die Verhaltensmuster zwischen den Spielern auf verschiedenen Abstraktionsebenen vom konkreten Han© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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deln (ein Teilnehmer lehnt wiederholt ein Angebot ab, worauf der andere immer wieder das Angebot erneuert) bis hin zu abstrakten Rollenmustern (z. B. Befehlender/Gehorchender, Täter/Opfer). Außerdem ist unter struktureller Perspektive nicht nur Rollenflexibilität zwischen Rollen in unterschiedlichen Szenen, sondern innerhalb einer gespielten Person gefordert, das heißt ein meist konfliktinduzierter Wechsel in den Rolleneigenschaften. Ein häufiger Zugang zu den eher abstrakten Rolleneigenschaften bietet das Konzept des Status (Johnstone, 2010; Schmitt u. Esser, 2010). Dabei lassen sich Hoch- und Niedrigstatus zunächst oberflächlich auf der Grundlage ihrer sozialen bzw. gesellschaftlichen Rolle (Offizier/Soldat, Richter/ Verurteilter, Chef/Sekretärin) unterscheiden. Darüber hinaus zeigt eine Vielzahl an Unterschieden zum Beispiel in der Körperhaltung (aufrecht/gebückt), der Sprechweise (ruhig/hektisch) und der Gestik (bedeutungsvoll/tickartig) Statusunterschiede zwischen sozial gleichgestellten Personen an. Der Status entscheidet letztendlich darüber, wer sich in einem offenen Konflikt durchsetzt, angefangen dabei, wer bei einer Fußgängerbegegnung ausweicht, bis dahin, wer seine Truppen zurückzieht. Der Niedrigstatus hat lediglich indirekt durch eine passive Verweigerungshaltung die Möglichkeit, seine Interessen zu wahren. Die Improspieler lernen gemeinsam, mit dem Status zu spielen. Da Status zwischen zwei Personen entsteht, hilft das Bild der Statuswippe, bei der der Hochstatus dem anderen helfen kann, noch niedriger zu werden, indem er selbst sich noch erhöht, und andersherum. So bietet sich in der gemeinsamen Erfahrung und Unterstützung die Möglichkeit, nicht nur eine seinem Alltagsstatus widersprechende Rolle zu spielen (auch durch Unterstützung der Spieler auf der Statuswippe), sondern darüber hinaus, das Statusmuster innerhalb der Szene zu verlassen und durch Statuswechsel (ein Umschwingen der Wippe) Spannung zu erzeugen. Übung: Schizodate In einer Szene empfängt der Arbeitgeber (AG) den Arbeitssuchenden (AS) zum Bewerbungsgespräch. AS wird dabei von drei Teilnehmern im fliegenden Wechsel gespielt, die unterschiedliche

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Eigenschaften haben: verliebt (Tendenz Niedrigstatus), phlegmatisch (Tendenz Hochstatus) und hypochondrisch (Tendenz Hochstatus, da Kontrolle durch das Symptom). Nach ein paar relativ ruhigen Eingangsfragen, die der phlegmatische Spieler beantwortete, wechselt sich der verliebte Spieler ein und bewirkt das erste Wechseln der Wippe, indem er die Hand auf den Oberschenkel des Arbeitgebers legt: »Wie schön Sie sind!« Der AG nimmt daraufhin empört die Hand, um sie wegzuschieben: »Sie entschuldigen.« Der hypochondrische Spieler wechselt sich ein und betätigt die Wippe erneut, indem er die Hand dem AS entreißt und aufspringt: »Wie können Sie es wagen, das ist ja widerlich. Wo finde ich hier ein Waschbecken?« Durch Übungen dieser Art entwickeln die Spieler die Fähigkeit, nicht nur zufällig auftretende Störungen für einen Wechsel zu nutzen, sondern aktiv die Szene zu perturbieren bzw. Konflikte zu forcieren, um Wechsel in den Beziehungsmustern zu initiieren.

Narrative Aspekte

Die narrative Perspektive (White, 2010) findet sich natürlicherweise in der Improtherapie wieder, da ja der Inhalt jeden Improspiels eine Geschichte ist, egal ob kurze Szene oder abendfüllende Langform. Im Improspiel selbst werden nicht nur ständig neue Narrationen erzeugt, sondern der Prozess der Integration und Vereinfachung in eine konsistente Narration findet beim Zuschauer fortwährend statt. Das lässt sich besonders anschaulich erfahren, wenn Spieler und Zuschauer sich über eine soeben gespielte Geschichte austauschen. Häufig trifft die Selbstkritik der Spieler bezüglich aufgetretener Inkonsistenzen in der Geschichte und offen gelassener Fragen auf überraschend zufriedene Zuschauer, die sich ihren Reim auf die Geschehnisse machten und zu einer schlüssigen Geschichte fanden, mit teilweise völlig unterschiedlichen Zuschauergeschichten (Lösel, 2004). Übung: Blind Synchro Zwei Teilnehmer verlassen den Raum, um die im Folgenden gespielte Szene nicht zu sehen. Zwei weitere Teilnehmer spielen eine kurze

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Szene mit der Vorgabe »zelten«, wobei sie ein Paar spielen, das zunächst gemeinsam ein Zelt aufbaut, dann ein Lagerfeuer macht, und sich schließlich ins Zelt zum Schlafen legt. Nach Abschluss der Szene werden die beiden anderen Teilnehmer hereingeholt und setzen sich auf die Bühne, ohne etwas von der vorhergehenden Szene zu erfahren. Die Szene wird durch die Originalspieler nun präzise wiederholt, doch werden sie, statt selbst zu sprechen, durch die beiden ahnungslosen Spieler synchronisiert (das heißt, Letztere führen dieselben Bewegungsabfolgen aus wie vorher, ohne das Gesprochene zu berücksichtigen). Es entwickelt sich auf der Sprachebene eine Szene, in der ein Vertreter der ihm öffnenden Frau an der Tür seinen Staubsauger anpreist und vorführt, um schließlich mit der Frau im Bett zu landen. Zuschauer wie teilnehmende Spieler sind bei dieser Form immer wieder fasziniert davon, dass die neue Geschichte, auch bei Kenntnis der Ursprungsversion, in Handlung und Sprache schlüssig und konsistent wirkt.

Erfahrungsorientierte Aspekte

Improtherapie ist per se erfahrungsorientiert (Whitaker u. Bumberry, 1992), da die Erfahrung als Spieler und als Zuschauer im Zentrum steht (Lösel, 2004). Die Teilnehmer machen emotionale Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen: in ihrer Rolle als Spieler, als mitfühlender Betrachter der Szene und, auf einer Metaebene, in der Begegnung mit den anderen Teilnehmern. Der Trainer bietet den Teilnehmern die Möglichkeit für diese Erfahrungen, indem er die Improtherapie strukturiert und leitet, indem er es den Spielern durch verschiedene Übungen erleichtert, vom Kopf in den Moment zu wechseln (Dixon, 2000), und indem er sie animiert, jeden Moment und jedes Gefühl auf der Bühne zu genießen, bis hin zum grandiosen Scheitern. Übung: Whiskymixer Die Teilnehmer stehen im Kreis und geben einander ein Wort weiter. In die eine Richtung lautet es »Whiskymixer«, in die andere »Wachsmaske«, um die Richtung zu ändern, sollen sie »Messwechsel«

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sagen. Die Worte überfordern die Teilnehmer und sie stöhnen, weil ihnen immer wieder Fehler unterlaufen, besonders da ich ein hohes Tempo fordere. Ich führe eine zusätzliche Regel ein: Wer lacht, muss zur Strafe eine Runde um den Kreis laufen. Sofort entspannen sich die Teilnehmer und kommen aus dem Lachen kaum mehr heraus. Sie haben Freude an ihren Fehlern (vgl. http://de.improwiki.com/ improtheater/Whiskeymixer).

Fazit Wir haben Improtherapie mittlerweile mit unterschiedlichem Fokus in verschiedenen Kontexten eingesetzt (z. B. Schule, Uni, JVA, Pädagogenschulung, Führungskräftetraining, Teamentwicklung). Das hier verwendete Label Improtherapie dient dabei der Fokussierung auf den Einsatz von Improtheater mit therapeutisch-pädagogischer Zielstellung in der Abgrenzung vom klassischen Improtheater einerseits, das schauspielerisch-theatrale Ziele verfolgt, und von anderen therapeutischen Theaterformen wie zum Beispiel Psychodrama (z. B. Boal, Spinu u. Thorau, 1982; Moreno, 1974) andererseits, bei dem für spezifische Situationen Lösungen erarbeitet werden. Im Unterschied zu Letzterem tritt bei der Improtherapie der konkrete Inhalt der Szene in den Hintergrund zugunsten einer allgemeinen Entwicklung des persönlichen Verhaltensrepertoires. Die von uns beobachteten Effekte der Improtherapie umfassen zahlreiche Bereiche, von denen wir die sechs wichtigsten nennen möchten. Erstens lernen die Teilnehmer ihre Ressourcen und Entwicklungspotenziale besser kennen, indem sie verschiedene Übungen und Formate ausprobieren. Zweitens wird ein positives soziales Gruppenerlebnis ermöglicht, indem die spielerische, aktive und heitere Atmosphäre Kontakt und Integration fördert. Drittens werden die kommunikativen Kompetenzen der Teilnehmer erweitert, indem sowohl beim Spiel als auch in den Reflexionsrunden eine positive Grundhaltung, Rollenflexibilität, Körper- und Emotionsbewusstsein trainiert werden. Viertens kann die mit dem Improspiel verbundene Freude die Grundstimmung der Teilnehmer in eine positive, entspannte Richtung verschieben. Fünftens trägt die aktive Betätigung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

Improtherapie175

in einer Gruppe und das Kompetenzerleben auf der Bühne zur allgemeinen Selbstwirksamkeit der Teilnehmer bei. Sechstens, und nicht zuletzt, eignet sich die therapeutisch eher niederschwellige Improtherapie auch als Türöffner für eine tiefer gehende Familien-, Einzel- oder Paartherapie, indem die Teilnehmer sich ihres eigenen Entwicklungspotenzials bewusst werden und der Wunsch entsteht, dieses zu entfalten. Abschließend möchten wir alle Trainer, Therapeuten und Pädagogen dazu ermuntern, Improtherapie kennenzulernen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Improtheater unter den vielen beraterisch-pädagogischen Methoden vielleicht nicht als die direkteste Methode erscheinen mag, es aber bei Trainern und Teilnehmern viel gemeinsame, oft auch heilsame Freude hervorruft und den Weg zu Neuem bereitet.

Literatur Boal, A., Spinu, M., Thorau, H. (1982). Theater der Unterdrückten (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dixon, R. (2000). Im Moment. Planegg: Impuls Theater Verlag. Fengler, J. (1998). Feedback geben: Strategien und Übungen. Weinheim u. Basel: Beltz. Johnstone, K. (2010). Improvisation und Theater (10. Aufl.). Berlin: Alexander Verlag. Lösel, G. (2004). Theater ohne Absicht: Ein Herz-, Hand- und Hirnbuch für Improvisationstheater. Planegg: Impuls-Theater-Verlag. Maturana, H. R., Varela, F. J. (2012). Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens (5. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Minuchin, S. (1987). Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis struktureller Familientherapie (7. Aufl.). Freiburg: Lambertus. Moreno, J. L. (1974). Psychodrama: Theorie und Praxis. Berlin u. a.: SpringerVerlag. Pörksen, B. (2008). Die Gewissheit der Ungewissheit (2. Aufl.). Heidelberg: CarlAuer. Satir, V. (2011). Selbstwert und Kommunikation. Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe (18. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schmitt, T., Esser, M. (2010). Status-Spiele: Wie ich in jeder Situation die Oberhand behalte (7. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. de Shazer, S. (2012). Der Dreh: Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie (12. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

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Spolin, V. (2005). Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater (8. Aufl.). Paderborn: Junfermann. Vlcek, R. (2011). Praxis Buch Workshop Improvisationstheater: Übungs- und Spielesammlung für Theaterarbeit, Ausdrucksfindung und Gruppendynamik (7. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Vogler, C. (2010). Die Odyssee des Drehbuchschreibers (6. Aufl.). Frankfurt a. M.: Zweitausendeins. Walker, W. (2010). Abenteuer Kommunikation: Bateson, Perls, Satir, Erickson und die Anfänge des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Whitaker, C. A., Bumberry, W. M. (1992). Dancing with the Family, eine symbolische Erlebnistherapie. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. White, M. (2010). Landkarten der narrativen Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Yalom, I. D. (2010). Theorie und Praxis der Gruppentherapie. Ein Lehrbuch (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Die Nutzung des Körperwissens Körperorientierte Interventionen in der systemischen Therapie

Vorbemerkung Die enge Verflechtung des psychischen Geschehens mit körperlichen Vorgängen wird in verschiedenen körperorientierten Psychotherapieformen schon lange beachtet und für die therapeutische Arbeit genutzt. Während in psychosomatischen Kliniken körperbezogene Vorgehensweisen häufig ein Bestandteil der Behandlung sind, beginnt sich die etablierte ambulante Psychotherapie erst in den letzten Jahren allmählich stärker für die Einbeziehung des Körpers zu interessieren. Dazu haben vor allem Fortschritte in verschiedenen Forschungsgebieten beigetragen: Ergebnisse aus der Neuropsychologie, der Säuglingsforschung, der Psychotraumatologie und der Bindungs- und Emotionsforschung zeigen in eindrucksvoller Weise, wie sich körperliche Erfahrungen auf Empfinden, Selbstgefühl, Motivation, auf interaktive Fähigkeiten und auch auf das Denken auswirken. Auch neuere soziologische Theorien (Gugutzer, 2002) betonen mittlerweile die Rolle des Körpers für das Identitätsempfinden: »Erst im Zusammenspiel von körperlichem Spüren und sprachlicher Reflexion entsteht das Gefühl der Gewissheit seiner selbst als Grundlage der Identität« (Geuter, 2006, S. 117).

Systemische Therapie und Körpererleben In den Anfängen der systemischen Therapie in den 1960er und 1970er Jahren gab es einige Strömungen, die erlebnisorientierte Vorgehensweisen betonten und damit dem körperlichen Erfahrungsraum des Klienten näher waren. Hier ist beispielsweise die Arbeit mit Skulpturen von Virginia Satir oder mit Enactments von Salvador Minuchin zu nennen. Mit Hilfe dieser Techniken wurden nicht nur Beziehungsstrukturen zum Beispiel mittels körperlicher Symbolisierung verdeutlicht, sondern auch Gefühlsprozesse in Gang gesetzt und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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damit neue Beziehungserfahrungen ermöglicht. Die sogenannte konstruktivistische Wende (1980er und frühe 1990er Jahre) lenkte dann den therapeutischen Fokus auf Sprache und Erzählen, Text und Geschichte, also auf eher kognitiv orientierte Konstrukte. Affekte gerieten in den Hintergrund des Interesses. Seit Mitte der 1990er Jahre kann wiederum eine gewisse »emotionale Wende« in der systemischen Therapie ausgemacht werden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Affekte und emotionales Erleben werden als Motivatoren kognitiver Prozesse erkannt. In seinem Artikel »Abschied von narrativer Therapie« führt der Systemiker Konrad Peter Grossmann aus: »Affekte/Erlebnisweisen bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit – sie gleichen Pforten, welche Zugänge zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Gedächtnisspeichern eröffnen oder verschließen und damit die Aktivierung unterschiedlicher Verhaltensweisen ermöglichen. Sie schaffen Kontinuität und kreieren Prägnanzen, sie bestimmen die Wertigkeit von Denkinhalten. Sie wirken zudem steuernd auf unser Ausdrucksverhalten und determinieren somit in hohem Maß unser Interagieren« (Grossmann, 2009, S. 6). Da körperliche Empfindungen ein wesentlicher Bestandteil von Affekten und Emotionen sind, kommt durch das verstärkte Interesse an emotionalen Prozessen nun auch in der systemischen Therapie der Körper mehr ins Blickfeld. Die Wahrnehmung von Körperempfindungen erleichtert den therapeutischen Zugang zu Emotionen. Dazu kommt, dass menschliche Kommunikation nicht nur durch Sprache, sondern auch ganz wesentlich durch nonverbales Ausdrucksverhalten wie Gestik, Mimik, Tonfall, Körperhaltung und Körperausrichtung bestimmt ist – ein gerade für die systemische Therapie wichtiger Aspekt.

