Subjektivität als Problem psychologischer Methodik 359333495X

Die Themenstellung dieses Kongresses war geleitet von der Absicht, aus der Kritik an der experimentell-statistischen »Va

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Subjektivität als Problem psychologischer Methodik
 359333495X

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber . . 9
Für Helga Koppel 12
Teil 1: Grundsatzreferate
I. Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität: ünaufhebbarer Widerspruch?
Klaus Holzkamp . 17
II. Phänomenologische Analytik und experimentelle
Methodik in der Psychologie - das Problem der
Vermittlung
Carl Friedrich Graumann . 38
III. Die Frage nach der Konstitution des Subjekts
Wolfgang Fritz Haug 60
Teil 2: Arbeitsgruppen
I. Methodische Aspekte und neuere Entwicklungstendenzen in der Diskussion um das psychophysische Problem (Koordination: Volker Schurig) . . 85
1. Dimensionen des psycho-physischen Problems
(Peter Keiler) 86
2. Das psycho-physische Problem aus aktivierungstheoretischer Sicht (Rainer Bösel) 95
3. Die f?3-Welten-Theorietf von Eccles/Popper
- ein metaphysischer Reflex der Neurophysiologie? (Volker Schurig) 104
5II. Einzelfall und statistische Verallgemeinerung
- Ursprung, Problematik und überwindbarkeit
des Häufigkeitsdenkens in der Psychologie
(Koordination: Erhard Mader) 114
1. Zur Gegenstandsangemessenheit statistischer
Methoden (Lothar Sprung, Erhard Mader) 115
2. Zur Problematik der Bewertung statistischer
Hypothesen (Jürgen Rehm, Eckart Leiser,
Ernst Plaum) 127
III. Zur Funktion phänomenologischer Analyse in der
Psychologie, speziell: Kritische Psychologie
(Koordination: Klaus Holzkamp) . . . 142
1. Statements von Rainer Seidel, Norbert Groeben,
Carl Friedrich Graumann, Klaus Holzkamp 144
2. Diskussion 153
IV. Methodische Zugänge zum Unbewußten
(Koordination: Christof Ohm) 168
1. Beiträge von Christian Niemeyer; Bernhard
Görlich; Ute H.-Osterkamp; Jürgen Meßing;
Erich Wulff; Wolfgang Fritz Haug 168
2. Diskussion 183
V. Individuelle Entwicklung als Entstehung von Neuem
- theoretische und methodische Voraussetzungen
der empirischen Untersuchung von Entwicklungsprozessen (Koordination: Barbara Grüter, Jens
Brockmeier)
Teilnehmer: Hendrik Bullens, Yrjö Engeström,
Marianne Hedegaard', Christiane
Schmid-Schönbein, Thomas Thiel,
Karl Wahlen 201
VI. Zum Verhältnis psychologischer Therapie und
Diagnostik: Objektive Lebensbedingungen,
Eigenschaftsproblematik und Persönlichkeitsentwicklung (Koordination: Ole Dreier)
Teilnehmer: Anne Albers, Ole Dreier, Wolfgang
Jantzen, Susanne Leutner, Holger
Probst, Arne Raeithel 232
6VII. Anforderungsbezogene Entwicklung von Handlungsfähigkeit. Bericht über das Forschungsund Anwendungsfeld "Sozialpsychologisches
Verhaltenstraining" an der Sektion Psychologie
der Karl-Marx-Universität Leipzig
Traudl Alberg 247
VIII. "Marburger Grundschulprojekt". Subjektwissenschaftliche Methodenprobleme in der Curriculumforschung (Koordination: Karl-Heinz Braun)
Teilnehmer: Christof Berg, Wolfgang Klafki,
Peter Gstettner 275
IX. Methoden der Medienanalyse am Beispiel von
Selbstzeugnissen über den Faschismus in den
Massenmedien der Nachkriegszeit
(Koordination: Helmut Peitsch)
Teilnehmer: Ute H .-Osterkamp, Reinhard Kühnl . . . 294
X. Zur Erkenntnisfunktion wissenschaftstheoretischer Analyse für die Gegenstandsbestimmung
in der Psychologie (Koordination: Wolfgang
Maiers) 315
1. Beiträge von Irmingard Staeuble, Wolfgang
Maiers, Peter Keiler, Wolfgang Jantzen 315
2. Diskussion 342
3. Kommentar 351
Verzeichnis der Referenten 364

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Die Themenstellung dieses Karl-Heinz Braun, Kongresses war geleitet von der Absicht, aus der Kritik Klaus Holzkamp (Hg) an der experimentell-stati-

stischen »Variablenpsychologie« bzw. empirischen Sozialforschung Alternativen einer psychologischen Forschung!Praxis zu diskutieren, die den Menschen nicht zum Objekt wissenschaftlichen Zugriffs macht sondern in seiner Subjektivi tät voll berücksichtigt: Die Beiträge aus den verschiedenen Arbeitsgruppen, u.a. zumpsychophysischen Problem, zum Verhältnis von Einzelfall und statistischer Verallgemeinerung, zur Funktion der phänomenologischen Analyse in der Psychologie, zurWissenschaftsfiMgkät der Alltagserfahrung, zum Verhältnis von psychologischer Therapie und Diagnostik werden von den Berichterstattern jeweils in einen größeren Zusammenhang gestellt. Der Band bietet einen leben digen Einblick in die für die Psychologie und Sozialwissenschaften so wichtige Problematik, wie eine menschliche Wissenschaft vom Menschen möglich ist.

als Problem 3. Internationaler

Kritische Psychologie, Marburg 1984

Campus

Subjektivität als Problem psychologischer Methodik

Karl-Heinz Braun, Klaus Holzkamp (Hg.)

Subjektivität als Problem psychologischer Methodik 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie, Marburg 1984

Campus Verlag Frankfurt/New York

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Subjektivität als Problem psychologischer Methodik / 3. Internat. Kongress Krit. Psychologie, Marburg 1984 / Karl-Heinz Braun ; Klaus Holzkamp (Hg.). - Frankfurt (Main); New York : Campus Verlag, 1985. ISBN 3-593-33495-X NE: Braun, Karl-Heinz [Hrsg.]; Internationaler Kongress Kritische Psychologie

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikröfilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Copyright © 1985 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Büdingen Satz: Heinz Breynk, Kirchweiler Druck und Bindung: Beltz Offsetdruck, Hemsbach Printed in Germany

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . Für Helga Koppel

9 12

Teil 1: Grundsatzreferate I.

II.

III.

Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität: ünaufhebbarer Widerspruch? Klaus Holzkamp .

17

Phänomenologische Analytik und experimentelle Methodik in der Psychologie - das Problem der Vermittlung Carl Friedrich Graumann .

38

Die Frage nach der Konstitution des Subjekts Wolfgang Fritz Haug

60

Teil 2: Arbeitsgruppen I.

Methodische Aspekte und neuere Entwicklungstendenzen in der Diskussion um das psychophysische Problem (Koordination: Volker Schurig) . . 1. Dimensionen des psycho-physischen Problems (Peter Keiler) 2. Das psycho-physische Problem aus aktivierungstheoretischer Sicht (Rainer Bösel) 3. Die f? 3-Welten-Theorie tf von Eccles/Popper - ein metaphysischer Reflex der Neurophysiologie? (Volker Schurig)

85 86 95 104

5

II.

III.

IV.

V.

VI.

6

Einzelfall und statistische Verallgemeinerung - Ursprung, Problematik und überwindbarkeit des Häufigkeitsdenkens in der Psychologie (Koordination: Erhard Mader)

114

1. Zur Gegenstandsangemessenheit statistischer Methoden (Lothar Sprung, Erhard Mader) 2. Zur Problematik der Bewertung statistischer Hypothesen (Jürgen Rehm, Eckart Leiser, Ernst Plaum)

127

Zur Funktion phänomenologischer Analyse in der Psychologie, speziell: Kritische Psychologie (Koordination: Klaus Holzkamp) . . .

142

1. Statements von Rainer Seidel, Norbert Groeben, Carl Friedrich Graumann, Klaus Holzkamp 2. Diskussion

144 153

Methodische Zugänge zum Unbewußten (Koordination: Christof Ohm)

168

1. Beiträge von Christian Niemeyer; Bernhard Görlich; Ute H.-Osterkamp; Jürgen Meßing; Erich Wulff; Wolfgang Fritz Haug 2. Diskussion

168 183

Individuelle Entwicklung als Entstehung von Neuem - theoretische und methodische Voraussetzungen der empirischen Untersuchung von Entwicklungsprozessen (Koordination: Barbara Grüter, Jens Brockmeier) Teilnehmer: Hendrik Bullens, Yrjö Engeström, Marianne Hedegaard', Christiane Schmid-Schönbein, Thomas Thiel, Karl Wahlen

201

Zum Verhältnis psychologischer Therapie und Diagnostik: Objektive Lebensbedingungen, Eigenschaftsproblematik und Persönlichkeitsentwicklung (Koordination: Ole Dreier) Teilnehmer: Anne Albers, Ole Dreier, Wolfgang Jantzen, Susanne Leutner, Holger Probst, Arne Raeithel

232

115

VII.

Anforderungsbezogene Entwicklung von Handlungsfähigkeit. Bericht über das Forschungsund Anwendungsfeld "Sozialpsychologisches Verhaltenstraining" an der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Universität Leipzig Traudl Alberg

VIII. "Marburger Grundschulprojekt". Subjektwissenschaftliche Methodenprobleme in der Curriculumforschung (Koordination: Karl-Heinz Braun) Teilnehmer: Christof Berg, Wolfgang Klafki, Peter Gstettner IX.

X.

247

275

Methoden der Medienanalyse am Beispiel von Selbstzeugnissen über den Faschismus in den Massenmedien der Nachkriegszeit (Koordination: Helmut Peitsch) Teilnehmer: Ute H .-Osterkamp, Reinhard Kühnl . . .

294

Zur Erkenntnisfunktion wissenschaftstheoretischer Analyse für die Gegenstandsbestimmung in der Psychologie (Koordination: Wolfgang Maiers)

315

1. Beiträge von Irmingard Staeuble, Wolfgang Maiers, Peter Keiler, Wolfgang Jantzen 2. Diskussion 3. Kommentar

315 342 351

Verzeichnis der Referenten

364

7

Vorwort der Herausgeber

Es war sicherlich ein seltenes Ereignis, wie auf dem 3. Marburger Kongreß auch schwierigste methodologische Probleme auf höchstem Niveau unter nicht nachlassender Massenbeteiligung (mit rund 1700 Besuchern) diskutiert wurden. Die Spannweite der behandelten Themen ging dabei von prinzipiellen philosophischen Methodenklärungen bis hin zur Erörterung mathematischer Detailprobleme - und dies immer unter dem übergreifenden Gesichtspunkt, die verknöcherten, gegenstandsfernen und herrschaftskonformen Strukturen des gängigen experimentell-statistischen Methodenkanons in Richtung auf methodische Ansätze, die der Spezifik menschlicher Subjektivität in ihrer Vermitteltheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen adäquat sind, überwinden zu helfen und so den zu bloßem Regelwerk erstarrten traditionell-psychologischen Wissenschaftsanspruch in Richtung auf wirkliche Wissenschaftlichkeit zu überschreiten. Vielfältig wie die angesprochenen Themen waren dabei auch die Formen der Vermittlung und Diskussion, nicht selten unter aktiver Mitwirkung des Auditoriums mit substantiellen Beiträgen, und (anders als gelegentlich auf unseren früheren Kongressen) in einer durchgängigen Atmosphäre von Solidarität bei der Suche nach menschengerechten und menschenwürdigen Verfahren psychologischen Erkenntnisgewinns. In diesem Rahmen gab es auch manch spontane Aktivitäten und überraschende Konstellationen: Themen wurden neugefaßt, vorbereitete Manuskripte beiseitegelegt, ungeschützt wurde Position gegen Position gestellt. Wir als Herausgeber sahen uns nun vor der Aufgabe, den Verlauf und die Eigenart des Kongresses in der diesbezüglichen Publikation möglichst angemessen zur Geltung zu bringen. Dabei mußten wir uns in Auswertung früherer Erfahrungen, aus Gründen der Handhabbarkeit und Erschwinglichkeit für die Interessenten und auch aus verlegerischen Rücksichten (im Einvernehmen mit dem Campus Verlag) dazu entschließen, von unserer früheren Praxis 9

einer möglichst vollständigen Dokumentation aller Kongreßbeiträge und -diskussionen abzugehen: Als zweckmäßig und machbar erwies sich ein einziger Kongreßband mit dem Umfang, wie er jetzt hier vorliegt. Um die dadurch notwendigen Kürzungen auf sinnvolle Weise zu erreichen, bringen wir zwar die Grundsatzreferate im Wortlaut der Manuskripte, schalten aber bei den Arbeitsgruppen (AG) deren jeweilige Koordinatoren quasi als Berichterstatter dazwischen. Die Koordinatoren sollten die Beiträge und Diskussionen ihrer AGs nicht nur neutral zusammenfassen, sondern auf die in ihrer Sicht wesentlichen Gesichtspunkte und Resultate hin zuspitzen. Dabei wurde auch die Art der Darstellung der Äußerungen der übrigen AG-Teilnehmer (einschließlich derer des Publikums) in die Verantwortung der Koordinatoren gestellt, die hier somit in gewissem Sinne die Funktion von Rezensenten hatten. Demgemäß wurden, wie bei Rezensionen üblich, die vom Koordinator erstellten Versionen nicht mit den Urhebern rückgekoppelt. Die in den Berichten verarbeiteten Sekundärbeiträge sind also (abgesehen von eigens gekennzeichneten Ausnahmen) nicht als Äußerungen der Ursprungsautoren, sondern nur als Äußerungen des Berichterstatters über diese zitierfähig. Wir geben zu, daß dies für einen Kongreßbericht ein etwas ungebräuchliches Herausgabeverfahren ist. Dabei können wir auch das Risiko kleinerer Verärgerungen mancher Referenten oder Diskutanten, die sich in den auf sie bezogenen Darstellungen der Berichterstatter nicht hinreichend wiederfinden, nicht ganz ausschließen. Wir glaubten jedoch, diese und manch andere Nachteile in Kauf nehmen zu können, da wir u . E . auf diesem Wege im Resultat einen Kongreßband erstellen konnten, der die Perspektiven, Widersprüche und offenen Fragen des Kongresses klarer und verdichteter zum Ausdruck bringt - und .damit den Gesamtcharakter des Kongreßverlaufs besser trifft, als dies bei bloßem (zudem ja ebenfalls kaum tendenzfrei möglichen) Streichungen in den Texten erreichbar gewesen wäre. Indessen: Die mit dem Berichterstatter-Prinzip (über dessen Berechtigung letztlich die Leser entscheiden müssen) erreichten Einsparungen waren für den uns vorgegebenen Umfang immer noch nicht weitgehend genug.* So ließen wir (von einigen Ausnahmen aufgrund von Gattungsüberschneidungen o . ä . abgesehen) alle Berichte über subjektwissenschaftliche Forschungsprojekte (in Abt. C) hier weg - in der Annahme, daß die meisten Projekte ohnehin ihre eigenen Publikationsmöglichkeiten haben werden. (In der Tat ist z . B . die Darstellung des Projekts "Subjektentwicklung in 10

der frühen Kindheit" inzwischen schon im FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE [FKP] 14 erschienen.) Weiterhin wurde der Bericht von Wolfgang Maiers über die AG "Methodologische Konsequenzen aus Leontjews Tätigkeitskonzept" wegen unreduzierbarer Überlänge nicht in diesen Kongreßband aufgenommen und separat in FKP 15 publiziert. Weitere Ausnahmen und Unregelmäßigkeiten sind, wo nötig, jeweils an Ort und Stelle vermerkt und begründet. Da in diesem Kongreßband auch die Dokumentation der Beiträge und Erklärungen der Eröffnungsveranstaltung dem Platzmangel zum Opfer gebracht werden mußte, sei hier wenigstens pauschal darauf hingewiesen. Zur Eröffnung des Kongresses sprachen: Prof. Dr. Hans-Christof Berg (Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der PhilippsUniversität Marburg), Käte Dinnebier (Kreisvorsitzende des DGB Marburg-Biedenkopf), Kurt Bunke (Mitglied des Landesvorstandes der GEW Hessen und Vorsitzender des Personalrats der Philipps-Universität), Petra Rau (Sprecherin der Fachschaftskonferenz der Philipps-Universität) und Prof. Dr. Holger Probst (für den Bundesvorstand des Bundes demokratischer Wissenschaftler). Thematik und Zielsetzung des Kongresses wurden unterstützt in Schreiben von Dr. Flascha (persönlicher Referent des Präsidenten der Philipps-U niversität), vom Vorstand der Vereinigten Deutschen Studentenschaften, vom Institut für marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt/M. und vom Präsidium der Deutschen Kommunistischen Partei. Auch in diesem Falle wäre eine Durchführung des Kongresses ohne vielfältige Unterstützung von Mitgliedern der Marburger Universität nicht möglich gewesen. Wir bedanken uns besonders bei Prof. Berg und Prof. Probst sowie den Mitgliedern des Fachbereichs Erziehungswissenschaften, die die formelle Veranstalterschaft übernahmen bzw. unterstützten; bei Herrn Gasche von der Universitätsverwaltung und Herrn Eisner vom Zentrum für Hochschulsport; nicht zuletzt danken wir den Hausmeistern, den Herren Albrecht, Heuser und Laucht, die unserem Kongreß ihr ganzes Wochenende opferten. Schließlich bedanken wir uns bei denjenigen, die die unmittelbare Organisationsarbeit während des Kongresses geleistet haben: bei Konstanze Wetzel und Dieter Falck vom (erweiterten) Kongreßbüro, sowie Maren Nöhring, HansJürgen Witt und Roland Zwetz. Marburg/Berlin (West), Dezember 1984 Karl-Heinz Braun, Klaus Holzkamp 11

Für Helga Koppel

Acht Jahre lang - von 1974 bis 1982 - hat Helga Koppel als Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin die Entwicklung des Bundes demokratischer Wissenschaftler maßgeblich mitgeprägt. Am 7. Oktober 1982 starb sie im Alter von nur 58 Jahren. Schon früh war sie betroffen worden von den destruktiven Kräften, die die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts so stark bestimmten. Und zugleich war ihr Leben erfüllt vom Kampf gegen diese Kräfte, vom Kampf für eine bessere und schönere Welt. Als Tochter eines jüdischen Vaters war es ihr in der Zeit des Faschismus nicht erlaubt zu studieren. In halber Illegalität gelang es ihr immerhin, dieses mörderische Regime zu überstehen. Nach 1945 widmete sie ihre ganze Kraft der Überwindung des Faschismus - insbesondere durch den Aufbau einer bedeutenden Filmproduktion (zusammen mit Walter Koppel) und dann als Publizistin. Zusammen mit dem Schriftsteller Robert Neumann publizierte sie die Dokumentation "Hitler. Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches", die zu den wenigen wirklich kritischen Veröffentlichungen gehört, die in der Zeit der Restauration und des Kalten Krieges in unserem Land über den Faschismus erschienen sind. Wesentliche neue Erfahrungen vermittelte ihr ein acht Jahre dauernder Aufenthalt in Rom (1962 bis 1970). Als Korrespondentin verschiedener deutschsprachiger Zeitungen ( u . a . des sozialdemokratischen "Vorwärts") berichtete sie über die politische Kultur dieses Landes, die ihrem eigenen Wesen so verwandt war: in der Heiterkeit und der Lebensfreude und zugleich in dem Ernst und der Entschiedenheit des Kampfes um Demokratie und Menschenwürde. Hier in Italien fand sie auch Kontakt zur Arbeiterbewegung - eine Erfahrung, die sie in einem Buch über die italienischen Gewerkschaften verarbeitet hat. Erst 1970, im Alter von 46 Jahren, begann sie zu studieren - hier in Marburg. Ich erinnere mich sehr lebhaft, als 12

eines Tages inmitten von Abiturienten diese freundliche Frau zu mir (ich war damals Assistent) in die Studienberatung kam und sich nach den Modalitäten des Studienbeginns erkundigte. Ich vermute, daß ich meine Überraschung nicht ganz verbergen konnte. Sie studierte äußerst konzentriert, nahm begierig und dankbar auf, was die "Marburger Schule" ihr an wissenschaftlichem Weltverständnis geben konnte und ließ uns zugleich teilhaben an dem Reichtum ihrer eigenen Erfahrungen. Ihre Dissertation über Widerstand und Nachkriegsentwicklung der italienischen Kommunisten, die Wolfgang Abendroth noch betreuen konnte, brachte beide Momente zur Synthese. Nun drängte sie wieder nach praktischer Betätigung, nach Anwendung dessen, was sie gelernt hatte. Sie nahm Lehraufträge an der Universität Marburg und der Gesamthochschule Kassel wahr, und 1974 wurde sie dann Geschäftsführerin des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BdWi), der 1972 neu gegründet worden war. In diesen Jahren erlebte sie - zusammen mit uns - die zweite Restaurationsperiode in der Geschichte der Bundesrepublik, das Scheitern der Reformhoffnungen in der Bildungspolitik wie generell in der Gesellschaft, die neuen Berufsverbote, die beginnende Massenarbeitslosigkeit auch bei den Hochschulabsolventen. Der BdWi, eine schwache, aber eben die einzige demokratische Wissenschaftlerorganisation, versuchte, diese neuen Bedingungen aufzuarbeiten und daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. In diesen gemeinsamen Anstrengungen habe ich Helga Koppel acht Jahre lang erleben können. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen, ihre liebevolle Zuwendung und ihre unendliche Geduld in den Diskussionen gerade auch mit jüngeren Kollegen in den Sektionen des BdWi und dem Bundesvorstand haben manchen aufflammenden Streit geschlichtet, haben manchem von uns Mut gemacht, wenn er in Gefahr war, den Mut sinken zu lassen, und haben alle unsere Bemühungen mit Freundlichkeit und Wärme umgeben. Während ihrer Amtszeit entstanden so wichtige Dokumente wie der "Wissenschaftlerbedarfsplan 1978-1980" und der Alternativentwurf zum Hochschulrahmengesetz 1979. Im Gefolge der Krise gewann der Fremdenhaß in der Bundesrepublik wieder an Boden - zielbewußt, wenn auch bislang nur vorsichtig geschürt von den interessierten Kräften in Großwirtschaft, Parteien und Massenmedien. Fürchterliche Jugenderinnerungen wurden in ihr wieder wach. Dem Kampf gegen diesen Fremdenhaß widmete Helga Koppel die Monate seit dem Frühjahr 1982, von denen sie trotz eines stärker werdenden Asthmaleidens nicht wissen konnte, daß es ihre letzten waren. 13

Am 7. Oktober 1982 starb Helga Koppel plötzlich und unerwartet an einem Asthmaanfall. Das einzige, was wir tun können, ist: den Kampf fortsetzen - gegen den Fremdenhaß, gegen Dummheit und Intoleranz, gegen Rüstung und Krieg, für eine bessere Welt. Damit erfüllen wir das Vermächtnis, das uns diese bedeutende Frau hinterlasse^ hat. Und damit verteidigen wir zugleich unsere eigenen Lebensinteressen. Der III. Kongreß Kritische Psychologie, der sich um die wissenschaftliche Grundlegung einer der Humanität und dem Frieden verpflichteten Psychologie bemühte, war ein Schritt auf diesem steinigen Weg. Das Buch über diesen Kongreß sei Helga Koppel gewidmet. Marburg, im September 1984

14

Reinhard Kühnl

Teil 1 Grundsatzreferate

I. Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität: ünaufhebbarer Widerspruch? Klaus Holzkamp

1. In der Zeit vor 1968 gab es an unserem Institut eine Einrichtung, die "Semestereröffnungstee" genannt wurde und den Zweck hatte, bei Kerzenschein und Keksen die Erstsemester mit dem Lehrpersonal bekannt zu machen und in das Psychologiestudium einzustimmen. Aus diesem Anlaß hielt der Institutsdirektor jedesmal eine launige kleine Ansprache mit folgender Quintessenz: Die Erstsemester mögen vergessen, was sie bisher über Psychologie gehört und gemeint hatten, von nun an sei alles ganz anders. Insbesondere sollten sie die Hoffnung fahren lassen, das Psychologiestudium hätte etwas mit ihnen, ihren persönlichen Erfahrungen und Problemen zu tun, oder könne ihnen gar bei der Überwindung ihrer individuellen Schwierigkeiten und Ängste helfen. Solche Ansichten seien vorwissenschaftlich und für den Erwerb einer angemessenen Studienmotivation eher schädlich. Vielmehr gälte es nun zu begreifen, daß die Psychologie eine Wissenschaft wie jede andere sei, und als solche auf objektive Erkenntnis gerichtet, und wer diese Wissenschaft erlernen und ausüben wolle, müsse demgemäß sein subjektives Meinen, das, was er aus eigener Erfahrung schon zu wissen glaube, zugunsten des nunmehr allein angezeigten wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zurückstellen, und so fort in diesem Sinne. Mit solchen Worten unseres damaligen Institutsdirektors ist sicherlich auch noch das heutige methodologische Selbstverständnis des Hauptstroms der grundwissenschaftlichen Psychologie auf den Punkt gebracht. Jedoch sind es nicht nur die Studenten und immer mehr Psychologen, die sich mit der Forderung der Subjektverleugnung als Voraussetzung wissenschaftlicher Psychologie nicht abfinden wollen. Vielmehr sehen sich mit solchen Methodenvorstellungen ganze Zweige psychologischer Forschung und Praxis in ihrer Wissenschaftlichkeit angezweifelt, so insbesondere die klinische Psycho17

logie, die ohne die Einbeziehung und Reflexion der Selbsterfahrung auch des Therapeuten immer weniger auskommt. Ein solches Verdikt der ün wissenschaftlichkeit versieht den faktischen Bruch zwischen Grund- und Hauptstudium und den sich darin ausdrückenden Bruch zwischen grundwissenschaftlicher und praxisbezogener Psychologie nun auch noch mit wissenschaftstheoretischen Weihen und stellt ihn so als notwendig und unabänderlich hin. So wundert es nicht, daß in neuerer Zeit immer ausgeprägter alternative Vorstellungen von Psychologie, gemäß welchen die Subjektivität, der Alltag, das Leben, die Spontaneität etc. in die psychologische Forschung Eingang finden sollen, sich herausgebildet haben und verbreiten. Was allerdings noch weitgehend unklar ist und in neuerer Zeit nicht klarer wurde, ist das Problem, wie sich die solcherart verfochtene Einbeziehung der Subjektivität in die Psychologie denn nun zur Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität verhält? Bleibt die Annahme eines Ausschließlichkeitsverhältnisses zwischen Subjektivität und Objektivität unangetastet und sieht man sich deshalb gezwungen, um der Subjektivität willen den Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit der Psychologie zurückzuweisen oder einzuschränken (gemäß dem bekannten Diktum der Humanistischen Psychologie, daß die amerikanische Psychologie die Wissenschaftlichkeit "übertreibt")? Oder ist innerhalb der Psychologie die Entwicklung eines Konzeptes von wissenschaftlicher Objektivität möglich, die nicht die Ausschaltung der subjektiven Selbsterfahrung einschließt? Und sind von da aus vielleicht sogar Zweifel darüber angebracht, wieweit die traditionelle Psychologie die Wissenschaftlichkeit, die sie auf Kosten der Subjektivität anstrebt, überhaupt erreicht? Solche Fragen werden selten präzise gestellt, geschweige denn hinreichend beantwortet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit unseres Kongreßthemas: "Subjektivität als Problem psychologischer Methodik". Ich hoffe, daß wir auf dieser Tagung einige Klärungsarbeit zu dieser Problematik leisten können und will nun versuchen, ein paar einleitende Überlegungen dazu beizusteuern.

2. Zunächst soll das erwähnte grundwissenschaftliche Postulat, daß in der Psychologie objektive Erkenntnis die Ausschaltung 18

oder Kontrolle von Subjektivität einschließt, etwas genauer diskutiert werden: Wie wird dieses Postulat innerhalb der gängigen experimentell-statistischen Psychologie begründet? Welche Vorstellungen von Subjektivität sind dabei vorausgesetzt? Und wieweit ist der Anspruch, mit der Eliminierung des Subjektiven wissenschaftliche Strenge und Verbindlichkeit psychologischer Forschung zu erreichen, tatsächlich gerechtfertigt? Mit dem gebräuchlichen experimentell-statistischen Untersuchungsschema sollen bekanntlich theoretische Annahmen über den Zusammenhang zwischen bestimmten Bedingungen, unter die Individuen gestellt sind, und bestimmten Verhaltensweisen der Individuen empirisch geprüft werden. Dazu werden die Bedingungen im Experiment als unabhängige Variable und die Verhaltensweisen als abhängige Variable operationalisiert. Die methodischen Vorkehrungen der experimentellen Bedingungskontrolle sollen so weit wie möglich sicherstellen, daß die Daten über das Verhalten der Versuchspersonen nicht durch andere Faktoren als die eingeführten experimentellen Bedingungen, sogenannte "störende Bedingungen", beeinflußt sind, weil nur so die Befunde tatsächlich als empirische Prüfung der jeweiligen theoretischen Zusammenhangsannahme interpretierbar seien. Im heute üblichen Verständnis erfordert die Bedingungskontrolle eine Herstellung von Häufigkeitsverteilungen, meist durch Untersuchung mehrerer Individuen innerhalb der gleichen Anordnung. Da die Bedingungskontrolle zudem die Störfaktoren nicht total ausschalten kann, liegen die experimentellen Verhaltensdaten (abhängigen Variablen) normalerweise als um einen Mittelwert "streuende" Verteilung vor, der man mit bloßem Auge nicht so ohne weiteres ansehen kann, wieweit sie mit den eingeführten experimentellen Bedingungen (unabhängigen Variablen) zusammenhängt. Hier springt nun die schließende Statistik, sog. "Inferenz-Statistik" ein, die die streuenden Verteilungen als Resultat der zufälligen Variabilität voneinander unabhängiger Elemente interpretiert und unter dieser Prämisse bestimmte wahrscheinlichkeitstheoretische Konstruktionen darauf anwendet. Auf diese Weise soll beurteilbar werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit in den experimentellen Daten eine Bestätigung der zu prüfenden Zusammenhangsannahme gesehen werden darf (bzw., gemäß der traditionellen "Nullhypothesen"-Logik: mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gegenhypothese, daß die Verteilung der experimentellen Verhaltensdaten nur zufällig gegenüber den eingeführten experimentellen Bedingungen variiert, zurückgewiesen werden kann). 19

Wir haben dieses experimentell-statistische Untersuchungsschema im Anschluß an Blumer "Variablenpsychologie" genannt. Gemeint ist damit die skizzierte Grundvorstellung von der Logik psychologischer Forschung. Historisch entstanden ist die so gefaßte "Variablenpsychologie" in der Folge der funktionalistisch-behavioristischen Wende, wobei sie heute zwar keineswegs die Methodologie der gesamten Psychologie deckt, aber das Kernstück der Wissenschaftlichkeitsvorstellungen gerade der akademischen Psychologie bildet. Die "Variablenpsychologie" als implizite oder explizite Forschungslogik ist somit nicht durch einheitliche theoretische Konzeptionen gekennzeichnet. Vielmehr haben sich die zugeordneten Theorien sehr gewandelt und differenziert. Entscheidend ist aber, daß die Theorien, auch wenn sie inhaltlich über die variablenpsychologischen Beschränkungen weit hinausgehen, bei ihrer experimentellen Prüfung dann doch in ihrem Empiriebezug durch das Variablenschema reduziert sind, so daß die darüber hinausgehenden theoretischen Inhalte notwendig zu einem empirisch nicht gedeckten theoretischen Überhang werden. So ist dann innerhalb der psychologischen Methodenkontroversen immer wieder dafür votiert worden, diesen Überhang (als "surplus meaning") wegzulassen, was stets auf den Widerspruch derer stieß, denen klar war, daß damit die inhaltliche Bedeutsamkeit psychologischer Forschung weitgehend preisgegeben würde. Ich kann die komplexen Rückwirkungen des Variablenschemas auf die Eigenart und Geschichte der psychologischen Theorienbildung hier nicht näher diskutieren. Aufgrund meiner Kurzdarstellung der variablenpsychologischen Forschungslogik kann ich die in diesem Rahmen gegebene Begründung für die methodische Notwendigkeit der Ausschaltung von Subjektivität zugunsten wissenschaftlicher Objektivität nun gleich in deren Begriffen formulieren. "Subjektivität", wie sie hier verstanden wird, ist die zentrale Quelle jener Störbedingungen, die eliminiert oder neutralisiert werden müssen, wenn die experimentell-statistische Prüfung theoretischer Annahmen in der beschriebenen Weise möglich sein soll. So hat sich bei der Vervollkommnung der variablenpsychologischen Verfahrensweisen immer deutlicher herausgestellt, daß bereits die Subjektivität des Versuchsleiters in verschiedener Hinsicht zur experimentellen Störquelle werden kann. Daraus resultierten mannigfache Vorkehrungen, die Wirkung des Versuchsleiters, seiner Person, seiner Erwartungen, etc. durch Standardisierung bzw. Reduzierung seines Umgangs mit den Vpn. zu kontrollieren. Viel wichtiger sind 20

aber die Vorstellungen der Variablenpsychologie über die Subjektivität der Versuchsperson als zu eliminierende oder zu neutralisierenden Störfaktor. Dies soll nun genauer dargestellt werden. Dazu muß ich etwas weiter ausholen: In das experimentell-statistische Variablenschema ist, unabhängig davon, wieweit man in den Theorien darüber hinaus ist, die methodische Grundaussage des Behaviorismus eingefroren, daß nur Reizbedingungen und äußerlich registrierbare Verhaltensweisen intersubjektiv zugänglich seien. Die subjektiven Erfahrungen, das Bewußtsein, des einzelnen werden dabei faktisch so behandelt, als ob sie seine nur ihm gegebenen Privatangelegenheit, demnach nicht intersubjektiv zugänglich, also auch nicht wissenschaftlich objektivierbar und verallgemeinerbar seien. Innerhalb des Variablenschemas ergibt sich dadurch folgende Konstellation: Zwischen den objektiven, wissenschaftlich zugänglichen Instanzen der Reizbedingungen und den in raumzeitlichen Meßgrößen faßbaren Verhaltensweisen, also den unabhängigen und den abhängigen Variablen, steht die subjektive Erfahrung bzw. das Bewußtsein der Versuchsperson, worüber man vorgeblich unmittelbar nichts wissen und sagen kann, und die demgemäß mit dem schönen Terminus "Black box" bezeichnet wurde. Die mannigfachen Brüche und Widersprüche, die sich aus der Diskrepanz zwischen theoretischen Aussagen über subjektive Erfahrungstatbestände wie "Angst", "Emotionalität", "Motivation" e t c . , und der methodischen Leugnung ihrer unmittelbaren empirischen Erfaßbarkeit (qua Hypostasierung der "blaek box") ergaben, führten zu ausgedehnten, diffizilen Kontroversen, die sich um die Konzepte "hypothetische Konstrukts" und "intervenierende Variablen" zentrierten. Ich brauche darauf hier nicht einzugehen: Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert lediglich die Frage, in welchem Sinne die so gefaßte Subjektivität der Vpn. als zu eliminierender Störfaktor erscheinen muß. Die subjektive Erfahrung, das Bewußtsein, etc. der Versuchsperson erscheint innerhalb der variablenpsychologischen Vorstellungswelt so lange nicht als Störfaktor, sondern im Gegenteil als eigentliches Thema der Theorienbildung, wie man davon ausgehen zu können glaubt, daß dieses Bewußtsein tatsächlich durch die vom Experimentator eingeführten unabhängigen Variablen bedingt ist: Man kann in die "black box" zwar nicht unmittelbar hineinschauen, aber man kann aus dem, was in die "black box" hineinwirkt und aus der Art, wie es wieder herauskommt, erschließen oder vermuten, was darin passiert sein muß und sich seinen 21

theoretischen Vers darauf machen. Problematisch wird einem die Sache hier erst dann, wenn man sich der Einsicht nicht verschließt, daß - mindestens, sobald man die unspezifische Ebene automatischer physiologischer oder physiologienaher Reaktionen in Richtung auf eigentlich psychologische Fragestellungen überschreitet - die vom Experimentator eingeführten Bedingungen ja nicht direkt auf die Vpn. einwirken, sondern in dem Grade und der Art, wie die Vp. diese Bedingungen auffaßt und in Aktivitäten umsetzt. Das "Bewußtsein" der Vp. schließt eben auch ein, daß sie sich zum Experiment und den Versuchsbedingungen bewußt ins Verhältnis setzen kann. Wenn dies aber so ist, so wandern die vorgeblich objektiven Reizbedingungen in gewissem Sinne mit in die "black box" hinein. Man weiß nicht, ob die Vp. sich wirklich der Instruktion gemäß verhält, und etwa auf die Reizbedingungen reagiert, oder ob sie, statt die Taste zu drücken, wenn ihr die linke der "dargebotenen" Linien länger e r scheint, sich mit ihrem Tastendruck an einem innerlich abgezählten Strickmuster orientiert. So weiß man auch nicht, ob die objektiv registrierten Verhaltensdaten tatsächlich zur Prüfung der vom Experimentator operationalisierten Zusammenhangsannahme taugen, oder vielleicht eine ganz andere, unerkannt im Kopf der VP. hausende Hypothese prüfen. Es ist klar, daß Subjektivität bzw. Bewußtsein im Sinne der Möglichkeit des spontanen, aktiven Sich-Verhaltens der Individuen zu den experimentellen Bedingungen für die Variablenpsychologie ein "Störfaktor" ersten Ranges sein muß: Hier wird die Subjektivität sozusagen erst richtig "subjektiv" bzw. die "black box" erst richtig black. So wundert es einen nicht, daß sich zur Bewältigung des Problems, wie eine solcherart "störende" Subjektivität der Vpn. ausgeschaltet oder kontrolliert werden kann, eine ganze Forschungsrichtung herausgebildet hat. Innerhalb dieser Arbeitsrichtung, die "Sozialpsychologie des Experiments" genannt wird, versuchen manche Forscher, die Bedingungen, unter denen die Versuchspersonen im Experiment eigene, von den durch die Fragestellung und den Forscher intendierten abweichende Hypothesen bilden, selbst wieder experimentell zu untersuchen. Andere stellen dazu richtig fest, daß dieses Vorgehen zirkulär ist, da die Vpn. sich ja auch in den neuen Experimenten wiederum ihre eigenen Hypothesen bilden könnten. Manche Forscher haben die Hoffnung, die störende Subjektivität allmählich durch immer raffiniertere Manipulations- und Täuschungsmaßnahmen gegenüber den Vpn. in den Griff zu bekommen und so die variablenpsychologische Forschungslogik perpetuieren zu können. 22

Andere stellen dazu richtig fest, daß man es hier mit einer prinzipiellen, durch keine immanente Verbesserung der Experimentiertechnik überwindbare Problematik zu tun hat. Die besondere Widersprüchlichkeit dieser Auseinandersetzungen läßt sich so umschreiben: Einerseits nähert man sich durch eindringende Analysen der experimentellen Situation immer wieder einer Problematisierung der Tragfähigkeit des Variablenschemas selbst an. Andererseits aber schreckt man vor entsprechenden Konsequenzen mangels einer sichtbaren Alternative zur variablenpsychologisch verstandenen Wissenschaftlichkeit immer wieder zurück und sucht - eigentlich wider besseres Wissen - weiter nach immanenten Lösungen. Ich kann dies hier nicht genauer verfolgen. Ein weiterer Aspekt der in der Variablenpsychologie unterstellten methodischen Notwendigkeit der Eliminierung von Subjektivität zugunsten von wissenschaftlicher Objektivität ergibt sich aus dem geschilderten Ansatz der Inferenzstatistik: Aussagen über die empirische Bestätigung von Zusammenhangsannahmen sind (wie gesagt) von dieser Forschungslogik aus nur möglich, wenn durch das Vorliegen zufalls variabler Verteilungen die minimalen Anwendungsvoraussetzungen für statistische Prüfverfahren gegeben sind. Das, worauf sich die psychologischen Zusammenhangsannahmen beziehen, ist also nicht je meine individuelle Subjektivität, sondern sind statistische Kennwerte (Mittelwerte, Streuungsmaße e t c . ) , in denen Verteilungen reduzierend beschrieben sind. Üblicherweise charakterisieren solche Kennwerte Verteilungen von Daten, die mehrere Vpn. in der gleichen Anordnung produziert haben. Aber auch, wo in der sog. "Einzelfall-Statistik" mehrere Daten von der gleichen Vp. erhoben und in eine Verteilung gebracht worden sind, bin nicht "ich", wie ich mich und meine Welt jetzt und hier erfahre, getroffen, sondern sind zu Zwecken statistischer Beurteilbarkeit Merkmale von vielen meiner Lebenssituationen zu Verteilungskennwerten verrechnet. Von hier aus verdeutlicht sich nun unter einem neuen Gesichtspunkt der Sinn der eingangs geschilderten Ansprache unseres vormaligen Institutsdirektors: Ich selbst, in meiner konkreten subjektiven Lebenssituation komme in den Zusammenhangsannahmen der Variablenpsychologie tatsächlich nicht vor. Daten über meine Person, meine subjektiven Erfahrungen, meine gegenwärtige Situation usw. haben nämlich lediglich das Niveau von Einzelmerkmalen, die als Elemente in die Verteilungen eingehen, mithin in den Verteilungskennwerten, auf die sich die zu prüfenden Hypothesen allein beziehen, rettungslos und unwiederbringlich verschwun23

den sind. Als weiteren Aspekt eines Verständnisses von Subjektivität, das diese in Gegensatz zu wissenschaftlicher Objektivität bringt, finden wir also die Vorstellung, Subjektivität sei das bloß Einzelne, Individuelle, das der wissenschaftlichen Verallgemeinerung, als statistische Verallgemeinerung oder Häufigkeitsverallgemeinerung gefaßt, geopfert werden muß. In solchen Auffassungen verdeutlichen sich in besonderem Grade die Widersprüche zwischen der variablenpsychologischen Konzeption von wissenschaftlicher Objektivierung und Verallgemeinerung und der Theorie und Praxis klinisch-therapeutischen Handelns, bei dem man es ja offensichtlich nicht mit statistischen Kennwerten, sondern mit je einzelnen Klienten und deren konkreter Lebenssituation zu tun hat. So wird verständlich, warum z . B . die alte Vorstellung, Verhaltenstherapie sei ein einfaches Anwendungsfeld der experimentellen Lernforschung, scheitern mußte. Im Ganzen ergibt sich bei den einschlägigen Kontroversen, etwa um das Schlagwort "clinical vs. Statistical approach", eine neue Variante der geschilderten widersprüchlichen Konstellation: Eigentlich ist es klar, daß man mit variablenpsychologischem Herangehen der klinischen Praxis methodisch nicht beikommen kann. Trotzdem werden aufgrund der hypostasierten Gleichsetzung von Variablenpsychologie und Wissenschaftlichkeit alle möglichen Wege und Umwege erprobt, Abstriche gemacht, Kompromisse angeboten e t c . , um dennoch das therapeutische Vorgehen variablenpsychologisch zu legitimieren.

3. Wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich, findet sich die Variablenpsychologie mit ihrer Unterstellung, nur durch Ausschaltung von Subjektivität wissenschaftliche Objektivität erlangen zu können, vor mannigfachen Problemen und Widersprüchen. Dies allein muß allerdings noch nicht dagegen sprechen, wenn man sich dabei dem gesteckten Ziel wenigstens annähert: Man führt dann eben einen tapferen Kampf um mehr Wissenschaftlichkeit auf schwierigem Terrain. Wer sich indessen den gegenwärtigen Zustand der variablenpsychologisch geleiteten Forschung unvoreingenommen ansieht, der wird feststellen, daß von einer solchen Annäherung keine Rede sein kann. Man hat zwar die Subjektivität in den genannten Aspekten auszuschalten versucht, 24

aber damit keineswegs "Objektivität" im Sinne der Eindeutigkeit des Empiriebezuges der zu prüfenden Hypothesen e r reicht. Die Interpretation der jeweiligen Untersuchungsresultate ist vielmehr offensichtlich weitgehend beliebig. Man verfügt zwar über bedingungsanalytisch gewonnene und statistisch geprüfte Befunde, aber man weiß nicht recht, was sie bedeuten sollen. Mehr noch: Es gibt in der Variablenpsychologie zwar Kriterien darüber, wie man Untersuchungen zu planen und auszuwerten habe, aber schlechterdings keinerlei eindeutige Kriterien darüber, welche Interpretationen der Befunde jeweils zulässig und welche inadäquat sind. Wenn man mithin statistisch gesicherte Befunde üblicherweise als Bestätigung der experimentell operationalisierten theoretischen Hypothese auffaßt, dann schlicht deswegen, weil man andere, ebenso mögliche, Erklärungsweisen von vornherein nicht in Betracht zieht. Dies tut dann aber häufig der nächste Experimentator, der für seine Alternativerklärung sodann ebenfalls empirische Bestätigungen findet, deren Bezug zur neuen Hypothese genäu so beliebig ist, usw. Entsprechend muß man, sofern eine Hypothese nicht empirisch bestätigt werden konnte, sich keineswegs groß grämen: Niemand hindert einen daran, mannigfache Gründe dafür beizubringen, warum hier ja auch gar nichts herauskommen konnte, und es ist lediglich eine Frage geistiger Beweglichkeit und Einfallsfülle, die scheinbar negativen Resultate schließlich doch noch als eine "tendenzielle" Bestätigung der Hypothese hinzustellen. So sind denn die gebräuchlichen Artikel über experimentelle Untersuchungen eine Mischung von vorgeblich "harten" statistisch geprüften Daten und mehr oder weniger haltlosem Gerede darüber, was die Daten theoretisch zu bedeuten haben. Der Umstand, daß mangels verbindlicher Bewertungskriterien hier die eine theoretische Erklärung letztlich genauso gut oder schlecht ist wie die andere, ist sicherlich eine der wesentlichen Bedingungen für jenen gegenwärtigen Zustand der Psychologie, wie er ja auch aus dem Lager der Variablenpsychologie immer wieder diagnostiziert worden ist: Nebeneinander von unvereinbaren Minitheorien ohne empirische Entscheidbarkeit ihrer Geltung mit modischem Wechsel von Theorietrends ohne ausweisbaren Wissenschaftsfortschritt. Woran liegt es nun, daß man innerhalb der variablenpsychologischen Forschung Versuchsergebnisse nicht auf hinreichend verbindliche und eindeutige Weise interpretieren kann, also wissenschaftliche Objektivität bisher nicht erreicht worden ist? Liegt es daran, daß die störenden subjektiven Faktoren eben noch nicht effektiv genug ausgeschaltet oder 25

kontrolliert werden können? Oder hat die fehlende theoretische Verbindlichkeit mit den Objektivierungsversuchen der experimentell-statistischen Planung nichts zu tun? Oder besteht gar ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Art und Weise, in der hier Subjektivität methodisch eliminiert werden soll, und der weitgehenden üninterpretierbarkeit der auf diesem Wege erlangten Versuchsergebnisse? Ich halte die letzte Version für richtig und will nun zu begründen versuchen, warum. Dabei gehe ich von dem Umstand aus, daß man sich ja in gewissem Sinne auch im täglichen Leben Hypothesen über die Befindlichkeiten, Motive, Beweggründe von Menschen bildet. Derartige Hypothesen sind mindestens so weit zutreffend und empirisch bewährt, daß wir gemeinsam unser Leben führen können. Wie kann dies sein? Kurz gesagt deswegen, weil unsere Lebenswelt aus allgemein zugänglichen gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen im Sinne verallgemeinerter Handlungsmöglichkeiten besteht. Wenn andere Menschen derartige Handlungsmöglichkeiten realisieren, so werden von da aus auch deren Handlungen und Befindlichkeiten für mich bedeutungsvoll, d . h . als begründet verständlich. Sehe ich z . B . jemanden mit einem Hammer in der Hand, einem Nagel zwischen den Zähnen und einem Bild unter dem Arm ankommen, so ist für mich normalerweise aus dem gemeinsamen Lebenszusammenhang klar: Er will das Bild aufhängen. Seine "Innerlichkeit" ist mir dabei meist kein besonderes Problem, da das, was der andere im Augenblick fühlt, denkt, will, sich ja in den praktisch relevanten Aspekten aus seinen bedeutungsvollen Handlungen für mich entäußert. Tut der andere in der Folge Unerwartetes (Hypothesenkonträres), legt etwa den Hammer weg, spuckt den Nagel aus, stellt das Bild an die Wand und läuft schnell in die entgegengesetzte Richtung, so ist er damit für mich noch lange nicht rätselhaft und unverständlich. Ich nehme vielmehr an, daß ich bestimmte Prämissen seiner im Prinzip für mich verständlichen neuen Handlungsvarianten nicht kenne. Ich frage also (falls er nicht schon entsprechende Selbstkommentare abgegeben hat) bei ihm nach: Was ist denn nun los? Wahrscheinlich wird er mir dann zurufen: Milch kocht über, oder ähnliches, und damit ist wieder alles klar für mich. Aber selbst wenn er, obwohl er mich gehört haben muß, nicht antwortet, ergibt sich darüber normalerweise aus unserem gemeinsamen Lebensund Bedeutungszusammenhang eine in der weiteren Alltagspraxis leicht prüfbare Hypothese. Etwa: Ach, der redet nicht mit mir, ist wohl immer noch sauer wegen gestern. 26

Aber auch der Grenzfall einer für mich verschlossenen Innerlichkeit des anderen heißt nicht ünverständlichkeit und Bedeutungslosigkeit, sondern hat möglicherweise sogar eine besonders schwerwiegende und folgenreiche Bedeutung innerhalb unseres gemeinsamen Lebenszusammenhangs. Ich brauche diese Konzeption intersubjektiver Bedeutungsund Begründungszusammenhänge, die wir sehr ausführlich abgeleitet und entfaltet haben, hier nicht genauer darzustellen. Bereits aus meinen wenigen Hinweisen geht nämlich hervor, daß die mit der Bezeichnung "black box" umschriebene Unzugänglichkeit der "Innerlichkeit" des anderen keineswegs ein allgemeines Merkmal zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern ein im variablenpsychologischen Experiment künstlich hergestellter Mangelzustand intersubjektiver Verständigung ist, der die mangelnde Möglichkeit verbindlicher theoretischer Interpretationen unmittelbar einschließt. Indem der Experimentator nämlich gemäß dem variablenpsychologischen Verständnis wissenschaftlicher Objektivität das "Verhalten" der Vp. nur so weit berücksichtigen darf, wie es als "bedingt" durch die eingeführte Reizkonstellation (unabhängige Variable) faßbar ist, muß er den geschilderten Verständigungsrahmen intersubjektiver Bedeutungsund Begründungszusammenhänge systematisch unterschreiten: Da die experimentelle Realität, die tatsächlich aus für die Vp. bedeutungsvollen verallgemeinerten Handlungsmöglichkeiten besteht, nur in ihren metrischen Merkmalen zur Kenntnis genommen wird, ist dem Experimentator die Möglichkeit verschlossen, die Aktivitäten der Vp. als begründet in solchen verallgemeinerten, also auch dem Experimentator zugänglichen Bedeutungsbezügen zu begreifen. Damit ist es ihm auch unmöglich, von da aus jenen geschilderten Prozeß intersubjektiver Verständigung einzuleiten, in dessen Verlauf die Befindlichkeit des anderen als Aspekt seiner besonderen Weise der Handlungsrealisierung von Bedeutungen sich für mich immer weiter klärt und vereindeutigt. Damit ist auf der einen Seite die "black box" als Inbegriff der subjektiven Erfahrungen und Befindlichkeiten der Vp. konstituiert, die - da sie von ihren gegenständlichen, intersubjektiven Bedeutungsbezügen abgeschnitten sind - in der variablenpsychologischen Anordnung zur unzugänglichen, privaten Innerlichkeit werden müssen. Auf der anderen Seite ergibt sich daraus die geschilderte Unmöglichkeit verbindlicher Interpretationen der Befunde: All die genannten Vermittlungsprozesse, durch welche meine Befindlichkeit als Aspekt meiner gesellschaftlich bedeutungsvollen Handlungen intersubjektiv zugänglich wird, sind hier ausgeklammert. So bleibt 27

zwischen den metrischen Reizbedingungen und äußerlich registrierbaren Verhaltensweisen der Vp. eine große Leerstelle übrig, die nur "freischwebend" mit mehr oder weniger haltlosen Spekulationen darüber, was in der Vp. wohl vorgegangen sein mag, überbrückt werden kann. Die "black box" als Lieferant uninterpretierbarer Daten ist also das Resultat von methodischen Zurüstungen, durch welche dem Experimentator gezielt und systematisch die Möglichkeit entzogen ist, etwas über die Vp. und ihre Befindlichkeit in Erfahrung zu bringen. Dieses Dilemma läßt sich noch von einer anderen Seite beleuchten, wenn man den hier naheliegenden Einwand diskutiert: Es sei doch unrichtig, daß der Experimentator von einem intersubjektiven Verständigungsprozeß mit der Vp. abgeschnitten sei, er könne sie doch, während des Experiments oder danach, über ihre einschlägigen Befindlichkeiten befragen. In der Tat gehört etwa die sog. "postexperimentelle Befragung" zu den innerhalb variablenpsychologischer Untersuchungen nicht selten angewandten Praktiken. Nur, was ist tatsächlich damit gewonnen? Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Entweder die Befragung geschieht sozusagen außerhalb des offiziellen Programms, also außerhalb der Aktivitäten variablenpsychologischer Versuchsplanung; in diesem Fall haben die Befragungsergebnisse, da sie nicht als "bedingt" durch die Reizkonstellation zu fassen sind, mit der Prüfung der Hypothesen über den Zusammenhang von unabhängigen und abhängigen Variablen nicht das geringste zu tun; sie eignen sich so bestenfalls zur veranschaulichenden Garnierung der nach wie vor unverbindlichen theoretischen Interpretationen bzw. erfüllen lediglich eine Alibifunktion, durch welche verschleiert wird, daß im eigentlichen Experiment die Vp. als Subjekt nichts zu sagen hat. Oder die Befragung wird als Teil der experimentellen Planung und Hypothesenprüfung eingeführt; dann handelt es sich um '^verbale Responses" als "abhängige Variable", die wiederum nur im Lichte der "unabhängigen Variablen" als metrischen Reizbedingungen interpretiert werden dürfen; damit ist das geschilderte Dilemma also nicht überwunden, sondern reproduziert. Durch die variablenpsychologische Reduzierung des in intersubjektiven gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen handelnden Menschen auf den "bedingten Menschen" sind eben prinzipiell jene interpersonalen Verständigungsprozesse suspendiert, innerhalb welcher somit durch Nachfragen wechselseitige Vereindeutigungen der Befindlichkeit des anderen im Handlungskontext erreicht werden könnten . 28

Zusammengefaßt: wenn ein Experimentator sich kurz einmal darauf besinnen würde, daß er selbst auch ein Mensch, also von seinen eigenen Hypothesen mitbetroffen ist, und wenn er so die variablenpsychologische Experimentalf rage "tun Menschen unter den und den Bedingungen das und das oder das und das?" an sich selbst richtete, so müßte er sofort feststellen: Diese Frage ist in der Form unbeantwortbar. Was ich tue, das bestimmt sich doch nach meinen realen Handlungsmöglichkeiten innerhalb meines konkreten, intersubjektiven Lebenszusammenhangs und ist demgemäß durch die in der Hypothese genannten "Reizbedingungen" quantitativ und qualitativ hoffnungslos unterbestimmt. Wenn dies so ist, dann müssen aber die Handlungen anderer Menschen, sofern man sie lediglich als "abhängige Variablen" von Reizbedingungen erfassen will, notwendigerweise uninterpretierbar sein. (Davon sind übrigens auch Konzepte wie das Skinnersche "operant conditioning" nicht ausgenommen: Hier werden die "operants" zwar als spontane Akte aufgefaßt, deren Auftretenshäufigkeit wird dann aber wiederum lediglich als "bedingt" durch die experimentell gesetzten Konsequenzen betrachtet - was ich nicht näher diskutieren kann.) Die Gründe für die wissenschaftliche Un Verbindlichkeit der theoretischen Interpretation variablenpsychologischer Befunde verdeutlichen sich noch auf einer anderen Ebene, wenn man den geschilderten Modus statistischer Prüfung in den gegenwärtigen Argumentationszusammenhang einbezieht: Hier wird - wie gesagt - unterstellt, daß die theoretischen Hypothesen sich im Interesse ihrer Prüfbarkeit und Verallgemeinerbarkeit nicht auf Individuen bzw. konkrete individuelle Lebenssituationen beziehen können, sondern nur auf Kennwerte statistischer Verteilungen. Ein statistischer Mittelwert z . B . kommt ja dadurch zustande, daß man an unterschiedlichen Individuen bzw. Situationen nur Merkmale berücksichtigt, die sie als gleichartige Elemente einer Verteilung ausweisen, und durch bestimmte Verfahren die zentrale Tendenz der quantitativen Ausprägung dieser Merkmale berechnet. Damit sind nicht nur die jeweiligen Besonderheiten konkret-historischer Lebenszusammenhänge auf lediglich quantitative Unterschiede hinsichtlich eines gleichartigen Merkmals reduziert, also aus dem Kontext herausgerissen, innerhalb dessen sie allein als intersubjektiv bedeutungsvoll erfaßbar wären: Darüber hinaus ist der aus den Merkmalen berechnete Mittelwert weiter nichts als ein statistisches Artefakt, eine fiktive Größe, der unmittelbar nichts in der psychischen Realität entspricht: Die Merkmale der 29

wirklichen Erfahrung/Befindlichkeit eines je konkreten Subjekts stellen ja, selbst in ihrer quantitativ reduzierten Form, lediglich die Verteilungselemente dar, aus denen der Kennwert berechnet wurde, auf den sich dann das statistische Urteil bezieht; sie kommen hier also selbst nicht mehr vor. Wenn nun die Forscher die errechneten statistischen Kennwerte (bzw. ihr Verhältnis zueinander) theoretisch interpretieren wollen, so müssen sie gleichwohl so tun und reden, als ob sie sich dabei auf die Einheit subjektiver Welt- und Selbsterfahrung beziehen könnten. Auf andere Weise sind nämlich psychologische Interpretationen nicht möglich. Es ergibt z . B . keinen Sinn, über "Angst" zu reden, ohne dabei vorauszusetzen, daß jemand bestimmtes in einer bestimmten Situation die Angst "hat". So kreiert die Variablenpsychologie dann durch ihre kennwertbezogenen psychologischen Aussagen eine artifizielle Unperson, ein statistisches Gespenst als den Ort, an dem die angenommenen psychischen Prozesse tatsächlich antreffbar wären. Dieses statistische Gespenst ist, wie alle Gespenster, ein total abstraktes Wesen: Man steht mit ihm in keinem Lebenszusammenhang, man kennt auch nicht seine konkreten Daseinsumstände, und kann somit nichts Realitätshaltiges darüber sagen. Dies gilt nicht nur für die Interpretation von Mittelwerten, sondern für die theoretische Deutung aller statistischen Kennwerte, bis hin zu komplexen Kennwerten wie Faktorenladungen: So ist die abenteuerliche Willkür der üblichen FaktorenBenennungen ja derart offensichtlich, daß sie sogar schon einigen Faktorenanalytikern selbst aufgefallen ist. - Man sieht also, was bei dem Versuch herausgekommen ist, das vorgeblich bloß Einzelheitliche und Zufällige individueller Subjektivität durch statistische Objektivierung und Verallgemeinerung zu überwinden: Man ging, das Allgemeine zu suchen, und man fand, besser erfand, den variablenpsychologischen Homunculus. Ich hoffe, durch die damit abgeschlossenen Überlegungen ist deutlich geworden: Meine frühere Aussage über die Un Verbindlichkeit und Haltlosigkeit variablenpsychologischen Theoretisierens war keineswegs ein lediglich persönlicher Eindruck oder gar eine böswillige Übertreibung: Es läßt sich aus den verschiedenen Aspekten der variablenpsychologischen Forschungslogik ableiten, daß die hier aus methodischen Gründen für notwendig erachtete Eliminierung individueller Subjektivität die Uninterpretierbarkeit, also mangelnde wissenschaftliche Objektivität, der dabei gewonnenen Daten zwingend einschließt. Interessant wäre es nun, genauer zu verfolgen, wie man etwa versucht, die Interpretationsun30

Sicherheit durch Rückgriff auf einen platten, über die konkrete Lebenslage der Betroffenen hinweggehenden Alltagskonsens zu reduzieren; oder wie man bemüht ist, die theoretische Vieldeutigkeit durch sekundäre Interpretationsregeln innerhalb hermetischer Kunstsprachen zu reduzieren, die man zu diesem Zweck für jeden theoretischen Minitrend erfindet: Die so angestrebte terminologische Verbindlichkeit hebt sich dabei deswegen selbst auf, weil die übergeordneten Interpretationsregeln nicht sachgegründet sind, sondern lediglich traditionalen, konventionellen Charakter haben, usw. All dies kann hier aber nicht weiter diskutiert werden. Nicht ausweichen kann ich indessen der Frage, was denn nun aus meinen Analysen folgt? Wenn es richtig ist, daß der variablenpsychologische Weg im wesentlichen eine Sackgasse darstellt, und wenn man dennoch auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit psychologischen Tuns, schon zur Begründung der Verantwortlichkeit dieses Tuns vor den Betroffenen, nicht verzichten will, dann müßte ja eine Fundierung wissenschaftlicher Objektivität und Verallgemeinerbarkeit ohne die variablenpsychologische Eliminierung von Subjektivität möglich sein. Wie aber könnte eine solche Fundierung aussehen?

4. So viel sollte klar sein: Nichts ist damit getan, wenn man das Experiment und die Statistik aus der Psychologie ausschließen will. Es ist nicht einmal ausgemacht, wieweit dies überhaupt berechtigt ist. Die Kritik richtet sich lediglich gegen die Art und Weise, in welcher Experiment und Statistik innerhalb der Variablenpsychologie verwendet werden, nämlich als methodischer Ausdruck des Dogmas vom "bedingten Menschen". Wenn die Unverbindlichkeit und Haltlosigkeit psychologischen Theoretisierens überwindbar sein soll, so darf - dies hat sich gezeigt - das Handeln der Menschen in intersubjektiven gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen, damit die Welt- und Selbsterfahrung des Subjekts, bzw. das individuelle Bewußtsein als deren Ort, in keiner Hinsicht aus methodischen Gründen reduziert werden. Die so gefaßte subjektive Selbsterfahrung ist vielmehr, wenn psychologische Resultate wissenschaftlich interpretierbar sein sollen, als unhintergehbare Grundlage aller methodischen Vorkehrungen zur Verwissenschaftlichung der Psychologie 31

vorauszusetzen. Da "Selbsterfahrung" oder "Bewußtsein" immer "meine" Erfahrung bzw. "mein" Bewußtsein, also in ihrer Gegebenheitsweise quasi "erster Person" sind, ergibt sich hier als Alternative zur Variablenpsychologie als Psychologie vom "Standpunkt außerhalb" eine Psychologie von "je meinem" Standpunkt. Damit ist natürlich nicht^ etwa irgendeinem "Solipsismus" das Wort geredet, sondern (wie in der Formulierung "je mein" o . a . terminologisch gefaßt) lediglich hervorgehoben, daß soziale Beziehungen auf menschlichem Niveau "intersubjektive" Beziehungen sind, d.h. Beziehungen, in denen verschiedene subjektive "Intentionalitätszentren" aufeinander bezogen sind, also jeweils ich, indem ich den anderen von meinem Standpunkt wahrnehme, gleichzeitig mitwahrnehme, daß dieser mich von seinem Standpunkt aus als einen ihn Wahrnehmenden wahrnimmt, und in diesem Sinne unsere Perspektiven miteinander verschränkt sind. Wenn man Psychologie so als "intersubjektive" Wissenschaft, oder (da "Subjektivität" immer "Intersubjektivität" einschließt) kurz als "Subjektwissenschaft" faßt, so bedeutet dies, daß der Forscher mit seinen Theorien und Verfahren sich nicht lediglich auf andere bezieht, selbst aber heraushalten kann, sondern sich davon als Subjekt voll mitbetroffen sieht: Da "Intersubjektivität" das spezifisch menschliche Beziehungsniveau ist, gehört in einer Psychologie, die dieses Niveau ihres Gegenstands nicht verfehlen will, nicht nur die Subjektivität der anderen, sondern auch die damit verschränkte Subjektivität des Forschers quasi zur "Empirie", die es psychologisch zu erforschen gilt. Damit ist auch gesagt, daß subjektwissenschaftliche Theorien und Verfahren nicht Theorien und Verfahren "über" Menschen, sondern "für" Menschen sind: Sie dienen (im günstigen Falle) "je mir" zur Klärung und Veränderung meiner eigenen Erfahrung und Lebenspraxis. Aus der "subjektwissenschaftlichen" Position ergibt sich, was in diesem Zusammenhang wissenschaftliche Objektivität und Verallgemeinerbarkeit allein heißen kann: "Objektivität" und "Subjektivität" sind in ihrem Verhältnis zueinander so zu fassen, daß "Objektivität" nicht auf Kosten meiner "Subjektivität" geht, sondern quasi "Objektivierung des Subjektiven" bedeutet. Und "VerallgeTnenTi^ ist inT^VerTTältnis zu mir als einzelnem Individuum und meiner unmittelbaren Erfahrung so zu fassen, daß die "Verallgemeinerung" das Einzelne nicht zum Verschwinden bringt, sondern quasi "Verallgemeinerung des Einzelnen" bedeutet. 32

Sicherlich mag mancher zunächst ratlos sein, wie denn eine solche subjektwissenschaftliche Programmatik der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Einzelnem und Allgemeinem, realisierbar sein soll. Um diese Ratlosigkeit zu überwinden, muß man zunächst von der Vorstellung der notwendigen Icheingeschlossenheit, Unzugänglichkeit und Undurchdringlichkeit subjektiver Selbsterfahrung und individuellen Bewußtseins, wie sie in der "black box" variablenpsychologisch zum Ausdruck kommt, Abschied nehmen. Man sollte von da aus meinen früheren Darlegungen nähertreten, in denen ich zeigen wollte: Menschliche Handlungen samt den subjektiven Befindlichkeiten, aus denen sie sich begründen, haben als Realisierungen allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten prinzipiell, indem sie für mich bedeutungsvoll sind, auch für andere Bedeutung, und dieser intersubjektive Bedeutungs- und Begründungszusammenhang kann innerhalb der Variablenpsychologie nur deswegen nicht in den Blick kommen, weil er methodisch eliminiert ist. Wenn man von da aus weiterdenkt, dann deutet sich einem an, wie unter der Voraussetzung solcher intersubjektiver Bedeutungszusammenhänge das Problem wissenschaftlicher Objektivierung und Verallgemeinerung anzugehen ist: Zwar ist meine subjektive Selbsterfahrung jeweils nur "mir" gegeben, aber dennoch erschöpft sie sich nicht darin, sondern ist als Befindlichkeitsaspekt meiner Handlungen lediglich eine individuelle V a r i a d i e in ihren allgemeinen Zügen auf objektive gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten und die damit verbundenen konkret-historischen Behinderungen und Widersprüche bezogen sind. So bin ich also in meinen jeweils ganz persönlichen Erfahrungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, durch welche die Möglichkeiten und Notwendigkeiten meines Handelns bestimmt sind, mit den anderen Menschen, die sich in ihrem Handeln vor den gleichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten sehen, real verbunden. Meine Erfahrungen sind demnach in diesem intersubjektiven Erfahrungszusammenhang, soweit darin, die Art und Weise meiner persönlichen Verarbeitung und Umsetzung konkreter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen faßbar wird, als subjektive Erfahrungen objektivierbar und verallgemeinerbar. Wenn in solchen Argumentationszusammenhängen von "Verallgemeinerung" die Rede ist, so wird darunter allerdings etwas anderes verstanden als die in der Psychologie gängige "Häufigkeitsverallgemeinerung" von Stichprobenkennwerten auf Populationskennwerte: "Verallgemeinerung" bedeutet 33

hier Erfassung und Inrechnungstellung derjenigen Vermittlungsebenen und -aspekte, durch welche ein je vorliegender Fall subjektiv-intersubjektiver Erfahrungen / Befindlichkeiten als spezielle Ausprägungsform eines allgemeinen Falles begreifbar wird. Diese Verallgemeinerungsweise, die wir zur Abhebung von der Häufigkeitsverallgemeinerung "strukturelle Verallgemeinerung" nennen, ist in anderen Wissenschaf ten als der Psychologie keineswegs etwas Besonderes. Wenn z.B. ein Physiker bei der experimentellen Realisierung des Fallgesetzes einen Meßwert erhält, der von der allgemeinen Formel v = g/2 t 2 abweicht, so kann er ihn dennoch bei Inrechnungstellen von Vermittlungsebenen wie Reibung oder Luftwiderstand umstandslos als besondere Erscheinungsform des streng geltenden allgemeinen Gesetzes begreifen. Der Physiker wird jedoch keineswegs auf die Idee kommen, den Gegenstand vorsichtshalber hundertmal herunterfallen zu lassen, aus den dabei erhaltenen Meßwerten eine Verteilung zu bilden, daraus Mittelwerte und Streuungsmaße zu berechnen und in Weiterverfolgung dieses Weges die Geltung des Fallgesetzes statistisch zu prüfen. Die Universalisierung derartiger Vorgehensweisen zum wissenschaftlichen Verfahren par excellence war den Variablenpsychologen vorbehalten. Wenn nun die so gefaßte "strukturelle Verallgemeinerung" als subjektwissenschaftliches Verfahren entwickelt werden soll, so ist dabei vorausgesetzt, daß man meinen subjektiven Befindlichkeiten im Alltag nicht unmittelbar ansieht, daß und in welchen Ebenen sie mit allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen vermittelt sind: Nur deswegen ist eine wissenschaftliche Analyse an dieser Stelle nötig und möglich. (Nach Marx könnte und brauchte es keine Wissenschaft zu geben, wenn Wesen und Erscheinung zusammenfielen). Innerhalb der alltäglichen Lebenspraxis setzt sich offensichtlich in meinen Erfahrungen das darin liegende Allgemeine immer nur sporadisch und bruchstückhaft auch in meinem Denken durch. So erkenne ich auch die in meinen Erfahrungen liegende Verbundenheit mit anderen Menschen in gleicher gesellschaftlicher Lage und sich daraus ergebender Interessenlage nur immer aspekthaft als punktuelle Durchdringung der scheinhaften Privatheit meiner Befindlichkeit. Die Ursachen für diese mangelnde Expliziertheit der allgemeinen gesellschaftlichen Bezüge meiner Befindlichkeit liegen in besonderen, hier nicht näher auszuführenden Eigenarten der unmittelbaren Lebenspraxis von Individuen, speziell in ihrer "Privatexistenz" unter bürgerlichen Verhältnissen. 34

Die generelle Zielsetzung subjektwissenschaftlicher Forschung besteht also in der verallgemeinernden Herausarbeitung der Vermittlungsebenen, durch welche subjektive Erfahrungen unter bestimmten gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnissen von den Betroffenen als besondere individuelle Erscheinungsformen der unter den jeweiligen Verhältnissen gegebenen objektiven Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen begriffen werden können. Dies ist gleichbedeutend mit der Herausarbeitung der in der jeweils analysierten gesellschaftlichen Konstellation für die Betroffenen gegebenen gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Das Subjekt wissenschaftliche Erkenntnisinteresse erweist sich so als eine verallgemeinerte Form der Interessen der Individuen an der Erweiterung der Verfügung über ihre Daseinsbedingungen, damit Erhöhung subjektiver Lebensqualität . Zur Realisierung des subjektwissenschaftlichen Programms ist vor allem anderen die Vorleistung einer historisch-empirischen Gewinnung und Begründung von Kategorien nötig, mit welchen die Betroffenen die Ebenen und Aspekte der Vermittlung ihrer subjektiven Erfahrungen mit allgemeinen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen adäquat erfassen können. ("Luftwiderstand" und "Reibung" als Vermittlungsebenen zwischen besonderer Erscheinungsform und allgemeinem Gesetz des freien Falles verstehen sich ja auch nicht von selbst, sondern sind Resultat eines langen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses.) Die begründete Herausarbeitung eines derartigen subjektwissenschaftlichen Systems von Vermittlungskategorien war über lange Zeit die Hauptbeschäftigung der Kritischen Psychologie. Dabei sind um die Zentralkategorien "gesellschaftliche Bedeutungen" und "subjektive Handlungsfähigkeit" unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung zwischen gesellschaftlicher und individueller Existenz auch neue Bestimmungen psychischer Funktionen, wie Kognition, Emotionalität und Motivation, als Aspekte subjektiver-intersubjektiver Handlungsfähigkeit, entwickelt und neue Grundlagen für das Verständnis personaler Konflikte, der Abwehr und des Unbewußten erarbeitet worden. In neuerer Zeit wurden uns darüber hinaus die Schlußfolgerungen immer klarer, die aus den Resultaten der Kategorialanalyse für eine angemessene subjektwissenschaftliche Forschungsmethodik zu ziehen sind. In diesem Zusammenhang kamen wir auf die zentrale Funktion wissenschaftlich durchdrungener Lebenspraxis für die Überprüfung und Objektivierung subjektwissenschaftlicher Theorien. Dies wiederum bedeutete die tendenzielle Überwindbarkeit der Trennung 35

zwischen grundwissenschaftlicher Psychologie und psychologischer Praxis, da Forschung und Praxis sich nur als verschiedene Akzente innerhalb eines einheitlichen Wissenschaftsprozesses erwiesen. Was davon schon faßbar war, habe ich im 9. Kapitel der "Grundlegung der Psychologie" dargestellt. Neuere Aspekte werden auf diesem Kongreß vorgestellt und diskutiert. Dazu gehören auch, in der ProjektSektion, erste Berichte über Verfahrensweisen und Resultate subjektwissenschaftlicher Forschungsprojekte.

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Wenn man von der Beschäftigung mit den subjektwissenschaftlichen Vorhaben hoch und die Runde blickt, um den eigenen historischen Standort, außerhalb der Variablen Psychologie, aber innerhalb der Psychologie, genauer zu erkunden, so werden einem vielfältige Bezüge sichtbar. So mag man etwa erstaunt feststellen, daß Wundt die unmittelbare Erfahrung als Gegenstand der Psychologie bestimmt hat: Sollten dort schon Ansätze einer Erfassung des Bewußtseins als Medium interpersonaler Welterfahrung zu finden sein, die dann durch die Variablenpsychologie mit ihrer BewußtseinsPrivatisierung verschüttet worden sind? Ebenso wird man dabei auf die alte Kritik Lewins am Häufigkeits- und Durchschnittsdenken in der Psychologie und auf sein methodologisches Konzept des Aufsteigens vom Einzelfall zum "reinen Fall" stoßen: Könnte es sein, daß hier Möglichkeiten einer Vermeidung der variablenpsychologischen Sackgasse gelegen hätten, die Lewin in der Emigration unter dem Druck der behavioristischen Ideologie in den USA dann selbst aus dem Auge verloren hat? Weiterhin könnte einem in diesem Zusammenhang auffallen, daß Piaget offensichtlich sehr bedeutsame Resultate über die Gesetzlichkeiten kognitiver Entwicklung ohne jeden statistischen Aufputz, lediglich im experimentierenden Umgang mit seinen eigenen drei Kindern, gewann: Hat man es hier vielleicht mit experimentellen Anordnungen zu tun, die nicht den variablenpsychologischen Verkürzungen unterliegen, sondern in der Hand der Betroffenen sinnvolle Beiträge zu subjektwissenschaftlicher Erkenntnis beibringen könnten? Auch könnte man versucht sein, die sog. "verstehende" oder "geisteswissenschaftliche" Psychologie wieder einmal etwas genauer zu betrachten: Wurde sie vielleicht durch die "naturwissenschaft36

lieh" sich gebärdende Psychologie vorschnell von der Bühne wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gefegt? Bei einer derartigen Umschau wird man auch die zeitgenössischen Parallel-Anstrengungen, eine Alternative zur Variablenpsychologie zu entwickeln, genau analysieren müssen, so die Handlungsforschung, Ethnomethodologie, phänomenologische Psychologie, qualitative Sozialforschung, Biographieforschung, kritische Hermeneutik: Wieweit werden in solchen Ansätzen lediglich auf eklektizistische Weise Kompromisse mit der Variablenpsychologie geschlossen? Wieweit geht man in die gleiche Richtung wie wir mit unserem Ansatz, so daß eine wechselseitige Förderung der wissenschaftlichen Entwicklungsarbeit möglich wäre? Und wieweit sind dabei sogar ganz andersgeartete, aber gleichwohl begründete und perspektivenreiche Alternativen zum variablenpsychologischen Holzweg in Rechnung zu stellen? Bei der Klärung auch solcher Probleme soll uns dieser Kongreß weiterhelfen.

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II. Phänomenologische Analytik und experimentelle Methodik in der Psychologie - das Problem der Vermittlung Carl Friedrich Graumann

1. Zum Begriff der phänomenologischen Analyse

1 . 1 . Phänomenologie: Wortgebrauch und -mißbrauch Überraschungen sind in der Regel freudig oder unangenehm. Die Überraschung, die die Einladung auslöste, auf einem Kongreß für Kritische Psychologie mit einem Vortrag über phänomenologische Analyse aufzutreten, stimmte weder schlicht freudig, noch war sie bloß unangenehm: Sie war von Anfang an mit Skepsis durchsetzt. Womit ich nicht die Skepsis meine, die man so gegenüber der Kritischen Psychologie hegt und mancherorten sogar pflegt. Ich meine die Skepsis, die jeden, der phänomenologische Analytik ernst nimmt, immer dann befällt, wenn andere von Phänomenologie reden. Und damit meine ich keineswegs nur, nicht einmal in erster Linie, die Gegner einer Phänomenologie. Der Begriff Phänomenologie oder phänomenologische Analyse, der ja seine eigene Geschichte hat, allein im modernen Verständnis eine etwa hundertjährige, mit den entsprechenden Bedeutungsveränderungen, hat so viele Mißdeutungen erfahren, darunter hartnäckige, kaum ausrottbare, daß man unwillkürlich zusammenzuckt, wenn einer "Phänomenologe" zu einem sagt. Ich will von vorneherein erklären, daß die Phänomenologen (ohnehin mehr "Bewegung" als ordentliche "Schule") ihr Teil dazu beigetragen haben, zumindest was das Fenster zum Hof der Human Wissenschaften betrifft. Von allen Beziehungen, die die Phänomenologie zu den Human Wissenschaften unterhält, ist die zur Psychologie die zwar historisch älteste und thematisch innigste, aber, was das Zusammenleben betrifft, die unglücklichste geblieben. Warum das so ist, hat mehrere Gründe; von einem wird hier die Rede sein. 38

Ich kann nicht auf alle Mißverständnisse von Phänomenologie eingehen, die die Beziehung zu den Humanwissenschaften belastet haben; immerhin hat Giorgi in einem 1983 erschienenen Beitrag über phänomenologische Forschung zehn Fehlidentifikationen aufgezählt und kritisiert. Einige davon mögen für Amerika und den langjährigen Herrschaftsbereich des Behaviorismus besonders charakteristisch sein. Aber abgesehen davon, daß auch in unserer Provinz der Behaviorismus noch gar nicht so weit weg ist - schon gar nicht der "kognitive", der "gewendete" - , sind manche der Fehlidentifikationen auch bei uns üblich, vor allem aber auch aufschlußreich für unser Thema, die Problematik der Vermittlung. Ich will aber nur die wichtigsten herausgreifen, nämlich die Fehlidentifikationen, die dazu dienen sollen, der phänomenologischen Analytik ihre "Wissenschaftlichkeit" abzusprechen und sie damit in der Distanz zu halten, in der man die Historie, die Philologie, die Literatur und die Kunst weiß - liebenswerte, der allgemeinen Bildung bekömmliche, stellenweise sogar unterhaltsame Kulturprodukte, die aber nichts im streng gehüteten Revier der Wissenschaft verloren haben. Da ist etwa die Identifikation von phänomenologischer Methode mit "Introspektion". Phänomenologie, das "weiß" man, befaßt sich mit dem Bewußtsein; das Bewußtsein, das "weiß" man, ist innen; ergo ist die Methode der Phänomenologie die Innenschau, die Introspektion. Was hier fast wie eine Schlußfolgerung aussieht (wenn auch aus der Klasse der Fehlschlüsse), wird durch die unausgesprochene Bewertung der Introspektion als Methode zur endgültigen Aburteilung der synonym behandelten Phänomenologie. Eng damit zusammen hängt, lediglich vom Methodischen aufs Thematische gewendet, die Gleichsetzung von phänomenologischen und privaten, weil inneren "Daten". Fast schon selbstverständlich ist dem Psychologen (und nicht nur ihm) die Metaphorik von innen und außen, die er ebenso selbstverständlich mit der Polarität von privat und öffentlich verbindet. Der um Objektivität bemühte Psychologe hat sich immer entschieden auf die Seite des Äußeren und Öffentlichen geschlagen aus Gründen, die wiederum im Methodologischen, letztlich aber in einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis liegen (zur Innen-Metapher vgl. Taylor 1964, 57). Wiederum wird, in einer dritten weitverbreiteten Gleichsetzung, das Phänomenologische als das bloß Subjektive charakterisiert und disqualifiziert (Giorgi, a . a . O . , 134 f f . ) . Richtig daran ist, daß die phänomenologische Analyse sich 39

vornehmlich den Strukturen der Subjektivität widmet. Aber weder ist sie darauf beschränkt, noch ist ihre Vorgehensweise selbst "subjektiv" in dem pejorativen Sinne des Nicht-Objektiven bzw. keiner Objektivität Verpflichteten. Daß aber gerade letzteres von einigen Kritikern, besser: Gegnern des phänomenologischen Ansatzes gemeint ist, zeigt die Generalisierung dieser Fehlidentifikation zu der Gleichung von phänomenologisch und antiwissenschaftlich. Das "Körnchen Wahrheit", das sich in allen Fehlidentifikationen finden ließ und durch einseitige Übertreibung zu dem jeweiligen Mißverständnis der Phänomenologie führte, ist hier besonders klein geraten. Die phänomenologische Analyse, die an sich keine Antiposition darstellt, läßt sich am ehesten in Gegensatz zum Szientismus bringen ( a . a . O . , 140). Schließlich hat die Wortschöpfung "phänomenologisch" selbst zu einer Irreführung verleitet, wenn als Gegenstand dieser Analyse das bloß Phänomenale angesehen wird; das Phänomenale aber ist bloßer "Schein", nicht die dahinter liegende und oft verborgene "Wirklichkeit", beziehungsweise ist bloße Erscheinung, die auf ein nicht erkennbares (physisches oder psychisches) Sein verweist. Phänomenologie wird hier mit Phänomenalismus verwechselt, einer Position des frühen Positivismus, die jedoch als Spielart eines subjektiven Idealismus realistischer Kritik verfiel. Genug der Gleichsetzungen und Verwechslungen, an denen - ich wiederhole das noch einmal - immer wieder Philosophen und Wissenschaftler, die sich selbst als "Phänomenologen" bezeichneten, mitgewirkt haben. Das gilt ganz besonders für die Vertreter zweier Spielarten, die, bei manchen Gemeinsamkeiten, doch klar von der Phänomenologie abgegrenzt werden sollten: die Existenzialisten und die Humanisten (vgl. hierzu Graumann 1980). Mit den Hinweisen auf das, was Phänomenologie und phänomenologische Methode nicht sind, ist noch nicht klar geworden, was sie sind, oder besser, als was ich sie verstehe. Klar geworden ist aber vielleicht, weshalb man so leicht mißtrauisch wird, wenn man als "Phänomenologe" angesprochen wird. Es spricht manches dafür, nicht die phänomenologische Orientierung und die ihr entsprechende Methodik, wohl aber die Bezeichnung "phänomenologisch" aufzugeben. Doch ist dies hier nicht der Ort. Ich bin mit diesem Reizwort hierher geholt worden und werde, jetzt positiv, Position beziehen. Diese Position ist einer Reihe von phänomenologischen Philosophen und Humanwissenschaftlern verpflichtet. Als Ertrag meiner kritischen Auseinandersetzung mit ihnen und meiner Aneignung ihrer Gedanken in Assimilation und 40

Akkomodation lassen sich die nachfolgenden Thesen und Konzepte nicht immer eindeutig einem der gemeinten Autoren zuordnen, unter denen ich vor allem Husserl, Merleau-Ponty, Gurwitsch, Schütz, aber auch E. Straus, Buytendijk und Linschoten nenne. Und Position beziehen will ich in dem Sinne, daß ich versuche darzustellen, was "phänomenologisch" für mich in erster Linie bedeutet: Nicht eine philosophische Schule oder eine psychologische Metatheorie oder gar Theorie, sondern eine methodologische Haltung, human wissenschaftliche Probleme zu sehen, zu reflektieren und entsprechend Fragen zu stellen. Als problemzentrierte Haltung ist sie nicht fixiert, deshalb auch nicht im Sinne eines Methodenkanons kodifiziert. Ihre Offenheit ist ihre Stärke und Schwäche.

1 . 2 . Phänomenologische Analyse als Strukturanalyse der intentionalen Person-Umwelt-Interaktion Durch alle Variationen phänomenologischer Analysen hindurch hält sich die Kernannahme der intentionalen Person-UmweltBeziehung (im Sinne von Herrmanns selbst nicht zur Disposition stehender Annahme über einen Forschungsbereich (Herrmann 1974)). Intentionalität bezeichnet einen Grundzug menschlichen Bewußtseins (Erlebens) und Handelns (Verhalt e n s ) , nämlich sein Gerichtetsein auf etwas, das als vom jeweiligen Gerichtetsein unabhängig gemeint wird. Dies gilt für die sinnlichen und nicht-sinnlichen Modalitäten des Bewußtseins wie für die unterschiedlichen sonstigen Modi des Sich-zu-etwas-Verhaltens (Graumann 1960; 1984). Während der Begriff des Sichverhaltens immer ein intentionales Korrelat impliziert (ganz im Unterschied zum behaviorBegriff, dessen Paradigma der unbedingte Reflex war), gibt es mentale Zustände, wie z . B . Stimmungen, über deren intentionalen Charakter man streiten kann. Ich will auf diese von Husserl (1900/01; 1968) bis Searle (1983) reichende Kontroverse hier nicht näher eingehen; ich sehe auch in den bspw. von Searle ausgenommenen Zuständen der Erleichterung, Verstimmung und Angst das (vielleicht unspezifische, weil generalisierte, und dem Verstimmten und Ängstlichen nicht unbedingt bewußte) intentionale Korrelat der verstimmenden und Angst machenden Welt. Für mein heutiges Thema beschränke ich mich auf die Artikulation der Kernannahme der durchgängigen Intentionalität subjektiver Existenz, gleich ob es sich um bewußte 41

oder unbewußte, absichtliche oder unabsichtliche Modi des (Lewin'sch gesprochen) realen oder irrealen Sich Verhaltens handelt. Dadurch, daß jedem dieser intentionalen Zustände und Akte ein Korrelat (Objekt) zugeordnet ist, zu dem sich das intentionale Subjekt (die Person) als zu einem unabhängig vom jeweiligen Zustand oder Akt Existierenden verhält, ist Intentionalität die Bezeichnung für ein aktives Verhältnis, dessen Relate, Person und Umwelt genannt, prinzipiell zusammen gesehen werden müssen: Personen, ob als Individuen oder Gruppen genommen, immer auf ihre Umwelten bezogen; Umwelten im Wortsinne immer um Personen und Gruppen, für sie existierend. Diese prinzipielle intentionale Verklammerung von Person und Umwelt impliziert ein erstes methodologisches Postulat phänomenologischer Analytik. Deren Einheit ist nicht das Individuum für sich genommen, in seinem "Erleben" und "Verhalten", in diesem oder jenem objektiv für sich genommenen Weltausschnitt ("Reizkonstellation"), sondern diese intentionale PersonUmwelt-Relation. Bei aller notwendig werdenden Zergliederung darf also der relationale Charakter nicht "aufgelöst" werden: Wer sich für Personen (Individuen, Gruppen oder Klassen von Personen) interessiert, sucht in der phänomenologischen Einstellung deren Umwelten auf, und umgekehrt werden Umwelten als person-, gruppen-, klassen- oder auch artspezifische Korrelate des jeweiligen Verhaltens aufgesucht und rein in dem Maße und in den Grenzen untersucht, wie die entsprechenden Subjekte sich dazu verhalten. Mit anderen Worten läuft Intentionalanalyse immer auf Situationsanalyse hinaus, weil das intentionale Subjekt als prinzipiell situiert verstanden wird. Ich komme darauf zurück. Zuvor will ich auf zwei Implikationen der Intentionalitätsannahme hinweisen, die zugleich den Unterschied der phänomenologischen zu subjektivistischen und objektivistischen Orientierungen deutlich machen sollen. 1. Wenn im phänomenologischen Verständnis Verhalten immer meint, daß ich mich zu etwas verhalte, das ich als unabhängig von diesem Verhalten intendiere, dann kommt der Intentionalität des Verhaltens insofern objektivierende Funktion zu, als ich mich darauf verlasse, daß ich mich ein und derselben Sache in wechselnden Akten und Sichtweisen als einer identisch bleibenden zuwenden kann, wieder auf dasselbe zurückkommen kann, mit anderen darüber reden, mich verständigen und auseinandersetzen kann, daß der Sache, etwa einem Wahrnehmungsding, etwas zustoßen kann usw. Durch die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsweisen 42

bewahre ich intentional die Sache selbst in ihrem Sinn, auch über ihre (beispielsweise physische) Existenz hinaus. Alle Objektivationsleistungen philosophischer Reflexion wie vor allem wissenschaftlicher Forschung sind in dieser objektivierenden Funktion intentionalen Verhaltens fundiert. Andererseits wird die (noematische) Identität eines Gegenstandes oder Sachverhalts als dessen Sinn immer nur in der Phänomenalität der Abschattungen und Aspekte erfahren, die der jeweiligen Perspektive der Person entsprechen. Es gibt kein davon abgelöstes Erkennen oder Erfassen eines Sinnes; Sinn ist also, phänomenologisch verstanden, weder etwas, das in der Innerlichkeit eines Subjektes noch in der Natur von Objekten zu suchen ist, sondern wird in der intentionalen Auseinandersetzung von Person und Umwelt konstituiert. 2. Die zweite Implikation der Intentionalitätsannahme ist damit bereits deutlich geworden. Im gleichen Maß, wie in der Intentionalität des Verhaltens die subjektunabhängige "Objektivität" der Verhaltensumwelt gewahrt ist, wird in ihr die potentielle Sinnhaftigkeit konstituiert. Umwelt e r scheint primär als "sinnhaft-für" (in den Modalitäten des Sinnvollen, Sinnlosen, Sinnwidrigen e t c . ) , wiederum für einzelne wie für soziale Gruppen, Kategorien, Kulturen. Sichverhalten heißt dann prinzipiell sich zu Sinnhaftem verhalten, ist die Schaffung, Wahrung oder Veränderung eines Sinn-Verhältnisses zu realen oder idealen Personen oder Objekten. Muß ich anfügen, daß eines der Sinnkorrelate unseres Verhaltens die eigene Person in einem ihrer Aspekte sein kann? Alle Bestimmungen der Intentionalität treffen voll auf das (reflexive) "Selbstverhältnis" zu. Ich habe eingangs die intentionale Person-Umwelt-Beziehung in Abweichung vom traditionellen phänomenologischen Sprachgebrauch als Interaktion bezeichnet. Dieser Begriff bedarf der Erläuterung; denn Intentionalität darf nur menschlichem (und tierlichem) Bewußtsein und Verhalten, nicht aber den Dingen unserer Umwelt zugeschrieben werden. Gleichwohl wirken diese Dinge auf uns in "purer Kontingenz": das Auto bleibt uns plötzlich stehen, das Messer schneidet mir in den Finger, ein Familienmitglied wird krank und stirbt. In Ärger, Schmerz und Trauer sind wir (intentional) betroffen über das, was uns widerfährt. Waldenfels (1980, 98 f f . ) hat an Beispielen der Widerfahrnis die Gegenüberstellung von Intentionalität und Kausalität reflektiert und damit die Reinheit der Scheidung von personalistischer 43

und naturalistischer Einstellung, wie sie Husserl (1952) im Interesse einer Phänomenologie vollzog, in Frage gestellt. Ich will von dieser Grenzfrage nur einen Aspekt aufgreifen, der das Verständnis von Intentionalität anreichern soll. Es gehört zu unserer Erfahrung von Welt, daß den Dingen wie Personen ein Eigenleben bzw. eine für uns opake Eigenständigkeit und Eigenaktivität zukommt, die, meist unvorhersehbar, als Kontingenz des Faktischen uns überfällt. Diesen sinnfreien Rest, der, wenn wir ihm begegnen, nachträgliche Sinngebung geradezu verlangt, ordnen wir als Möglichkeit, und sei es als Zufall, in den Horizont aller Erfahrung ein. Das bringt uns zu einer weiteren Explikation der Intentionalitätsannahme, die uns den Charakter phänomenologischer Analyse als Strukturanalyse von Situationen verdeutlichen kann.

1.3. Phänomenologische Analyse als Strukturanalyse von Situationen Man kann die intentionale Person-Umwelt-Relation bereits als das für eine Situation konstitutive Element ansehen. Der Charakter der Situiertheit ergibt sich aber auch aus dem weiteren Kontext. Er ist einmal dadurch konstituiert, daß jede einzelne Erfahrung, jede einzelne Praxis, wie Husserl (1948, 25) es formuliert hat, ein Weltbewußtsein "im Modus der Glaubensgewißheit" voraussetzt, ohne dessen "passive Vorgegebenheit" eine einzelne Zuwendung des erkennenden oder praktischen Interesses nicht möglich wäre. In diesem Sinne ist keine Leistung ohne Vorerfahrung, ohne Voraussetzung. Jede Erfahrung hat aber auch insofern ihren Horizont, als das, was sich mir in seiner Identität jetzt so zeigt, sich schon so und so gezeigt hat und auf weitere Möglichkeiten seiner Erfahrbarkeit verweist. Das ist unmittelbar einsichtig bei der Wahrnehmung von Personen und Dingen, gilt aber für alle Erkenntnis, wobei phänomenologisch die Entgegensetzung von Erkennen und Handeln wegen der durchgängigen intentionalen Struktur entfällt: Sie gilt für präreflexives Tun, planvolles Handeln wie für habitualisiertes Verhalten. Der Horizont der Erfahrung ist also wesentlich der "Spielraum von Möglichkeiten" (Husserl, a . a . O . , 27) für weitere Erfahrung. Am "Innenhorizont" desselben Objekts und am "Außenhorizont" der Mitobjekte, auf die ein Subjekt perspektivisch verwiesen wird, kann sich die als antizipatorisch gekennzeichnete Erfahrung bestätigen. 44

Zum phänomenologisch verstandenen Verhalten gehören also gleichwesentliche Verhaltensmöglichkeiten, das intentionale Korrelat solchen Verhaltens ist horizonthaft, also potentiell offen. Zum Gesehenen gehört das Ungesehene; das Sichtbare wird vom Nichtsichtbaren, das Sinnliche vom Nichtsinnlichen, allgemein das Wirkliche vom Möglichen mitkonstituiert. In diesem Sinne ist alle Erfahrung induktiv; es gibt kein letztes. So ist die Welt, aus der heraus und zu der wir uns verhalten, als Möglichkeitsraum offen. Zugleich aber ist sie uns vorgegeben als selbstverständlich geltende. Im Ausgang von der alltäglichen Praxis, den phänomenologische Analyse nimmt, treffen wir auf die Fülle der als selbstverständlich, als "natürlich" geltenden, d . h . nicht zu Erkenntniszwecken eigens thematisierten und herausgestellten Dinge und Sachverhalte, von denen der Einzelne "alltäglich" als etwas Gegebenem ausgeht. Husserl nennt diese "Lebenswelt" die der anonymen Subjektivität (Husserl 1962, 114). Die alles andere als "natürliche" oder "objektive" Bedeutung oder Funktion vieler Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt muß in der phänomenologischen Analyse auf ihre Konstitution geprüft und damit aus der (verdinglichten, versachlichten) Anonymität herausgehoben werden. Die Lebenswelt, für Husserl der "Rechtsgrund" auch aller Wissenschaft, ist, vor allem in ihrer sozialen Struktur und ihren Realitätsgraden von Schütz (1971) bzw. Schütz & Luckmann (1979/1984) sehr detailliert und - ich glaube - für eine soziale Sozialpsychologie sehr fruchtbar analysiert worden. Die Lebenswelt, etwa in konkreten Situationen der Arbeit, der Freizeit, des Lernens usw., bleibt thematisch der Ausgangspunkt phänomenologischer Analytik. Ich muß es mir versagen, die aus der Grundannahme der Intentionalität sich herleitende Horizontstruktur lebensweltlicher Situationen weiter auszufalten, möchte jedoch auf einige thematische Implikationen aufmerksam machen, die sich aus der skizzierten Struktur für die phänomenologische Strukturanalyse ergeben. Da dies bereits an anderen Stellen dargestellt worden ist, müssen Hinweise genügen (Graumann 1960, 1984; Graumann & Metraux 1977; Graumann & Wintermantel 1984; Linschoten 1953). 1. Die unverkürzte Deskription des situierten Subjekts muß ausgehen von seiner Leiblichkeit. Nicht nur, weil Subjekte einen Ort haben, von wo aus sie wahrnehmen und handeln und ihm entsprechend ihre Umwelt wahrnehmen und behandeln. Auch der körperlichen Verfassung entsprechend stellt sich der Sinn von Dingen, Ereignissen, Zustän45

den je anders dar, etwa dem Gesunden, dem Kranken, der Schwangeren, der Kleinen, dem Übergewichtigen, dem Körperbehinderten usw. Die Psychologie mit ihrer cartesianischen Leib-Seele-Trennung hat sich ja auf mentale Zustände und "Prozesse" beschränkt und das "Somatische" der Medizin überlassen. Für die intentionale Person.-WeltVerklammerung hingegen ist die dichotome Trennung von Physis und Psyche fragwürdig, die Unterscheidung sekundär. Die durch Scheler vorbereitete, durch Merleau-Ponty ausgeführte Bestimmung des phänomenologischen Subjekts als Leib-Subjekt (Merleau-Ponty 1966; vgl. Plügge 1967), lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf den gelebten Leib, den ein im übrigen geistiges Subjekt "auch" hat und unmittelbar erfährt. Sie bewahrt - im Unterschied zu anderen subjektwissenschaftlichen Konzeptionen davor, die "kognitive" oder "reflexive" Kompetenz des Subjekts zu verabsolutieren. Vielmehr liegt in der Kontinuität von der leiblichen "vorprädikativen" Erfahrung bis zum reflektierten Erfassen eine Fundierungsannahme, die nicht nur phylogenetische Hominisierung und historische Humanisierung zu vereinbaren gestattet, sondern auch dazu geeignet ist, die Barriere zwischen den Konzeptualisierungen von bewußtem und unbewußtem Seelenleben abzutragen. 2. Das Korrelat der Leiblichkeit des phänomenologischen Subjekts ist die Materialität und Räumlichkeit der intentionalen Umwelt (Taylor 1964), die sich uns als nah oder fern, handhabbar, greifbar, zu Fuß oder per Auto erreichbar, unerreichbar, als fruchtbar-unfruchtbar, eßbar-ungenießbar, brauchbar-unbrauchbar, aber auch als abstoßend-häßlich, verlockend-schön, als Mittel und als Zweck darbietet, aufzwängt, beziehungsweise von uns so bestimmt wird. Es sind diese menschlichen Qualitäten und Valenzen der dinglichräumlichen Umwelt, in denen sich Art und Maß unserer Aneignung, aber auch Entfremdung zeigen. Linschoten hat, um die menschliche Qualität der intentionalen Umwelt zu kennzeichnen und sie von der naturwissenschaftlich konzipierten Geographie abzuheben, von "Landschaft" gesprochen (Linschoten 1953). Als Korrelat meiner intentionalen Zustände (der Hoffnung und Befürchtung, des Liebens und Hassens), meines geistigen Verhaltens (Nachdenkens, Zweifeins, Träumens) "ist" die intentionale Umwelt auch geistige Welt, Traumwelt, Phantasielandschaft , meine Wahrnehmungswelt durchdringend, überlagernd, über sie hinausführend. 3. Das in der Horizontstruktur beschlossene Zusammenwirken des Wirklichen mit dem Möglichen bringt die Zeitlich46

keit der Erfahrung, allgemeiner die Historizität des Situiertseins zum Vorschein. Nicht nur die eigene Erfahrung fundiert jede weitere eigene und läßt noch weitere antizipieren. Andere Personen wie die Dinge selbst "haben" ihre Geschichte in der sich durch alle Erscheinungsweisen durchhaltenden Identität. Ihre Geschichte ist nicht meine, aber sie werden mit ihrem Alter Teile meiner Geschichte. Menschen werden so in die Geschichten anderer "verstrickt", wie es Schapp (1976b) formuliert hat. Für ihn, der sich von einer Phänomenologie der Wahrnehmung (Schapp 1910/1976a) zu einer Philosophie der Geschichte (Schapp 1975) entwickelt hat, in der alles, Mensch wie Ding, primär und nur in Geschichten erfahrbar ist, fallen "Welt und Geschichte, in die wir verstrickt sind, zusammen" (1975, 143). Erfahrbar aber heißt hier, kann nur heißen, erlebbar und deutbar. Über diese geschichtliche Welt kann sich niemand erheben; das aber heißt auch, den Schatten der Sprache nicht überspringen (vgl. Welter, i . D r . ) . Geschichte und Sprache sind nicht trennbar. Das bringt uns zu einer letzten Thematisierung intentional verstandener Situationen, zu ihrer prinzipiellen Sozialität. 4. Zu unserer Geschichte - "meine" Geschichte gibt es streng genommen nicht (Schapp 1975, 180) - gehören nicht nur immer von Anfang an die Anderen, mit denen wir, soweit wir denken, in Kommunikation stehen, ihre, das heißt wiederum unsere Sprache sprechend. Unser Erfahrungshorizont wird durch den Horizont der Mitmenschen eröffnet, erweitert, beschränkt. Jeder Mensch hat von Anfang an seine - wie es Husserl (1962, 369) nannte "Mitmenschheit" und damit Anteil am "Menschheitshorizont". Dazu gehört und ihn legt aus die Sprache. "Menschheit ist vorweg als unmittelbare und mittelbare Sprachgemeinschaft bewußt" ( e b d a . ) . Alles, was sich im "Wir-Horizont" einer Sprachgemeinschaft findet und ansprechbar ist, ist "da", existiert, prinzipiell erfahrbar, verfügbar. Welt für alle setzt Menschen in ihrer allgemeinen Sprache voraus (Husserl, a . a . O . , 370). Aussprechbar ist aber auch, was nicht ist oder nicht so ist, wie es Sprache nahelegt. Sprache selbst fungiert nicht nur als Medium und Organon, sondern wird selbst zum intentionalen Korrelat, das die Noemata der Anschauung, der unmittelbaren Erfahrung überlagern, eine Art zweite Wirklichkeit schaffen kann (vgl. Husserls "Verführung der Sprache", a . a . O . , 372). Ich habe das Inten tionalitätskriterium der Sozialität, das kommunikative personale Situiertsein, zuletzt genannt, weil die erstgenannten Kriterien in es eingehen. Doch es 47

gilt wechselseitige Bedingtheit: Die Leiblichkeit intentionaler Subjekte erfahren wir zuerst an anderen bzw. durch andere an uns; die intentionale Umwelt bewohnen wir mit anderen und haben gelernt, sie uns anzueignen durch Arbeit, Sprache und Kunst. Was vor allem Merleau-Ponty (1976) in seiner phänomenologischen Strukturanalyse des Verhalten^ als die "Dialektik" der "menschlichen Ordnung" bezeichnet, ist durch das Wechselspiel der genannten einander bedingenden Strukturelemente charakterisiert, entscheidend aber durch die in der Horizontstruktur von Situationen begründeten Fähigkeit, alle Gebilde, sozialen oder kulturellen Strukturen, die uns, wenn sie einmal geschaffen sind, begrenzen und einengen, "zu negieren und zu übersteigen" ( a . a . O . , 202). Erst darin wird die menschliche Freiheit, sich zu verhalten, deutlich und vom animalischen, an Auslösebedingungen gebundenen Verhalten unterscheidbar, wird die dieser Freiheit entsprechende Horizontstruktur, das heißt Offenheit intentionaler Umwelten einsichtig, die die relative Gebundenheit tierlicher Umwelten prinzipiell transzendiert. So weit die Ausfaltung des Intentionalitätskonzepts, mit deren Hilfe die Ansätze zu einer Phänomenologie des Sichverhaltens als Person-Umwelt-Interaktion skizziert werden sollten.

2. Zur phänomenologischen Methode Auch wenn bisher explizit von Konzepten und Themen phänomenologischer Analytik die Rede war, dürften methodologische Gebote und sicher auch Verbote erkennbar geworden sein. Ich will, um dem Problem der Vermittlung zwischen phänomenologischer Analyse und experimenteller Methodik näherzukommen, einige Funktionen der phänomenologischen Arbeitsweise voranstellen, von denen ich glaube, daß sie zwar völlig anders sind als die des experimentellen Verfahrens, nicht aber dazu im Widerspruch stehen.

2 . 1 . Die kritische Funktion Mir ist klar, daß man gerade im Rahmen eines Kongresses für Kritische Psychologie, mit dem Begriff "kritisch" eine ähnliche Skepsis hervorrufen kann wie mir gegenüber mit 48

"phänomenologisch". Also was heißt phänomenologisch "kritisch"? Nicht mehr, aber auch nicht weniger als die gründliche Bewußtmachung und Prüfung der eigenen Voraussetzungen und Vorannahmen. Das Ziel dieser kritischen Prüfung ist nicht die "Voraussetzungslosigkeit", sondern die Voraussetzungsbewußtheit, natürlich gepaart mit der Bereitschaft, aus dieser Bewußtheit gegebenenfalls methodologische Konsequenzen zu ziehen. Ich weiß, daß sich dieses methodologische Postulat für manche Forscherkollegen (vor allem für die forschen) problemlos anhört, weil sie glauben, dies eh immer zu tun. Sie haben und kennen ihre Theorie oder ihr Modell und machen, frei nach Duncker, Problemanalyse, Zielanalyse und Mittelanalyse, generieren daraus ihre Hypothese, wählen sorgfältig ihr Design, wissen genau, welcher Datentyp welche Prüfverfahren gestattet, suchen das optimale (oder gleich mehrere) aus und geben am Schluß eine "zurückhaltende" Diskussion - alles lege artis; die Veröffentlichung im Fachjournal ist ziemlich sicher. Andere - und ich denke, eine wachsende Zahl von Fachkollegen - wissen, daß die sechs oder acht Verfahrensschritte, die ich eben gemeint habe, ebenso viele Fallen sind, bzw. daß die Tücken in den Verhältnissen zwischen den Schritten, etwa zwischen Theorie und Methode, stecken. Für sie ist das obige methodische Postulat alles andere als harmlos; es ist geradezu forschungsbehindernd. Tatsächlich ist das Bewußtmachen der in eine Problemstellung eingehenden Vorannahmen deswegen nicht leicht, weil wir uns allzuoft der Annahmen nicht bewußt sind, oder wenn, dann nicht ihrer möglichen ideologischen Funktion. Hans Linschoten, der von der Wirksamkeit der "silent assumptions" überzeugt war, hat einmal gescherzt, daß man, um da ranzukommen, eine kleine Psychoanalyse brauche. Aber die Klärung der wissenschaftlichen Voraussetzungen muß nicht bis zur Motivforschung, bis zur Psychologisierung der Wissenschaft als Handlung, getrieben werden. Was jedoch seit Husserl für die phänomenologische Arbeitsweise, auch von Wissenschaftlern, immer wieder gefordert wurde, ist die Reflexion auf die Theorie, die Begrifflichkeit, und die Wahl des Zugangs und der Methode, sowie nicht zuletzt deren Verhältnisse untereinander. Reflexion heißt hier vor allem, Implikationen erkennen. Robert MacLeod (1947) sah im "phänomenologischen Ansatz zur Sozialpsychologie" wesentlich die kritische Aufklärung von "impliziten Annahmen" wie z.B. das organizistische Vorurteil, das genetizistische, den Soziologismus, Logizismus, Reduktionismus, Relativismus. 49

Wer heute die impliziten Annahmen derjenigen, die sich kognitiv oder Kognitivisten nennen, auflistete, käme auf eine nicht minder bunte (und deprimierende) Liste. Man kann aber, auch noch ohne Psychoanalyse, hinter die Ismen zurückfragen und, wie es Billig 1982, ebenfalls für die heute beliebtesten sozialpsychologischen Theorien und Theoretten, getan hat, die ideologische Herkunft bzw. Funktion des durchgängigen Individualismus herausarbeiten, was bezeichnenderweise nur dadurch möglich war, daß er die historisch immer wieder durchbrechende ideologische Funktion des Ideologiekonzeptes selbst aufdeckte. Mir ist klar, daß die oft genüßliche Aufdeckung latenter Annahmen der anderen ein weitverbreitetes Spiel ist. Demgegenüber wird der phänomenologische Rückgang auf das "irreflechi" der Forschung vom Forscher selbst, also als Bemühung um Selbstkritik, gefordert. Dazu gehört, wie es vor allem Giorgi (1970) versucht hat, auch die ausdrückliche Einbeziehung des eigenen Ansatzes in die Problemstellung. Schließlich - und das ist im Rahmen unseres Themas von besonderer Wichtigkeit - ist die Klärung der Voraussetzungen der eigenen Methode selbst Voraussetzung für die Entscheidung, wann und in welchen Grenzen die phänomenologische mit anderen Methoden kombiniert werden darf. Daß die Kritik sich gegen liebgewordene Denkweisen und Begriffe richtet, ist auch ein direkter Beitrag zu der zweiten, immer als besonders wichtig angesehenen Funktion phänomenologischer Analyse, der deskriptiven.

2 . 2 . Die deskriptive Funktion Die ausführliche Explikation der Intentionalität des Verhaltens sollte dazu dienen klarzumachen, daß phänomenologische Deskription etwas wesentlich anderes ist als übliche Verhaltensbeobachtung und -beschreibung. Daß wir uns zu etwas immer in einem bestimmten Sinne verhalten, oder pointiert: zum Sinn von etwas verhalten (wobei ich vereinfachend Bedeutung, Wert, Zweck, Funktion unter Sinn subsumiere), hat mehrere methodologische Implikationen, für die Art der Beobachtung wie die der Beschreibung.

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Beobachtung Die Beobachtung kann keine rein äußere sein, für die das Verhalten und sein Gegenstand schon voll konstituiert sind oder gar - wie im Fall der Verwendung eines theoretisch deduzierten Kategoriensystems vorgegeben konstruiert sind. Vielmehr ist die phänomenologische Beobachtung auf die (Sinn-)Konstitution selbst gerichtet, wie sie sich im konkreten Verhaltensakt vollzieht. Das objektiv ("geographisch") identische Objekt wird vom gleichen Subjekt nicht immer im gleichen Sinn behandelt bzw. "interpretiert". Daß dies manchmal durch die Art und Weise, wie ein Ding behandelt wird, manifest = beobachtbar wird, manchmal nur durch zusätzliche kommunikative Vergewisserung bei der handelnden Person deutlich wird, ist bekannt; doch es gibt aus ebenso bekannten, weil psychologisch recht gut aufgeklärten Gründen eine Fülle von Situationen, wo die Beobachtung nicht ausreicht, die Befragung nicht möglich oder nicht sinnvoll ist. Hier greift der Psychologe, wenn er kann, zur experimentellen Manipulation der Bedingungen oder, wenn er nicht kann, ersatzweise oder vorläufig zur Korrelation von objektiv fixierten Merkmalen; beides im naturwissenschaftlichen Verständnis Verlängerungen oder Varianten systematischer Beobachtung. Für die Orientierung an der Intentionalität bzw. Sinnhaftigkeit des Verhaltens wäre beides keine Alternative (ob ein Komplement, bleibt zu diskutieren). Wie bei der Frage, ob ein beobachtbares Verhalten eine bestimmte Handlung ist, wird in der phänomenologischen Orientierung die Interpretation verlangt, deren Bewährung auf verschiedenen Wegen versucht werden kann, die aber prinzipiell offen bleibt. Dabei bleibt die möglichst enge Bindung an die Beobachtung (Anschauung) eine Grundforderung phänomenologischer Forschung, die sich aus der Auffassung begründet, daß ohnehin, was wir gemeinhin "Beobachtung" und was wir "Interpretation" nennen, im konkreten Vollzug untrennbar ist, aber durch die Prüfung der Vorannahmen (tendenziell) aufklärbar. Das Bewußtsein, letzte Gewißheit über die (Subjekt-) Angemessenheit einer Interpretation nicht erreichen zu können, das in der Regel den um Objektivität und Sicherheit bemühten Wissenschaftler davon abhält, überhaupt "Sinnfragen" zu stellen, muß den phänomenologisch Arbeitenden dazu führen, in der wechselseitigen Kontrolle von Anschauung und Reflexion diese Angemessenheit zu approximieren. 51

Anschauung und Reflexion (dies nur als Anmerkung) werden wohl als Grundlagen wissenschaftlicher Methodik akzeptiert, als Methoden spielen sie keine Rolle; sie werden nicht gelehrt. Die Verbindung der kritischen mit der deskriptiven Funktion hat im übrigen in den phänomenologisch orientierten Humanwissenschaften zu einer methodischen Haltung geführt, die man die "ethnologische" oder "ethnographische" nennen kann: Handlungsweisen und Situationen, vor allem von alltäglicher Vertrautheit, so zu beobachten und zu beschreiben, wie es ein Ethnologe tun muß, der mit einer fremden Kultur in allererste Berührung kommt, also ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse über Religion, Sitte, Produktionsweise, Sozialstruktur. Das ist natürlich nur (und in Grenzen) möglich durch eine Technik der Epoche, d . h . der bewußten "Einklammerung" der als gültig geltenden Theorien und Überzeugungen über den jeweiligen Sachverhalt. Eine derartige "anthropologische Attitüde" würde beispielsweise der Sozialpsychologie neue Erkenntnisse bescheren; zu einer Anthropologie des Wissens und der Wissenschaft liegen bereits Ansätze vor (Mendelsohn & Elkana 1981); ein ethnologisch geschulter teilnehmender Beobachter dieses Kongresses müßte mit Hilfe der Technik der Epoche zu einer anderen Beschreibung kommen als ein noch so geschulter Beobachter, der auch als Beobachter immer weiß, was ein Kongreß " i s t " . Beschreibung Beobachtung, sagen wir in der Wissenschaft, dient der Beschreibung; denn nur diese geht, wenn überhaupt, in den Corpus der Wissenschaft ein. Der Phänomenologe tendiert dazu, es umgekehrt zu sehen, wenn er in der Anschauung den letzten Rechtsgrund aller Erkenntnis sieht. Damit ist prinzipiell das Problem des Verhältnisses von Anschauung und Sprache aufgeworfen, das in der Weiterentwicklung der Phänomenologie bis zum heutigen Tage an Gewicht gewonnen hat und nicht ausdiskutiert ist. Ich kann auf dieses Problem und damit auf die Phänomenologie der Sprache, der Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, hier nicht eingehen, aber für die methodologische Absicht dieses Beitrages auf einige Implikationen der Husserlschen Forderung nach getreuer Begrifflichkeit aufmerksam machen. "Getreu" meint hier phänomengetreu, und das heißt zu versuchen, die Art und Weise, wie etwas jemandem erscheint und Sinn für ihn hat, auch sprachlich möglichst adäquat 52

zu fassen, um nicht (und das entspricht wieder der kritischen Funktion) durch gängige, aber vielleicht unreflektierte Bedeutungen von Alltagswörtern oder Fachausdrücken gerade das zu verdecken, was man ans Licht bringen will. Die Angemessenheit einer Deskription findet nicht ihre Rechtfertigung in der Übereinstimmung mit wissenschaftlichen (theoretischen) Konstrukten. Aus phänomenologischer Sicht müssen sich wissenschaftliche Begriffe gegenüber der sprachlich adäquat ausgelegten Erfahrung ausweisen und durch sie legitimieren lassen; übrigens ein phänomenologisches Grundverständnis von Empirie. Für die Human- bzw. Sprachwissenschaften ergibt sich hieraus eine sehr wesentliche Konsequenz, die vor allem A. Schütz, der wohl bedeutendste Vermittler zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaften, expliziert hat. Bei der Ausfaltung der Struktur intentionaler Situationen war festzuhalten, daß unsere originäre Welterfahrung immer schon, das heißt von klein auf und von je her, sprachlich vermittelte und damit in der Sprache interpretierte Erfahrung ist, die wir mit anderen (in einem empirisch zu prüfenden Ausmaß) teilen. Wie Schütz (1971; vgl. Schütz & Luckmann 1979/1984) im einzelnen gezeigt hat, "enthält" die lebensweltliche Sprache nicht nur die Benennungen der Personen, Dinge und Sachverhalte unserer engeren und weiteren, realen und idealen Umwelt, sondern auch die Normen und Regeln für unseren Umgang mit anderen, anderem und uns selbst, kurz: das "verfügbare Wissen". In dem Maße, wie der Sozialwissenschaftler, an diesem Wissen, den Normen und Regeln interessiert, zu entsprechenden wissenschaftlichen Konstruktionen kommt, sind derartige Konstruktionen sekundär gegenüber den schon lebensweltlich geltenden. Als Konstruktionen von Konstruktionen ist ihr Fundierungsverhältnis (das die Naturwissenschaft nicht kennt) auszuweisen. Insofern sind im Unterschied zur Naturwissenschaft "besondere methodologische Verfahren" gefordert: Verfahren letztlich, die die Rekonstruktion des Sinnes sichern, den das Handeln und die Situationen für diejenigen haben, auf deren Verhalten und Werke sozialwissenschaftliche Forschung gerichtet ist: die in ihrer sozialen Identität auf ihre intentionale Umwelt bezogenen Subjekte.

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3. Phänomenologische und experimentelle Analytik: Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung Ich habe die phänomenologische Analyse mit der Skizzierung der kritischen und der deskriptiven Funktion sehr selektiv behandelt, einmal aus dem Interesse der Humanwissenschaft heraus, zum anderen in Hinblick auf mein vorgegebenes Thema. Deswegen will ich auch abschließend das Problem der Vermittlung von der kritisch-deskriptiven Leistung der phänomenologischen Analytik her ansprechen. Wir kennen das wohlwollende Diktum: "Phänomenologie zur Beschreibung ist gut (aber teuer, weil zeitaufwendig), Wissenschaft aber muß erklären, kann also bei der Beschreibung nicht stehen bleiben. Wichtiger als Deskription ist die Bedingungsanalyse." Dagegen ist wenig zu sagen; aber ein paar Fragen sind angebracht. Sicher, Beschreiben ist nicht Erklären. Aber inwieweit ist das zweierlei? Es wird zweierlei, wenn Beschreiben zur wissenschaftlichen Deskription purifiziert wird, in der nur noch Objekte und Bewegungen als rein und intersubjektiv observable vorkommen. Alles, was nach Interpretation aussieht, fliegt raus. An deren Stelle tritt, nach der Deskription, die Kausalanalyse (etwa des Experiments). Das Dumme ist, die Sprache spielt da nicht mit; sie ist primär nicht Beobachtungssprache, sondern Umgangssprache. Wenn mir einer den Umgang mit dem neuen Rechner, die Konstruktion einer Luftpumpe oder den Weg zum Bahnhof beschreibt, hat er mir alles erklärt, was ich für mein alltägliches Handeln aber auch für meine alltägliche Neugierde, wie was funktioniert, brauche. Aber wie ist das mit dem "Psychischen"? Wenn einer sagt, er habe jetzt Hunger, beschreibt er da, wie ihm zumute ist, oder erklärt er etwas, das deskriptiv "Magenkontraktion" o . ä . heißen müßte, oder ist nicht vielmehr die Magenkontraktion eine Erklärung für das, was der Laie Hunger nennt? Die Frage scheint falsch gestellt, weil sie mit der Vermengung zweier Diskursarten spielt. Der Satz meines Gesprächspartners, "Ich hab jetzt Hunger", ist weder eine Beschreibung noch eine Erklärung, sondern die Bekundung der Intention "Ich gehe jetzt essen", was je nach Situation die Frage impliziert "Gehst Du mit?". Ich als Gesprächspartner "verstehe" nicht nur diese Intention, sondern jetzt auch, warum der andere unruhig geworden war, auf die Uhr guckte e t c . , also den Sinn dieses Verhaltens (vgl. Graumann & Wintermantel 1984). Beläßt man dem Verhalten den Sinn und damit seine prinzipielle Verstehbarkeit (was der behavior-Begriff aus54

schloß) und akzeptiert das so verstandene Verhalten in Situationen als Thema und die Rekonstruktion der Sinnstruktur situativen Sichverhaltens als methodische Aufgabe auch der Psychologie (und nicht nur der Soziologie, Anthropologie, Ethnomethodologie e t c . ) , dann entfällt für die phänomenologische Analyse die Entgegensetzung von Beschreibung und Erklärung. Die. Erklärung liegt in der intentionalen Beschreibung. Nun ist üblich gewesen, hier von "Verstehen" zu sprechen, und den Begriff der Erklärung der Kausalanalyse vorzubehalten. Lassen wir, ganz unreflektiert, gelten, daß Sinnverstehen und Kausalerklärung tatsächlich die wissenschaftshistorisch gängige Dichotomie bilden, dann lohnt sich für den Psychologen, der Frage einmal ernsthaft nachzugehen, wieviele sogenannte psychologischen Probleme sich lösen, wenn wir verstanden haben, aus welchen Gründen (allerdings tatsächlichen Gründen) Menschen so und nicht anders handeln, wenn wir rekonstruieren können, wie sie ihre Lage sehen und entsprechend handeln oder resignieren. Daß diese Probleme anderer Art sind als das der Bestimmung von Unterschiedsschwellen, des Intelligenzquotienten und der Ursachen für den "Tunneleffekt", sei unbestritten, und ich mache mich nicht anheischig, den einen Problemtypus in den anderen zu überführen. Ich gebe aber zu bedenken, ob nicht Anzahl und Bedeutsamkeit der ersteren Probleme größer sind, als es die Fachliteratur erkennen läßt - und damit auch das Feld möglicher phänomenologischer Arbeitsweisen. Die Darstellung der Intentionalanalyse sollte trotz der Kürze klar gemacht haben, daß eine Vermengung von phänomenologischer Beschreibung und (natur) wissenschaftlicher Kausalerklärung unzulässig ist. Das heißt aber nur, daß im Vollzug intentionaler Deskription wissenschaftliche Konstrukte illegitim sind, nicht aber, daß phänomenologische Analyse und experimentelle Bedingungsanalyse inkommensurabel wären. Sie sind es schon deswegen nicht, weil phänomenologische Beschreibung experimenteller Analyse nicht nur normalerweise vorangehen wird, sondern sich die experimentelle Fragestellung als eine gegenüber der phänomenologischen eingeengte durchaus aus ihr herleiten läßt. Das aber ist nur dann möglich und legitim, wenn das Prinzip der ersteren Methode nicht durch die anschließende in Frage gestellt wird. Es gibt bekanntlich trotz großer Verschiedenheit keinen prinzipiellen Dissens zwischen statistischem und experimen55

tellem Verfahren. Das erste verspricht Kontingente Zusammenhänge, das zweite, spezieller, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Korrelative Zusammenhänge können kausaler Art sein; aber das Verfahren gestattet keine Aussage darüber. Beide Verfahrensweisen können Zusammenhänge liefern, die man als Sinnzusammenhänge interpretieren kann; keines der beiden Verfahren gestattet eine Aussage darüber. Denn die Strukturen oder Zusammenhänge, die die phänomenologische Analyse sichtbar macht, haben ihre Legitimation in der explizit gemachten Subjektivität der Untersuchten, von denen die anderen Verfahren zugunsten objektiver "Merkmale" absehen. Aber das alleine ergäbe noch keine Inkompatibilität. Denn die Subjekte der phänomenologischen Analyse sind ja ebenso objektiv da und antreffbar, wie ihre intentionalen Umwelten da sind und zwar nicht nur für sie, sondern prinzipiell auch für die anderen, mit denen sie in einer (Sprach-)Gemeinschaft in Kommunikation stehen. Deshalb gilt - nach dem von Schütz (1971) herausgearbeiteten Prinzip der Reziprozität der Perspektiven - auch, daß wir, die wir die anderen an Merkmalen erkennen und nach Merkmalen klassifizieren (und diskriminieren), auch uns selbst als an Merkmalen erkennbare Mitglieder dieser oder jener Gruppe verstehen lernen. Daß diese Merkmale als objektive auch zählbar, meßbar, aber in Grenzen auch machbar (manipulierbar) sind, zählt zum alltäglichen "Wissensvorrat". Dies in der Analyse reiner Erfahrung aufzuweisen, stellt keine Sprengung des phänomenologischen Diskursrahmens dar. Der Schritt von der Sinnexplikation zur Experimentalanalyse ist in anzugebenden Grenzen möglich und in vielen Fällen nötig. Die phänomenologische Beschreibung legt die rein intentionale Struktur frei, innerhalb derer etwas oder jemand für genauer zu beschreibende Subjekte einen bestimmten Sinn ( z . B . eine "Valenz") hat. Wenn das, was beispielsweise - ausweichlich der phänomenologischen Deskription eine bei Kindern eines bestimmten Alters "Neugier" weckende "Valenz" hat, unter Sicherung dieser Valenz als Bedingung in eine Situation eingebracht wird, in der die Kinder das, was phänomenologisch Neugierde heißt, zeigen können, und für die Möglichkeit gesorgt ist, daß sie sich diesem wie auch anderen Dingen gegenüber auch anders verhalten können, ist weder gegen die Kontrolle noch gegen eine systematische Variation der "Valenzen" noch auch des Spielraums der Verhaltensmöglichkeiten ein Inkommensurabilitätseinwand möglich. Ihn muß man dann erheben, wenn eine physikalische Manipulation an die Stelle systematischer 56

Sinnvariation gesetzt wird und das intentionale Verhalten ihr gegenüber verkürzt und verfälscht, als ausschließlich von außen zu beobachtende "Reaktion", das heißt Wirkung einer letztlich physikalischen Ursache, interpretiert wird. Ich schließe, das Problem der Vermittlung zwischen phänomenologischer und experimentell-statistischer Methode reduziert sich auf das der Vereinbarkeit wissenschaftlicher Intentionen. Nicht ein Verfahren als solches, quasi als hardware, sondern die Intention, in der ich es einsetze und die mit ihm gewonnenen Ergebnisse auslege, entscheidet über die Vereinbarkeit, wobei ich zugebe, daß es Verfahren gibt, die reine Objektivationen der Phänomenologie entgegengesetzter Intentionen sind (z.B. Täuschungsszenarios, nicht aber die darin eingebetteten Experimentalbedingungen). Kurz: Zwischen Verfahren, die die Intentionalität des Verhaltens, die unzerstörbar ist, außer Acht lassen oder methodisch außer Kraft zu setzen versuchen, und der phänomenologischen Analyse ist keine Vermittlung zu rechtfertigen. Demgegenüber ist die kritische und deskriptive Leistung der phänomenologischen Analyse mit allen Verfahren vereinbar, die es zumindest zulassen, die vom Subjekt ausgehende Interpretation der Situation, also auch der Forschungssituation, zu rekonstruieren. Es gibt heute mehr Ansätze in dieser Richtung als Bezugnahmen auf eine phänomenologische Herkunft oder Orientierung. Aber Namen sollten minder wichtig sein als das wissenschaftliche Selbstverständnis, das dahinter steht und das oft genug erst "intentionalanalytisch" rekonstruiert werden muß.

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Schütz, A. (1971): Gesammelte Aufsätze I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Nijhoff. Luckmann, Th. (1979/1984): Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp. Searle, J . R . (1983): Intentionality. An essay in the philosophy of mind. Cambridge: Cambridge üniversity Press. Taylor, Ch. (1964): The explanation of behaviour. London: Routledge & Kegan Paul. - (1975): Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt: Suhrkamp. Waldenfels, B. (1980): Der Spielraum des Verhaltens. Frankf u r t : Suhrkamp. Welter, R. ( i . D r . ) : Der Begriff der Lebenswelt - Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München: Fink.