Die körperorientierte Psychotherapie von George Downing Im Folgenden möchte ich auf die von George Downing entwickelte und fortlaufend modifizierte körperpsychotherapeutische Methode eingehen sowie einige ihrer theoretischen Grundannahmen und unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten im Rahmen von systemischer Therapie beschreiben. Downing hatte sich bereits in den frü© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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hen 1970er Jahren mit verschiedenen körperpsychotherapeutischen Schulen, zum Beispiel der Körperarbeit nach Wilhelm Reich und der Bioenergetik Alexander Lowens, auseinandergesetzt. Daneben befasste er sich auch mit rein körpertherapeutischen Ansätzen, wie zum Beispiel der Feldenkrais-Methode, dem Rolfing und verschiedenen atemtherapeutischen Schulen, also Ansätzen, die ein umfangreiches Repertoire an Körpertechniken entwickelt haben, jedoch die Körperarbeit nicht mit expliziter verbaler Psychotherapie verbinden. Angeregt durch die Fülle von Körpertechniken, die sich als äußerst hilfreich erwiesen haben, Klienten zu unterstützen, die Beziehung zu sich selbst und zum eigenen Körper neu zu strukturieren, begann Downing eine eigene Behandlungstechnik zu entwickeln. Dabei beschäftigte ihn nicht nur die therapeutische Praxis, sondern auch die theoretische Fundierung körperpsychotherapeutischer Herangehensweisen. So vielfältig und in eindrucksvoller Weise wirksam sich die therapeutischen Techniken erwiesen, stellten Downing doch die theoretischen Begründungen der Verfahren, die auf einem Energiemodell basieren, nicht zufrieden. Aus seiner Sicht wird das »Energiemodell« den komplexen Wechselwirkungen physiologischer bzw. biochemischer Prozesse nicht gerecht, die psychischen Zuständen zugrunde liegen. Des Weiteren weist Downing auf die Gefahr der Einengung des therapeutischen Vorgehens durch den hauptsächlichen Fokus auf das Wiederherstellen des »Energieflusses« durch emotionale Katharsis hin. Viele Phänomene, die bei der Arbeit mit Klienten auftauchten, erschienen ihm auch mittels energetischer Aufladungs- und Entladungsprozesse nicht schlüssig erklärbar (Downing, 1996, S. 366 ff.). Zur theoretischen Fundierung seiner Arbeitsweisen zog Downing Erkenntnisse aus der Säuglings- und Bindungsforschung heran. Insbesondere die Forschungsarbeiten von Ainsworth, Beebee, Dornes, Stern und Tronick beeinflussten ihn stark und regten ihn zu seinen eigenen Aktivitäten auf dem Gebiet der Video-Mikroanalyse der Eltern-Kleinkind-Beziehung für Forschungs- und Behandlungszwecke an. Was ist nun an diesen Forschungen so relevant für die körperorientierte Psychotherapie? Keine Lebensphase eines Menschen ist vermutlich so stark geprägt von körperlicher Interaktion wie das erste Lebensjahr. Der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Säugling kann seine inneren Zustände und seine Bedürfnisse nur auf körperliche Weise zeigen: durch unterschiedliche Töne, Mimik, Blicke, Hin- oder Wegdrehen des Kopfes bzw. des Körpers, durch Ausgreifen mit den Armen und Händen, Strampeln mit den Beinen usw. Zwar bringt der Säugling angeborene Fähigkeiten mit, »doch sie befinden sich überwiegend noch im Rohzustand und brauchen weitere Entwicklung. Wie diese Evolution voranschreitet, ist offen. Alles hängt davon ab, was sich in der Beziehung zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen ereignet« (Downing, 2006, S. 334). Die erwachsene Bezugsperson, Vater oder Mutter, gestaltet die Interaktion mit dem Kleinkind ebenfalls weitgehend auf körperliche Weise: mithilfe von Tönen, Mimik, Bewegungen und Berührungen kommuniziert sie mit dem Kind. Dabei spielen zum Beispiel Spiegeln, Synchronisation, Echoverhalten, wechselseitige Koordination und Einstimmung eine wichtige Rolle. »Systemisch gesprochen komponieren beide einen eigenen Modus des Miteinanderseins ›Körper mit Körper‹. Beide leisten dazu ihren Beitrag. Jeder reagiert auf den anderen und beeinflusst ihn zugleich« (Downing, 2006, S. 335). Aus den regelmäßigen frühen Interaktionserfahrungen des Kindes bildet sich laut Downing ein persönliches Repertoire von körperlichen Mikropraktiken. »Es handelt sich um Kompetenzen eigener Art, um verkörperte Fähigkeiten. Sie stehen für das, was gelegentlich prozedurales oder implizites Wissen genannt wird, einem ›WissenWie‹ im Unterschied zu einem ›Wissen-Dass‹« (2006, S. 335). Zu den körperlichen Mikropraktiken zählen die sogenannten affektmotorischen Schemata, ein zentrales Konzept in Downings Hypothesenbildung (Downing, 1996). Damit sind Konstellationen gemeint, die motorische Elemente mit einer affektiven Färbung und einer kognitiven Dimension verbinden. Downing unterscheidet zwischen Verbindungs- und Differenzierungsschemata. Schauen wir uns zunächst Verbindungsschemata an: Das Kleinkind zeigt sein Bedürfnis nach Kontakt zur Mutter mit auffordernden Tönen, Ausstrecken und rhythmischen Bewegungen der Arme und Suchen nach Blickkontakt. Nach einer Weile des wechselseitigen Kontakts und Austausches können dann Differenzierungsschemata auftreten: Der Säugling wendet seinen Blick vom Gesicht der Mutter ab, dreht den Kopf zur Seite und stemmt sich, wenn ihm das von seiner kör© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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perlichen Entwicklung her schon möglich ist, mit den Armen ein wenig vom Körper der Mutter ab. Das Kind verwendet also bereits »Körperstrategien«, die helfen, Nähe und Distanz zu regulieren (vgl. Downing, 2006, S. 335). Wie nun wiederum die erwachsene Bezugsperson auf diese Schemata reagiert, ist von entscheidender Bedeutung für deren weitere Entwicklung und Ausdifferenzierung. Kann sie die Signale bzw. die Bedürfnisse des Kindes richtig lesen und adäquat darauf reagieren? Dabei spielen Abstimmungsprozesse eine wesentliche Rolle. Die Bezugsperson kann beispielsweise zu rasch oder zu verzögert oder zu wenig, zu stark oder zu selektiv reagieren. Die frühen Interaktionserfahrungen des Kindes hinterlassen anhaltende Spuren. So konnten Jaffe et al. (2001) zeigen, dass Säuglinge, die im Alter von vier Monaten in einen extrem rasch erfolgenden Austausch eingebunden waren, später im Alter von zwölf Monaten (in der Fremden Situation nach Ainsworth) ein unsicheres Klammerverhalten zeigten (Downing, 2006, S. 340). Wird ein Verbindungsschema von den Bezugspersonen zu wenig beantwortet, so eine der zentralen Hypothesen Downings, kann es verkümmern. Es kommt zum Entwicklungsstillstand. Untersuchungen von Tronick, Cohn und Shea (1986) bestätigen dies in eindrucksvoller Weise (siehe auch Downing, 1996). Ein Kind, das in eine Interaktion eingebunden ist, in der seine Signale nicht angemessen beantwortet werden, verwendet zunehmend weniger Aktivität, um mit der Mutter in Beziehung zu treten. Werden Differenzierungsschemata überrannt, entwickelt das Kind Körperstrategien, um dem Kontakt auszuweichen, beispielsweise durch Anspannung ganzer Muskelgruppen. Das Schema wird dann in »einem überzogenen Maße eingesetzt« und es kommt zu »defensiv verzerrten Schemata« (Downing, 1996, S. 193). Ein Differenzierungsschema kann auch dauerhaft gehemmt werden, sozusagen »erlahmen«. Ein Herabsetzen des Muskeltonus, beispielsweise in den Armen, ist dann das Ergebnis der vergeblichen Bemühungen des Kindes, den unerwünschten Kontakt zu begrenzen. Downing spricht in diesem Zusammenhang auch von »motorischen Überzeugungen« (1996, S. 139). Es entsteht ein im Körper verankertes Gefühl von Wirksamkeit oder von Hilflosigkeit in Bezug auf die eigene Fähigkeit, das zwischenmenschliche Feld zu gestalten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Ein weiterer wichtiger Aspekt der Körpermikropraktiken ist, wie das Kind einen affektiven Zustand erhält, intensiviert, reguliert oder unterdrückt. »Hierzu gehören Bewegungen des Körpers, Atemmuster sowie An- und Entspannung ganzer Muskelgruppen« (Downing, 2006, S. 339). Auch diese affektiven Kompetenzen müssen durch die betreuende Umgebung des Kindes gefördert werden (Downing, 1996, S. 161). In einem rhythmischen Hin und Her zwischen Eltern und Kleinkind kann sich ein positiver Gefühlszustand weiterentfalten, es kommt zu einer »dyadischen Expansion« (Tronick, 2003). Bei negativen Gefühlszuständen des Kindes unterstützt der Erwachsene die Selbstregulierung des Kindes, indem er ihm zunächst genügend Zeit zur Selbstberuhigung einräumt und, wenn nötig, körperliche Unterstützung dafür gibt. Wie von Seiten des Erwachsenen sprachliche Äußerungen in die Kommunikation mit dem Säugling eingebracht werden, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der frühen Interaktion. Typischerweise kommentieren Eltern mit Worten, was das Kind gerade sieht, hört, tut oder innerlich erlebt. Beispiele für diese Art von beschreibender Sprache sind: »Oh, das macht dir Spaß!« oder »Jetzt tut dir dein Bäuchlein weh!« oder »Du horchst auf die Spieluhr!«. Nach Untersuchungen von Meins (1997) ist es für die kognitive Entwicklung des Kindes förderlich, wenn der Anteil an beschreibender Sprache im ersten Lebensjahr deutlich höher ist als der vorschreibender Sprache (»Tu das nicht!«). Durch die sprachliche Begleitung dessen, was das Kind gerade erlebt, kann es komplexe innere Repräsentanzen für seine Erfahrungen bilden. Dies könnte – so Downing – eine wesentliche Rolle spielen für die spätere Fähigkeit des Erwachsenen, körperliche Empfindungen wahrnehmen und in Worte fassen zu können (Downing, 1996). Wie sich die wechselseitigen Berührungen zwischen der Bezugsperson und dem Säugling gestalten, hat einen wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes. Dabei spielt nicht so sehr das Ausmaß der Berührungen eine Rolle, sondern wiederum wie feinfühlig die Eltern auf die Signale des Kindes eingehen bzw. wie viel Raum das Kind hat, selbst die Initiative für Berührungen zu ergreifen (vgl. Downing, 1996, S. 152). Forschungen von Ainsworth, Blehar, Waters und Wall (1978) ergaben, dass diejenigen Kinder im Alter von zwölf Monaten eine starke und sichere Bindung aufwie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sen, deren Mütter vorher im Bereich von Berührung als besonders kompetent eingeschätzt worden waren. Insgesamt ist durch die Säuglingsforschung vielfach belegt, dass sich die Qualität der frühen, stark nonverbal geprägten Interaktion auf den Bindungsstil des Kindes auswirkt. Wie verhält es sich nun mit den körperlichen Mikropraktiken, die ein Kleinkind im Rahmen des frühen Affektaustausches erworben hat? Wie viel davon bleibt bestehen und geht in das Körperrepertoire des heranwachsenden Kindes und späteren Erwachsenen ein? Hierauf gibt es bislang noch keine soliden empirisch gestützten Antworten. Vermutlich festigen sich viele Körpermikropraktiken, andere werden durch Interaktionen mit anderen Menschen und durch gesellschaftliche Einflüsse modifiziert. Einschneidende Ereignisse, wie etwa ein schweres Trauma, können die Entwicklung neuer defensiver Körperstrategien fördern (vgl. Downing, 2006, S. 388). Körperorientiert arbeitende Therapeuten finden in ihrer klinischen Arbeit jedoch viele Hinweise, dass Spuren der frühen Körpermikropraktiken noch beim Erwachsenen wirksam sind. Downing geht davon aus, dass sie oft nur im Ansatz oder in subtilerer Form eingesetzt werden, nicht mehr so offen und unverhohlen, wie es das Kleinkind macht. Sie bleiben jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Umgangs mit sich selbst und anderen (vgl. Downing, 1996, S. 193). Jeder Klient verfügt sozusagen über ein einmaliges, von frühester Kindheit an erlerntes Körperrepertoire, das seinen Bezug zum eigenen Körper kennzeichnet: Dabei geht es beispielsweise um die Art, wie der Klient Körperempfindungen, Bewegungsimpulse und Körperhaltungen wahrnimmt, wie er seine Gefühle reguliert und seinen Affektausdruck gestaltet, wie er seinen Körper bei der Regulierung von Nähe und Distanz mit anderen Menschen nutzt und wie er das interaktive Feld strukturiert. Klienten lernen in einer körperorientierten Psychotherapie, ihre Körpermikropraktiken besser wahrzunehmen. Der Zusammenhang zwischen den Problemen, die sie in die Therapie geführt haben, und ihrem Körperrepertoire wird ihnen deutlich. Sie erleben einige ihrer Körperstrategien als einschränkend und entwickeln den Wunsch nach Erweiterung und Entfaltung ihres Repertoires. Nach Downing besitzen affektmotorische Schemata eine »starke, sich ›selbst auf© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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richtende‹ Tendenz, eine angeborene Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln und zu verfeinern« (1996, S. 192). Die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper kann die Bedingungen schaffen, »unter denen diese Schemata, wo notwendig, ihr blockiertes Wachstum wieder aufnehmen können« (Downing, 1996, S. 209).

Fallbeispiel einer Körperpsychotherapie Zur Veranschaulichung möchte ich auf ein stark verkürzt dargestelltes Fallbeispiel aus meiner Praxis eingehen. Eine 34-jährige Frau begibt sich in Psychotherapie, nachdem ihr Lebenspartner ernsthafte Trennungsgedanken geäußert hat, weil er ihre emotionale Nähe und Zuwendung vermisst. Sie hat mit ihm ein sieben Monate altes Kind, ein Mädchen. Die Klientin fühlt sich durch die drohende Trennung sehr belastet. Auch frühere Partnerbeziehungen hätten nie sehr lange gehalten. Solange eine Beziehung bestehe, fühle sie sich oft von Nähewünschen des Partners bedrängt, nach ihrer Beendigung vermisse sie aber die Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Auch mit anderen Menschen, zum Beispiel mit ihrer einzigen Freundin, ginge es ihr ähnlich: Sie könne stärkere emotionale Nähe einfach nicht gut aushalten. Im Kontakt mit mir wirkt die Klientin in sich gekehrt und abgegrenzt, sie nimmt nur gelegentlich Blickkontakt auf und sitzt oft leicht zur Seite gewandt – es sind also mehr Differenzierungs- als Bindungsschemata sichtbar. Trotzdem entsteht auf der verbalen Ebene eine gute Kooperation. Die Klientin ist sehr motiviert, ihr Beziehungsthema zu verstehen und zu verändern. Auch für ein körperorientiertes Vorgehen zeigt sie sich offen. Wir beginnen damit, einige der Situationen, in denen ihr Partner oder auch ihre Freundin näheren Kontakt wünscht, genauer zu beleuchten und ins Hier und Jetzt der Therapiesituation mittels Imagination »hereinzuholen«. Dabei erkunden wir auch im Detail den dabei ablaufenden Körperprozess der Klientin. Folgendes wird deutlich: Sobald das Gegenüber emotionale Nähe zu ihr herzustellen versucht, baut sich in ihrer Nackenmuskulatur, in ihren Schultern und ihren Armen eine Anspannung auf. Sie »muss« dann ihr Gesicht

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und den Oberkörper ein wenig zur Seite drehen und den Blick abwenden. In der Realsituation bemerkt sie nur ein Missbehagen, der körperliche Ablauf geschieht mehr oder weniger automatisch, ohne allzu viel Bewusstsein davon. Erst durch die eingehende Exploration auf der körperlichen Ebene innerhalb der Therapiesitzungen werden der Klientin ihre »Körperstrategien« und deren Auswirkung auf sich sowie auf das Gegenüber bewusst: Sowohl ihr eigenes Erleben von Nähe als auch das der anderen Person wird begrenzt, eine sich zunächst aufbauende Annäherung wieder abgeschwächt. Obwohl sich ihrer Ambivalenz in Bezug auf nahen emotionalen Kontakt durchaus bewusst, ist der Klientin bislang nicht klar gewesen, wie sehr ihr Körper an der Thematik mitwirkt. Angeregt durch den Fokus auf ihre eigenen Körpermikropraktiken, beginnt sie, das Verhalten anderer Personen in ihrem Umfeld genauer wahrzunehmen. Ein Besuch ihrer Mutter und deren Interaktion mit dem Baby (der Klientin) erweist sich für sie als sehr aufschlussreich. Sie beobachtet, wie die Mutter mit dem Kind scherzt, es kitzelt und pikst. Zunächst hat das Baby offensichtlich Spaß daran und lacht und strampelt. Nach einer Weile dreht es aber das Köpfchen weg und wendet den Blick ab. Die Mutter der Klientin intensiviert daraufhin ihr Kitzeln und Piksen und bringt ihr Gesicht noch näher an das des Babys heran. Das Baby versucht nun, sich wegzudrehen, und fängt an, Laute des Missbehagens von sich zu geben. Nachdem die Situation immer mehr entgleist, beginnt das Kind schließlich zu weinen. Die Mutter beendet den Kontakt mit dem vorwurfsvollen Kommentar: »Was hat sie denn schon wieder!« Beim Anblick des sich von der Mutter (der Klientin) wegwindenden Babys werden der Klientin ihre eigenen Körpermikropraktiken verständlicher. Obwohl sie sich durchaus an Kindheitserlebnisse erinnert, in denen die Mutter sich grenzüberschreitend verhielt und sie selbst verschlossen und abwehrend reagierte, ist doch die beobachtete Interaktion zwischen ihrer Mutter und dem Baby für sie unmittelbar berührender, wohl wegen der relativen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins des Kindes. Ärger kommt in der Klientin auf: So könnte es ihr als Baby auch gegangen sein! In den folgenden Sitzungen beginnen wir, neben weiterer verbaler Arbeit, mit Grenzen setzenden Bewegungen zu arbeiten.

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Zunächst formt die Klientin mit ausholenden, kreisenden Armbewegungen eine schützende Grenze um sich herum. In weiteren Sitzungen experimentiert sie im Stehen mit kräftigeren, wegschiebenden und wegstoßenden Armbewegungen in Verbindung mit dem Wunsch nach Raum in der Beziehung. Dabei kommt es auch zu ärgerlichem Affektausdruck. Im Anschluss daran spürt sie mehr Weitung und Lebendigkeit in Brust und Armen. Die innere Überzeugung wächst, sich schützen und abgrenzen zu können. Damit einhergehend beginnt die Klientin, sich in verschiedenen Alltagssituationen auf der verbalen Ebene klarer abzugrenzen und den Kontakt mit anderen Menschen aktiver mitzugestalten. In dieser Phase der Therapie wird ihre Körperhaltung offener und der Blick zugewandter, sie kann mehr Nähe und Verbindung zu anderen Personen zulassen. Nun widmen wir uns in der Therapie der weiteren Entfaltung dieser Verbindungsschemata. Eng verflochten mit der verbalen therapeutischen Arbeit werden neue Muster von Gesten und Mimik, Atmung, Körperhaltung und Körperspannung erprobt. Der Klientin gelingt es zunehmend, ihr Köperrepertoire zu erweitern. Durch die Exploration neuer körperlicher Möglichkeiten der Abgrenzung tritt die häufige Verwendung defensiver Körperstrategien in den Hintergrund. Affektmotorische Schemata der Verbindung können ihr vorher blockiertes Wachstum wieder aufnehmen.

Körpertherapeutische Interventionen in der systemischen Therapie Körpertherapeutische Interventionen können mit verschiedenen Therapieformen kombiniert werden. Nicht alle Techniken eignen sich allerdings für eine Integration in die systemische Therapie mit ihrem typischerweise kurzzeittherapeutischem Vorgehen und einer niedrigen Sitzungsfrequenz. Vor allem für die Arbeit mit Atemtechniken und intensivem Affektausdruck ist der stärker Halt gebende Rahmen einer Langzeittherapie sinnvoller. Die von Downing entwickelten sogenannten »Inneren Techniken« können jedoch sehr gut mit einer systemischen Arbeitsweise verbunden werden. Bei diesen Techniken wird unmittelbar an Körperempfindungen, Bewegungsimpulsen und Haltungsänderungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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angeknüpft, die im verbalen therapeutischen Dialog auftauchen. Der Klient wird unterstützt, diese Prozesse weiterzuentfalten, zwar unter Anleitung des Therapeuten, aber doch auf sehr autonome Weise. Im Gegensatz zu »äußeren Techniken« handelt es sich hier nicht um vorgegebene Körperübungen, sondern um ein individuelles Erarbeiten neuer körperlicher Möglichkeiten. Das »Körperwissen« des Klienten, seine latenten Ressourcen sollen genutzt werden, es wird sozusagen von innen nach außen gearbeitet (Downing, 1996, S. 86 ff.). »Innere Techniken« werden eng mit verbaler Arbeit verflochten. Die Therapeutin fragt nach, ermutigt und beschreibt. Mit Deutungen hält sie sich zurück. Entfaltung positiver Körperempfindungen

Innere Techniken lassen sich auf sehr effiziente Weise mit einer lösungsorientierten systemischen Arbeitsweise verbinden, bei der der Fokus auf die Ausnahme vom Problem bzw. auf den Lösungsweg gerichtet ist (de Shazer, 1989). Hier ein Beispiel: Ein Klient, der sich wegen einer depressiven Symptomatik in Therapie begibt, klagt über eine gedrückte Stimmung, die mit einem Beklemmungsgefühl in der Brust einhergeht. Die Therapeutin schlägt ihm vor, sich an die Zeit vor der Depression und an einen typischen Alltagsmoment, in dem er sich gut fühlte, zu erinnern. Dem Klienten fällt ein, wie er damals in zufriedener Stimmung mit dem Fahrrad zum Einkaufen fuhr. Therapeutin: »Wenn Sie möchten, schließen Sie jetzt die Augen und lassen Sie ein Bild von dieser Situation auftauchen! Ist das möglich?« Klient: »Ja, ich sehe es ganz deutlich, ich sehe den Weg vor mir. Es ist ein Sommertag.« Therapeutin: »Wie sind Ihre Bewegungen beim Radfahren?« Klient: »Kraftvoll … ich trete fest in die Pedale.« Therapeutin: »Wie fühlt sich das an?« Klient: »Gut!« Therapeutin: »Was spüren Sie jetzt in diesem Moment im Körper?« Klient: »Irgendwie eine Erleichterung …« Therapeutin: »Wo im Körper passiert das am deutlichsten?«

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Klient: »In der Brust. Es wird irgendwie weiter in der Brust.« Therapeutin: »Bleiben Sie in Kontakt mit dieser Weite und finden Sie nun eine Körperhaltung, in der Sie das noch besser spüren können. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken … lassen Sie Ihren Körper das finden … vielleicht ganz langsam … wie in Zeitlupe … Schritt für Schritt.« Der Klient richtet in minimalen Schritten seine Wirbelsäule auf, bringt dann die Schultern weiter nach hinten, wölbt die Brust hervor und atmet tief ein und aus. Dabei kommt ein leichtes Lächeln in sein Gesicht. Während dieses Prozesses schweigt er, ist mit geschlossenen Augen ganz auf sein Körpererleben konzentriert. Die Therapeutin begleitet den Körperprozess sprachlich in einem langsamen Rhythmus. Therapeutin: »Sie richten sich jetzt mehr auf … und Ihre Schultern bewegen sich nach hinten … die Brust wölbt sich vor … jetzt kommt ein tiefer Atemzug. Das scheint Ihnen sehr gut zu tun! Erlauben Sie, dass sich die Weite vielleicht noch ein bisschen mehr in Ihrer Brust ausbreiten kann … und genießen Sie es noch eine Weile!« Klient (nach einer Weile): »Das fühlt sich jetzt sehr gut an!«

Durch diese Vorgehensweise lernen Klienten, einen positiven Körperzustand zu entfalten und weiterzuentwickeln. Da der Weg dahin selbst bzw. vom eigenen Körper gefunden wurde, erlebt die Person dabei Selbstwirksamkeit und Autonomie. Das langsame Vorgehen ermöglicht eine genauere Wahrnehmung und ein Einprägen der einzelnen Schritte, so dass die neue Körpermikropraktik auch im Alltag eingesetzt werden kann. Regulierung negativer Gefühle

Ein ähnliches Vorgehen kann zur Regulierung negativer Gefühle angewandt werden. Hier ein Beispiel: Eine Klientin thematisiert ihre berufliche Situation und ihre Versagensängste, die oft morgens auftreten, bevor sie zur Arbeit geht. Während sie darüber spricht, wirkt sie immer ängstlicher und belasteter. Therapeutin: »Ist die Angst auch jetzt spürbar?«

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Klientin: »Ja, sehr stark!« Therapeutin: »Wie stark ist Ihre Angst jetzt auf einer Skala von 0 bis 10, mit 10 als Maximum?« Klientin: »Bei 7. Es ist ziemlich unerträglich!« Therapeutin: »Wie spüren Sie die Angst im Körper?« Klientin: »Ich fühle mich zittrig und spüre eine starke Unruhe im Bauch!« Therapeutin: »Sollen wir auf der Körperebene weiterarbeiten?« Klientin: »Ja.« Therapeutin: »Lassen Sie Ihren Körper Schritt für Schritt etwas finden, was Erleichterung bringt. Das könnte zum Beispiel eine andere Körperhaltung sein, eine andere Art zu atmen oder eine Bewegung … Denken Sie nicht darüber nach, sondern lassen Sie das Ihren Körper finden!« Nach einer Weile legt die Klientin beide Arme um ihren Oberkörper und beginnt langsam, an ihren Armen entlangzustreichen. Therapeutin: »Wie geht es Ihnen jetzt?« Klientin: »Ich fühle mich etwas ruhiger.« Therapeutin: »Lassen Sie jetzt Ihren Körper noch etwas finden, was Erleichterung bringt.« Die Klientin legt ihre Hände nun auf ihren Bauch und drückt jeweils beim Ausatmen etwas fester mit ihren Händen. Dieser Prozess wird – wie bereits beschrieben – sprachlich begleitet und unterstützt. Nachdem der Angstpegel der Klientin deutlich nach unten gegangen ist, schlägt die Therapeutin vor, den gesamten Bewegungsablauf noch einmal zu wiederholen. Anschließend wird besprochen, wie die Klientin diese Körperstrategie in der nächsten Zeit nutzen könnte, um ihre morgendliche Angst besser regulieren zu können.

Reaktivierung von Fähigkeiten

Bei schwerwiegenden Belastungen und Lebenskrisen benötigen Klienten Unterstützung für die Entwicklung von Bewältigungsstrategien. Hier ein Beispiel, wie Körpertechniken den Zugang zu Fähigkeiten ermöglichen, die früher einmal bereits vorhanden waren, aber derzeit nicht zur Verfügung stehen.

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Ein 45-jähriger Klient, konfrontiert mit einer Krebsdiagnose, ist immer wieder überwältigt von dem Gefühl, dieser Belastung nicht standhalten zu können. Klient: »Ich weiß nicht, wie ich das alles durchstehen soll. Die ganzen Behandlungen und die Ungewissheit!« Therapeutin: »Welche Fähigkeit bräuchten Sie, um mit dieser Belastung besser umgehen zu können?« Klient: »Ich glaube, ich bräuchte mehr Standfestigkeit und Kampfgeist.« Therapeutin: »Gab es einmal in den letzten Jahren eine Situation oder eine Zeit, in der Sie etwas von dieser Standfestigkeit und diesem Kampfgeist hatten?« Klient: »Ja, vor vier Jahren in einer beruflichen Krise.« Therapeutin: »Wenn Sie sich diese Zeit nun vorstellen und auch Ihre Standfestigkeit und Ihren Kampfgeist, was geschieht da in Ihrem Körper? Lassen Sie sich Zeit, dem nachzuspüren!« Klient: »Ich spüre Kraft im Rücken und in meinen Beinen.« Therapeutin: »Bleiben Sie in Kontakt mit diesen Empfindungen … und mit der damaligen Standfestigkeit und dem Kampfgeist … und lassen Sie nun Ihren Körper eine Geste oder Haltung oder Bewegung finden, die diese Fähigkeiten zeigt.« Der Klient steht auf, die Beine leicht gegrätscht, ballt die Fäuste, die er vor seinen Körper bringt und langsam vor- und zurückbewegt. So steht er eine Weile schweigend und tiefer atmend. Therapeutin: »Wie fühlen Sie sich jetzt?« Klient: »Kraftvoll, ich habe mehr Zuversicht, dass ich die nächste Zeit durchstehen kann.«

Bei diesem Vorgehen wird die körperliche Symbolisierung einer Fähigkeit genutzt, um einen unmittelbareren Zugang zu ihr zu bekommen. In einem nächsten Schritt können die Körperempfindungen und Gefühle mit einer positiven Kognition verbunden werden.

Wechselseitigen Einfluss zulassen Auch in der Paartherapie bestehen vielfältige Möglichkeiten für das Einbeziehen von Körpertechniken. Durch ihren Einsatz kann sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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das emotionale Klima zwischen dem Paar verbessern, so dass eine solidere Basis für die Besprechung konfliktgeladener Themen entsteht. Mittels der Körpertechniken können Beziehungsaspekte veranschaulicht und neue Interaktionsmuster erprobt werden. Paare, die sich in Therapie begeben, sind häufig in heftige Machtkämpfe verstrickt. Beiden Partnern fällt es schwer, dem anderen Einfluss auf sich zuzugestehen. Wie die Paarforscher John Gottman und Nan Silver (1999) ausführen, ist die Fähigkeit, wechselseitige Beeinflussung zuzulassen, jedoch einer der Faktoren, die sich positiv auf die Qualität und die Dauerhaftigkeit einer Partnerschaft auswirken. Bei der im Folgenden dargestellten »äußeren Technik« geht es darum, mit wechselseitigem Einfluss auf der körperlichen Ebene zu experimentieren und damit neue Sichtweisen zu eröffnen. Übung: Gemeinsamer Rhythmus Die Partner stehen einander gegenüber und legen ihre Handflächen an die der anderen Person. Nun schlägt der Therapeut vor, in eine gemeinsame Bewegung mit den Händen und Armen zu kommen, ohne den Standort zu verlassen. Die Bewegungen können in ihrer Größe und Geschwindigkeit variieren. Die Partner können dabei die Augen schließen, sie sollen die Übung ohne Worte für circa drei bis fünf Minuten durchführen. Jeder soll eigene Impulse eingeben, aber auch die Impulse des Partners spüren und aufnehmen. Typischerweise entsteht bei dieser Übung ein rhythmischer Austausch, bei dem das wechselseitige Aufnehmen von Impulsen des anderen mal mehr, mal weniger gut gelingt. Die Atmosphäre zwischen den Partnern ist geprägt von konzentrierter Aufmerksamkeit. Beim Finden und Verlieren des gemeinsamen Rhythmus entsteht Spaß und Freude, manchmal auch spielerische Kampfeslust. Im Anschluss an die Übung soll jeder der Partner mitteilen, was er dabei erlebt hat.

Diese Übung regt Paare dazu an, ihre Machtkämpfe unter einem neuen Blickwinkel zu sehen und einen flexibleren Umgang mit ihren Differenzen zu erproben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Ausblick Körperbezogene Interventionen sind kein Allheilmittel und auch kein Ersatz für verbale therapeutische Arbeit. Sie ermöglichen jedoch einen vollständigeren Zugang sowohl zu den Problemen als auch zu den Ressourcen von Klienten. Sie stärken interaktive Fähigkeiten, eröffnen neue Sichtweisen und Handlungsoptionen und erweitern damit den Möglichkeitsraum. Insofern sind sie im besten Sinne mit systemischer Praxis vereinbar.

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Der Körper als Ressource im systemischen Coaching

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Irmgard Bohmann und Josef Bohmann

Den Körper im Coaching nutzen

Vorbemerkung Die Beachtung körperlicher Signale und Ausdrucksmittel im Coaching kann auf schnellem Weg zu Erkenntnissen und Lösungen führen. An Wahrnehmung, Erleben und Lernen ist immer der ganze Organismus beteiligt. Effektive und nachhaltige Veränderungsarbeit erscheint uns daher ohne Einbeziehung des Körpers kaum möglich. Mit einem Blick auf entsprechende Forschungsergebnisse und auf Beispiele aus der Coachingpraxis begründen wir nachfolgend diese Aussagen und geben Anregungen für die Praxis.

Definition von Coaching und Grundlagen Da der Begriff »Coaching« längst inflationär gebraucht wird, erscheint es uns ratsam, zunächst zu definieren, was wir darunter verstehen. Coaching ist ein individueller, interaktiver Begleitungsprozess, in dem Ideen für gewünschte Veränderung, neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden. Systemisches Coaching ist für uns – in Anlehnung an eine Definition von Schiepek (1999) – das Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von selbst organisierten Veränderungen in biopsychosozialen Systemen unter professionellen Rahmenbedingungen. Dieser Prozess kann berufliche, private und gesundheitliche Aspekte und deren Wechselwirkung beinhalten. Dabei ist der Coach in dem Sinn für den Prozess verantwortlich, dass die vom Klienten1 vorgegebenen Ziele unter Achtung und Nutzung der Autonomie des Klienten möglichst effektiv verfolgt werden. Häufig präsentierte Themen sind Defizite in der Problemlösekom1

Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird auf die explizite Nennung beider Geschlechter verzichtet. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

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petenz, in der sozialen Kompetenz und in der Selbststeuerung. Ansatzpunkte für Veränderungsarbeit finden sich oft in einer bei den Klienten vorliegenden ungünstigen Realitätskonstruktion und Aufmerksamkeitsfokussierung. Arbeitsbasis ist ein transparentes Coachingkonzept, verbunden mit einer wertschätzenden Haltung. Ein Coachingkonzept, das den Menschen in seinem Gesamtlebenszusammenhang – und dazu gehört insbesondere auch sein Körper – betrachtet, kann zu neuen Perspektiven verhelfen und Wege aus erlebter Ohnmacht hin zu eigenverantwortlichem Handeln und Entscheiden aufzeigen. Nur mit diesem umfassenden Blick können wir unseren Klienten gerecht werden, nachhaltige und tragfähige Veränderungen initiieren und alle Möglichkeiten zur Ressourcenaktivierung nutzen. Unerlässlich erscheint uns dabei, die Auswirkungen von angestrebten Veränderungen auf die relevanten Lebenskontexte zu überprüfen. Leistungsfähigkeit und Erfolg (im Beruf) sind mögliche, aber keinesfalls ausschließliche Themen im Coaching. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig, dass wir – in klarer Abgrenzung zum Beispiel zum Deutschen Bundesverband Coaching e. V. (DBVC, 2013)  – Coaching nicht durch die Eingrenzung auf eine bestimmte Zielgruppe definieren. Coaching ist kein Privileg von »Eliten«, zum Beispiel (oberen) Führungskräften. Als Messgröße für ein gelungenes Coaching kann das – auch körperliche – Erleben von Stimmigkeit (Kohärenz) dienen. Was das im Einzelfall bedeutet und wie es erlebt wird, entscheidet der Klient. Das Konzept des Kohärenzsinns (= Stimmigkeitsempfinden) verdanken wir Aaron Antonovsky (1997) und seinem Salutogenesemodell. Es spielt in unserem Coachingansatz eine wichtige Rolle, da es durch die Klärung der daraus abgeleiteten Fragen den Klienten im Prozess gut unterstützen kann: ȤȤ Welche Einflüsse bestimmen mein Denken, mein Verhalten, mein Erleben, mein Leben? => Verstehbarkeit ȤȤ Wie kann ich zieldienliche Handlungsmöglichkeiten entdecken oder entwickeln? => Handhabbarkeit ȤȤ Wer kann und will ich sein, was macht für mich Sinn? => Sinnhaftigkeit

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Kann ein Klient diese Fragen beantworten, kann er sein Leben gut bewältigen. Somit steigert ein gelungener Coachingprozess die Lebenskompetenz, was sich auch biologisch auswirkt, unter Umständen bis auf die Ebene der Gene (Bauer, 2012). Lebenskompetenz sieht die Weltgesundheitsorganisation als Ziel der Gesundheitsförderung und wesentliches Element von Gesundheit an. Nach Darstellung der WHO ist »lebenskompetent, wer: ȤȤ sich selbst kennt und mag, ȤȤ empathisch ist, ȤȤ kritisch und kreativ denkt, ȤȤ kommunizieren und Beziehungen führen kann, ȤȤ durchdachte Entscheidungen trifft, ȤȤ erfolgreich Probleme löst und ȤȤ Gefühle und Stress bewältigen kann« (Bühler u. Heppekausen, 2005). In der Ottawa Charta (WHO, 1986; »Lebensweisenkonzept«) wird Gesundheit zudem als Prozess, der eigenverantwortlich in allen Lebenskontexten gestaltet werden kann und muss, angesehen. In diesem umfassenden Sinn geht es in unserem Coachingkonzept explizit oder implizit immer auch um Gesundheitsentwicklung. Unabhängig vom Inhalt kann man gelingendes Coaching auch auf folgende Aspekte reduzieren: stimmige Entscheidungen zu treffen, lohnende und realistische Ziele zu entwickeln, die konsequent und erfolgreich umgesetzt werden. Basis dafür ist eine tragfähige Beziehung zwischen Coach und Klient: eine vertrauensvolle, freiwillige, zielorientierte Begegnung auf Augenhöhe, in der der Coach die Autonomie des Klienten achtet und auf seine Selbstorganisation baut. Damit grenzen wir Coaching sowohl von Therapie als auch von Expertenberatung ab.

Coaching und Körper Wenn Sie zum Einstieg in das Thema die kleine Wahrnehmungsübung (siehe folgender Kasten) durchführen, wird vielleicht deutlich, dass unser Körper ständig aktiv ist, auch wenn wir ihn vordergründig als ruhig oder gar unbewegt erleben bzw. gar nicht bewusst wahrnehmen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Übung: Sich selbst wahrnehmen Stellen Sie sich locker aufrecht hin. Lassen Sie sich ein wenig Zeit, ganz zu sich zu kommen, und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Körper. Stehen Sie ganz ruhig, bewegungslos. Konzentrieren Sie Ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr auf Ihre Beine. Lassen Sie sich überraschen, was ruhiges Stehen für Ihre Beine bedeutet.

In diesem Beitrag geht es um die Frage, wie der Körper des Klienten (und der des Coachs) in jeder Phase eines Coachings als Türöffner und Katalysator für gewünschte Veränderungen bzw. als Supervisor genutzt werden kann. Die Wechselwirkungen zwischen der Biologie des Körpers, individuellen Erfahrungen, zwischenmenschlichen Beziehungen und Umwelteinflüssen sind inzwischen vielfältig belegt (Bauer, 2012). Dafür, diese Wechselwirkungen im Zusammenhang mit Coaching zu thematisieren, gibt es zwei wesentliche Gründe: Einerseits ist eine solche Auseinandersetzung nützlich und sinnvoll, da an Wahrnehmung, Erleben und Lernen immer der ganze Organismus beteiligt ist. Körperliche Aspekte nicht zu nutzen, bedeutet letztlich den Verzicht auf wichtige Quellen von Erkenntnis und auf Ansatzpunkte für konkrete, effiziente Veränderungsarbeit. Andererseits scheint es aber auch nötig zu sein, den Körper im Coaching zu thematisieren und einzubeziehen. Aufgrund tiefer, in der sozialen Bedingtheit des Menschen liegender Ursachen kommt es im Laufe der individuellen Entwicklung immer zu einer mehr oder minder starken Entfremdung vom eigenen Körper (Storch, Cantieni, Hüther u. Tschacher, 2006) und einer wachsenden Bedeutung des Denkens. In unserer Leistungsgesellschaft wird dem Intellekt typischerweise ein hoher Stellenwert eingeräumt. So sind unsere Klienten in der Regel gewohnt, Probleme rational, also durch Nachdenken zu lösen. Auch die WHO betont in der zitierten Stelle »durchdachte Entscheidungen«. Speziell in beruflichen Kontexten ist mit dieser Herangehensweise zu rechnen, denn hier gilt Denken nach wie vor als die entscheidende Problemlösekompetenz. Aus einem weiteren Blickwinkel kann man durchaus feststellen, dass in unserer modernen Lebenswelt der Körper oft ignoriert wird © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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(oder im anderen Extremfall als Statussymbol dient und entsprechend kultiviert wird). Ins Bewusstsein rückt er häufig nur, wenn er Probleme macht oder seine Grenzen zeigt. Bestenfalls wird ihm eine dienende Funktion zugewiesen: Er soll möglichst störungsfrei funktionieren. Und wenn er nicht funktioniert, lässt man ihn »reparieren«. Typischerweise kommen Klienten denn auch mit der Einstellung ins Coaching, ihr Thema durch Reflexion und Reden lösen zu können. Die Einbeziehung des Körpers ist oft keineswegs selbstverständlich und muss erst begründet werden. Theoretischer Hintergrund

Wir sehen den Körper als System und gleichzeitig als Teilsystem des größeren Systems Organismus. Aus dieser systemischen Perspektive ist unmittelbar einsichtig, dass der Gegensatz Körper versus Geist, der eine lange Tradition hat und auch heute noch viele Diskussionen und Denkweisen dominiert, die Gefahr übermäßiger Vereinfachungen und Verkürzungen birgt. Wie die nachstehende Übung deutlich machen mag, ist der Körper nicht nur die physiologische Voraussetzung für das Gehirn oder den Geist. Er ist vielmehr auf sehr direkte Weise an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt. Übung: Gefühle und Körperhaltung Erinnern Sie sich kurz an eine Gelegenheit, bei der Sie in negativer Stimmung waren – bedrückt, enttäuscht, traurig oder … Lassen Sie ansatzweise, nicht zu intensiv, die damaligen Gefühle kurz erneut in sich entstehen. Verabschieden Sie sich dann von dieser unangenehmen Erinnerung und finden Sie nun eine positive Situation, in der Sie voller Energie, Tatendrang, Freude, voller Stolz und Selbstbewusstsein waren. Lassen Sie diese Erinnerung wachsen, indem Sie alle Facetten dieser Situation wieder lebendig werden lassen. Konzentrieren Sie sich dabei schließlich auf Ihren Körper: Atmung, Körperspannung, Kopfhaltung, Haltung von Schultern und Armen, Blickrichtung … Wenn Sie diesen körperlichen Zustand erreicht haben, halten Sie ihn fest: Atmen Sie genau in dieser Weise, bleiben Sie bei dieser Kopf- und Körperhaltung … Indem Sie genau diesen körperlichen

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Zustand aufrechterhalten, rufen Sie nun erneut die anfängliche negative Erinnerung in sich wach. Lassen Sie sich überraschen. Gelingt Ihnen beides, die Beibehaltung des körperlichen Zustands und die Reaktivierung der negativen Gefühle? Oder geht nur eines von beiden? (in Anlehnung an Förster u. Stepper, 2000).