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III. Die Frage nach der Konstitution des Subjekts* Wolfgang Fritz Haug

"Subjektivität als Problem psychologischer Methodik", unser Kongreß-Thema, wirft sogleich Fragen der Begriffsbildung auf. Jedoch das "Subjekt" in Frage zu stellen, geht manchem gesunden Menschenverstand gegen den Strich. Daran hängt so viel buchstäblich Selbstverständliches, hängen so viele Formen, in denen wir uns spontan selbst verstehen. Wir fühlen und wissen uns "innen" und wollen uns "äußern". Subjekt, unklar übergehend ins Subjektive oder in Subjektivität ( 1 ) , ist wie ein Fließblatt, das sich vollgesaugt hat mit vielfältigen Bedeutungen: Bewußtsein, Denken, Reflexion... Ich, das Selbst und seine Zusammensetzungen mit Erfahrung, Findung, Verwirklichung... die Person und das Persönliche, übergehend in das Individuelle, je Eigne, vielleicht gar P r i v a t e . . . Da sind die konnotativen Seiten des Lebens, des Alltags, der Spontaneität angeschlagen. Die Eiswüste der Abstraktion und das Reich der Herrschaftsverhältnisse scheinen weit entfernt. Um was es hier zu gehen scheint, das bin "ich, wie ich mich und meine Welt hier und jetzt erfahre". Subjekt-Diskurse fassen einen Schwärm solcher Bedeutungen zusammen und beziehen ihre Selbstverständlichkeit aus dem alltäglichen Selbstverständnis. Wenn wir vom Subjekt sprechen, springt wie von selbst das Objekt in die Rede. Subjekt/Objekt sind polare Gegensätze, die einander ebenso ausschließen, wie sie unzertrennlich sind. Sie bilden das strukturierende Element eines binären Kodes. Sie fungieren wie ein Verteilungsautomat, der alles Vorkommende ins eine oder ins andere Fach wirft. Wie von selbst bilden sie ein Aggregat mit anderen polaren Paaren. Sie liieren sich mit Person/Sache, innen/außen,

* (Vieles von dem, was im folgenden nur gestreift werden kann, ist ausführlich entwickelt und belegt in der "Camera obscura des Bewußtseins" (Haug 1984).) 60

schließlich Bewußtsein/Sein oder Wesen/Erscheinung usw. Daß diese Paare nicht ganz "zueinander passen", tut der Selbstverständlichkeit, in der sie zu Hause sind (wie sie in ihnen) keinen Abbruch. Ihre Evidenz ist die eines geschlossenen Spiegelsystems: "innen" ist "nicht außen", spiegelt sich also in seinem Gegenteil, wie dieses sich in ihm. Der Versuch, diese Einschließung selber zum Erkenntnisgegenstand zu machen, also das Ideologische als gesellschaftliche - und das heißt "äußere" - Anordnung zu begreifen, zieht sich alsbald den Verdacht zu, die Individuen würden so "nur noch als passive Objekte f des Ideologischen 1 auftauchen" (Steil 1984, 14). Das Gegenteil ist der Fall. Unter der Charaktermaske des Subjekts und des Objekts müssen erst die handelnden Individuen, ihre Vergesellschaftungsformen und ihre materiellen Lebensbedingungen naturale wie produzierte - auftauchen. Manche mögen das Problem der Kategorien abtun als "theorielastig", um von der Last der Theorie so viel als möglich abzuwerfen. Sie unterschätzen die praktische Macht der Kategorien. Die Kategorien gelten ihnen als Spielmarken, durch Konvention festlegbare, im Grunde beliebige Sprachregelungen, für deren vernünftige Bedeutung sie schon aufkommen zu können glauben. Aber das ist eine Illusion. Die Kategorien bilden ein Netzwerk; einzeln ist ihnen nicht beizukommen. Sie gleichen darin der Anlage einer Stadt. Sie schreiben Wege vor, blockieren hier eine Richtung, kanalisieren dort eine andere. Ihr Ensemble stellt ein Geflecht von Artikulationsmöglichkeiten dar. In ihnen äußern und bewegen sich Praktiken, bilden sich Objekte und Ziele der Erkenntnis wie Projekte des Eingriffs. Wir mögen uns einbilden, wir seien ihre souveränen Subjekte, die über sie verfügen und sich ihrer bedienen. Aber dieses souveräne Subjekt existiert nur in seiner Einbildung. Die Anlagen der Kategoriennetze produzieren unzählige Diskurse. Und wir diskurrieren darin, laufen hin und her in diesem Netz. Unser "Subjekt" ist eher von dieser Anlage konstituiert, als daß wir über sie verfügten. So unbrauchbar Hegels metaphysisches Schema ist, so recht hat er mit seiner Behauptung von einer Dialektik solcher Ordnungsbegriffe wie Subjekt/ Objekt, die auf den gesunden Menschenverstand wirkt wie zum Verlieren desselben. (2) Die spontane Metaphysik der philosophischen Sedimente aufzusprengen, worin jene Kategorien festliegen, wird zur Lebensbedingung für eine Theorie gesellschaftsverändernden Handelns. Die Frage nach den Kategorien ist eine der Strategiefragen im Bereich des Denkens. Beim Denken aber geht es um die Artikulation des Handelns. 61

Diese Strategiefrage pflegt nach dem Sprichwort angegangen zu werden: "Jeder Wolf ist König in seinem Walde." Oder: Jeder Kritische Psycholog ist sein eigner Philosoph. Wo danach gehandelt wird, kommt es zur spontanen Philosophie der Wissenschaftler, der Althusser 1967 eine höchst geistreiche (auf deutsch erst 1985 im Argument-Verlag erscheinende) Schrift gewidmet hat. Es versteht sich, daß unter Marxisten das Verbellen der jeweils andern als "Philosophen", die sich gefälligst nicht einmischen sollen, ausgeschlossen sein müßte. Zumal es hier um ein Denken geht, das in ähnlicher Weise Philosophie ist, wie die Anti-Psychiat r i e . . . Psychiatrie. Wir haben den gemeinsamen theoretischen Rahmen unserer historischen Gesellschaftswissenschaft und den gemeinsamen Bezugspunkt auf das, was Marx seine theoretische Methode nannte. Und eine Kritische Psychologie in unserm Sinn muß unter allen Umständen - und hat das seit ihrem Beginn getan - die ideologische Einwirkung des disziplinären Grenzverlaufs zurückweisen. Was die disziplinäre Arbeitsteilung der bürgerlichen Wissenschaft für die jeweilige Einzelwissenschaft bedeutet, das läßt sich vergleichen mit dem, was die kategorialen Netze im Innern leisten. Kategorien müssen immer als Knoten (und daher auch Kreuzungspunkte) in einem Begriffsnetz verstanden werden. Sie fungieren im Rahmen ihres jeweiligen Kontexts als Artikulatoren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Wenn wir untersuchen, wie Marx im "Kapital" die Kategorienfrage methodisch angegangen ist, entdecken wir die andere Seite. Die kapitalistische Ökonomie produziert ihre eignen Kategorien in einer bestimmten Verknüpfung. "Wert" und "Preis", "Kapital", "Arbeitslohn", "Zins" usw. "besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt. . . . Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion." (Marx/Engels, Werke (MEW) 23, 90) Die Wirtschaftstheorie bleibt bürgerliche Ideologie, wo nicht gar vulgärökonomische Legitimationswissenschaft, solange sie diese Kategorien ohne Kritik, wie Marx sagt, aufgreift. Wenn wir uns die Macht und Wirkung dieser Kategorien erklären wollen, können wir sagen: sie sind objektive Gedankenformen, weil Formen gesellschaft62

licher Praxis. Und als gesellschaftliche Praxisformen sind sie eingeschrieben ins Institutionengefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sich die Individuen selbsttätig verhalten. Anders gesagt: indem die Individuen die Praxisformen der Tauschverhältnisse tätig ausfüllen, frei in diesen Formen ihren Vorteil suchen und miteinander konkurrieren, machen sie sich zu kleinen Subjekten dieser Verhältnisse. Die Frage der Subjektivität - und mit ihr die Idee des Subjekts, von der sie nicht zu trennen ist - beinhaltet grundwesentliche Dimensionen und Ansprüche. Das "Wir", und zwar als "wir selber", steht dabei auf dem Spiel. Die menschliche Emanzipation, d . h . die Befreiung von Herrschaft und jeder Form der Vorenthaltung von Selbstbestimmung hat sich traditionell darin artikuliert. Freilich, wenn dies alles (und mehr Unverzichtbares) in diesen Kategorien artikuliert ist, dann müssen wir fragen: Wie? Es wäre ein Wunder, wenn gerade die Kategorie des Subjekts historisch unschuldig wäre und wir sie ohne alle Kritik aufnehmen dürften. Wir müssen daher fragen nach ihren Bedeutungen, Verflechtungen, ihrer Geschichte. Wir sollten fragen: gehört das Subjekt samt kategorialer Verwandtschaft zu den "gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise" ( s . o . ) , des Kapitalismus? Läßt sich das "Subjekt" als institutionalisierte bürgerliche Praxisform begreifen? Lektorski eröffnet seine Darstellung des "Subjekt-ObjektProblems in d e r . . . bürgerlichen Philosophie" folgendermaßen: "Als 'Subjekt* bezeichnen wir in der Erkenntnistheorie das erkennende Wesen, als 'Objekt' den Gegenstand seiner Erkenntnistätigkeit. ( . . . ) Gehen wir terminologisch an unser Thema heran, so können wir bald feststellen, daß mit den angegebenen Bedeutungen der Termini ! Subjekt f und f Objekt ! unser Problem erst in der klassischen deutschen Philosophie formuliert wurde, und zwar zuerst in der Philosophie Kants." (Lektorski 1968, 9) In der Tat hatten dieselben Ausdrücke zuvor völlig andere Bedeutungen. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich von der enormen Wirksamkeit Kants, dieses bürgerlichsten aller deutschen Philosophen, auf dem Feld der Terminologie verblüffen zu lassen: Der historische Vergleich der Terminologie "vorher und nachher", sowie, noch frappierender vielleicht, der linguistische Vergleich. Um einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, greifen wir zu Lalande, dem repräsentativen französischen Wörterbuch der Philosophie. Schlagen wir nach unter: SUJET. 63

Wer ein Freund klarer Verhältnisse ist und gern jederzeit eindeutig gesagt haben möchte, was rechts und was links ist, wird keine Freude haben. Lalande gibt dankenswerterweise die deutschen Äquivalente. Sujet übersetzt sich demnach also mit Subjekt, auch Person, und soweit so gut. Aber in erster Linie ist es Gegenstand, also Objekt,, auch Versuchsperson, dazu anatomisch der sezierte Leichnam, schließlich politisch der Untertan. Bei J . J . Rousseau heißt es: "Les a s s o c i e s . . . prennent collectivement le nom de peuple, et s ? appellent en particulier citoyens comme participant ä Pautorite souveraine, et sujets comme soumis aux lois de l'Etat." (Contrat social, 1.1, Kap. VI) - Ich übersetze versuchsweise: "Die assoziierten Individ u e n . . . geben sich kollektiv den Namen Volk und nennen sich im Besonderen Staatsbürger, insofern sie an der souveränen Autorität teilhaben, und Subjekte, insofern sie den Gesetzen des Staats unterworfen sind." Wie nun? Subjekt heißt in der Nachbarsprache plötzlich Objekt, Freiheit Untertänigkeit. So springen im selben Wort die Bestimmungen nach der Logik des Gegenteils um, anscheinend willkürlich. Wäre es zum Glück nur bei den Franzosen so? Flüchten wir zu den Engländern! Heißt es doch schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei Hobbes klassischvertraut, ein Gedanke sei "a representation or appearance, of some q u a l i t y . . . of a body without us, which is commonly called an object." (Leviathan, 1. Kap.) Die Welt scheint nach Innen/Außen geordnet, und "ein Körper außerhalb von uns heißt gemeinhin Objekt". Aber die Frage nach dem Subjekt bringt uns schnell darauf, daß es im Englischen - mit deutschem Maßstab gemessen - keineswegs ordentlicher zugeht als im Französischen. Die erste Bedeutung, die das Oxford Dictionary unter "subject" verzeichnet, ist die "Person subject to political rule", der Untertan, wie das dazugehörige Tätigkeitswort, "to subject", unterwerfen bedeutet. Dann folgt ein Reigen divergierender Bedeutungen, der sich kaum von der semantischen Springprozession des französischen Äquivalents unterscheidet. In der gewöhnlichen Sprache ist the subject zunächst der Gegenstand, Stoff, die behandelte Materie oder einfach das Thema. In den entsprechenden Sondersprachen bezeichnet es auch das logische, das grammatische und das metaphysische Subjekt. Aber Vorsicht! Ist auch das Wort gleich, so keineswegs die Sache. Subjekt der Grammatik, nicht Subjekt der Logik, und dieses nicht - sowenig wie das erste - Subjekt der Metaphysik... Wenn auch das deutsche "Subjekt" äquivok diese Unterschiede überdeckt, so hat hier doch die philo64

sophische Terminologie gesiegt. Eine sprachliche Zusammenfassung verschiedener regionaler Bedeutungen, die in gewisser Weise analog sind (oder dadurch vollends analogisiert wurden), ist hier erfolgt. Eine genauere historische Untersuchung (vgl. dazu Haug 1984) zeigt, daß diese Bündelung das funktionale Produkt einer typisch bürgerlichen Konstellation ist. Die Verdrängung der anderen, älteren Bedeutungen durch die neue bürgerliche scheint - auf diesem Feld eine deutsche Besonderheit, die in andere Sprachen nicht ohne weiteres übersetzbar ist. Es mag für deutsche Ohren schmeichelhaft klingen, wenn ein sowjetischer Autor seine spezifisch deutsche Entwicklung zum universellen Entwicklungsmaßstab macht, ja sogar die gesamte Geschichte der Philosophie rückwirkend in das Subjekt-Objekt-Artikulationsmuster, das ihr ganz fremd war, hineinpreßt. Marxisten werden freilich wissen wollen: Nachdem nun heraus ist, daß die Subjekt-Objekt-Artikulation alles andere als selbstverständlich-natürlich ist, nachdem wir gelernt haben, daß sie in der bürgerlichen Philosophie Deutschlands geprägt und zum Sieg geführt worden ist, wie ist sie dann bestimmt von den Produktions- wie den Politikverhältnissen dieser Tradition? Auf keinen Fall kann sie ohne Kritik in die marxistische Theorie aufgenommen werden. Kant vergleicht in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sein Projekt mit dem des Kopernikus. Die Wende, die Kant in der Problematik der Erkenntnis herbeiführen will, bringt er auf folgende Quintessenz: "Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis r i c h t e n . . . " Er behauptet: "Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ." (KrV, B VI f . ) Was sonst als Drehung der Sterne erscheint, ist jetzt Drehung des Beobachtungsobjekts. Der Vergleich ist beim zweiten Hinblicken merkwürdig unpassend. Der Zuschauer oder Kontemplator, wie es bei Kopernikus heißt, war ja durch jene* Wende relativiert worden. Sein Beobachterstandpunkt wurde in das astronomische Geschehen einbezogen. Kopernikus hatte die Problematik nach außen, in den Weltraum übersetzt. Er rekonstruierte die Beobachtungen unter Bezug auf einen Standort auf dem "Raumschiff Erde". Die Kantianische Wende hat einen ganz anderen Sinn. Sie restauriert einen Kontempla65

tor, um den sieh neuerdings wieder alles dreht. Es ist freilich ein neuer Typ, der sich da artikuliert als Vernunft oder Subjekt. "Sein »transzendentales Subjekt', sagt Lektorski, "ist das, was der empirischen Wirklichkeit, der Natur, der Welt der Gegenstände zugrunde liegt. Sein 'Objekt 1 ist das Produkt der Tätigkeit dieses Subjekts, dessen transzendentale Konstruktion." (Lektorski, 11) Entsprechend der kritizistischen Philosophie Kants bildete sich damals auch eine "Kritische Psychologie" (oder "Reflexive Psychologie" genannt). Ähnlich wie bei Kant figuriert dort das Subjekt als das Sein, welches erkennt e t c . , und zwar nicht individuell-besonders, sondern als notwendige Bedingung der Einheit der Vorstellungen, die als einheitliche dadurch zum Objekt konstituiert werden. Das Subjekt ist also objektkonstituierende Instanz. Freilich: die wirklich-sinnlichen, empirischen "Subjekte" oder Individuen gelten damit nur als Lizenzen dieses transzendentalen Subjekts. Liegt es da nahe, Kant kurzerhand dergestalt zu beerben, daß wir dem transzendentalen Subjekt die Gesellschaft unterschieben? Diesen Weg gehen Heinz Wagner und eben auch Lektorski, um nur die beiden zu nennen. Oder wie Dieter Wittich im Vorwort zu Lektorskis Buch schreibt: "In Übereinstimmung mit einer Reihe von Autoren unserer Republik versteht Lektorski unter 'Subjekt 1 die gesellschaftlich organisierte Menschheit und unter 'Objekt 1 den Bereich der objektiven Realität, welcher der praktischen Einwirkung des Subjekts unterliegt." Aber kann man eine ideologische Schlüsselkategorie des Bürgertums marxistisch einfach beibehalten und nur mit einer anderen Bedeutung versehen? Kein Zweifel, die Bedeutung, die der Subjektkategorie hier zugeordnet wird, wollen wir hochhalten und verteidigen. Die gesellschaftlich organisierte Menschheit oder die menschlich organisierte Gesellschaft ist schon in den Feuerbachthesen von Marx als Orientierung seiner neuen Auffassung genannt worden. Aber muß sich diese Bedeutung nicht ändern, wenn sie in die alte bürgerliche Artikulation kanalisiert wird? Zumal, wenn die Bedeutungen derart verteilt werden, daß die wesentlichen Elemente des Sozialismus sich folgendermaßen darstellen: "die objektiven Bedingungen..., das Bewußtsein der Arbeiterklasse..., der subjektive Faktor, der S t a a t . . . " (Oelßner 1959, 28 f . ) . Erinnern wir uns demgegenüber an Marx' Hegel-Kritik: "Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivirten Staat." Und: "Wäre Hegel von den wirklichen Subjekten (Plural!), als den Basen des Staats ausgegangen, so hätte er nicht nöthig, auf eine mystische Weise den Staat sich versubjek66

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tiviren zu lassen." (Marx/Engels, Gesamtausgabe [MEGA ], 1.2, 31, 24; MEW 3, 231, 224). Wer Subjekt sagt, sagt Subjekt-Objekt und bewegt sich damit in einer binären Struktur. Dies gilt - mit Modifikationen - auch für die Hegeische Überwindung des subjektiven Idealismus. Hegel wirft Kant vor, er habe "den Geist als Bewußtsein aufgefaßt" (Enzykl. III, § 415) und sich damit an die Erscheinungsebene gehalten. Die Kantische Philosophie "betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes" (ebd.). Hegel faßt das Bewußtsein als eine Gestalt des subjektiven Geistes, das sich auf objektiven Geist bezieht. In einer knappen Notiz von Marx, die überschrieben ist: Hegeische Konstruktion der Phänomenologie, heißt es: "1. Selbstbewußtsein statt des Menschen. Subjekt-Objekt. 2. Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung... gefaßt wird. . . . 3. Aufhebung der Entfremdung identifiziert mit Aufhebung der Gegenständlichkeit. . . 4. Deine Aufhebung des vorgestellten Gegenstand e s . . . identifiziert mit d e r . . . realen T ä t i g k e i t . . . " (MEW 3, 536). Diese Kritik ist ebenso treffend wie später immer wieder auf neue Weise aktuell angesichts bestimmter Entwicklungen im Marxismus. Lukäcs* Generationen-faszinierender, immer wieder die Stichworte gebender Text von 1923, Geschichte und Klassenbewußtsein, der nicht nur die Frankfurter Schule mitgeprägt hat, fällt genau unter diese Kritik. Rückblickend kritisiert Lukäcs 1967 diese Schrift: "ihre letzte philosophische Grundlage", sagt er, "bildet das im Geschichtsprozeß sich realisierende identische Subjekt-Obj e k t . " (Werke 2, 24 f . ) Das Proletariat auf die Position des Subjekt-Objekts einzusetzen sei "ein Überhegeln Hegels" ( 2 5 ) . Den Hauptfehler sieht Lukäcs darin, daß er die Vergegenständlichung des Subjekts mit seiner Entfremdung gleichsetzte. Er hätte weitergehen müssen. Sein GrundRückfall hinter das von Marx erreichte Niveau bestand darin, daß er - näher bei Dilthey - nach dem Subjekt-Objektivations-Muster dachte. Dieses Ausdrucksdenken drückt ein spontanes Selbstbild der interpretierenden und gestaltenden Berufe aus. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird so die "Zirkulation" des Geistes gedacht:«Hervorgehen aus dem Subjekt in die Objektivation oder Entäußerung Re-Interiorisierung ins Subjekt als Verstehen. Dieses Muster wirkte auch unter Marxisten weiter. J a , es wurde zum Artikulationsmuster revolutionärer Hoffnungen. Die Revolution wurde von den revolutionären Hermeneuten gedacht wie ein hermeneutischer Akt: als das endgültige Verstehen. 67

Freilich gibt es auch in diesem Rahmen wieder große Unterschiede. Während die einen in der Subjekt-Objekt-Vermittlung das Entscheidende sehen, träumen die andern von der Abschaffung der Objektivität. Für Bloch galt der Kömmunismus als "Entäußerung der Entäußerung", "Objektivwerdung der Subjekte, Subjektvermittlung der Objekte". (3) Dem jungen Oscar Negt bedeutete dieselbe Perspektive die Auflösung aller dem Subjekt gegenüber selbständigen Objektivität. Nicht anders äußerte sich gelegentlich der junge Marx, der sozusagen vormarxistische. In den Gründungsdokumenten der neuen Auffassung von Marx dagegen wird ein mehrfacher Bruch vollzogen: mit Feuerbach und mit Hegel. Vor allem aber wird von Anfang an eine historisch-materialistische Skizze gegeben, welche die gesellschaftliche Position der Philosophie als solcher aufweist, ihren Raum im Gefüge von Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und den großen ideologischen Institutionen, allen voran der Staat. In dieser komplexen Struktur sieht er die den ideologischen Mächten wie Recht, Religion, Philosophie etc. eingeräumten Positionen derart bestimmt, daß sie spontan einem strukturellen Idealismus verfallen. Die Regelung der gesellschaftlichen Dinge wird aus Ideen oder Idealen, aus der Heiligen Schrift oder dem Code Napoleon abgeleitet. Insofern scheint die Gesellschaft Kopf zu stehen. Die Ursachen der ideologischen Formen liegen aber in der realen Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens. Oder die ideologische Verkehrung, ihr Imaginäres, ist auch real. "Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf ihrer Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen." (MEW 3, 26) Auch die ideologischen Mächte mit ihren Praxen und Formen gehören zum wirklichen Lebensprozeß im "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". So sehr wie Staat und Justiz, Schule und Psychiatrie Mächte des wirklichen Lebens sind, so sehr gehören die von ihnen unterhaltenen Formen des Imaginären zur "Sprache des wirklichen Lebens". Nur wenn man sie abstrakt als "Bewußtsein" faßt, entsteht die Einbildung zweiten Grades, daß hier autonome Ideen herrschen. Diese Einbildung kann sich überlagern mit der spontanen Ideologie der Ideologen, in der diese abbilden und idealisieren, was sie tatsächlich tun. Marx bringt das Beispiel vom Richter, der das Gesetzbuch vom Geist des Gesetzes her auslegt und auf die Gesellschaft anwendet, wenn sein Urteil auf deren individuelle Mitglieder niederfällt. 68

Das Beispiel - wie viele andere - soll zeigen, wie ein durchaus "äußeres" Arrangement im "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" derartige Innen-Außen-Praxen und ihre Ideologien generiert. "Historischer Materialismus" wird zum Losungswort der Kritik solcher Ideologien (inklusive der des "abstrakten Spiritualismus der Materie"). Doch nicht nur auf dem Feld der Geschichte mußte Marx gegen solche Ideologien angehen. Sie hielten auch das Feld des Redens über Arbeit besetzt. Hier gilt das Produkt als Vergegenständlichung des Arbeitersubjekts. Marx fuhr mit wahrem Furioso dazwischen. Allein die Bourgeoisie hat Interesse daran, ein derartiges imaginäres Subjekt der Arbeit aufzubauen und "der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten" und die Naturgrundlage der Produktivkräfte wie allen materiellen Reichtums zu unterschlagen. "Denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, . . . der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben." (MEW 19, 15) Der Lohnarbeiter könnte sich allenfalls als "Subjekt" einer "gespenstigen Wertgallerte" ansehen. Wie im letzten Beispiel und in den weiter oben zitierten Auffassungen die Natur weggedacht wird, so schlägt das Denken im Subjekt-Objektivations-Schema das ganze Multiversum des gesellschaftlichen Lebens ins Einerlei. Welche politische Praxis dem entsprechen könnte, sollte man sich rechtzeitig klarmachen. Wie recht hatte Marx mit seiner Hegel-Kritik: "Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung g e f a ß t . . . wird." Verfolgen wir einige der Unterschiede auf dem Feld des Subjekt-Diskurses selbst. Denn zur Stärke der SubjektIdeologie trägt bei, daß die unterschiedlichen "SubjektBedeutungen miteinander verzurrt sind. Wir beginnen mit dem grammatikalischen Subjekt. Spontan ist man geneigt, das grammatikalische Subjekt mit dem logischen Subjekt zu verwechseln, bzw. beide für identisch zu halten; womöglich wirft man sie überdies noch mit dem Subjekt einer Handlung zusammen. Das mag einen ersten Eindruck vom Äquivokationsproblem der Rede vom Subjekt geben. Der Status eines grammatikalischen Subjekts verdankt sich der Positionierung in einer propositionalen Form. Lalande bringt als Beispiel folgende Proposition: "Nichts ist schön als das Wahre allein." Dazu: 1) Es geht um keine Handlung (allenfalls mag man die Aussage als propositionalen Akt auffassen, 69

dessen Subjekt indes nicht erscheint). 2) Das grammatikalische Subjekt ("Wer oder was?") ist: "Nichts". 3) Das logische Subjekt ist "das Wahre". 4) Das Beispiel weist nicht einmal ein Real-"Subjekt" im aristotelischen Sinn (ousia prote) auf, d . h . ein real-existent zugrundeliegendes, notwendigerweise immer individuelles Sein, das Handlungen produziert oder der Sitz der ausgesagten Bestimmungen i s t . . . Wir wechseln über ins juristische Feld mit seinem Subjekt. Zum Einstieg soll ein Bundesgerichtsurteil dienen. Dabei' geht es um Peep-Shows. 1982 wurden sie in der Bundesrepublik für ungesetzlich erklärt - und zwar in spezifischer Differenz zum Spriptease. Das Verbot des einen und die Freigabe des andern Phänomens wurde mit Begriffen des Subjekt/Objekt-Schemas artikuliert. In der Peep-Show würde der Frau eine "objekthafte Rolle" zugewiesen, in der sie "als bloßes Anregungsobjekt zur Befriedigung sexueller Interessen angeboten werde" (FAZ, 15.2.82: "Die Frau soll nicht ein Objekt sein"). Aber trifft dies nicht auch auf den Striptease zu? Nein, hier sahen die Richter grundlegende Unterschiede: 1) das Publikum wird "vor ihr wahrgenommen"; 2) sie "bewege sich in einem Rahmen, der in der Tradition der herkömmlichen Bühnen- oder Tanzschau" bleibe; 3) dieser Rahmen lasse "nach dem hier maßgeblichen regelmäßigen Erscheinungsbild die personale Subjektsituation der Darstellerin unberührt" (Aktenzeichen BVerwg 1 C 232.79). Das Beispiel zeigt: das "personale Subjekt" ist (zumindest auch) eine institutionalisierte Form und als solche allgemeines Rechtsgut unserer Rechtsordnung. Die Sklaverei ist verboten. Die Individualform "personales Subjekt" ist nicht nur schutzwürdig, sondern sie ist Pflicht; kein Individuum besitzt, juristisch gesehen, die Kompetenz, diesen Status zu veräußern. Wir erinnern uns, daß auch die Kirche mit ihren Formen und mit denselben Begriffen energisch dafür eintritt. Der gegenwärtige Papst hat in seiner Sexualethik die Artikulationsform des personalen Subjekts weiter ausgearbeitet. "Person", woran das "Subjekt" hängt, fungiert als zentraler Artikulator in seiner Moraltheologie. Dies alles deutet darauf hin, daß wir es hier mit einer Form des von den übergeordneten Institutionen (Recht, Religion, aber bei näherer Untersuchung wird sich die Liste verlängern) in Pflicht genommenen Individuums zu tun haben. Dem gewöhnlichen Bewußtsein entgeht diese Tatsache, daß das, was ihm als Privatform gilt, nichts Privates ist, sondern Rechtsgut und Theologie in einem. Im Krisenfall (Konflikt in der und vor allem Verstoß gegen die Ordnung) tritt dies so schlagend hervor wie eine Verhaftung. Dann 70

bedarf es des Personalpapiers zwecks Identifikation des Subjekts einer Untat. Ihr Subjekt sein heißt, daß sie einem zurechenbar ist, sofern man im Augenblick ihres Vollzugs zurechnungsfähig war. Das Subjekt begegnet hier als das aristotelische Realsubjekt der Justiz: als das, woran (oder an dessen Eigentum) man sich halten kann. Auch das ist dem gesunden Menschenverstand sonnenklar, gilt ihm als selbstverständliche Naturform. Wir müssen uns also nach Beispielen umsehen, die diese Selbstverständlichkeit erschüttern. Auf den Flugblättern steht z . B . in der Regel ein Name mit dem Zusatz: "Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes". Es ist nicht nötig, daß der Betreffende den Text inhaltlich verantwortet oder auch nur kennt, umgangssprachlich gesprochen. Der Justiz genügt es, jemanden zu haben, an den sie sich im Zweifelsfall halten kann. Es gab einmal eine Zeit in Deutschland, als die linken Organe Scheinredakteure angestellt hatten und im Impressum führten, die im Falle der häufig von Amts wegen angestrengten Majestätsbeleidigungsverfahren stellvertretend die Haft absitzen mußten, sogenannte "Sitzredakteure". Sie sind juristische Subjekte, und das wirft ein Licht darauf, daß vielleicht "das Subjekt" ganz allgemein auch ein Sitzredakteur der Verhältnisse ist. Eine erhöhte Erkenntnischance bieten auch die Übergänge zwischen Mündigkeit und Unmündigkeit, die rituelle Passage über die Un/Mündigkeitsgrenze. Überhaupt müssen wir die Vormund-Mündel-Verhältnisse hinzunehmen, um die naive Metaphysik des Alltags zu erschüttern. Wenn wir so weiterfragen, fächert sich uns die Frage nach dem Subjekt auf in Fragen der Schulpflicht & Erziehungsberechtigung, der Status des Zöglings muß in seiner Beziehung zum Subjektstatus untersucht werden; Vertrags- und Schuldfähigkeit(en) aller Art geraten in den Blick; die Heiratsfähigkeit, das Wahlrecht usw. Wir lernen daraus: Weder ist ein Individuum notwendig ein Rechtssubjekt, noch ein Rechtssubjekt notwendig ein Individuum ( z . B . die Psychiatrische Anstalt, in die ein unzurechnungsfähiges Individuum eingeliefert wurde, tritt als Rechtssubjekt auf). Ein Rechtssubjekt ist positiv der Besitzer eines Rechts (was hier gleich Macht ist) zur Befriedigung eines Interesses. Personen (als Rechtssubjekte betrachtet) sind nicht konkrete Individuen, sondern gelten "als Aktoren des sozialen Lebens in einer bestimmten Beziehung" (Colin & Capitant, vol. I, p. 101). Die juristische Person hebt folgerichtig vollends ab vom Individuum. Für unsern Zweck genügt es, drei qualitativ heterogene Gruppen von Rechtssubjektivi71

täten zu unterscheiden, die in der Kategorie des Subjekts gebündelt sind und einander überdeterminieren: 1) Das zivilrechtliche Subjekt, bei dem es im wesentlichen um Übertragung von Eigentumsrechten in Form von Verträgen geht; eine besondere Untergruppe ist das Subjekt von Schulden. 2) Schuld in der Einzahl ist eine Zentralkategorie des Strafrechts, dessen Subjekt der Täter der kriminellen Tat ist. 3) Das verfassungsrechtliche Subjekt ist der Staatsbürger, mit Rechten und Pflichten eingeschrieben in den Staat, gegen dessen Verfassungsorgane in bestimmter Weise abgegrenzt und ihnen zugleich unterstellt. Wir sehen: Allein schon das Rechtssubjekt ist ein Kreuzungspunkt von Beziehungen in einem mehrdimensionalen juristischen Universum. Und darüber hinaus ist dieses Gefüge seinerseits verfugt oder verknüpft mit einem komplexen Netzwerk von Institutionen, die sich wechselseitig als Zulieferanten und Abnehmer begegnen. Das einzelne "Subjekt" zeigt sich nun als der Knotenpunkt vieler Linien im Individuum oder als juristische Person (etwa eine Aktiengesellschaft oder eine politische Partei). Als Subjekt-Dispositiv taucht auf der Staat, die politischrechtliche Gestalt der Produktionsverhältnisse. Was für ein Quid pro quo in ein- und derselben Kategorie: Subjekt - ist nicht mehr der Brenn- und Mittelpunkt des Subjektiven, Innersten, Eigensten, Individuellsten, dessen, was wir je selbst sind, was sich selbst das nächste ist, dieser Verbindung aus Interesse und Gefühl. Ist es die Staats- und Rechtsform des Individuums (oder kollektiver Aktoren)? Wäre es zudem entscheidend geprägt durch bürgerliche Besitzverhältnisse? Wäre Subjekt am Ende das in den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen festgehaltene Individuum? Lassen wir uns für einen Augenblick erschüttern! Flüchten wir in die frühklassische Fassung der Kritischen Psychologie, d . h . zu Klaus Holzkamps "Sinnlicher Erkenntnis" von 1973! Dort treffen wir auf einen Satz von Begriffen, der um die Artikulation von Individuum, Handeln, Fähigkeiten, Lebensbedingungen, Gesellschaft usw. gruppiert ist (vgl. dazu Haug 1983, 38-42). Zielbegriff ist das gesellschaftlich handlungsfähige Individuum. Seine Handlungsfähigkeit wird begriffen als Teilnahme an der Kontrolle seiner gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Sind wir hier vor der juristischen Ideologie sicher? Nein, nicht ohne weiteres. Betrachten wir das Element Handlungsfähigkeit (HF), finden wir das Recht schon wieder zur Stelle. Die juristische Besetzung dieser Stelle lautet etwa: "Unter HF ist die Möglichkeit zu verstehen, durch eigenes verantwortliches Handeln Rechts72

Wirkungen hervorzurufen... Die Rechtslehre gliedert die H F . . . in die Geschäftsfähigkeit..., in die Deliktfähigkeit... und in die Verschuldensfähigkeit... Fehlt die HF (insbesondere bei Minderjährigen), so steht diese regelmäßig einem gesetzlichen Vertreter z u . . . Dagegen besteht heute keine Beschränkung der HF einer Frau, insbes. einer Ehefrau m e h r . . . " (Creifelds 1973, 543). Die Kritische Psychologie muß derartige institutionelle Handlungsbedingungen (die sich in bestimmter Hinsicht als ideologische In/KompetenzVerhältnisse denken lassen) in Theorie und Praxis berücksichtigen und darauf achten, daß ihr Begriff von Handlungsfähigkeit nicht mit dem juristischen verfließt. Sollten Psychologen sich im rechtsfreien Raum fühlen, müßten sie zumindest sehen, daß dieser Raum Wände hat und daß diese Wände juristisch konstruiert sind. Geht man nur einen Schritt weiter, wird man darauf aufmerksam, daß auch der Raum der Psychologie keine völlig schwarze, abgedunkelte Kammer ist, sondern wie die Camera obscura ihre Einlaß-Stellen mit dem Effekt einer bestimmten Kodierung des Eingelassenen hat. Die Um-Verhältnisse projizieren ihre Effekte in diesen Raum - mit der nötigen Verkehrung und Imaginarität, versteht sich. Was für die Psychologie, gilt auch für das Psychische. Um das zu verstehen, muß man sich die Art und Weise ansehen, in der das Individuum in die Ordnung eingelassen ist. Auch das Individuum ist institutionell vielfach "eingeräumt". Es ist "erwartet" von Positionen. Die beruflich-erwerbsmäßige ist nur eine aus einer Pluralität von Positionierungen ökonomischer, politischjuristischer, religiöser etc. Art. Das Individuum ist immer selbsttätig in diesen Formen, seines Un/Glückes Schmied - solange es kein "Sozialfall" ist. Selbsttätigkeit und plurale institutionelle Konstituiertheit von oben verdichten sich im - Subjekt. Die ideologischen Mächte sind bestrebt, das Individuum durchzuformen. Ihre spezifischen Kompetenzen - für die Rechtmäßigkeit, das Seelenheil, den Geschmack, den Körper etc. - reflektieren sich als innere Gliederung des Individuums. Daß diese Gliederung und ihre Bestimmungen von innen nach außen gelebt werden und daß ihr Innerstes, wo sie alle zusammenlaufen, aber imaginär entquellen, das Subjekt ist, besitzt die gesellschaftliche Gültigkeit einer objektiven Gedankenform. Wie wir von Marx gelernt haben, daß der ideologische Grundfehler der bürgerlichen Wirtschaftstheorie darin besteht, daß sie die objektiven Gedankenformen des kapitalistischen Alltags ohne weitere Kritik aufgreift und zu ihren Begriffen macht, so werden wir verste73

hen, daß Entsprechendes für die Subjekt-Kategorie gilt. Bei Freud, der die innere Topographie aufgenommen hat, finden sich allenfalls metaphorische Bezüge zu den Mächten, die sich Stützpunkte im Individuum einrichten. So etwa, wenn er die "religiöse Neurose" mit einem "Staat im Staat" vergleicht. Das Stabilitätsgeheimnis der Subjektkategorie ist ihre Überdeterminierung, die Tatsache, daß durch diesen Knotenpunkt so viele unterschiedliche Linien laufen. Sloterdijk erklärt: " . . . was in der Neuzeit Subjekt heißt, ist in Wahrheit jenes Selbsterhaltungs-Ich" (650). Das ist eine reduktionistische Verabsolutierung einer von vielen Schalen des Subjekts.(4) Und wie die Zwiebel zwar sieben Häute, aber keinen Kern besitzt, so existiert das Subjekt nur als eine Folge von Schalen. Das Innerste ist - - nur ein spekulativer Reflex dieser Schalen, ihr metaphysischer Überbau-nach-innen, ansonsten leer. Um nicht zurückzufallen in die alte Subjektphilosophie muß die Subjektwissenschaft die Kategorie Subjekt einer entsprechend radikalen Kritik unterziehen, wie Marx dies mit den Kategorien der politischen Ökonomie gemacht hat. In der Sache entspricht dem: SUBJEKT darf nicht im metaphysischen Singular bleiben. "Das Subjekt" gibt es nicht. Zu analysieren sind Subjekte, im Plural. Nicht einmal das einzelne Individuum, jeder von uns für sich selbst, erfährt sich als "DAS SUBJEKT". Schon gar nicht darf, wie Marx an Hegel kritisierte, der Staat "versubjektivirt" werden, während man "die wirklichen Subjekte", wie Marx sagt, zu "anderes bedeutenden... Momenten" macht. (MEGA 1.2 8; MEW 3, 206) Vor allem aber müssen die Subjekte als sozial konstituierte begriffen bzw. untersucht werden. Ihre Konstitution ist ein elementarer Erkenntnisgegenstand einer im historischmaterialistischen Sinn Kritischen Psychologie und zuvor ihrer sozialtheoretischen und historischen Fundierung. Würden sie hingegen nicht in ihrer Konstitution analysiert, sondern als selber konstituierende gesetzt, fiele die Psychologie wieder in die alte, kritizistische Position des Kantianismus zurück. Würde sie aber statt dessen die Wende zu Hegel wiederholen, Subjekt und Objekt aus ihrer Entgegengesetztheit herausholen und in eine einzige Bewegung werfen, in der das Objektive als Objektivation des Subjekts erscheint, fiele sie aus dem ideologischen Regen in die ideologische Traufe. 74

Vorgeschlagen sei, die Rede von "Subjektivität" oder vom "Subjektiven" sorgsam zu unterscheiden von der Rede vom "Subjekt". Die Kategorie "Subjektivität" artikuliert ein ganzes Feld von Bedeutungen, ohne notwendig ein einheitliches, immer schon gegebnes Sein zu unterstellen, dessen bloße Erscheinungsformen sie mithin wären. Der Begriff faßt dann die Formen zusammen, in denen die wirklichen, vergänglichen Individuen sich selbst betätigen und erfahren bzw. selbst fremde Einwirkung oder den Druck der Verhältnisse erleiden. Wer wir aber wirklich sind oder werden, wie wir unser Leben leben, was wir lernen, wie wir uns organisieren, was und wie wir arbeiten, wie wir die Widersprüche unserer Lage verarbeiten, wie wir uns äußern, verständigen, was wir verdrängen, wo wir uns anpassen, wo wir Widerstand leisten usw. usf. - kurz, welche Handlungsfähigkeiten wir entwickeln, individuelle, kollektive, private oder gemeinschaftliche, mit welchen Restriktionen, welchem Verhältnis kurzfristiger und langfristiger Handlungschancen usw., dies alles stellt einen vielgestaltigen Prozeß dar, ein widersprüchliches Feld von unterschiedlich realisierten Handlungsmöglichkeiten, mit Konflikten und Verdrängungen, Freiräumen und Zwängen und vielen offenen, in absehbarer Zeit quälend unlösbaren Fragen. Die Kritische Psychologie im neuen, historisch-materialistischen Sinn, muß diese Prozesse und Verhältnisse mit ihren Formen fassen können. Sie hat kein fertiges Subjekt und keine allgemeine Struktur vorzuweisen, zu denen sie die Individuen nur hinzuführen hätte, damit sie an ihnen gesunden. Sie ist darin zu messen, wie sie die gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit der Individuen selbst fördern kann. Der unkritische Gebrauch der Subjektkategorie würde an dieser entscheidenden Stelle die Unterschiede, auf die es im individuellen Leben wie in der politischen Praxis vor allem ankommt, verwischen. Die Subjektkategorie ist hingegen unentbehrlich für eine kritische Analyse der ideologischen Mächte. "Das Subjekt" - das ist in der Realität unserer Gesellschaft eine vielfach determinierte objektive Gedankenform, weil Praxisform, genauer: Form institutionalisierter ideologischer Praxen, allen voran und in allen andern unvermutet immer wieder durchschlagend die juristische Ideologie. Ist sie Ideologie, so ist sie nichtsdestoweniger real. Viele der Formen und Gestalten, mit denen wir es zu tun haben, . sind juristisch überformt. Auch ein Konzept 75

wie Handlungsfähigkeit ist, wie wir gesehen haben, schon von der Justiz besetzt. Man muß sich vorsehen. "Volle gesellschaftliche Handlungsfähigkeit" z.B., ein Konzept, das durch einige Texte der kritischen Psychologie spukt, ergibt in ihr, wo sie sich nicht selbst entfremdet, keinen Sinn. Die Aneignung und Weiterentwicklung des Sozialerbes, zumal unter antagonistischen Verhältnissen, ist ein unabschließbarer Prozeß, zudem einer, der, wie Seve gezeigt hat, desto mehr Mannigfaltigkeit der individuellen Unterschiede ermöglicht, je höher das gesellschaftliche Entwicklungsniveau ist. Kein Individuum kann je das Ganze sich zueigen machen. Mehr als alles andere wäre dieses personifizierte Ganze, mit Marx zu reden, "eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte" (MEW 3, 27). Wobei freilich nicht unterschätzt werden soll die Macht imaginärer Aktionen imaginärer Subjekte. So kritisierte schon Marx die Artikulationsweise der staatlichen Ideologie bei Hegel: "Die Idee wird versubjektivirt und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginaire Thätigkeit gefaßt. . . . Sie sind die eigentlich thätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt." (MEGA, 1.2, 8; MEW 3, 206) Diese Umkehrung, sei sie auch imaginär, ist nichtsdestoweniger real. Die Kritische Psychologie beginnt, wo sie die Effekte dieser ideologischen Verhältnisse kritisiert und praktische Anstrengungen orientiert, die Vergesellschaftung von oben zurückzudrängen zugunsten der unterschiedlichen politischen, kulturellen und sonstigen sozialen Formen der Selbstvergesellschaftung von unten. Entscheidend ist ein analytisches Instrumentarium, das erlaubt, die unterschiedlichen Formen, Bedingungen und Probleme individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit, sozialer, kultureller, auch gedanklich-theoretischer und politischer Handlungsfähigkeit zu begreifen, auseinanderzuhalten, ihre unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten und Problematiken zu begreifen und überall die Effekte der herrschenden Ideologie aufzudecken und zurückzudrängen. Dazu muß an der hierarchischen Verteilung der Kompetenzen gerüttelt werden. Es gilt anzugehen gegen jede strukturelle Passivierung der Individuen, aus denen schließlich die berühmten Massen, auf deren Kräfte es in der Geschichte ankommt, sich zusammensetzen. Die Klassenherrschaft und die herrschende Ideologie hängen darüber zusammen, daß und wie sie die Kompetenzen in der gesellschaftlichen Handlungsstruktur aufteilen. Jede Konzentration spezifischer Kompetenzen erzeugt um sich herum Räume der Kompetenz76

oder des Kompetenzentzugs. Diese Umgebung der Kompetenz durch Inkompetenz nimmt eine andere Bedeutung an je nach Bereich - ob Privatunternehmen oder Justiz oder Kirche oder Politik oder Psychiatrie usw. - und je nach Klassenlage und Status - ob Lohnarbeiter oder Selbständiger usw., ob Laie oder Priester, Jurist, Arzt, Politiker usw. - . J e nach Stellung und Mobilität im "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" nimmt die Kompetenz/ Inkompetenz-Struktur eine andere Bedeutung an für die jeweiligen Individuen. Nie aber ist das Verhältnis nur eine Einbahnstraße der Macht, auch nicht für die Mächtigsten. Zwar entzieht die Anhäufung und institutionelle Sicherung von Kompetenz dieselbe allen außerhalb der Grenzen der jeweiligen Institution gelegnen Gebieten. Aber keine Institution ist allein auf der Welt, und aus den andern Institutionen wird mit gleicher Münze gezahlt. Vom faschistischen Staat, insbesondere von seinem "Führer", ist gesagt worden, er habe die "Kompetenz-Kompetenz" beansprucht - und das ist gewiß nicht von der Hand zu weisen. Aber selbst in diesem Extremfall blieb der Anspruch auf KompetenzKompetenz ( d . h . auf die grenzenlose Zuständigkeit, über Kompetenzen zu verfügen, ohne selber durch irgendeine Kompetenzgrenze eingeschränkt zu sein) eine Imagination der Allmacht. Ökonomisch blieben die Kapitalkompetenzen weithin unangetastet, wurden sogar teilweise entgrenzt. Auf den meisten ideologischen Gebieten resultierte die Macht der Nazis aus einer beachtlichen hegemonialen Fähigkeit, rechtspopulistische Kompromisse auszubilden. Und auf kirchlichem Gebiet erlitt der deutsche Faschismus mehrere lehrreiche partielle Niederlagen beim Versuch, die ideologischen Kompetenzen anzutasten (vgl. die Untersuchung von Rehmann). Jede spezifische ideologische Kompetenz ist im doppelten Sinn von Inkompetenzen umgrenzt. Die Priester jeder dieser symbolischen Herrschaftsordnungen machen alle andern zu Laien. Aber da sind immer auch andere Ordnungen, die ihnen auf ihrer Ebene nichts schuldig bleiben. So ist selbst jede Kompetenzanhäufung von vielfachem Kompetenzentzug umgrenzt. Wieviel mehr gilt dies auf den unteren Rängen der Gesellschaft. Hier erfährt man sich von allen höheren Mächten zur Ordnung gerufen. Das Sub- in "Subjekt" erhält seine Bedeutung wie das Unten in "Unterdrükkung" und "Unterwerfung". Beim Militär, sagte Hegel, "kann der Soldat geprügelt werden, er ist also eine Kanaille. So gilt der gemeine Soldat dem Offizier für das Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr, der Uniform Verdünnung

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und Portepee hat, sich abgeben muß, und das ist, um sich dem Teufel zu ergeben." In Haseks Schwejk und zuvor in Büchners Woyzeck werden die Unterworfenen, dieses letzte Subjekt, gestaltet. Büchner verfährt nach dem Lehrbuch der Psychiatrie. "Das hypnotisierte Subjekt", heißt es bei Ribot, Maladies de la personnalite, "macht man ^nacheinander glauben, es sei eine Bäurin, eine Schauspielerin, ein General, ein E r z b i s c h o f . . . " (131; z . n . Lalande, Sujet). Durch Gewalt und Imagination reproduziert sich die Ordnung. Die Individuen erscheinen als die der Ordnung zugrundeliegende Plastik, das Zugerichtete und, wenn sie keinen Widerstand leisten, Zugrundegerichtete. Der plebejische Blick, wie ihn Hasek und Brecht literarisch gestaltet haben, wie er aber vielgestaltig in jedem Volk, in jeder Generation immer wieder aufs Neue sich ausbildet, bringt das Unmögliche zustande, von unten auf die Oberen herabzublicken. Freilich ist es so einfach nicht, und Oben/Unten ist nur ein vereinfachender Nenner, auf den man alle KompetenzInkompetenz-Verhältnisse gebracht hat. Das ist eine Formel des Widerstands, der Ob-jektion gegen das Subjekt der Herrschaft, keine zureichende Formel der wirksamen Zurückdrängung oder gar des Sturzes von Herrschaft. Betrachten wir noch einmal - auf unserm zugestandenermaßen abstrakten Niveau - das Problem: Die Kompetenz in der umfassenden Inkompetenz - das ist die allgemeinste ideologische Individualitätsform. Sie erhält in den bürgerli-» chen Gesellschaften ihre - je nach Entwicklungsstand, kulturellen Formen, demokratischen versus obrigkeitsstaatlichen Traditionen, Kräfteverhältnissen im Klassenkampf und politischer Regierungsform etc. abgewandelte - Spezifik. Diese allgemeinste ideologische Individualitätsform ist indes, die revolutionären Hoffnungen von 1917 enttäuschend, nicht auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Den schärfsten, schmerzlichsten, dabei poetischsten Ausdruck haben nicht grundlos Dichter aus sozialistischen Ländern der Problematik gegeben. Ich erwähne nur Tschingis Aitmatow. Sein 1982 in der DDR veröffentlichter Roman "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" sollte ihm eine Professur honoris causae in Kritischer Psychologie und Philosophie zugleich einbringen. Er führt dort die mythische Gestalt des Mankurt ein, des Individuums, das in eine staatliche Zwangshaut gesteckt ist, die sich unwiderstehlich zuzieht, ihm jegliche Erinnerung auspreßt und jede Fähigkeit zum Widerstand erdrückt und es wahrhaft zum bloßen Staatssubjekt komprimiert. Und eine zweite Erfindung aus diesem Buch verdient, weiterberichtet zu werden. Wo es zum Konflikt kommt zwischen 78

hierarchischer Struktur und der Kultur der einfachen Menschen, da redet der Vertreter der Staatsmacht den Arbeiter Edige folgendermaßen an: "Ich erkläre Ihnen noch einmal, Genosse Unbefugter, hier hat keiner Zutritt." (368) Die Botschaft Aitmatows ist die: die Unbefugtheit der großen Mehrzahl für die Fragen der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit, unserer Vergesellschaftung, wenn man so will, wird zu einem Unfug, der die Menschheit an den Rand ihres Untergangs geführt hat. Die "Genossen Unbefugten" müssen sich Zutritt verschaffen zu den Prozessen der Vergesellschaftung, der Produktion wie der Geschlechterverhältnisse, des Mensch-Natur-Verhältnisses wie der Hochrüstungspolitik beider Blöcke. Die Kritische Psychologie wird ihre Rolle spielen in den Anstrengungen zur Wiedereroberung der "Kompetenzen". Freilich wird sie alle List und Umsicht brauchen, um nicht in die Falle der Psy-Kompetenz zu gehen, die jenen PsyMarkt unterhält, dessen Gefüge und Geschiebe Franqoise und Robert Castel so erhellend analysiert haben. Nirgendwo macht die Subjektivität mehr von sich reden, als wo sie zur restringierten Psycho-Betroffenheit geworden ist, zum für sich selbst unzuständig gemachten Innern. Die Logik dieses Kompetenzentzugs ist verflixt eingängig. Sie ordnet Handlungen und Situationen so an, daß sie sich von innen nach außen erklären. Damit bewegen sie sich auf der Spur des allgemeinsten ideologischen Subjekteffekts, der eben darin besteht, daß das Individuum für sich sein "Schicksal" nach innen nimmt und die Verhältnisse von innen nach außen lebt und verantwortet. Natürlich wird so jedes Einzelleben zu einer imaginären Aktion eines imaginären Subjekts, und die Unkosten und der Druck auf die solcherart überdeterminierte "Psyche" sind außerordentlich. Diese imaginäre Überzuständigkeit des Innern schlägt notwendig um in Unzuständigkeit fürs Innerste. Hier springen die Anbieter auf den Psy-Märkten ein. Die Kritische Psychologie muß die Kritik dieser Art sekundärer Ausbeutung der Subjekt-Effekte zu einer ihrer Aufgaben machen, nicht vor allem in der Theorie, sondern in ihrer Praxis der Förderung der Kompetenzaneignung und gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit der "Genossen Unbefugten".

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Anmerkungen 1 Um zu verstehen, daß "Subjektivität" nicht einfach eine semantische Gegebenheit, sondern ein sich wandelnder und umkämpfter diskursiver Prozeß ist, muß man nur Karen Ruoffs "Rückblick auf die Wende zur 'Neuen Subjektivität 1 " (1983) lesen. 2 Selbst "Objektivität" als beschwörender Ausdruck subjektunabhängiger Verläßlichkeit schillert ins Gegenteil hinüber. Das "Objektiv" ist 1) das Einfallstor des Lichts in die Camera obscura und die optische Determinante des Lichts; 2) das Ziel, in der Militärsprache der "point vers lequel on dirige son attaque" (Littre). Kurz, das Objektiv konstituiert das Objektive. 3 Mithilfe eines Stalinzitats verdächtigt Bloch damals noch die Hegelkritiker als Anarchisten. Indem die Anarchisten gegen den konservativen Hegel wettern, "wollen (sie) die dialektische Methode widerlegen" (Stalin), zit.b. Bloch 1952, 49). Im Kontext wendet sich Bloch gegen die "Unterschätzer des klassischen deutschen Kulturerbes" ( e b d . ) . 4 Andrerseits reduziert sich für Sloterdijk das Subjektive auf eine Funktion der auf Informationsverarbeitung beruhenden Steuerungsautomatik. Die computerisierten, mit flexiblen Orientierungssystemen ausgestatteten Flugkörper verhalten sich in seiner Sicht "zum gegnerischen Ziel »subjektiv 1 " (650).

Literatur Aitmatow, T. (1982): Der Tag zieht den Jahrhundertweg. Berlin/DDR. Bloch, E. (1952): Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin/DDR und Weimar. Castel, F . ; R. Castel; A. Lovell (1982): Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Frankfurt/M. Colin; Capitant: Cours elementaires de droit francais. 2 e edition. Creifelds, C . , u . a . : Rechtswörterbuch. München. 3. Aufl. 1973. Haug, F. (1983): Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch, in: Argument 141, 653-73. 80

Haug, W.F. (1983): Hält das ideologische Subjekt Einzug in die Kritische Psychologie? in: Forum Kritische Psychologie 11 (= AS 93: Argument-Sonderband), 24-55. - (1984): Die Gamera obscura des Bewußtseins. Zur Kritik der Subjekt/Objekt-Artikulation im Marxismus. In: Projekt Ideologie-Theorie 1984, 9-95. Hobbes, T h . : Leviathan (1651). Z i t . n . : W. Molesworth ( E d . ) , The English Works of Thomas H o b b e s . . . , London 1839, Vol. VIII. Lalande, A. (Hg.) (1968): Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Paris. Lektorski, W.A. (1968): Das Subjekt-Objekt-Problem in der klassischen und modernen bürgerlichen Philosophie. Berlin/DDR. Oelßner, F. (1959): Die Rolle der Staatsmacht beim Aufbau des Sozialismus, in: Probleme der politischen Ökonomie. Jahrbuch des Instituts für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 2, Berlin/DDR. Projekt Ideologie-Theorie (1984): Die Camera obscura der Ideologie. Philosophie/Ökonomie/Wissenschaft. Drei Bereichsstudien von Stuart Hall, Wolfgang Fritz Haug und Veikko Pietilä (= AS 70: Argument-Sonderband). WestBerlin . Rehmann, J . C . : Staat und Kirchen im Dritten Reich. Ursachen und Formen ihrer Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, in: Ideologische Mächte im deutschen Faschismus, Argument-Sonderband AS 80 (in Druck). Ruoff, K. (1983): Rückblick auf die Wende zur Neuen Subjektivität, in: Argument 142, 802-820. Sloterdijk, P. (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/M. Steil, A. (1984): Die imaginäre Revolte. Untersuchungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger. Marburg. Wagner, H. (1976): Recht als Widerspiegelung und Handlungsinstrument. Beitrag zu einer materialistischen Rechtstheorie. Köln.

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Teil 2 Arbeitsgruppen

I. Methodische Aspekte und neuere Entwicklungstendenzen in der Diskussion um das psycho-physische Problem Koordination: Volker Schurig Teilnehmer: Rainer Bösel, Peter Keiler

Zu den Punkten, in denen im Einzelnen noch am ehesten Übereinstimmung zu erzielen ist, trotz sonst verschiedener theoretischer Positionen, gehört die Einschätzung des psychophysischen Problems als eines der Grundprobleme der Psychologie. Aus der Beziehung von Physischem und Psychischem ergeben sich weitreichende Auswirkungen sowohl auf die allgemeine Gegenstandsbestimmung der Psychologie als auch für die Konstruktionen spezieller psychologischer Teildisziplinen ( z . B . der Physiologischen Psychologie). Umgekehrt läßt sich daraus auch ableiten, daß die Wissenschaftlichkeit psychologischer Forschungsansätze - z . B . bei der Untersuchung von Subjektivität - sich auch in einer entsprechend entwickelten Rezeption des psycho-physischen Problems reflektieren muß. Dessen inhaltliche Interpretation ist wiederum von zahlreichen erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Voraussetzungen abhängig wie z . B . Entwicklungsvorstellungen, der Art des Determinismus und dem Materiebegriff. Die Arbeitsgruppe zum psycho-physischen Problem hatte keineswegs den Anspruch, eine ? Letztfassung f vorzustellen, sondern diente vor allem der Diskussion spezieller methodischer Aspekte in der psycho-physiologischen Forschung, der kritischen Rezeption gegenwärtiger Interpretationen, wie sie vor allem in der Neurophysiologie und Gehirnforschung aufgestellt werden, sowie dem Nachweis der Bedeutung für die Konstruktion psychologischer Grundbegriffe ( z . B . 'Subjektivität', 'Bewußtsein' usw.). Daß innerhalb der Kritischen Psychologie klassische Problemstellungen aufgenommen und in verschiedener Weise neuen Lösungen zugänglich gemacht werden bzw. das psychophysische Problem auch aus seiner problemgeschichtlichen Entwicklung heraus begriffen wird, zeigt der Beitrag "Dimensionen des psycho-physischen Problems" von P. Keiler, in dem die verschiedenen Grundpositionen wie z . B . psychophysischer Parallelismus und Identitätstheorie kritisch dargestellt werden. In dem zweiten Aufsatz "Das psycho-physische 85

Problem aus aktivierungstheoretischer Sicht" von R. Bösel wird auf die Aktualität, aber auch auf die methodischen Schwierigkeiten psycho-physischer Fragestellungen in der experimentellen Forschung genauer eingegangen. In dem dritten Aufsatz "Die 3-Welten-Theorie T vop Eccles/Popper - ein metaphysischer Reflex der Neurophysiologie?" von V. Schurig wird kritisch eines der gegenwärtig verbreitesten Modelle der Gehirnforschung und seine theoretischen Implikationen rezipiert. Um mit den Teilnehmern der Arbeitsgruppe in eine intensive Auseinandersetzung über aus dem psycho-physischen Problem abgeleitete Fragestellungen zu kommen, wurden die drei Aufsätze zunächst vorgetragen. Die lebhafte, zum Teil sehr kontroverse Diskussion, die hier in ihren Einzelheiten nicht wiedergegeben werden kann, zeigt zumindest, daß Auseinandersetzungen über die Interpretation psychophysischer Zusammenhänge weiterhin ein wichtiger Gradmesser für die Wissenschaftlichkeit psychologischer Konzeptionen bleibt. Volker Schurig

1. Dimensionen des psycho-physischen Problems (Peter KeUer) Das psycho-physische Problem, d . h . die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen zum Physischen, ist eines der klassischen Probleme der Psychologie und in seinem systematischen Stellenwert der Grundfrage der Philosophie als der Frage nach dem Verhältnis des Denken zum Sein, des Geistes zur Materie vergleichbar. Obschon nicht notwendig als solches thematisiert, ist es doch in allen Teilbereichen der Psychologie - angefangen bei den inhaltlichen und methodischen Problematiken der allgemeinen Psychologie bis hin zu den Detailproblemen der verschiedenen Therapieformen für psychische Störungen - ständig präsent. Dabei zeigt sich bereits in der Gegenüberstellung so unterschiedlicher Teildisziplinen wie der Psychophysik und der Psychopharmakologie als zweier Problemfelder, bei denen das psychophysische Verhältnis als zentraler Problemgegenstand unmittelbar in der offiziellen Bezeichnung der jeweiligen Disziplin erscheint, daß sich das psycho-physische Problem kei86

neswegs auf die Leib-Seele-Problematik beschränkt, sondern weit umfassender ist. Der bekannte sowjetische Psychologe Rubinstein gibt meines Erachtens mit dem Untertitel seines Buches "Sein und Bewußtsein" eine treffende Bestimmung dessen, was das psycho-physische Problem ist: Es ist die Frage nach der "Stellung des Psychischen im allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen in der materiellen Welt", wobei der Terminus "Stellung" sowohl den systematischen Ort des Psychischen als auch seine Funktion meint. Wenn ich im folgenden versuche, ein Panorama der verschiedenen Dimensionen des psycho-physischen Problems zu entwerfen, soll damit ein allgemeiner Orientierungsrahmen gegeben werden, der es gestattet, nicht nur einen besseren Zusammenhang der Thematiken der folgenden Referate untereinander herzustellen, sondern auch ihre Beziehung zu nicht behandelten Thematiken zum Gegenstand der sich an die Referate anschließenden Diskussion zu machen.

1.1.

Ein zentraler Bereich des psycho-physischen Problems ist nach wie vor die Begriffsproblematik. Sie stellt sich auf der kategorialen Ebene als Frage nach dem Wesen des Psychischen im Unterschied zum Physischen überhaupt ebenso wie im Zusammenhang spezifischer Fragestellungen, wo es gilt, eine bestimmte Erscheinungsform des Psychischen nicht nur von bestimmten materiellen Prozeßformen, sondern auch von anderen Erscheinungsformen des Psychischen abzugrenzen. Auf der kategorialen Ebene wird die Begriffsklärung häufig dadurch erschwert, daß zwar einerseits von der Wesensbestimmung des Psychischen als einem ideellen Tatbestand ausgegangen und seiner Verschiedenheit vom Materiellen durch die Auflistung fehlender physikalischer Eigenschaften Rechnung getragen, gleichzeitig jedoch dem Psychischen durch die Analogisierung oder gar Identifizierung seiner Merkmale mit materiellen Eigenschaften biologischer Systeme bis hin zur Unterstellung verschiedener Stoffeigenschaften materieller Körper eine gewissermaßen para-materielle Existenz zugestanden wird. So ist die Geschichte des psychophysischen Problems zugleich auch "eine Geschichte der Konstruktion und Verwerfung empirischer Sekundärkriterien des Psychischen, die einer Kontrolle durch die Sinnesorgane unterworfen werden können" (Schurig 1975, Bd. 2, S. 143). Auf der Ebene der Detailfragestellungen zeigt sich die Be87

griff sproblematik unter anderem in der Frage, wie sich denn die spezifische Qualität der psychischen Komponente im Rahmen komplexer neurophysiologischer Prozesse mit Systemcharakter bestimmen lasse. Hier besteht die Schwierigkeit darin, daß einerseitis von einer bestimmten Komplexitätsstufe der neurophysiologischen Prozesse an eine MetaTerminologie erforderlich wird, die dem Systemcharakter des psycho-physischen Verhältnisses insgesamt Rechnung trägt, sich andererseits jedoch für eine zweifelsfreie Identifizierung bestimmter Systemkomponenten als "physisch" oder "psychisch" dann gerade die "Neutralität" der Metasprache als Haupthindernis erweist. Wesentliches Teilmoment der Begriffsproblematik ist die begriffliche Binnendifferenzierung auf jeder der beiden Seiten des psycho-physischen Verhältnisses. Hier gibt es auf der Seite des Materiellen zwei gewissermaßen klassische Problembereiche. Der eine betrifft die vom individuellen Subjekt verschiedene, "äußere" materielle Wirklichkeit, der andere das individuelle Subjekt selbst unter der Perspektive seiner Materialität. Die thematische Breite des ersten Problembereichs wird bereits deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß z . B . die Frage "Was ist ein Reiz?" unter jeweiliger Betonung des "physikalischen", "biologischen" oder "gesellschaftlichen" Charakters eines Sachverhaltes der äußeren materiellen Wirklichkeit höchst unterschiedlich beantwortet werden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Problembereich. Hier finden wir als das eine Extrem die Reduktion des Materiellen auf die physikalischen Dimensionen der Hirntätigkeit und als das andere Extrem die Entfaltung des Materiellen zur gesellschaftlich bzw. biologisch bestimmten Totalität der für das psycho-physische Verhältnis als relevant erachteten objektiv erfaßbaren Merkmale eines Individuums. Damit wird bereits deutlich, daß sowohl im ersten wie im zweiten Problembereich die Begriffsproblematik zugleich immer auch schon inhaltliche Problematik ist, das heißt die jeweilige Begrifflichkeit immer schon eine bestimmte Zugangsweise zum psycho-physischen Problem und bestimmte Vorannahmen über das Wesen des psychophysischen Verhältnisses repräsentiert. Auf der Seite des Psychischen zeigt sich die Problematik der begrifflichen Differenzierung zum einen in der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Psychischem und Bewußtsein sowie der Bestimmung des Verhältnisses des Unbewußten zu beidem, zum anderen in der Notwendigkeit einer inhaltlichen Binnengliederung des Psychischen, Bewußtseins bzw. Unbewußten in spezifische Grunddimen88

sionen als "Wahrnehmung", "Denken", "Bedürfnisse", "Gefühle", "Gedächtnis" usw., wobei gewöhnlich eine Orientierung an dem traditionellen dreiklassigen Schema "Kognition-EmotionMotivation" erfolgt.

1.2.