Wenn aber, wie schon betont, eine Beschäftigung mit körperlichen Aspekten und dem intuitiven Wissen unüblich ist, werden entsprechende Angebote im Coaching tendenziell auf Ablehnung stoßen. Um solche Angebote schmackhaft und plausibel zu machen, ist nach unserer Erfahrung der Hinweis hilfreich, dass man sich am aktuellen Forschungsstand orientiert und den Klienten nicht mit Methoden von gestern abspeisen will. Dies dient zugleich der Transparenz. Wesentliche Punkte dieser wissenschaftlichen Begründung werden nachfolgend kurz skizziert. Ohne Entscheidung ist weder eine Zielsetzung noch eine Zielverfolgung möglich. Abgesehen von den dazu nötigen Fähigkeiten geht es damit um Motivation und Volition. Damasio (2004) hat mit seinen Untersuchungen an Phineas Gage und Elliot nachgewiesen, dass Rationalität nicht ausreicht, um Entscheidungen zu treffen. Erst indem rationale Begründungen mit einer aus Erfahrung abgeleiteten persönlichen Bewertung »aufgeladen« werden, gelingt es, Entscheidungen zu treffen. Diese Aufladung macht sich nach Damasio in somatischen Markern bemerkbar, also in wahrgenommenen psychophysiologischen Zuständen, die nicht von der Bewertung getrennt werden können. Sie sind letzten Endes die Bewertung. Entscheidungen können zwar ohne rationale Begründung, aber nicht ohne emotionale Bewertung getroffen werden. Nach Damasio (2004) spricht der Körper die Sprache des Unbewussten und ist die Bühne für Gefühle und Verstand. Er ermöglicht den Zugang zum emotionalen Erfahrungsgedächtnis (Roth, 2003) bzw. zum Extensionsgedächtnis (EG) (Kuhl, 2005). Die beiden Begriffe bezeichnen ein parallel arbeitendes Funktionssystem, das autobiografische Erfahrungen, Bedürfnisse, Werte, Motive und die aktuelle Befindlichkeit assoziativ miteinander verknüpft. Menschen, die keinen Zugang zu ihren somatischen Markern haben, haben auch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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keinen Zugang zu diesem so wichtigen integrativen Funktionssystem. Das bedeutet, sie können weder eigene, bewusst gesetzte Ziele noch fremde Ziele daraufhin überprüfen, ob sie ihrem Wertesystem entsprechen. Ist der Zugang möglich, können mit dem aktuellen Erleben verbundene Erinnerungen, Erfahrungen oder Glaubenssätze ins Bewusstsein gelangen und bearbeitet werden. Die eigentlichen Bedürfnisse treten zum Vorschein – ein erster Schritt zur Integration bzw. zu deren adäquater Erfüllung. Für die Stärkung des Kohärenzsinns hat das achtsame Einbeziehen des Körpers eine hohe Bedeutung. Damasios somatische Marker kann man als Signalsystem des Unbewussten bezeichnen. Bei Konfrontation mit Unbekanntem wird zwar innerhalb von circa 250 Millisekunden unser Extensionsgedächtnis nach Referenzerfahrungen durchsucht (Jendraczyk, 1991, nach Schönburg, 2006). Ist die Suche erfolgreich, wird ein entsprechender somatischer Marker aktiviert, positiv oder negativ. Ob er wahrgenommen wird, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Die Bedeutung der affektiven Komponente – und damit deren körperliche Erscheinungsform – wird auch im Rubikonmodell der Handlungsphasen von Heckhausen und Gollwitzer (Achtziger u. Gollwitzer, 2010) und im Konzept der Motto-Ziele betont (Storch, 2011). In beiden Modellen geht es um die fürs Coaching relevante Frage: Wie entsteht Handlung? Erst ein deutlich positiver, körperlich spürbarer Affekt – ein »Hin zu« – erlaubt es, sich zu entscheiden, den Rubikon zu überschreiten und »zugkräftige« Ziele zu setzen. Ein »Weg von« ist in diesem Sinne keine tragfähige Motivation, dient bestenfalls der Alarmierung. Auskunft über unsere Affekte geben uns unsere somatischen Marker – sofern wir sie beachten. In der Motivationspsychologie wurden inzwischen deutliche Hinweise dafür gefunden, dass diese zwei verschiedenen emotionalen Bewertungen auf grundlegend unterschiedlichen Systemen basieren. Das appetitive (»hin zu«) und das aversive (»weg von«) Motivationssystem sind dabei kein Gegensatzpaar auf einer Dimension, sondern parallele Dimensionen, die gleichzeitig betrachtet werden müssen (Cacioppo u. Berntson, 1999; Puca u. Langens, 2008). So sind auch Ambivalenzen zwanglos zu verstehen. Biochemisch spielen sich dabei im Gehirn völlig verschiedene Prozesse ab (Schandry, 2011). Beim appetitiven Motivationssystem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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werden im Mittelhirn neuroplastische Botenstoffe gebildet – der »Dünger« fürs Gehirn – und neue Synapsen entstehen. Außerdem werden im Nucleus accumbens (Teil des Belohnungssystems) Dopamin und Endorphine ausgeschüttet. Dadurch werden die GABAergen inhibitorischen Interneurone gehemmt. Die Konnektivität nimmt zu, was eine differenziertere Reaktion bewirken kann. Subjektiv wird Begeisterung erlebt. Ein solcher affektiver Zustand stärkt die Fähigkeit des Klienten zur Selbstregulation. Bei Aktivierung des aversiven Motivationssystems entstehen negative Gefühle wie zum Beispiel Angst oder Aggression. Die in den medialen Temporallappen gelegenen Amygdalae sind aktiv, zum Beispiel: »Ich muss aufhören zu rauchen, sonst kriege ich einen Herzinfarkt oder Lungenkrebs.« Oder: »Wenn ich es nicht allen recht mache und perfekte Arbeit abliefere, verliere ich meinen Job.« Biochemisch werden im Gehirn Stresshormone wie Noradrenalin und Corticoide gebildet. Es entsteht ein Tunnelblick, die Konnektivität nimmt ab, der Selbstzugang ist blockiert. Das Einnehmen der Metaposition, die Abstand, Überblick und Zugang zu Ressourcen ermöglicht, fällt mit negativem Affekt daher schwer. Zur Alarmierung kann dieses Motivationssystem hilfreich sein. Für Veränderungsarbeit und Intentionsbildung ist es kontraproduktiv. Statt Selbstregulation findet Selbstkontrolle statt, die bis zur Selbsterschöpfung (Baumeister, 2002) und zu Zwangserkrankungen führen kann. Wie verschiedene psychologische Experimente zeigen, lassen sich die beiden Motivationssysteme bzw. ein »promotion« oder »prevention focus« (Higgins, 1997) durch rein körperliche Handlungen aktivieren, man denke zum Beispiel an die Handflächenexperimente von Caccioppo (vgl. Storch et al., 2006, S. 56). Es sind also beide Wirkrichtungen möglich, wenn auch die Wirkung vom Körper auf die Psyche weniger vertraut oder sogar antiintuitiv sein mag. Kuhl sieht das Selbst als ein weitgehend unbewusstes, parallel arbeitendes, rechtshemisphärisches Erfahrungssystem. Wie ein Experiment von Baumann, Kuhl und Kazén (2005) zeigt, lässt es sich durch motorische Aktivität der linken Körperhälfte stimulieren. Die Autoren konnten nachweisen, dass sich durch drei Minuten langes Drücken eines Gummiballs mit der linken Hand (was die rechte Hemisphäre aktiviert) die Verwechslung fremdinduzierter © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Tätigkeiten/Ziele/Motive mit selbst gewählten (Selbstinfiltration) aufheben ließ. Durch die Aktivierung der rechten Hemisphäre über den Körper scheint der Selbstzugang wieder hergestellt zu werden (nach Kuhl, 2010). Nimmt man all das ernst, gibt es außerhalb von uns keine Instanz, die uns zu guten Entscheidungen führen kann, wobei eine gute Entscheidung eine solche Entscheidung meint, zu der man stehen kann und will. Ein treffenderer Begriff könnte stimmige Entscheidung sein. Körperempfindungen und Gefühle sind also wichtige Bestandteile von Vernunft. Für Coachingprozesse bedeutet dies, den Klienten zur Beantwortung folgender Fragen einzuladen: Wie reagiert mein Organismus, welche körperlichen Signale kann ich wahrnehmen und was sagen mir diese Signale? Damit wird die Wahrnehmung des eigenen Körpers zu einer wichtigen Kompetenz, die im Coaching genutzt und mit der im Coaching gearbeitet werden kann. Dies gilt auch für den Coach. Die eigene Körperwahrnehmung gibt wichtige Hinweise über den Verlauf des Prozesses und die Qualität der Coachingbeziehung. Somit wird der eigene Körper zum Supervisor. Dass in vielen Fällen das »Bauchgefühl«, die Intuition, schneller zu guten Entscheidungen führt als intensives Nachdenken und rationales Abwägen, ist auch durch die Untersuchungen von Gigerenzer (2008) belegt. Diese spontanen, durch Selbstzugang möglichen, »Bauchentscheidungen« werden nicht nur individuell langfristig als stimmig bewertet, sie sind oft auch nach objektiven Kriterien die beste Option. Kuhl (2005, 2010) macht in seiner Theorie der PersönlichkeitsSystem-Interaktionen (PSI-Modell) deutlich, dass das Wechselspiel zwischen Entscheiden und Umsetzen wesentlich von einer entsprechenden Affektregulation abhängt. Diese wiederum setzt das Wahrnehmen der Affekte voraus, was durch Beachtung der somatischen Marker ermöglicht wird. Das PSI-Modell leitet zugleich über vom Treffen richtiger Entscheidungen (Ziele etc.) zur Umsetzung, bezogen auf Coaching also zur Veränderungsarbeit. Im Rubikonmodell ist das der Übergang von der Motivation zur Volition. Bedingt durch die Sozialisation sind Klienten gewohnt, Veränderungen durchzuführen und vor allem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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durchzuhalten, indem sie ihren »inneren Schweinehund« bekämpfen, also sich »zur Ordnung rufen« und »am Riemen reißen«. Das Problem dabei ist, dass dieses vernünftige Vorgehen sehr viel Aufmerksamkeit erfordert und im Rahmen relativ langsamer psychischer Prozesse abläuft (Strack u. Deutsch, 2004). Alte, unerwünschte Verhaltensweisen sind dagegen aufgrund unwillkürlicher Automatismen oft einfach schneller und sabotieren den Erfolg. Einen wesentlich direkteren Zugang zu einer veränderten Form des Erlebens und zur Zielerreichung bietet oft der Körper. Wie schon mehrfach betont, gehen körperliche und psychische Prozesse, zu denen auch die Kognitionen zählen, grundsätzlich Hand in Hand. Egal auf welcher Ebene eine Veränderung ansetzt, sie hat Auswirkungen auf die andere Ebene. So können wir unsere Klienten einladen, ihre Körperkoordination so lange willkürlich zu verändern, »bis ihre intuitive Rückmeldung ihnen mitteilt, dass sie stimmig und hilfreich wirkt und ihre Kompetenzen aktiviert. Dabei zeigt es sich praktisch immer, dass diese zunächst nur willkürliche Änderung der Körperkoordination nach kurzer Zeit zu einer erheblichen Verbesserung der unwillkürlichen Prozesse insgesamt beiträgt. Die Körperkoordination wirkt offenbar als starker Attraktor im Erlebnismuster, sie zieht sozusagen die anderen unwillkürlichen Musterelemente nach sich« (Schmidt, 2005, S. 115). Ressourcenaktivierung wird so mithilfe des Körpers erreicht. Eine Parallele dazu findet sich in Untersuchungen zu Ritualen. Künstlich und bewusst inszenierte Bewegungen und Handlungsabläufe können nach Köpping (2000) in echtes Erleben übergehen. Dabei kommt der körperlichen Erfahrung die entscheidende Bedeutung für den Übergang von der Inszenierung zur Authentizität zu.

Der Körper in der Coachingpraxis Bei den nun folgenden konkreten Ansatzpunkten im Coachingprozess orientieren wir uns an einigen übergeordneten Wirkprinzipien bzw. Strategien. Auf einer sehr allgemeinen Ebene geht es im Sinne des ethischen Imperativs von Heinz von Foerster (Foerster u. Pörksen, 2006, S. 36) immer um Unterschiedsbildung: »Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst!«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Die Einbeziehung des Körpers ist für sich bereits meistens eine Unterschiedsbildung, die von Beginn an im Coachingprozess hilfreich sein kann. Für den Klienten sind reale, ganzheitliche, eben auch körperliche und sinnliche Erfahrungen oft der entscheidende Unterschied zur schwerpunktmäßig kognitiven Reflexion. Die Lenkung der Aufmerksamkeit des Klienten auf seine Körpersignale öffnet einen neuen Zugang zum Erleben. Besonders eindrucksvoll zeigen sich diese Effekte bei der Erarbeitung von Zielen. Durch die körperliche Repräsentation kann der angestrebte Zielzustand eindrücklich als Unterschied erfahren werden, und diese körperliche Repräsentation stellt sicher, dass die ganze Person hinter dem Ziel steht. Ist eine solche ganzheitliche positive Bewertung des Ziels, die an Mimik, Haltung und Stimme, also körperlich, ablesbar ist, nicht gegeben, muss nachgearbeitet werden. Körperliche Aspekte liefern somit auch wichtige Beiträge zur Evaluation des Coachingprozesses. Ein Coachee kommt wegen drohenden Burnouts auf Empfehlung der Betriebsärztin. Er sitzt vornübergebeugt im Sessel, schaut meist auf den Boden, Gestik und Mimik sind reduziert. Bei der Erarbeitung des Zielzustandes (sich abgrenzen zu können, beruflich und familiär, delegieren zu können, Gelassenheit) beginnt er sich aufzurichten, atmet tief durch, lehnt sich schließlich zurück und sucht Blickkontakt. Der Coachee wird eingeladen, diesen Zustand bewusst wahrzunehmen, körperlich zu explorieren und körperlich zu verankern. Er wählt als Anker das Aufrichten und das tiefe Durchatmen. In diesem ressourcevollen Zustand lassen sich konkrete Maßnahmen entwickeln.

Die angesprochene grundlegende Strategie der Unterschiedsbildung findet sich in nahezu allen Interventionsprinzipien. Der Nutzen einer Fokussierung auf körperliche Aspekte wird nachfolgend anhand einiger spezieller Anwendungen dieses allgemeinen Prinzips erläutert, wie dem Spiel mit Assoziation und Dissoziation, dem Wechsel der Wahrnehmungspositionen, Ankertechniken oder der Fokussierung von Aufmerksamkeit. Eine zentrale Möglichkeit, im Erleben und Verhalten Unterschiede zu entwickeln und damit Handlungsspielräume zu eröffnen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ergibt sich durch ein Spielen mit Assoziation und Dissoziation. Sei es, dass einem Klienten, der sein Problem ganz intensiv assoziativ erlebt, durch eine dissoziierte Betrachtungsweise ein anderer Blick auf sein Problem ermöglicht wird. Sei es, dass ein Klient, der gewohnt ist, alles neutral und distanziert zu betrachten, durch eine assoziierte Position einen neuen und ungewohnten Zugang zum eigenen Erleben und damit zu den eigenen Emotionen bekommt. Sei es, dass ein Klient lernt, Interaktionen mit anderen Personen aus einer Metaposition zu betrachten und sich als Teil dieser Interaktionen zu begreifen. Oder sei es schließlich, dass ein Klient in die Schuhe eines Interaktionspartners schlüpft, um sich quasi selbst aus der Perspektive des Gegenübers wahrzunehmen. Eine unserer Klientinnen stand vor einem großen Karriereschritt. Diese Situation löste sowohl starke positive als auch negative Affekte aus. Es zog sie einerseits hin zu neuen Aufgaben, mehr Abwechslung, mehr Verantwortung, einem höheren sozialen Status und mehr Gehalt. Andererseits machte sich ein mulmiges Gefühl im Bauch breit. Beim Nachspüren kam die Klientin zu folgender Erkenntnis: Die Kehrseite des Aufstiegs waren noch weniger Zeit für Hobbys und soziale Kontakte und Schuldgefühle der Familie gegenüber. Erst dadurch, dass sie ihren körperlichen Empfindungen nachspürte, konnte sie in der Auseinandersetzung mit ihren Werten Klarheit gewinnen. Diese Hinwendung zum Körper führte schließlich zu einer für sie stimmigen Lösung, die sich auch körperlich gut anfühlte.

Das Einnehmen dieser unterschiedlichen Perspektiven bzw. der Wechsel zwischen den Perspektiven wird deutlich erleichtert, wenn man das Erleben durch körperliche Ausdrucksformen unterstützt. So lässt sich die untrennbare Einheit des Organismus nutzen. Wenn Klienten ihr Problem sehr assoziiert erleben, resultiert aus der Gleichsetzung von Problem und Person in der Regel eine Selbstabwertung. Ein wichtiger, ressourcenstärkender Schritt kann darin bestehen, diese Identifizierung durch eine dissoziierte Sicht auf das Problem aufzulösen. Diese Dissoziation kann durch verschiedene Formen der Externalisierung unterstützt werden. Als versteh© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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bar, handhabbar und sinnhaft für Klient und Coach erweist sich für uns im Coaching immer wieder das Modell innerer Konferenzen nach Gunther Schmidt (2004). Darin wird mit dem Körperwissen gearbeitet, indem Persönlichkeitsanteile externalisiert und detailliert beschrieben werden. Ihre Bedürfnisse werden gewürdigt und eine stimmige und tragfähige Lösung entwickelt. Stimmig bedeutet: Alle Seiten stimmen zu, was körperlich spürbar ist. Hier kann der Körper des Klienten einmal mehr zur Evaluation genutzt werden. Dieses Modell eignet sich besonders zur Arbeit mit inneren Konflikten, mit störendem Verhalten oder auch mit körperlichen Symptomen (die medizinisch abgeklärt sind). Entscheidend dafür, dass Dissoziation und Externalisierung gelingen, ist eine intensive körperliche Repräsentation des jeweiligen Erlebensinhalts, die durch Anordnung im Raum, Körperhaltung, pantomimische Darstellung oder durch Aussagen ausgestaltet wird und damit sowohl Gestalt annimmt als auch gestaltbar wird. Selbstwirksamkeit und Kohärenzerleben werden gestärkt, ein Ziel, das zunehmend auch im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements Bedeutung erlangt. Besonders, wenn es um soziale Konflikte geht, bietet sich die Arbeit mit unterschiedlichen Erlebnispositionen an. Das Spiel mit Assoziation und Dissoziation wird dabei in Form wechselnder Wahrnehmungspositionen genutzt. Das erleichtert es, die eigene Wirklichkeitskonstruktion als solche zu erkennen und zu verändern. Auch Bedürfnisse und gute Absichten – eigene und die der Konfliktpartner – können so herausgearbeitet werden. Auch hier ist es für ein intensives Erleben der verschiedenen Positionen äußerst hilfreich, den Wahrnehmungspositionen verschiedene Plätze im Raum zuzuordnen sowie den Klienten diese Plätze körperlich einnehmen und ausgestalten zu lassen. Diese Beispiele kann man natürlich auch als Spezialfälle der Fülle von szenischen Darstellungen in der systemischen Praxis sehen. Ein zentrales verbindendes Element ist dabei, dass neben dem expliziten Wissen und entsprechenden Erinnerungen auch ein implizites Körperwissen zum Tragen kommt. Ohne dass es rational erklärt oder begründet werden kann oder muss, findet der Körper eine passende Ausdrucksform oder bei Aufstellungen zum Beispiel einen passenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Ort. Dabei ist es immer wieder überraschend, mit welcher Sicherheit und Klarheit Klienten wissen, was auf der körperlichen Ebene stimmig ist. Das lässt sich sehr schön demonstrieren, indem Angebote zu verschiedenen Ausdrucksvarianten vorgeschlagen werden. Die Urteile über diese Vorschläge fallen in aller Regel eindeutig aus. Um dem Klienten diese Klarheit, die für sich genommen schon eine ressourcevolle Erfahrung ist, deutlich zu machen, kann es auch nützlich sein, gelegentlich inadäquate Vorschläge zu machen. Hilfreiche Unterstützung bietet der Einsatz des Körpers auch bei den weit verbreiteten Ankertechniken. Ankertechniken kann man ganz allgemein charakterisieren als die Kopplung der Initiierung eines mentalen Programms an einen Auslösereiz. Dabei kann das mentale Programm in einer bestimmten Art der Aufmerksamkeitslenkung, der Reaktivierung eines Gedächtnis- und Erlebnisinhalts oder auch der Initiierung eines Verhaltensmusters bestehen. Alle drei Aspekte können im Coaching praktisch relevant sein. Auch wenn sich für die gezielte Auslösung gewünschter mentaler Programme nahezu beliebige Auslösereize eignen, sind nach unserer Erfahrung körperorientierte Anker besonders effektiv. Dazu gehören Berührungen oder Bewegungen, die Atmung und vor allem die Körperhaltung. Gerade wenn es darum geht, eine bestimmte Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung zu aktivieren, scheint die gezielte Wahl einer bestimmten Körperkoordination besonders effektiv zu sein (siehe Übung, S. 199). Der Grund dafür könnte in einer engen Beziehung zwischen Körperspannung und emotionalem Zustand, also der integrativen Bewertung der aktuellen Situation liegen. Für das Nutzen von Ankern in anderen Sinnesmodalitäten brauchen wir natürlich auch den Körper bzw. den Organismus. Eine elegante und effektive Anwendung einer Ankertechnik ist die »Problemlösungsgymnastik« (Schmidt, 2004, S. 74 f.). Nach der erfolgreichen Entwicklung eines Lösungsmusters werden hierbei Elemente des ursprünglichen Problemmusters als Anker utilisiert. Alte, weitgehend unwillkürliche Muster werden nicht bekämpft, sondern sie dienen gleichsam als »Wecker«, die daran erinnern, dass man inzwischen über alternative, hilfreiche Handlungsmuster verfügt. Die oft nur schwer zu unterbindenden Problemmuster werden so zu Startelementen für Lösungsmuster. Auch hier verleiht eine kör© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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perliche Inszenierung der Verknüpfung der alten Reaktion mit dem neuen Muster besondere Wirksamkeit. Zu Anfang wurde bereits der Prozesscharakter des Coachings betont. Dabei geht es oft darum, bestimmte Veränderungs- oder Entwicklungsprozesse modellhaft zu durchlaufen. Hier kann es sehr hilfreich sein, dieses Durchlaufen wörtlich zu nehmen. So kann in den einzelnen Schritten jeweils das erlebt und auf das fokussiert werden, was gerade wichtig ist (Komplexitätsreduktion). Unbewusste, bislang übersehene Hindernisse und Widerstände, aber auch Ressourcen machen sich über den Körper bemerkbar und können berücksichtigt werden. Bodenanker markieren dazu Plätze im Raum, die für die verschiedenen Prozessschritte reserviert sind. Indem körperlich von einem Platz zum anderen gewechselt wird, wird wie bereits besprochen ein Wechsel der Wahrnehmungs- und Erlebensposition unterstützt. Des Weiteren kann das Erleben einer Zeitprogression durch das Abschreiten einer räumlich repräsentierten Zeitlinie unterstützt werden. Ein wichtiges Mittel der Unterschiedsbildung im Coaching besteht in der Umfokussierung der Aufmerksamkeit, einem Hauptprinzip der Hypnotherapie. Auch für diese Gruppe von Coachinginterventionen hat die Fokussierung auf körperliche Aspekte große Bedeutung. Ein empirisch gut erforschter Weg zur Achtsamkeit und Körperwahrnehmung ist das Mindfulness-Based Stress Reduction Program (MBSR) von Kabat-Zinn (2008). Hier wird die absichtslose, nicht wertende Aufmerksamkeitslenkung auf das bewusste Erleben des aktuellen Augenblicks speziell zur Stressreduktion, zum Bearbeiten von negativen Gefühlen und zur Aktivierung von Selbstheilungskräften erfolgreich eingesetzt. Das Einnehmen dieser Beobachterperspektive bewirkt eine Dissoziation. Dadurch kann bei unerwünschten unwillkürlichen Prozessen der Autopilot gestoppt werden. Der Schlüssel zu dieser Art von Aufmerksamkeit liegt oft darin, sich zunächst auf den eigenen Körper mit all seinen Facetten zu konzentrieren. Das Prinzip Achtsamkeit und einzelne Elemente aus dem MBSR können auch im Coaching angewandt werden. Achtsamkeit lässt sich auch gut zwischen den Coachingsitzungen in Eigenregie trainieren und unterstützt den Klienten durch die Wahrnehmung somatischer Marker im Selbstzugang. Und für den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Coach selbst kann es ebenso hilfreich sein, von Zeit zu Zeit in diesen Bewusstseinszustand einzutauchen. Eine neuere Methode der mentalen Selbstregulation, die Introvision (Wagner, 2011), beruht zu einem wichtigen Teil auf einer ähnlichen Art der Aufmerksamkeitssteuerung. Das wache, offene und nicht wertende Beobachten der inneren Prozesse, die durch die Konfrontation mit belastenden Stimuli in Gang gesetzt werden, führt nach kurzer Zeit dazu, die automatisierte Kopplung dieser Prozesse an die Stimuli zu unterbrechen. Die positive Wirkung dieser Entkopplung besteht auf mentaler Ebene in einem Zuwachs an Gelassenheit und Selbstregulationsfähigkeit und auf körperlicher Ebene in der Vermeidung habitueller physiologischer Reaktionen wie zum Beispiel muskulärer Verspannungen. Ein Klient (Controller, 49 Jahre) mit drohendem Burnout, Bluthochdruck und Zukunftsangst leidet unter massivem Stress, den er kaum regulieren kann und der seine Beziehungs- und Leistungsfähigkeit stark einschränkt – ein Teufelskreis. Dadurch erlebt er sich zunehmend als Versager in verschiedenen Kontexten. Als er nach einem vorbereitenden Training in weiter, nicht wertender Aufmerksamkeit mit einer typischen Stress auslösenden Situation konfrontiert wird, nimmt er ein flaues Gefühl im Solar-Plexus-Bereich wahr, eine flache Atmung und eine Anspannung speziell im Schulterbereich. Es kommt der Satz: »Ich darf auf keinen Fall einen Fehler machen.« Er lässt sich darauf ein, sich den »worst case« vorzustellen, nämlich dass er doch einen Fehler macht, und dabei seine weite, konzentrierte, aber nicht wertende Aufmerksamkeit auf die Reaktionen seines Organismus zu richten. Während es ihm im ersten Durchgang nur gelingt, diese offene Aufmerksamkeit für wenige Sekunden zu halten, reichen wenige Wiederholungen aus, diese Dauer deutlich auszudehnen. Die dabei erlebte gänzlich neue Erfahrung von Gelassenheit angesichts des bisher Angst einflößenden Gedankens motiviert ihn, diese Übung eine Zeit lang regelmäßig zu wiederholen. Das Ergebnis ist eine gesteigerte Gelassenheit, die sich in allen Lebenskontexten entlastend auswirkt. Auch hier erweist sich die Be(ob)achtung körperlicher Signale als ein besonders hilfreiches Element der Intervention.

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Abschließend ein vielleicht banaler, dennoch nicht zu vernachlässigender Hinweis für die Praxis: Unser Körper hat Bedürfnisse. So sollten zum Beispiel in einer Coachingsitzung Getränke angeboten werden, und es ist nicht gleichgültig, wie die Sitzgelegenheiten beschaffen sind.

Fazit Zunächst haben wir die nach unserem Verständnis enge Verknüpfung von Coaching mit dem Salutogenesekonzept dargestellt. Vor diesem Hintergrund wurde dann diskutiert, welche Bedeutung die Beachtung körperlicher Aspekte im Coaching hat. Dazu wurden relevante Forschungsergebnisse skizziert und praktische Ansätze vorgestellt. Daraus ergibt sich, dass eine entsprechende Arbeitsweise sowohl theoretisch angemessen als auch praktisch nützlich und hilfreich ist. Über den Körper können die für Coachingprozesse so wichtigen Prinzipien der Unterschiedsbildung und der Ressourcenaktivierung auf vielfältige Weise erfolgreich umgesetzt werden. Die Einbeziehung des Körpers und seiner Signale unterstützt eine effiziente und nachhaltige Veränderungsarbeit. Für die Praxis noch ein ganz einfaches Argument: Wenn wir den Körper in jeder Phase des Coachings einbeziehen, erleichtert das sowohl die Arbeit des Coachs als auch die der Klienten.

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Das Schürfen nach Gold: Kommunikation mit dem Körpersystem mittels Kinesiologie

Vorbemerkungen Was wäre, wenn jeder Mensch seine individuellen Stärken zur Entfaltung bringen könnte? Was wäre, wenn jeder von uns in der Lage wäre, seine1 Ressourcen zu aktivieren? Diese Fragen, die in Bezug auf das Anliegen im Coachingprozess direkt oder indirekt im Mittelpunkt stehen, bilden den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Persönliche Ressourcen stellen unseren individuellen Reichtum dar, weswegen sie mit Gold vergleichbar sind. Das Aktivieren und Nutzen dieser persönlichen Ressourcen ist wie ein Schürfen nach der Goldader, das Coachee und Coach gemeinsam als Team realisieren. Doch können Hindernisse auftreten, die erst aus dem Weg geräumt werden müssen, um eine Ressource nutzbar zu machen. Hierbei kann uns das Körpersystem des Coachee wertvolle Informationen liefern. Wie dies im Rahmen der Analytischen Kinesiologie nach Dr. Keding möglich ist, wie die Grundtechnik hierzu aussieht und wie dieses Instrument im Rahmen eines Einzelcoachings integriert werden kann, wird im Folgenden vorgestellt. Dabei nehme ich die Sichtweise eines Coachs ein,2 doch ist dieses Instrument auch auf die beratenden und therapeutischen Bereiche des Systemischen gut anwendbar, was daran deutlich wird, dass sich die Kinesiologie im Allgemeinen und die Analytische Kinesiologie im Besonderen aus der Heilkunde heraus entwickelt hat (Keding, 2013, S. 79). Wenn wir uns als Coach mit den persönlichen Ressourcen von Personen beschäftigen, kann es unter Umständen sehr herausfordernd sein, gezielt diese Ressourcen aufzudecken und nutzbar zu 1

Ich bitte die folgende ausschließliche Verwendung der männlichen Form vor dem Hintergrund einer besseren Lesbarkeit zu sehen. 2 Beim Coaching wird – im Gegensatz zur Psychotherapie – von einer »gesunden« Person ausgegangen.

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machen. Doch ist es nicht die Aufgabe jeder professionellen Begleitung, mit unserem Coachee neue Sichtweisen zu erarbeiten, um seine Selbstwahrnehmung zu fördern und seine Autonomie sowie sein Verantwortungsgefühl zu stärken (in diesem Sinne Meier, 2007, S. 101)? Dabei hängt es von der Fähigkeit und dem Können des Coachs ab, die Coachee-Ressourcen so herauszuarbeiten, dass der Coachee sich als Experte für seine Lösung wahrnimmt.

Ressourcenorientierung Ressourcen sind grundsätzlich personenbezogene oder kontextuelle Gegebenheiten des Coachee und ermöglichen es ihm, seine Bedürfnisse zu befriedigen und Ziele zu realisieren (Bamberger, 2010, S. 44). Die Ressourcen bilden das individuelle Fundament, auf dem er als Individuum sein (tägliches) Leben aufbauen, entwickeln und gestalten kann. Sie bilden die »Schatzkammer der eigenen inneren Kräfte und Möglichkeiten« (Thereutzbacher u. Nemetschek, 2009, S. 100). Während des Coachingprozesses bilden Coach und Coachee ein Team, das sich zum Ziel gesetzt hat, gemäß dem Coachee-Anliegen3 die unerforschte oder nur teilweise erforschte Coachee-Landschaft gemeinsam zu erkunden und geeignete Ressourcen aufzuspüren und »zu erobern«, sprich: nutzbar zu machen. Diese Expedition und das Schürfen nach den Goldadern des Coachee dient ausschließlich der Lösungsfindung – Ressourcensuche und -aktivierung sind daher kein Selbstzweck, sondern stellen einen Zwischenschritt dar, um den Grundstein für ein lösungsförderndes Verhalten des Coachee zu legen (vgl. Bamberger, 2010, S. 45.). In diesem Sinne ist die Expedition stets individuell, und die Ressourcen, nach denen geschürft wird und die gefunden werden, sind immer mit Blick auf das Problem zu bewerten. Bei der Ressourcensuche und -aktivierung kann es vorkommen, dass das Team recht schnell auf relevante Ressourcen stößt. Manchmal wird dazu schon etwas mehr Zeit, Geduld und Gespür für die Landschaftserkundung verlangt. Und dann kann es vorkommen, dass 3 Die Begriffe »Anliegen« und »Problem« werden im Folgenden synonym verwendet.

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das Team bei seinem Erkunden bzw. Schürfen zwar eine Goldader entdeckt, an diese jedoch nicht herankommt – als ob der Weg zur Ressource durch Hindernisse bzw. ein Hindernis versperrt ist. So können etwa bestehende Muster diesen Weg zur Ressource versperren – und das, obgleich die Ressource grundsätzlich vorhanden ist. Dies kann zur Folge haben, dass sich der Coachingprozess zäh gestaltet – und Coach wie Coachee das Gefühl haben, auf der Stelle zu treten. In solchen Momenten werden prägungslösende Instrumente benötigt – so wie die Analytische Kinesiologie nach Dr. Keding.4

Analytische Kinesiologie nach Dr. Keding: Ein Beispiel Die achtjährige Antonia5 ist ein lebhaftes und selbstbewusstes Mädchen, das ihrer Welt mit viel Neugierde und Witz begegnet. Äußerlich fällt sie durch ihre großen Augen, die roten Haare sowie ihren vergleichsweise hohen Wuchs auf. Mit knapp sechs Jahren eingeschult, gehört sie in ihrer Klasse zu den Besten. Das Lernen fällt ihr leicht, sie erzielt (bis auf Sport) durchgehend gute Noten in der Schule, und für ihr Alter liest sie gern und viel. Antonia kommt wegen ihrer Bauchschmerzen mit mir ins Gespräch. Die Bauchschmerzen verfolgen sie seit Tagen; körperliche Gründe können ausgeschlossen werden. Nachdem wir zusammen mit ihrer Mutter gemeinsam nach weiteren Ursachen für die Bauchschmerzen gefahndet haben, stoßen wir als mögliche Ursache auf das Schulschwimmen, das sie bedrückt. Die Schwimmlehrerin hat angekündigt, dass in der nun anstehenden Schwimmstunde ein Sprung ins Becken durch die Schüler einzeln vorgeführt werden soll, der von der Lehrerin benotet wird. Und obgleich die Schwimmlehrerin bereits versucht hat, Antonia mit Blick auf diese Aufgabe zu beruhigen, hat sie gleichwohl vor dem Sprung ins Wasser Angst.

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Im Rahmen des Coachingprozesses sollte der Coach stets das Einverständnis des Coachee zur Anwendung der Analytischen Kinesiologie (also sowohl für den Einsatz des Muskelreaktionstestes als auch des Stress-Releases) explizit einholen. 5 Die Namen in den nachfolgenden Beispielen wurden geändert.

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Aus dem weiteren Gespräch mit Antonia wird deutlich, dass diese Art von Bauchschmerzen bei ihr bereits in der Vergangenheit immer wieder aufgetreten sind, und zwar immer nach einem speziellen, wiederkehrenden Muster: Die Bauchschmerzen treten auf, wenn für Antonia eine Situation kommt, die a) absehbar ist, b) vor der sie Angst hat und c) in der eine Vertrauensperson versucht, ihr durch Beruhigung die Angst zu nehmen. Antonia verfügt eigentlich über Ressourcen, mit denen sie eine solche Situation gut meistern könnte. Und in anderen Momenten gelingt es ihr auch, etwa durch Mut und Witz ihre anfängliche Angst zu überwinden oder mit Unterstützung Dritter eine gute Lösung zu finden. Im Rahmen des beschriebenen Musters scheint sie jedoch wie blockiert, denkbar relevante Ressourcen können durch sie nicht genutzt werden. Insofern habe ich die Hypothese, dass dieses Muster sich aufgrund einer Erstursache gebildet hat. Sofern meine Hypothese stimmt, wirkt diese Erstursache nun wie der unsichtbare Faden, der die relevanten Ressourcen zurückzieht, sobald Antonia danach greifen möchte. Ich möchte meine Hypothese mit der Analytischen Kinesiologie prüfen und frage Antonia, ob sie Lust hat, mit mir auf eine Expedition zu gehen und nach Puzzlesteinen zu suchen, die uns helfen sollen, ihr Anliegen besser zu verstehen. Neugierig geworden, wie ich das anstellen will, bejaht sie sofort. Ich erläutere ihr den Muskelreaktionstest, den wir an einigen Beispielen ausprobieren. Antonia macht dieses Austesten viel Spaß, und sie ist erstaunt, wie schnell er ihr die Ergebnisse anzeigt. Auf diese Weise eingestimmt, beginnen wir mit der Analyse. Wir suchen gezielt nach möglichen Erstursachen, indem wir nach reizauslösenden Stichwörtern fahnden. Dabei fangen wir mit den Lebensjahren und möglichen Bezugspersonen an. Als stressauslösende Puzzlesteine (»Stressoren«) bekommen wir »sechstes Lebensjahr« sowie »Horterzieherinnen« heraus. Als wir diese beiden Puzzlesteine identifizieren, erzählt Antonia nach kurzem Überlegen, dass sie sich in den ersten Monaten nach ihrer Schuleinführung nur sehr schwer an die neue Umgebung und den neuen Rhythmus gewöhnen konnte. In dieser Phase wurde eine bestimmte Horterzieherin für sie zu einer wichtigen Vertrauensper-

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son, bei der sie Schutz, Trost und Zuspruch fand. Aufgrund dieser Erläuterung testen wir den Begriff »Schuleinführungsphase«, der tatsächlich ein dritter Puzzlestein wird. Wir beide sind mit dem Gefundenen zufrieden, auch deshalb, da bei Antonia aufgrund der drei Puzzlesteine wieder viele Gefühle und Erinnerungen in das Bewusstsein kommen. Ich erkläre Antonia, dass wir mit unserer Expedition gerade dabei sind, einen wichtigen Schatz zu finden, den wir nun wohl auch heben sollten. Sie ist einverstanden, und so erläutere ich ihr, dass wir diese Stichwörter, die bei ihrem Körper offensichtlich Stress auslösen, nun entstressen wollen. Sollte uns das gelingen, hätten wir den Schatz gehoben und die Bauchschmerzen würden in solchen Situationen nie mehr auftreten. Antonia schaut mich zwar etwas ungläubig an, doch hat sie so viel Vertrauen zu mir, dass sie nach meiner Anleitung ein Stress-Release durchführt. Im Anschluss an das Stress-Release testen wir nochmal die drei Stressoren, die nun keinen Stress mehr bei Antonia auslösen. Damit beenden wir unser Gespräch.

Wie sich in der folgenden Zeit herausstellt, treten bei Antonia keine Bauchschmerzen auf, wenn eine »typische« Situation wieder mal auftritt. Vielmehr ist sie nun in der Lage, die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen gut zu nutzen.