Eine weitere Dimension des psycho-physischen Problems eröffnet sich mit der Frage nach der Notwendigkeit der Existenz des Psychischen. Im Vergleich der verschiedenen Lösungsansätze zur Bestimmung des psycho-physischen Verhältnisses zeigt sich, daß die Tragfähigkeit des jeweiligen Ansatzes nicht zuletzt davon abhängt, inwieweit durch ihn nicht nur das Problem der Objektivierung des Psychischen gelöst, sondern auch die Frage der Genese und der allgemeinen Funktion des Psychischen geklärt wird. Die thematische Breite dieser Problematik deutet sich bereits in der Gegenüberstellung zweier extremer Positionen an. Die eine geht davon aus, daß das Psychische nur dem Menschen zukommt, während die andere die ganze Welt als beseelt auffaßt. In der eigentlichen wissenschaftlichen Diskussion spielen jedoch beide Positionen heute keine entscheidende Rolle mehr, wenngleich die Streitfrage um die mögliche Beseeltheit auch der anorganischen Materie durch die Entwicklung hochorganisierter technischer Systeme, die zur Simulation organismischer Funktionen eingesetzt werden können, neue Aktualität gewonnen hat. Angesichts der mit einer "Psychologisierung" der Leistungen technischer Systeme notwendig auftretenden Paradoxien geht indes die Tendenz eher dahin, klassische Bestimmungskriterien des Psychischen neu zu überdenken und zu präziseren Bestimmungen der Stellung des Psychischen im Zusammenhang materieller Prozesse zu kommen. Zwischen den beiden Extremen des " Anthropopsychismus" einerseits und des "Panpsychismus" andererseits (deren gemeinsames Merkmal ja die ahistorische Interpretation des psycho-physischen Verhältnisses ist) liegen zwei weitere Positionen, die insbesondere auf der empirischen Ebene die Spannweite der gegenwärtigen Diskussion der psycho-physischen Problematik abstecken: zum einen der sogenannte "Biopsychismus", der das Psychische jeder Art von belebter Materie zuschreibt, zum anderen der sogenannte "Neuropsychismus", der das Auftreten psychischer Erscheinungen an die Existenz bestimmter Organe, genauer, an das Vorhandensein eines 89

Nervensystems knüpft. Wenngleich die allgemeine Grundvoraussetzung der letztgenannten Auffassung, nämlich die Korrelation der psychischen Erscheinungen mit einem bestimmten Organ bzw. Organsystem, mittlerweile den Status einer Lehrmeinung von axiomatischem Charakter hat, so erweist sich jedoch, wie bereits Leontjew in seinem Aufsatz über das Problem der Genese der Empfindungen deutlich gemacht hat, die einfache Korrelation der psychischen Erscheinungen mit der Tätigkeit des Nervensystems keineswegs als der methodische Generalschlüssel zur Lösung des psycho-physischen Problems, sondern birgt in sich sogar die Gefahren einer methodischen Sackgasse. Sie muß insbesondere deshalb unbefriedigend bleiben, weil sie "willkürlich eine direkte Verbindung zwischen dem Aufkommen des Psychischen und dem Entstehen des Nervensystems herstellt. Organ und Funktion hängen zwar untrennbar zusammen, diese Verbindung ist jedoch" (und dies wird von einer solchen Konzeption des "Neuropsychismus" nicht genügend berücksichtigt) "nicht unbeweglich, gleichbleibend und ein für allemal fix i e r t . . . So wird zum Beispiel die Funktion, die später vom Nervengewebe übernommen wird, ursprünglich durch Prozesse realisiert, die im Protoplasma ohne Beteiligung der Nerven ablaufen." (Leontjew 1973, S. 6) Wie man sieht, ist also ein Lösungsansatz zur Bestimmung des psycho-physischen Verhältnisses, der davon ausgeht, daß "das Entstehen des Psychischen unmittelbar und unabänderlich mit dem Entstehen des Nervensystems zusammenhänge", nicht unproblematisch, obwohl, wie Leontjew zu recht feststellt, "an einer solchen Verbindung auf den höheren Entwicklungsstufen natürlich nicht zu zweifeln ist" ( a . a . O . , S. 6 f . ) . Dabei ist jedoch für Leontjew die Korrelation des Psychischen mit Nervenprozessen nur ein Teilaspekt eines umfassenderen Ansatzes zur Lösung des psycho-physischen Problems. Allgemeiner Orientierungsrahmen für diese Korrelation ist nämlich für ihn die Auffassung, daß das Psychische "dem Leben nicht einfach beigegeben, sondern eine eigenartige Erscheinungsform des Lebens" ist, "die zwangsläufig im Laufe seiner Entwicklung entsteht" ( a . a . O . , S . 42). Damit wird deutlich, daß die Frage nach den Bedingungen der Genese und Existenz des Psychischen nicht unabhängig von der Frage untersucht werden kann, welche Funktion dem Psychischen in der Gesamtheit der Lebensfunktionen der Organismen zukommt. Geht man nämlich davon aus, daß das Psychische nicht nur eine rein subjektive Erscheinung bzw. bloßes "Epiphänomen" materieller Prozesse ist, dann muß es eine reale Bedeutung im Leben der Organismen 90

haben, d . h . eine Funktion erfüllen, die von anderen Lebensäußerungen eines Organismus nicht erfüllt werden kann. Dieser Gedanke, d . h . die These von der "Funktionalität" des Psychischen ist seit der Aufnahme entwicklungsbiologischer, insbesondere darwinistischer Grundsätze in die Psychologie einer der Eckpfeiler der an empirisch prüfbaren Detailaussagen orientierten theoretischen Auseinandersetzung um die spezifischen Bedingungen des psycho-physischen Verhältnisses. Dabei stellt dann die vom dialektischen Materialismus ursprünglich unter vorwiegend erkenntnistheoretischen Prämissen eingeführte Konzeption des Psychischen als einer ideellen Widerspiegelung der objektiven Realität eine Präzisierung des vom traditionellen Funktionalismus eingeführten "klassischen" Funktionalitätsprinzips dar, demzufolge das Psychische sowohl in seinen elementaren wie auch seinen entwickelteren Formen als eine aus den inneren Bedingungen der biologischen Evolution resultierende Komponente der Anpassung der Organismen an ihre Umwelt aufzufassen ist. Bekanntlich spricht Lenin bereits' in "Materialismus und Empiriokritizismus" davon, daß die Empfindungen dem Menschen nur unter der Bedingung "eine biologisch zweckmäßige Orientierung geben können", daß sie "die objektive Realität außerhalb des Menschen widerspiegeln" bzw. negativ formuliert: "der Mensch würde sich nicht biologisch einer Umgebung anpassen können, wenn seine Empfindungen ihm nicht eine objektiv richtige Vorstellung von dieser Umgebung gäben." (LW Bd. 14, S. 175) Dabei besteht der Kerngedanke der dialektisch-materialistischen Widerspiegelungskonzeption keineswegs, wie häufig unterstellt wird, in dem Postulat einer isomorphen Abbildbeziehung zwischen dem Psychischen und der objektiven Realität außerhalb des Organismus, sondern in der Annahme einer doppelten Determination des Psychischen durch das Physische. Das heißt, sie geht davon aus, daß die Widerspiegelungsbeziehung zwischen dem Psychischen und der materiellen Wirklichkeit immer durch ein Organ der Widerspiegelung vermittelt ist (vgl. Lenin a . a . O . , S. 79 f . ) . Die Funktionalität des Psychischen erwächst dann daraus, daß das Organ der Widerspiegelung zugleich jenes Organ ist, das die aktiven Beziehungen des Organismus zur Umwelt reguliert, so daß das eigentliche Kriterium der Funktionalität des Psychischen eben nicht seine Abbildbeziehung zur Umwelt ist, sondern die Realitätsangemessenheit der über die Widerspiegelung regulierten Aktivität des Organismus. Damit haben wir dann eine weitere Komponente des psychophysischen Verhältnisses identifiziert: das aktive Verhalten eines Organismus zu seiner Umwelt. 91

1.3. Mit der Betonung eben dieser Komponente als der die Einheit zwischen dem Organismus und der Umwelt vermittelnden "Instanz" unterscheidet sich der moderne Ansatz einer materialistischen Lösung des psycho-physischen Problems grundsätzlich von allen klassischen Lösungsansätzen, für die der Kernbereich der psycho-physischen Fragestellung gewöhnlich in der sogenannten Leib-Seele-Problematik besteht. Hier gibt es irn wesentlichen fünf Varianten: 1. der idealistisch-spiritualistische Ansatz, demzufolge das Psychische das Primäre gegenüber dem Körper ist, den es nicht nur in seinen biologisch-physiologischen Funktionen, sondern auch in seiner Morphologie bestimmt (letzteres von Relevanz in der klassischen Ausdruckspsychologie, insbesondere der Physiognomik); 2. der mechanisch-materialistische Ansatz, der die psychischen Erscheinungen als Derivate bzw. Eigenschaften biologisch-physiologischer Vorgänge innerhalb des Organismus auffaßt, ihnen jedoch den Status von Epiphänomenen zuschreibt, d . h . ihre Funktionalität bestreitet; 3. die Wechselwirkungs-Hypothese, derzufolge "Leib" und "Seele" zwar zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Wesenheiten sind, jedoch in der Beziehung einer gegenseitigen Beeinflussung zueinander stehen; 4. die Konzeption des psycho-physischen Parallelismus, die von einer gegenseitigen Unabhängigkeit der Körperprozesse und der psychischen Erscheinungen ausgeht, dabei jedoch eine Parallelität ihrer jeweiligen Wirkungsreihen postuliert, so daß sie, obwohl unabhängig voneinander, dennoch miteinander ins Verhältnis gesetzt werden und die Gesetzmäßigkeiten jeder der beiden Seiten dieses Verhältnisses direkt auf die jeweils andere Seite projiziert werden können; 5. die Identitätshypothese, derzufolge das Psychische und das Physische lediglich zwei unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Wesenheit sind. In der kritischen Zusammenschau dieser klassischen Lösungsansätze des Leib-Seele-Problems wird deutlich, daß jeder von ihnen sich auf ein anderes empirisch erfaßbares Teilmoment des psycho-physischen Verhältnisses konzentriert, dessen Eigenart dann zu einer umfassenden "Weltformel" verabsolutiert wird. So ist die empirische Grundlage des idealistisch-spiritualistischen Ansatzes das Erlebnis des eigenen "Ich" als dem 92

phänomenalen Ausgangspunkt und Zentrum der Aktivität des Subjekts. Demgegenüber orientiert sich die mechanischmaterialistische Interpretation des psycho-physischen Verhältnisses an Veränderungen der psychischen Erscheinungen, deren direkte Abhängigkeit von Veränderungen im körperlichen Bereich unmittelbar einsichtig ist wie im Falle von Intoxikationen, Hirnverletzungen oder experimentellen Eingriffen in das zentralnervöse Geschehen. Dabei wird die These der Einseitigkeit dieser Abhängigkeitsbeziehung damit begründet, daß sich die Aufeinanderfolge der Körperprozesse als eine geschlossene Kausalkette darstellen lasse, die an keiner Stelle die Einwirkung der psychischen Erscheinungen auf die materiellen Prozesse erfordere. In der Wechselwirkungs-Hypothese indes werden gewissermaßen die Ausgangserfahrungen des idealistisch-spiritualistischen Ansatzes einerseits und der mechanisch-materialistischen Interpretation des psycho-physischen Verhältnisses andererseits miteinander kombiniert. Das Hauptargument der Konzeption eines psycho-physischen Parallelismus besteht dann darin, daß die einzige mit objektiven Methoden direkt erfaßbare Beziehung zwischen dem Psychischen und dem Physischen die Gleichzeitigkeit ihres Auftretens ist und daß jede darüberhinausgehende Annahme einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit der beiden Seiten des psycho-physischen Verhältnisses voneinander ausschließlich spekulativen, d . h . letztlich metaphysischen Charakter habe. Demgegenüber macht die Identitätshypothese geltend, daß die Konzeption eines psycho-physischen Parallelismus insofern selbst spekulativ sei, als sie von einer begrenzten Anzahl empirisch erfaßter Gleichzeitigkeiten auf eine allgemeine, umfassende Gesetzmäßigkeit schließe, deren Notwendigkeit sie nicht begründen könne, es sei denn durch den Rekurs auf eine metaphysische Instanz, die eine prästabilierte Harmonie der beiden Seiten des Verhältnisses garantiere. Dies sei jedoch nicht notwendig, wenn man von vornherein davon ausgehe, daß Physisches und Psychisches miteinander identisch bzw. zwei Seiten ein und derselben Sache seien. Damit ist dann aber die Identitätshypothese nicht nur der konsequent zu Ende gedachte Grundgedanke des psycho-physischen Parallelismus, sondern sie steht zugleich auch in unmittelbarer Nähe jener spezifischen Variante des idealistisch-spiritualistischen Ansatzes, die das Physische lediglich als eine andere Erscheinungsform des Psychischen auffaßt . Es ist im Rahmen dieses Kurzreferats nicht möglich, auf weitere Details dieser fünf Positionen einzugehen; es 93

genügt hier, darauf hinzuweisen, daß die Geschichte des psycho-physischen Problems zugleich die Geschichte der Versuche einer gegenseitigen Widerlegung der einzelnen "Weltformeln" ist, so daß mittlerweile jeder der vorgestellten Ansätze als mit stichhaltigen Argumenten widerlegt gelten kann. Andererseits ist jedoch positiv anzumerken, d^aß in direkter Konsequenz des allgemeinen Konkurrenzverhältnisses jeder dieser Ansätze für sich in zumindest jeweils einem Teilbereich der psycho-physischen Problematik zur Vertiefung des Problemverständnisses bzw. Weiterentwicklung des methodischen Apparats der Psychologie beigetragen hat. Das allen gemeinsame negative Moment besteht dann darin, daß sie als wissenschaftliche Konzeptionen durchweg sowohl an der Frage nach der Notwendigkeit der Existenz des Psychischen als auch an der Frage nach der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Psychischem und Bewußtsein scheitern. Diese komplizierte und in sich widersprüchliche Sachlage hat in der Vergangenheit nicht selten einerseits die Überhöhung des psycho-physischen Problems zum unlösbaren Welträtsel, andererseits seine Abqualifizierung zum Scheinproblem provoziert. Ich halte beide Charakterisierungen für unzutreffend. Allerdings kann es für das psycho-physische Problem prinzipiell keine tragfähige Lösung geben, wenn man es programmatisch auf die Leib-Seele- bzw. die psychophysiologische Problematik reduziert. Vielmehr ist es notwendig, zu erkennen, daß die Frage nach dem Zusammenhang der psychischen Erscheinungen mit den Körperprozessen nur ein Teilproblem im Rahmen eines umfassenderen Problems ist und daher auch nur im Zusammenhang der Lösung dieses umfassenderen Problems eine wissenschaftlich befriedigende Antwort finden kann. In welcher Weise dies möglich ist, hat meines Erachtens der von Leontjew initiierte und von der Kritischen Psychologie weitergeführte Forschungsansatz deutlich gemacht, dessen Kerngedanke darin besteht, daß das psycho-physische Problem zugleich die Frage nach der Genese, Funktion und Entwicklung des Psychischen ist. Eine Frage, die sich nicht nur in der allseitigen Analyse der Erscheinungsformen des Psychischen in den verschiedenen Beziehungssystemen der unterschiedlichen historischen bzw. Entwicklungs-Ebenen, sondern auch in der differenzierten Untersuchung seiner jeweiligen Funktionalität konkretisiert, die ja ebenfalls keine ahistorische und unwandelbare Konstante ist.

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2. Das psycho-physische Problem aus aktivierungstheoretischer Sicht (Rainer Bösel) Psychische Phänomene sind die Gegenstände psychologischen Forschens. Im folgenden soll vor allem Bezug genommen werden auf Selbst-Bewußtsein und Erleben, auf Lernfähigkeit und redundanzerzeugende Aufmerksamkeitszuwendungen und Handlungen, sowie auf Kommunikationsfähigkeit, Sprache und Vergesellschaftung. Es handelt sich um Gegenstände, die vom forscherischen Interesse so ausgewählt sind, daß sie mit Einschränkungen auch auf nichtmenschliche Organismen anwendbar sind. Sie betreffen geradezu Eigenschaften, die geeignet sind, die qualitative Besonderheit menschlichen Interagierens zu charakterisieren. Demgegenüber erscheint unsere physische Existenz mit ihrer engen biologischen Determiniertheit und ihrer evolutiven Gewordenheit diskrepant. Ein Bekenntnis zu einem pragmatisch-arbeitsteiligen Erkenntnisprozeß und das Vertrauen auf eine Realität, in der die verschiedenen wissenschaftlichen Herangehensweisen konvergieren, löst das Problem des Verhältnisses von physischen und psychischen Prozessen nicht. Identitäts- oder Parallelitäts-Annahmen stoßen auf konzeptuelle Grenzen, die psycho-physiologische Korrelationen verhindern. In der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geistes/Gesellschaftwissenschaften stellen Wechselwirkungs-Vorstellungen in der Regel einen praktikablen Kompromiß dar.

2 . 1 . Das Psycho-physische Problem in der Physiologischen Psychologie In der Physiologischen Psychologie, wo sich diese Frage nach dem psycho-physischen Verhältnis in besonderem Maße stellt, ergeben sich traditionelle methodologische Beschränkungen. In der Regel werden aus pragmatischen Gründen psychologische, v . a . Selbstberichts-Daten und physiologische, v . a . peripher-vegetative Daten getrennt erhoben und in einem Wechselwirkungsmodell in Beziehung gesetzt. Gerade die Praxis zeigt aber, daß derartige methodologische Beschränkungen problematisch sind. Läsionen in der Großhirnrinde führen zu psychischen Defiziten, die - je nach Art der Läsion - durch geeignete Rehabilitationsmaßnahmen bis zu einem gewissen Grad wieder kompensiert werden können. Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand hängt 95

der Effekt solcher Rehabilitationsmaßnahmen im wesentlichen davon ab, inwieweit latent vorhandene, normalerweise redundante neurologische Strukturen intakt sind, für die dann eine Funktionsänderung erfolgt. Ein anderes, z . T . vergleichbares Problem entsteht bei der Interpretation der Befunde von Valins und Ray (1967), wo subjektive Konzepte, über die eigene physiologische Regulation deren Funktionsweise in Richtung der Konzepte zu beeinflussen scheinen. Daraus wird deutlich, daß psychische Funktionen weder die andere Seite der biologischen Medaille darstellen, noch bloß als etwas verstanden werden können, das zu den natürlichen Voraussetzungen dazukommt und mit ihnen interagiert. Es war von konzeptuellen Grenzen die Rede, die psychophysische Korrelationen verhindern. Für die Praxis der psychophysiologischen Forschung heißt das, daß z . B . das psychosoziale Phänomen "Angst", dessen interne Konstruktvalidität eng mit dem interpersonellen Verständnis und der Kommunizierbarkeit des Phänomens zusammenhängt, wenig Bestätigung durch stabile vegetativ-physiologische Muster erhält. Umgekehrt wissen wir spätestens seit den Experimenten von Schachter und Singer (1962), daß eine bestimmte vegetative Reaktionslage, die vorhersagbar ausgewählte biologische Funktionen begünstigt, je nach kognitiver Attribution unterschiedlich empfunden und kommuniziert wird. Die Existenz divergenter Phänomenklassen auf psychologischer und physiologischer Ebene kann nicht bloß durch die Existenz divergenter Begriffssysteme erklärt werden, die sich aus unterschiedlichen Interessenzusammenhängen historisch so entwickelt haben. Wäre dies so, würde zugleich der heuristische Wert aller Wechselwirkungsmodelle in Frage gestellt. Vielmehr sind die z . T . unabhängigen Entwicklungsdynamiken biologischer und gesellschaftlicher Systeme zu berücksichtigen. Beiträge für das Umgehen mit dem psycho-physischen Problem sind daher von dort zu erwarten, wo Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken, d . h . von Evolution und Tradition, diskutiert werden. Dazu gehören Fragen nach der evolutiv-historischen Gewordenheit psychosozialer Phänomene und Fragen nach Wechselwirkungen zwischen Verhalten und Genpol. Hat die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen von einem bestimmten Zeitpunkt an, an dem die biologischen Strukturen einen gewissen Eignungsgrad erreicht haben, eigendynamisch die Entwicklung psychischer Phänomene vorrangig so bestimmt, daß die Variationen in der Ausprägung des biologischen Substrates bedeutungslos sind? Gibt es 96

Rückund Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und der Herausbildung biologischer, insbesondere neuraler Strukturen? Ist die gesellschaftliche Entwicklung und ihr Umgehen mit Traditionen nur ein Abbild der enormen Differenziertheit evolutiv gewordener physiologischer Funktionen?

2.2. Der aktivierungstheoretische Ansatz Die biologische Evolution ist die Entwicklungsgeschichte von Genkonfigurationen. Diese stehen über die Gesetze der Populationsdynamik im Austausch, rekrutieren sich aus dem zur Verfügung stehenden Genpool und schaffen je nach existierendem Muster die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung ("Keimbahn"). Alles Verhalten, damit auch alle psychischen Phänomene, ist gebunden an die Möglichkeiten, die die momentane Genkonfiguration zuläßt, insbesondere gebunden an die biologisch determinierte, funktionelle Struktur des Gehirns. Wegen der praktischen Besonderheit genetischen Austauschs über die sexuelle Fortpflanzung existieren Genträger in Form von Individuen mit beschränkter Lebensdauer. Insofern ist die Entwicklung von Genkonfigurationen untrennbar mit dem Verlauf der Individualentwicklung der Genträger verknüpft. Die Individualentwicklung ist aber - vom psychologischen Interesse her gesehen - viel stärker durch die momentane Umgebung des Individuums, insbesondere durch die Realisierung bestimmter Interaktions- und Kommunikationsformen und beim Menschen durch die Teilhabe an nichtbiologisch überlieferten Traditionen, also durch "Sozialisation" bestimmt, als durch das genetische Erbe. Zwischen dem sich phylogenetisch entwickelnden Bewußtsein als Ausformung einer besonderen Geeignetheit (Preparedness) der biologischen Voraussetzungen und dem in der Individualentwicklung entstehenden Bewußtsein als Realisierung einer besonderen Geeignetheit (Relevanz) von Sozialtraditionen für das Interagieren des Individuums tut sich eine Schere auf. Diese Schere ist es wohl, die sich im unterschiedlichen Erkenntnisinteresse am psychischen Geschehen und damit im divergierenden Begriffsinventar von Naturund Geistes/Gesellschaftswissenschaften widerspiegelt. Die Aktivationstheorie beschäftigt sich mit dem (beiden Scherengliedern gemeinsamen) Angelpunkt, nämlich mit dem Verhaltensund erlebnisrelevanten physiologischen 97

Geschehen bzw. den biologischen Determinanten psychischer Prozesse. In der Physiologie werden sie in der Regel als integrative Leistungen des Nervensystems aufgefaßt. In der psychologischen Tradition werden Aktivationsphänomene vor allem als biologische Motivationsquellen eingeordnet. Versucht man, die rein biologischen Funktionen zur Selbstorganisation der organismischen Homöostase von den rein kognitiv-planenden Funktionen semantischer Informationsverarbeitung abzugrenzen, so zeigt sich sehr bald, daß auf dieser Ebene eine strikte Trennung wegen der engen Verschränkung und wechselseitigen Bedingtheit nicht möglich ist. Andererseits ist es wegen der weitgehenden Parallelität der Entwicklung psychischer Funktionen zu neuraler Komplexität heuristisch sinnvoll, davon auszugehen, daß höhere psychische Funktionen an phylogenetisch jüngere, elementare hingegen an phylogenetisch alte Gehirnteile gebunden sind. Funktionen, die an Übergangsstrukturen gebunden sind, bzw. die durch Spezialisierung älterer und jüngerer Teile entstanden sind, wären dann für entsprechende Wechselwirkungen in erster Linie verantwortlich zu machen. MacLean (1970a, 1970b) geht davon aus, daß v . a . Hirnstammfunktionen, die er protoreptilisch nennt, für die Stereotypie oder Instinktgebundenheit von Verhaltensweisen zuständig sind. Insofern könnte man z . B . Atemtätigkeit, Kreislaufregulation und lokomotorische Bewegungskoordinationen als überwiegend protoreptilisch determiniert annehmen. Mit der Warmblütigkeit treten phylogenetisch besondere Probleme der Anpassung an die Umwelt auf. Paläomammalische Funktionen des Nervensystems, die hauptsächlich an limbische Strukturen gebunden sein dürften, würden bei phylogenetisch jüngeren Nervensystemen diese Anpassungsaufgaben übernehmen. Besonders solche organismische Funktionen, die an das Vorhandensein bestimmter Umgebungs- und Interaktionsbedingungen gebunden sind, würden dadurch determiniert. Neomammalische Funktionen, die v . a . mit der Entwicklung des Neocortex in Verbindung gesehen werden, dienen weitgehend einer Informationsverarbeitung, die von momentanen Organismuserfordernissen und augenblicklicher Interaktion unabhängig sind, sich also auf den Entwurf von Handlungsplänen beziehen. Damit liegt der Schlüssel für das Verständnis höherer psychischer Funktionen sowohl in phylogenetischer Sicht, wie auch bei Berücksichtigung des biologischen Erbes für individuelle Sozialisationsprozesse, in den limbischen Aktivierungsfunktionen. Sie sind als genetisch determinierte, verhaltensrelevante Funktionseinheiten aufzufassen, die 98

gleichsam als Bausteine individuell und situationsabhängig unterschiedlicher Verhaltensweisen dienen. Für die psychophysiologische Forschung gilt es also, solche Funktionseinheiten abzubilden. Sie müssen einerseits hinreichend elementar und damit physiologienah sein, andererseits so integrativ, daß sie noch als Bausteine psychischer Funktionen gelten können.

2 . 3 . Zur Geschichte der Aktivierungsforschung Die Geschichte der Aktivierungsforschung ist geprägt durch das Bestreben, psycho-physische Korrelate zu finden und die neuronale Integration psychischer und biologischer Funktionen aufzudecken. Vor etwa 100 Jahren lieferte Fleischl von Marxow (1883, publ. 1890) die erste ausführliche Beschreibung von "Belichtungsexperimenten" an verschiedenen Tieren, wo es ihm um das hirnelektrische Korrelat informationeller Verarbeitungsprozesse ging. Erst etwa 40 Jahre später wurde diese Methode von Berger (1924, publ. 1929) am Menschen angewandt. Berger suchte damals nach den materiellen Grundlagen einer "psychischen Energie", teils verstanden als organismische Ursache seelischer Störungen, teils konzeptualisiert als körperliche Äußerungen psychischer Zustände (vgl. Niebeling 1980). Nach Kenntnis der Existenz physiologischer Korrelate von Verarbeitungs- und Steuerungsprozessen im Nervensystem stellte sich die Frage nach deren Deutung, insbesondere im Hinblick auf die Organismus-Umwelt-Interaktion. Papez beschrieb 1937 die Anatomie der sog. limbischen Vorderhirnschleife, die - gedacht als Regelkreis - imstande ist, Erregungen aus der wahrnehmenden und bewertenden Großhirnrinde mit Erregungen der Steuerzentren für körpereigene Prozesse zu verbinden. Seit den ersten Versuchen zur physiologisch-funktionellen Analyse dieser subkortikalen Strukturen (Green und Arduini 1954), die die zentrale Verknüpfungsstelle für Anpassungsprozesse des Organismus an die Umwelt darstellt, konzentrierte sich die Suche auf Korrelate zwischen limbischer Aktivität und Verarbeitungsund Verhaltensprozessen. 1975 konnten Vanderwolf, Kramis, Gillespie und Bland Unterschiede in der Hippocampus-Aktivität bei verschiedenen Bewegungsweisen von Tieren nachweisen. Die HippocampusFormation ist die zentrale anatomische Struktur des limbi99

sehen Systems, ein phylogenetisch alter Teil der Großhirnrinde. Die Autoren fanden dort rhythmische Aktivität bei Bewegungsweisen, die sie als "voluntary, appetetive, instrumental" bezeichnen (Typ 1), bzw. irreguläre Aktivität bei Verhaltensweisen, die mit "automatic, reflexive, consumatory" charakterisiert werden (Typ 2 ) . Eine vergleichbare Unterscheidung trifft Lorenz (1978, 106), wenn er "Mehrzweckbewegungen" von "spezialisierten Instinktbewegungen" abgrenzt. Das Typ 1/Typ 2-Schema ist sicherlich unzureichend. Überhaupt ist die Laborratte, an der die meisten einschlägigen Befunde gewonnen wurden, hierfür ein vergleichsweise ungeeignetes Untersuchungsobjekt, da sie von der Wanderratte abstammt und als besonders bewegungsaktiv gilt. Es gibt Explorationsverhalten auch bei unbewegtem Körper, nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren. Und auch in diesem Fall tritt im Hippocampus rhythmische Aktivität auf, allerdings mit biochemisch anderen Eigenschaften wie beim sog. Typ 1-Verhalten (nämlich cholinerg induziert, Vanderwolf und Robinson 1981). Wir sprechen von "Orientierender Informationsverarbeitung". Schon zuvor hatte Gray (1978) darauf hingewiesen, daß sich die Frequenz der rhythmischen Hippocampus-Aktivität je nach Spezifität der nicht-reizgebundenen Tätigkeit verändert. Insbesondere treten bei "Orientierender Informationsverarbeitung" langsame Frequenzen des sog. Theta-Bandes auf, während bei Explorationstätigkeiten (Typ 1) rasche Theta-Frequenzen (bzw. langsame Alpha-Wellen) zu beobachten sind. Frequenzen im mittleren Theta-Bereich wurden hingegen unter drei Bedingungen beobachtet: - secondary punishing (Auftreten von Mißerfolgs-Vorsignalen) - frustrative non-reward (Ausbleiben einer Belohnung) - novel Stimuli (Konfrontation mit einer unbekannten Umgebung) Eine dem dazugehörigen innerorganismischen Prozeß adäquate Bezeichnung für diesen Aktivierungsprozeß zu finden, ohne zu kopflastig zu interpretieren, ist schwierig. Da dieser Aktivierungsprozeß physiologisch mit einer noradrenergen Stimulierung verbunden ist und offenbar immer dann stattfindet, wenn wir beim Menschen eine Anstrengung unterstellen können, sowie unter Bezug auf eine entsprechende Konzeptualisierung, wie sie von Pribram und McGuinness (1975) vorgenommen wurde ( " e f f o r t " ) , sprechen wir von "Psychophysiologischer Anstrengung". Differenzierungen, wie sie in Abgrenzung zum Explorationsverhalten der Laborratte vorgenommen wurden, scheinen 100

auch für Aktivierungsprozesse erforderlich, die an irreguläre limbische Erregung gebunden sind. Immerhin kann man davon ausgehen, daß Tätigkeiten beim Menschen nicht nur auf Grund reflektorischer Verknüpfungen, sondern auch infolge hoher Gewöhnung automatisiert sein können. Pribram und McGuinness (1975) diskutieren ausführlich das in der psychophysiologischen Tradition schon lange bekannte Phänomen der energetischen Aktivierung, das (bei irregulär erhöhter limbischer Erregung) zu einem Zustand der erhöhten vegetativen Erregung und einer Mobilisierung der energiebereitstellenden Prozesse führt. Demgegenüber sind körperliche Prozesse bei reizorientierter Informationsaufnahme in der Regel durch einen "Clearing-" Mechanismus (vgl. z . B . Gale 1977) gekennzeichnet, die eine vergleichsweise ungestörte Aufmerksamkeitszuwendung ermöglichen. Die Autoren sprechen von perzeptivem Arousal. Traditionelle physiologische Indikatoren der Aktiviertheit (etwa im Sinne von Duffy 1972) kovariieren teilweise untereinander, aber erfahrungsgemäß nur wenig mit SelbstberichtsIndizes oder kognitiven Operationen. Daher wird immer wieder empfohlen, im multivariaten Ansatz (vgl. Fahrenberg et al. 1979) allgemeine oder spezielle Kopplungen ( z . B . kardiosomatische, nach Obrist 1976) oder Fraktionierungen ( z . B . Lacey 1967) zu untersuchen. Demgegenüber postulieren die neuropsychologisch orientierten Ansätze, von der Wirkungsweise funktionell unterschiedener Aktivierungssysteme auszugehen und psychophysiologische Korrelate zu suchen, die auf eine Kontrolle psychophysiologischer Prozesse durch die verschiedenen Aktivierungssysteme schließen lassen. Einem solchen Ansatz fühlen wir uns verpflichtet und geben nach dem Stand der Literatur einem explikativen Mehr-System-Modell den Vorzug gegenüber multivariat-mehrdimensionalen Ordnungsund Deskriptionsversuchen.

2.4. Aktivierungssyndrome und ihre Aggregationen Die in der Literatur beschriebenen Aktivierungssysteme sind weniger durch ihr anatomisches Substrat, sondern mehr durch ihre biologische Funktion gekennzeichnet. Dementsprechend sind in einem ersten Schritt vor allem zu unterscheiden : - Fixe Aktion (F; fixed action, nach Vanderwolf & Robinson 1981, vgl. auch Gray 1978 und LeMoal & Cardo 1975; AS I 101

nach Routtenberg 1968), - perzeptives Arousal (P; arousal nach Pribram & McGuinness 1975; vgl. auch Vinogradova 1970; Mulholland 1972), - orientierende Informationsverarbeitung (0; Typ l b nach Vanderwolf & Robinson 1981; vgl. auch LeMoal & Cardo 1975), - psychophysiologische Anstrengung (E; effort nach Pribram & McGuinness 1975; vgl. auch Gray 1978), - ungerichtetes Explorieren ( ü ; exploration nach Vanderwolf & Robinson 1981, vgl. auch Gray 1978; AS II nach Routtenberg 1968), - energetische Aktivierung (A; activation nach Pribram & McGuinness 1975). Die Funktion von Aktivierungssystemen ist, wie berichtet, hauptsächlich an neuropsychologische Prozesse gebunden, wie z . B . an die Aktivität im Hippocampus oder in der lateralmotorischen bzw. in der cholinergen Retikulärformation und in der Area ventralis tegmenti. Daneben gibt es aber auch behaviorale Äußerungen: motorische Stereotypie ( F ) , Unterbrechung gerade stattfindenden Verhaltens (P/O), ungerichtete Körper- und Augenbewegungen (U). Auf der vegetativ-physiologischen Meßebene könnten z . B . beobachtet werden: die Herzrate (Anstieg bei F, Abfall bei P/O), der Blutdruck (Abfall bei 0 ; Anstieg, ebenso wie von anderen noradrenerg bzw. über Alpha-Rezeptoren beeinflußte Größen, bei E), aber auch die Atemtiefe (ebenso, wie andere über Beta-Rezeptoren beeinflußte Größen, erhöht bei A) und die elektrodermale Aktivität (SCL-Anstieg, ebenso wie andere cholinerg beeinflußte Größen, bei 0 ) . Darüberhinaus gibt es Hinweise darauf, daß Variablen der EEG-Grundaktivität und des emotionalen Selbstberichts mit einem Vorherrschen einzelner der genannten Funktionen einhergehen. Hinsichtlich des emotionalen Selbstberichts fand Thayer (1970) unter Anwendung seiner Activation-Deactivation Adjective Check-list (AD ACL) hohe Korrelationen zwischen den Faktoren G Act, G Deac sowie H Act und bestimmten Variablenmustern peripher-vegetativer Meßgrößen. Die entsprechenden vegetativen Muster deuten auf gewisse Korrespondenzen zu den für A bzw. P bzw. E postulierten hin. Energetische Mobilisierung erhöht den G Act-Report (Otto 1983). Außerdem existieren Entsprechungen zwischen den Items der AD ACL-Faktoren und denen der von Osgood, May & Miron (1975) empfohlenen Kurzform des semantischen Differentials ( S D ) . 102

Der Nachweis derartiger Kovariationsmuster, die sich einerseits als psychophysiologisches Basisphänomen, andererseits als bedeutsame biologische Grundlage menschlichen Verhaltens charakterisieren lassen, bietet vor allem den Vorteil, in verschiedenen paradigmatischen Anordnungen mit unterschiedlichen Anforderungscharakteristiken jeweils geeignete (Aktivierungs-)Indikatoren unter Gewährleistung ihrer funktionalen Repräsentanz auszuwählen. Die eben erörterten Kennwerte bilden einerseits Regulationssysteme ab, die bestimmten psychischen Tätigkeiten bzw. Beanspruchungen des Organismus entsprechen. Wir sprechen von Aktivierungssyndromen. Darüberhinaus wird die Ausprägung dieser Syndrome auch in systematischer Weise mit interindividuellen Unterschieden von habituellen und situationsbezogenen Erlebnisweisen (Stimmungen, emotionalen Zuständen, Aktiviertheitszuständen) und Copingstilen (z.B. sensitives vs. defensives Coping) variieren. Wir sprechen von Aggregationen. Die Aktivierungssyndrome werden je nach objektiver, aber auch subjektiver Anforderung wechseln, z . B . bei der Vor- und Nachbereitung und im Verlauf zielgerichteter Tätigkeiten. Auf Grund geeigneter Annahmen über Ausmaß/Häufigkeit etwa von Aktivierung, perzeptivem Arousal und Anstrengung bei bestimmten Personengruppen in Phasen unterschiedlicher Anforderung sollten Voraussagen für entsprechende Muster und zeitliche Verläufe des Bewältigungsstils auf der Ebene der physiologischen Variablen oder des Selbstberichts möglich sein. Über Ergebnisse in diesem Bereich wird an anderer Stelle zu berichten sein. Faßt man individuell unterschiedliche Copingverläufe als Aggregationen von Mikroprozessen auf, so darf nicht übersehen werden, daß Regulationen auf höheren Aggregationsebenen auch wieder auf elementare Ebenen rückwirken können. Das widerspricht jedoch nicht der Annahme, daß eine weitgehende festgelegte Verkettung der Aktivierungsprozesse vorgegeben ist. Im Rahmen eines solchen gesetzmäßigen Ablaufs ist Ausmaß/Häufigkeit des Auftretens einzelner Aktivierungssyndrome anforderungsabhängig. Die Grobstrategie wird jedoch in einzelnen Phasen durch Wirkungen der kognitiven Tätigkeit bzw. des aufgabenrelevanten Gedächtnisbestandes und damit von Dynamiken auf höherer Aggregationsebene beeinflußt. Durch empirische Arbeit in diesem Forschungsfeld können möglicherweise Fragen, die das psycho-physische Problem betreffen, neu gestellt werden. 103

3. Die n 3-Welten-Theorie n von Eccles/Popper - ein metaphysischer Reflex der Neurophysiologie? (Volker Schurig) In den letzten 2 Jahrzehnten sind in der experimentellen Hirnforschung zahlreiche neue, fundamentale Organisationsprinzipien der Informationsverarbeitung im ZNS nachgewiesen worden. Sie betreffen 1. den biochemischen Aufbau und die Funktion verschiedener Transmittersubstanzen 2. die Klassifikation verschiedener Synapsentypen 3. Verschaltungsprinzipien von Neuronen und Neuronenverbänden sowie 4. die unterschiedliche Dominanz der beiden Gehirnhälften für verschiedene psychische Funktionen. Innerhalb von jedem dieser Gebiete existieren zahlreiche spezielle Experimente und Hypothesen, aus denen sich allgemeine Funktionsprinzipien des ZNS extrapolieren lassen. So gibt es z . B . Versuche, biochemische und funktionelle Veränderungen im Synapsenbereich mit der Klassifikation verschiedener Lernformen in Beziehung zu setzen, da sich nachweisen läßt, daß besonders Veränderungen in den exzitatorischen Synapsen auf den Dendritendornen von Pyramidenund Sternzellen in einem engen Zusammenhang mit Konditionierungsexperimenten auf der Verhaltensebene stehen. Experimente von Mountcastle zur Entstehung der Körpersensibilität haben gezeigt, daß der somästhetische Kortex aus kleinen, genau abgrenzbaren Arealen von Pyramidenzellen besteht, die jeweils auf spezifische afferente Reize mit der gleichen Reaktion antworten. Ähnliche Neuronenstrukturen konnten Hubel und Wiesel für den Aufbau des visuellen Kortex nachweisen. Szentogothai hat aus diesen und weiteren experimentellen Befunden eine Modultheorie der Neuronenverschaltung entwickelt, die davon ausgeht, daß senkrecht zur Kortexoberfläche säulenartige Einheiten (»Module1) existieren, die funktionell und strukturell relativ selbständige Grundeinheiten der Hirnrinde bilden. Nach der Modultheorie bestehen die primären sensorischen Rindenfelder aus einem Mosaik im Durchschnitt 0,2 mm starker Neuronensäulen, die bis zu 10.000 Zellen funktionell zu einer Einheit integrieren. Trotz ihres - aus wissenschaftlicher Sicht - hohen Integrationsgrades bleiben neurophysiologische Theorien vom Typ der Modulvorstellung noch unterhalb der Erklärung von Bewußtseinseigenschaften des ZNS. Allerdings gibt es auch bereits Modelle für die Ausbreitung von Hemmungen und Erregungen durch Verschaltung der Modulverbände, so 104

daß auch für die Entstehung integrierter Erregungsflüsse in der Hirnrinde, wie sie für die Bewußtseinsfunktion typisch sind, erste hypothetische Erklärungsansätze existieren. In technischen Analogiemodellen kann die Funktion der neuronalen Module über die Funktionsweise integrierter Mikroschaltkreise in der Elektronik verglichen werden. Der australische Neurophysiologe Eccles, der für seine Untersuchungen zur Synapsenfunktion mit dem Nobelpreis für Physiologie ausgezeichnet wurde, hat sich nicht darauf beschränkt, allgemeine Organisationsprinzipien der Informationsverarbeitung im ZNS zu einer physiologischen Begründung der Bewußtseinsfunktion zusammenzufassen, sondern außerdem seit 1970 in mehreren Publikationen hypothetische Modellvorstellungen entwickelt, die eine Verbindung der Ergebnisse der experimentellen Hirnforschung zu dem psychophysischen Problem herstellen. Unabhängig davon hatte Popper etwa zur gleichen Zeit auf erkenntnistheoretischer Ebene in Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem ähnliche Überlegungen entwickelt, so daß beide Positionen wechselseitig zur Stützung herangezogen wurden, ohne daß in allen Einzelheiten völlige Übereinstimmung besteht. In dem Buch "Das Ich und sein Gehirn" (1982) wurden von Eccles und Popper beide Konzepte weitgehend aneinander angeglichen, wobei eine f 3-Welten-Theorie f als gemeinsames Erklärungsmodell zugrundegelegt wird, das gegenüber den klassischen Interpretationen des psycho-physischen Problems wie dem psycho-physischen Parallelismus, dem Epiphänomenalismus und der Identitätsauffassung (vgl. dazu den Beitrag von Keiler) eine neue theoretische Dimension enthalten soll. Während Eccles hirnphysiologische Fakten und neurobiologische Theorien zur Stützung heranzieht, entwickelt Popper in einer historischen Retrospektive erkenntnistheoretische Argumente, die nicht nur die Neuartigkeit, sondern auch die empirische Ergiebigkeit der f 3-Welten-Theorie ! gegenüber den historischen Varianten des psycho-physischen Problems nachzuweisen versuchen. Obwohl es sich - nicht zuletzt durch die Kombination von naturwissenschaftlichem Datenmaterial mit dem ideengeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Problemstellungen - um eine anregende Diskussion des psycho-physischen Problems handelt, ist der eigentliche Gehalt der 'S-Welten-Theorie* auffällig gering. Die Welt 1 umfaßt alle materiellen und energetischen Objekte bzw. Prozesse. Zur Welt 1 gehören deshalb sowohl physikalische wie biologische Systeme, darunter auch das Gehirn als unmittelbarer Träger und das Organ des 'sich seiner selbst bewußten Geistes 1 . Die metaphysische Erhöhung 105

der Welt 1 ergibt sich aus dem Postulat, daß sie thermodynamisch angeblich 'geschlossen 1 sei, eine Annahme, die durch die noch spekulativere Einführung besonderer 'Spalten 1 , über die dann der Geist dann auf die Welt 1 einwirkt, versucht wird zu begründen. Tatsächlich existieren bereits in der unbelebten Natur zahlreiche, thermodynamisch gesehen 'offene' Systeme ( z . B . entstehen Wolken durch Energieaustausch mit der Umwelt). In wesentlichen Bereichen lebt die '3-Welten-Theorie' vor allem von der Einführung dieser und ähnlicher fragwürdiger naturphilosophischer Prinzipien über die Welten 1, 2 und 3, die entweder dann selbst widerlegt werden oder die, wie die Polemik gegen die mechanische Kausalauffassung, bereits seit Jahrzehnten kritisiert werden. Der Welt 2 wird der Bereich des Psychischen zugeordnet. Sie wird unterteilt in den Bereich der äußeren Sinne, zu dem die verschiedenen Empfindungen gehören, die inneren Sinne (Vorstellungen, Gefühle, Erinnerungen) und den zentralen Bereich des Ichs, der mit Begriffen wie 'Selbst', 'Seele', 'Wille' usw. umschrieben wird. Die Terminologie des Psychischen bleibt ausgesprochen unscharf, da die einzelnen Entwicklungsformen sehr verschieden als 'geistig', 'Bewußtsein', aber nicht in ihrer allgemeinsten Charakterisierung als 'ideell' benannt werden, was notwendig ist, um den Abstraktionsgrad des psycho-physischen Problems zu erreichen. Die Welt 2 ist gewissermaßen eine phänomenologische Klassifikation des Psychischen auf dem Niveau der Alltagspsychologie. Der Begriff 'Liaisongehirn' wird von Eccles eingeführt, um Hirnbereiche z . B . im Frontallappen und den Sprachzentren zu kennzeichnen, in denen unmittelbar die von ihm postulierte Wechselwirkung zwischen Gehirn und Geist stattfindet. Die Welt 3 bilden wissenschaftliche Aussagensysteme, also z . B . das psycho-physische Problem. Die Einführung einer Welt 3 verändert den klassischen Dualismus zwischen Gehirn und Geist, Physischem und Psychischem nicht, sondern kompliziert ihn nur, da Theorien auch immer über das IchBewußtsein transportiert werden. Ihre Existenz ändert damit nichts an der zentralen Stellung des Ichs in der '3-WeltenTheorie', zeigt aber trotz der abstrakten Konstruktion die allmähliche Reflektion der Gesellschaftlichkeit des Bewußtseins, dessen Existenz vor allem von Popper diskutiert wird. Insgesamt ist die '3-Welten-Theorie' jedoch von der Aufnahme des Verhältnisses von individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein überfordert und nur ein schwacher und teilweise falscher Abglanz des tatsächlichen Erkenntnis106

standes in der psychologischen Theorienbildung, da z . B . die Entstehung eines Ich-Bewußtseins erst ein spätes Entwicklungsprodukt der historisch-gesellschaftlichen Bewußtseinsbildung ist. Wie konfus die 3-Welten-Theorie teilweise konstruiert ist, zeigt sich auch darin, daß Eccles Werkzeuge, Bücher usw. der Welt 1 zuordnet, da er die gesellschaftliche Spezifik ihrer Herstellung nicht durchschaut. Eccles, dessen Überlegungen hier genauer betrachtet werden sollen, leitet aus dem 3-Welten-Konzept eine 'dualistische Interaktionshypothese f ab, indem zwischen der Welt 1 (Gehirn) und der Welt 2 (Geist) ein besonderes Wechselwirkungsverhältnis postuliert wird. Zahlreiche Argumente, insbesondere auch die Kritik des Epiphänomenalismus und psycho-physischen Parallelismus, konzentrieren sich dann vor allem auf den Nachweis einer spezifischen Rückwirkung des Geistes auf das Gehirn, da der f sich seiner selbst bewußte Geist1 wie bereits die umständliche Formulierung zeigt, als eine grundsätzlich neue Entität verstanden wird, die durch einfache Parallelität physiologischer und psychischer Prozesse nicht erfaßt werden kann. Die Bewußtseinsfunktion des Gehirns wird von Eccles in 6 Grundsätzen zusammengefaßt, von denen 5 Verallgemeinerungen neurophysiologischer Funktionsprinzipien des ZNS sind. Sie betreffen die Funktion der Hirnhemisphären, des 'Liaisongehirns', der Fokusierung der Geistestätigkeit als 'Aufmerksamkeit' und die Entstehung von Wahrnehmungstäuschungen und Willenshandlungen. Das eigentliche Problem der '3-Welten-Theorie' ist jedoch die Entstehung von Impulsen im 'sich seiner selbst bewußten Geist', dem Ich-Bewußtsein, die zu einer Neuorganisation neurophysiologischer Prozesse führen. Experimente von Kornhuber (1974) haben z . B . gezeigt, daß in den Pyramidenzellen des motorischen Kortex Erregungen erst dann entstehen, nachdem bereits 0,8 Sekunden vorher exzitatorische Bereitschaftspotentiale nachweisbar sind. Die Entstehung derartiger Bereitschaftspotentiale erklärt elektrophysiologisch die Entstehung von Willkürhandlungen, sie beantwortet aber noch nicht die Frage nach dem Zusammenhang von Bewußtsein und Erregungspotential. Die Begründung eines Verursacherprinzips als 'sich seiner selbst bewußten Geistes' wird von Eccles auch als der Fortschritt der 3-Welten-Theorie z . B . gegenüber dem Parallelismus angesehen. Während im Parallelismus die psychischen Funktionen ein eher passives Produkt der Hirntätigkeit sind, betont die dualistische Interaktionstheorie von Eccles/Popper die Fähigkeit des Ich-Bewußtseins zu einer eigenständigen Integration und Kontrolle auch neurophysiologischer Gehirnprozesse. Als Beispiele 107

werden psycho-physische Phänomene wie Narkose, Koma, verschiedene Aktivitätsniveaus der Bewußtseinsfunktion ( z . B . im Traum- und Schlafverhalten) angeführt. Derartige Begründungen der Eigengesetzlichkeit des Geistigen, die z . B . in der 'central state-Theorie 1 Feigls und dem psychophysischen Konzept Armstrongs noch nicht enthalten sind, gehören mit zu den anregendsten Passagen der '3-WeltenTheorie'. Der Umschlag von der gesicherten Extrapolation zur metaphysischen Spekulation erfolgt jedoch in der 6. These der 'dualistischen Interaktionstheorie' und ist deshalb lehrreich, weil sie eine Kombination mehrerer 'klassischer' Fehler des psycho-physischen Problems darstellt: 1. die falsche Lokalisierung eines Wechselwirkungsverhältnisses zwischen dem Gehirn und einem imaginären Geist, da die tatsächliche Wechselwirkung zwischen ZNS und Umwelt stattfindet. Psychische bzw. geistige Phänomene entstehen als Widerspiegelung der Umweltabhängigkeit, als dessen Organ das Gehirn fungiert. Die 'dualistische Interaktionstheorie' beschreibt deshalb streng genommen nur ein erdachtes Wechselwirkungsverhältnis, das notwendigerweise zu einer Spiritualisierung des Geistigen führt. 2. die Ausklammerung der Evolution des ZNS-Umweltverhältnisses, da die psychischen Funktionsleistungen kein luxurierendes Merkmal sind, sondern die Gehirnevolution über den Anpassungswert immer besserer Typen der Informationsverarbeitung reguliert wird. Die allein neurophysiologische Grundlegung macht die 'dualistische Interaktionstheorie' zu einem der klassischen Konzepte des psycho-physischen Problems, die eine Entstehung des Bewußtseins primär physiologisch begründen und es dadurch metaphysisch verselbständigen. 3. die Lösung des Geistigen von seinen materiellen Grundlagen, die zu einer falschen Begründung der Eigengesetzlichkeit des Psychischen führten. Die Welt 2 besitzt nach Eccles z . B . auch keine physikalisch nachweisbaren Aspekte. "Über diese Grenzen zwischen Welt 1 und Welt 2 oder Gehirn und Geist findet eine Wechselwirkung statt, die als steter Strom von Information, jedoch nicht von Energie, verstanden werden kann. Daraus ergibt sich die außergewöhnliche Lehre, daß die Welt der Materie und Energie (Welt 1) nicht völlig verriegelt ist, wie dies ein Grundgesetz der Physik postuliert, sondern die sonst völlig geschlossene Welt 1 kleine 'Spalten' aufweist." (Eccles, 1980, 143) 108

Nur zu Punkt 3 können hier einige Anmerkungen gemacht werden: Eine der metaphysischen Implikationen der ^-WeltenTheorie 1 beruht auf der physikalisch unhaltbaren Trennung von Energie und Information. Eccles stellt die Forderung auf, daß von den physikalischen Gesetzen speziell der 1. Hauptsatz der Thermodynamik so umformuliert werden muß, daß er die Erklärung geistiger Phänomene nicht beschränkt; eine Position, die in analoger Weise Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Biologie existierte und hier die Grundlage des Neovitalismus war. Ebenso wie die vitalistische 'Lebenskraft 1 eine Entität ist, die zwar physikalisch wirkt, energetisch aber nicht nachgewiesen werden kann, entspricht der 'sich seiner selbst bewußte Geist' in der 3-Welten-Theorie einem hypothetischen Konstrukt, das freischwebend als 'reine' Information existiert. Erst die Theorie des Fließgleichgewichtes löste in der Biologie den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik und der Existenz von Lebensprozessen, da Organismen als 'offene' Systeme ständig Energie und Information aus der Umwelt aufnehmen. Psychische Prozesse als Funktionen des ZNS sind in ihrer Entstehung einerseits energetisch von den offenen Systemeigenschaften der lebenden Systeme abhängig, zugleich sind sie aber nochmals auf den Aspekt der Informationsverarbeitung spezialisiert. Den Informationscharakter des Psychischen erkennen auch die Vertreter der 3-WeltenTheorie an, stellen die Informationseigenschaften aber dem (mechanischen) Materiebegriff gegenüber, was zu der Unklärbarkeit geistiger Phänomene führt. Für die Lösung des psycho-physischen Problems ist deshalb nicht nur eine entwickelte Determinusauffassung, sondern auch ein entsprechender Materiebegriff eine unabdingbare Voraussetzung, wobei drei öntologisch verschiedene Zustandsformen unterschieden werden müssen: 1. Materie als Substanz bzw. Masse. Ihre Eigenschaften definieren den Materiebegriff des Alltagsbewußtseins, während er in der wissenschaftlichen Theorienbildung zu einer mechanistischen Vereinfachung führt; 2. Materie als energetische Zustandsform, wobei Masse in Energie und umgekehrt verwandelt werden kann. Organismen entstehen als Systeme, die energiereicher als ihre Umwelt sind, indem sie der Umgebung durch den Stoffwechsel ständig Energie entziehen; 3. Materie als Informationsgehalt bestimmter Zustände und Prozesse. Die Existenz von Informationen ist immer an 109

spezielle Substanzen, Potentiale usw. gebunden, die nur die Erscheinung, aber nicht das Wesen der Informationseigenschaften bestimmen. Biologische Informationen sind entweder an besondere biochemische Substanzen gebunden ( z . B . DNA und RNA) oder es entstehen Biopotentiale ( z . B . Aktionspotentiale der Neurone) als Träger eines besonderen Informationszustandes, der als 'psychisch' bezeichnet wird. Fortschritte bei der Lösung des psycho-physischen Problems sind vor allem davon abhängig, inwieweit die speziellen Codierungsmechanismen hormonaler und neuronaler Informationsverarbeitung verstanden werden, aber weniger von der Analyse ihrer elektrophysiologischen Trägerfunktion, obgleich auch hier immer noch neue Formen entdeckt werden (vgl. dazu z . B . die Mikropotentialtheorie Pribrams). Die Gegenüberstellung von Energie und Information, der ein unterentwickelter Materiebegriff zugrunde liegt, führt zwangsläufig nur zu einer neuen Variante des 'spiritualistischen Idealismus.

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113

II. Einzelfall und statistische Verallgemeinerung - Ursprung, Problematik und Überwindbarkeit des Häufigkeitsdenkens in der Psychologie Koordination: Erhard Mader Teilnehmer: Eckart Leiser, Ernst Plaum, Jürgen Rehm, Lothar Sprung

Innerhalb des thematischen Rahmens, der hier insbesondere durch die im 9. Kapitel der "Grundlegung der Psychologie" (Holzkamp, 1983) angestellten Überlegungen und aufgeworfenen Fragen vorgegeben war, ließen sich nach der ursprünglichen Planung fünf Problemkreise unterscheiden, die den Ablauf der Veranstaltung inhaltlich wie zeitlich strukturieren sollten: 1. Das Problem der Abbildung psychologischer Gegenstände ins statistische Modell (Stochastisierung psychologischer Zusammenhänge, der Stichprobenbegriff in der Psychologie, Quantifizierung psychologischer Strukturen) 2. Organisation des statistischen Entscheidungsprozesses (ökonomische vs. wissenschaftslogische Kosten-NutzenGesichtspunkte, Möglichkeiten einer rationaleren Bestimmung des Fehlers erster und zweiter Art, EffektgrößenDiskussion und Forschungslogik, Differenzierung der Entscheidungsregeln beim Testen) 3. Induktionsproblematik (Beziehungen zu einer wissenschaftsökonomischen und gesellschaftsökonomischen KostenNutzen-Logik , Vermittlungen zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praxis: ideelle und materielle Verallgemeinerungsprozesse) 4. Wahrscheinlich.keitskonzepte (subjektive vs. objektive Wahrscheinlichkeit, "Bacon'sche" vs. "PascaPsche" Wahrscheinlichkeit, "reiner Fall" und Wahrscheinlichkeit) 5. Rationalität und Didaktik in der Statistik-Ausbildung (Strukturierung sollte auf den Fragestellungen der teilnehmenden Studenten aufbauen) Von den fünf tatsächlich vorgetragenen Referaten lassen sich zwei ohne Zwang - wenn auch bei größten Unterschieden in der Herangehensweise - der Thematik des ersten Punktes zuordnen (Sprung, Mader), die übrigen drei ebenso zwanglos - und bei ebenso großer Verschiedenheit in der Problemauffassung - einer Zusammenfassung der Punkte 2 und 3 114

(Rehm, Leiser, Plaum); die Problematik der Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wurde verschiedentlich angesprochen, jedoch nicht in der Ausführlichkeit, die ihre Behandlung hinsichtlich der Konsequenzen für die Sozialwissenschaften verdiente; die Didaktik schließlich fiel "hinten runter", wie dies häufig ihr Schicksal in der Methodenlehre ist und wie dies auch nicht verwunderlich ist auf einem Arbeitsfeld, auf dem noch keines der wesentlichsten Probleme als völlig geklärt angesehen werden kann und dessen Stellenwert als ganzes für die Erkenntnisgewinnung in den Sozialwissenschaften noch auf absehbare Zeit heftig umstritten sein wird. Die hiermit vorgelegte Zusammenfassung gliedert sich demgemäß, bei notwendigen Überschneidungen, um zwei thematische Schwerpunkte: Die Frage der Abbildbarkeit psychischer Zustände und Prozesse in statistische Modelle bzw. der Reichweite probabilistisch/statistischer Methoden (1) und die Besonderheit der erkenntnis- und wissenschaftslogischen Problematik des statistischen Schließens in der Psychologie/Sozialwissenschaft. (2)

1. Zur Gegenstandsangemessenheit statistischer Methoden 1.1. Grundzüge einer Allgemeinen Methodentheorie empirischer Forschungs- und Diagnoseprozesse (Lothar Sprung) Ausgehend von dem verbreiteten Unbehagen, das sich mit der allenthalben sichtbaren "Diskrepanz zwischen der zunehmenden Verfeinerung bei der Anwendung der Methodiken der nachträglichen Datenanalyse und der nach wie vor recht groben Methodik der vorangehenden theoriegeleiteten ... Datengewinnung" verbindet, legte Lothar Sprung Grundzüge einer allgemeinen Methodentheorie vor, die es gestatten sollen, durch "methodentheoretische Reflexionen und Integrationsvorstellungen . . . vorschnelle Extrema (zu) vermeiden und . . . das methodisch Erreichte angemessen zu nutzen." Bei der Darstellung dieser "Grundzüge" geht Sprung davon aus, daß die Grundsätze und Mittel der Erkenntnis auf verschiedenen Ebenen innerhalb einer klassifikatorischen hierarchischen Struktur angesiedelt sind. Auf der allgemeinsten, der philosophisch-erkenntnistheoretischen Ebene ergä115

ben sich für eine Allgemeine Methodologie die folgenden Grundprinzipien (um die Vorgehensweise beurteilbar zu machen, erscheint es mir angemessen, diese, zusammen mit ihrer im Original angegebenen Kurzfassung, hier vollständig anzuführen:) 1. Das Materialitätsprinzip ("Der Erkenntnisgegenstand ist materiell."), 2. Das Widerspiegelungsprinzip ( " Die Erken ntnisresultate sind Widerspiegelungsresultate."), 3. Das Determinationsprinzip ("Die Erscheinungen sind determiniert."), 4. Das Erkenntnisprinzip ("Der Erkenntnisgegenstand ist e r k e n n b a r . " ) , 5. Das Tätigkeitsprinzip ("Der Erkenntnisweg ist ein Einwirkungsprozeß."), 6. Das Praxisprinzip ("Die Praxis ist die Form, der Inhalt und der Zweck der Erkenntnis".), 7. Das historische Prinzip ("Jeder Erkenntnisprozeß ist historisch."). Auf der nächst niederen, aber immer noch allgemeinmethodologischen (wissenschaftstheoretischen), für alle Erkenntnisgegenstände gültigen Ebene finden sich dann: 1. Das Relevanzprinzip ("Methodiken müssen utilitär, empirische Untersuchungen müssen intern und/oder extern relevant s e i n . " ) , 2. Das Reduktionsprinzip ("Jede Untersuchungsplanung und -realisierung setzt eine Variablenreduktion vora u s . " ) , 3. Das Minimalitätsprinzip ("Jede Untersuchungsplanung und -realisierung ist auf die Erkenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen eines Phänomens gericht e t . " ) , 4. Das Analogieprinzip ("Jede Untersuchungsplanung und -realisierung muß intern und extern valide s e i n . " ) , 5. Das Repräsentanzprinzip ("Theorien lassen sich nicht nachträglich aus den Fakten extrahieren. Im Gegenteil: Sie haben implizit oder explizit bereits die Faktensuche bestimmt."), 6. Das Verifikationsprinzip ("Hypothesen müssen entscheidbar gemacht und empirisch geprüft werden."). Es folgt die einzelwissenschaftliche Ebene, auf der sich auf der Grundlage der gegebenen Prinzipien Spezielle Methodologien formulieren ließen, die an der jeweiligen "SubjektObjekt-Dialektik" des betreffenden Gegenstandsbereichs anknüpfen. Diese wiederum formten sich aus zu Methodiken ("Prinzipien und Techniken inhaltlicher und formaler Art" zur Realisierung des empirischen Forschungsprozesses), wobei sich noch die Generelle Methodik ("Strukturkomponenten einer Untersuchungsplanung und -realisierung" - Beispiel: Stichprobenpläne) von den Speziellen Methodiken ("Klassen der technischen Realisierungen dieser Komponenten" - Beispiel: Quotenverfahren) abheben ließen. Als "spezielle Realisierungsformen der Methodik" bilden die Methoden die unterste Stufe der Hierarchie. 116

Als Berichterstatter fühle ich mich an dieser Stelle verpflichtet zu versichern, daß ich trotz des Zwangs zur Kurzfassung keine (vom Leser vielleicht vermuteten) Hinweise auf etwaige Herleitungs- oder Vermittlungsschritte zur Ausweisung der verschiedenen Ebenen, ihres Zusammenhangs und ihrer Spezifizierung unterschlagen habe. Ich übernehme hierzu den vom Referenten in der Diskussion gegebenen Quellenverweis auf das demnächst erscheinende Werk Sprung, L. & H. Sprung (1984). Gegenstand jeder Untersuchungsplanung sei das "Psychologische Objekt" "in seiner unanschaulichen Konstruktform" - den "internen psychischen Strukturen und Prozessen" bzw. "Latenten Variablen" - und "in seinen phänomenalen Äußerungsweisen" - den "externen Strukturen und Prozessen" bzw. "Manifesten Variablen". Im Forschungsprozeß müsse die Verbindung zwischen inneren und äußeren Momenten über ein Paradigma abgebildet werden. Unter einem Paradigma wird dabei verstanden "ein Modell von etwas, nämlich von dem psychologischen Objekt, und für etwas, nämlich für den psychologischen Untersucher."(1) In Abhebung vom tradierten methodologischen Grundmuster, und hierin ist wohl die Kernaussage des Beitrags zu erblicken, wird das Verhältnis von "Subjekt", "Methode" und "Objekt" als ein Wechselwirkungsprozeß gefaßt. In der schematischen Darstellung (S M 0 ) wird dem durch das Einsetzen von Doppelpfeilen Rechnung getragen. Gleichwohl ließen sich "alle Methodiken als Standardisierungsmittel dieses Verhältnisses auffassen". Dabei gelte es, "nicht nur das Objekt, nicht nur das Subjekt und nicht nur die Methode" zu standardisieren, sondern dieses Verhältnis. Sprung spricht in diesem Zusammenhang auch von einem "kommunikationstheoretischen Grundansatz". Damit solle zugleich dem Mißverständnis vorgebeugt werden, daß dieses Verhältnis einseitig unter dem Gesichtspunkt des Objekts als eines Gegenstandes oder unter dem des Subjekts als eines Manipulators begriffen werden könnte. Aussagen dieser Art verblieben allerdings wiederum auf der Ebene des "trockenen Versicherns". Wie das Standardisieren (im weiteren das interne und externe Validieren e t c . ) des S-M-O-Verhältnisses in Einklang zu bringen sei etwa mit den bewußten Orientierungsaktivitäten der "Objekte" in einer Experimentalsituation, wurde weder ausgeführt noch angedeutet. - In diesem Zusammenhang mag es lehrreich sein zu erkennen, daß die intensiv betriebene Forschungsrichtung der "Sozialpsychologie des Experiments" nach zwei Jahrzehnten in totaler Ratlosigkeit vor dem Dilemma 117

steht, ob im Festhalten am "alten Weltbild" zunehmend größere Anteile "natürlichen Verhaltens" als Störvariable unter Kontrolle zu bringen sind, oder ob die ursprünglich für Objekte konzipierte Methode Subjekten womöglich nicht angemessen i s t . ( 2 ) - Der hier von Sprung unterbreitete Ansatz muß in der Konsequenz, befürchte ich, zu eben derselben Art von Ratlosigkeit führen. Im Schlußteil seines Vortrags deutete Sprung drei Stufen des weiteren Ausbaus seines Ansatzes an. Unter Verweis auf die genannte Quelle (vgl. auch Sprung, L. & Sprung, H. (1983)) verzichten wir auf die Wiedergabe der beiden letzten, die Erweiterungen von eher technischer Art darstellen, geben dafür aber die erste der "Differenzierungen" im vollen Wortlaut: "In seiner ersten These über Feuerbach formuliert Marx den Gedanken, daß die 'Wirklichkeit1 nicht 'nur unter der Form des Objekts gefaßt1 werden darf, sondern als 'menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis 1 . Auf unser S-M-O-Verhältnis bezogen bedeutet das zumindest zweierlei. Zum ersten besitzt dieses Verhältnis, das uns in der psychologischen Praxis häufig als Versuchsleiter/Versuchspersonen- oder Diagnostiker/Diagnostikant-Verhältnis begegnet, eine aktualgenetische Dimension. Das betrifft in einer Untersuchung die unmittelbar wirksam werdenden Versuchsund Randvariablen, die technologischen Mittel zur Datengewinnung, zur Datenanalyse usw. Sie sind in der Regel unmittelbarer Gegenstand der Untersuchungsplanung. Zum zweiten besitzt dieses Verhältnis eine historische Dimension, und zwar i . S . einer natur- und gesellschaftsgeschichtlichen Bestimmtheit. Das betrifft im Falle des Versuchsleiters beispielsweise seine spezifischen Vorkenntnisse, seine Schulenzugehörigkeit, seine Vorurteile, seine Hypothesen, seine methodischen Fähigkeiten usw. Entsprechendes gilt für die Versuchspersonen, z.B. ihre Einstellung zum Versuchsleiter (Diagnostiker), ihre Hypothesen über das Versuchsziel usw. Es betrifft aber auch das M, die technologischen Mittel, nämlich den historischen Entwicklungsstand der Versuchsplanungstechnik, der Stichprobentechnik, der Inferenzstatistik, der Testtheorie usw." Der Referent brachte abschließend noch einmal seine Überzeugung zum Ausdruck, daß sich in einem solchen Rahmen unter Ausschöpfung des "reichlich vorhandenen Wissens der existierenden Methodik" ein "methodischer Rigorismus" durch "methodenkritische Reflexionen und methodentheoretische Integrationsvorstellurigen" vermeiden ließe. 118

Während die Absicht klar wurde, blieb m.E. unklar, wie diese zu begründe wäre, und es erhebt sich die Frage, ob die zu integrierenden Methoden tatsächlich "kritisch reflektiert" wurden. Die Psychologie ist im Verlauf ihrer Wissenschaftsgeschichte, nach Auffassungen wie sie im Rahmen der Kritischen Psychologie entwickelt wurden, nicht allein dadurch immer mehr in die Sackgasse geraten, daß sie in ihren theoretischen Vorbegriffen die an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheinende Vorstellung eines Individuums an sich als quasi natürlicher und weiter nicht hinterfragbarer Untersuchungseinheit immer wieder "blind reproduzierte", sondern wesentlich auch dadurch, daß sie sich unter dieser ihr selbst verborgenen Voraussetzung in (ideologischer) Orientierung am vermeintlichen Vorbild der Naturwissenschaften einem Methodenkanon verschrieb, der als Untersuchungseinheit wiederum gar nichts anderes zuläßt als das "abstraktisolierte" Individuum, das - in Absehung von seiner aktiven und der Möglichkeit nach bewußten Teilhabe an der Reproduktion und Fortentwicklung der Gattung, damit zugleich der Reproduktion und Erweiterung seiner eigenen Lebensbedingungen - auf fremdgesetzte Bedingungen lediglich r e - a g i e r t . ( 3 ) Wenn dies richtig ist, wenn also die kritische Reflexion der in der traditionellen Psychologie kanonisierten Methoden gerade ergäbe, daß diese zur Erfassung der wesentlichen Charakteristika menschlicher Subjektivität notwendig ungeeignet sind, wie sollten diese Methoden dann noch an zentraler Stelle in den Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung integrierbar sein? Dies war offensichtlich auch der Hintergrund, vor dem sich sämtliche Diskussionsredner kritisch auf die vorgetragene Vereinbarkeitsthese (4) bezogen und sich dabei unter verschiedenen Aspekten auf das zugrunde gelegte SubjektObjekt-Verhältnis konzentrierten. (5) a) Wenn von Standardisierung der Untersuchungssituation und in diesem Zuge von Validierung die Rede ist ( 6 ) , wenn Validierung aber immer Prognose impliziert (statistische, auf den Einzelfall nicht übertragbare Prognose, E.M.), wenn die Prognose ihre praktische Bedeutung nur über eine Entscheidung erlangt, und wenn die Entscheidung üblicherweise die Entscheidung über einen anderen ist, wie, so wurde gefragt, läßt sich auf der Grundlage dieser Begrifflichkeit der Charakter des Manipulativen, also ein instrumentelles Verhältnis zwischen " S " und " 0 " , noch ausschließen?