Die Grundtechnik der Analytischen Kinesiologie nach Dr. Keding Die Analytische Kinesiologie wurde von Dr. Christa Keding entwickelt und zeichnet sich dadurch aus, dass die Vielfalt der bestehenden kinesiologischen Richtungen und Ansätze auf zwei wesentliche Bausteine konzentriert wurdn: a) auf den Muskelreaktionstest und b) auf den Einsatz des Stress-Releases (vgl. Keding, 2008, S. 30 f.).6

6 Ferner spielt auch die Interaktion zwischen dem Coachee und dem Coach eine Rolle. Da sie aber bei jedem Coachingprozess von Bedeutung ist, soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden.

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Der Muskelreaktionstest

Der Muskelreaktionstest, kurz Muskeltest, basiert auf der Erkenntnis, dass es möglich ist, mit dem Körpersystem einer Person zielgerichtet zu kommunizieren und auf diese Weise auch an Informationen aus dem Unterbewusstsein zu kommen. Er baut auf zwei physiologischen Grundsätzen auf, wobei davon ausgegangen wird, dass die Skelettmuskulatur vom Menschen in der Regel bewusst gesteuert werden kann (willkürliche Steuerung). Der erste Grundsatz besagt, dass der menschliche Körper in einer als gefährlich eingeschätzten Situation unwillkürlich reagiert. Was bedeutet das? Stellen Sie sich vor, dass Sie Lust auf ein Bad haben. Sie füllen Ihre Badewanne mit Wasser, und weil Sie durch ein Telefonat abgelenkt werden, vergessen Sie, auf die Temperatur zu achten. Voller Vorfreude wollen Sie nun mit dem ersten Fuß in die Badewanne einsteigen und reißen ihn sofort zurück, da das Wasser zu heiß ist. Für Ihr Körpersystem bedeutet das heiße Wasser eine Gefahr, so dass er unweigerlich mit dem Zurücknehmen des Fußes reagiert hat. Der Weg über das Bewusstsein – hier also die bewusste Aufnahme des Reizes (hohe Temperatur) über die Sinne, Weiterleitung an und Verarbeitung im Gehirn und willkürliche Reaktion – wäre zu lang gewesen. In gefährlichen Situationen wird die willentliche Steuerung der Skelettmuskulatur demnach unterbrochen, um Reflexhandlungen, etwa zur Flucht, zu ermöglichen (Keding, 2013, S. 28 f.). Dieser Vorgang wird beim Muskelreaktionstest genutzt, um Rückschlüsse auf Gefahrenreize zu erhalten. Verursacht demnach ein Gefahrenreiz Stress beim Coachee, verliert das Bewusstsein für eine kurze Zeit die Kontrolle über die Skelettmuskulatur. Nach diesem Moment übernimmt dann wieder die willkürliche Muskelsteuerung ihre Aufgabe – so dass Sie sich entscheiden könnten, trotzdem ins heiße Wasser zu steigen. Für den Coachingprozess bedeutet der Muskelreaktionstest die Möglichkeit, Informationen, die über das Körpersystem zugänglich sind, sammeln zu können, um auf diese Weise etwa den Ursachen von Prägungsmustern nachzugehen. Dabei ist stets das Coachingziel im Blick zu haben, hier also jene Erstursache(n) zu identifizieren, die zum bestehenden Muster führte(n), da diese Ursache(n) der Urauslöser für die Entwicklung dieses Musters war. Die Bewertung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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eines solchen Musters im Sinne von »gut« oder »schlecht«, »positiv« oder »negativ« ist nicht sinnvoll und vor allem ohne Bedeutung – ein solches Muster konnte unter Umständen in vergangenen Zeiten für den Coachee für eine (Über-)Lebensstrategie hilfreich gewesen sein, führt nun jedoch dazu, dass er sich in bestimmten Situationen nicht optimal entwickeln kann. Und das ist der Grund, weshalb der Coachee das Coaching aufgenommen hat. Die Grundtechnik des Muskeltests ist (für manche verblüffend) einfach (Keding, 2013, S. 33; vgl. Abbildung 1): ȤȤ Die zu testende Person (Proband) stellt sich hin oder sitzt bequem auf einem Stuhl. ȤȤ Der Proband streckt den rechten Arm in einem circa 80- bis 90-Grad-Winkel so nach vorn, als ob er etwas zeigen möchte; die Armhaltung ist nahezu waagerecht. ȤȤ Der Tester steht bzw. sitzt seitlich von der Person und legt seine linke Hand auf die Schulter der Testperson, während seine rechte Hand locker knapp oberhalb des Handgelenks des Probanden ruht. ȤȤ Nach seiner Aufforderung »Bitte halten!« beginnt der Tester, mit der rechten Hand Druck auf den Arm des Probanden aufzubauen, am besten durch Gewichtsverlagerung nach vorn. Dabei ist es wichtig, dass der Druck langsam aufgebaut wird, so dass für Tester und Proband spürend nachvollzogen werden kann, ob der Muskel gut gehalten (»starker« Arm, bei dem beide das Gefühl haben, dass er in einer bestimmten Position quasi einrastet) oder vom Tester leicht nach unten gedrückt werden kann (»schwacher« Arm). Die beiden Abbildungen veranschaulichen die richtige bzw. eine falsche Testhaltung. Es ist dabei wichtig, dass der Test nicht zu einem Wettkampf zwischen Tester und Proband wird! Mit Blick auf das Ziel, nämlich Prägungsursache(n) aufzuspüren und auf diese Weise an die Goldader zu kommen und diese letztlich nutzbar zu machen, handelt es sich bei Anwendung der Analytischen Kinesiologie um ein intensives Miteinander innerhalb des Teams. Sie können den Test ausprobieren, indem Sie mit Ihrem Probanden unterschiedliche Testdurchläufe machen. Gehen Sie dabei gemäß der Testanleitung vor und spüren Sie zunächst, wann Sie beide © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Richtige Testhaltung

Falsche Testhaltung

Abbildung 1: Richtige und falsche Testhaltung (Keding, 2013, S. 63; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

merken, dass der Armmuskel einrastet. Versuchen Sie als Tester dann einmal, Ihren Druck langsam kontinuierlich zu erhöhen, während die zu testende Person dagegen hält. Sie werden merken, dass der Proband in der Lage ist, seinen Arm grundsätzlich gut und relativ leicht ausgestreckt zu halten. Lassen Sie in einem zweiten Schritt den Probanden erst seinen richtigen und dann einen falschen Namen sagen, während Sie nach jeder Aussage den Test durchführen. Im ersten Fall kann die zu testende Person seinen Arm wieder gut und leicht halten, während der Stress des »Lügens« dazu führt, dass es ihm schwer fällt, seinen Arm ausgestreckt halten zu können, so dass er vom Coach leicht nach unten gedrückt werden kann. Spüren Sie den Unterschied, wie es dem Probanden leicht bzw. schwer fällt, seinen Arm zu halten. Probieren Sie es mit anderen »Wahr-Falsch«-Aussagen. Oder lassen Sie die zu testende Person mit einem Finger der linken Hand in ihren Bauchnabel piksen – auch das führt in der Regel dazu, dass sie ihren Arm nur schwer halten kann. Sobald Sie beide den Unterschied eines »starken« und »schwachen« Arms fühlen, haben Sie sich die Grundtechnik des Muskeltests erschlossen und können mit dem Körpersystem einer Person kommunizieren. Sie werden merken, dass es auch bei Anwendung dieses Instrumentes auf eindeutige Formulierungen ankommt, also auf die Feinjustierung unserer Sprache. So ist es etwa empfehlenswert, dass das, was Sie testen möchten, als Aussagesätze (und nicht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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als Fragesätze) formuliert wird, da Aussagen den Vorteil haben, dass Negationen vom System eindeutig verstanden werden (Keding, 2013, S. 43). Ferner ist die jeweilige Wortwahl vom Team genau zu überlegen und gegebenenfalls die Bedeutung einzelner Worte im Team zu klären. So macht es etwa einen Unterschied, ob etwas »gut«, »geeignet« oder »optimal« sein soll. Neben dieser neurophysiologischen Basis einer Reizreaktion kommt als zweiter Grundsatz die idiomotorische Steuerung zum Tragen, die es ermöglicht, Informationen aus dem Unterbewusstsein über das vegetative und zentrale Nervensystem zu übertragen. Die Idiomotorik ermöglicht es nämlich, das Körpersystem zu »programmieren« – Keding spricht hier vom »Rastertest« (2013, S. 46). Das Programmieren ermöglicht dem Team, Aussagen in gemeinsam festgelegte und dem Körpersystem mitgeteilte Kategorien einzuordnen. Ein Beispiel: Sie sind in Ihrem Prozess an die Stelle gekommen, an der Sie herausfinden wollen, welche Personen für das Entstehen eines Musters verantwortlich sind. Nun können Sie dem Körpersystem vorgeben, dass bei allen Personen, die für das Musterentstehen relevant sind, der Muskel vom Coachee gehalten werden kann (»starker« Arm) und im anderen Fall nicht (»schwacher« Arm). Wenn Sie nun jede Person testen, die das Team als grundsätzlich untersuchungswürdig findet, werden Sie merken, dass das Körpersystem alle Personen diesen beiden Kategorien zuordnet. Der Rastertest erlaubt somit eine hohe Effizienz und Zielgerichtetheit, doch ist es entscheidend, sich vor dem Testen genau zu überlegen, was genau untersucht werden soll und welche Suchraster entsprechend sinnvoll sind (Keding, 2013, S. 47). Beispiele zu Rastermöglichkeiten finden Sie etwa in Keding (2006). Das Stress-Release

Hat für viele Coachee bereits die Identifikation der Erstursache(n) auf Basis einer Kommunikation mit dem Körpersystem einen hohen Eigenwert, da für sie greifbar wird, warum sie in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art reagieren, gewinnt diese Identifikation aber noch dadurch an Bedeutung, dass die stressauslösende Prägung der Erstursache(n) mit Hilfe des Stress-Releases gelöst werden kann. Das Stress-Release kann gemeinsam im Team oder selbstständig © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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durch den Coachee durchgeführt werden – im Folgenden wird von der zweiten Variante ausgegangen. Der Coachee legt sich entweder entspannt hin oder er setzt sich so hin, dass sich seine beiden Arme auf die Knie aufstützen können, so dass die Hände seinen Kopf gut »halten« können (Sitzhaltung eines Denkers). Der Coachee schließt seine Augen und berührt mit seinem Zeige- und Mittelfinger der rechten/linken Hand den rechten/linken Stirnbeinhöcker. Nun spürt er für einige Minuten dem erarbeiteten Thema nach, welches das Hindernis zur Ressource bildet. Alle Gedanken und Empfindungen, die sich einstellen, lässt er zu und auf sich wirken. Dabei können Erinnerungen etwa als Bilder, Filme oder Gerüche genauso aufsteigen wie Gefühle der Trauer oder der Wut. Es ist unbedeutend, ob die Erinnerungen real oder konstruiert sind – es geht ausschließlich darum, dem Körpersystem eine Orientierung zum Thema anzubieten. Der Coachee verbleibt in diesem Modus, bis er merkt, wie alle Gedanken und Empfindungen verschwimmen und sich mit anderen Eindrücken vermischen, die nicht zum Thema gehören. Dem Coachee gelingt es nicht mehr, sich ausschließlich auf das Thema zu fixieren. Dies ist das Zeichen, dass das Körpersystem das Thema verarbeiten konnte und das Hindernis zur Goldader aus dem Weg geräumt wurde. Der Coachee öffnet seine Augen, die Hände werden von den Stirnbeinhöckern genommen, und das Stress-Release ist beendet. Viele Coachees spüren nach einem Stress-Release eine deutliche Erleichterung. Das Stress-Release wirkt in der Form auf den Coachee ein, dass »sich die Schaltkreise [von linker und rechter Gehirnhälfte] zu öffnen [scheinen], indem die beteiligten Areale auf beide Hemisphären (und die damit verbundenen tieferen Gehirnareale) durch den Kontakt mit den Stirnhöckern reflektorisch sanft ›gezwungen‹ werden, sich erstmals mit einem Thema oder Konflikt synchron gleichzeitig und gleichwertig auseinanderzusetzen« (Keding, o. J.); Hervorhebungen wurden nicht übernommen). Für den Erfolg eines Stress-Releases ist es von hoher Bedeutung, dass das Thema und die Erstursache(n) mittels des Muskelreaktionstests aufgedeckt und aktiv in das Bewusstsein des Coachees gebracht wurden: Je größer die psychische Resonanz beim Coachee ausfällt, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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je tiefer das Thema also in das Bewusstsein vordringt, desto nachhaltiger wirkt das Stress-Release. Ein Stress-Release wird in der Regel 10 bis 15 Minuten dauern, wobei es möglich ist, dass das Team die Länge vorher per Muskeltest bestimmen kann. Sofern der Coachee das Stress-Release selbstständig durchführt, empfiehlt es sich, dass der Coach ihn allein im Raum lässt und darauf achtet, dass sämtliche Störquellen (Telefon, Computer etc.) ausgeschlossen werden, so dass der Coachee in ruhiger Umgebung seine Gedanken und Empfindungen fixieren kann. Im Anschluss an das Stress-Release können die stressauslösenden Ursachen noch einmal mit Hilfe des Muskelreaktionstests geprüft werden, inwiefern sie aufgelöst wurden – der Arm sollte nun als »stark« getestet werden. Das ist das Signal, dass sie nun kein Hindernis mehr auf dem Weg zur Goldader darstellen. Die Folge für den Coachee ist weitreichend: Ab diesem Zeitpunkt ist die Ressource nutzbar, so dass er nun die Möglichkeit besitzt, sie zu aktivieren und somit mit Blick auf das Anliegen neue Wege beschreiten kann. Die Aktivierung erfolgt jedoch nicht automatisch – sich nun auch auf einen neuen Weg zu begeben, könnte eine Herausforderung für den Coachee sein. Insofern kann es an dieser Stelle des Coachingprozesses sinnvoll sein, andere systemische Instrumente einzusetzen, um die Ressourcen zu aktiven und zu nutzen und den Coachee somit in die Lage zu versetzen, die ersten Schritte des neuen Lösungsweges gehen zu können.

Kombination der Analytischen Kinesiologie mit anderen systemischen Instrumenten: Ein weiteres Beispiel Die Analytische Kinesiologie lässt sich mit anderen systemischen Instrumenten problemlos kombinieren, wie folgendes Beispiel zeigt. Frau Müller, eine fröhliche und lebensbejahende 32-jährige Frau, hat an der Hochschule ihr Studium vor kurzem erfolgreich beendet und eine Stelle im sozialpädagogischen Bereich angenommen. Sie engagiert sich sehr für ihre Arbeit. Zum Zeitpunkt unseres aktuellen Treffens stehen Frau Müller und ich bereits seit einem guten halben

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Jahr in Kontakt, und wir hatten in der Vergangenheit immer wieder im Rahmen von Coachings zu unterschiedlichen Themen gearbeitet. Mein Instrumentenkoffer ist ihr gut vertraut. Als sie diesmal zu mir kommt, macht sie einen sehr angespannten und aufgebrachten Eindruck auf mich. Sie erzählt, dass sie den PKW-Führerschein für die Ausübung ihrer Stelle zu erwerben hat und daher seit einigen Wochen Fahrschulunterricht nimmt. Immer, wenn sie sich nun hinter das Lenkrad des Autos setzt, spürt sie eine starke Anspannung, die sich während des Fahrens weiter verstärkt, so dass sie im weiteren Verlauf immer nervöser und unsicherer wird und gereizt auf die Anweisungen des Fahrlehrers reagiert. Als Coachingziel möchte sie daher auf ihre aktuelle Situation beim Fahrschulunterricht schauen und insgesamt ruhiger und entspannter fahren können. Wir steigen tiefer in das Coaching ein und finden heraus, dass Frau Müller im Kern Angst vor dem aktiven Autofahren hat. Dabei sind Ressourcen wie »Gelassenheit« oder »Fröhlichkeit« bei Frau Müller vorhanden, die sie grundsätzlich gut einsetzen könnte, doch meint sie, dass diese beim aktiven Autofahren wie »hinter einer Glasscheibe« eingeschlossen sind. Wir beschließen, nach Ursachen für diese Angst zu suchen, und insgesamt fallen Frau Müller vier Autofahrereignisse in ihrer Vergangenheit ein, die Gründe für ihre Angst darstellen könnten. Der Muskelreaktionstest führt uns zu einem von ihnen als Stressor (Stichworte des Ereignisses sind »Traktor« und »Vater«); sonstige Stressoren schließen wir über diesen Test aus. Durch die bisher entstandene Psychoresonanz sowie dem gefundenen Puzzlestein führt Frau Müller ein Stress-Release durch. Im Anschluss bestätigt uns der Muskelreaktionstest, dass der vorher benannte Stressor bei ihr nun keinen Stress mehr auslöst. Frau Müller stellt für sich in diesem Moment auch fest, dass sie sich nun schon viel besser und deutlich entspannter fühlt. Um den Coachingprozess zu einem effektiven Abschluss zu bringen, entscheiden wir uns, mit Hilfe des »Arbeiten im Raum« ressourcenorientiert zu arbeiten und schnüren für sie ein kraftvolles Ressourcenpaket, mit dem sie gut auf die beschriebene Situation reagieren kann. Als sie auf diesem Ressourcenpaket steht, hat Frau Müller das Gefühl, dass ihr das Kartenpaket Energie gibt,

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und möchte daher noch eine Weile auf ihm stehen – auf diese Weise vergehen schließlich 15 Minuten. Als wir uns nach neunzig Minuten verabschieden, geht Frau Müller mit einem herzlichen Lachen aus meinem Büro und meint, dass sie so richtig Lust aufs Autofahren hat.

Fazit Persönliche Ressourcen stellen einen hohen Reichtum jedes Menschen dar. Nach diesen »Goldadern« zu suchen und sie für das Anliegen des Coachees nutzbar zu machen, ist eine wichtige Facette im Coachingprozess. Die Analytische Kinesiologie von Dr. Christa Keding stellt innerhalb dieses Prozesses ein wertvolles Instrument dar, das den systemischen Werkzeugkoffer sinnvoll ergänzt. Ihr Einsatz fokussiert auf effektive Weise, vorhandene Hindernisse bei der Erschließung und Nutzung persönlicher Ressourcen zu beseitigen, indem durch Kommunikation mit dem Körpersystem Prägungsursachen aufgespürt und aufgelöst werden. Dabei kann das Instrument der Analytischen Kinesiologie auf hervorragende Weise mit anderen lösungsorientierten Instrumenten kombiniert werden, um für den Coachee eine kraftvolle Lösung für sein Anliegen zu finden – der Experimentierfreude und Kreativität von Coachs, Beratern oder Therapeuten sind keine Grenzen gesetzt.