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b) Wenn man nicht das Verhältnis von Tätigkeit und Abbildniveau zum Kern der Diagnostik mache, stattdessen innerhalb der Verhaltensdimension verbleibe, wie sorgfältig und interdependent diese auch angelegt sein mag, so müsse man, wurde in ausführlicher Begründung u . a . unter Berufung auf Leontjew argumentiert, seinen Gegenstand notwendig verfehlen. Wieso also, wurde gefragt, sei das gegebene Schema in der Verhaltensdarstellungsweise und nicht in der tätigkeitstheoretischen Darstellungsweise gehalten? c ) Bezüglich der Beziehung zwischen dem sog. Subjekt und dem sog. Objekt sei der Eindruck entstanden, wurde gesagt, "daß das Forschungsobjekt eigentlich nur durch die methodische Brille gesehen" werde. Je weiter die methodische Brille, desto umfassender wohl auch, was durch sie hindurchkomme, aber "die Brille bleibe schließlich die Brille", und wie dies vereinbar sei mit der unmittelbaren Beziehung zwischen Forscher und Betroffenem, mit der Vorstellung von einem kooperativen Forschungsprozeß innerhalb eines "intersubjektiven Verständigungsrahmens".(7) d) Da das Subjekt-Objekt-Verhältnis, wurde weiterhin gesagt, in den Sozialwissenschaften nicht naturwüchsig vorliege wie bei Sachverhalten der Naturwissenschaft, sondern ja durchgesetzt werde, sei die Frage, inwieweit mit der Durchsetzung dieses Verhältnisses etwas Entscheidendes an dem Gegenstand deformiert werde. Wenn dies grundsätzlich so sei, müsse daraus nicht folgen, daß ein grundlegend anderes Paradigma zu fordern ist zur Beschreibung von psychologischen üntersuchungsprozessen, in denen Intersubjektivität in irgendeiner Weise dargestellt wird? Hauptpunkte der Erwiderung von Lothar Sprung waren die folgenden. Ad c und d: Der Ausgangspunkt einer jeden Untersuchung sei ein Verhältnis (S-M-O), aus dem die konstitutiven Teile nicht einseitig herauslösbar seien ("Wir müssen \\r\s lösen von dem Starren auf das M"), in das die historischen Dimensionen ebenso eingingen wie die Reflexivität des Objekts und das seiner zeitlichen Erstreckung nach "durchaus auch eine Längsschnittstudie sein" könne. Dieses Verhältnis sei zwar ein Wechselverhältnis, doch gäbe es eine dominante Richtung: "Die Vorzugsrichtung ist ganz sicher von S auf 0 , d . h . die Freiheitsgrade des S, was die Frage der Auswahl der Methoden, der Datenanalyse, der Gestaltung der Situation anbelangt e t c . , sind zweifellos höher." ("Das ist ja nun mal ein Charakteristikum von solchen Forschungssituationen.") Man könne nicht in jedem Stadium des Untersu120

chungsprozesses von einer völligen Gleichberechtigung von S und 0 ausgehen. Es gäbe Rückwirkungen der Richtung von 0 nach S, die zu Korrekturen verschiedener Art Anlaß geben könnten (Änderung der Hypothesen auf Seiten des S, Rückgang auf ein neues Planungsstadium e t c . ) , man dürfe jedoch nicht so weit gehen, von einem "Wechselwirkungsprozeß bi-direktionaler Art" zu sprechen ("Pardon!, das ist für mich small talk, aber keine Forschung"), da man dann nicht "zu vergleichbaren Daten" gelangen könne. Allerdings müsse (ad b) das methodische Verbindungsglied zwischen Subjekt und Objekt nicht in einer der üblichen Methoden, etwa einem Test, bestehen, es könne sich dabei durchaus um eine Tätigkeit handeln, etwa um eine Problemlösungstätigkeit, auch um eine Arbeitstätigkeit. Ad a: Die Frage der (diagnostischen) Validität wollte Sprung abgetrennt sehen von dem Zweck, zu dem die Beziehung der Validität gebildet und die gewonnenen Daten verwendet würden, der Frage der Relevanz.(8) Ich habe Vortrag und Diskussion (gemessen än den Auflagen zum Textumfang) recht ausführlich nachgezeichnet, weil sich hier - als ein Beispiel "für eine scheinbar bloß f einzelwissenschaftlich'-psychologische Auseinandersetzung, in der sich tatsächlich ein prinzipieller 'kategorialer* Dissens ausdrückt" (9) - die Positionen letztlich so unvermittelt kontrovers gegenüberstanden wie dies für Zeiten des Paradigmenwechsels kennzeichnend zu sein pflegt, weil auf diese Weise die Thematik des Kongresses in einem zentralen Aspekt besonders deutlich beleuchtet wurde und weil meiner Einschätzung nach die verschiedenen Spielarten eines Methodenbewußtseins, das allerlei Abstriche am tradierten "Rigorismus" zu machen bereit ist, sich in der künftigen Auseinandersetzung als langlebiger erweisen werden als das strikte Festhalten am nomothetischen Wissenschaftsverständnis. (10) Die Auffassung, wonach sich in das gesetzte S-M-O-Verhältnis vieles von dem einbeziehen lasse, "was an gutem methodischen Wissen der Versuchsplanung, der Statistik, der Testtheorie, der Stichprobentheorie in der knapp lOOjährigen Geschichte unserer Wissenschaft entwickelt worden i s t " , konnte sich nur als Überzeugung vermitteln, als ein "Credo" (Sprung), das sich kundtun, das sich aber nicht ausweisen ließ. Diese Überzeugung wird (in verschiedenen Varianten) m.E. so lange Vertreter finden, wie nicht einerseits der Stellenwert der herkömmlichen Methoden und ihrer methodologischen Basis wirklich bestimmt ist, d . h . solange deren prinzipielle Aussagemöglichkeiten 121

einschließlich der Festlegung ihrer Grenzen nicht noch präziser und zwingender als dies bereits geschehen ist expliziert sind auf eine Weise, die die Kriterien angibt, die ein Gegenstand notwendig erfüllen muß, auf den ein bestimmtes methodisches Verfahren erkenntnisfördernd anwendbar sein soll, so daß für einen in seinen wesentlichen Aspekten bestimmten Gegenstand eine dem Erfordernis der Transparenz genügende Adäquatheitsprüfung möglich wird, und wie nicht andererseits (und dies vor allem) auf der Grundlage der (historisch) empirischen "kategorialenTT Bestimmung des eigentlichen Gegenstands der Psychologie und daraus gewonnener allgemeiner methodologischer Prinzipien (dem Unternehmen, dem sich Holzkamp mit der "Grundlegung" unterzogen hat) auf dem Feld der Aktualempirie Verfahrensweisen entwickelt worden sind, deren Überlegenheit - nachdem sie als gegenstandsangemessen und wissenschaftlich tragfähig ausgewiesen sind - den Forschern, den berufspraktisch tätigen Psychologen, Sozialarbeitern etc. und den Betroffenen gleichermaßen sinnlich-konkret erfahrbar wird.(11) Wenn die Herleitungen Holzkamps zur psychologischen Gegenstandsbestimmung im wesentlichen richtig sind, wenn mithin der psychologische Forschungsprozeß an Stelle eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis notwendig voraussetzt ("weil sonst die Spezifik des Gegenstands 'menschliche Handlungsfähigkeit/ Befindlichkeit bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz' verlorengeht" (Holzkamp 1983, 540), so muß dies auf der methodischen Ebene sehr tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen. Diese Veränderungen praktisch und theoretisch zu entfalten, war dann nicht nur eines der Themen dieses Kongresses (12), sondern wird zur Hauptaufgabe, die die Psychologie als Subjektwissenschaft zu bewältigen hat.

1 . 2 . Menschen als Stichprobenelemente (Erhard Mader) Erhard Mader hatte sich die Frage vorgelegt, wie Menschen in Stichproben Eingang finden. Er wollte anhand eines Begriffs, der überall dort grundlegend ist, wo statistische Verfahren zum Einsatz gelangen, aufweisen, welche Vorgaben die Verwendung des Konzepts für beliebige Gegenstände impliziert, um schließlich für den sozialwissenschaftlichen Bereich von der Methodenseite her die Voraussetzungen für eine Adäquatheitsprüfung zu schaffen, durch die genau 122

angebbar wäre, was an Menschen bei ihrer Verwandlung in Stichprobenelemente verlorengeht und was an ihnen (unter verschiedenen Aspekten) womöglich erhalten bleibt. Dabei konnte nicht ausgegangen werden von der "Definition" einer Stichprobe, wie sie in den Lehrbüchern der Sozialwissenschaften anzutreffen ist - einerseits ihrer fehlenden begrifflichen Verankerung wegen, andererseits wegen deren immanenten Ungereimtheiten, auf die Mader aufmerksam machte - , es mußte vielmehr eine Definition zugrunde gelegt werden, die mathematisch in der Grundbegrifflichkeit der Wahrscheinlichkeitstheorie fundiert ist. Hiernach konnte der Begriff nicht anders gefaßt werden als eine in bestimmter Weise ausgezeichnete Folge von Zufallsvariablen. Inhaltliche Überlegungen führten schließlich zu der folgenden Definition: a) "Eine Zufallsfolge ( X n ) von unabhängigen und identisch verteilten Zufallsvariablen Xj heißt eine mathematische (Zufalls) Stich probe." b) "Die bestimmte Realisierung ( x n ) einer mathematischen Stichprobe ( X n ) heißt eine konkrete (Zufalls)Stichprobe."(13) Alles weitere mußte sich aus der Explikation dieser Definition ergeben, der inhaltlich die Vorstellung der n-fachen Wiederholung eines realen Zufallsvorgangs (Zufallsexperiments) zugrunde liegt. Ein erster anhand von Beispielen vorgenommener Vergleich der Definition mit der üblichen "Definition" erwies, daß hiernach Vorgänge, die von der herkömmlichen "Teilmengenvorstellung" ausgeschlossen werden, als echte Stichproben anzusehen sind, während der das gewöhnliche Verständnis repräsentierende Fall nur i . S . einer Näherung mit der Definition vereinbar ist. "Vor dem Hintergrund, auf dem üblicherweise die Population (die Grundgesamtheit) mit dem Allgemeinen und die Stichprobe mit dem Besonderen assoziiert wird", wurde darauf hingewiesen, "daß in der hier gegebenen Definition mit der mathematischen Stichprobe ein allgemeines Modell vorausgesetzt i s t . . . , innerhalb dessen die konkrete Stichprobe eine bestimmte Variante darstellt, die im Rahmen des Modells zur Realisierung gelangen kann." Bemerkenswerterweise wurde somit der Populationsbegriff formal nicht benötigt. Es blieb aber die Frage zu klären, auf welche Weise die vertraute Vorstellung von einer "Population" als einer konkreten Menge merkmalbesetzter Objekte zu dem dargestellten wahrscheinlichkeitstheoretischen Begriffsrahmen in Beziehung zu bringen ist. Die Frage erfuhr eine überraschende Antwort: Eine Population sei nichts anderes als 123

eine konkrete Stichprobe, in den meisten Fällen sogar nur die Teilmenge einer konkreten Stichprobe. Maders Argumentation bezüglich dieser die Dinge scheinbar auf den Kopf stellenden Auffassung war einfach: Gemäß der "sequentiellen Vorstellung", die die gegebene Definition erzwingt, bilden sämtliche Erscheinungen, die durch die Wiederholung eines Zufallsvorgangs vom Anbeginn seiner Durchführung bis zu irgendeinem Zeitpunkt (etwa der Gegenwart) erzeugt werden, eine konkrete Stichprobe. Woraus aber werden die Stichproben des gewöhnlich "kleinen" Umfangs ausgewählt, wenn nicht aus dieser Gesamtstichprobe bzw. deren jeweils verfügbarem Teil? Also fällt die Population mit einer Teilmenge der Gesamtstichprobe zusammen und sie kann niemals größer werden als diese selbst. Mader sprach in diesem Zusammenhang von "populationserzeugenden Zufallsexperimenten". Allerdings gelte dies nur unter der Einschränkung, daß die Population (immer unter einem bestimmten Aspekt) tatsächlich als zufällig erzeugt aufzufassen, nicht hingegen, wo diese unter wahrscheinlichkeitstheoretischen Gesichtspunkten als unhinterfragbare Gegebenheit hinzunehmen sei. Aus dieser Unterscheidung ergab sich eine weitere wesentliche Schlußfolgerung: Bezüglich des zweiten "wissenschaftlich unergiebigsten Falls" könne er nicht sehen, sagte Mader, wie über diese endlichen Populationen in irgendeiner Weise hinausgegangen werden könnte, insbesondere, mit welcher Rechtfertigung diesen die seit R . A . Fisher in die Literatur eingeführten "hypothetisch infiniten Populationen" übergestülpt werden könnten, die im übrigen in seinen Augen ohnehin nur logische Schimären darstellten. Bezüglich des ersten Falls, in dem nicht auf "Populationen", sondern auf strukturelle Momente bzw. dispositionale Eigenschaften des zugrunde liegenden und damit jedes einzelnen Zufallsexperiments der Serie geschlossen würde, wären im (prädikaten)logischen Sinn allgemeine Aussagen immerhin möglich, nämlich dann, wenn die unbeschränkte Förtsetzbarkeit der Zufallsfolge, damit die unbeschränkte Wiederholbarkeit des zugrunde liegenden Zufallsexperiments unterstellt würde. Mader hielt als nächstes für notwendig, zwischen Merkmalen und Merkmalsträgern zu unterscheiden. Er zeigte zunächst, daß diese trivial anmutende Unterscheidung mit gewissen verbreiteten und zu berichtigenden Vorstellungen havarieren kann; der eigentlich verfolgte Zweck bestand jedoch darin, die sehr sinnvolle Vorstellung, daß der Ergebnismenge eines Zufallsexperiments jede Mächtigkeit zugeschrieben werden kann (daß sie insbesondere überabzähl124

bar sein kann), von der sehr sinnlosen Vorstellung, wonach alle diese möglichen Ergebnisse in Form eines "ObjektVorrats" irgendwie vorhanden sein müssen, abzukoppeln. Mit der wahrscheinlichkeitstheoretischen Festlegung des Stichprobenbegriffs ist seiner Auffassung nach durchaus die (materialistische) "Vorstellung vereinbar, daß die zur Hervorbringung von Merkmalen notwendigen Objekte aus demselben Stoff erzeugt werden, in den die erzeugten wieder eingehen. "(14) Eine weitere (und letzte) inhaltliche Unterscheidung bestand darin, Merkmalsträger, die hinsichtlich einer vorgegebenen Dimension in einem Versuch einen und nur einen Wert annehmen können (Beispiel: Urnenkugeln) begrifflich von solchen Merkmalsträgern zu sondern, die in einem Versuch potentiell verschiedene Werte annehmen können (Beispiel: Münzen). Auf der Grundlage der vorgenommenen Differenzierungen zerfalle nun die Vielfalt der inhaltlichen Möglichkeiten, eine Stichprobe zu realisieren, in nicht mehr als drei Klassen, von denen nur die beiden folgenden für den weiteren Untersuchungszweck relevant seien. Modell I: "Die Objekte, die eine konkrete Merkmalsfolge erzeugen, sind relativ zur gegebenen Dimension variabel und nach Voraussetzung gleich. Jedes Objekt kann jedes Merkmal der Dimension hervorbringen; die Wahrscheinlichkeit eines beliebigen Merkmals (Merkmalsintervalls) ist für jedes Objekt in jedem Versuch die gleiche." Modell II: "Die Objekte, über die eine konkrete Merkmalsfolge erzeugt wird, sind relativ zur gegebenen Dimension invariant und der Möglichkeit nach verschieden. Ein Objekt kann genau ein Merkmal der Dimension hervorbringen; die über die Versuchsserie gleiche Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Merkmals (Merkmalsintervalls) ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein entsprechendes Objekt erscheint." Daß beide Modelle, obwohl mathematisch ununterscheidbar, inhaltlich in gravierender Weise verschieden sind, sollte das folgende Beispiel demonstrieren: "Angesichts eines Feldes von noch nicht aufgeblühten Erbsen stehe fest, daß eine beliebige Pflanze rot oder weiß blühen wird und daß die Wahrscheinlichkeit für eine rote Blütenfarbe 0.75 betrage. In einem Punkt sind sich unter diesen Voraussetzungen der Statistiker, der Genetiker und der Laie einig: daß nämlich ungefähr 75% rotblühende Erbsen zu erwarten seien. ( . . . ) 125

Dem Modell I zufolge wären die Individuen als genetisch gleich ausgestattet anzunehmen, so daß vielfältige zufällige Umwelteinflüsse darüber entscheiden würden, ob die einzelne Pflanze am Ende rot oder weiß aufblüht. Gemäß dem Modell II ist hingegen die Folge von Zufallsexperimenten bereits durchgeführt, aleae iactae sunt, nur sind die Ergebnisse noch verdeckt. Es wird hier die Realisierung einer Folge Erzeugender Zufallsexperimente unterstellt dergestalt, daß jede Erbse des Feldes hinsichtlich ihrer Blütenfarbe bereits festgelegt ist; wäre die Oberfläche durchdringbar, so gliche das Feld einer gläsernen Urne, in der alle Kugeln erkennbar sind. Während dem Statistiker die Erbvorgänge einerlei sind, kann der Genetiker allein das Modell II akzeptieren; ein Genom der Art des Modells I wäre ihm - jedenfalls soweit es Erbsen betrifft - eine Un Vorstellung." Das Beispiel verdeutliche zugleich, daß in diesem Fall das mathematische Konzept der Stichprobe in der gegebenen inhaltlichen Explikation dem Gegenstand völlig oder jedenfalls sehr weitgehend adäquat ist. (Dies wird im Manuskript in Rekapitulation der wesentlichsten Gesichtspunkte genauer ausgeführt.) Die Fragestellung des Vortrags wäre im wesentlichen beantwortet, wenn Ähnliches auch für die Sozialwissenschaften aufgewiesen werden könnte und sich dort in analoger Weise "die echten von den falschen Erbsen unterscheiden ließen." Dies wäre jedoch von vornherein nicht zu erwarten. Vielmehr müsse, nachdem die Vorbereitungen dazu abgeschlossen seien, das weitere Vorgehen darin bestehen, für die Hauptanwendungsgebiete - das psychologische Experiment, die soziologische Erhebung und die psychologische Diagnostik - herauszuarbeiten, in welcher Weise gemäß den Modellkriterien der Zufälligkeit (Wahrscheinlichkeit), der Unabhängigkeit, der Verteilungsidentität und der unbeschränkten Fortsetzbarkeit der "Gegenstand" in der Form der Stichprobe jeweils gesetzt würde. - Aus Zeitgründen konnte auf diesen "interessanteren" Teil auch im Rahmen der Diskussion nicht näher eingegangen werden. (Die Veröffentlichung eines Textes, in welchem der Argumentationsgang ausführlicher dargestellt und die Implikationen für die Sozialwissenschaft entwickelt werden, ist vorgesehen.)

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2. Zur Problematik der Bewertung statistischer Hypothesen 2 . 1 . Kritische Anmerkungen zur Forderung nach formalisierten Verfahren zur Entscheidung über psychologische Theorien (Jürgen Rehm) Nachdem um 1960 die Kontroverse zwischen R.A. Fisher und Ney man & Pearson um die Rationalität statistischer Prüfungen (mit den begrifflichen Polen "inductive reasoning" vs. "inductive behavior") bereits ein Vierteljahrhundert währte, entspann sich um die gleiche Zeit vornehmlich in den USA ein insbesondere auf die Psychologie bezogener Disput um den Aussagewert des in der experimentellen Forschung weithin verwendeten "Signifikanztests", der im deutschsprachigen Bereich seinen Niederschlag in dem Buch von Bredenkamp (1972) fand, das zwar theoretisch stark beachtet wurde, für die Forschungspraxis aber ohne nennenswerte Auswirkung blieb. Hält man für plausibel, daß ein beliebiges "Treatment" bei einer Experimentalgruppe nahezu immer einen Effekt bewirkt, der sich gegenüber der Kontrollgruppe in einem Mittelwertunterschied manifestiert, und sei dieser auch noch so gering, so braucht man tatsächlich, wie häufig gesagt wird - ceteris paribus - , den Stichprobenumfang nur so lange zu erhöhen, "bis das Ergebnis signifikant wird". Man kann hieraus der Statistik keinen Vorwurf machen, denn es entspricht nur der Logik einer statistischen Prüfung, daß, sofern überhaupt ein Effekt (zwischen den "Populationen") vorhanden ist, dieser auch "gesichert" werden kann. In diesem Sinn hatte Nunnally (1960, 643) recht mit der pointierten Formulierung: "If rejection of the null hypothesis were the real intention in psychological experiments, there usually would be no need to gather data." Ein signifikantes Ergebnis deutet wohl darauf hin, daß irgendein Zusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variablen besteht, aber " ( i t ) says not hing at all about the strength of (this) association", wie in dem bekannten Lehrbuch von Hays bereits 1963 festgestellt wurde ( S . 324, Hervorh. E . M . ) . Bredenkamp hatte demgemäß (1972, 47 f . ) mit großem Nachdruck die Forderung vertreten, daß in experimentellen Arbeiten der Bericht über den Ausgang eines Signifikanztests durch Angaben über die Effektgröße(n) in Form eines "Maßes der 'praktischen Bedeutsamkeit'" zu ergänzen sei. 127

Nachdem dieser Ratschlag während der nachfolgenden Dekade nahezu ungehört geblieben ist, ist es unlängst zwischen Hager & Westermann einerseits und Strack & Rehm andererseits zu einer Auseinandersetzung darüber gekommen, ob die Aufstellung eines solchen Kriteriums überhaupt als sinnvoll anzusehen ist. - Soviel zum Problemhintergrund des hier von Rehm vertretenen Beitrags von Rehm & Strack. Jürgen Rehm unterschied zunächst zwischen a) " - der Forderung, Effektgrößen in Untersuchungen zu maximieren", b) M- der Forderung, kritische Mindesteffektgrößen vor jeder Untersuchung festzulegen und die Entscheidung über die geprüfte Hypothese von dem Erreichen dieser Mindesteffektgröße abhängig zu machen" und c ) T!- der Forderung, experimentell erreichte Effektgrößen zu publizieren." Die erste Forderung, argumentierte Rehm, führe zu Zielkonflikten mit anderen methodologischen Regeln, sie sei insbesondere mit der Forderung nach Vermeidung systematischer Fehler unverträglich. Dies wird im wesentlichen auch von Hager und Westermann zugegeben.(15) Auch bezüglich der Forderung ( c ) scheinen sich die Positionen nach Replik und Gegenreplik nicht mehr eigentlich kontrovers gegenüber zu stehen: Während Westermann & Hager (1984) hierin den Versuch sehen, "die ohnehin in jedem empirischen Ergebnis enthaltenen Informationen systematisch und effizienter als bisher auszuschöpfen", halten Rehm & Strack diese Forderung für "wenig spektakulär", da ja die "Effektgrößen aus den bisher publizierten Daten unschwer zu errechnen" seien; ihrer Ansicht nach würden sie allerdings "nur sehr selten zu anderen theoretischen Folgerungen über einen Artikel führen als die bisher publizierten Daten." Strittig blieb daher vor allem die Forderung ( b ) . Ein solches Vorgehen werfe in der Praxis beträchtliche Probleme auf. "Zunächst einmal besteht das Hauptproblem, wie die jeweilige Mindesteffektgröße gewonnen werden sollte. Psychologische Theorien sind selten so spezifisch, daß daraus genaue Punkthypothesen abzuleiten wären. Zumindest für die wesentlichen Theorien der Sozialpsychologie gilt auch, daß aus ihnen keine theoretisch begründbaren Mindesteffektgrößen abzuleiten sind." Dies schon deshalb, weil Effektgrößen in wesentlichem Maß von der jeweiligen experimentellen 128

Realisierung abhingen. "Soll die jeweilige Mindesteffektgröße also von den Ergebnissen der bisherigen Untersuchungen in dem jeweiligen Paradigma abhängig gemacht werden?", fragte Rehm und: "Was würde das Erreichen einer solchen Effektgröße für die Bewertung der theoretischen Hypothese bedeuten?" Schließlich würde auch eine Formalisierung der auf Effektgrößen basierenden Entscheidungsschemata wenig zum Erkenntnisfortschritt in der Psychologie beitragen. In diesem Zusammenhang sprach sich Rehm "generell gegen formalisierte Verfahren als alleinige Entscheidungsgrundlage über psychologische Theorien" aus. "Alle Entscheidungen über die Annahme und Ablehnung von theoretischen psychologischen Hypothesen sind nur unter Einbeziehung theoretischinhaltlicher Aspekte sinnvoll. Dieser Primat der Theorie kann durch keine - wie auch immer gearteten - formalisierten Entscheidungsmodelle ersetzt werden. Das Aufstellen immer komplizierterer Entscheidungsformalismen in der Forschungsmethodik ohne Einbeziehung theoretischer Gesichtspunkte hat beträchtlich zu der . . . Spaltung von Forschungsmethoden und experimenteller Praxis beigetragen." Es folge, daß der einzelne Experimentator (wozu er durch seine Ausbildung in die Lage gesetzt werden müsse) das seinem Problem angemessene Methodeninstrumentarium auszuwählen und zu theoretisch-inhaltlichen Aspekten in Beziehung zu setzen habe. Ein solcher Standpunkt führe weder zu Willkür noch zu einer verminderten Rationalität in der psychologischen Forschung, da, wie Rehm abschließend hervorhob, "eine Kontrolle wissenschaftlicher Erkenntnis durch die kritische Beurteilung fachlicher Experten besteht, die eine weitaus größere Anzahl von methodischen und theoretischen Überlegungen miteinbeziehen können als irgendwelche formalen Entscheidungsmechanismen." Auf diesen zuletzt angesprochenen Punkt bezog sich vor allem auch die Diskussion. Die Experten, so wurde gesagt, erschienen hier als dei ex machina, denen ein Wissen über die Beziehung von Gegenstand, Theorien und Methoden zugesprochen werde, das nirgends in der Psychologie akkumuliert sei. Der Referent entgegnete, daß Expertenbeurteilung de facto immer schon eine entscheidende Rolle bei der Bewertung von wissenschaftlichen Arbeiten gespielt hätte; dieser Sachverhalt sei nur durch den Versuch, Gütekriterien unabhängig vom Inhalt mathematisch fassen zu wollen, in den Hintergrund gedrängt worden. Kommentierende Nachbemerkung: Ebenso wie der unter der Bezeichnung "Sozialpsychologie des Experiments" bekannt 129

gewordene Forschungszweig das Dilemma der psychologischen Experimentalforschung zugespitzt hat, beleuchtet die Effektgrößendiskussion das gleiche Dilemma auf eine andere Weise. Die Berücksichtigung der Stärke von Effekten wird die Forschung ebensowenig aus der Sackgasse herausführen wie deren Nicht-Berücksichtigung (wobei sich mir die Berufung auf die m.E. nicht vorhandenen "Experten" als ein kaum kaschiertes Eingeständnis der Hilflosigkeit darstellt, die allerdings eine notwendige i s t ) . Ein großer Effekt ist nicht gleichbedeutend mit einem wesentlichen Effekt. Ein statistisch bedeutsamer Effekt (etwa als Koeffizient der "erklärten Varianz") kann völlig trivial sein. Umgekehrt kann ein geringer, etwa von einem großen Meßfehler überdeckter Effekt durchaus wesentlich sein.(16) Da nun die herkömmliche Psychologie von ihrer wissenschaftstheoretisch/methodologischen Basis her prinzipiell keine Kriterien dafür entwickeln kann, wann ein Effekt inhaltlich als bedeutsam oder wesentlich anzusehen ist, bleibt die Effektgrößenbestimmung zwangsläufig "in der Luft hängen". Man könnte im übrigen fragen, ob in dem Vorschlag, die Effektgrößen nach ihrer "praktischen Bedeutsamkeit" zu bemessen, wegen der darin implizierten Orientierung der Forschung auf die "Praxis" nicht bereits ein Verstoß gegen das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis verborgen ist. Auf jeden Fall bleibt ein solches Kriterium, da "Praxis" hier nur unter der Form der "Anwendung", und zwar nicht als eine näher bestimmte, sondern als irgendeine Anwendung gefaßt werden kann, notgedrungen unausweisbar und beliebig.(17) Dies stellt sich natürlich völlig anders dar, wenn - wie in der Holzkampschen Analyse - das Praxiskriterium sich aus der Gegenstandsbestimmung ergibt. Daß die traditionelle psychologische Forschung einerseits in riesenhaftem Ausmaß Trivialitäten zutage fördert (wie auch ihre Vertreter kaum noch leugnen), daß sie aber andererseits kein nicht ad hoc gebildetes Kriterium dafür benennen kann, was ein "trivialer Befund" ist, gehört zu den Polen eines immanent nicht auflösbaren Widerspruchs, der in meiner Sicht durch die Effektgrößendiskussion um ein Stück weiter entfaltet wurde.

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2 . 2 . Statistisches Schließen und wissenschaftliche Erkenntnis - Gesichtspunkte für eine Kritik und Neubestimmung (Eckart Leiser) In einem recht umfassenden Zugang zur Problematik der induktiven Bewertung von theoretisch-statistischen Modellen legte Eckart Leiser seinem Beitrag das Neyman-Pearson- Konzept, das R.A. Fishersche Konzept des fiduzialen Schließens und das Bayessche Konzept zugrunde. Dabei mußte er sich in seinem Vortrag auf den zweiten Teil, den der "Reinterpretation und Neubestimmung" beschränken. Da mir das Gesamtmanuskript vorliegt, gebe ich mit Rücksicht auf die Verständlichkeit hier zunächst die wichtigsten Punkte des ersten Teils, der "Kritik". Der einzige Fall, für den das Neyman-Pearson-Konzept eine ausgearbeitete Entscheidungslogik bereitstellt, sei der der Konfrontation punktueller Hypothesen. Für die Sozialwissenschaften sei dieser Ansatz allein schon deshalb unbrauchbar, weil dieser Fall praktisch nicht vorkommt, überdies erlaube der Ansatz keine induktiv-differentielle Bewertung der zu vergleichenden Hypothesen. "Der Übergang von der deduktiven zu einer induktiven Interpretation der Entscheidungsmatrix wird nicht geleistet." Daher sei der Ansatz auch nicht geeignet, wissenschaftliche Einzelentscheidungen zu legitimieren. Das Konzept des fiduzialen Schließens, mit dem Fisher die auf ihn zurückgehende und noch immer tradierte "Signifikanzstatistik" nachträglich gegen Neyman-Pearson zu rechtfertigen suchte (das den Anschein erwecke, als könne in induktiver Richtung deduktiv geschlossen werden), erweise sich letztlich als Kunstgriff, mit dem unter scheinbarer Wahrung des Objektivitätsanspruchs eine subjektive Wahrscheinlichkeitskategorie installiert würde. "Der formale Ausweg Fishers aus dem Neyman-Pearson-Schlußproblem entpuppt sich bei näherem Hinsehen also als verdeckter Rückzug ins Subjektive."(18) Der Bayessche Ansatz (subjektive Fassung) sei mit dem kritisch-rationalistischen Objektivitätsanspruch unvereinbar. Dem Argument, daß die problematischen a priori-Wahrscheinlichkeiten bei Anwendung der Bayesschen Formel mit zunehmender empirischer Evidenz fortschreitend an Gewicht verlieren, hielt Leiser entgegen: Es sei fraglich, ob sich ein wissenschaftlicher Erkenntnisprozeß überhaupt nach dem Schema einer Bayes-Folge organisieren läßt. Systematische Erhebungsfehler, bezogen auf das Binnensystem eines individuellen Wissenschaftlers, wären praktisch nicht korrigier131

bar. Das "Abschneiden" einer Erhebungskette werfe ein neues Beliebigkeitsproblem auf. Die Austauschbarkeit der Daten - etwa bei einem Vergleich der ersten mit der zweiten Hälfte - führe zu verschiedenen Wahrscheinlichkeitsaussagen, die zusammengenommen keinen Sinn ergäben. Zu jeder gewünschten Schlußfolgerung gäbe es eine passende subjektive Ausgangsverteilung und jede gegen solche ex post-Anpassung aufgestellte formale Regel ließe sich unterlaufen. Schließlich wären die Schlußfolgerungen verschiedener Wissenschaftler, die sich für gleiche Daten aus unterschiedlichen Ausgangswahrscheinlichkeiten ergeben, unentscheidbar. Eine objektive Interpretation des Bayesschen Verfahrens als Basis für wissenschaftliches Schließen führt Leiser zufolge "zu ähnlich widersinnigen Konsequenzen". Die Argumentation beruht hier im wesentlichen auf der Gegenüberstellung der für die Anwendung des Satzes von Bayes vorausgesetzten Zufalls Variabilität von Parametern mit wissenschaftlichen Fragestellungen, in denen einem "Weltzustand" wenn auch unbekannte, so doch feste und eindeutige Parameter zuzuschreiben sind. Vor diesem Hintergrund war es das Anliegen des Vortrags, "eine Reinterpretation der bisher behandelten Konzepte des statistischen Schließens (zu) versuchen und in diesem Zusammenhang einige Gesichtspunkte zur Überwindung der dargestellten Ungereimtheiten und damit zur Neubestimmung des statistischen Schließens in der Wissenschaft (zu) entwikkeln." Nach der Besonderheit sozialwissenschaftlicher Problemstellungen ist für Leiser klar, daß die statistischen Methoden hier nicht das primäre und ausschlaggebende Instrumentarium der Erkenntnisgewinnung darstellen, sondern in diesem Rahmen nur eine Hilfsfunktion haben können; diese bestehe darin, (noch) nicht durchdrungene Zusammenhänge unter bewußter Inkaufnahme der Verkürzungen in statistische Modelle abzubilden mit dem Ziel, Verallgemeinerungen, ohne daß diese einen Wert in sich hätten, in spezifische und praktische Handlungsmöglichkeiten umzusetzen. "Induktionsschlüsse verschwinden also nicht im theoretischen Raum, sondern haben sich über praktische Verallgemeinerungen zu bewähren." Dieses Problemverständnis kommt am besten in dem folgenden Passus zum Ausdruck: "Statistik in den Sozialwissenschaften hat es i . a . nicht mit f Naturtatsachen f oder fWeltzuständenf zu tun, sondern mit von Menschen geschaffenen (u.U. gar methodisch hergestellten) und durch Menschen veränderbaren Prozessen. Diese wissenschaftlich zu untersuchen - Wissenschaft verstanden als gesellschaft132

liehe und gesellschaftliche Ressourcen bindende Einrichtung ist nur soweit sinnvoll, wie sie mit Erweiterungen der bewußten Verfügung über menschliche Lebensmöglichkeiten zu tun hat, also - mehr oder weniger vermittelt - mit konkreten Bedürfnissen und Befindlichkeiten der von einer Fragestellung Betroffenen." Das Gerüst für den Hauptteil des Referats bildeten die folgenden fünf Thesen: 1) "Die statistische (allgemeiner wahrscheinlichkeitstheoretische) Begrifflichkeit ist bis auf den heutigen Tag nicht wesentlich über das Modell des Glücksspiels hinausgekommen. Schärfer formuliert: Das Glücksspiel ist der einzige Gegenstand, auf den sich die bis heute entwickelte Begrifflichkeit und Logik des statistischen Schließens .sauber und sinnvoll anwenden läßt." 2) "Die Logik des statistischen Schließens von R.A. Fisher ist der Situation des Glücksspiels angemessen, ergibt für die wissenschaftliche Erkenntnissituation aber keinen Sinn." 3) "Die Logik des statistischen Schließens von Neyman-Pearson besteht in der Dezentrierung und Virtualisierung der Glücksspielsituation. Sie ermöglichst so zwar ein deduktives Nebeneinanderstellen konkurrierender Erklärungsansätze, aber keine Synthese der daraus gewonnenen Gesichtspunkte zu einem rational ausgewiesenen induktiven Schluß." 4) "Der Unterschied zwischen der Sicherheit, daß ein bestimmtes allgemeines Modell vorliegt, und der Wahrscheinlichkeit, auf ein bestimmtes Ereignis zu stoßen, ist kein lediglich stilistischer. Die Sicherheit eines induktiven Schlusses erfordert vielmehr grundlegend neue, auch formale, Überlegungen." 5) "Im Fall zusammengesetzter Hypothesen ist der Relevanzgesichtspunkt als konstitutiver Bestandteil in die Logik des statistischen Schließens aufzunehmen. Das "Effektgrößen "-Maß greift hier zu kurz." Die ersten drei dieser Thesen haben vorbereitenden Charakter. Bezüglich der ersten These sei hier vorweggenommen, daß die nachfolgende Diskussion sich ausschließlich hierauf bezog, teils aus Zeitgründen, teils wohl ihres provozierenden Charakters wegen. Mehrere Einlassungen bezogen sich kritisch auf diese Behauptung, wobei vorwiegend von der 133

Entwicklung der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie her argumentiert wurde, was im einzelnen hier nicht wiedergegeben werden kann. Im Zuge der Besprechung dieser These war Leiser zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die herkömmliche "ergebnisorientierte" Wahrscheinlichkeitskategorie durch eine "prozeßorientierte" Wahrscheinlichkeitskategorie zu ersetzen ist, in der "Wahrscheinlichkeit eine Strukturcharakteristik von Zufallsprozessen meint." Bemerkung des Berichterstatters: Obwohl ich die These für problematisch halte, stimme ich mit der "Schlußfolgerung" völlig überein. Meinem oder zusammengefaßten Beitrag zum Stichprobenkonzept liegt eine ganz gleichartige Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zugrunde; ich war dazu durch eine inhaltliche Explikation des kolmogoroff sehen Formalismus geführt worden (was m.E. gegen die angeführte These spricht), wobei sicher auch Anregungen eingegangen sind, die ich bereits vor langem u . a . durch Hacking (1965), Mellor (1971) und Popper ( z . B . 1959/60) aufgenommen hatte. Bei der Begründung der Thesen 2) und 3) handelt es sich in der Hauptsache um eine Spezifizierung der bereits (bezüglich des ersten Teils) skizzierten Kritik in der Absicht zu kontrastieren, was die Ansätze leisten können und was sie leisten sollten. Die beiden letzten Thesen bilden den eigentlichen Kern des Referats. Es ging Leiser hierbei um eine nähere Bestimmung der "induktiven Sicherheit" bezüglich allgemeiner "hinter" einem geg. Datensatz anzusiedelnder statistischer Modelle und um Möglichkeiten der Festlegung eines formalen Maßes derselben. Da die Zusammenfassung der hierzu vorgetragenen Überlegungen ohne die zugehörigen (hier nicht wiederzugebenden) Formalisierungsansätze wenig informativ bliebe, muß der interessierte Leser auf die demnächst erscheinende Veröffentlichung eines Aufsatzes von Leiser verwiesen werden, in welchem sein Konzept ausführlich entfaltet ist. Der leitende Gedanke, nur so viel sei gesagt, ist der folgende: Eine rein formale Anwendung der "Bayesschen Formel" ergibt, daß bestimmte Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens einer statistischen Hypothese - unter der Bedingung, daß bei geg. Entscheidungsstrategie eine Entscheidung durch einen empirischen Befund herbeigeführt wurde - auf der Grundlage des a - und ß -Fehlers unabhängig von der apriorischen Hypothesenwahrscheinlichkeit möglich sind. Hiervon ausgehend gelangt Leiser zu ersten Vor134

Schlägen zur Konstruktion eines Maßes der induktiven Sicherheit auch für den (allgemein in der Wissenschaft gültigen) Fall, in dem statistische Hypothesen nicht als Ausgänge eines Zufallsvorgangs verstanden werden können. Diese Vorschläge werden später auch auf die Situation zusammengesetzter Hypothesen ausgedehnt. In diesem Zusammenhang bezieht sich Leiser auch auf die zuvor behandelte Problematik der Effektgrößenbestimmung, worauf einzugehen der zugemessene Raum leider nicht mehr erlaubt.

2 . 3 . Statistik zwischen Determiniertheit und "Zufall" (Ernst Plaum) "The almost universal reliance on merely refuting the null hypothesis... is a terrible mistake, is basically unsound, poor scientific strategy, and one of the worst things that ever happened in the history of psychology." (Meehl, 1978, 817) Ernst Plaum berichtete in seinem Beitrag über eine Reihe von Miniaturuntersuchungen, die den von ihm zitierten Ausspruch Meehls auf eine schlagende Weise zu bestätigen scheinen. Die diesem Bericht vorangestellten Überlegungen erkenntnisphilosophischen Charakters können hier - aus dem gerade zuvor erwähnten Grund - nur sehr verkürzt wiedergegeben werden. Nicht nur entspreche der auf "makroskopischer" Ebene erkennbaren Gesetzmäßigkeit eine Unordnung ("Zufälligkeit") bei "mikroskopischer" Betrachtungsweise, wie in der Thermodynamik, sondern die statistische Regelhaftigkeit könne auch dort zutage treten, wo das Verhalten der Elemente planvoll gesteuert ist. Plaum führt in Anlehnung an Beck (1965) das Beispiel an, daß die Abstände zwischen Fahrzeugen sowie deren Geschwindigkeiten auf freier Autobahnstrekke einer Poisson- bzw. Normalverteilung genügen. "Niemandem wird es aber einfallen, die Regulierung der Geschwindigkeit eines Wagens ! zufällig f zu nennen; man kann sich leicht vorstellen, was geschehen würde, wenn hier der ! Zufall f am Werk wäre." Die Determinanten des Verhaltens der einzelnen Personen würden in der statistischen Perspektive ausgelöscht und es erscheine auf diesem Betrachtungsniveau als "zufällig". "Arbeitet man jedoch mit einer f Diagnostik\ . . , die der Verhaltensebene des Individuums angemessen ( i s t ) , so wird die f Nichtzufälligkeit ? der Fahrgeschwindigkeit deutlich . " 135

"Offenbar seheint Zufälligkeit 1 nur dann auf, wenn eine Gesamtbetrachtung von Einzelheiten erfolgt, die auf dem vorgegebenen Betrachtungsniveau nicht voneinander zu unterscheiden sind. Erfolgt eine Zusammenfassung zu Einheiten - auf höherem oder niedrigerem Niveau! - so verliert der Zufallsbegriff seinen Sinn." Dabei scheine die UnUnterscheidbarkeit der Einzelheiten auf einer bestimmten Betrachtungsebene "eher einer artifiziellen Abstraktion zu entsprechen und kaum die komplexe Realität widerzuspiegeln", die "meist nicht fzufällig1 organisiert" sei. Infolge der Strukturiertheit der Realität hänge "zwar nicht f alles mit allem* in gleicher Weise, aber doch vieles mit anderem mehr oder weniger" zusammen. Entsprechend "ist es nicht überraschend zu finden, daß sich irgendetwas von irgendetwas anderem unterscheidet 1 ." Es interessierte Plaum nun, empirisch der Frage nachzugehen, inwieweit Unterschiede/Zusammenhänge bei einer statistischen Herangehensweise sich auch dort auffinden ließen, wo sie gemeinhin nicht erwartet würden. "Den ersten Anlaß hierzu gab der Eindruck, daß beim alphabetischen Einordnen neuer Literaturkarteikarten... die alten und die neuen K a r t e n . . . nicht 'nach dem Zufall1 durchmischt (schienen). Die Durchführung des Iterationstests nach Stevens ergab immerhin bei 13 psychologischen Teilgebieten in zwei Fällen eine signifikant (5%-Niveau) vom Zufall abweichende Durchmischung." "Daraufhin ging der Verfasser mit einem Lineal in die Universitätsbibliothek und maß die Rückenlänge der jeweils ersten 20 Bücher zu vier willkürlich herausgegriffenen, in der Aufstellungssystematik gekennzeichneten Teilgebieten der Philosophie ( . . . ) . Diese unterschieden sich im Hinblick auf das erfaßte Merkmal hochsignifikant voneinander (0.1%-Niveau, H-Test nach Kruskal & Wallis). Aufgrund dieses verblüffenden Resultats erfolgte umgehend eine Überprüfung anhand von fünf Teilgebieten der Soziologie ( . . . ) mit dem Ergebnis einer Signifikanz auf dem 5%-Niveau ( H - T e s t ) . " - Ein Vergleich der Seitenzahlen von Büchern über verschiedene Fachgebiete sowie der gelb/roten vs. der blau/grünen Buchrücken in den Semesterapparaten war weniger ergiebig, doch deuteten sich "10%-Tendenzen" offenbar erheblich häufiger an als unter Gültigkeit der Nullhypothesen "Kein Unterschied" zu erwarten gewesen wäre. (19) - Schließlich waren auch die in Blue Jeans gekleideten männlichen Personen nicht gleichmäßig über den Campus verteilt. Zwar wurde in 5 unter 8 Vergleichen von je zwei Punkten das 10%-Niveau verfehlt, die "gesicherten" Unterschiede betrafen aber gerade die mar136

kantesten Punkte. So "benutzten mehr Blue-Jeans-Träger den Eingang zur Bibliothek im Vergleich zum Durchgang zur Cafeteria (5%-Niveau)." ( s i e ! ) Plaum vermutet zurecht, daß diese Resultate, wären "sie im Zusammenhang mit einem kohärenten Forschungsgebiet gewonnen" worden, "einige interessante Interpretationen und anregende weiterführende Hypothesen" ermöglicht hätten, "eventuell sogar (aber allemal!, E.M.) für einen Zeitschriftenartikel ausreichend." Auch die meisten der hier gefundenen Unterschiede ließen sich "bei einigem Nachdenken . . . sinnvoll interpretieren". "Dennoch ist offensichtlich, daß wir es hier mit ziemlich unsinnigen Variablen zu tun haben, bestenfalls mit solchen, die auf höchst periphere und indirekte Weise den untersuchten Gegenstand kennzeichnen! Niemand wird ernsthaft meinen, die Länge der Buchrücken bei der zugehörigen Literatur könnte den Unterschied zwischen Teilgebieten der Philosophie auch nur annähernd adäquat charakterisieren." "Was zunächst nur theoretisch postuliert wurde, läßt sich somit auch empirisch belegen: Offensichtlich gibt es zahlreiche 'signifikante 1 Befunde, die vollkommen nichtssagend sind, weil sie nur höchst periphere Merkmale betreffen." "Man mag einwenden, in der psychologischen Forschung werde keineswegs in einer solch einfältigen Weise gearbeitet, da die herangezogenen Merkmale durchaus relevant seien. Relevanz aber ist ein relativer Begriff. Wer gibt die Garantie dafür, daß es nicht noch - unentdeckte - relevantere Variable gibt und die untersuchten vergleichsweise peripher sind?"(20) Was folgt aus der Frage von Plaum? Erstens: Die "Grundlegung" lesen! Zweitens: Adäquate Einzeltheorien erarbeiten! Drittens: Adäquate Methoden entwickeln! Adäquat sind Theorien und Methoden dann, wenn sich ihre erkenntnisfördernde Funktion in der Praxis erweist, was nicht bedeutet, daß sie in beliebiger "Anwendung" hier und da einen "Erfolg" verbuchen, sondern daß sie geeignet sind, in ausweisbarer Weise Veränderungen herbeizuführen im Dienste der Verbesserung der Lebensmöglichkeiten der Betroffenen - und die "Betroffenen", das sind wir alle. , Eine Psychologie, die nicht den Nachweis führen kann, daß sie UNS dient, bleibt - im harmlosen Fall - ein kostspieliges Glasperlenspiel.

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Anmerkungen 1 Dejä entendu? - E.M. 2 Vgl. hierzu etwa Mertens (1975) oder Bungard (1980). 3 Zum Begriff des "abstrakt-isolierten Individuums" vgl, Holzkamp (1979, 14 f . ) ; vgl. im übrigen Holzkamp (1983, insbesondere 520 f f . ) . 4 Ob die Ähnlichkeit zur "Ausschlachtungsthese", wie sie im Zuge der Studentenbewegung 1968/69 laut wurde, derzufolge zumindest ein Teil des methodischen Instrumentariums insofern als neutral einzustufen wäre, als es auch "emanzipatorischen" Zwecken dienstbar gemacht werden könnte, ob diese Ähnlichkeit eher "zufällig" besteht oder etwa einer Entwicklungsnotwendigkeit entspricht, muß hier offen bleiben. 5 Es war im Rahmen des vorgetragenen Ansatzes nur konsequent, von einem "Subjekt-Objekt-Verhältnis" zu sprechen; dieses zugleich als besondere Form der allgemeinen Subjekt-Objekt-Dialektik auszugeben, wie gelegentlich eingestreut wurde, ist nicht bloß eine euphemistische Umschreibung, sondern irreführend. 6 Die Diskussion bezog sich vornehmlich auf die psychologische Diagnostik, was insofern nahegelegt war als dies auch das Arbeitsfeld von Lothar Sprung ist. 7 Zur Begrifflichkeit des f n intersubjektiven f " und des "'metasubjektiven 1 Verständigungsrahmens" und den Vorstellungen, auf die der Diskussionsbeitrag sich offenbar bezog, vgl. Holzkamp (1983, 540 f . ) . 8 Es wird hier ein Relevanzbegriff zugrunde gelegt, wie ihn Holzkamp in dem Aufsatz (1970) formuliert hatte (worauf Sprung sich auch ausdrücklich bezog), bezüglich dessen Holzkamp aber bereits in (1972, 229) selbstkritisch feststellte: "Der Relevanz-Artikel verläßt nirgends wirklich den Boden des positivistischen Wissenschafts Verständnisses" (Hervorh. i. O r i g . ) . 9 Holzkamp (1983, 30) - Das Zitat wird dort beispielhaft auf eine der großen psychologiegeschichtlichen Kontroversen bezogen, der zwischen Wolfgang Köhler und Georg Elias Müller. 10 "Auch wo - im Sozialismus - der 'Standpunkt außerhalb* nicht mehr eine Mystifizierung des Standpunkts der Herrschenden, sondern anachronistisch geworden ist, ist tiefes Mißtrauen gegenüber einem wissenschaftlichen Verfahren angebracht, das in seiner Anwendung nach fremdgesetzten Bedingungen für die Handlungen anderer fragt, diese also, indem man das Schaffen der Bedingungen 138

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der gemeinsamen Zuständigkeit aller, die davon betroffen sind, entzieht, aus der Mitverantwortung für die Schaffung menschlicher Lebensbedingungen für alle entläßt." (Holzkamp, 1983, 531, Hervorh . i . O r i g . ) Das Argument des Praxisdrucks - "in der Praxis brauche ich Methoden, da kann ich nicht sagen, übermorgen habe ich sie" (Sprung) - ist (ebenso wie das Argument des institutionellen Zwangs) jedem, der einmal berufspraktisch als Psychologe o . ä . tätig war, unmittelbar verständlich; das Argument ist relevant für die Frage, warum an ungeeigneten Methoden festgehalten wird, es ist jedoch logisch irrelevant für den Gesichtspunkt der Begründung eines methodischen Vorgehens. Zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung subjektwissenschaftlicher Methoden vgl. etwa den Bericht über das SUFKI-Projekt in: Forum Kritische Psychologie, 1984, 14, 56-81. Es könnte befürchtet werden, daß hier ein in den Sozialwissenschaften in Wahrheit "komplexeres" Stichprobenkonzept von vornherein definitorisch unzulässig eingeengt wird; dies ist jedoch nicht der Fall, wie im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wird. Im übrigen würden, wo es sich als notwendig erweisen sollte, eben Zufallsfolgen betrachtet, die die hier gegebenen Bestimmungen überschreiten. Hierin liegen auch Implikationen für die Interpretation(en) des formalen Wahrscheinlichkeitsbegriffs, auf die im Original näher eingegangen wird. Vgl. Hager & Westermann (1983) sowie Westermann & Hager (1984). Vgl. hierzu auch Strack & Rehm (1984, 4 ) . - In den Naturwissenschaften käme die Festlegung von Mindesteffekten, vermute ich, einer Selbstaufhebung der Forschung gleich. Daran ändert sich auch dadurch nichts, daß man "praktische Bedeutsamkeit" (Bredenkamp) terminologisch durch "wissenschaftliche Signifikanz" (Hager) ersetzt. Ähnlich argumentierte Neyman gegen Fisher (vgl. z . B . Neyman, 1961, 149 f . ) . Methodische Vorkehrungen der Art, daß z . B . bei mehreren Büchern desselben Autors nur das erstplazierte berücksichtigt wurde, waren getroffen worden. Plaum sieht den Ausweg aus dieser Situation in der Zuwendung zur sog. "Baconschen Wahrscheinlichkeit" ( s . Plaum, 1984), wobei er nach meiner Auffassung in der Gegenüberstellung der Begriffe "deterministisch/kausal" und "inde139

terministisch/probabilistisch" befangen bleibt, die den wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen Vorhersage und Selbstbestimmung, zwischen "Natur" und "menschlicher Natur" außer acht läßt.

Literatur Beck, H. (1965): Kriterien zur Kennzeichnung der Betriebsgüte und der praktischen Leistungsfähigkeit von Straßenbahnnetzen. F o r t s c h r . - B e r . VDI - Z., Reihe 12, Nr. 5 Düsseldorf. Bredenkamp, J . (1972): Der Signifikanztest in der psychologischen Forschung. Frankfurt/M. Bungard, W. (1980) ( H r s g . ) : Die "gute" Versuchsperson denkt nicht - Artefakte in der Sozialpsychologie. München. Hacking, I. (1965): Logic of Statistical Inference. Cambridge. Hager, W.; Westermann, R. (1983): Planung und Auswertung von Experimenten. In: Bredenkamp, J . & Feger, H. ( H r s g . ) : Hypothesenprüfung. Göttingen. Hays, W.L. (1963): Statistics for Psychologists. New York. Holzkamp, K. (1970): Zum Problem der Relevanz psychologischer Forschung und Praxis. Psychologische Rundschau, XXI, 1-22. - (1972): Kritische Psychologie - Vorbereitende Arbeiten. Frankfurt/M. - (1979): Zur kritisch-psychologischen Theorie der Subjektivität I. Forum Kritische Psychologie, 4, 10-54. - (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. Meehl, P . E . (1978): Theoretical Risks and Tabular Asterisks: Sir Karl, Sir Ronald and the Slow Progress of Soft Psychology. Journal of Consulting und Clinical Psychology, 46 ( I I ) , 806-834. Mellor, D.H. (1971): The Matter of Chance. Cambridge. Mertens, W. (1975): Sozialpsychologie des Experiments. Hamburg. Neyman, J . (1961): Silver Jubilee of my Dispute with Fisher. Journal of the Operations Research Society of Japan, 3, 145-154. Nunnally, J . (1960): The Place of Statistics in Psychology. Educational and Psychological Measurement, 20, 641-650. Plaum, E. (1984): Pascalsche vs. Baconsche Wahrscheinlichkeit in der psychologischen Forschung und Praxis. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 15, 104-119. 140

Popper, K . R . (1959/60): The Propensity Interpretation of Probability. The British Journal of the Philosophy of Science, 10, 25-42. Sprung, L . ; Sprung, H. (1983): Problem und Methode in der Psychologie. In: Parthey, H. & Schreiber, K. ( H r s g . ) : Interdisziplinärst in der Forschung. Berlin/ DDR. - (1984): Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie. Berlin/DDR (im Druck). Strack, F . ; Rehm, J . (1984): Theorie testen oder Varianz aufklären? Überlegungen zur Verwendung der Effektgrößen als Gütemaß für experimentelle Forschung. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 15, 81-85. Westermann, R . ; Hager, W. (1984): Zur Verwendung von Effektgrößen in der theorie-orientierten Sozialforschung. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 15, 159-166.