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Literatur Bamberger, G. G. (2010). Lösungsorientierte Beratung (4. Aufl.). Weinheim u. Basel: Beltz. Keding, C. (2006). Der große Kinesiologie-Ratgeber. Ganzheitliche Heilung durch den Muskeltest. Analytische und psychologische Kinesiologie. Zürich: Oesch. Keding, C. (2008). Die wundersame Welt des Muskeltests. Glaubwürdigkeit, Chancen, Herausforderungen. Zürich: Oesch. Keding, C. (2013). Praxisbuch Analytische Kinesiologie. Die Ursachen erforschen – die Behandlung optimieren – mit dem Muskeltest. Kirchzarten: VAK-Verlag. Keding, C. (o. J.). Stress-Release – eine synaptische Reorganisation? Unveröffentlichtes Skript. Hamburg. Meier, D. (2007). Der Lösungsspaziergang. In J. Hargens (Hrsg.), Werkstattbuch Systemisches Coaching. Aus der Praxis für die Praxis (S. 98–125). Dortmund: Verlag Modernes Lernen. Theuretzbacher, K., Nemetschek, P. (2009). Coaching und Systemische Supervision mit Herz, Hand und Verstand. Handlungsorientiert arbeiten, Systeme aufbauen. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Resilienzförderung nach dem Bambus-Prinzip Methoden der Improvisation und Bodybliss® im systemischen Coaching

Sich mit den Stürmen des Lebens wiegen, anstatt zu zerbrechen Der Bambus steht seit jeher für eine gelungene Strategie im Umgang mit stürmischen Zeiten: sich biegen und im Wind wiegen, anstatt zu brechen, das heißt Flexibilität und Beweglichkeit zeigen, zugleich tief verwurzelt, stabil und standhaft sein. Ist der Mensch flexibel und anpassungsfähig, kann er im Umgang mit Stress und Belastungen auf eine Vielzahl von Reaktionsweisen zurückgreifen und mit einer Krise selbstwirksam umgehen. Ein zentraler Aspekt beim Resilienzcoaching nach dem Bambus-Prinzip ist die Förderung des körperlichen und mentalen Improvisationstalentes. Der Beitrag macht zunächst mit dem Begriff der Resilienz und dem Konzept des Improvisationstrainings vertraut und stellt anschließend mit Bodybliss einen neuen körpertherapeutischen Ansatz vor, mit dem sich Flexibilität und Beweglichkeit im besonderen Maße trainieren lassen.

Resilienz Jeder Mensch durchlebt gute und schlechte Zeiten. Doch warum gehen manche Menschen gestärkt aus einer Krise hervor und warum zerbrechen andere an Schicksalsschlägen? Spannende Antworten hierzu bietet die Resilienzforschung. Sie untersucht, wieso es einigen Menschen gelingt, mit extremen Belastungen in angemessener Weise umzugehen und dabei psychisch wie auch physisch gesund zu bleiben. Die Resilienzforschung steht für einen wichtigen Paradigmen- und Perspektivwechsel, denn sie geht von einer neuen, positiven und lösungsorientierten Fragestellung aus: Was hält Menschen gesund? Was macht den Menschen stark? Sie stellt damit nicht die Defizite, sondern die Stärken des Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Begriff der Resilienz

Resilienz bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, sich trotz widriger Umstände, trotz Niederlagen, Kümmernissen und Krankheiten immer wieder zu fangen und neu aufzurichten. Resilienz steht für die psychische und physische Widerstandskraft eines Menschen, Lebenskrisen, Krankheiten oder andere belastende Lebenssituationen zu meistern. Synonym steht Resilienz auch für Stressresistenz, psychische Robustheit oder psychische Elastizität (vgl. Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2008). Der Volksmund kennt auch den Begriff des Stehaufmännchens. Der Begriff Resilienz stammt – ähnlich wie auch der Stressbegriff – ursprünglich aus der Physik und bezeichnet in der Werkstoffkunde die Fähigkeit eines Werkstoffes, sich verformen zu lassen und dennoch in die ursprüngliche Form zurückzufinden (engl. resilience = Elastizität, Spannkraft, lat. resilire = zurückspringen, abprallen). Resilienzforschung

Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung begann unter anderem mit der Veröffentlichung von Zwischenergebnissen der weltweit berühmt gewordenen Kauai-Studie von Emmy E. Werner und Ruth Smith: »The children of Kauai« (1971) und »Vulnerable but invincible« (1982). Die sogenannte Pionierstudie in der Resilienzforschung untersuchte, im Rahmen einer Längsschnittstudie, über vierzig Jahre lang den Einfluss einer Vielzahl biologischer und psychosozialer Risikofaktoren, aber auch von protektiven Faktoren auf die Entwicklung von fast 700 Kindern. Die Studie begann im Jahre 1955 und ging bis 1995. Die jüngsten Ergebnisse der Studie wurden 2001 veröffentlicht. Unter den untersuchten 698 Kindern gab es 210 (ein Drittel), die unter schwierigen sozialen Bedingungen und in ärmlichen Verhältnissen aufwuchsen: Die Eltern waren zum Teil ungebildet, drogenund/oder alkoholabhängig. Die Kinder wuchsen in einem Umfeld auf, welches von Streit und Gewalt geprägt war. Zwei Drittel der Kinder, die unter diesen Belastungen aufwuchsen, hatten später selbst Schul- oder Drogenprobleme. Sie wurden aggressiv oder straffällig. Jedoch konnten die schwierigen Umstände anscheinend einem Drittel nichts anhaben. Als Erwachsene wurden sie selbstsicher, zuverlässig und leistungsfähig. Man beobachtete weniger Scheidungsfälle © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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und Gesundheitsprobleme als in der Vergleichsgruppe. Das Phänomen wurde genauer untersucht und die Forscher fanden heraus, dass die Kinder ȤȤ die in der Lage waren, solche schwere Krisen zu meistern, flexibler, ausgeglichener, kommunikativer und weniger ängstlich waren; ȤȤ sich durch gute Problemlösungsfähigkeiten auszeichneten und Dinge realistisch einschätzen konnten; ȤȤ stabile Beziehungen zu Freunden aus gut situierten Familien pflegten und ȤȤ sich Lehrer oder andere Bezugspersonen aus der Nachbarschaft zum Vorbild nahmen. Diese Vorbilder halfen ihnen auch dabei, eine positive Einstellung zum Leben zu gewinnen (Werner, 2008, S. 28 ff.). Die Resilienzforschung hat eine Reihe von lern- und trainierbaren Fertigkeiten herausgearbeitet, welche die Widerstandsfähigkeit eines Menschen erhöhen können; dabei gilt: Jeder Mensch hat andere Fertigkeiten, um sein Leben zu meistern. Im Umgang mit Krisen zeigt jeder seine eigene Handschrift. Zu den resilienzfördernden Aspekten gehören unter anderem die folgenden acht Fertigkeiten und Eigenschaften (vgl. Werner, 2008, S. 28 ff.): ȤȤ eine optimistische Weltsicht und Selbsteinschätzung im Umgang mit Problemen; ȤȤ die realistische Einschätzung von Situationen und Zusammenhängen; ȤȤ ein ziel- und lösungsorientiertes Vorgehen; ȤȤ eine gute Selbstfürsorge und umfangreiche Stressbewältigungsstrategien; ȤȤ die Übernahme von Selbstverantwortung und Eigeninitiative; ȤȤ die Pflege von Beziehungen und unterstützenden Netzwerken; ȤȤ Entwicklung und Verfolgung eigener Zukunftsvisionen, Werte und Ziele und ȤȤ Improvisationsvermögen und Lernfreude im Umgang mit neuen Situationen. Beim Resilienzkonzept gehören Krisen und Probleme zum normalen Leben dazu. Krisen werden nicht um jeden Preis gemieden oder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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geleugnet. Die Frage ist nicht, ob es Krisen in meinem Leben gibt, sondern wie ich mit der Krise umgehe. Auch resiliente Menschen sind verletzlich und verletzbar. Jedoch verfügen sie über schützende Bedingungen in ihrer Person und/oder Umgebung, die ihnen helfen, schwierige Situationen besser zu meistern. Resilienz ist an sich keine Methode oder Technik, sondern ein Metamodell, welches günstige Faktoren, Eigenschaften, Einstellungen, Strategien und Verhaltensweisen beschreibt, welche dienlich sind, Krisen zu meistern und im besten Falle gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Resilienz ist ein Entwicklungsprozess und kann erlernt, verlernt und wieder neu gelernt werden. Der Erfolg einer Resilienzstrategie ist nicht ein für alle Mal festgesetzt. Kinder, die als Jugendliche Problemsituationen erfolgreich überstanden haben, können durchaus durch spätere Krisen aus der Bahn geworfen werden. Umgekehrt haben Forschungsergebnisse (Werner, 2008) gezeigt, dass Menschen mit unzureichenden Bewältigungsstrategien in ihrer Kindheit und Jugend an späteren Krisen im Erwachsenenalter quasi »nachreifen« können. Eine Resilienzförderung im Coaching bewirkt unter anderem ȤȤ einen besseren Umgang mit Belastungssituationen und Druck, ȤȤ die Entwicklung von Strategien zur Stress- und Burnoutprophylaxe, ȤȤ einen konstruktiven Umgang mit Veränderungen, ȤȤ das Meistern von neuen und ungewissen Situationen, ȤȤ die Reduktion von Angst und Unsicherheit, ȤȤ den Aufbau von Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein, ȤȤ die Förderung von Kreativität und Spontanität sowie ȤȤ die Erhöhung von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit (Amann, 2012, S. 36 ff.).

Förderung des Improvisationsvermögens mit Bodybliss® Das Improvisationsvermögen trägt wesentlich dazu bei, in Krisensituationen entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben. Eine gewisse Portion Improvisationstalent gehört zu einer positiven und optimistischen Lebenshaltung, prägt das Maß an Flexibilität und Beweglichkeit im Umgang mit ungewohnten bzw. unerwarteten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Lebenssituationen und ist maßgeblich daran beteiligt, in Systemen neue Routinen, Strukturen und Muster aufzubauen, die ein Gefühl von Sicherheit geben und den Beteiligten die nötige Orientierung verleihen (vgl. Weick u. Sutcliffe, 2007). Denn gerät der Mensch unter Stress, konzentriert er sich auf rudimentäre Überlebensstrategien wie Kampf, Flucht und Erstarrung. Zeit für kreative Ideenfindung und Brainstormings für die Entwicklung neuer, strategischer Lösungsansätze, steht ihm schlicht nicht zur Verfügung. Dafür greift er zur Bewältigung der Situation auf altbekannte und beherrschbare Verhaltensmuster bzw. Routinen zurück. Dies bedeutet für unseren Coachingkontext: Der Klient erlernt in einem sicheren Coachingsetting neue Regeln und Verhaltensweisen für einen erfolgreichen Umgang mit akuten oder potenziellen Belastungssituationen. Improvisation: Mit Gelassenheit das Ungewisse meistern

Beim Improvisationstraining lernen die Teilnehmer, wie man ad hoc mit unbekannten Situationen und Problemstellungen umgeht. Gefördert und trainiert werden das natürliche Improvisationstalent und besondere Eigenschaften wie Kreativität, Flexibilität und Spontaneität. Improvisationstechniken und Übungen stärken den Teamgeist, regen die Wahrnehmungsfähigkeit an und fördern die Fantasie. Gefragt sind ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, Achtsamkeit und jede Menge Teamwork. Das Improvisationstraining wirkt von Natur aus resilienzfördernd. Es bietet praktische Antworten auf wichtige Fragestellungen: ȤȤ Wie kann ich eine konstruktive Haltung entwickeln? Wie kann ich schwierigen Situationen mit einer Haltung von Präsenz, Offenheit, Optimismus und Akzeptanz begegnen? ȤȤ Wie kann ich mein Stressmanagement verbessern? Welche Leitsätze der Improvisation helfen mir, auch in stressigen Situationen gut für mich (und andere) zu sorgen, so dass wir als Team entscheidungs- und handlungsfähig bleiben? ȤȤ Wie kann ich in unbekannten Settings produktiv und leistungsfähig bleiben? Wie gehe ich für mich selbst, aber auch in der Teamarbeit ziel-, lösungs- und aufgabenorientiert an Situationen heran, die ich (noch) nicht beherrschen und kontrollieren kann? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Wie kann ich von Ambivalenzmanagement profitieren? Wie gehen wir mit paradoxen Situationen, Widersprüchen, Fehlern und Schwächen um? Was für Vorteile bietet es hierbei, in einem Netzwerk und Team selbstorganisiert zu arbeiten? Das Erleben von Wahl- und Entscheidungsfreiheit ist ein wesentlicher Kern des Resilienztrainings mit Improvisationstechniken. Der Teilnehmer bestimmt selbst, wann und wie er sein Verhalten ändern und Neues ausprobieren möchte. Gelernt wird über die Reflexion neuer Fragestellungen und der Aktivierung ureigener mentaler und vor allem körperlicher Ressourcen. Maßgeblich hierfür sind keine Soll-Standards, sondern der Erfahrungshorizont des Teilnehmers. Beim Resilienztraining geht es um die Aktivierung und Stärkung der acht inneren und äußeren Schutzfaktoren durch ȤȤ das Erleben von Kompetenz, Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit; ȤȤ das Erkennen von Leitgedanken und Handlungsprinzipien, die beim Umgang mit dem Ungewissen hilfreich und förderlich sind; ȤȤ den Aufbau neuer, Denk-, Bewertungs- und Handlungsmuster im Umgang mit stressauslösenden Ereignissen; ȤȤ die Erweiterung der Handlungskompetenzen und Wahlfreiheiten durch die Aktivierung alter oder die Entwicklung neuer erwünschter und nützlicher Routinen sowie ȤȤ die Befähigung zur spontanen Selbstpositionierung, der Aufbau von Stabilität und Entscheidungssicherheit (Amann, 2012, S. 36 ff.). Flexibilitäts- und Beweglichkeitstraining mit Bodybliss®

Beim Bodybliss-Training, welches von der Körpertherapeutin Divo G. Müller (2011) entwickelt wurde und seine Ursprünge im Continuum Movement von Emilie Conrad hat, arbeiten wir mit verschiedenen Bewegungsbildern aus der Natur, welche unmittelbar an unser evolutionäres Erbe und unser tiefes Wissen um die verschiedenen Aspekte unseres Selbstausdrucks anknüpfen. Bodybliss kombiniert dabei dynamisch anfordernde Elemente aus dem Jungle-Gym-Training mit frei fließenden Bewegungsexplorationen. So wecken wir zum Beispiel die Beweglichkeit unserer Wirbelsäule, indem wir dem natürlichen Fluss des Wassers folgen, Wellen, Mäander und Spiralen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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in unsere Bewegungen einladen. Wir tanzen wie ein Rochen mit unserem Beckenknochen oder entdecken die lebendige Dynamik eines urzeitlichen Spazierganges beim »primordial walk«. Unsere Lehrer sind geschmeidige Katzen, urzeitliche Echsen, ausströmende Algen, Kraken und die Kraft der Elemente. Bodybliss steht für Körperglückseligkeit – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Klassische Trainingsansätze, wie Konditions-, Kraft-, und Koordinationstraining, werden bei Bodybliss um ein kreativsinnliches Beweglichkeitstraining ergänzt, welches uns aus einseitigen Bewegungsmustern befreit, unser kreatives Potenzial weckt, viel Spaß macht und eine Menge Energie freisetzt. Wir trainieren mit viel Musik, Rhythmus, Improvisationstalent und Freude am eigenen Körperglück! Nach dem Sinnspruch von Heraklit »Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss, denn ständig fließt neues Wasser nach« fordert uns das Training heraus, den sich ständig verändernden, ureigenen Fluss der Bewegung im Leben wiederzuentdecken. Im Mittelpunkt des Bodybliss-Trainings stehen daher Aspekte wie Beweglichkeit, Flexibilität, Varianz, Vielseitigkeit und Vitalität. Bodybliss stärkt die Individualität und zugleich die Verbundenheit von Körper, Geist und Seele. Bodybliss fördert die Resilienz (Widerstandskraft), erfrischt und belebt. Zwischen dem gezielten Anwärmen und Auflockern einzelner Körperbereiche, einem dynamisch anfordernden Bewegungsteil für Knochen, Muskulatur und Bindegewebe und einem abschließenden Entspannen, bewussten Nachspüren und Beobachten feinster Mikrobewegungen erobern wir uns die fließende Dynamik des Körpers zurück. Geben wir zu Beginn des Trainings noch bewusste Bewegungsimpulse, spüren wir nach und nach, dass nicht mehr wir unseren Körper bewegen, sondern der Körper es ist, der uns bewegt. Wir sind im Flow, im tiefen inneren und selbstverständlichen Erleben unseres Seins. Gedanken, Empfindung und Bewegung werden eins. Das Training wirkt folgendermaßen auf uns: ȤȤ Wir verbessern unser Körpergefühl und unsere Selbstwahrnehmung. ȤȤ Wir erhöhen unsere körperliche und mentale Flexibilität und Beweglichkeit. ȤȤ Wir lösen uns von starren Bewegungsmustern, Verspannungen und Verhärtungen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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ȤȤ Wir erben den Aufbau von Elastizität, Spannkraft und vieles mehr (Müller, 2011). Beim lebendig-kreativen Bodybliss-Training erobern wir uns nach und nach die Weisheit und das Wissen unseres Körpers zurück. Wir lauschen seinen Geschichten, staunen, genießen. Wir werden wieder eins mit unserem Körper, dem Raum der uns umgibt, der Erde die uns trägt und der Luft die uns atmet. Und so ergänzen wir das Bewegungsprogramm zum Beispiel durch entspannende, gewebeöffnende O-Töne, welche uns tief mit Becken, Brustraum und Kopf verbinden, oder streichen stimmungshebende E-Töne in unsere Gewebe ein und erleben, wie sich unser innerer Raum mehr und mehr für ein neues ganzheitliches Erleben öffnet. Die Grundlagen des Bodybliss-Trainings berücksichtigen die Erkenntnisse der modernen Hirn-, Embodiment- und Faszienforschung auf perfekte Art und Weise. Neurobiologische Wirkungsprinzipien und grundlegende Erkenntnisse aus der traumatherapeutischen Arbeit fließen ebenso in das Training ein, wie moderne Ansätze aus der sportwissenschaftlichen Bewegungslehre. Beweglichkeit und Flexibilität werden beim Bodybliss-Training vor allem durch ein gezieltes Bindegewebstraining gefördert. Beim Fascial Fitness (Müller u. Schleip, 2011) werden die verschiedenen Qualitäten des muskulären Bindegewebes, der sogenannten Faszien, trainiert, mit dem Ziel, das Bindegewebe elastisch und kräftig zu machen. Hierdurch werden nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit gesteigert, sondern ebenfalls die Körperkonturen spürbar und sichtbar gestrafft. Die Faszien bilden unser größtes enerviertes Sinnesorgan. In den weichen Geweben befinden sich propriozeptive Rezeptoren und zahlreiche Sinnesrezeptoren. Unser Fasziennetz (Bindegewebe) ist ein Netz aus Taschen, Beuteln, Umhüllungen und Strängen in zahlreichen Ausprägungen und Formen. Es durchzieht den gesamten Körper: oben, unten, innen, außen, vorn, hinten. Die Forschung hat gezeigt, dass in den Faszien die meisten Schmerzrezeptoren sitzen. Faszien von jugendlichen Personen bilden eine bidirektionale, scherengitterartige »Netzstruktur« der Kollagenfasern, ähnlich einer elastischen Damenstrumpfhose. Fehlen dynamische Dehnbelastungen entwickeln sich zunehmend sogenannte »Cross-Links«, das heißt ungeordnete, planlose Quer© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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verbindungen. Das Fasziennetz verliert dadurch seine Elastizität, es bilden sich sogenannte Adhäsionen und Verklebungen und es »verfilzt« zunehmend.