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III. Zur Funktion phänomenologischer Analyse in der Psychologie, speziell: Kritischen Psychologie* Koordination: Klaus Holzkamp Teilnehmer: Carl Friedrich Graumann, Norbert Groeben, Rainer Seidel

Vorbemerkung Die Aufgabe, die Tonbandaufzeichriungen über die AGs so zu kürzen und zu bearbeiten, daß daraus nach Länge und Bedeutung ein für die Kongreßmaterialien brauchbarer Text resultiert, wurde mir durch den Verlauf der AG sehr erleichtert. Die Diskussion, anfangs um unterschiedliche Themenbereiche kreisend, zentrierte sich nämlich immer mehr auf das Problem, wie das Verhältnis zwischen phänomenologischer Analyse und der marxistisch begründeten Kategorialanalyse der Kritischen Psychologie zu bestimmen sei, und gewann erst mit der Ausrichtung auf dieses Thema an Prägnanz und Aussagekraft. Da nun Auseinandersetzungen zwischen dezidierten Vertretern des phänomenologischen Ansatzes und eines marxistischen Ansatzes wie dem der Kritischen Psychologie (jedenfalls in unserem Sprachraum) nicht eben häufig sind und m.E. die weitgehende Ungeklärtheit des Verhältnisses dieser grundsätzlichen Herangehensweisen eine angemessene Problementwicklung innerhalb beider Ansätze gravierend behindert, hat - wie mir scheint - die hier stattgehabte Diskussion zudem so etwas wie eine psychologiehistorische Dimension. So habe ich mich kurzerhand entschlossen, das vorliegende Ton band protokoll derart zu kürzen und zu redigieren, daß nur die auf dieses Thema bezogenen Teile der Ausführungen bzw. der Diskussion und die dazu unbedingt nötigen Rahmeninformationen berücksichtigt, alle anderen Einlassungen und Stellungnahmen aber weggelassen sind. Das folgende ist also alles andere als eine getreue Dokumentation des

* Der ursprüngliche Titel der AG lautete: "Ausklammerung des Bewußtseins aus der psychologischen Forschung: Methodische Notwendigkeit oder Gegenstandsverfehlung?" 142

gesamten Diskussionsverlaufs; allerdings ist bei der Wiedergabe der für die Thematik des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Kritischer Psychologie relevanten Diskussionspartien (in den Grenzen des aufgrund der relativ schlechten Aufnahmequalität Möglichen) weitgehende Authentizität angestrebt: Gerade durch die Wahrung des "Live-Charakters" der Formulierungen und der Wechselreden kommen nämlich, so meine ich, die Gesichtspunkte und Widersprüche der Diskussion besser zum Ausdruck, als dies in einer stilistisch stärker geglätteten Fassung der Fall wäre. In der ersten Runde der AG, in welcher den auf dem Podium sitzenden Teilnehmern Gelegenheit gegeben wurde, Statements abzugeben, bezog sich nur Groeben auf ein vorbereitetes Manuskript, Seidel machte seine Ausführungen aufgrund von Notizen, .Graumann und Holzkamp dagegen ließen ihre Manuskripte beiseite und formulierten ihre Statements eigentlich schon als freie Diskussionsbeiträge.* Ich habe hier grundsätzlich nicht auf schriftlich Vorliegendes zurückgegriffen, sondern alle Ausführungen aufgrund der Tonbandaufzeichnung dokumentiert, sodaß nur wiedergegeben ist, was alle AG-Teilnehmer (auf dem Podium und im Auditorium) gehört haben, worauf sie sich also in der Diskussion beziehen konnten. Alle drei Beiträge sind dabei nach den genannten Kriterien (mehr oder weniger) rigoros gekürzt worden, wobei große Abschnitte bzw. Teile weggelassen wurden, innerhalb der wiedergegebenen Passagen aber die ursprüngliche Rede weitgehend erhalten ist. Auslassungen wurden durch . . . gekennzeichnet, von mir eingefügte Anschlüsse oder (etwa durch schlechte Wiedergabequalität nötige) sinngemäße Zusammenfassungen in Klammern gesetzt. Die weggelassenen Teile wurden nicht eigens markiert. Bei der Wiedergabe der anschließenden Diskussion wurde im Prinzip genau so verfahren. Die Beiträge aus dem Publikum konnten hier allerdings kaum wörtlich wiedergegeben

* vgl. hierzu das Grundsatzreferat von Graumann, das in diesem Band, S. 38-59 abgedruckt ist: auf dieses Referat wurde in der Diskussion mehrfach Bezug genommen. Außerdem verweise ich auf meinen ausführlichen Artikel: "Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft" (Forum Kritische Psychologie 14, 1984), in welchem ich Gesichtspunkte und Anregungen aus der hier wiedergegebenen Diskussion aufgegriffen und ausgearbeitet habe. 143

werden, weil sie auf dem Band nur schlecht zu verstehen waren. In den wörtlich dokumentierten Passagen wurde(n) nur redebedingte Wiederholungen und Neuansätze gestrichen, sonst aber der umgangssprachliche Ton bewahrt. Zwischenrufe und Publikumsreaktionen wurden berücksichtigt und gekennzeichnet, weggelassene Teile auch hier nicht markiert. Ich weiß natürlich, daß die Art und Weise, in der ich hier mit den Beiträgen der Kollegen umgegangen bin, nicht unproblematisch ist, gebe aber zu bedenken, daß ich (um das vorgegebene Limit einzuhalten) fast die Hälfte der Aufzeichnung weglassen mußte und hoffe im übrigen, die berücksichtigten Diskussionsaspekte sind so ertragsreich und spannend, daß dadurch mein Vorgehen in gewissem Umfang gerechtfertigt ist. Klaus Holzkamp

1. Statements Rainer Seidel: (Zum Verhältnis von kritisch-psychologischen Kategorien und der phänomenalen Welt): Wenn die Kritische Psychologie und die Phänomenologie in wesentlichen Aussagen, in einigen zumindest, zu vergleichbaren Erkenntnissen kommen, so geschieht das doch auf methodisch völlig unterschiedliche Weise. Während die Phänomenologie davon ausgeht, daß das Bewußtsein rein aus sich selbst sich offenbart, schafft die Kritische Psychologie, obwohl das Bewußtsein immer im Auge behaltend, zunächst einmal eine Distanz zum Bewußtsein - in gewissem Sinne klammert sie es methodisch zunächst mal aus. Denn der Gang der Ableitung ist ja der: Wir gehen aus von der empirischen, historisch-empirisch faßbaren Lebenspraxis und fragen dann, diese Lebenspraxis als gegeben annehmend: Welche Strukturen müssen notwendig angenommen werden, damit diese Praxis überhaupt möglich ist? D.h. also, die psychischen Grundbestimmungen, die Kategorien, werden nicht aus dem Bewußtsein selbst bezogen, sondern sie werden erschlossen von einer historisch-empirischen Position aus. Durch diese Loslösung oder zumindest vorübergehende Loslösung von der Phänomenalität können, das ist der Sinn dieser Sache, glaube ich, unter anderem die vorfindlichen Phänomene relativiert werden. Wir können sie z . B . als fal144

sehen Schein, als Mystifikation bezeichnen; und umgekehrt können Dinge, die sich nicht zeigen, die also zunächst nicht Phänomene werden, wie etwa produktive Bedürfnisse, als dennoch existierend postuliert werden; wenn sie z . B . nur verschüttet sind unter bestimmten historischen Bedingungen. Nun scheint mir hierbei das Verhältnis von Kategorien und Phänomenen methodisch noch ganz ungeklärt zu sein. Zunächst einmal werden wir uns vom Phänomenologen sicher den kritischen Einwand gefallen lassen müssen, daß die Phänomene ja in die historische Rekonstruktion selbstverständlich mit eingehen, daß sie auf Schritt und Tritt mit dabei sind, bloß in einer unreflektierten naiven Weise. Man kann in der historischen Rekonstruktion natürlich nur herausholen, was man irgendwo gesucht hat. Man kann z . B . einen Begriff von Emotion nicht rekonstruieren, wenn man nicht vorweg schon eine Idee hat, was Emotionen wären und was man da rekonstruieren will. Nun könnte man dabei sagen, diese Naivität, mit der wir zunächst mit der Phänomenalität umgehen, wird eben gerade durch die historische Rekonstruktion wieder aufgehoben. Dann bleibt allerdings die Frage, was passiert mit der Phänomenwelt nun, nachdem die Kategorien da sind? Werden sie revidiert oder was geschieht damit? Ich wollte mich hier auf die Frage beschränken, ob die unmittelbare Erfahrung, also die uns zugängliche Phänomenalität, irgendein Wort mitzureden hat, wenn es um die Geltungsbegründung der Theorie geht. Ich meine, wenn der Anspruch aufrecht erhalten werden soll, das Bewußtsein, ich sag das jetzt bewußt in einem unspezifischen sehr weiten Sinne, nicht auszuklammern, mithin Psychologie als Subjektwissenschaft zu betreiben, dann muß meines Erachtens die Forderung aufgestellt werden, daß die Ergebnisse der Kategorienanalyse auf die Phänomenwelt rückbeziehbar sein müssen, d . h . Kategorien müßten, in welcher Form auch immer, als für die phänomenale Welt gültig ausgewiesen werden, sie müßten quasi in die Phänomenwelt zurückprojiziert werden. Denn sonst wäre diese Distanz zum Bewußtsein, die wir zunächst eingegangen sind, mehr als eine vorübergehende und würde letztlich eine Eingeschlossenheit des Bewußtseins, eine Unzugänglichkeit des Bewußtseins bedeuten. Ich weise darauf hin, daß in allgemeiner Form, nicht bezogen auf solche Kategorien, diese Forderung z . B . von Alfred Schütz aufgestellt worden ist. 145

Nun ist es bekanntlich mit dieser Rückbeziehung etwas schwierig bestellt in der Kritischen Psychologie. Ich habe z . B . immer Schwierigkeiten gehabt, den Begriff des "produktiven Bedürfnisses" in dieser Weise zu verstehen oder den Begriff der Emotion als Wertung des Gesamtzustandes, es scheint mir eine relativ kognitive Version von Emotion zu sein usw., . . . dies sind Probleme, die meines Erachtens daraus erwachsen, daß zunächst mal Kategorien abgeleitet werden, und sich dann eine Kluft auftut zur Phänomen weit, zu dem, was man selbst an sich zu erfahren glaubt. Nun sagt Holzkamp in seinem neuen Buch dazu: Kategoriale Bestimmungen dürften nicht "glatt auf die Erscheinungsebene herunterkonkretisiert werden". Dem würde ich auch zustimmen, aber er geht noch weiter und sagt: überhaupt dürften Kategorien und Beschreibungsbegriffe nicht kontamiert werden, und er führt meines Erachtens eine relativ scharfe Trennung zwischen den Kategorien einerseits und der Phänomenalität andererseits ein. Und diese Auffassung halte ich allerdings für ziemlich problematisch, denn wenn die Kategorien die Phänomene letztlich doch nicht erreichen können, wenn da irgendeine Kluft bestehen muß, dann haben hier die Kategorien denselben Zustand wie die Konstrukte des modernen Behaviorismus, und der Unterschied wäre dann nur eine kosmetische Angelegenheit, ob man nun wie im Behaviorismus das Bewußtsein bloß als hypothetisch betrachtet oder wie wir als existierend. Es bliebe allemal der Standpunkt von außen, der . . . das Bewußtsein nicht unmittelbar fassen kann. Norbert Groeben: (Nachdem er die allgemeine intentionale Bezogenheit des Menschen auf die Welt als "Intentionalität im weiteren Sinne" bezeichnet hat): Eine ganz eklatante Grenze des variablenpsychologischen Vorgehens ist dann erreicht, wenn das auftritt, was ich freisteigende Intentionalität nennen möchte, d . h . also (Intentionen), die aktiv aus dem Menschen als Intentionen im engeren Sinne (also im Sinne der analytischen Handlungstheorie als "beabsichtigt", oder planvoll) hervorgehen. Gegenüber solchen planvollen Handlungen e t c . , der freisteigenden Intentionalität also, ist das variablenpsychologische Design völlig nutzlos: Dort muß ich nämlich die unabhängige Variable manipulieren. Freisteigende Intentionalität bedeutet aber gerade, daß es sich hier um Intentionalität handeln muß, die nicht mehr manipuliert werden kann. Somit läßt sich dies auch nicht mehr experimentell erforschen. Hier würde ich also dem Dualismus der Frankfurter Schule das Wort reden: Mit Steinen kann ich herummanipulieren, dies ist keine Verfehlung des 146

Gegenstandsbereiches, beim Menschen kann ich das nicht, soweit ich freisteigende Intentionalität als konstitutiv für den Menschen als Gegenstand ansehe. Ich halte dies für einen außerordentlich zentralen strukturellen Unterschied und sehe hier deswegen eine grundsätzliche Beschränkung der experimentellen Variablenpsychologie. Daraus ergeben sich nun wesentliche Konsequenzen für die wissenschaftliche Forschungskonzeption: Man muß unterscheiden zwischen Wissenschaft der ersten Person und Wissenschaft der dritten P e r s o n . . . Während die Wissenschaft der dritten Person in der Außensicht auf den Menschen blickt, ihn als objektiven Tatbestand betrachtet, will ich die Perspektive der Wissenschaft der ersten Person allgemein verbinden mit dem, was man Innensicht nennen kann, d . h . mit dem, was man selbst als seine Planungen, Absichten etc. angeben kann, einschließlich der Gründe, die man dafür hat. Meine These ist, daß - da die Psychologie versucht hat, sich an den Naturwissenschaften auszurichten (unsinniger Weise, wie gesagt, da sie damit ihren Gegenstand verfehlt) hier eine Dichotomisierung zustandegekommen ist zwischen Sinnkonstituierung (Innensicht) und Geltungsprüfung (Außensicht). Die Mainstream-Psychologie hat sich, seit der Mitte dieses Jahrhunderts, auf die Geltungsprüfung festgelegt und den anderen Aspekt als unwissenschaftlich mehr oder weniger ausgeklammert. Die Überwindung der Dichotomie sehe ich nun darin, daß m.E. ein optimales Menschenbild für die Psychologie darin bestehen müßte, festzustellen, ob es nicht Gründe innerhalb der Innensicht gibt, die von der Außensicht als Ursachen, tatsächlich effektive Gründe zu akzeptieren sind. Die Rationalisierung in der Psychoanalyse ist ein klassisches Beispiel für das Auseinanderfallen der angegebenen Gründe und der tatsächlichen Ursachen. Ich nehme mal ein konkretes Beispiel aus der Hochschuldidaktik: Ich habe jemanden im Seminar, der ganz außerordentlich mitarbeitet. Die Frage ist: Warum tut er das? Er selbst gibt als Grund dafür an, das Thema der Veranstaltung interessiert ihn, deswegen arbeite er mit. Es könnte sich aber herausstellen, daß er eine Nachbarin hat, zu der er gewisse emotionale Bezüge entwickelt hat und der er * durch seine zur Schau gestellte Intellektualität imponieren will. Dies wäre dann die Ursache. (Zwischenruf Holzkamp: Ist doch auch ein Grund). Er weiß es nur nicht. (Holzkamp: Ist aber trotzdem ein Grund, und keine Ursache). Was ich vom Menschenbild her als optimal ansehen würde, wäre ein reflexives Subjekt, das Gründe angeben kann, die auch 147

gleichzeitig Ursachen s i n d . . . Theorien sollten demgemäß so beschaffen sein, daß Gesetze der ersten Person auch Gesetze der dritten Person sind, wobei im Optimalfall die Gesetze der ersten Person und die Gesetze der dritten Person zusammenfallen, d . h . die Gesetze der ersten Person als gerechtfertigt, auch in der Sicht der dritten Person ausgewiesen werden können. Eine Optimalvorstellung, die sicherlich nicht immer einzuhalten i s t . . . (Es folgte ein Plädoyer für eine dialogische Hermeneutik; damit verbunden war eine Kritik der 'strukturellen Verallgemeinerung' innerhalb der funktionalen Kategorialanalyse als monologische Hermeneutik, die für Groeben nur einen Wechsel von der Arroganz des das Bewußtsein des Erforschten weitgehend ausschließenden Behavioristen zur Arroganz des es immer schon 'intersubjektiv' besser wissenden 'Kritischen Psychologen' bedeutet.) Carl Friedrich Graumann: (Phänomenalität darf nicht im Sinne des alten Phänomenalismus mit dem unmittelbar Erscheinenden gleichgesetzt werden. Mindestens seit Heidegger meint man mit Phänomenen gerade das, was nicht sich zuerst und zunächst zeigt; Phänomenanalyse ist also nur deswegen möglich und nötig, weil die phänomenale Struktur aus der Enderscheinung rekonstruktiv herausgearbeitet werden muß). (Ich stimme mit Groeben soweit überein), daß auch der Psychologe und nicht nur der Sozialpsychologe, seine wissenschaftlichen Konstruktionen als Konstruktionen über Konstruktionen, als sekundäre, als abgeleitete Konstruktionen dessen aufzufassen hat, was sozusagen in der ersten Empirie, also der Empirie des alltäglich Handelnden, bereits an Konstruktion, an Interpretation, an Auslegung, an Intentionsbegründung vorliegt... Die Frage ist hier . . . nur dadurch zu einer kritischen geworden, daß (Groeben mir gegenüber auf dem Durchhalten der Dichotomie bestanden hat). Und da würde ich allerdings, nun auch mal böse, fragen, wieso eigentlich so dogmatisch?: Erklärung, das reservieren wir für Ursachenerklärung, . . . und das andere nennen wir, nun ja wie, Beschreibung oder Hermeneutik oder Verstehen und ziehen uns damit wieder in den geisteswissenschaftlichen Schrebergarten zurück. . . . Ich möchte hier alle solche Dichotomisierungen in Frage stellen, nicht nur die zwischen links und rechts, sondern auch die zwischen Beschreibung und Erklärung, Bewußtsein und Verhalten o . ä . Ich interessiere mich mehr für die Übergänge und Wechselwirkungen. Dichotomisierungen sind, wie dies ja die Sozialpsychologie gezeigt hat, zunächst Tendenzen unserer Wahrnehmung, und solche (unmittelbaren) Tendenzen zur kategorialen 148

Dichotomisierung müssen wir uns (in der Wissenschaft) bewußt machen, um sie zu überwinden. Ich will jetzt nicht nochmal über Bewußtsein reden, aber es war für mich gestern wichtig, deutlich zu machen, daß der Bewußtseinsbegriff der neueren Phänomenologie eben nicht das Sich-selbst-Wissen des Subjekts in einem gehobenen kognitiven oder intellektuellen Sinne meint. Auch die leibliche Stellungnahme des Subjekts zur Welt ist etwa im etre-au-monde, Zur-Welt-Sein, der französischen Phänomenologie mitgemeint... mit welchem die ganze Innerlichkeitsmythologie gerade überwunden werden soll. Dies nochmal zur Klärung dieses Bewußtseinsbegriffs, den ich für unglücklich halte. Ich arbeite lieber mit einem geklärten Erfahrungsbegriff als mit einem hochgradig äquivoken Bewußtseinsbegriff für das, was hier unmittelbare Erfahrung heißt. Schließlich greife ich (aus dem Gesagten) noch etwas heraus, über das wir reden sollten: In der analytischen Philosophie (am frühesten wohl in der Arbeit von Peters "The Concept of Motivation") (1958) gibt es eine Unterscheidung zwischen dem Grund, den jemand angibt, intentional bekundet, und dem wahren Grund, den ich aus seinen Aussagen, aus der Beobachtung seines Verhaltens (erschließen kann). Aber auch dieser eigentliche Grund (bleibt immer ein Grund) und wird nicht zur Ursache. Die Ursache, eine denkbare Ursache, für eine plötzliche Steigerung der Studienleistungen könnte etwa eine Veränderung des Hormonspiegels s e i n . . . Klaus Holzkamp: Zunächst mal zur Frage der Funktion der Phänomenologie - Rainer Seidel hat das angesprochen also der zentralen Frage, die uns hier beschäftigt. Für mich ist die Phänomenologie schon immer, schon in der 'Sinnlichen Erkenntnis 1 , eine Art von Minimalwissenschaft gewesen, in dem Sinne, daß bestimmte Strukturbestimmungen des zu untersuchenden Phänomens in der weiteren wissenschaftlichen Analyse nicht unterschritten werden dürfen. Für mich stellt sich z . B . zunächst die Frage: Was will ich eigentlich unter Wahrnehmung verstehen? Wir müssen uns also erstmal darüber einigen, was Wahrnehmung ist, ehe wir in irgendeiner Form mit dieser Sache umgehen könn e n . . . Gestern wurde dargestellt: Intentionalität, Situiertheit des Menschen, Reziprozität der Perspektiven, Perspektivität usw. All dies ist für mich eine Art von strukturellen Grundbestimmungen menschlicher Erfahrung, und wenn ich jetzt Psychologie mache, kann ich dahinter nicht zurück: Zwar ist das nicht alles, was ich mache, sondern ich fange jetzt mit meinen inhaltlichen Analysen erst an, aber es darf am Ende nichts rauskommen, was hinter das zurückfällt, was 149

in diesen Bestimmungen drin ist. Wenn ich anfange mit meinen logisch-historischen Analysen und am Ende kommt irgend was raus, bei dem das Moment der Reziprozität der Perspektiven rausgefallen ist, ist meine Analyse Mist, und zwar deswegen, weil sie nicht mehr von dem spricht, von dem sie zu reden behauptet. Ich weiß nicht, ob das klar ist? Es kann jemand sagen, ich mach da nicht mit. Dann sag ich: gut, machst Du nicht mit, aber dann rede ich nicht mehr mit Dir, weil Du von etwas anderem sprichst. Wenn mir jemand sagt, eine Handlung sei für ihn nicht intentional, nicht zielgerichtet, kann ich sagen: o . k . , Du definierst die Handlung nichtintentional, redest von etwas anderem. Und das heißt also, man muß das nicht mitmachen, aber wenn man es nicht mitmacht, heißt die Konsequenz, daß man kein Gesprächspartner mehr für bestimmte Leute ist, nämlich für die, die das darunter verstehen. Und insofern ist die Differenziertheit und der Reichtum dessen, was in dieser Strukturanalyse drin ist, eigentlich ein bißchen schon eine Voraussetzung für das, was später überhaupt an weitergehenden Analysen noch rauskommen kann. Wenn ich von vornherein die Handlung herunterbringe auf eine Art von Reizbestimmtheit auf einer bestimmten physikalischen Ebene, dann kann am Ende auch nichts anderes rauskommen als diese Art dürftiger Form von Verständnis menschlicher Lebenstätigkeit. Und man wird vom Standpunkt der Erfahrung dieser Lebenstätigkeit sagen: Na schön, ihr untersucht ja irgendwas, bloß was ich jeden Tag mache und meine Probleme, die ich habe, die sind davon nicht betroffen. Schön und gut, Ihr untersucht das, aber mich interessiert es nicht, weil es sozusagen bloß ein Restbestand, ein reduzierter Bestand dessen ist, was mich eigentlich interessiert. Insofern ist also auch Phänomenologie für mich eine Strukturwissenschaft, nicht eine inhaltliche Beschreibung, nicht: wie fühle ich mich, wenn ich kalte Füße habe oder irgendsowas. Diese Art von Deskription hat mit Phänomenologie überhaupt nichts zu tun, sondern diese ist die Herausarbeitung solcher grundlegenden Strukturbestimmungen der Erfahrung, wie sie gestern von Graumann dargestellt worden sind. Wesentlich ist allerdings, daß es dabei nicht bleiben kann. In der "Grundlegung" habe ich z . B . versucht, dieses Moment der Möglichkeitsbeziehung, Perspektivität, was ja eine große Rolle auch in der Phänomenologie s p i e l t . . . Also, ich selber finde mich in diesem Zustand vor, aber sehe mich in einer bestimmten gesellschaftlichen Beziehung oder Verfaßtheit, aus der diese Möglichkeitsbeziehung selbst wieder begreifbar wird. Ich habe versucht zu zeigen, daß, 150

sobald das gesamtgesellschaftliche System in der historischen Entwicklung anfängt, aus sich heraus existenzfähig zu werden, also eine Art von Systemcharakter des Gesellschaftlichen entsteht, ich als Individuum davon entlastet bin, ununterbrochen Beiträge zu meiner eigenen Lebenssicherung zu leisten, um existieren zu können. Und aus dieser Art von Distanz, daß ich handeln kann, aber nicht handeln muß - ich bin mindestens vorübergehend auch in meiner Existenz gesichert, wenn ich nicht handle - , daraus entstehen Alternativen, ich kann so und kann auch anders. Von da aus wird dann also dieses Moment der Möglichkeitsbeziehung zur Realität: auf menschlichem Niveau sind Handlungen Handlungsmöglichkeiten, und von da aus kommen wir dann zum Begriff der Gründe. Damit ist also eine gesellschaftlichhistorische Explikation dieses Moments der Handlungsmöglichkeit versucht. - In der Phänomenologie gibt es also bloß den Begriff Möglichkeitsbeziehung, und ich versuche zu zeigen, daß auf der gesellschaftlichen Ebene diese Möglichkeitsbeziehung durch die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit meiner Existenz ein wesentliches Bestimmungsstück unserer materiellen gesellschaftlich-individuellen Existenz ist. (Zwischenruf Graumann: Einspruch, Euer Ehren! Das ist nicht richtig, daß es das in der Phänomenologie nicht gibt, das finden Sie in der Form der sprachlichen und sozialen Bedingtheit der Möglichkeitsräume, also d . h . imgrunde der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Möglichkeitsräumen, bei Schütz). O.k., solche Gemeinsamkeiten und vielleicht dennoch bestehenden Unterschiede müßte man genauer diskutieren. Aber was ich hier sagen wollte, ist, daß diese Strukturbestimmungen nicht unterschritten werden dürfen, aber nicht alles sind, sondern sozusagen nur ein Kriterium darstellen dafür, ob ich nicht während dieser Analyse unversehens meinen Gegenstand verliere. Bei der Psychoanalyse z . B . kann man sehr schön zeigen, daß sie in ihrer Kategorialanalyse in vielen Fällen ihren Gegenstand verliert. Es ist eigentlich garnicht mehr von dem die Rede, was die Leute erfahren, sondern man guckt da schon immer hindurch auf das, was dahintersteht, und das wird kontaminiert mit dem, was sie erfahren. Man redet quasi immer uneigentlich: Wenn jemand was sagt, braucht man gar nicht mehr richtig hinzuhören, man weiß ja sowieso schon, was dahintersteckt. Deswegen auch die gelangweilte Attitüde des Notizen machenden Analytikers hinter der Couch (Unruhe). Sicher kann man diese Auffassung von Psychoanalyse für falsch halten, aber nehmen wir an sie wäre richtig, dann wäre sie ein Beispiel für das was ich hier meine. Und man muß sehen, 151

daß auch und gerade in der materialistisch oder marxistisch gemeinten Forschung die Gefahr, daß man aufgrund der Analyse objektiver Verhältnisse die Phänomene unter den Hammer bringt, ungeheuer groß ist: Daß man am Ende eigentlich von meiner Erfahrung garnicht mehr redet, man redet dann nur noch von gesellschaftlichen Strukturen und von falschem Bewußtsein als objektiver Bewußtseinsform, glaubt das Bewußtsein aus den Strukturen erschließen zu können, und was eigentlich bei mir selbst so los ist, die Art und Weise, in der ich selber mich hier in dieser Welt befinde, geht dabei reduktionistisch in die B i n s e n . . . Und auch zur Frage der Methodik dieser Strukturanalyse, die nicht aufgeht in irgendeiner anderen Methodik: Man kann nicht sagen, die funktional-historische Analyse steht in Konkurrenz mit der Phänomenologie, das kann nicht sein, sondern das, wovon ich rede und was ich analysiere, muß ja zuvor klar sein und muß bewahrt b l e i b e n . . . Zu unserem Konzept der Kategorialanalyse: Wenn ich im Alltag von irgendwas rede, dann stecken da schon kategoriale Bezüge in unserem Sinn drin, von denen es abhängt, was ich eigentlich unter Realität verstehe, was ich davon mitkriege, auf welche Art und Weise ich überhaupt an die Wirklichkeit herangehe. Und diese Art von kategorialem Bezug, die ist sozusagen eine von diesen blinden Selbstverständlichkeiten, die erstmal in der wissenschaftlichen Analyse aufgeknackt werden müssen, ehe ich überhaupt wissen kann, was ich mache. Was wir versuchen in der Kritischen Psychologie, ist eine bestimmte methodische Herangehensweise an das Aufknacken dieser Selbstverständlichkeiten des Gegenstandsbezuges im Alltag und damit gleichzeitig eine Kritik an der unserer Meinung nach blinden Übernahme dieser Vorstellungen in vielen Bereichen der traditionellen Psychologie. Unsere Kritik ist also die, daß in der traditionellen Psychologie die kategorialen Bestimmungen des Alltags blind verdoppelt werden. Und wir versuchen, in unserem logisch-historischen Verfahren der subjektwissenschaftlichen Kategorialanalyse mit der Herausarbeitung wissenschaftlich begründbarer psychologischer Grundkategorien gleichzeitig eine Basis für die Kritik der traditionellen Kategorien zu finden. (Ich kann die Eigenart dieses kategorialanalytischen Verfahrens und sein Verhältnis zur phänomenologischen Analyse hier nicht ausführen. Auch das Verhältnis zwischen der Kategorialanalyse und den darin gegründeten aktualempirischen Verfahren und zugeordneten Theorien muß hier prinzipiell unerörtert bleiben.) 152

2. Diskussion Publikum: (Ich als Forscher habe also die logisch-historisch erarbeiteten Kategorien. Wie vermittle ich die denn nun den Betroffenen im Forschungsprozeß? Und: Was muß ich denn überhaupt noch erforschen, wenn mir dies gelungen ist, wenn die Betroffenen sich also mit Hilfe der Kategorien bewußt verhalten? Dann haben sie den gleichen Bewußtseinsstand wie ich, was gibt es da also noch zu erforschen?) Holzkamp: Zur Beantwortung dieser Frage kann ich mich auf unser Projekt "Subjektentwicklung in der frühen Kindheit" beziehen (vgl. FKP 14, 1984). Dort geht es ganz zentral um die Vermittlung der Kategorien an die Betroffenen als "Mitforscher", ein Lernprozeß, der übrigens Jahre dauert (wir sind in dem Projekt bereits fünf Jahre zusammen). Also, diese Vermittlung und Diskussion der Kategorien besteht in deren jeweiliger Erprobung auf ihre praktischen Konsequenzen für das, was da in diesem Projekt läuft. Es gab also keinen Kursus, wo vorweg die Kategorien trainiert wurden, sondern es wird z . B . bei einem bestimmten Konflikt zwischen Eltern und Kindern versucht, in den Projektdiskussionen diesen Konflikt zu analysieren unter gleichzeitiger Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen der alltäglichen Sichtweise und der Sicht weise, die sich ergibt, wenn man den Konflikt aufschließt oder aufschlüsselt, versucht, durchschaubar zu machen von unseren kategorialen Bestimmungen her. Die Beteiligten selber haben dann natürlich zu entscheiden, ob das für sie was bringt, ob sie damit ihre Situation besser kapieren als vorher. Es geht aber im Projekt nicht darum, daß am Ende die Leute die Kategorien kennen, sonst wäre es ja ein Seminar - noch nicht mal ein gutes Semiar, denn da müssen auch praktische Probleme drin sein, an denen diese Kategorien exemplifiziert und in ihrer Bedeutung für die Lebenstätigkeit deutlich werden, sonst kann man so ein Seminar sich auch schenken - aber es wäre dann eher ein Seminar. Also diese Kategorialbestimmungen sind die Voraussetzung dafür, bestimmte konkrete empirische Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, zu klären, ganz konkrete Fragestellungen im Hinblick auf Entwicklungsprobleme. Ein solches Problem ist, daß Eltern mit bestimmten Formen der versuchten Entwicklungsförderung der Kinder in Wirklichkeit Bedingungen schaffen, unter denen sie die Entwicklung der Kinder behindern: Es ist eines unserer Hauptprobleme in diesem Projekt, zu zeigen, daß sozusagen vordergründige Erziehung und bestimmte Figuren des Umgangs mit den Kindern daher, 153

wenn man sie kategorial durchdringt von unserem Konzept aus, sich als tatsächliche Behinderungen des Kindes und der Eltern erweisen. Und diese Auffassung können die Betroffenen nur dann für sich realisieren, wenn mit diesen Kategorien in ihrer Erfahrung nachher auch sichtbar wird, daß sie in der Praxis diese Behinderung aufheben können. Es gibt also ganz spezifische theoretische Fragestellungen, auf konkreterer Ebene als die Kategorien, aber mit ihnen als Grundbegriffen, die wir da entwickelt haben, bestimmte Theorien des Umgangs zwischen Eltern und Kindern, in denen angenommen wird, daß die Regulationsformen der Erziehung in Wirklichkeit Entwicklungsbehinderungen darstellen, und diese Theorien werden dann im Projekt überprüft. Das heißt also: der Zweck ist die Klärung oder die Überprüfung dieser empirischen Annahmen, wobei der praktische Vollzug der Überwindung der Behinderung das zentrale Kriterium der Überprüfung ist; darum gehts, und nicht darum, daß die Leute nachher die Kategorien kennen und sich in Worten der Kategorien miteinander unterhalten können. Publikum (Hannelore Vathke): Zum Verhältnis zwischen Phänomenologie und Kritischer Psychologie habe ich die Frage, ob bei der hermeneutischen, der phänomenologischen Analyse der Inhalt der sozialen Strukturen, der situationalen Bestimmungen mitgefaßt ist? Ob also etwa sprachliche Bedeutungen inhaltlich miterfaßt werden in ihrer jeweiligen Doppelbedeutung als Existenzsicherung und Entwicklungsbehinderung? Ob die Phänomenologie also die konkrete alltagspraktische Funktionsweise für das Subjekt miterfaßt oder ob sie dies nicht leistet, und insofern eher aufgehoben ist in einer dialektischen, funktional-historischen Vorgehensweise. Graumann (diese Passage teilweise akustisch kaum verständlich): Die Frage ist, wie es mit dem konkreten Inhalt oder Gegenstand der Erfahrung aussieht in der phänomenologischen Analyse. Es ist richtig, daß davon ausgegangen wird, daß die Gegenstände in unterschiedlichen Medien sozusagen zur Erfahrung kommen, wobei das allgemein-verbindliche, quasi universelle Medium die Sprache ist - natürlich als einzelne Sprachen, schichtspezifisch oder wie immer aufgegliedert. Ich darf nochmal auf Schütz verweisen, der sich ja über etwas wie Realitätsabstufungen Gedanken gemacht und dabei die fundierende oder zentrale Universalität der Sprache herausgehoben hat, die aber weniger bedeutsam ist für die alltägliche Praxis. Er geht immer von der alltäglichen Praxis aus, von der entscheidend die Bedeutsamkeit 154

oder Relevanz abhängt, wobei zwar die Sprache impliziert bleibt, aber nicht mehr das Entscheidende ist. Selbstverständlich wird immer nach Bedeutungen erfahren, d.h. es wird natürlich für jedes einzelne Ding gelten, daß es zum Beispiel im Prozeß der Arbeit in einer anderen Bedeutung erfahren wird als etwa das gleiche Ding als ästhetischer Gegenstand. Das, glaube ich, stimmt ja auch mit unserer Alltagserfahrung überein. Zur Frage der Konkretheit... ein Ding bedeutet konkret das und das, . . . gerade die Art der Konkretheit ist durch den praktischen Bedeutungszusammenhang bestimmt. Ein Ding ist konkret, das heißt konkret das Ding, mit dem ich etwa im Arbeitsprozeß als Instrument zu arbeiten habe oder mit dem ich ästhetisch, oder, im Freizeitbereich, spielerisch umgehe. Dies ist das eine. Das andere ist, . . . ich kann den zweiten Teil Ihrer Frage nicht so gut beantworten, vielleicht weil ich ihn nicht so gut verstehe. Aber ich verstehe durchaus, was Klaus Holzkamp vorhin gesagt hat über die Ambivalenz etwa eines Erziehungsstils, der sozusagen im traditionellen Bewußtsein der Eltern förderlich gemeint ist, und man kann zeigen, daß er eben in anderen Hinsichten für den Betroffenen (und seine Entwicklung) hinderlich ist. Das schließt sich auch auf von dem aus, was man im Sinne von Merleau-Ponty menschliche Dialektik nennen kann. Jede Struktur, die irgendwie sich etabliert - und Struktur heißt natürlich auch beispielsweise Infrastruktur - . . . dies kann genauso ein konkretes Gitter sein, ein Zaun, nicht wahr, wie eine Grenze, die ich aus sozialen Gründen zu achten gelernt habe. Solche Strukturen sind immer als Bedingung der Ermöglichung von Handeln wie gleichzeitig als Behinderung von Handeln aufzufassen. Die Heraushebung dieser prinzipiellen Ambivalenz, daß das, was ermöglicht, zugleich behindert, das ist (die hier gemeinte) dialektische Argumentation. Dies würde prinzipiell anwendbar sein auch auf alle, insbesondere aber anonym gewordene Subjektivität. Erziehungsstil, wie Ihr ihn da untersucht, wäre eine solche anonym gewordene Subjektivität bzw. anonym gewordene Intentionalität... ich lasse etwas als selbstverständlich gelten, was unbefragt bleibt, einfach so gesellschaftlich tradiert wird. Daß das dann auch seinerseits wieder Dinge, also Gegenstände konstituiert, was weiß ich, entweder den Rohrstock oder den Bolzplatz, würde als mit zur Herausbildung auch physischer Strukturen gehören, die dann aber immer nur im jeweiligen intersubjektiv vermittelten intentionalen Zusammenhang zu verstehen sind. - also ich würde die Frage so beantworten, daß die Gegenständlichkeit, 155

die konkrete Gegenständlichkeit, Inhaltlichkeit, immer im Sinne intentionaler Korrelate sowohl alltäglicher Praxis, also etwa der Arbeit oder des Spiels, wie etwa wissenschaftlicher Empirie zu fassen ist. Seidel: J a , ich wollte zu der Frage direkt auch mal was sagen. Zu dem zweiten Teil besonders. Es geht doch darum, ob die alltägliche vorfindbare Phänomenalität durch die Kategorien nicht relativiert wird, oder so ähnlich. Und ich meine, natürlich wird die das. In der Phänomenologie wird versucht, diese Alltäglichkeit an dem Phänomen selber zu entwickeln, in der Kritischen Psychologie, indem man über die funktional-historische Rekonstruktion geht. Ich muß aber sagen, daß ich mittlerweile schon wieder umgekehrt denke, ob nicht die Kategorien, ich sagte das vorher schon, an der Phänomenalität wieder gemessen werden müssen: Zwar müssen sich einerseits die Phänomene, die Alltagsphänomene, kritisieren lassen durch eine historische Analyse, wobei aber auch umgekehrt die historische Analyse sich wieder an den Phänomenen kritisieren lassen müßte. Um es konkret zu machen am Begriff der Handlungsfähigkeit. Also es gibt ja verschiedene Konzepte. Persönlichkeit, Individualität... Es gab gute Gründe in der Diskussion, warum jetzt nicht die, sondern gerade Handlungsfähigkeit zu einem Grundbegriff wurde. Aber auf der anderen Seite scheint mir jedoch der Begriff Handlungsfähigkeit relativ phänomenfern zu sein: Einen Begriff von Handlungsfähigkeit kann ich sozusagen in jeder "Person" formulieren, ich kann feststellen, ob jemand handlungsfähig ist oder nicht handlungsfähig, ohne überhaupt in seine Innenwelt hineinzugehen oder es sieht zumindest so aus. Von daher würde ich z . B . fragen zum Konkurrenzbegriff... die Existentialisten, die haben den Begriff des Entwurfs stattdessen. Wie ist die Phänomenalität im Begriff Handlungsfähigkeit aufgehoben, ist sie es tatsächlich oder ist da nicht das Pendel schon etwas wieder zugunsten der objektiven Analyse durchgeschlagen? Holzkamp: Also Hannelore, zu dem was Du gefragt hast. Mir scheint die Antwort vom Kollegen Graumann ziemlich zu verdeutlichen, wie hier sozusagen der Anschnitt der Phänomenologie ist: Es wurde gezeigt, daß etwa dieser Widerspruch zwischen vordergründigem Erziehungserfolg und darin liegender Entwicklungsbehinderung, in phänomenologischen Bestimmungen faßbar ist. Also das ist ein Widerspruch, den man aufschlüsseln kann aus der Phänomenanalyse, auf eine bestimmte Weise. Das ist aber eine Ebene. Die zweite Ebene ist die Frage, wie nun inhaltlich diese Widersprüche ausse156

hen: Bei uns ist ja ein entscheidender Punkt, der nun wirklich nichts mit Phänomenologie zu tun hat, daß wir in unserer Analyse den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Reproduktion und individueller Reproduktion quasi als unhintergehbare Prämisse einführen. Es ist eine marxistische Voraussetzung, keine phänomenologische, daß wir annehmen, daß die individuelle Reproduktion Teilaspekt der gesellschaftlichen Reproduktion ist. Keiner von uns kann sich reproduzieren ohne daß er in irgendeiner Form beteiligt ist an der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, weil wir nämlich alle davon abhängen, keiner kann sich individuell wie in der natürlichen Umwelt reproduzieren. Und von da aus versuchen wir, den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der individuellen Reproduktion durch die historische Analyse empirisch herauszuarbeiten. Das heißt also: Wenn wir jetzt rangehen an sowas wie diese Widerspruchsanalyse, dann sind dabei nun mögliche phänomenologische Differenzierungen wie der Kollege Graumann sie dargestellt hat, vorausgesetzt. Aber wir versuchen zu zeigen, wie aus der konkreten Situation in der bürgerlichen Gesellschaft, in der Situation und Klassenlage der Betroffenen, mit denen wir es zu tun haben, sich bestimmte Widersprüche ergeben, aus denen es sozusagen ihnen nahegelegt ist, bestimmte Techniken anzuwenden zur Bewältigung der Situation mit den Kindern, die in Wirklichkeit Entwicklungsbehinderungen sind. Das ist eine inhaltliche Füllung dieser allgemeinen phänomenologischen Bestimmungen aufgrund eines sehr umfangreichen Umweges der Forschung, wo versucht wird, zu zeigen: Was heißt eigentlich individuelle Entwicklung als Aspekt der Reproduktion der gesellschaftlichen Entwicklung unter bürgerlichen Verhältnissen in bestimmten konkreten Positionen, Situationen in dieser Gesellschaft?' Und von da aus kommen wir d a n n . . . z . B . die Individuen entwickeln sich, entwickeln ihre Handlungsfähigkeit, müssen sie aber in der bürgerlichen Gesellschaft so entwickeln, daß sie nachher in der fremdbestimmten Erwachsenenexistenz in dieser Gesellschaft handlungsfähig werden. Sie werden nicht absolut handlungsfähig, sondern entwickeln sich widersprüchlich hin auf diese Art von gebremster Handlungsfähigkeit, unter der allein sie sich nachher unter unseren Verhältnissen reproduzieren können. D.h. schon in der Entwicklung der Kinder steckt der Widerspruch drin und dieser Widerspruch zwischen vordergründiger Entwicklungsförderung und tatsächlicher Entwicklungsbehinderung, der hat für uns auch mit dem genannten gesellschaftlichen Widerspruch zu tun, und von da aus 157

leiten wir das ab. Dies steht nicht in Widerspruch zu den phänomenologischen Bestimmungen, sondern ist eine Konkretisierung aufgrund eines anderen, historisch-empirischen Ansatzes, wobei diese phänomenologischen Bestimmungen selber halt nicht verloren gehen d ü r f e n . . . Publikum (Jaques Zelen): Nach der bisherigen Diskussion scheint es so, als ob die Phänomenologie viel breiter ist, als sie meistens gefaßt wird, und die Kritische Psychologie viel phänomenologischer, als sie je vorgegeben hat. Aber eine spezifische Frage an Herrn Graumann: Ist der kategoriale Umweg überhaupt nötig, um die Phänomene zu verstehen? (Rest akustisch unverständlich) Graumann: Zu der Frage, ob der kategoriale Umweg zu Phänomenen überhaupt nötig sei, würde ich sagen: Phänomenologisch gibt es keinen kategorialen Umweg zu den Phänomenen, weil das, was Phänomen genannt wird, ja nicht so etwas ist wie eine pure beispielsweise sensorische Erscheinung, sondern noematisch in dem Sinne, daß etwas, egal, wie es im einzelnen beschaffen ist, in seinem Sinn erlebt wird. Wir haben in der Phänomenologie ein besonderes Interesse an der sogenannten vorprädikativen Erfahrung, an der präreflexiven Erfahrung, aber eine präkategoriale Erfahrung kann es nicht geben. Es kann dann natürlich immer noch Umwege geben, indem man also Dinge in einem Sinne erfaßt, nicht wahr, den man später korrigieren muß, den man präzisieren muß. Aber in dem Maße, wie jedes Ding, das erscheint, nicht notwendig als etwas erscheint, (das ist bereits eine Reflexionsstufe darüber) aber über sich hinaus verweist auf weitere Möglichkeiten, es zu erfahren, steht es immer in einem Sinnkontext, ist nicht nur Einzelding - es gibt gar kein Einzelding, es gibt auch keine einzelne Erfahrung - und das wird im Grunde kategorial erfahren. An der Kategorialität der Erfahrung führt, soweit ich die Dinge verstehe, kein Weg vorbei. Seidel: J a , aber, vielleicht ist der Unterschied: Phänomenale Kategorien und außerphänomenale Kategorien. Z.B. umfaßt die Kategorialanalyse der Kritischen Psychologie meinethalben Bestimmungen wie: die Menschen produzieren ihr Leben gesellschaftlich. Das ist eine ganz andere Aussage, als die Aussage, daß wir in unserem Sein immer auf die Mitmenschen bezogen sind, phänomenal, also wenn wir unsere Innenwelt richtig bestimmen, daß dann der andere immer drin sein muß. Das ist eine Aussage, würde ich sagen, die liegt ganz auf der phänomenalen Ebene, ist auch kategorial irgendwie, ist aber was ganz anderes als eine Aussage, die aus der materialistischen Geschichtsauffassung kommt 158

oder so, das ist eine völlig andere Art von Kategorien, und, ich glaube, darauf zielt auch die Frage ab, ob solche Kategorien . . . die werden hier als Umweg, glaube ich, genannt. Graumann: Es gibt sicher im Kontext der Kritisch-psychologischen Kategorialanalyse Kategorien, die phänomenologisch geradezu ganz unmöglich sind. Das ist klar, die sich nicht phänomenologisch rechtfertigen lassen, meine ich, die in diesem Kontext überhaupt keinen Sinn ergäben. So ist es z . B . phänomenologisch völlig sinnfrei zu sagen, daß ich mich selbst reproduziere. Phänomenologisch wäre das ein Witzwort. Man kann etwas reproduzieren usw., aber, daß ich mich reproduziere, das wäre phänomenologisch nicht ausweisbar. Während Bestimmungen hoher Abstraktheit wie etwa Intentionalität, das haben Sie gerade ganz richtig gesagt, das ist erst mal ein Wort, für etwas, das, wie ich glaube, in allen Erfahrungen besteht. Man könnte andere Wörter dafür finden. Was es gibt, ist natürlich unterschiedliche Nähe zu den Phänomenen; das ist klar, daß es da, wie bei allen Begriffen, so etwas wie Begriffshierarchien gibt. Aber der Anspruch auch an eine phänomenologische Begriffsklärung ist, daß letztlich immer der Rekurs auf die Phänomene möglich ist, d . h . die Legitimierung der Wirklichkeit etc. immer von der unmittelbaren Erfahrung aus erfolgt, abgesehen von den Umwegen, die Verkehrsunfälle sind, die sicher sehr häufig sind, gibt es kein Vorbei an einer phänomenologischen (ja, wir verwenden den Begriff nicht so) an einer phänomenologischen Kategorisierung, der Bemühung um eine möglichst phänomengetreue Kategorisierung. Holzkamp: Also ich würde das in der selben Richtung noch ein bißchen weiterverdeutlichen wollen. - Also zunächst zur Kategorialanalyse: Unsere Erfahrung hat eine bestimmte Struktur, mit Dimensionen wie Intentionalität usw., das kann man phänomenologisch analysieren. Und nun so etwas wie marxistische Herangehensweise: Dabei habe ich diese Struktur der Erfahrung, und das ist unhintergehbar: was darüber, wenn es adäquat gemacht wird, phänomenologisch festgestellt wird, ist durch nichts aus der Welt zu schaffen. Es kann also keine marxistische Analyse ergeben, daß ich nicht intentional auf meine Mitmenschen bezogen bin, das ist ein Quatsch, kann es nicht geben, also das steht nicht zur Disposition; und auch die Reziprozität der Beziehung, meiner Beziehung auf den anderen Menschen, daß wir uns sozusagen wechselseitig erfahren: es gibt keine mögliche materialistische Analyse, die diesen Sachverhalt 159

aus der Welt schaffen kann. Wenn man den aus der Welt schaffen will, dann muß man ihn nämlich auf der Ebene der phänomenologischen Analyse methodisch kritisieren oder so. Das ist erst mal ein Punkt, aber das ist nicht alles. Sondern man kann jetzt weiter fragen: Schön, ich befinde mich hier an dieser Stelle der historischen Entwicklung, das ist zunächst mal auch ein Stück Phänomen für mich. Aber, daß ich hier an dieser Stelle meine Erfahrung analysieren kann, setzt ja sozusagen meine Existenz voraus, . . . der schöne Satz von Marx (in der Deutschen Ideologie) man muß erst mal leben ehe man denken kann, man muß erst sich kleiden, ehe man Philosophie machen kann oder so. Also, ich habe zwar hier die Erfahrung, die Tatsache dieser Erfahrung ist aber nicht allein erklärlich aus der phänomenologischen Analyse ihrer Struktur, sondern es muß auch verständlich werden, wie ich mich jetzt dabei hier so überhaupt am Leben erhalte, um Erfahrungen mit der phänomenalen Struktur machen zu können. Und sich am Leben Erhalten ist zwar phänomenologisch abbildbar, aber als solches ein nicht phänomenaler Prozeß. Dazu gehört, daß real die Bedingungen da sind unter denen ich essen, leben, mich kleiden kann, unter denen ich nicht totgeschossen werde, unter der mir die Raketen nicht auf den Kopf fallen. Die Raketen sind zwar auch ein phänomenaler Tatbestand, und wenn sie auf uns runtergefallen sind, kann der Phänomenologe hinterher, falls er noch lebt, sich damit beschäftigen, die Dinge im phänomenalen Bezugssystem zu fassen. Aber die Prozesse, die dazu geführt haben, daß mir die Rakete auf den Kopf fällt, gehören zu einer anderen Art Bezugssystem als der Phänomenanalyse. Und diese Ebene versuchen wir einzubeziehen, indem wir die Befindlichkeit, in der wir uns hier wiederfinden, historisch rekonstruieren aus dem Reproduktionsprozeß des gesellschaftlichen Lebens, in dem die Individuen nur dadurch sich selber reproduzieren können^ daß sie einen Beitrag leisten zur Reproduktion des gesellschaftlichen Systems, weil sie davon nämlich abhängen. Sie können tatsächlich objektiv sich nur so reproduzieren. Wenn ich diesen ganzen Prozeß nun analysiere hinsichtlich der Konsequenzen für meine konkrete Lebenslage, dann heißt das, daß ich eine umfassendere Sicht weise auf meine eigene Lebenstätigkeit kriege, mit inhaltlichen Bestimmungen, konkreten empirischen inhaltlichen Bestimmungen, in denen ich dann diese Phänomenbestimmungen nicht unterschreiten darf, die aber einfach mehr enthalten als die bloße Bestimmung dieser Struktur der Erfahrung. D.h. ich selber bin in der Situation, finde 160

mich wieder in dieser Situation, als Teil einer umfassenden historischen Entwicklung der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, in der ich jetzt gerade an diesem speziellen gesellschaftlich-historischen Punkt bin. Und kann versuchen, das zu kapieren, und das kann ich nicht kapieren durch Phänomenanalyse, das kann ich nur kapieren, indem ich den Prozeß, in den ich mit meinen Erfahrungen eingebettet bin, reproduziere, gedanklich reproduziere, in seinen Widersprüchen, in seinen Interessenkonstellationen, nicht wahr, in den objektiven Bestimmungen, denen ich unterstehe, und die sich niederschlagen können auch in meinem individuellen Bewußtsein und da alle möglichen Mystifikationen hervorrufen können: Das ist einfach ein anderer Ansatz, und damit sind die Phänomene nicht aus der Welt, sondern die Phänomenanalyse ist inhaltlich überschritten, aufgrund dieser historischen Analyse der konkreten Erfahrung. Meinetwegen: Intersubjektivität als phänomenaler Tatbestand . . . aber, was eigentlich jetzt intersubjektive Beziehungen unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen im Zusammenhang mit bestimmten Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion im Kapitalismus heißen, und welche Beschränkungen und spezifischen Bestimmungen sich daraus ergeben, ist einfach eine andere Frage, und zwar deswegen, weil das, was wir tun in unserem täglichen Leben bis hin in unsere intimsten Beziehungen hinein eben nicht unabhängig ist von den Widersprüchen, von den Interessenkonflikten, der gesellschaftlichen Lage, in der wir leben. Graumann: Ich falle mal einen Augenblick aus meiner freundlichen Rolle heraus, weil ich jetzt gegen einen, ich sage das auch ganz böse, gegen einen Trick der Argumentation protestiere, den Klaus Holzkamp gerade begangen hat. Wenn er nämlich sagt, Phänomenologie, alles schön und gut, alles akzeptiere ich, alles kassiert, usw., aber wir gehen darüber hinaus, und insofern ist das, was wir machen, sehr viel reicher: Das finde ich eine unzulässige Art zu argumentieren. Weder die Kritische Psychologie noch die marxistische Theorie haben die Kategorien entwickelt, die wir bislang als phänomenologische bezeichnet haben und wo wir jetzt feststellen, daß es einen gewissen Konsens oder eine gewisse Konvergenz gibt, wenn Sie sich die jetzt alle untern Nagel reißen, ich drück mich drastisch aus, als Unterbau oder so etwas unter eine Theorie, die mehr also Wert legt auf sozioökonomische Strukturanalyse, und dann sagen, wir sind aber reicher als ihr, dann finde ich das eine unzulässige Konfundierung von zwei üiskurssystemen, und kein Beispiel für Reichtum. 161

Holzkamp: Hab ich gesagt 'reicher 1 ? Dann nehme ich das zurück. Ich hab aber, glaube ich, nicht »reicher1 gesagt. Vielleicht können wir das Problem dadurch neutralisieren, daß wir sagen, es sind unterschiedliche, nicht aufeinander reduzierbare Sichtweisen. Also, wenn ich hier immer wieder betone, daß die phänomenologische Herangehensweise für uns nicht hintergehbar ist, dann meine ich damit, daß wir bei diesen Analysen, die ich jetzt hier dargestellt habe, also der Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion, die konkrete Situation von Individuen nach den Bestimmungen, wie sie phänomenologisch beschrieben sind, nicht unterbuttern dürfen, d . h . es gibt eine bestimmte Widerständigkeit der Struktur der Erfahrung von Subjekten, die nicht verloren gehen darf bei diesen Analysen; was nicht heißt, daß wir uns darauf beschränken müßten. Wir versuchen eben, darüber hinaus noch auf ne andere Art und Weise an Dinge heranzukommen. Wieweit wir dabei kommen, muß jeder selber beurteilen. Wenn wir z . B . auf dieser Grundlage Analysen machen über die Widersprüche zwischen scheinbarem Erziehungserfolg und Entwicklungsbehinderung, dann wird das von uns halt nicht nur phänomenanalytisch als Widerspruch gefaßt, sondern in einer bestimmten Art und Weise versucht zu begründen auch als einen Aspekt der individuellen Reproduktion des Lebens und der Entwicklung unter den konkret-historischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft jetzt und hier. Also nicht nur irgendein Widerspruch zwischen Erziehungstechniken , vordergründig, und Entwicklungsbehinderungen, sondern ein Widerspruch, der sich ergibt aus ganz bestimmten gesellschaftlichen Widersprüchen unserer konkreten Situation. Können wir doch machen! (Zwischenruf Graumann: "Unbestritten") Und daß das reicher ist, also diese Bewertung mit reich und nicht reich, will ich damit nicht . . . , ich will mir auch nichts unter den Nagel reißen. Sondern mein Plädoyer auch vor den marxistischen Kollegen, die das in keiner Weise immer so sehen, ist, daß wir hinter das, was hier als unmittelbare Erfahrung gegeben ist, dabei nicht zurückfallen dürfen Wir machen eine materialistische Analyse in der Psychologie und am Ende fällt z . B . die Intersubjektivität raus, oder die Reziprozität der Perspektiven, ist nicht mehr davon die Rede, kommt nicht mehr vor. Wenn das raus kommt, dann hat die historische Analyse nichts getaugt, dann war die schlecht. Das ist ein Maßstab, und zwar deswegen, weil wir ja Erfahrung aufschlüsseln und nicht Erfahrung untern Tisch kehren wollen. Wir wollen nicht Erfahrung abschaffen, auch nicht Erfahrung zensieren, 162

sondern wir wollen Erfahrung verdeutlichen im Sinne der Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Lebensqualität der Individuen, das wollen wir. Publikum: . . . wenn es bei Ihnen (Graumann) in erster Linie um Erfahrungen geht und jetzt auch im Rahmen der Kritischen Psychologie gesagt wird, die sind nicht hintergehbar, was ich auch finde, so mache ich aber als Individuum z . B . folgende Erfahrung: Herr Reagan spricht im Fernsehen und sagt, wir wollen Frieden, uns liegt nichts näher, als den Frieden auf Erden zu sichern und dafür machen wir jetzt hier Politik, und ich bin Präsident der Vereinigten Staaten geworden, um das zu sichern, und das ist die Hauptaufgabe meiner Politik. Die Erfahrung mache ich abends um acht bis viertel nach acht, die kann ich auch bei Herrn Kohl und anderen Politikern machen, diese Erfahrung. Ich mache aber gleichzeitig die Erfahrung (auch über die Medien), daß der Reagan 1000 Pershing 2 hier aufstellen läßt und soundsoviel Cruise Missiles, und dabei ist, ein Rüstungsprogramm in Gang zu setzen, was die Welt noch nicht gesehen hat, und daß gleichzeitig der Hunger in der Welt weiter zunimmt, die Erfahrung mache ich auch. Nun stehe ich da mit meinen beiden Erfahrungen, und frage mich, woran ich mich orientieren soll, weil ja beides Erfahrungen sind, die ich mache. Jetzt wäre meine Frage an Sie, wieviel gilt Ihnen der Umstand, daß ich widersprüchliche Erfahrungen mache, wie erklären Sie das, also wie stellen Sie sich zu dem Umstand, daß ich als Subjekt, als einzelne Person eine Geschichte, soundsoviel Jahre alt, eine Geschichte widersprüchlicher Erfahrungen habe und mitkriege, daß ich manchmal die Erfahrung als solche nicht leben kann, sondern mich damit auf die Nase lege und gefordert bin, hinter meine Erfahrungen zu gehen und Dimensionen einzuschließen, die erst mal mit der unmittelbaren Erfahrung als solcher wenig zu tun haben? Graumann: Vielen Dank, es ist sehr wichtig, daß mal so eine Frage gestellt wird. Also natürlich Punkt eins, Phänomenologie, phänomenologische Psychologie als solche ist natürlich keine Lebenshilfe, ganz klar, daß man aus diesen theoretischen Systemen heraus keine praktischen Anleitungen dafür kriegt, wie ich mich verhalten soll bei solchen Erfahrungen, da sind noch eine Reihe Vermittlungsinstanzen, ob kritisch, marxistisch oder bürgerlich...? Aber wenn Sie beunruhigt sind, daß Sie auf der einen Seite Leute von Frieden reden hören und auf der anderen Seite wissen, daß die Raketen aufstellen, andere stellen Raketen auf und reden auch vom Frieden, sodaß Sie also Ihr Ver163

ständnis von Frieden, mit der offenkundigen Bedeutung von Raketen nicht in Übereinstimmung bringen können, und wenn Sie jetzt weiterfragen: woher kommt das, dann haben Sie einen Widerspruch und wenn Sie jetzt auch noch Vertreter der Dissonanztheorie sind, dann sind Sie motiviert, da rauszukommen. Das ist ein wichtiger psychologischer Punkt, nicht wahr, Widersprüche steckt man nicht schlicht in die Tasche, sondern man will wissen - unter Umständen was dahintersteckt, d . h . Sie werden versuchen, Ihre Erfahrungen anzureichern, sich beispielsweise politisch informieren oder wie immer, daß Sie andere Informationsquellen als die bisher üblichen, als das abendliche Fernsehen verwenden. D.h. jede Erfahrung erweist sich, das ist also (ein Aspekt) des phänomenologischen Ansatzes, als etwas, was prinzipiell über sich hinaus drängt bis zu einer Stelle wo Sie sagen: jetzt hab ichs, jetzt weiß ich woher das kommt. Es liegt beispielsweise an diesem System. Sie können auch zu ganz anderen Erkenntnissen kommen. Sie können zur Erkenntnis kommen, daß Gott die Welt allmählich aufgibt und der Teufel die Herrschaft übernimmt - nicht lachen, mir ist kein anderes Beispiel eingefallen. Holzkamp: Zumal ja auch Reagan sie selber vertritt, diese Auffassung... (Gelächter) Graumann: Wobei die Frage, wessen Werkzeug wer ist, aber . . . ("Gelächter) Ich meine, dieses Weiterfragen, ist genau das, was mit Horizontstruktur der Erfahrung gemeint ist, aber das "ah, jetzt weiß ichs, das kommt daher", das wäre phänomenologisch zu hinterfragen, und (dem gegenüber hervorzuheben), daß es mehrere Auslegungsmöglichkeiten für Ambivalenzen, Konflikte, Widersprüchlichkeiten gibt. Also gerade dieser Mechanismus, den Sie schildern, der Sie z . B . auf eine ökonomische, auf eine politische oder auf eine religiöse oder was weiß ich Antwort bringt, Sie wissen, daß die Menschen sich danach unterscheiden, das glaube ich, steht nicht in einem Widerspruch. Aber, um noch einmal (auf einen frühen Punkt der Diskussion) zurückzugreifen: Wenn man (von marxistischer Seite) sagt, (die phänomenologische Analyse und ihre Resultate), dies ist für uns unhintergehbar, nicht wahr, so kann ich natürlich, wenn ich mich jetzt mal als Vertreter der phänomenologischen Position betrachten würde, was ich gar nicht muß, eine artige Verbeugung gegenüber einem Vertreter der Kritischen Psychologie machen und sagen: Vielen Dank, daß Ihr uns entdeckt habt, und daß Ihr uns sozusagen für un überspringbar oder dergleichen anseht, und bereit seid, keine kritisch-psychologische, oder gar marxistische 164

Schlußfolgerung zuzulassen, die in Widerspruch zu einer phänomenologischen Aussage steht: Das ist sensationell! Seidel: Jetzt ist es mir ein bißchen zu friedlich... also ich denke, der Phänomenologe hätte jetzt an den Fragenden folgende Fragen gestellt: Wie kommt es denn, daß Du vor dem Fernseher sitzt und Dich über das, was Du siehst, echauffierst, und wie kommt es, daß genügend andere davor sitzen, und die erleben das gar nicht als Widerspruch. Woran liegt das, das liegt doch sicher daran, daß einerseits diese Millionen und andererseits diese Minderheit, die sich darüber echauffiert, andere Grundstrukturen ihres Erlebens haben und aufgrund dieser anderen Grundstrukturen etwas anderes als objektive Realität sehen, und insofern müßte man möglicherweise eben diese Frage von objektiver Realität in diesem Sinne relativieren, weil ja auch der historischmaterialistische Forscher mit einer ganz bestimmten Struktur in seinen Erlebnismöglichkeiten an die Untersuchung herangeht, und die Frage muß ja auch irgendwo, gerade im Sinne der historisch-materialistischen Forschung, beantwortet werden, wie entsteht das Bewußtsein, die Erkenntnis der objektiven R e a l i t ä t . . . . Wir stellen immer wieder fest, der eine erkennt es, der eine erkennt es nicht, wie kommt es d a z u ? . . . Holzkamp: Die Sache mit der Lebenshilfe find ich ganz i n t e r e s s a n t . . . Ich würde schon meinen, daß Wissenschaft immer Lebenshilfe ist, und zwar auf einem sehr allgemeinen Niveau schon gesellschaftlich-historisch. Ich meine, die Wissenschaft ist eine arbeitsteilige Institution, die sich herausgebildet hat, um bestimmte Probleme der Entwicklung und des Lebens und der Entfaltung der Menschheit, der Individuen, der Lebensbedingungen usw. arbeitsteilig in Angriff zu nehmen, die sozusagen in der allgemeinen alltäglichen Praxis in der Form nicht mehr bewältigbar waren. D.h. wenn Wissenschaft keine Funktion hätte, die in irgendeiner Form mit der Entwicklung des Lebens zu tun hat, dann wäre sie nicht entstanden, das ist jedenfalls die Auffassung, die man als historischer Materialist hier vertreten würde. Und infolgedessen stehe ich auch nicht an, ohne weiteres zuzugestehen, daß die Kritische Psychologie Lebenshilfe bieten soll. Jetzt ist nur die Frage, was man darunter versteht . . . (Zwischenruf Graumann: bieten soll). Auch bietet, sofern sie Erkenntnisse erbringt. Das Vermitteln von Erkenntnissen und das Bieten von Lebenshilfe sind in der Psychologie zwei Seiten derselben Medaille. Allerdings würde ich sagen, daß Wissenschaft, oder Psychologie, Kritische Psychologie, in dem Sinne keine Lebenshilfe bringen darf, daß sie Individuen Resultate vorschreibt: Dies wäre 165

nämlich Entmündigung, also gar keine wirkliche Lebenshilfe. In dem Moment, wo ich irgendjemand sage, wie er denken soll, was er inhaltlich denken soll, zu welchen Schlußfolgerungen er kommen s o l l . . . . Es geht also nicht darum, Lösungen der Widersprüche anzubieten, sondern zu vermitteln, wie man mit solchen Widersprüchen vernünftig, d . h . im eigenen und allgemeinen Interesse, umgeht. Also, etwa in unserem Konzept der Entwicklung der Handlungsfähigkeit haben wir ja diese beiden Alternativen restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, und mit Hilfe dieser Begrifflichkeit kannst Du Dich selber fragen, auf welche Art und Weise Du eigentlich mit dem Widerspruch umgehst: Du kannst damit so umgehen, daß Du die Elemente dissoziierst, ja, meinetwegen denkst, da sagt er das, da sagt er das, ist mir wurscht, wie es viele machen. Du kannst auch so damit umgehen, daß Du einen bestimmten Aspekt aus Deiner Praxis ausklammerst, entweder kein Fernsehen mehr siehst oder sonst was, nicht w a h r . . . . Oder Du versuchst, diesen Widerspruch zusammenzubringen und daraus für Dich praktische Konsequenzen, meinetwegen als Arbeit in der Friedensbewegung zu ziehen: Was bedeutet das eigentlich für Deine Lebenspraxis? D.h. also, die Implikationen dieser beiden Alternativen nicht nur im Erkenntnisprozeß, sondern auch emotional und motivational klarer zu fassen, das ist eine Funktion der Kritischen Psychologie. Nicht, daß Dir gesagt wird, welche Entscheidung Du treffen sollst, aber die Implikationen der einen und anderen Alternative für Deine Befindl i c h k e i t . . . , Dir selber die Möglichkeit zu geben, etwas klarer auf den Punkt zu bringen, was bedeutet das für mich, das eine und das andere, und Dir damit die Entscheidung jetzt selber zu erleichtern, indem Du weißt, was Du tust, und zwar nicht nur für die Welt oder für irgendwas, für die Geschichte, sondern für Dich selber, was das für Dich selber in Deiner subjektiven Lebenspraxis bedeutet, so oder so Dich zu verhalten, das für Dich klarer faßbar zu machen, das ist in der Tat eigentlich das zentrale Ziel der Kritischen Psychologie. Die Entscheidung selber hast Du nachher zu treffen, und wie die aussieht, das hängt von einer Unmenge von konkreten Faktoren ab, von Deiner konkreten Situation, die ich gar nicht kenne. Aber ich würde sagen, daß auf jeden Fall die Entscheidung, wie sie auch immer ausfällt, bewußter und realitätshaltiger und für Dich selber, für Deine Entwicklung perspektivenreicher ist, wenn Du, vorausgesetzt, die Kategorien bringen was, auf diese Weise weniger Realität rausschmeißt, ja, insofern ist sie dann auch wieder Lebenshilfe, indirekt. 166

Graumann: Vielen Dank, ich kann es jetzt ganz kurz machen, denn ich glaube, Klaus Holzkamp ist jetzt gerade aus der Kurve getragen worden im Eifer der Argumentation: Die Kritische Psychologie oder welche Psychologie auch immer, ist nicht Lebenshilfe als solche, sondern man muß die konkreten Lebensbedingungen kennen. In dem Moment, wo ich die konkrete Lebenssituation des einzelnen kenne, kann ich Hilfe anbieten... Dazu brauche ich übrigens kein Psychologe zu sein. Und genau das hab ich gemeint, als ich sagte, Phänomenologie oder Psychologie als solche ist keine Lebenshilfe. Daß sie Erkenntnis schafft und daß Erkenntnisse immer Bedingungen der Möglichkeit der Hilfe sind, ist eine Erkenntnis, die von den alten Griechen bis heute reicht, diese bürgerliche Erkenntnis brauchen wir nicht aufzuwärmen, das ist doch trivial. Holzkamp: Aber wie es aussieht, wie der Zusammenhang aussieht, ist nicht trivial. Graumann: Nicht trivial ist dagegen, was ich alles im einzelnen wissen muß, nicht wahr, und das ist natürlich die genaue Kenntnisnahme der konkreten Situation, dagegen ist auch kein Widerspruch. Holzkamp: Nur, daß die Art und Weise, wie man die konkrete Lebenssituation zur Kenntnis nimmt, in keiner Weise auf der Hand liegt (Graumann: Hat mein Pfarrer auch immer gesagt) und daß die begriffliche und empirische Arbeit, die man meinetwegen als Kritischer Psychologie leistet, eben dazu beitragen soll, sich selber und anderen auf wissenschaftlicher Grundlage dazu zu verhelfen, die Situation so zu analysieren, daß man wirklich nachher weiß, was da drin steckt und welche verallgemeinerten Handlungsmöglichkeiten da drin sind. Der allgemeine Appell, wir müssen die konkrete Lebenssituation berücksichtigen, reicht da überhaupt nicht, denn das versuchen alle (Graumann: Alles ungemein nützlich) Seidel: Wir müssen aber Schluß machen. Holzkamp (Schlußwort): Ich habe also an der Diskussion relativ viel Spaß gehabt, am Ende wurde es dann ein bißchen brisanter. Die volle Friedfertigkeit zwischen allen Beteiligten wieder zu rekonstruieren, würde vielleicht noch zehn Minuten in Anspruch nehmen, aber das brauchen wir. wohl nicht. (Graumann: I wo). J a , dann, herzlichen Dank und noch schönen Kongreß.

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IV. Methodische Zugänge zum Unbewußten* Koordination: Christof Ohm Teilnehmer: Bernhard Görlich, Wolfgang Fritz Haug, Jürgen Meßing, Christian Niemeyer, Ute Osterkamp, Erich Wulff

1. Beiträge 1 . 1 . Christian Niemeyer In der psychoanalytischen Therapie wird die Lebensgeschichte des Analysanden dadurch rekonstruiert, daß man bedeutungsund sinnstiftende Szenen zu dechiffrieren, die Situation der Therapie in eine Szene zu verwandeln sucht. Der Analytiker sucht, die "gemeine Neurose" in eine Übertragungsneurose zu verwandeln und dabei die entstehende Gegenübertragung zu kontrollieren, damit er die in eine Szene verwandelte Situation noch verstehen kann. Unbewußtes soll so bewußt, Latentes offenkundig gemacht werden. - Wie sind die Begriffe Situation und Szene auf andere psychologische Theorien übertragbar? - In der Stimulus-Response-Theorie kann es keinen Begriff von Szene, sondern immer nur von Situation geben. Wie sich Bewußtes zum Unbewußten verhält, bleibt unklärbar. Der naive Behaviorismus vernachlässigt es, daß der Stimulus die Reaktion bzw. einige Besonderheiten individueller Problemverarbeitung hervorbringt. - In den etwas weitergehenden interaktionistischen oder sozialpsychologischen Theorien - etwa auch im epistemologischen Subjektmodell - wird eingeräumt, daß das Individuum nach Maßgabe der Bedeutung handelt, die es den Situationen verleiht. Dies ist tendenziell konstruktivistisch und kognitivistisch. Denn die Theorien nehmen da an, es sei durch Aufklärung im Rahmen eines herrschaftsfreien Diskurses zu korrigieren, in welcher Richtung das Individuum attribuiert, die Situation

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Die Beiträge wurden anhand von Tonbandaufzeichnungen und Notizen rekonstruiert. Beim Kürzen und Bearbeiten half mir Helga Karl. Chr. 0 .

definiert hat. Erst wenn so etwas wie ein Konzept der Szene entwickelt ist, wird der Blick frei für Übertragungsanteile und das Problem des Unbewußten, und es ist dann nicht weiter als denkbar zu betrachten, subjektive Theorien der Handelnden auszutauschen durch "objektive", d . h . im herrschaftsfreien Diskurs sich kognitiv als überlegen zeigende Theorien. Der Begriff "Szene" - B. Görlich wird ihn ausführlicher darstellen - fungiert als Folie beim Rekonstruieren lebensgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse. In der ursprünglich traumatisch orientierten psychoanalytischen Theorie hat eine ursprünglich traumatisierende Situation, eine Urszene, Langzeitwirkungen. Daraus leitet sich "Szene" ab. Denn: Trifft man später auf ähnliche Situationen, verwandeln sie sich in Szenen, da man wieder Mechanismen der Problemverarbeitung aktualisiert wie in der Urszene. Man ist dann in Situationen spezifisch involviert, in denen andere noch kognitiv kontrolliert handeln können. Übertragung findet statt. - Zur Kritischen Psychologie: Sie hat keinen Begriff der Szene, sondern ein Interesse an einem Begriff der Situationsherrschaft als kognitive Umweltkontrolle, die die Subjekte ausüben. Sie ist normativ orientiert auf eine Pflicht, die die Individuen gegenüber dem phylogenetischen Erbe haben. - "Szene" und "Situation" sind auch in Kategorien der Systemtheorie darstellbar: Innerhalb einer komplexen Umwelt steigert ein psychisches System seine Eigenkomplexität oder seine innere Natur mithilfe der Selektion von Information aus dieser Umwelt. Im Fall der Szene geschieht diese Selektion nicht mehr. Es findet damit ein Qualitätsausfall von Eigenkomplexität statt, gewisse Potentialitäten der Subjekte werden latent bzw. unbewußt. - Die Kritische Psychologie betont diese Lesart des Unbewußten und versucht, den Subjekten die Entwicklungsnotwendigkeit für ihre Eigenkomplexität aufzuweisen. Dies Herangehen ist verkürzt und möglicherweise auch moralisierend. Denn der Theoretiker weiß dabei immer schon, daß diese anderen Möglichkeiten, die die Subjekte hätten entfalten können, auch notwendig sind. Dieses Verständnis des Unbewußten verzichtet auf die Unterscheidung zwischen Situation und Szene; nicht begriffen wird, warum der Einzelne hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. - Der alternative Focus dazu: Da das Zurückbleiben damit zusammenhängt, daß das Subjekt sich nicht in einer Situation, sondern in einer Szene befindet, muß es darum gehen, daß die Szene vom Subjekt in eine Situation verwandelt wird, dergegenüber dann überhaupt 169

die Selektion von Information aus Umweltkomplexität denkbar wäre. Die Auflösung von Umweltkomplexität, die so entsteht, ist zu begreifen als Steigerung von Eigenkomplexität durch Verstehen. Folgende Unterscheidung ist zu machen: 1. Verstehen beim Nichtanalysanden als eine Strategie der Komplexitätsreduktion, indem umweltgegebene Möglichkeiten in subjektgegebene Möglichkeiten verwandelt werden. 2. Szenisches Verstehen des Psychoanalytikers: Er überlebt innerhalb der Komplexität und steigert sie, indem er den Analysanden zur freien Assoziation auffordert.

1 . 2 . Gerhard Görlich Das Thema des Unbewußten führen wir hier ( d . h . in diesem Vortrag) ein, wie es der alte Freud selbst bearbeitet hat, als Erlebnisproblem: Sinnliche Prozesse geraten mit höheren Formen der Organisation des Erlebens in Widerstreit. Der bewußten Organisation des Verhaltens kommen unbewußte Erinnerungsspuren in die Quere: ein Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Ebenen, unterschiedlichen Schichten verhaltensbestimmender Grundfiguren findet statt. Unbewußte Erinnerungsspuren jenseits der Wortvorstellungen verweisen - zu diesem Schluß zwang schon Freud die Auswertung des ihm mitgeteilten Erlebnismaterials - auf frühe Etappen im individuellen Bildungsprozeß und bauen eine lebenslange Spannung in die Persönlichkeitsstruktur ein, da sie mit der bewußten Verhaltensorganisation konfligieren. Der psychoanalytische Verstehensprozeß ist kein reiner Kommunikations- oder Reflexionsprozeß, sondern gründet in einer gemeinsamen konkreten Auseinandersetzung von Analytiker und Analysand mit Problemzentren der Lebenspraxis des Analysanden, gründet im Moment einer gemeinsam realisierten kreativen Art des Zusammenspiels. Dabei geht es inhaltlich um die affektiv-szenische Beziehungsformel im Erwachsenen, um die Geschichte dieser Beziehungsformel und zugleich damit um Lebensgeschichte, um die problematischen Konfliktfiguren dieser Beziehungsformel. Sie drängen - etwa in Symptomen und Traumerzählungen - zur szenischen Mitteilungsebene. Analytiker und Analysand fördern frühere, der bewußten Verfügung entglittene, also verdrängte, aber den aktuellen Lebensprozeß konflikthaft belastende szenische Impulse zutage. Die in diesem Zusammenspiel provozierten Erlebnis- und Phantasieinhalte folgen dem szenischen Muster der Erinnerungsspuren, die - wie Freud ja sehr schön ge170

zeigt hat - die Eigenart, die ünaustauschbarkeit und die Konkretheit des individuellen Erlebens begründen. Man kann dies auch sozialisationstheoretisch formulieren: Den allerersten Stufen der individuellen Subjektivität geht ein szenisches Gefüge als ursprüngliche Praxiseinheit und als kleinste Einheit zwischenmenschlichen Agierens voraus: die Mutter-Kind-Dyade. Hier ist das Zusammenspiel von Bedürfnisäußerungen und -befriedigungen, von Erfahrungsniederschlag und Erlebnisentwurf noch in der Intimität konkreter leiblicher Auseinandersetzungen begründet. Es entsteht hier ein Erlebnisraum als ein Sinnsystem, das aus den dynamisch-szenisch angelegten, nicht sprachlichen Verhältnisfiguren lebenspraktischer Sinnlichkeit besteht. Szene und Affekt sind hier verschränkt. Der Affekt ist sensomotorischer Erfahrungsniederschlag aus szenischer Interaktion. Er repräsentiert die körperliche Bestimmtheit des Erlebnisses unterhalb der Sprache und drängt auf die bildhafte Ebene von Phantasie und Wunsch. Er dirigiert das Individuum und setzt es in Szene, mitunter gegen den logischen Einspruch der sprachlichen Ordnung. Im unbewußten Affekt sind Niederschlag des Erlebten und Entwurf für künftiges Erleben noch ganz dicht beeinander. Wie nun ist die Problematik des unbewußt Verdrängten zu fassen? Sie ist darstellbar als Konflikt zwischen Praxisfigur und Sprache, zwischen affektivem Erlebnisanspruch und Ordnungsanspruch der Sprache. Zwar ist Verdrängtes unbewußt, aber man darf nicht Unbewußtes dem Verdrängten gleichsetzen. Das individuell Unbewußte geht der sprachlich-bewußten Organisation der Lebenspraxis nicht nur voraus, sondern mischt sich mit ihr in widerspruchsvoller Weise, wird verdrängt. Es geht als sinnliche Basis des Handelns und in seinem Doppelcharakter, sinnlicher Niederschlag und Entwurf für Lebenspraxis zu sein, nie vollständig in Sprache auf. Es beansprucht die ganze Breite leiblicher Ausdrucksmöglichkeiten vom intimen Liebesspiel bis zu kulturell ästhetischen Spielfiguren. - So wie das individuelle, private Unbewußte sich etwa in der Traumerzählung darstellt, sich damit bildhaft-szenisch gestaltet und nur im szenischen Verstehen begehbar ist, so können auch Produkte kollektiv-geschichtlicher Praxis: Erzählungen, Bilder, Medien, Architektur, Musik usw. einen Resonanzboden hergeben, von dem aus, noch vorsprachlich, sinnliche Symbole gebildet werden können. Hierin können sich Formen subjektiver Selbstverfügung herausbilden, aber auch kulturelle Syndrome, die die Subjektivität manipulieren und zerstören. Wir haben es hier noch mit einem weiten Untersuchungsfeld zu tun. Es nimmt die psycho171

analytische Methode als Praxisanweisung an: Es wird versucht, Konfliktstrukturen von innen her zu enträtseln, zu verändern und auch begrifflich neu zu fassen, indem man sich praktisch auf das Verhältnis von Lebensentwürfen und sozial-kulturellen Anforderungen einläßt. Es geht hier um die Initiierung eines Verstehensprozesses, der von praktischen Irritationen ausgeht, das sprachlich Abgedrängte und sozial nicht Zugelassene aufspürt, damit den Erlebnisanspruch zur Geltung bringt und erst dann sich zum Begriff zur Reflexion fortsetzt, wobei es sehr wohl darauf ankommt, den Fallen eines falschen Bewußtseins hier zu entgehen. In der Vereinigung erlebnisanalytischer und sozialwissenschaftlicher Perspektiven ist dieser Gefahr wirksam zu begegnen.

1 . 3 . Ute Osterkamp Die Kritische Psychologie hat von Freuds Modell des Unbewußten viel übernommen, nicht jedoch dessen anthropologische Fassung, die eine Urverdrängung behauptet. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst, wie sie für unsere Verhältnisse typisch ist, wird hier falsch generalisiert zum überhaupt Menschlichen. Ein weiterer Mangel bei Freud ist, daß er mit seinem Begriff von Verdrängung zwar Unterdrückung in der Gesellschaft schon mit einbezieht, aber einengt auf Unterdrückung von Sexualität. Unseres Erachtens bezieht sich Unterdrückung auf alle widerspenstigen, alle kritischen Tendenzen gegen herrschende Verhältnisse und Autoritäten. Zum zentralen Punkt: Welche Funktionen haben unbewußte Prozesse? Sie resultieren aus dem Versuch, Frieden mit den Kräften zu halten, von denen man sich existentiell abhängig fühlt, indem man alle anstößigen Erkenntnisse und Tendenzen zurückhält, - nicht nur vor der Außenwelt, sondern auch vor sich selbst. Damit werden die Konflikte verinnerlicht, statt sie mit der Außenwielt auszutragen. Indem man die eigenen Regungen, Impulse, Erkenntnisse zensiert und versucht, sich von ihnen praktisch zu distanzieren, beginnt das so Verdrängte, sich wirklich zu verselbständigen, und gewinnt diese Eigenständigkeit, von der Freud dann spricht: "Wiederkehr des Verdrängten". Indem sie nun aber stattfindet, demonstriert der Betroffene in gewisser Weise wirklich, daß er über sich keine Kontrolle hat. Die Reglementierung von außen, d . h . die Unterdrückung erscheint damit im Nachhinein als rational, erhält eine Scheinrationalität. - Wie rechtfertigt man eigentlich vor sich 172

selbst die eigene Unterwerfung? Eine wichtige Rolle spielt es hier, sich mit dem Aggressor, d . h . mit den gesellschaftlichen Vorschriften zu identifizieren. Ich suche den Schein der Freiheit und Freiwilligkeit aufrecht zu erhalten, indem ich mir einzureden versuche, daß das, was ich tue, sowieso in meinem Sinne und Interesse ist, daß es eigentlich das ist, was ich will. Das Individuum muß nun alle Impulse, die dies in Frage stellen, zusätzlich unterdrücken. Dies ist, wie Freud gezeigt hat, auch ein Aufwand, der ständig Kräfte kostet. - Paradox ist nun daran, daß ich das Gefährliche, bevor ich es verdränge, überhaupt erst als gefährlich erkannt haben muß. Das Unbewußte ist kein Nicht-Wissen, es ist Wissen, das ich nicht zur Kenntnis nehmen will. Es ist eine Abwehr des tatsächlich vorhandenen Wissens und hat immer wieder die Tendenz, durchzudringen. Um die Beziehung zu den Autoritäten nicht zu gefährden, von denen ich abhängig bin, unterdrücke ich in einer aufgezwungenen, freiwilligen Selbstverleugnung alles, was deren Vorstellungen widerstreitet. Indem ich mich derart defensiv verhalte, festige ich die Verhältnisse, die mich abhängig machen, und handle damit gegen meine langfristigen Interessen. - Die Folgen der Verdrängung im Individuum sind von Freud zwar ungeheuer plastisch, für jeden nachvollziehbar, dargestellt worden, aber Freud berücksichtigt nicht hinreichend, daß es in unserer Gesellschaft massive Interessen gibt, die das individuelle Unbewußte als ein ohnmächtiges Reagieren auf gesellschaftliche Unterdrückung aufrechterhalten wollen. An diesem Aspekt haben wir als Kritische Psychologen weitergearbeitet und gezeigt, daß bei den Verdrängungsprozessen gesellschaftliche Instanzen praktisch einspringen. Es gibt z . B . ideologische Angebote, die die kapitalistischen Verhältnisse als natürlich erscheinen lassen und sie unhinterfragbar machen. Anpassung erscheint dann als vernünftig, Widerstand als Unvernunft. Alternativen werden so ideologisch abgewehrt. - Richard Lichtman, dessen Analysen große Ähnlichkeiten mit denen der Kritischen Psychologie haben, arbeitet in seinem Buch "The Production of Desire" dies noch viel plastischer heraus: Er ist wie wir zu der Erkenntnis gekommen, daß der Widerspruch zwischen den realen gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen und dem Schein der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung des Unbewußten ist. Das Individuum wird konfrontiert mit der realen Aggressivität und Ausbeutung, wie sie in der Gesellschaft vorherrschen; zugleich muß es lernen, sich innerhalb ideologischer Angebote zu bewegen, die Fremdbe173

stimmtheit als Selbstbestimmtheit, Konkurrenz zu anderen als Entwicklung und Entfaltung individueller Persönlichkeit darzustellen. Die Sozialisation bzw. die individuelle Vergesellschaftung vollzieht sich damit doppelbödig: Man soll mitkriegen, "wie der Hase wirklich läuft", man soll "keine falschen Rücksichten nehmen" und seinen eigenen Vorteil wahren; zugleich soll man all dies ideologisch verbrämen. Der einzelne Mensch ist dazu gezwungen, sich innerhalb dieser Diskrepanz zurechtzufinden: Er darf sie nicht aufdekken. Tut er dies, gerät er schnell ins gesellschaftliche "Abseits". - Aus dieser Konstellation folgen notwendig Gefühle der Unzulänglichkeit und Unzufriedenheit sowie Schuldgefühle. Entweder handelt ein Individuum nicht konkurrenzbezogen und aggressiv, nimmt seine Möglichkeiten nicht aggressiv wahr, dann hat es das Gefühl, für sich etwas versäumt zu haben; oder es boxt seine Interessen rücksichtslos durch und verstößt damit zugleich gegen den Anspruch, Nächstenliebe und Rücksichtnahme auszuüben, dann entstehen schließlich doch Schuldgefühle gegenüber denen, die von der Rücksichtslosigkeit betroffen sind etc, die dann wieder systemkonform verarbeitet werden müssen. - Die gesellschaftlichen Normen sind in einer Weise widersprüchlich konstruiert, daß man sich immer unzulänglich und kritikwürdig verhalten muß. Dies übt auf das Individuum einen Druck zur Anpassung aus. Es übt keine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen aus der angstvollen Überlegung heraus: "Wenn ich den Mund auftue, kommen die sofort und sagen: fWer bist du denn überhaupt?! Kehre doch erst einmal vor deiner eigenen T ü r ! f " Es ist ein weitverbreiteter Mechanismis, daß Kritik abgewehrt wird, indem man die Kritikberechtigung, die persönliche Integrität des Kritisierenden in Zweifel zieht. Man bringt ihn so dazu, den Mund zu halten, macht ihn mundtot. Derart wird in in die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder ingetriert. - Hier hat die Sexualität einen wichtigen Stellenwert. Dies hat Lichtman spannend herausgearbeitet. Sexualität wird nicht um ihrer selbst willen unterdrückt. Sie zu unterdrücken, ist vielmehr Mittel zu dem Zweck, Menschen mundtot zu machen. Dazu eignet sie sich besonders gut. Sie ist etwas, was einem von Kindheit an mies gemacht, was gleichzeitig angereizt, geleugnet und als Mittel benutzt wird, die persönliche Integrität in Zweifel zu ziehen, einem das Rückgrat zu brechen und jede Widerständigkeit auszutreiben. Gerade weil aber die sexuelle Dimension in jede Beziehung mit hineinspielt, ist der Vorwurf: "Du willst ja nichts anderes a l s . . . " in gewisser Weise auch immer berechtigt. - Sehr spannend ist in diesem Zusammen174

hang auch, wie Lichtman einen Fall von Freud reinterpretiert, den Fall Dora. Doras Erfahrung ist es, daß sie immer wieder von den Erwachsenen im Stich gelassen, verraten, instrumentalisiert, nicht ernst genommen worden ist. Lichtman zeigt nun, daß Freud die Kritik Doraö, daß die Erwachsenen den Normen nicht gerecht werden, die sie nach außen und auch Dora gegenüber vertreten, durchaus teilt. Aber dürfen Kinder solche Diskrepanzen zwischen. Anspruch und Wirklichkeit auf den Begriff bringen? Lichtman zeigt, wie Freud Doras Kritik an den äußeren Autoritäten umlenkt, indem er sie gegen sie selbst wendet: Doras Kritik an den Erwachsenen ist, wie Freud "aufdeckt", nichts anderes als Reaktion auf die Frustration ihrer eigenen sexuellen Bedürfnisse. Freud leistet damit Beihilfe zur Verinnerlichung des Konflikts und verlegt seine wirklichen Ursachen ins Innere des Individuums. Er trägt damit bei zur Verdrängung der realen Ursachen der Konflikte. Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen wird so in Schuldgefühle und besonders angepaßtes Verhalten transformiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen werden stabilisiert .

1.4. Jürgen Meßing Sprache ist ein Mittel des Zugangs zum Unbewußten. Das liegt daran, daß es bei Sprache eine Art von funktionalem Apriori gibt: in ihr kommt nur das zum Ausdruck, was als gesellschaftlich relevant fixiert werden soll. Jedes Kind erwirbt mit seinen ersten Worten auch schon dieses Apriori. Als ein unbewußter Mechanismus wirkt es dann in Form des Deutens als einem Modus sprachlichen Verstehens: D.h. man versucht mit dem, was jemand sagte, solange einen Verstehensprozeß durchzumachen, bis das Gesagte als sinnvoll verstanden, sinnvoll gemacht ist; es wird eine Ordnung aus dem Gesagten extrahiert. Das funktionale Apriori fungiert dabei in Art eines Rasters, durch das Welt zugänglich wird und zugleich ganze Bereiche vom bewußten Zugang ausgeschlossen werden. - Wie konstituiert sich dieses funktionale Apriori? In der Sprache drückt sich wesentlich, wie Hegel sagt, nur Allgemeines aus, etwas, das Wert über den individuellen Sprecher und seine Situation hinaus hat. Nicht immer hat - wie wir noch sehen werden - das Gesagte diesen Wert, aber bei der Sprache als Form müssen wir immer 175

mit dieser Behauptung rechnen. Dies spielt dann in der ideologischen Sprache eine wichtige Rolle: In ihr wird ein besonderes gesellschaftliches Verhältnis als allgemeines behauptet. Das Apriori der Sprache unterstützt dies, weil sich im Medium der Sprache ein Besonderes sofort in ein Allgemeines verwandelt, über Begriffe, die ein falsches Allgemeines behaupten, wird Unbewußtes hergestellt. Es wird nahegelegt, das Eigene überhaupt nicht in die Form dieses Allgemeinen zu bringen, den Mund zu halten, die eigenen Interessen folglich zurückzustecken. - Das als nur Besonderes Abgestempelte in die Form des Sprachlichen zu bringen, ist aus zwei Gründen wichtig: 1. Sprache ist, wie Marx sagt, das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich erst gesellschaftlich wirklich existierende Bewußtsein. Meine unbewußten Interessen, Bedürfnisse etc. werden mit Sprache in die Form des Allgemeinen gebracht und mir erst damit zugänglich. 2. Ich lerne, die sprachlichen Produkte als Produkte, d . h . in ihrem Hergestelltheitsaspekt kennen. Einerseits lerne ich so zu analysieren, wohin sie mich orientieren, wohin sie mich schicken, was sie mir zu begreifen nahelegen; andererseits wird mir deutlich, daß es von Menschen hergestellte Orientierungen sind, denen ich meine eigenen entgegensetzen kann. In diesem Sinn verstehe ich Peter Weiss. In seinen Notizen zur "Ästhetik des Widerstands" sagt er uns: "Kultur ist zu wagen. Lesen zu wagen. Zu wagen, an eine eigene Ansicht zu glauben. Sich äußern zu wagen."

1 . 5 . Erich Wulff Ich habe ein paar polemische Thesen zu einer Grundposition von Ute Osterkamp verfaßt. Sie sind ganz spontan und möglicherweise selbst unbewußt motiviert entstanden. Auf alle Fälle sind sie alles andere als endgültig und abgesichert. 1. Anders, als Ute es sieht, ist Unbewußtes meiner Auffassung nach weder ausschließlich "Ausdruck allgemeiner Irrationalität" noch geht es auf in einem "Aspekt der beschränkten Rationalität bürgerlicher Verhältnisse". Die Dimension bewußt-unbewußt ist im übrigen mit den Dimensionen rational-irrational keineswegs deckungsgleich. Es gibt Unbewußt-Vernünftiges wie es auch Bewußt-Unvernünftiges gibt.

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Diesen beiden Dimensionen wären noch andere, verwandte hinzuzuzählen, die diejenige von tief-oberflächlich, innenaußen, spontan-kontrolliert, subjektiv-objektiv usw. Wie sie sich historisch jeweils miteinander artikulieren, wäre historisch aufzuzeigen. Es ist hierbei auch zu fragen, ob es überhaupt ein Unbewußtes gibt, ob es nicht Unbewußte auch selber in der Mehrzahl gibt. Gerade Jürgen Meßings Vortrag läßt daran denken, ob es nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell gesehen, sehr verschiedenes Unbewußtes gibt. Die grammatikalische Struktur beispielsweise einer Sprache könnte dazu gehören, die Verwandtschaftsbeziehungen, die von der Ethnologie aufgezählt worden sind, die Mythen, dann das, was die Psychoanalyse im engeren Sinne Unbewußtes nennt, usw. 2. Dementsprechend ist das Unbewußte auch nicht ausschließlich das Produkt von Abwehrvorgängen individual-pathologischer oder gesellschaftlich unterdrückender Prozesse. In seinem Spannungsverhältnis zum Bewußtsein ist es eine anthropologische Struktur; es gehört zu den Bedingungen der Funktionsfähigkeit psychischen Lebens beim Menschen überhaupt. 3. Wird das Bewußtsein gegenüber dem Unbewußten grenzenlos in seinem Vergegenständlichungs- und Kontrollbedürfnis, werden alle psychischen Inhalte verfügbar und kontrollierbar gemacht, handelt es sich um ein Krankheitsbild. Dieses besteht in der Unfähigkeit, sich Vergegenständlichtes, Bewußtgewordenes wieder entgleiten, es wieder unbewußt werden zu lassen. 1972 oder '76 gab es bei der Dokumenta in Kassel einen Ausstellungssaal, wo chronologisch geordnet und genau etikettiert alle Gegenstände vorgeführt wurden, die der Künstler, ein Schizophrener, an einem Tag berührt hatte - also der Versuch einer Totalisierung der Bewußtmachung oder des Bewußtseins. Ähnliches passiert in anderen Psychosen oder im Drogenrausch mit Halluzinogenen. Bewußtseinserweiterung auf Kosten eines unbewußten Persönlichkeitskerns, sodaß schließlich gar kein Subjekt mehr da ist, das sich etwas bewußtmachen kann. "Ich bin die Welt", sagt hier ein Kranker, "meine Lunge ist Europa, meine Leber ist Asien, meine Eingeweide Amerika. Aber ich bin mit alledem nur durch einen winzigen Schmerz verbunden, und der gehört nicht mir." Die Schlußfolgerung daraus: Das Verhältnis Bewußtsein-Unbewußtes ist eine un reduzierbare Grunddimension psychischen Lebens, ähnlich wie diejenige von Organismus und Umwelt eine Grunddimension des Lebens überhaupt ist. 177

4. Dies bedeutet nicht, bei Bewußtmachung Vorsicht walten zu lassen. Aber Bewußtmachungsprozesse müssen gleichzeitig einhergehen mit anderen, ihnen komplementären, die ich vorerst "Reproduktionsprozesse des Unbewußten" nennen möchte. Es handelt sich um so etwas wie eine entaktualisierende Sedimentierung von bewußt gewesenen Lebenserfahrungen, um die Fähigkeit, die eigene Passivität zu eröffnen, die Fähigkeit dazu, was ihre objekthafte Gegenständlichkeit angeht, die zunehmend abblassende Wirklichkeit über Bilder in Empfindungen zu verwandeln, die schließlich zu so etwas wie ein Teil des eigenen Körpers, wie Teile von uns werden. Kurz: Es handelt sich um so etwas, wie eine unbewußt machende Subjektivierung gegenständlicher Wirklichkeit, die zunehmend in eigene Zuständigkeit überführt werden muß. 5. Wie es eine Pathologie des Abgangs aus dem Unbewußten gibt, die für bestimmte Inhalte des Unbewußten blockierend wirken kann, eine Pathologie also der Unfähigkeit zur Bewußtmachung, gibt es auch eine Pathologie des Zugangs zum Unbewußßten, der Fähigkeit, etwas unbewußt werden zu lassen bzw. ins Unbewußte überhaupt hineinzulassen. Somit ist die Verdrängung auch nicht der einzige Weg ins Unbewußte, sondern allenfalls der wichtigste pathologische. Einen anderen könnte man die Entlassung vom Bewußten ins Unbewußte nennen. Ins Unbewußte Entlassenes bleibt dort nicht zwangsläufig gefangen, bildet nicht zwangsläufig einen Kristallisationskern für Komplexe, die zu monotonen, sich ständig wiederholenden Symptombildungen führen. Vielmehr behält es dort eine Art Bewegungsfreiheit, die es zu wechselnden Verbindungen mit anderem Unbewußten befähigt. 6. Das produzierte und stets zu reproduzierende Unbewußte speist sich aus mehreren Quellen. Einmal artikuliert sich in der vergegenständlichend gestaltenden Veränderung der Welt auch zugleich derjenige Raum, der der Vergegenständlichung vorerst noch nicht zugänglich ist, durch diese aber in eine ständige Bewegung gerät und der, infolge der intentionalen Grundbeziehung des Menschen zur Welt, die auch auf diesen Raum gerichtet ist, so auch ständig imaginierend bearbeitet und umgearbeitet wird. So entsteht ein ständiger Zustrom neuer Bilder, neuer Strukturen des Unbewußten in der vergegenständlichend aneignenden Tätigkeit selbst. Die Ethnopsychologie und Ethnopsychoanalyse sind die Wissenschaften, die diese Zugangswege zum Unbewußten erforschen. 178

7. Ebenso bedeutsam wie der noch nicht vergegenständlichte Raum als Quelle zur Reproduktion des Unbewußten ist das bereits Vergegenständlichte, Kontrollierte selbst, das ins Unbewußte entlassen werden kann. Dazu gehört das Vertrauen darauf, daß auf diese Weise Losgelassenes, Entgegenständlichtes, aus dem raum-zeitlichen Raster Herausgelöstes schon seinen Platz finden wird, an welchem es richtig aufgehoben, eingeordnet, eingebaut ist. 8. Ein derartiges Vertrauen gehört in der Forschung zu jeder Kooperation: Eine Sache einem Andern oder, wenn sie fertig ist, sich selbst überlassen zu können und gleichwohl für weitere Tätigkeiten davon ausgehen zu können, ohne daß man dabei oft noch sagen kann, was oder wie es im einzelnen war. Das gesellschaftliche Erbe, gerade diejenigen seiner Anteile, die man sich explizit nicht angeeignet hat, die man selber also nicht kontrolliert, von denen man aber gleichwohl doch auch getragen wird, gehört vielleicht auch in den Bereich dieses Unbewußten hinein. Aber in jeder kooperativen und damit geteilten Arbeit ist ein Stück unkontrolliertes Sich-Verlassen-Können, ein Stück Solidarität vorauszusetzen im Hinblick auf Motive, Genese, Struktur und nicht bis zum Letzten zu hinterfragen. Hinterfragende Kontrolle muß in einer nicht mehr weiter zu kontrollierenden explizierenden Vertrauensbasis irgendwo ihr Ende und gleichzeitig ihre Fundierung finden, wenn Kooperationsbezügen nicht in einem gegenseitigen radikalen Sich-den-Prozeßmachen jede Grundlage entzogen werden soll. Zur Reproduktion des Unbewußten gehört also in der Fähigkeit zum Sein-, Gehen-, Entgleitenlassen auch die Fähigkeit zum Vertrauen, und in diesem Sinne ist Kontrolle eben nicht immer besser. Wobei das Objekt dieses Vertrauens auch immer die Beziehung zu den Menschen ist, mit denen man zusammen lebt und zusammen arbeitet. In der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Wettbewerbsund Konkurrenzbeziehungen erreicht ein solches Vertrauen sicher auch Punkte, wo es irrational wird, wo es den eigenen und manchmal auch den allgemeinen Interessen zuwiderläuft. Insofern ist Ute darin beizustimmen, daß das Unbewußte immer auch Aspekte beschränkter bürgerlicher Rationalität in sich birgt. Die Frage ist allerdings, ob .dies nur im Kapitalismus der Fall ist und nicht auch in den Gesellschaften des realen Sozialismus.

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1 . 6 . Wolf gang Fritz Haug Was ich habe sagen wollen ist jetzt schon gesagt worden. Ich stimme mit Erich Wulffs Ausführungen ganz besonders überein. Ich denke, wir sollten den Sprachgebrauch auch hier noch einmal überlegen. Eigentlich sollte man die Rede von dem Unbewußten, den großen Singular aussetzen, nicht mehr zulassen. Wenn man das nicht tut, bleibt man - selbst wenn man dann Sätze bildet, wie: "Das Unbewußte gibt es nicht!" - immer auf dem Terrain, das uns Freud hinterlassen hat. Und ohne, daß ich dieses Terrain in seiner Existenz und seiner Triftigkeit bestreiten möchte, würde ich es für eine Katastrophe halten, wenn man es als das einzige Bezugsterrain übrig behielte. Also dringende Empfehlung an uns alle, diese Kategorie nicht in der Einzahl zu verwenden, oder nicht in diesem bestimmten Singular. Vielleicht: Unbewußtes, Formen von Unbewußtem. Nicht substanzialisierend, nicht hypostasierend. Dann müßten auch, wenn man dieser Empfehlung folgt, innerhalb der Kritischen Psychologie die Äußerungen zu Unbewußtem noch einmal überlegt werden. Mir scheinen die Äußerungen weitgehend gebunden an Freud, an die Negation von Freud im Versuch einer Freud-Kritik. Was ich gestern referiert habe als die Theorie von Marx und Engels, etwa aus der Phase der Deutschen Ideologie, das war auch eine Theorie von Unbewußtem. Und dort kommt auch der Begriff vor. Die Leser der Deutschen Ideologie von Marx und Engels wissen, der Begriff des Unbewußten spielt dort eine wichtige Rolle. Er ist dort verknüpft mit dem Bild der Camera Obscura. Dieses Bild nimmt Marx, um den Grundeffekt alles Ideologischen darzustellen. Das hat man Generationen lang falsch verstanden. Man hat sich an dem mechanistischen Charakter dessen, was in einer Camera Obscura vorgeht, gehalten. Das ist ganz verkehrt. Man muß den Text nur genau lesen. Er will sagen, die Sozialstruktur räumt bestimmte Positionen ein, in denen bestimmte Praktiken in bestimmter Form stattfinden. Und diese sozialen Räume haben bestimmte Effekte auf die in ihnen Tätigen. Vorsicht, ein solcher Raum ist auch zunächst die Psychologie! Auch die Psychologie, so wie sie wäre ohne Kritik, fände statt in einer solchen Camera Obscura, mit solchen Verkehrungseffekten. Diese Sozialstruktur mit ihren Effekten - diese Räume in einer komplexen Struktur aus Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und Staat und anderen ideologischen Mächten - diese Grundanlage beschreibt zugleich eine Version dessen, was Unbewußtes konkret bedeuten kann. 180

Die Anlage ist das Unbewußte, die Anlage generiert einen Effekt, genannt Bewußtsein. Das hat Althusser zu der provokanten Kurzformel verführt, zu sagen: jenes Unbewußte, welches man nennt das Bewußtsein. Also insofern bestimmtes Bewußtsein ein Effekt einer Sozialstruktur ist, die dabei sozusagen hinterrücks ist, die nicht das ist, was von kollektiver Praxis und verändernder Absicht angegangen wird, sondern sich nur auswirkt, indem man in ihr, ohne mit ihr umzugehen, handelt, in dem Sinn ist die Anlage selber das Unbewußte dieses Bewußtseins. Und das Bewußtsein ist nur eine Modifikation, ist eine Form von Unbewußtem. Ich will auch provozieren. Die große Versuchung, die Freud hinterlassen hat, ist doch die, daß das Interesse nach innen sich bezieht, immer tiefer gräbt, nach dem eigentlichen Letzten sucht, sich dabei zu der Anlage, die die entscheidenden Effekte hervorruft, mit dem Rücken dreht und eine unendliche Beschäftigungstherapie auf diese Weise erzeugt. Freud könnte ganze Nationen mit sich selbst beschäftigen und dabei ihren herrschenden Klassen und den Strukturen der Klassenherrschaft sozusagen das Feld überlassen. Ich möchte eigentlich dafür plädieren, daß man entdeckt, daß der Begriff des Unbewußten nicht für etwas primär Inneres angewandt gehört, sondern für die äußeren Rahmen und Verhältnisse, in die wir eingesenkt sind und die auf uns bestimmte Effekte haben. Z . B . den Effekt der Illusion, es gäbe in uns jenes Eigentliche, das man nur immer tiefer aufsuchen müsse und dann käme man zur Wahrheit und zum Wesen. Vielleicht noch eine Überlegung. Die Kategorie des Unbewußten hat einen ungeheuren Nachteil: Sie ist nämlich gebildet als Negation des Bewußten. Und was das Bewußte ist, weiß man eigentlich nicht. Wir meinen, es sei so klar wie Luft. Luft sehen wir nicht, als wäre sie nicht da. Das Bewußte, dieses Selbstverständlichste, ist ein Mythos. Es ist ein Wort, das wir sagen können: Bewußtsein, und es scheint ganz klar, was das ist. Man kann handeln mit dieser Ware. Man kann unendliche Bücher füllen, aber in Wirklichkeit ist es ein Mythos. Ein Mythos - wenn wir davon sprechen, wissen wir nicht, was wir sagen. Im Grunde gibt es ein Unbewußtes in der Rede vom Bewußtsein. Und die Dialektik des Vorgangs ist wirklich atemberaubend, weil nun ausgerechnet von diesem Standpunkt aus - von diesem Standpunkt, der gar nicht genau weiß was er sagt - , die Kategorie des Unbewußten gebildet wird als die Negation von etwas, was nicht weiß, was es tut und sagt. Das ist eine Münchhauseniade. Der Baron von 181

Münchhausen zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Und diese ganze Kategorialität, Bewußtsein und das Unbewußte, das ist eine einzige Münchhauseniade, hält wirklich der Überlegung und der wissenschaftlichen Forschung nicht stand. Und, was das Problem ist, sie ist auch im Wege beim Entwurf einer sinnvollen, sozialverändernden Praxis. Sie lenkt dort auf falsche Ziele. Es wäre z . B . ein ganz falsches Ziel - ich habe ja gestern einige Proben zitiert - , was der junge Negt sich vom Kommunismus versprach: das Schwinden der Objektivität oder wahre Rauschformen der Ausmalung von Subjekt-Objekt-Einheit. Mit dieser Sprache findet man keine gangbaren Wege der Gesellschaftsveränderung. Es wäre auch kein gangbarer, sinnvoller, glücklich und handlungsfähig machender Weg, sozusagen die totale Bewußtmachung als politisches Programm zu formulieren, oder eine Veränderung gesellschaftlicher Zustände dorthin zu projektieren, daß es nichts mehr gibt, was nicht bewußt wäre. Das hat Erich Wulff gerade angedeutet. Die Grundweichenstellungen führen meiner Meinung nach hier völlig in die Irre. Demgegenüber halte ich die Kategorien der Kritischen Psychologie für überlegen. Wenn wir nämlich darüber sprechen: Wie werden wir handlungsfähig? Was wollen wir bewirken?, dann brauchen wir nicht das Ganze. Wir müssen nicht beanspruchen, alles im Bewußtsein zu tragen. Wir brauchen nur einiges, etwas. Wir entdecken bestimmte Schnittstellen, bestimmte Nahtstellen, bestimmte Punkte, wo der gesellschaftsverändernde Eingriff nötig, nützlich und hilfreich ist. Das heißt, gerade das revolutionäre Programm des Marxismus würde einen dazu anhalten müssen, ein sehr viel bescheideneres Programm im Ganzen zu entwerfen. Ich fürchte, das sind alles sehr einfache Bemerkungen, und wahrscheinlich klingen sie sehr esoterisch. Aber vielleicht wäre es gut, wenn die hier anwesenden Marxistinnen und Marxisten sich z . B . die Studie von Erich Wulff "Psychiatrie und Herrschaft in West und Ost" mal genauer ansehen würden, damit die utopische Illusion vom Sozialismus als dem Reich des totalen Bewußtseins, der totalen Transparenz mal auf die Belastung einer Konfrontation mit der Wirklichkeit gestellt wird. Und dann kann man jenseits der Ernüchterung, die sich dann einstellt, das sozialistische, kommunistische Projekt neu, und wie ich denke, realitätstüchtiger fassen. Vielleicht ist es so - für unsere Generation, für Utes und für meine Generation: die große Losung der 60er Jahre, und zwar in fast allen, also vielleicht 50 Sprachen dieser 182

Welt, war die Losung der Bewußtmachung, la concienciacion - in vielen Sprachen aussprechbar. Neue Wörter wurden damals eingeführt. Die Studentenbewegung trat auf als eine Bewegung der großen Bewußtmachung. Und man dachte, es gibt da sozusagen eine Welt an sich, die in objektiv kristalliner Form da ist. Nur noch nicht bewußt. Und man muß sie jetzt nur bewußtmachen, dann fällt einem alles übrige von selber zu. Ich glaube, wir sollten uns herausarbeiten aus dieser Bewußtmachungsideologie der Studentenbewegung.

2. Diskussion Herbert Bosch (Projekt Ideologietheorie): Ich folge der Linie von Wulff und Haug, daß verschiedene Unbewußte zu unterscheiden sind, und formuliere einige Fragen. Darüber, daß sie beantwortet werden müssen, ist vielleicht ein Konsens erzielbar. - Ist das Unbewußte - das macht es in sozialemanzipatorischer Perspektive entscheidend - zum einen der Klassengegensatz und seine Reproduktion, die "freiwillig" nämlich von innen heraus, "selbsterzeugt" geschieht? Ist das Unbewußte zum anderen der Staat, der reproduziert wird, indem sich die Individuen ihm bewußt unterstellen, sich bewußt in ihre Inkompetenzen einfügen? Wie sind diese Formen der Unterstellung, die ja bewußte Formen sind, durch diese Unbewußtheit des Staates - des Klassengegensatzes und der Staatsentstehung umschränkt? Wie wird das psychisch stabilisiert, von innen heraus generiert, gelebt? Wie sind diese Formen des Unbewußten verknüpft mit dem sprachlichen Unbewußten - es zeigt sich etwa in syntaktischen Strukturen - und mit dem, was man anthropologische Formen des Unbewußten nennen kann? Einige von ihnen hat Erich Wulff schon aufgeführt. An die Kritische Psychologie ist die Frage zu stellen: Braucht sie, um den Staat und die Einfügung der Individuen in den Staat zu denken, eine Theorie der ideologischen Formen? Wenn Ute sagt: "Unmenschlichkeit wird in der Politik als Menschlichkeit verkauft", - steckt da nicht das Programm einer theoretischen Untersuchung drin, die noch zu leisten ist? Bernhard Görlich, Lorenzer und seine Schüler möchte ich fragen: Denkt ihr die Artikulation von Staatlichkeit in szenischem Geschehen? Wie denkt ihr sie? 183

Sprecher: Für mich war der Beitrag, gestern und heute, von Wolfgang Fritz Haug so etwas wie das Aufstellen von Warnschildern auf dem Weg des Forschungsprozesses der Kritischen Psychologie, Warnung vor der Gefahr, Begriffe und Kategorien zu substantialisieren. Was ist der Grund für diese Tendenz? Es wird etwas vielleicht Unmögliches versucht, eine marxistische Einzelwissenschaft zu konstituieren, eine marxistische Psychologie als Einzelwissenschaft. Daraus muß mit einer gewissen Notwendigkeit der Versuch entstehen, in einer radikalen Kritik der Verkürzung dieser Wissenschaft ein Kategoriensystem zu entwickeln, das diese Kritik überhaupt möglich macht. Und in diesem Versuch, dieses Kategoriensystem zu erstellen, entsteht nun genau diese Gefahr: man braucht ja etwas, was die Grundlage, die Basis dieser Wissenschaft ist, die man jetzt selbst konstituiert. Diese Basis wird nicht zufällig das Subjekt, das Bewußtsein und ähnliche Kategorien. Und ich denke, daß da ein Dilemma deutlich wird, für das ich auch noch keine Lösung weiß. Wolfgang Fritz Haug hat einem Pragmatismus das Wort geredet: Konzentration auf das Handeln. Für mich ist das zum Thema des Kongresses geworden. Der Umgang mit dieser Gefahr, die sich hier auftut. . . . Sprecher: Ich möchte Ihnen, Herr Haug, dafür danken, daß Sie hervorgehoben haben, daß diese Dichotomisierung von Bewußtsein und Unbewußtem eigentlich ein Mythos ist, der aber wirksam ist. Indem Sie ihn benennen und gleichzeitig die Frage stellen, was Bewußtsein überhaupt ist, begegnen sie dem Prozeß gleichzeitig, das ist z . B . ein Schritt von Bewußtmachung. Meine Frage: Auf der einen Seite wird ein Bild gemalt in der Abgrenzung, im Negativbild zu Freud, der zu seinem Thema gemacht hat, zu seinem Programm: wo Es ist, soll Ich werden, also die Totalisierung sozusagen des Unbewußten. Auf der anderen Seite ein Prozeß, den Herr Wulff gekennzeichnet hat als Totalisierung - was Sie als Pathologisierung bezeichnet haben, was ich sehr bedenklich finde - des Schizophrenen, der den Versuch macht, in dieser Totalität zu sein. Und da scheint mir wieder das Dilemma zu sein, diese Prozesse zu benennen, aber gleichzeitig noch kein Modell, keinen Prozeß, keine Struktur, keinen Weg zu weisen. Damit bin ich bei meinem Abschluß. Reicht es nicht, Herr Haug, wenn Sie den pragmatischen Schlenker machen auf das Handeln? Denn auch Handeln muß orientierend sein, Handeln ist bedingt. Es muß eine Richtung haben, ähnlich wie Bewußtsein. Es gibt nicht das Bewußtsein, sondern Be184

wußtsein ist möglicherweise ein Aspekt von, braucht Richtung, braucht Herkunft, braucht Ziel, also ist selber Prozeß. Ute Osterkamp: Einige Begriffe schwirren hier herum als Schreckgespenst: die totale Bewußtmachung und die praktische Zwangsaufklärung. Das will ich hinterfragen. Der Punkt ist nicht, daß man praktisch eine Zwangshaltung hat, "man muß alles wissen", und das schon krankhaft, pathologisch ist. Eine wesentliche Ursache dafür, daß du alles wissen willst, ist doch gerade, daß du nicht weißt, was für dich wichtig ist, was deine Interessen sind. Man kann nicht alles wahrnehmen, weil man dadurch absolut handlungsunfähig wäre. Die Frage ist: nach welchen Kriterien selegiert man und unter welchen Bedingungen gerät man eigentlich in die Panik, daß man nicht genug weiß und man eigentlich noch viel mehr wissen müsse? Doch eigentlich nur dann, wenn man nicht weiß: Was ist für mich wichtig? Und deshalb ist das Bewußtsein über die eigenen Interessen zentral. Bewußtheit als solche gibt es natürlich nicht. Es gibt immer Bewußtheiten urid Bewußtsein meiner eigenen Interessen: Was ist für mich wichtig? Was ist für mich jetzt notwendig? Notwendig nicht als eine abstrakte Norm, sondern immer gebunden an Wendung von Not. Was brauche ich, um das, was mir unerträglich ist, abzuwenden? Jetzt zu diesem Problem, nicht vergessen zu können. Erich sagt, das sei eine Krankheit: zwanghaft immer wieder daran denken, was man falsch gemacht hat, was man nicht gemacht hat, was einem peinlich war, - warum kann man das nicht verdrängen? Weil man nicht damit fertig geworden ist. Die Frage nach den Bedingungen, unter denen man nicht vergessen kann, ist eine ganz zentrale Frage, der man sich stellen muß. Zu Wolf, der statt Bewußtsein Handeln eingebracht hat: Handeln und Bewußtsein stehen in einem ganz engen Zusammenhang. Ich kann doch nur handeln, wenn ich in irgendeiner Weise eine Vorstellung von meinen Interessen habe. Ich kann eine falsche Vorstellung darüber haben, die kann ich korrigieren, ich kann mich gegen die Korrektur wehren, weil ich Angst vor den Folgen habe. Aber Handeln statt Bewußtheit zu setzen, ist m,E. ein Unding. Zwischen Erkenntnis, Emotionalität und Handlungsfähigkeit sind keine abrupten Brüche, es besteht ein ganz enger Zusammenhang. Daß man sich weigert, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, mit denen man nicht fertig wird, das ist der Punkt. - Zur Begriffsklärung: Unbewußtes ist nicht Nicht-Wissen, sondern aktive Abwehr von Wissen: Abwehr, weil es einem zu gefähr185

lieh erscheint. Dieser Punkt ist zentral. Deshalb meine ich auch, daß das "Unbewußte" konkreter als das "Bewußte" ist. Sprecher: Meine Bitte ist, immer genau zu benennen, welche Form von unbewußt man nun eigentlich meint. In der Kritischen Psychologie ist das ja durch Utes Beitrag eine relativ klar umrissene Sache: Dinge, die ich wissen könnte, aber nicht zur Kenntnis nehmen will aufgrund von Handlungskonsequenzen, die für mich daraus entwachsen und die für mich gefährlich sind. Daneben gibt es aber Formen, die mir nicht bewußt sein. Sehr vieles, was für meine Handlungsfähigkeit sehr wichtig ist, z . B . viele Sachen aus meinem Körperleben, sind mir nicht sprachlich verfügbar, sondern höchstens über Bilder, tauchen also auch in Träumen auf. Es ist bisher relativ wenig gesagt worden zu dem methodischen Zugang zum Unbewußten. Es wurde herausgestellt, daß Bewußtwerdung letztendlich über Sprache geht, weil Sprache, letztlich mein Bewußtsein, auch das gesellschaftliche Bewußtsein ist, und das Bewußtwerden von Unbewußtem ja auch immer die Frage der Verallgemeinerung ist. Da stellt sich die Frage nach der Sprache als Mittel des Zugangs zum Unbewußten. An dieser Stelle tut sich das Problem auf, daß das Unbewußte durch das Hochdeutsch nicht spricht. Durch was spricht es denn? Sind es die Bilder? Sind es die Szenen? Oder ist es z . B . auch beobachtbares Handeln, an dem man ansetzen kann, um einen Zugang zum Unbewußten zu bekommen? Oder sind es Nachtträume oder sind es Tagträume? Sprecherin: Ich habe noch eine Frage zu den spannenden Ausführungen von Ute. Ich fände es sinnvoll, wenn du nochmal darauf eingehst, wie man denn nun eigentlich an das Unbewußte kommt. Ich habe wohl verstanden, daß das Unbewußte aus der Notwendigkeit resultiert, daß das Individuum gesellschaftliche Widersprüche lösen muß, was eigentlich schon wieder ein Widerspruch in sich ist - , aber ich habe nicht verstanden, wie man da dran kommt im alltäglichen Leben. - Meine letzte Frage geht an Erich Wulff: Bei deinen Ausführungen zu pathologischen Formen des Unbewußten sehe ich die Abgrenzung nicht mehr zum Vergessen, zum Vergessen-Können. Ist das das Gleiche wie Unbewußtes, wenn ich etwas vergessen habe? Anne Albers (leider ohne Mikrofon): . . . Dann fehlt mir bei dir, Ute, die geschlechtsspezifische Dimension . . . Ich glaube, daß die geschlechtsspezifische Dimension gerade in der Forschung der Psychoanalyse eine sehr große und wichtige Rolle spielt. Historisch gesehen, ist die Psychoana186

lyse benutzt worden in einer Zeit, in der die Frauenbewegung, gerade in Österreich, relativ stark war. Sie war sozusagen als Gegenmittel eingesetzt mit dem Ziel, die Frauen wieder zu entsolidarisieren, alles auf ganz individueller Ebene zu ihrem ureigensten Problem zu machen. D . h . , die Psychoanalyse ist immer wieder ein Machtinstrument gewesen, und zwar ganz speziell zur Unterdrückung der Frauen bzw. zur Fixierung in ihrer Rolle, damit sie sich mit dieser Gesellschaft weiterhin arrangieren. Ich finde, daß das eine Dimension ist, die, gerade wenn man über Psychoanalyse und Verdrängung spricht, sicher mit reingehört. Ute Meier: 1) Ich denke, daß das anthropologische Moment, das Wulff angesprochen hat, nicht nur im Unbewußten zu suchen ist, sondern es ist das Spannungsmoment zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten. Bezieht man jetzt ein historisches Moment ein, kommt man dazu, daß zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten ein Fließgleichgewicht bestehen könnte, das sich zeitabhängig und abhängig von gesellschaftlichen Notwendigkeiten ändert. 2) Dieser Gegensatz von Verinnerlichung und Handlungsfähigkeit oder Einfluß-nehmen-auf-gesellschaftliche-Machtverhältnisse ist falsch. Ich denke, daß die Verinnerlichung auch eine Unabhängigkeit schafft, die es überhaupt erst möglich macht, handlungsfähig zu werden. Bernhard Görlich: Ich will einen Ordnungsversuch machen auf der Ebene des Gegenstandes sowie auf der Ebene des Verfahrens: Wie geht man da ran? Ich gebe in jedem Fall zu, daß das Unbewußte ein soziales Unbewußtes ist. Ich würde sogar die Marxsche Theorie als Theorie unbewußter Strukturen in gewissem Sinne bezeichnen. Gesellschaft setzt sich hinter dem Rücken der einzelnen, die bewußt ihre Zwecke verfolgen, durch. Es gibt darüber hinaus ein individuelles Unbewußtes, von dem ich ausgegangen bin, und das gegenüber diesem Unbewußten insofern auf einer völlig anderen Ebene liegt, als es die Dimension des Erlebens von innen her avisiert. Und es gibt darüber hinaus noch eine Zwischenebene, deren Eigenständigkeit ich hier betonen möchte: Die Ebene eines "kollektiven Unbewußten", in dem es um die Auseinandersetzung von subjektivem Erleben und kulturellen Bedeutungsträgern geht. Das Moment des Kulturellen ist nicht mit dem des Ökonomischen unmittelbar identisch, sondern da gibt es nochmal eine spezifische Brechung, eine spezifische Vermittlungsebene. Im Grunde sind es aber zwei Analyseebenen, die man auseinanderhalten und die man wieder zusammenbringen muß. Die erste Ebene ist die der Bedingungsanalyse. Die zweite Ebene ist die 187

der Strukturanalyse subjektiven Erlebens. Wir müssen die Schärfe der je eigenen Perspektive entfalten und sie dann, auf der Ebene der Resultate erst, miteinander in Verbindung bringen. Wir sind hier auf einem marxistischen Kongreß. Es geht um das Problem der Dialektik von Wesen und Erscheinung. D . h . , das progressive Voranschreiten von der erscheinenden zur wesentlichen Realität ist inhaltlich ein Rückgang in die Grundexistenz der Erscheinungen. Wenn man diesen Schritt geht, dann darf man nicht unter der Hand die Ebene der Erscheinungen verlassen und eine ganz andere Thematik einführen, für die ein ganz anderer Begriff notwendig wäre. Darüber hinaus gibt es verschiedene Vermittlungsebenen. Ich kann natürlich jetzt nicht unmittelbar das Verhältnis von - um auf die Teilnehmer einzugehen - Szene und Staat diskutieren... Auf der ersten Ebene der Praxisauseinandersetzung ist die unmittelbar praktische Teilhabe an der Auseinandersetzung gefordert. Und auch auf der Ebene, die sich die Frage nach der Analyse kultureller Prozesse stellt, geht es nicht an, kulturelle Prozesse nur ideologiekritisch zu bestimmen. Wir müssen dieses Verhältnis, das sich hier entwickelt, zwischen Handlungsanweisungen in kultureller Perspektive und subjektivem Erleben bestimmen, indem wir in dieses Verhältnis selber eintreten und von innen versuchen, die Probleme zu diskutieren. Ich könnte jetzt am Beispiel der kritisch-psychologischen Interpretation der Psychoanalyse - das wäre ein verlockendes Thema - hier die fatalen Konsequenzen des Vermischens von Bedingungsanalyse und Strukturanalyse aufzeigen. . . . Wenn man die Psychoanalyse als ideologische Wissenschaft bezeichnet und es festmacht an diesen drei Figuren: Psychologismus, Individualismus und Biologismus, - da kann man nur so antworten, daß man sagt: der Psychologismus hat in der Psychoanalyse seine Berechtigung, indem er synonym ist für die Ebene des Zugangs auf der konkreten Erlebnisanalyse. Der Individualismus hat in dem Maße seine Berechtigung, indem man ihn als Synonym betrachtet für die Strukturanalyse des konkreten Individuums. Der Biologismus hat eine ganz andere Berechtigung. Aber er hat die Berechtigung - und da wird es natürlich insgesamt schwieriger, weil wir auf der Ebene des Begriffs und der Abstraktion hier sind - , daß die Auseinandersetzung um Erleben nicht vergeistigt werden darf, daß es hier körperlich-naturale Momente gibt, die mit der Sprache in Widerspruch geraten. Der Biologismus ist die Mystifikation des Zusammenhangs einer Praxis, einer naturalen und sozialen Praxisauseinander188

setzung. Und er verlangt begrifflich zunächst mal den Gesichtspunkt der praktischen Dialektik, dann den Aufweis der Etappen in der Sozialisationsgeschichte. Und er verlangt, das Resultat dieser Auseinandersetzung, die Spannung in der Persönlichkeit, zu respektieren. Und da sind wir genau an dem Punkt, der mir in der Kritischen Psychologie dethematisiert erscheint: das Problemfeld des Erlebens. Zum Schluß zur Frage der marxistischen Einzelwissenschaft, die hier am Horizont sich ankündigt, in der Kritischen Psychologie: Das Beispiel der Psychoanalysekritik von Ute, die Psychoanalyse und Sozialisationstheorie ineinssetzt, ein Gleichheitszeichen macht, wobei unser Ansatz, den ich am Anfang vorgetragen habe, völlig unter den Tisch fällt, hat für mich auch die Bedeutung, daß man einer Auseinandersetzung aus dem Wege gehen will und sich den Anspruch stellt, alles allein zu machen, was auf den verschiedensten Ebenen der Auseinandersetzung schon geleistet worden ist. Wenn ich als Ertrag der gestrigen Holzkamp-Veranstaltung die Kritik der Variablenpsychologie nehme, also, es tut mir leid, das ist die Positivismuskritik der Kritischen Theorie in den 30er Jahren. Wolf Haug: Klaus Holzkamp hat gestern vorgeschlagen, eine Gemeinschaftsfront zu bilden. Er hat nicht beansprucht, er sei der erste, der eine Positivismuskritik vorlegt. Das war überhaupt nicht der Punkt, sondern er bot an, daß alle Richtungen, die das Subjektive nicht verdrängen, in gewisser Weise zusammenarbeiten. Es wäre sehr schade, würde man verschiedene Zugänge gegeneinander ausspielen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, und die Diskussionen verwandeln sich sofort in einen Kampf der Möglichkeiten. Das ist aber ganz unnötig. Z . B . möchte ich nicht, daß das, was ich hier vorgeschlagen habe, so verstanden wird, als sollte es in Verdrängungswettbewerb treten mit dem, was Ute vorgeschlagen hat oder mit anderen Vorschlägen. Ich sehe da eher ein komplementäres Verhältnis. Und ich sehe eher die Gefahr, daß Ute meine Vorschläge nicht annimmt, und das heißt, die Ergänzung nicht berücksichtigt. - Was war nochmal der Sinn des Vorschlags? Ich habe eigentlich auch an eine Kritik angeknüpft, die nicht vor 30 Jahren oder in den 30er Jahren geleistet worden ist, sondern schon vor 120 Jahren, die immer wieder aktuell ist und die sicher in 20 Jahren noch aktuell sein wird. Warum? Weil auch die Fehler immer wieder gemacht werden, kommt sie immer wieder auf den Tisch. Was war der Sinn nochmal dieser Kritik? Folgender: Aus unserer unmittelbaren Befindlichkeit heraus können wir dieselbe nicht verändern. 189

Oder anders gesagt, selbst der Ausdruck Befindlichkeit ist eigentlich ein merkwürdiger. Wo befinden wir uns denn? Wir befinden uns in einer bestimmten Anlage, in einer bestimmten Ordnung. Die Befindlichkeit ist immer die eingeordnete Befindlichkeit, die umgrenzte, die umstellte, die eingefügte, die eingeformte. Und wenn Befindlichkeit konkret gemacht werden soll, dann muß diese Umgrenztheit, Eingefügtheit ins Blickfeld treten. Ich könnte ja auch Befindlichkeit ganz anders verfolgen. Diese berühmte subjektive Befindlichkeit könnte ich auch nach innen verfolgen. Wie fühle ich mich denn? Unter Absehung von dem, worin ich mich befinde. Das ist aber nicht mehr Befindlichkeit, das ist die Selbstaufgebung eines Wollens, das sich-selbst-Befinden zu greifen, was gar nicht weiß, was es tut. Komplementäre Forschungsrichtungen, komplementäre Zugänge sollten wir nicht gegeneinander ausspielen, sondern uns eher eine Art Landkarte machen von der vielgestaltigen Gesamtproblematik und dann prüfen, wie die verschiedenen Zugänge zueinander geordnet gehören. Z . B . geht es nicht an, über Unbewußtes zu sprechen, ohne auch zu respektieren, daß dies auch ein linguistisches Problem ist, daß es einen Zugang auch von der Linguistik her gibt. Das ist hier angesprochen worden, und ich will das nur unterstreichen. Es geht überhaupt nicht an, von Unbewußtem zu sprechen, ohne die Ebene der individuellen Erlebnisstruktur als relativ eigenständige anzuerkennen und auch die spezifischen Zugänge dort zu respektieren, - also kein Verdrängungswettbewerb. Und es geht auch nicht an, das Problem, das Ute hier vorgeführt hat, in Verdrängungswettbewerb mit den beiden anderen zu setzen. Was war das Problem? Am besten kann man es in der Gestalt des Opportunisten fassen, zu dem sie auch geschrieben hat: das heiße Eisen, das man fallen läßt; das, was zu wissen gefährlich ist, was verdrängt wird. Andererseits würde ich es für katastrophal halten, würde man diesen Problemtypus für total erklären, d . h . alle Probleme, die mit dem Begriff Unbewußtes artikuliert werden können, damit fassen wollen. Das halte ich für völlig unmöglich. Der vierte Zugang, von Marx herkommend, hält uns dazu an, das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" zu berücksichtigen, zu sehen: wo sind wir wie positioniert in diesem Ensemble? Also die Effekte, die diese Eingestelltheit bzw. Eingeordnetheit in dieses "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" nach innen wirft, müssen wir untersuchen, aber nicht im Verdrängungswettbewerb zu den anderen genannten Ebenen! Es wäre mir recht, wenn wir eine Diskussionsart finden könnten - wir haben immer 190

noch genügend Stoff zu diskutieren - in der man die unnötigen Bomben entschärfen könnte. Jetzt möchte ich noch zwei kleine Bemerkungen machen, weil ich da angesprochen worden bin. Der Schlenker ins "Pragmatische", "Pragmatistische" wurde, glaube ich gar, gesagt: den Schuh ziehe ich mir überhaupt nicht an. Wenn ich von handeln spreche, von Handlungsfähigkeit, dann ist das deswegen nicht pragmatisch, weil ich schließlich von gesellschaftsveränderndem Handeln gesprochen habe. Pragmatismus ist das Handeln unter den bestehenden Bedingungen: Was kann man damit anfangen, mit irgendetwas unter den bestehenden Bedingungen, ohne die Bedingungen anzutasten, innerhalb der Bedingungen? Pragmatismus ist das in den herrschenden Formen umformte Handeln. Eine Theorie, die sich darauf beschränkt, sich anzupassen, in den Formen die Formen selber opportunistisch zu ignorieren, macht die Verhältnisse zu seinem Unbewußten und überlegt nur noch: Wie kann man Erfolg haben innerhalb dieser Bedingungen? Das wäre der pragmatische Schlenker. Das war bei mir überhaupt nicht der Fall. Ich schlage vor, den umfangreichsten Sinn von individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit ins Zentrum der Begriffsbildung zu rücken. Da geht es nicht um das Handeln innerhalb der Formen, der Verhältnisse und der herrschenden Ideologie, sondern um das Ausgreifen auf diese Formen selber, um das Erobern der Fähigkeit zur Gestaltung und Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen, oder mindestens der Teilhabe an Versuchen, dies zu erreichen. Und schließlich: es ist nicht verstanden worden, warum ich vorschlage, die Kategorie Bewußtsein nicht fundamental, zentral auszusetzen. Ute, natürlich ist mir bekannt, daß zur Spezifik menschlichen Handeln das Bewußtsein gehört, die Orientierung usw. Aber man kann es so anordnen, daß man das Handeln vom Bewußtsein her denkt, wissenschaftslogisch. Und man kann es umgekehrt anordnen, daß man das Bewußtsein vom Handeln her denkt. Letzteres schlage ich vor. Es ist einfach eine andere Wissenschaftslogik, eine andere Logik der Begriffsbildung. Ein Exkurs in die Philosophiegeschichte: Ich weiß nicht, ob allen klar ist, seit wann es überhaupt das Wort Bewußtsein, das Konzept gibt. Der erste, der den Begriff noch nicht hat, aber die Sache anfängt zu umschreiben, ist Descartes. Es ist die Bourgeoisie, die das ausgebildet hat. Und davor gab es immerhin schon Jahrtausende theoretischer Überlegungen. Und es gab kein Konzept an der Stelle. Es war undenkbar, daß man ein vereinheitlichendes Etwas 191

behaupten würde, wo man ganz unterschiedliche Figuren, Tätigkeitsarten, Dimensionen bisher artikuliert hatte. Also verhalten wir uns gegenüber einer Kategorie wie Bewußtsein auch historisch, genau wie gegenüber der Kategorie Sexualität, von der Foucault gezeigt hat, wie jung sie ist. Sie ist knapp 200 Jahre alt. Und immerhin hat die Menschheit bis dahin auch sich fortgepflanzt und ihre Vergnügen gehabt. Man sollte lieber untersuchen: Was war eigentlich an der Stelle? Was waren die vereinigenden Begriffe? Nicht, wie eine Naturform, es selbstverständlich belassen: Es gibt eben das Bewußtsein, die Sexualität, und man kann jetzt mit diesen Größen jonglieren. Die Wissenschaftslogik aller bürgerlichen Theorie der Neuzeit ist so. Sie fängt immer an mit dem Bewußtsein. Und wenn überhaupt je die Arbeit kommt, kommt sie in §87 oder in §147. So in Kants Anthropologie . Wie da die Arbeit vorkommt, ist sehr lehrreich: Es fängt an mit Bewußtsein. Erster Paragraph. Subjekt, Person. Es wird gleich gesagt: Kinder sind keine Subjekte. Es ist ein Sonderproblem usw. Jetzt kommt irgendwo §147 oder so die Arbeit vor. Und zwar unter dem Gesichtspunkt: Wie genießt man am besten? Kant stellt die Regel auf, man genieße nie so gut, wie wenn man vorher eine Unlust gehabt hätte. Deshalb wäre es auch gut, vor einem Essen etwas zu tun, damit man dann mit Appetit ißt. So kommt die Arbeit in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht vor. Und dieser Strukturtypus, mit dem Bewußtsein anzufangen und irgendwo, auf irgendwelchen Umwegen dann beim Handeln, oder in dem Fall bei der Arbeit zu landen - das ist das, was ich attackiere. Ich schlage vor, daß wir unseren Einstieg woanders nehmen. Natürlich kommen wir dann gleich zum Bewußtsein, nicht erst beim §147. Wir müssen auch nicht solche Umwege gehen wie Kant. Es soll schon mit dem Handeln artikuliert sein. Aber der Einstiegspunkt, der Angelpunkt, muß beim im weitesten Sinn gesellschaftsverändernden Handeln liegen. Jürgen Meßing: Diese z . T . unglückliche und z . T . krampfhafte und komplizierte Begriffsbildung der Kritischen Psychologie ist doch der Versuch, bestimmte Interessen, Notwendigkeiten, Bedürfnisse auf den Begriff zu bringen, in die Form des Gesellschaftlich-Allgemeinen, d . h . hier auch ein Unbewußtes bewußt zu machen. An der Stelle verstehe ich nicht eine Form des Umgangs mit dem Begriff, wie ihn Wolfgang Haug betreibt, der darauf ausgeht, den versuchsweise eingebrachten Begriff, mit dem etwas denkbar, bewußt gemacht werden soll - dadurch daß das Gedachte in die 192