Die vier Trainingsprinzipien des Faszientrainings Folgende vier Trainingsprinzipien des Faszientrainings gibt es: 1. Fascial Release (lösende Techniken): Beim Fascial Release wird das Bindegewebe zum Beispiel über eine feste Schaumstoffrolle lokal stimuliert und ein schmelzender Druck angewendet, wobei die Faszien wie ein Schwamm ausgepresst und eine erneute Gewebehydration angeregt wird. 2. Fasziendehnungen: Schnelle, dynamische Federungen werden mit vorbereitenden Gegenbewegungen kombiniert. Benutzt werden die elastischen Anteile der Muskeln, was die Zunahme an Schnellkraft und Gewebestabilität zur Folge hat. Gleichzeitig wird der Stoffwechselbedarf reduziert. Demgegenüber werden durch langsame Dehnungen von den Fingerspitzen bis an die Zehen und vom Steißbein bis an den Scheitel die langen myofaszialen Ketten angesprochen. Das Fasziennetz wird dabei durch leichte Variationen der Dehnbewegungen und durch kontinuierliche Fließbewegungen stimuliert. Innerhalb der langgedehnten Gelenkpositionen werden zusätzlich durch seitliche, diagonale oder spiralförmige Verdrehungen multidirektionale Winkelvariationen angewendet. 3. Rebound Elasticity: Bevor die eigentliche Bewegung ausgeführt wird, beginnt man die Bewegung mit einer leichten Vordehnung in die Gegenrichtung. Die in der Vordehnung gespeicherte Energie wird in der darauf folgenden passiven Rückfederung dynamisch freigesetzt. Hierdurch wird der Katapulteffekt genutzt und es entsteht eine fließende, leichte und schwungvolle Eigendynamik. 4. Fluid Refinement: Es werden intensiv der Körpersinn und die Fähigkeit zur Körperwahrnehmung bzw. -bewegung trainiert. Die faszialen Mechanorezeptoren werden durch unterschiedliche Zug-, Dehn- und Vibrationsreize vielseitig stimuliert. Wichtig sind ein Wechsel der Geschwindigkeit und Impact, die Bewegungen sind dynamisch sprunghaft schnell bis hin zu langsam, vibrierend und fein fließend (Müller u. Schleip, 2011). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Bodybliss®: Mit allen Sinnen trainieren Wir trainieren beim Bodybliss nicht nur das gesamte Fasziensystem, sondern auch die Haut als größtes äußeres Sinnesorgan (tasten, berühren, fühlen), das Bindegewebe als größtes innenliegendes Sinnesorgan (Position im Raum, Propriozeption), das Innenohr (Vestibularsystem – Gleichgewicht, Energetisierung) und das autonome Nervensystem (Selbst- und Stressreduktion). Das Bodybliss-Training ist mit seinen flexibilitäts- und beweglichkeitsfördernden Eigenschaften eine zeitgemäße Ergänzung zum klassischen Kardio-, Kraft- und Koordinationstraining. Es bereichert die wohltuenden, aber eher statischen, exakten und auf gleichförmige Wiederholung angelegten Trainingsansätze wie Yoga, Pilates etc. um die Aspekte der Kreativität, Vielseitigkeit, Varianz und gibt viel Freiheiten für eigenen Ausdruck und Improvisation. Das Bodybliss-Training lädt uns in seinen vielfältigen Explorationen immer wieder dazu ein, alte Bewegungsmuster, Einstellungen und Haltungen anzusehen, zu erspüren und anzuhören. Im Verlauf des Trainings nutzt der Körper die Gelegenheit, sich auf einfache, spielerische und experimentelle Art und Weise zu verändern. Bodybliss ist Lernwiese, Labor und Entdeckungsreise. Bodybliss ist eine Bewegungsphilosophie, bei der jeder eingeladen ist, sein eigenes Bild vom Körper der Welt zu entwickeln. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Es gibt kein So-und-nicht-anders. Bodybliss gibt dem Selbst eine für viele Menschen noch ungewohnte Freiheit, sich zu wandeln, zu entfalten und zu wachsen.

Die Bodybliss-Trainingsprinzipien im Überblick Das tägliche Achtsamkeits- und Aktivierungsprogramm (Wachrufen, Aufwärmen, Aktivieren) für zwischendurch kann bestehen aus: ȤȤ abklopfen und abtasten von Haut und Muskeln, aktivieren und Körpergrenzen wahrnehmen; ȤȤ Druck und Kontakt der Knochen mit dem Untergrund, an der Wand, auf dem Boden, aktivieren der knöchernen Strukturen; ȤȤ Fascial Release, schmelzender, lösender Druck auf das Bindegewebe, durch Bälle oder Schaumstoffrolle. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Kleine anfordernde Übungen bieten sich für das tägliche Training (Aktivieren, Anfordern, Explorieren) für zwischendurch an: ȤȤ fließende Bewegungen suchen, Wellen, Mäander, Spiralen und Wirbel; ȤȤ langsame Bewegungen suchen, konzentriert und achtsam den Impulsen des Körpers folgen; ȤȤ Varianz und Vielfalt suchen, flexible, abwechslungsreiche, ungewohnte Bewegungen und Positionen aufsuchen; ȤȤ Vordehnung, Schwung und Leichtigkeit; ȤȤ Dehnungen langer faszialer Strukturen und Bewegung von Muskelketten. Abschließende Entspannungsübungen (Ausklingen, Nachspüren, Entspannen) oder einfach für zwischendurch sind: ȤȤ ausschütteln, abschütteln, freilassen überschüssiger Energie und Anspannungen; ȤȤ nachspüren von Mikrobewegungen, auf den Körper, die Veränderungen achten; Umstrukturierungen und die Neuorganisation der Gewebe beobachten; ȤȤ stille Aufmerksamkeit, in sich ruhen, beobachten, stilles Mitschwingen und Genießen.

Praxisteil: Die Kraft des Bambus aktivieren Getreu dem Bild »Sei wie ein Fels in der Brandung« reagieren viele Menschen auf chronischen Stress, auf verbale und persönliche Angriffe mit einer großen inneren Anspannung und einer Versteifung der Muskulatur und damit einer Einschränkung des Bewegungsapparates. Sie nehmen die Sache sehr ernst, machen sich innerlich hart, fest, verbarrikadieren sich und wappnen sich vor weiteren Angriffen. Die nachfolgende Übung eignet sich hervorragend für den Einsatz im Einzelcoaching. Der Klient erfährt durch die einfache Übung einen meist beeindruckenden Perspektivwechsel, und wie wichtig seine körperliche Flexibilität für die Entwicklung von Widerstandskraft ist. Die Übung regt die Selbstregulation des Klienten an und erleichtert die Entwicklung neuer Sichtweisen und Lösungsstrategien im Umgang mit belastenden Situationen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Einstimmung: Die Beweglichkeit des Bambus entdecken

Begonnen wird zum Beispiel mit einer Fascial-Release-Übung für die Fußsohlen (z. B. mit Tennisball). Der Klient nimmt anschließend mit den Füßen Kontakt (Ferse, Ballen, Zehen, Innen-, Außenseiten) zum Boden auf. Wie hat sich der Stand verändert? Wie hat sich der Kontakt der Sohlen zum Grund geändert? Wurzeln in den Boden wachsen lassen. Anschließend geht es um die Erkundung der drei Fließbewegungen des Wassers (Wellen, Mäander, Spirale), jeweils ausgehend von den Füßen her, über die Fußgelenke, Knie, Hüfte, Becken, Oberkörper; Brust, Schultern, Kopf. Nun wird das Bild vom Bambus im Wind eingeführt. Die Beweglichkeit und Flexibilität im ganzen Körper wird gesucht, die Bewegungen sollen immer stärker aus dem inneren Spiel des Körpers entstehen. Es kann mit verschiedenen Intensitäten der Windstärke gespielt werden, von einem leichten Hauch hin zu stürmischem Wetter. Dann ist es Zeit für freie Exploration und Improvisation. Der Klient wird eingeladen, ungewohnte, neue und freie Bewegungen zuzulassen: dabei immer wieder die Spannung des Fasziensystems von den Fußsohlen bis zu den Fingerspitzen aufbauen, die Bewegungen über die Körpergrenzen hinaus in den Raum fließen lassen und den guten Kontakt mit Wand, Boden, Decke suchen. Der Klient bekommt zum Abschluss einige Minuten Zeit zum Nachspüren, im Stehen, Sitzen oder Liegen: Wie fließen die inneren Impulse und Strömungen weiter? Welche Mikrobewegungen stellen sich ein? Die folgende Coachingübung soll helfen, die Kraft des Bambus zu wecken: ȤȤ Ziel: mehr Widerstandskraft durch höhere Flexibilität und Beweglichkeit; ȤȤ Herkunft: Improvisations- und Schauspieltraining, Körperarbeit mit Bodybliss-Elementen, Weiterentwicklung für das Resilienztraining durch Ella Gabriele Amann (2012); ȤȤ Zeit: circa zwanzig Minuten zuzüglich Reflexion. Schritt 1: Stark wie ein Fels in der Brandung?

Coach und Klient stellen sich voreinander hin. Der Klient soll sich, nach dem Motto »Sei stark wie ein Fels in der Brandung«, so stabil © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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wie möglich hinstellen, wobei er sich fest und hart macht. Nachdem der Klient seine Position eingenommen hat, fragt der Coach, ob er den Klienten am Arm oder der Hand berühren und zu sich herüberziehen darf. Der Coach nimmt dann die Hand und zieht den Klienten sanft und ganz leicht zu sich herüber. Das Ziehen sollte nicht als überraschend, plötzlich oder ruckartig für den Klienten empfunden werden. Die Klienten erleben mit großer Überraschung, wie einfach es für den Coach ist, sie aus ihrer Position zu sich zu ziehen. Diese erste Erfahrung eröffnet bereits ein breites Feld für eine erste Selbstreflexion. ȤȤ Was bedeutet Anspannung für mich? ȤȤ Wie leicht mache ich es anderen Menschen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen? ȤȤ Wie verletzlich macht mich meine Haltung gegenüber der Problemsituation? ȤȤ Woher kommt die Strategie der Verhärtung und welchen Sinn macht sie? Schritt 2: Nachgiebig wie ein Bambus im Wind

Der Klient bekommt nun die Aufgabe, sich auf seine Füße zu konzentrieren und sich vorzustellen, dass ihm lange dichte Wurzeln in den Grund wachsen. Er wird eingeladen, seine Gelenke von den Füßen bis zu den Schultern zu lockern, etwas in die Knie zu gehen und den Oberkörper entspannt, weich und flexibel zu halten. Der Coach fragt wieder um Erlaubnis, die Hand oder den Arm des Klienten nehmen zu dürfen, um ihn zu sich zu ziehen. Wichtig ist nun, dass der Coach die Spannung gegenüber dem Klienten sehr langsam aufbaut, so dass sich dieser Zug um Zug durch das Hineinfinden in eine flexible und nachgiebige Körperhaltung stabilisiert und förmlich mit Kraft aufladen kann. Dem Coach gelingt es nun nicht mehr so leicht, den Klienten auf seine Seite zu ziehen. Er fordert den Klienten immer wieder auf, in eine Suchbewegung zu gehen, zu improvisieren, um nach der für ihn kraftvollsten und zugleich flexibelsten wie auch stabilsten Position zu forschen. Der Klient muss meist noch tiefer in die Knie gehen und mit der Verlagerung des Gewichts experimentieren. Zu erfahren, dass man stärker wird, wenn man den Körperschwerpunkt nach © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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unten verlagert, ist für die meisten Klienten neu. Sie erfahren meist eine völlig andere Strategie im Umgang mit Druck und Belastungen. Coach und Klient laden sich auf diese Art und Weise nach und nach mit Kraft auf. Auch der Coach ist nun gefordert, selbst immer flexibler und durchlässiger in seinen Bewegungen zu werden, und sollte den Prozess so lange wie möglich begleiten können, bis der Klient sein volles Kraftpotenzial erreicht hat. Das spürt der Coach daran, dass er seine eigene Zugkraft nicht mehr erhöhen kann und sich beide in einem ausgewogenen und kraftvollen Balanceakt befinden. Während der Übung beginnt erfahrungsgemäß eine intensive Veränderungsarbeit beim Klienten. Er intensiviert den Augenkontakt zum Coach, kommt in eine spielerische Grundhaltung, beginnt zu lachen und an dem Entdecken seiner Kraft eine große Freude zu entwickeln. Durch die Übung erleben sich Klienten oft zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder in ihrer eigenen Kraft. Schritt 3: Transfer

Klienten machen mit dieser einfachen Übung oft zum ersten Mal die Erfahrung, dass die Strategie der Verhärtung und Versteifung des Körpers eben nicht dazu führt, dass er automatisch mehr Widerstandskraft aufbaut. Sie erkennen schnell, wie anfällig und instabil diese Versteifung macht. Der Klient lernt auf die natürliche Stabilität seines beweglichen und flexiblen Körpers zu vertrauen, indem er Gelenke und Muskeln frei gibt und so der Zugkraft von außen widerstehen kann. ȤȤ Wie kann ich diese Erfahrung auf den Umgang mit meinem derzeitigen Problem übertragen? ȤȤ Wo werde ich innerlich und körperlich steif? Welche Gedanken entwickle ich, wie und wo reagiert mein Körper? ȤȤ Wodurch kann es mir gelingen in Zukunft beweglicher und flexibler auf die belastende Situation zu reagieren? (mindestens drei neue Denk- bzw. Verhaltensstrategien entwickeln lassen)

Fazit: Resilienz – Körper und Geist in Bewegung bringen Bodybliss steigert die Wahrnehmung und Sensibilität des Klienten für seinen Körper und hilft Verspannungen und Versteifungen zu lösen, um damit flexibler und durchlässiger für neue Problemlö© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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sungsideen zu werden. Der Klient kommt in Bewegung – mental und körperlich. Sein Wahrnehmungsfeld, sein Bewegungsradius und sein Bewertungshorizont für die aktuellen, belastenden Ereignisse werden erweitert. Der Klient kann sein natürliches Improvisationstalent im Umgang mit unvorhergesehenen Situationen abrufen und spontaner auf Stressbelastungen reagieren. Die Klienten erfahren bei den vorgestellten Übungen die Leitsätze des Bambus-Prinzips und der Resilienz – im wahrsten Sinne des Wortes – hautnah: Sie entwickeln eine offenere, positive Grundhaltung und erfahren sich flexibel, zugleich stark und kraftvoll. Sie erleben einen überraschenden Perspektivenwechsel, der sie dazu einlädt, auf körperlicher Ebene ein neues Verhalten auszuprobieren und hieraus neue Denkansätze und neues Verhalten abzuleiten. Dabei üben sie sich in der Selbstregulation ihrer eigenen Bedürfnisse. Sie erfahren, wie leicht es ist, Selbstverantwortung für die Gestaltung einer Beziehung zu übernehmen. Sie hinterfragen alte Bewertungsund Verhaltensmuster und erleben, wie wichtig es ist, mit Körper und Geist achtsam umzugehen und im Moment zu sein.

Literatur Amann, E. G. (2012). Fels oder Bambus? Kommunikation & Seminar, 3, 36–38. Müller, D. G. (2011). Bodybliss – Das Glück im Körper finden. München: Kösel. Müller, D. G., Schleip, R. (2011). Fascial Fitness: Fascia oriented training for bodywork and movement therapies. IASI Yearbook (pp. 68–77). Raleigh, NC: IASI. Weick, K. E., Sutcliffe, K. M. (2007). Managing the unexpected: Resilient performance in an age of uncertainty. San Francisco: Jossey-Bass. Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2008). Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Werner, E. E. (2008). Wenn Menschen trotz widriger Umstände gedeihen – und was man daraus lernen kann (S. 28–42). In R. Welter-Enderlin, B. Hildenbrand (Hrsg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Werner, E. E., Bierman, J. M., French, F. E. (1971). The children of Kauai: A longitudinal study from the prenatal period to age ten. Honolulu: University of Hawaii Press. Werner, E. E., Smith, R. S. (1982). Vulnerable but invincible: A study of resilient children and youth. New York: McGraw-Hill.

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Die Autorinnen und Autoren

Bernd Ahrendt, Dr. rer. pol., Systemischer Coach (SG) und Lehrbeauftragter an diversen Hochschulen, ist Leiter des Weiterbildungszentrums an der Hochschule für Technik, Wissenschaft und Kultur Leipzig. Alfons Aichinger, Diplom-Theologe, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor (DGSv), war 37 Jahre Leiter der Psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Caritas Ulm sowie Weiterbildungsleiter am Moreno Institut Stuttgart und am Szeneninstitut Köln. Ella Gabriele Amann, Lehrtrainerin für Angewandte Improvisation, Bodybliss -Trainerin und Entwicklerin des Resilienz-Zirkel-Trainings nach dem Bambus-Prinzip , ist Inhaberin und Leiterin der impro live! Akademie für Angewandte Improvisation und des ResilienzForums Berlin.

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Stefan Beier, Diplom-Soziologe, Bankkaufmann, Körper- und Bewegungstherapeut, Gendertrainer, ist Vorstand der Agentur für Männer eG und Mitbegründer von genderWerk, Berlin. In eigener Praxis ist er in der Einzel- und Paarberatung sowie als Seminarleiter tätig. Irmgard Bohmann, Dr. med., Ärztin, Systemische Familientherapeutin (DGSF), Systemischer Coach (DGSF) und Coach-Ausbilderin, ist Leiterin des Instituts für persönliche Entwicklung und Gesundheit (IPEG) in Trostberg. Josef Bohmann, Dr. rer. nat., ist als Coach und systemischer Organisationsentwickler im Institut für persönliche Entwicklung und Gesundheit (IPEG) in Trostberg tätig. Seine langjährige Führungserfahrung in der Industrie bringt er insbesondere in die Themen Betriebliches Gesundheitsmanagement sowie Führung und Gesundheit ein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

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Die Autorinnen und Autoren

Elisabeth Breit-Schröder, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, hat eine Praxis für Einzel-, Paar- und Familientherapie und ist Lehrende für Systemische Supervision, Therapie und Beratung (DGSF), Lehrtherapeutin für körperorientierte Psychotherapie (MAK) sowie Vorsitzende des Münchener Instituts für Systemisch-integrative Therapie, MISIT e. V. Maja Dshemuchadse, Dr., Diplom-Psychologin, Systemische Beraterin und Therapeutin (DGSF), ist in eigener Praxis in Dresden sowie an der Professur für Allgemeine Psychologie der TU Dresden tätig. Mohammed El Hachimi, Psychotherapeut (IFW/SG/ECP), Familientherapeut, Lehrender Supervisor und Lehrtherapeut (IF Weinheim und SG), ist Inhaber eines Beratungsbüros in Bergisch-Gladbach. Tobias Günther, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, klinischer Sexologe, ist Vorstandsmitglied der wispo AG (Wissenschaftliches Institut für systemische Personal- und Organisationsentwicklung) und Geschäftsführer der ZESIM GmbH sowie des Coachingzentrums Frankfurt. Roland Kachler, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Transaktionsanalytiker (DGTA), Systemischer Paartherapeut, Supervisor, ist in der Landesstelle für Psychologische Beratungsstellen Stuttgart sowie in eigener Praxis in Esslingen und RemseckAldingen tätig. Alexander Korittko, Diplom-Sozialarbeiter, Systemischer Lehrtherapeut und Lehrsupervisor, war bis 2013 in einer kommunalen Jugend-, Familien- und Erziehungsberatungsstelle in Hannover tätig. Er ist Mitbegründer des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (ZPTN). Berit Lütteke, Diplom-Psychologin, Systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF), ist in einer Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche tätig sowie in eigener Praxis als Therapeutin, Coach, Trainerin und Seminarleiterin für Paare und Führungskräfte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911

Die Autorinnen und Autoren245

Joseph Richter-Mackenstein, Dr., Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut (SG) und staatl. gepr. Motopäde/Mototherapeut, ist Professor für psychosoziale Diagnostik und Beratung an der Fachhochschule Kiel. Jürgen Roming, Diplom-Pädagoge, Psychodramatherapeut, Personal- und Organisationsberater, Supervisor, ist Leiter des Instituts für Systemisch-Integrative Therapie und Beratung (isit). Stefan Scherbaum, Dr., MSc. Cognitive Science, Systemischer Berater (GST), ist an der Professur für Allgemeine Psychologie der TU Dresden sowie in eigener Praxis in Dresden tätig. Liane Stephan, Systemische Beraterin, Coach, Supervisorin und Trainerin, ist Geschäftsführerin von »Systeamotion« in BergischGladbach. Sabine Strübing, Systemische Therapeutin und Familientherapeutin (DGSF), Psychodramatherapeutin, Systemische Supervisorin/Coach, Sozialtherapeutin ist Leiterin des Instituts für Systemisch-Integrative Therapie und Beratung (isit). András Wienands, Diplom-Psychologe, Systemischer Berater, Therapeut und Supervisor (DGSF), Lehrender/Lehrtherapeut (DGSF) ist Geschäftsführer der GST GmbH, Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung. 

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401910 — ISBN E-Book: 9783647401911