Form des Begriffs überführt wird - hier mit Hilfe einer historischen Begriffsanalyse zu zersetzen. Es geht mir darum, diese Begriffe und die Erweiterung der Handlungs- und Denkmöglichkeiten zu entwickeln, mir nützt kein Argument von der Art, daß Descartes oder Kant oder irgendwer sonst etwas anderes damit schon mal gemeint hat. Es gewinnt dabei nämlich den Anschein, als ob die Wahrheit des Begriffes in seiner bestimmten historischen Verwendung liegt. Sprecher: Wir reden hier viel über Begriffe und nicht über die Sache. Das Unbewußte wurde teilweise als Verdrängung angesprochen. Wenn ich aber etwas verdränge, muß mir das in irgendeiner Weise bewußt sein. D . h . , es handelt sich nicht um Bewußtsein oder Unbewußtsein, sondern es handelt sich um verschiedene Arten des Bewußtseins. Zur Methode, an dieses sogenannte Unbewußte heranzukommen: Es geht m.E. ganz einfach darum, eine Basis des Vertrauens zu schaffen, ein Vertrauen, das ich jemandem zu spüren gebe. "Du kannst dich mir ruhig öffnen. Du kannst dein Unbewußtes ruhig aussprechen. Wir werden versuchen, damit umzugehn." Solange ich dieses Unbewußte tabuisiere, einfach dadurch, daß ich es unbewußt nenne, - und dann jemandem zu spüren gebe: "Wenn du davon redest, dann ist das etwas aus deinem tiefsten Inneren, was du immer totgeschwiegen hast", dann komme ich da auch nicht ran. Sprecherin: Zu dem Problem der Sprache: Daß sich hier die Schwierigkeit zeigt, einander zu verstehen, liegt auch an der Historizität der einzelnen Begriffe und ihrer Vorgeschichte. Wie oft gebrauchen wir Begriffe und transportieren unbewußt Inhalte, die wir uns klar machen müßten. Deswegen finde ich es wichtig, Begriffe auf ihre Geschichte zu hinterfragen, zumal sich die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, nur sprachlich ausdrücken läßt, und wir häufig genug für unsere Praxis eine neue Sprache bräuchten. Das können wir in vielen, vielen Zusammenhängen sehen, ob das in der Frauenbewegung ist oder im politischen Kampf. Iris Rudolph: Mir ist aufgefallen, daß ich, obwohl ich die Kritische Psychologie kenne, ein Alltagsbewußtsein von Unbewußtem habe, was sich zwangsläufig aufdrängt, das neugierige Suchen nach: Was ist jetzt in mir drin? Das Unbewußte drängt sich förmlich auf, wenn man es alltagsmäßig denkt. Ich habe mich sofort entschlossen, als mir aufgefallen ist, wie ich das denke, mich zu entscheiden: Nein, ich gucke jetzt nicht, was hab ich alles Unbewußtes in mir drin, da bin ich ja, bis ich 80 bin, am Suchen/sondern ich entscheide mich: Was davon will ich eigentlich sofort wissen mit welchem Ziel? Es kann nicht darum gehen, alles 193

Unbewußte an die Oberfläche ins Bewußtsein zu kriegen, sondern das momentan Relevante, das einen am Handeln hindert. - Viel spannender finde ich noch die Frage, woher die Unterschiede kommen im Unbewußtmachen. Wir leben alle ungefähr in der gleichen Situation und trotzdem ist unser Unbewußtes unterschiedlich. Mir ist noch nachvollziehbar, wo die Unterschiede zwischen Männern und Frauen herkommen. Frauen haben eben objektiv andere Handlungsräume als Männer. Und zwangsläufig müssen sie auch andere Sachen, um handlungsfähig zu bleiben, in diesen ihnen objektiv gesetzten Handlungsräumen verdrängen als Männer. Aber wenn es jetzt nicht mehr um solche großen Einteilungen geht, sondern darum, warum der eine Facharbeiter und der andere Facharbeiter oder die eine Hausfrau und die andere Hausfrau - vorausgesetzt sie sind ungefähr gleiche Schicht, gleiches Milieu usw. - u.U. zum Ausländerfeind wird und der andere es eben nicht, das ist eine Frage, mit der ich nicht zurechtkomme, weil ich mich dagegen wehre, zu sagen: ja so ein ganz individueller Rest bleibt dann eben, wo sich dann doch jeder irgendwie für was anderes entscheidet, was er unbewußt macht und wie er dann sein Handeln bestimmt. Christian Niemeyer: Noch einmal zu dem Bewußtseinsbegriff: Descartes ist, glaube ich, nicht anschlußfähig für den Bewußtseinsbegriff der Kritischen Psychologie. Descartes hatte seinerzeit rebelliert gegen die Büchergelehrsamkeit, gegen das Wissen. Und zu dieser Büchergelehrsamkeit hat die Kritische Psychologie heute ja auch einiges beigetragen. Er hat seinerzeit damit reagiert, daß er eigentlich der erste war, der im moderneren Sinne Selbstreflexion betrieben hat, und auch daran kann sich die Kritische Psychologie eigentlich nicht anschließen, weil das auch ein biografisches Moment eingeschlossen hat für ihn. Wo sie sich anschließen kann, das ist vielleicht 2000 Jahre vorher, bei Aristoteles. Da gibt es zwar keinen Begriff des Bewußtseins, aber einen Begriff des Wissens und auch des unbewußten Handelns. Dort wurde versucht, in einer Lehre des sittlichen Handelns die Subjekte von Unbeherrschtheit zu orientieren auf Trefflichkeit und beherrschtes Handeln. Und da ist genau der Wissensbegriff i . S . von Bewußtseinsbegriff zuordnungsfähig, der die Theorie der Verantwortlichkeit für sittliches Handeln begründet hat, der 2000 Jahre später in der Kritischen Psychologie in etwas modernerer Variante wiederauflebt. Die Theorie der Verantwortlichkeit auf Sittlichkeit hin ist durchbrochen worden bei Freud mit seiner Theorie des Unbewußten. 194

Seither ist eine Theorie der Entschuldigung entwickelt worden für menschliches Handeln. Es ist ein Phänomen der Neuzeit, daß man die Leute nicht normiert auf Normalitätsentwürfe, sondern zunächst einmal versucht, zu rekonstruieren, ob sie auch Verantwortlichkeit haben für das, was sie taten. Das war sicher zu seiner Zeit schon ein erheblicher Fortschritt. Dieser historische Fortschritt hat negative Auswirkungen insofern gehabt, als die Subjekte, die sich nun sagen lassen können, daß sie nicht immer verantwortlich sind, der Tendenz nach auch der Gefahr der Pathologisierung unterliegen. Diesen historischen Fortschritt, daß die Subjekte' unter bestimmten Umständen nicht verantwortlich sind, insofern unbewußt handeln, betrachte ich als das eigentliche Kriterium von Psychologie. Eine Theorie, die die Entwicklungsnotwendigkeit, die Notwendigkeit von rationalem Handeln und verantwortlichem Handeln betont, würde ich nicht unbedingt als Psychologie betrachten. Ute Osterkamp: Ich bin für Sittlichkeit und dafür, daß ein Mensch verantwortlich ist, aber nicht - und das ist ein zentraler Punkt - für sein aktuelles Verhalten, sondern für die Verhältnisse. Man muß begreifen, daß man unter Verhältnissen lebt, die einem Verhaltensweisen aufzwingen, zu denen man nicht stehen kann. Das ist genau der Grund, daß man nicht die Schuld bei sich sucht, tief drinnen, sondern diesen Zusammenhang aufdeckt. - Zur Kritik, daß die Frauen in der Kritischen Psychologie nicht vorkommen. Schließlich bin ich eine Frau und möglicherweise trag ich auch spezifisch zum Thema "Schuld" etwas bei, weil es ein ganz zentrales Problem der Frauen ist. - Was leistet Therapie in Bezug auf "Schuld"? Die Therapie, würde ich sagen, baut die überschüssigen Schuldgefühle ab, die das "normale" Funktionieren unter den gegebenen Machtverhältnissen behindern. Sie geht nicht den realen Ursachen der Schuldgefühle auf den Grund und läßt insofern die Individuen allein. - Noch zu der Kritik, daß wir den methodischen Zugang zum Unbewußten zu wenig behandelt haben: begreift man das Unbewußte als Verdrängung der Erkenntnisse und Handlungstendenzen, deren Folgen man fürchtet, so ergibt sich als Zugang zum Unbewußten a) die Analyse dieser Zusammenhänge, damit man sich bewußt verhalten kann, b) über diese Aufklärung hinaus die Schaffung von Bedingungen, die das Individuum stärken, Kritik wirklich anzubringen und sich an der Veränderung der Verhältnisse zu beteiligen. - Eine andere Kritik war, daß wir die Erlebnisfähigkeit nicht hinreichend behandeln. Was wir darstellen, ist: in dem Maße, in dem der Mensch nicht eingreifen kann, entwickelt 195

sich eine Haltung der Gleichgültigkeit. Man läßt nichts mehr an sich rankommen, weil man ohnehin nichts tun kann. In dem Zusammenhang finde ich sehr wichtig, was Wolf Haug angesprochen hat, die Bedeutung der Kanalisierung des Handelns durch die Sprache. Sich dies bewußt zu machen, gehört ebenfalls zu den Zugängen zum Unbewußten. Wenn man z . B . als "Gastarbeiter" die Ausländer bezeichnet, die hier bei uns ausgebeutet werden, verschleiert das die wirkliche Situation und die Notwendigkeit, aktiv zu werden; es unterstützt die Passivität. Ich will damit sagen, daß wir die objektiven Grenzen der Erlebnismöglichkeiten analysieren und uns einsetzen für die Aufhebung dieser Grenzen. - Zum letzten Punkt, Kritik und gegenseitige Anregung: ich finde Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen notwendig, aber Versöhnlichkeit dort nicht angebracht, wo man nicht vertretbare Zugeständnisse machen müßte. Die Psychoanalyse etwa hat einen Begriff von Projektion, der ausgeht von der Projektion der eigenen Aggressionen nach außen - die äußeren Aggressionen wären demnach nichts weiter als die inneren Aggressionen. Das ist die Umkehrung dessen, was ich dargestellt habe, nämlich, daß die Kritik am Außen, an den herrschenden Verhältnissen, systematisch zurückgegeben wird, indem die Integrität des Kritikers angezweifelt wird. Bernhard Görlich: Es war die Rede von der Begriffsgeschichte, der Notwendigkeit des Unbewußten. Holzkamp schreibt in seinem letzten Aufsatz, daß die Vergleichsbasis sich herstellt über die klassisch verstehende Psychologie. Damit verstellt er sich den Zugang, daß das Neue in der psychoanalytischen Auseinandersetzung eine Revolutionierung in der Praxis ist insofern, als hier das Individuum zur Selbstdarstellung gebracht wird, das Arzt-Patientenverhältnis umgekehrt wird, und der Einzelne tatsächlich nicht mehr allein gelassen, sondern in eine gemeinsame Praxisauseinandersetzung reingezogen wird. - Ein zweiter Aspekt: Der Begriff des Unbewußten setzt bei Freud dort ein, wo er den Zusammenhang von Ereignis und Erleben verloren hat, den Zusammenhang von Trauma und Erleben. Er kann nicht mehr kausal zurückschließen, und an der Stelle fragt er sich: Was ist eigentlich das hinter den Erlebnissen Stehende, das ja im Erzählmaterial sich selbst zum Thema macht? Er kommt auf den Begriff des Triebes und auf den Begriff des Unbewußten und von hier wird deutlich, daß dieser Begriff einen erlebnisdynamischen Charakter hat. Von daher mein Plädoyer für die Respektierung der Eigendynamik dieses Bereichs. Ich finde, die Kritische Psychologie tut sich 196

einen schlechten Dienst, wenn sie das Haugsche Berührungsverbot sich zu eigen macht, wo eindeutig gesagt wird: Das ist eine Katastrophe, auf den Freud zurückzufallen. Sprecher: Ich will die Problematik aufnehmen, die Haug aufgeworfen hat: Was ist unser Subjekt? Einmal ist unser Subjekt die Struktur, ein anderes mal das Individuum. Herr Haug nimmt uns - uns als Psychologen - unsere Begriffe. Es ist in der Tat die Frage, inwieweit uns unsere Begrifflichkeit Erkenntnis schafft, weil wir auf der Ebene des Individuums verbleiben. Aber wie hängt die eine Ebene mit der anderen zusammen? Ich kann das nicht erkennen und habe den Eindruck, daß die Kritische Psychologie immer noch nicht beim Individuum angekommen ist. Sprecher: Ich hatte in der heutigen Diskussion den Eindruck, als gäbe es in der Theorie von Freud einen einfachen Übergang vom Bewußten zum Unbewußten. Ich habe Freud aber so verstanden, daß das Unbewußte erstmal auf die Stufe des Vorbewußten gehoben werden muß. Herr Haug hat das nur in Gegensatzpaaren dargestellt: Bewußtsein Unbewußtes. Ich finde Freud differenziert, der fragt: wodurch entsteht Vorbewußtheit? Unter den Tisch gefallen ist in der Diskussion heute auch die Entwicklungsbedingtheit von Bewußtsein. Das Freudsche Konzept des Bewußten und Unbewußten schließt ein, daß durch Geburt und Entwicklung in der Kindheit der Mensch sich eine bestimmte Form von Gesellschaftsaneignung, Nutzbarmachung seiner eigenen Gefühlsempfindung konstruieren muß, dies aufgrund ganz konkreter gesellschaftlicher Erfahrung. Das finde ich wichtig für die Fragen, wie sich bestimmte Denkstrukturen, Empfindungsstrukturen entwickeln, welche Vermittlungsinstanzen das Vorbewußte hat und welche Rolle dabei die Gesellschaft spielt. Erich Wulff: Ich versuche, das für mich Wesentliche an dem Thema zu präzisieren im Hinblick auf die vorgebrachten Fragen und Einwände: Zunächst habe ich zu unterscheiden versucht zwischen dem Unbewußten als Inhalt bzw. verschiedene Inhalte des Unbewußten und dem Unbewußten als Struktur, als Struktur selbstverständlich in Bezug zu so etwas wie Bewußtsein. Nur diese Struktur, dieses Verhältnis bewußt-unbewußt, habe ich dann als "anthropologisch" bezeichnet im Sinn einer der Bedingungen für menschliche Handlungsfähigkeit. Als nächstes habe ich gefragt, wie etwas ins Unbewußte hineinkommt und verschiedene Modalitäten aufgezählt: durch Verdrängung (was v . a . Freud dargestellt hat); durch das, was ich Entlassung (aus dem Bewußten) ins Unbewußte genannt habe; oder das Vorfinden von etwas 197

im Unbewußten, was nicht notwendigerweise durch einen Akt der Verdrängung zustande kommen muß. Das habe ich dann in Beziehung gesetzt zu verändernder (unter Umständen auch nichtverändernder) menschlicher Tätigkeit. Verdrängtes als Sonderfall des Unbewußt-Werdens kann es nur geben, wenn es irgendwo in die Nähe von so etwas wie einem Bewußtseinshorizont tritt. Es gibt dann so etwas wie einen elektrischen Schlag, ein "bis hierher und nicht weiter". Allerdings glaube ich, daß dies für alle psychischen Abwehrvorgänge gilt, daß sie immer in einem Verhältnis stehen, einem Bezug zu einer möglichen Zulassung. Von daher meine Frage, ob nicht auch das Nicht-Zulassen zum Unbewußten als ein Abwehrvorgang gesehen werden kann, der eine ähnliche Analyse erfordert, wie die Kritische Psychologie sie geleistet hat für andere Abwehrvorgänge und das Verdrängte. Und schließlich habe ich die "Entlassung ins Unbewußte" als Leistung dargestellt, als Aktivität, deren Nicht-Zustandekommen so etwas wie eine anfängliche Pathologie ergibt. Noch kurz zum Gegenbegriff des Unbewußten, dem Bewußtsein. Ich denke, daß wir - wie Wolf Haug es dargestellt hat - von ganz verschiedenen ! Bewußtseinsformen f ausgehen müssen: Wissen wurde vorhin genannt, Erkenntnis, Planung, Kontrolle, Entwurf... Ich habe darüber noch nicht im Detail nachgedacht, will nur sagen, daß es m.E. berechtigt ist, von einer Multiplizität von Bewußtseinsformen auszugehen. Dennoch scheint es mir wichtig und bedenkenswert zu sein, wenn historisch, sozusagen in der Geschichte des Denkens, ein Punkt kommt, wo all dieses in einen Begriff einzugehen scheint, nämlich im Begriff des Bewußtseins. Hier geschieht etwas historisch Neues, etwas, das handlungsrelevant wird. Die verschiedenen Vorstellungen und Ideen verschränken sich neu und wirken auf die Wirklichkeit ein. Deswegen fand ich die Polemik von Herrn Niemeyer gegen Wolf Haug ärgerlich, weil sie diesen Aspekt als völlig irrelevant erscheinen ließ. Zusammenfassend meine ich, daß es das Vergessen nicht als Ganzes als positive Form der Klasse des Unbewußten zu fassen gilt, aber daß es bestimmte Formen des Vergessens gibt, in denen so etwas geschieht. Andere Formen des Vergessens, wie Freud sie dargestellt hat, gehören in andere Klassen hinein. Wolf Haug: Am Ende einer Diskussion über methodische Zugänge zum Unbewußten haben wir eine Diskussion über das Bewußte: ein methodischer Zugang zum Unbewußten. Erforscht werden muß, was sich historisch als Formation herausgebildet hat, genannt Bewußtsein, der Bewußtseinsdiskurs. Bewußtsein ist zu fassen als nichts rein Ideelles, 198

als gesellschaftliche Konstellation. Das hat seine materielle Existenzweise. Kollege Meßing fürchtet von mir die Zersetzung der Begriffe und sagt, die Wahrheit der Begriffe läge nicht in ihrem historischen Gebrauch. Das habe ich auch nicht behauptet. Das Problem ist, daß Philosophie niedersickert, sich sedimentiert wie Gestein. Und bevor wir anfangen, darüber nachzudenken, denken wir darin nach. Das ist, wie wenn eine Eisenbahn auf so und so gestellten Weichen fährt. Ich habe nur vorgeschlagen: Laßt uns doch mal gukken, wie die Weichen gestellt sind, bevor wir immer weiter fahren. Die Weichen haben nicht wir gestellt. Die Weichen sind historisches Erbe. Man kann es nicht ohne Kritik antreten, dieses Erbe. Wir müssen die Weichen umstellen, sonst können wir zu unsren Zielen nicht gelangen. Es ist keine Zersetzung der Begriffe. Ich würde sagen, daß ein neuer Schub auch an notwendiger Spracharbeit für all die Kräfte in unserer Gesellschaft erfordert wäre, die an einer Veränderung der Gesellschaft arbeiten. Man spricht heute so oft darüber, man diffamiert das so leicht, daß Gewohnheiten in Frage gestellt werden, die Begriffsbauten unter dem Gesichtspunkt ihrer ümbaubarkeit noch einmal analysiert werden. Ich glaube, wer das diffamiert, weiß gar nicht, was er tut. Es ist nicht so, daß diese Arbeit das Projekt der Veränderung unserer Verhältnisse gefährdet, ganz im Gegenteil. Dieses Projekt ist gefährdet, wenn wir nicht auch diese Arbeit neben anderen Arbeiten, auf uns nehmen. Das gilt auch für ein Projekt wie die Kritische Psychologie, ein großartiges Projekt, in das wir viele Hoffnungen setzen. Wie jedes historische Projekt kann auch dieses Projekt wieder den Trägheitskräften dieser Gesellschaft verfallen. Keine Errungenschaft, die ohne fortgesetzte Anstrengung irgendwann bliebe; das gilt auch auf dem Terrain der Weichenstellung, welche Objekte artikulierbar sind, welche Ziele artikulierbar sind, wozu nein gesagt wird, was angestrebt wird. Da kann man nicht anders als das Begriffsnetz unter die Lupe zu nehmen. Ich habe eigentlich nur eine wirkliche Differenz zu Ute gespürt. Ich glaube nicht, daß es das dominante Ziel der Kritischen Psychologie sein sollte, in der von Ute skizzierten Weise Schuldgefühle abzubauen. - Ich habe dich doch recht verstanden? Du sprachst von den vielen fragwürdigen Verhaltensweisen im Alltag. Es gehe darum, sie sozusagen bewußt annehmbar zu machen, darum, die Frage nach der Schuld - bin ich also schuld, daß ich mich so fragwürdig benehme? - aus mir heraus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten. Ein Stück weit stimme ich dir zu. Das 199

ist ein notwendiger Schritt. Aber der führt in ein gefährliches Abseits, wenn es bei diesem Schritt bleibt und nicht immer gleich in die Veränderung der Verhaltensweisen übergeht. Es entsteht eine neue Art von Entlastung: "Die Verhältnisse sind schuld, nicht wir." Ute Osterkamp: Also, daß - wie Du gesagt hast - Schuldgefühle abzubauen mein oberstes Ziel sei: So war das nicht gemeint. Wogegen ich kämpfe ist, daß man zu Kreuze kriecht und Schuldgefühle sind ein Mittel, einen zu Kreuze kriechen zu lassen. Es kommt also darauf an, daß man auf die Schuldgefühle nicht nur dumpf reagiert und versucht, bestens auszusehen, sondern daß man sagt, ja, klar, habe ich gemacht, aber ich konnte unter diesen Verhältnissen gar nicht anders. Das schließt aber eigentlich schon ein, gegen die Ursachen, die mich dazu bringen, mich so zu verhalten, daß ich nicht dazu stehen kann, anzugehen. Dabei ist der zentrale Punkt: Ich kann die Schuldgefühle überhaupt nur in dem Maße zulassen, wie ich für mich Handlungsalternativen sehe, wie ich also die Perspektive habe, die in den Verhältnissen liegenden Ursachen der Schuldgefühle, und damit diese selbst, zu überwinden. Es geht also um die Funktion der Schuldgefühle, zur Zustimmung zu zwingen, um sich keine Blößen zu geben, um die - gerade bei den Frauen erzwungene - Tendenz, "nicht unangenehm aufzufallen", also lieber alles hinzunehmen...

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V. Individuelle Entwicklung als Entstehung von Neuem theoretische und methodische Voraussetzungen der empirischen Untersuchung von Entwicklungsprozessen Berichterstattung: Barbara Grüter Koordination: Barbara Grüter, Jens Brockmeier Teilnehmer: Hendrik Bullens, Yrjö Engeström, Mariane Hedegaard, Christiane Schmid-Schönbein, Thomas Thiel, Karl Wahlen Die Teilnehmer der AG trafen auf dem Kongreß zum großen Teil zum ersten Mal zusammen. Ihre Referate und die anschließende Diskussion dienten daher vor allem der Vorstellung unterschiedlicher Zugänge zum Thema "Entstehung von Neuem", wobei sich alle Teilnehmer auf jeweils besondere Weise auf die von Piaget begründete "Theorietradition... der genetischen Psychologie" (vgl. Kongreßmappe, Thesenpapier zur AG) bezogen. Karl Wahlen eröffnete die Diskussion mit einer Analyse der Implikationen des Entwicklungsproblems, denen das positivistische Entwicklungs- und Wissenschaftskonzept nicht Rechnung tragen könne, und stellte die Frage nach dem empirischen Begründungs- und Geltungszusammenhang der Äquilibrationstheorie von Jean Piaget. Christiane Schmid-Schönbein und Thomas Thiel, die im Projekt "Der Aufbau kognitiver Strukturen als Xquilibrationsprozeß" zusammenarbeiten, begründeten in ihren Redebeiträgen eine Forschungsstrategie, nach der - mittels prozeßanalytischer Rekonstruktion der individuellen Entwicklung von Erkenntnishandlungen - neben den Strukturen die "Dynamik" kognitiver Entwicklung begreifbar sein soll. Barbara Grüter untersuchte die methodologischen Implikationen der empirischen Herangehensweise von Jean Piaget. Jens Brockmeier analysierte die Entwicklungskonzeption von Jean Piaget mittels der Kategorien der Kritischen Psychologie. Hendrik Bullens begründete ebenfalls auf der kategoriellen Ebene eine Grundeinheit psychologischer Untersuchungen, die die kognitive Entwicklung von Bedeutungen in der Ontogenese erkennen lassen soll. Mariane Hedegaard und Yrjö Engeström, die auch in einem Forschungsprojekt zusammenarbeiten, kennzeichneten schließlich wesentliche Merkmale einer "entwickelnden" Forschungskonzeption, die auf dem Tätigkeitskonzept aufbauend, die Bestimmung der "Zone der nächsten Entwicklung" eines Individuums ermöglichen soll. Die auf dem Kongreß, allein zeitlich, nur begrenzt mögliche Verständigung über die Problematik von Entwicklungsfor201

schung veranlaßte die Gruppe, ein Nachfolgetreffen zu organisieren, das als Workshop vom 23.-24. November 1984 mit Unterstützung und unter Teilnahme von Martin Hildebrand-Nilshon stattfand. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das Problem der "Entstehung von Neuem" erfolgt in dieser Gruppe aus unterschiedlichen Perspektiven theoretischer, empirischer, wissenschaftshistorischer und philosophischer Arbeit und steht im Spannungsfeld von vor allem drei unterschiedlichen Positionen, die durch die Genetische Psychologie in der Tradition von Piaget, durch die Kulturhistorische Schule in der Tradition von Wygotski und Leontjew und durch die Kritische Psychologie gekennzeichnet sind. Die Gruppe wird die Zusammenarbeit fortsetzen und plant deshalb ein weiteres Folgetreffen. Dieser Entwicklung wird die nachfolgende Darstellung nicht gerecht. Sie wurde von mir noch aus der Perspektive des Kongresses verfaßt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gruppe die genannten kooperativen Zusammenhänge noch nicht entwickelt hatte. Demgemäß ist diese Darstellung kein Bericht, sondern eine Bearbeitung des Entwicklungsproblems und eine damit verbundene Reflexion auf die Redebeiträge der Kongreßteilnehmer aus meiner Perspektive.

1. Das Entwicklungsproblem und die positivistische Entwicklungspsychologie Die Zeit wird traditionell als das wesentliche Merkmal angesehen, durch das psychische Erscheinungen als Gegenstand der Entwicklungspsychologie bestimmt werden können. Im Interesse der Beherrschung, der Vorhersage und Kontrolle individueller Entwicklungsprozesse werden in dieser Disziplin psychische Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderung in der Zeit betrachtet und die Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen solcher Veränderungen untersucht. Das Lebensalter gilt dabei als ein Maß für ontogenetische Entwicklungen.

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1 . 1 . Die Formel der positivistischen Entwicklungspsychologie (1) und die Negation individueller Entwicklung durch Zeitmessung Ursprünglich versuchte man für alle möglichen Funktionen und Verhaltensbereiche lebensalterbezogene Entwicklungsreihen aufzustellen. Die funktionale Beziehung zwischen Lebensalter und individuellen Verhaltens- und Merkmalsänderungen war lange Zeit die Grundgleichung für diese Untersuchungen. Sie fand ihren Ausdruck in der Formel R = f (A): Verhalten als Funktion des Alters (Anderson 1954, Kessen 1960). Merkmalsänderungen wurden dann als Entwicklungsphänomene angesehen, wenn sie in einer regel- oder gesetzmäßigen Weise auf das Alter bezogen werden konnten. So beschreibt Trautner die erste Phase der positivistischen Entwicklungspsychologie (vgl. 1978, 21). Der Zusammenhang von Alter und Veränderung galt als erkannt, wenn für eine bestimmte Anzahl von Personen (Stichprobe) die Korrelation von Lebensalter Und Auftreten bestimmter Merkmale mit einer bestimmten Häufigkeit empirisch festgestellt werden konnte. Auf einer solchen Basis sind entwicklungspsychologische Aussagen folgender Art zu treffen: Wenn Hans 6 Jahre alt ist, ist er mit einer bestimmten (aufgrund einer Untersuchung berechneten) Wahrscheinlichkeit schulreif. Die Untersuchung der Beziehung eines solchen Zustandes der Schulreife zu vorangehenden oder späteren Zuständen individueller Entwicklung und die Untersuchung von Bedingungen, die das Auftreten dieses Entwicklungsphänomens gerade zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich machten, sowie schließlich die Untersuchung der Beziehung dieser Entwicklurigslinie zu anderen parallel laufenden Linien gehören ebenfalls zu dieser Art von Entwicklungspsychologie. Das Resultat solcher entwicklungspsychologischen Untersuchungen ist ein idealer Lebenslauf, in bezug auf welchen reale Entwicklungsverläufe immer nur Annäherungen darstellen. Es handelt sich um eine Abfolge von Entwicklungszuständen mit jeweils durchschnittlicher Zeitdauer, die ein Mensch in seinem Leben in der Regel durchläuft. Im Verhältnis zur idealen Zeitdauer - der durchschnittlichen Zeit - eines so empirisch begründeten Lebenslaufs ist die reale Zeit, die ein einzelner Mensch braucht, um einen bestimmten Entwicklungszustand zu erreichen, immer nur eine Annäherung. Die individuellen realen Zeitwerte schwanken um den entwicklungspsychologisch begründeten Idealwert. Solche "Abweichungen von der Altersnorm wurden in der Regel nicht weiter verfolgt" (Trautner 1978, 21). Aber nicht nur 203

der ideale Zeitwert, auch der damit theoretisch ausgedrückte Entwicklungszustand ist eine Abstraktion von der Wirklichkeit individueller Entwicklung. "Schulreife" als solche gibt es nicht. Eine Theorie dieser Art fixiert nur das, worin sich alle Lebensläufe gleichen. Das, worin sich schulreife Kinder voneinander unterscheiden, erscheint aus der Perspektive solcher Theorie als unwesentlich, als "Marotte", als individuelle Eigenart, die ohne jede Bedeutung ist wie die Haarfarbe. Reale individuelle Entwicklungsprozesse lassen sich in bezug auf einen solchen Maßstab immer nur als Entwicklung in Richtung auf ein qua Ideal vorgegebenes Ziel erfassen und bewerten. Alle Erscheinungen, die in bezug auf dieses Schema keinen Sinn haben, fallen als "empirischer Rest" durch die Maschen. Die verschiedensten Lebens- und Entwicklungsweisen erscheinen so als bloße Variante eines immer schon bekannten Folgeschemas. Die ünterschiedenheit der realen Prozesse individueller Entwicklung bleibt dabei unerklärbar. Sofern im einzelnen Lebenszusammenhang etwas Neues entsteht, das für das Individuum oder sogar allgemein von Bedeutung ist oder werden kann, dann ist es aus dieser Sicht gar nicht wahrnehmbar. Mit dieser Art von Entwicklungspsychologie wird individuelle Entwicklung auf die Wiederholung von Sukzessionsschemata reduziert. Individuelle Entwicklung als Entstehung von Neuem bleibt ausgeblendet (vgl. Wahlen 1984, 28-30). Und selbst diese reduzierte Perspektive auf individuelle Entwicklung ist unbefriedigend. Denn über den Prozeß, durch den das Individuum von einem Zustand in den anderen übergeht, - über den eigentlichen Entwicklungsprozeß also kann dabei empirisch begründet nichts ausgesagt werden. Der reale Entwicklungsprozeß wird nur stationär abgebildet als Folge von Zuständen, als Kette von Punkten, deren Verbindung untereinander im Dunkeln bleibt.

1 . 2 . Die Formel der positivistischen Entwicklungspsychologie (2) - Fortschritte im Rahmen der positivistischen Orientierung Auf dem Hintergrund der kognitiven Wende (1) wurde auch auf Seiten der positivistischen Entwicklungspsychologie an der bisherigen Formel Kritik geübt. Zwei Punkte wurden hervorgehoben: Durch den alleinigen Bezug auf das Lebensalter würden die individuellen Unterschiede von Gleichaltrigen 204

vernachlässigt. Außerdem werde der Entwicklungsprozeß selbst durch diesen Bezug nicht erklärt. Das Alter sei keine psychologische, sondern eine physikalische Größe. Es sei eine Dimension, auf der die eigentlichen Entwicklungsdeterminanten zur Auswirkung kommen. Es stehe für die tatsächlichen Wirkgrößen, für das "universe of antecedent conditions associated with age" (Baltes & Goulet 1970, 11; vgl. Trautner 1978, 21 f f . ) . Eine neue Formel wurde 1970 von Baltes und Goulet vorgelegt: C R = f (H,E a, E r ) . Eine Verhaltensänderung (C = change respons^ ist Bach dieser Formel eine Funktion von Bedingungen des ererbten inneren Milieus (H = heredity), vergangenen Umweltbedingungen (E a = past environment events) und gegenwärtigen UmweltlJedingungen ( E p r = present environment events) (vgl. Baltes & Goulet 1970, 11). In dieser Formel geht es nicht mehr nur um die Fixierung von durchschnittlich gegebenen Entwicklungszuständen, sondern auch um ihre (experimentelle) Herstellung, ihre Erzeugung. Es ist der Versuch der positivistischen Entwicklungspsychologie mit diesem "developmental paradigm" (Baltes & Goulet 1970, 11) den Entwicklungsprozeß selbst empirisch zugänglich zu machen, den Übergang von einem Stadium zum anderen in den Griff zu bekommen. Durch die Anwendung bestimmter empirischer Verfahren - z . B . Lernexperimente, Trainingsprogramme - , anhand welcher die Individuen bei gegebenen inneren Voraussetzungen bestimmten Bedingungsfolgen ausgesetzt werden, sollten bestimmte Merkmalsänderungen erzielt werden. An die Stelle bisheriger Verfahren "tritt somit die Manipulation und Simulation der Entwicklung im Experiment" (Trautner 1978, 30 f ) . Eine Theorie auf solcher Basis ermöglicht entwicklungspsychologische Aussagen folgender Art: Wenn Hans bestimmte, zu diagnostizierende innere Voraussetzungen mitbringt und schulvorbereitenden Anforderungen ausgesetzt wird, dann wird er mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit schulreif. Die Aussage zeigt, daß die Probleme der alten Formel nicht gelöst, sondern nur verschoben sind. Das mögliche Resultat von empirischen Untersuchungen, die sich an dieser neuen Gleichung orientieren, ist eine Entwicklungsreihe, die in bezug auf gegebene Bedingungen das Gemeinsame wirklicher Entwicklungsprozesse hervorhebt. Die Verschiedenheit von Individuen, die gleichen Bedingungen unterliegen, bleibt hier ebenso ungeklärt, wie der reale Entwicklungsprozeß, der Übergang von einem Zustand zum anderen ausgeklammert wird. Benannt werden lediglich die äußeren Bedingungen, 205

unter denen Entwicklung stattfindet und deren zeitliche Beziehung zueinander. Im Vergleich zur alten Formel ist dies eine Präzisierung, keine grundlegende Veränderung. Auch in den empirischen Untersuchungen, die der alten Formel folgten, konnte man einen Entwicklungszustand wie "Schulreife" bei den Individuen nur feststellen, wenn man sie entsprechenden Bedingungen - schulähnlichen Anforderungen - aussetzte bzw. ihren Bezug auf solche untersuchte. Den Bezug auf die Bedingungen in die Formel aufzunehmen, ist insofern eine Klarstellung, eine Bewußt werdung des schon vorher realisierten wissenschaftlichen Verfahrens. Dabei bleibt die Zeit das wesentliche Merkmal, durch das die Entwicklung des Psychischen zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Rede von einer Verhaltensänderung (CR) impliziert eine Folge von Entwicklungszuständen, ein vorher - nachher. Die Folge von Entwicklungszuständen wird hier als Funktion der zeitlichen Folge von äußeren Bedingungen (past-present) angesehen, welche zusammen mit bestimmten inneren Bedingungen auftreten. Insofern ist die Zeit als Ordnungsrelation auch in dieser Definition enthalten. Damit läßt sich immer auch ein Zeitmaß bilden. Das dieser Definition entsprechende Zeitmaß wäre die durchschnittliche Lernbzw. Trainingszeit, die gebraucht wird, bis ein bestimmtes Resultat erzielt ist, ein Maß, das sich wiederum in bezug auf das Lebensalter verrechnen läßt.(2) Dennoch läßt sich die neue Formel nicht lediglich als Präzisierung der alten Formel beschreiben. Die Bewußtwerdung der Bedingungen des alten Verfahrens erweiterte zugleich die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Einflußnahme auf den Untersuchungsgegenstand und damit die Erkenntnismöglichkeiten. Von der bloßen Feststellung zur Erzeugung von Entwicklungszuständen wird dadurch übergegangen, daß die Bedingungen, die die Fixierung ermöglichen, durch gezielten Einsatz zu "Trainingsbedingungen" werden. Lernund Trainingskonzepte sind das wissenschaftliche Resultat dieses Fortschritts im Rahmen der positivistischen Orientierung. Damit ist jedoch der wirkliche Prozeß individueller Entwicklung noch nicht erfaßt.(3)

1 . 3 . Die Negation individueller Entwicklung durch die funktionale Definition Die positivistische Formel selbst ist eine Negation individueller Entwicklung in theoretischer und empirisch-praktischer Hin206

sicht. Menschliches Verhalten und seine Veränderung werden als von Bedingungen abhängige Funktion definiert. Menschen gelten demzufolge bloß als ihren Bedingungen unterworfen, durch welche "ihre Aktivitäten nach Art von zentralen Tendenzen innerhalb von Zufallsprozessen beeinflußt" (Holzkamp 1983, 524) werden. Das, was als individuelle Entwicklung imponiert, erweist sich aus dieser Perspektive als bloße Wirkung von inneren und äußeren Bedingungen. Reifung und Lernen als Prozesse, bei denen schon zu Beginn feststeht, was herauskommt, werden demgemäß auch als die wesentlichen Prozesse benannt, welche Bedingungen und Aktivitäten vermitteln (vgl. Baltes & Goulet 1970, 11). Der theoretischen Fassung entspricht das Untersuchungsverfahren. Im unmittelbaren Bezug auf die gegebenen bzw. gesetzten und variierten Bedingungen wird menschliches Verhalten erfaßt und bewertet. Die so gewonnenen Daten, die die Ausgangsbasis für die statistische Verallgemeinerung darstellen, beruhen auf dem empirisch-praktischen Ausschluß von Entwicklung. Im Interesse der Gewinnung statistisch verarbeitbarer Daten muß die Situation, unter der sie erhoben werden, so gestaltet werden, daß die Individuen eindeutige und vergleichbare Reaktionen produzieren. Die gesetzten Bedingungen dürfen somit keine Handlungsmöglichkeiten darstellen, die die Individuen gemäß ihren Notwendigkeiten wahrnehmen, sondern sie müssen im Interesse der Vergleichbarkeit und empirischen Verallgemeinerung von den Menschen unbeeinflußbare Wirkgrößen bleiben. In diesem Sinne muß in der empirischen Untersuchung individuelle Entwicklung geradezu verhindert werden, da sonst die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung gefährdet, die Objektivität verletzt ist, die Bemühungen um Vorhersagbarkeit unterlaufen werden. Festgestellt wird, was unmittelbar an Fähigkeiten und Reaktionen gegeben ist bzw. was nach Abfolge eines Trainings gegeben ist. Die bei der Variation von Bedingungen jeweils resultierenden Effekte in ihrer Abfolge sind die Basisdaten für die statistische Verallgemeinerung. Das durch die funktionale Definition von Entwicklung implizierte Verfahren positivistischer Theoriebildung auf dem Weg der experimentell-statistischen Verallgemeinerung schließt individuelle Entwicklung aus. Zu den gleichen Ergebnissen scheint Karl Wahlen in seiner Analyse der positivistischen Entwicklungspsychologie zu kommen, wenn er das Scheitern auf den physikalischen Zeitbegriff zurückführt, der sowohl in die alte Formel von Kessen als auch in die neue Formel von Baltes & Goulet eingehe. 207

"... das chronologische Alter einer Person (ist) nichts anderes als die seit ihrer Geburt verstrichene, an Chronometern abgelesene Zeit. Die chronometrische Zeit aber ist ein Parameter, dessen Definition eine Bezugnahme auf die regelmäßige Wiederkehr von Ereignissen impliziert, die bestimmte physikalische Kontinua strukturieren. Unter dem Gesichtspunkt der in solchen Kontinua herrschenden kausal-deterministischen Notwendigkeit und naturgesetzlichen Wiederholung des Gleichen müssen zwangsläufig auch die Verhaltensänderungen von Personen betrachtet werden, sobald man sie in Abhängigkeit vom chronologischen Alter s e t z t . " (Wahlen 1984, 24 f ) . Die mit dem physikalischen Zeitbegriff verbundene antigenetische Sicht auf Entwicklung gründe im positivistischen Wissenschaftsverständnis, wonach Wissenschaft sich an der Fähigkeit erweise, Prognosen aufzustellen. "Prognosen . . . sind nur in dem Maße möglich, wie ein gegenwärtiges Sukzessionsschema (von Ursache und Wirkung) ein früheres Sukzessionsschema reproduziert. In dem Maße, in dem dies der Fall ist, muß freilich das, was zunächst als etwas Neues erscheint, als bloße Wiederholung von Vergangenem, als Variation von schon Bekanntem interpretiert werden." (Wahlen 1984, 30) Das Interesse an der Vorhersagbarkeit individuellen Verhaltens führe theoretisch und praktisch dazu, Unvorhersehbares, Neues auszuschließen. Ganz im Gegensatz dazu stehe das Kriterium, an dem Piaget seine Forschung messe: Eine psychologische Untersuchung ist nach Piaget " . . . als gescheitert anzusehen, wenn sie zu dem geführt hat, was man schon vorher annehmen oder ableiten konnte, und als gelungen, wenn ihre Ergebnisse einen mehr oder weniger großen Teil an Unvorhergesehenem enthalten." (Piaget & Inhelder 1979, 459, zit. nach Wahlen 1984, 29) Die in dem Urteil von Karl Wahlen enthaltene prinzipielle Entgegensetzung von Prognose und Neuem veranlaßte mich, seine Analyse unter meinen Prämissen zu wiederholen (vgl. Abschnitt 3 Erkenntnisbedingungen individueller Entwicklung). Schon früher lassen sich bei Piaget negative Urteile über das bedingungsanalytische Untersuchungsverfahren finden. Im Zusammenhang mit der Begründung seines empirischen Vorgehens stellt er fest: "Wenn man dem Kind Fragen vorlegt, die von vornherein in einer ne-varietur-Form (unveränderbaren Form-BG) vorbereitet sind, wie in einer Testbatterie, so versteht es sich von selbst, daß die erhaltenen Antworten durch die Fragen 208

selbst begrenzt sind, ohne die Möglichkeit aus einem solchen Rahmen herauszukommen. Eine solche Methode bedeutet also zugleich, daß man im voraus weiß, was man von dem Kind zu erhalten wünscht und daß man sich für fähig hält, die erhaltenen Antworten zu interpretieren. - Es handelt sich also darum, das mechanische Spiel einförmiger Fragen und entwicklungsloser Antworten zu ersetzen durch eine Unterhaltung, die so frei sein sollte wie irgend möglich... die es dem Kind ermöglichen sollte, sich zu erklären ( . . . ) und die es vor allem dem Psychologen ermöglichen sollte, etwas zu entdecken, was er zu Beginn nicht vermutet hätte. f t (Piaget & Inhelder 1975, 19 f ) Individuelle Entwicklung ist damit, wie diese Kritik Piagets verdeutlicht, "ein methodologisches Problem, weil das bisher in der main-stream-Psychologie entwickelte Untersuchungsmodell - einschließlich seiner Kriterien für wissenschaftliche Objektivität - in doppelter Hinsicht auf dem Ausschluß von Entwicklung beruht" (Grüter 1984, 1 ) : Mit der Entwicklung der Individuen negiert es zugleich die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis. In bezug auf beide Prozesse beschränkt es sich auf die Fixierung, auf die Bestätigung des Gegebenen. Damit ist die Frage nach einem Untersuchungsmodell aufgeworfen, welches individuelle Entwicklung in Einheit mit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung realisieren und begreifen läßt. Piaget beansprucht, mit der Theorie der Äquilibration kognitiver Strukturen den Mechanismus bestimmt zu haben, der die Erhaltung und zugleich fortlaufende Erneuerung des kognitiven Systems gewährleisten soll, über das die Individuen verfügen. Seine Theorie soll also kognitive Entwicklung als Entstehung von Neuem begreifbar machen (vgl. Wahlen 1984, 35-38). Wenn die positivistischen Objektivitätskriterien individuelle Entwicklung ausschließen, dann ist zu fragen, woran sich die Objektivität der Theorie Piagets erweist, worin ihr empirisches Fundament besteht, ob und gegebenenfalls auf welche Weise es ihm gelingt, individuelle Entwicklung empirisch-praktisch zur Erscheinung zu bringen (vgl. e b d . , 39-43).

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2. Individuelle Entwicklung als Erkenntnisbedingung 2.1. Individuelle Entwicklung als Bedingung der genetischen Theoriebildung Eine Bestimmung der methodologischen Prinzipien Piagets beginnt zweckmäßigerweise mit der Klärung dessen, was Piaget in seinen empirischen Untersuchungen macht: Piaget konfrontiert Kinder mit kognitiven Problemstellungen in empirisch-gegenständlicher Form. Ausgehend von ihren spontanen Erkenntnishandlungen versucht er, die Kinder in der Realisierung ihrer Urteile mit empirischen Widerständigkeiten zu konfrontieren und ihnen so die Bewußtwerdung ihrer Erkenntnishandlungen zu ermöglichen. Dieses Verfahren dient ihm selbst dazu, die jeweilige kognitive Struktur aufzudecken. Ein Vergleich mit dem positivistischen Verfahren zeigt, daß die Bedingungen in den Untersuchungen Piagets nicht mehr als unbeeinflußbare Wirkgrößen, sondern als gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten fungieren. Die Wissenschaftlichkeit der empirischen Arbeit Piagets ist davon abhängig, daß die Kinder die Bedingungen als Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen. Tun sie dies nicht, dann gilt die Untersuchung als gescheitert bzw. dann werden die Bedingungen so geändert, daß sie es können. Entsprechend werden auch nicht die unmittelbaren Reaktionen, die resultierenden Effekte der Bedingungen im kindlichen Handeln erfaßt und bewertet und zur Basis der statistischen Verallgemeinerung gemacht. Die Bestimmung des Erkenntnisvermögens der Kinder erfolgt vielmehr in der Weise, daß die Unmittelbarkeit der Situation zu überwinden gesucht wird. Die Kinder werden zur Realisierung ihrer Urteile veranlaßt. Die Konfrontation mit wechselnden Erscheinungsformen des kognitiven Problems soll ihnen die Bewußtwerdung ihrer Erkenntnishandlungen ermöglichen. Erst die über verschiedene Situationen hinweg sich bildende/ zeigende konsistente Struktur ihrer Handlungen wird als genetische Realisierungsform gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten bestimmt. Die Verschiedenheit der Fälle wird hier nicht wie bei der statistischen Verallgemeinerung in die Varianz abgeschoben. Die Spezifika des Einzelfalls sind hier vielmehr Ausgangspunkt des direkten empirischen Vorgehens und insofern Grundlage der Verallgemeinerung des Verhältnisses von genetischer Realisierungsform und gesellschaftlicher Möglichkeit. Neues entsteht also in und vermittels dieser empirischen Arbeiten Piagets als Differenzierung wis210

senschaftlicher Erkenntnis (Differenzierung von Erkenntnistypen und genetische Differenzierung, ontogenetische und aktualgenetische Abfolgen werden sichtbar) und als individuelle Reproduktion gesellschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten. Mit anderen Worten, methodisch-empirisch wird eine Einheit individueller Entwicklung und wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung realisiert. Es findet in diesen Untersuchungen gemeinsame Entwicklung statt (vgl. Grüter 1984, 3 ) . Während für die positivistische Entwicklungspsychologie Empirie bloß als Verifikationsinstanz erscheint, ist sie für Piaget darüberhinaus ein Forschungsunternehmen. Während das positivistische Verfahren der Theoriebildung individuelle Entwicklung vom Ansatz her negiert, wird sie im genetischen Verfahren als Bedingung der Theoriebildung bejaht und realisiert. In dieser Hinsicht ist das genetische Verfahren der Theoriebildung dem Konzept der MöglichkeitsVerallgemeinerung vergleichbar, wie es von Klaus Holzkamp entwickelt wurde (Holzkamp 1983, Kap. 9 ) .

2.2. Die Grenzen genetischer Theoriebildung Allerdings erfolgt die Entwicklung in den genetischen Untersuchungen Piagets unter bestimmten Grenzen, die durch die systematische, theoretische und methodische Isolation der Erkenntnishandlungen von der Lebenswirklichkeit der Kinder (und des Wissenschaftlers) gegeben sind. Das bedeutet: individuelle Entwicklung findet zwar statt, bleibt aber aufgrund dieser Grenzen unbegreifbar. Die Bedingungen in der positivistischen Theoriebildung sind unbeeinflußbare Wirkgrößen - sie negieren individuelle Entwicklung. Die Bedingungen in der genetischen Theoriebildung sind veränderbar - sie ermöglichen individuelle Entwicklung. Aber die Handlungsmöglichkeiten der Individuen unter diesen Bedingungen sind begrenzt. Die Bedingungen in den Untersuchungen Piagets sind nur in einem bestimmten Rahmen zu verändern. Sie sind veränderbar als empirische Repräsentanten eines gegebenen Begriffs. Indem Piaget die durch die Bedingungen repräsentierten Erkenntnismöglichkeiten - in ihrer Trennung vom individuellen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhang - als unveränderbar voraussetzt, negiert seine Methode individuelle Entwicklung. Soweit individuelle Entwicklung in den Untersuchungen Piagets stattfindet, findet sie im Rahmen der gegebenen Erkenntnisbedingungen statt. Die von mir vorgetragene Auffassung, daß die empiri211

sehen Arbeiten Piagets individuelle Entwicklung zur Bedingung haben, schien auf dem Kongreß umstritten zu sein. Christiane Schmid-Schönbein, die mit Thomas Thiel das Projekt "Der Aufbau kognitiver Strukturen als Äquilibrationsprozeß" vertrat, führte aus: "Diese Empirie (von Piaget - BG) ist sozusagen 'einstufig 1 - nicht wirklich 'prozessual 1 . Piaget hat jeweils einzelne Individuen in jeweils einer Problemsituation einmal untersucht. Auf der Grundlage eines bereits erfolgten oder gerade erfolgenden Verhaltens wird das aktuelle Erkenntnisniveau der verschieden weit entwickelten Individuen rekonstruiert und dann der Erkenntnisprozeß verallgemeinert, als eine durch das Modell bestimmte Abfolge (Sequenz) der einzeln und unabhängig voneinander ermittelten verschiedenen Erkenntnis/ Interaktions-Niveaus dargestellt" (Schmidt-Schönbein 1984, 2).

Ebenso stellten Mariane Hedegaard und Yrjö Engeström im Zusammenhang mit der Begründung ihrer empirischen Herangehensweise fest, daß Piaget nur die jeweils "aktuell gegebenen Erkenntnisfähigkeiten des Kindes" (Hedegaard & Engeström 1984, engl. Fassung S. 2, übersetzt durch BG, vgl. dt. Fassung, S . 2) (4) erfaßt. Die Urteile über den antigenetischen Charakter der Empirie Piagets heben m.E. die Grenzen hervor, innerhalb derer individuelle Entwicklung in den Untersuchungen Piagets zugelassen wird. Die Feststellung der Begrenzung darf aber nicht dazu führen, daß der methodologisch bedeutsame Unterschied der genetischen zur positivistischen Theoriebildung außer acht gelassen wird. Christiane Schmid-Schönbein führte die methodisch-empirische Beschränkung der Arbeiten Piagets darauf zurück, daß er die Erkenntnisentwicklung isoliert von der Entwicklung des Verhaltens untersucht habe. "Nach Piaget entsteht 'Neues', d . h . neue Erkenntnis, dadurch, daß sich ein Subjekt mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Die Auseinandersetzung mit der Umwelt ist zunächst ( d . h . am Anfang der Entwicklung oder am Anfang eines spezifischen Erkenntnisprozesses) als aktive Manipulation der Objekte der Realität (als Transformation der Objekte durch eigene Tätigkeit) zu verstehen. Dieser Kontext wird in einer charakteristischen Weise von Piaget als empirische Grundlage für seine theoretischen Aussagen über kognitive Prozesse verwendet. Piagets Anliegen ist es vor allem, das Entstehen neuer Erkenntnis - die Konstruktion kognitiver Strukturen durch das Subjekt - ausgehend von bereits erfolgtem Verhalten gegenüber den Objekten der Realität 212

zu erklären. Erkenntnisentwieklung ist der Übergang vom e r folgreichen Verhalten ('reussir', 'savoir-faire') zum Verstehen des Handlungszusammenhangs ('comprendre', 'savoir'). Cellerier (1979) bezeichnet dies als die Transformation epistemique'. Erkenntnis wird möglich auf der Grundlage von Verhalten, dadurch, daß das Subjekt die an den Objekten erkennbaren Resultate seiner eigenen Tätigkeit mit der Tätigkeit selbst in Beziehung setzt und aus dieser Bezugsetzung sowohl Folgerungen über die Art (Effektivität) seiner durchgeführten Tätigkeit als auch über die Qualität (Merkmale) der Objekte a b l e i t e t " . . . "Wie das (Problemlösungs-) Verhalten selbst entsteht - z . B . als Anwendung bereits erworbenen Wissens (nach Cellerier 1979, die Transformation pragmatique') oder als tastende Versuche der praktischen Zielerreichung - wurde von Piaget empirisch sehr viel weniger untersucht und im Äquilibrationsmodell nicht konzeptualisiert. Das heißt, das Modell gibt nur in allgemeiner Form an, durch welche Art von Bezugsetzung zwischen Tätigkeitsaspekten und Reaktionen der Objekte auf die Tätigkeit welche Art von Erkenntnis prinzipiell konstruierbar wird, es macht jedoch keine Aussagen über den konkreten Verlauf einzelner Erkenntnisprozesse; d . h . es enthält keine Angaben darüber, wie ein einzelnes Individuum seine Tätigkeiten in der Auseinandersetzung mit den Objekten der Realität organisiert, wie es diesen Prozeß in sukzessiven Schritten aufbaut und durchführt. - Dem theoretischen Modell entspricht die von Piaget . . . geschaffene Empirie... Diese Empirie ist sozusagen 'einstufig* - nicht 'wirklich prozessual"' (Christiane SchmidSchönbein 1984, 1 f . ) . Für Jens Brockmeier (5) besteht das Problem der Äquilibrationstheorie von Jean Piaget darin, daß Piaget Erkenntnisentwicklung "endogenistisch" (a) bestimmt, als einen Prozeß, der sich in Rekurs auf sich selbst entwickelt. Denn Piaget erkläre die Entwicklung neuer kognitiver Strukturen durch einen autoregulativen, internen Reflexionsmechanismus, die reflektierende Abstraktion auf die Handlungsstruktur, für die die empirische Abstraktion von den Objekten der Handlung ohne Belang sei. Dementsprechend habe Erkenntnisentwicklung bei Piaget eine "teleologische Struktur" (b). Das Ziel sei vorgegeben. Entwicklung bestehe in der Einholung dieses vorgegebenen Zustandes. Entscheidend sei schließlich, daß Piaget Erkenntnisentwicklung als "genuin geistigen" ( c ) Prozeß begreife. Die praktische Auseinandersetzung sei für Piaget keine Grundlage der Entwicklung. Demgegenüber ermöglichen die Kategorien der Kritischen Psychologie kognitive Entwicklung als ein Moment im Gesamtprozeß der Ausein213

andersetzung des Kindes mit seiner gegenständlich-sozialen Umwelt zu begreifen. Die Verankerung der kognitiven Prozesse - in ihrer Dynamik - im Gesamtprozeß der kindlichen Umwelt-Auseinandersetzung ermögliche im Unterschied zum "epistemischen Subjekt" bei Piaget vom "konkret-psyehologischen Subjekt" auszugehen. Kognitive Entwicklung als ein Aspekt der Entwicklung von Handlungsfähigkeit sei so in ihrem Zusammenhang zu den anderen Funktionsaspekten des Psychischen und unter Berücksichtigung ihrer materiellen Bedingungen zu begreifen. Neues entstehe aus den Widersprüchen dieses übergreifenden Kind-Welt-Zusammenhangs. Hendrik Bullens (6) wies darauf hin, daß die "inhaltlich bedeutungsvollen Relationen" zwischen den Begriffen von der Genfer Schule nicht untersucht worden seien. Woher die Inhalte des Denkens kommen, sei für Piaget nicht von Interesse gewesen. Unter Bezug auf Fillmore führte Hendrik Bullens aus, daß Bedeutungen aus der Ausdifferenzierung von Rollen entstehen, welche Objekte und Menschen im Handlungszusammenhang einnehmen. Die Grundlage individueller Entwicklung sei der gegenständlich-soziale Handlungszusammenhang des Individuums. Die wechselseitige Beziehung des Individuums auf andere Subjekte und auf das gegenständliche Objekt seien die Pole eines jeden Handlungszusammenhangs, die auch in jeder empirischen Untersuchung von Entwicklungsprozessen repräsentiert sein müßten. Mariane Hedegaard und Yrjö Engeström warnten vor einem Konzept, in dem der Entwicklungszusammenhang des Individuums nur "situational", seine Gesellschaftlichkeit nur "sozial" verstanden werde. Auszugehen sei vielmehr von der "gesellschaftlichen Tätigkeit". Grundlage für Piaget sei die unvermittelte Subjekt-Objekt-Interaktion. Daraus resultiere die Zweiteilung der Erkenntnis in empirische, objektbezogene, und logisch-mathematische, handlungs- bzw. subjektbezogene Erkenntnis sowie die entsprechende Zweiteilung der Methoden in klinisches Interview, das auf die Erfassung des empirischen Wissens gerichtet sei, und Experiment, das der Untersuchung der Handlung diene (vgl. Hedegaard & Engeström 1984, engl. Fassung, 2 f ; dt. Fassung 2 ) . Aufgrund der unvermittelten Subjekt-Objekt-Beziehung könne Piaget nur die "Widerstände . . . zwischen Subjekt und Objekt" konstatieren (engl. Fassung, Anhang, figure 2; dt. Fassung, S . 3), aber nicht die "Widersprüche innerhalb des sich bewegenden Objekts" ( e b d . ) seiner Untersuchung, dem vermittelten Subjekt-Objekt-Zusammenhang. Piaget abstrahiere von den "kulturhistorische(n), überindividuelle(n) Mittel(n)" 214

der Tätigkeit ( e b d . ) , die Subjekt und Objekt zusammenschließen. Die "Bildung von neuen Formen und Strukturen der Tätigkeit" (engl. Fassung, Anhang, figure 3; dt. Fassung, S. 4) und der Erkenntnis sei daher "niemals nur eine individuelle Erscheinung" ( e b d . ) . "Mittel und Gegenstände (der Tätigkeit - BG) haben (eine - BG) eigene gesellschaftliche Selbstbewegung" ( e b d . ) . Für die Untersuchung von Erkenntnisentwicklung werde daher eine Methode benötigt, die "die qualitative Änderung und die historische Entwicklung der individuellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit" (engl. Fassung, S. 2; dt. Fassung, S. 3 f . ) erfaßt (vgl. Brockmeier 1983). Die Teilnehmer der AG kamen, wie aus den vorangehenden Ausführungen zu ersehen ist, zu ähnlichen Feststellungen über die Grenzen der Theoriebildung Piagets: Die Isolation der Erkenntnishandlungen von der individuellen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit wird auch als Trennung der Erkenntnisentwicklung von der Entwicklung des Verhaltens (Christiane Schmid-Schönbein), als Abgrenzung der Erkenntnis von der gegenständlich-sozialen Kind-UmweltAuseinandersetzung (Jens Brockmeier) bzw. vom gegenständlich-sozialen Bedeutungszusammenhang kindlichen Handelns (Hendrik Bullens) und als Abstraktion von der gesellschaftlichen Vermitteltheit der Subjekt-Objekt-Beziehung (Mariane Hedegaard und Yrjö Engeström) gekennzeichnet. Die Übereinstimmung und die Unterschiede der mit diesen Feststellungen verbundenen Positionen werden deutlicher, wenn man auch die Konzeptionen zur Kenntnis nimmt, mittels derer die Grenzen Piagets überwunden werden sollen (vgl. Teil 3 ) . Der Unterschied von genetischer und kritisch-psychologischer Theoriebildung besteht darin, daß für die Kritische Psychologie die Lebenswirklichkeit der Betroffenen Ausgangspunkt und Grundlage der Theoriebildung ist. Präziser: Ausgangspunkt und Grundlage der Erkenntnisgewinnung für die Kritische Psychologie ist ein Zusammenwirken mit den Betroffenen, welches die Erhaltung der individuellen Handlungsfähigkeit als ein Kriterium hat. Das bedeutet, den individuellen Lebenszusammenhang in seinen wesentlichen Dimensionen zu berücksichtigen. Zu den Bedingungen der Theoriebildung gehören damit die Lebensbedingungen der Betroffenen. Ausgangspunkt und Grundlage der genetischen Theoriebildung ist eine bestimmte Handlungskonstellation (bzw. ein entsprechendes Zusammenwirken mit den Kindern). Zu den Bedingungen der Theoriebildung Piagets gehören wissenschaftliche Grundbegriffe und ihre empirischen Repräsentanten, d . h . hervorgehobene Teilmomente der Lebenswirklich215

keit. Solange der Zusammenhang dieser Teilmomente zur Lebenswirklichkeit theoretisch ausgeblendet und methodisch nicht berücksichtigt wird, solange bleibt individuelle Entwicklung unbegreifbar. Mit der Benennung dieses Unterschieds ist jedoch das Entwicklungsproblem methodologisch noch nicht gelöst.

2 . 3 . Negation individueller Entwicklung durch Zeitmessung als allgemeines Problem psychologischer Erkenntnisgewinnung Unschwer lassen sich theoretische Aussagen sowohl der genetischen als auch der Kritischen Psychologie in der Form der einleitend kritisierten positivistischen Aussagen aufstellen. Der Gegensatz zwischen idealem Lebenslauf und realem Entwicklungsprozeß, der im Zusammenhang mit den lebensalterbezogenen Entwicklungsreihen der alten positivistischen Formel als Negation von individueller Entwicklung charakterisiert wurde, existiert auch für die genetische und die Kritische Psychologie. Das Resultat der genetischen Studien Piagets sind ideale Entwicklungssequenzen, eine Abfolge von genetischen Vorstufen, Entwicklungszuständen, bis hin zur angemessenen Realisierung des jeweils gegebenen Begriffs. Die Theorie über den Entwicklungsmechanismus wird dadurch gebildet, daß die detailliert unterschiedenen Sequenzen zueinander in Bezug gesetzt werden. Kritisch-psychologische Theoriebildung ist auf die Ausgliederung und Bestimmung von Möglichkeitstypen (Verhältnisse von typischen Realisierungsformen und Handlungsmöglichkeiten) bzw. auf deren Verallgemeinerung gerichtet. (7) Die Verschiedenheiten der Individuen, die sich diesen Möglichkeitstypen subsumieren, werden als subjektiv notwendige Varianten des Typs begriffen, die in jeweils besonderen Lebensbedingungen begründet sind. In bezug auf die Möglichkeitstypen bzw. in bezug auf untergeordnete Bedeutungseinheiten - könnten mittels der kategoriellen Unterscheidung von Entwicklungszügen genetische Vorformen von Handlungsfähigkeit bestimmt werden. Das Resultat solcher empirischer Untersuchungen wäre eine typische, also auch ideale Entwicklungssequenz, eine Abfolge von genetischen Formen bis hin zur gesamtgesellschaftlich vermittelten Handlungsfähigkeit im Rahmen des jeweiligen Möglichkeitstyps. Reale Entwicklungsprozesse in ihrer Verschiedenheit wären in besonderen Lebensbedingungen begrün216

dete Variationen dieses Ideals. Der Unterschied der Kritischpsychologischen zur genetischen Theoriebildung kommt also zunächst nur dadurch zur Geltung, daß durch den Bezug auf den individuellen Lebenszusammenhang die jeweils besonderen Lebensbedingungen in den Blick geraten. Die genetische Theorie Piagets ist in dieser Hinsicht gleichgültig gegenüber den Besonderheiten der Individuen. In den genetischen Untersuchungen werden die Individuen in bezug auf gleiche Bedingungen tätig. Ihre Verschiedenheit ist daher auch nur in bezug auf diese gleichen Bedingungen erfahrbar und methodisch zu berücksichtigen. Sie wird als gegebener Fakt realisiert, aber sie ist nicht begründbar, da die besonderen Lebensbedingungen der Individuen außerhalb des Untersuchungszusammenhangs liegen. Wenn die kritisch-psychologische Verallgemeinerung die Verschiedenheit der Individuen insofern berücksichtigt, so ist damit das Entwicklungsproblem noch nicht gelöst. Eine Theorie der typischen Entwicklungszüge im Rahmen eines gegebenen Möglichkeitstyps mit ihren individuellen Variationen fixiert nach wie vor nur eine Abfolge von Entwicklungszuständen. Die Entwicklungsrichtung, d . h . die Ordnung der Entwicklungssequenzen, wird in der genetischen wie auch in der Kritischen Psychologie durch die zeitliche Ordnungsrelation ausgedrückt, in bezug auf welche sich auch immer ein quantitatives Maß bilden läßt. Befremdet über solche Feststellungen kann nur jemand sein, der meint, Zeitmessung - und damit das Ideal, der Maßstab - sei eine spezifisch bürgerliche Erscheinungsform und deswegen des Teufels. Richtig ist daran nur, daß durch solche Abstraktion Entwicklung negiert wird, daß sie also nicht die einzige Erkenntnisbewegung sein kann, wenn Entwicklung selbst begreifbar sein soll. Der Übergang von einem Entwicklungszustand zu einem anderen und das Problem der Entstehung von Neuem ist also mit den bisher dargestellten Erkenntnismitteln noch nicht begreifbar. Die Negation von Entwicklung durch Idealisierung, durch Abstraktion, gilt auf dieser Ebene für die genetische und die Kritische Psychologie genauso wie für die positivistische Psychologie. Allerdings bestehen Unterschiede in der Art und Weise, wie das Ideal gewonnen wird und damit auch in der Reflexion des Gegensatzes von Allgemeinem und Einzelnem. In der positivistischen Entwicklungspsychologie wird der Gegensatz von Allgemeinem und Einzelnem theoretisch-methodisch zugunsten der Herrschaft des Allgemeinen gelöst. Das positivistische Ideal ist das der Herrschaft des Allgemeinen unterworfene Individuum. Das genetische Ideal ist dem217

gegenüber das die Herrschaft das Allgemeinen erhaltende Individuum. Das kritisch-psychologische Ideal schließlich das die Herrschaft des Allgemeinen - in seinem Unterschied erhaltende Individuum. Diese Differenzen heben jedoch das Problem noch nicht auf, daß individuelle Entwicklung als Bedingung der Theoriebildung von genetischer und kritischer Psychologie zwar bejaht, aber im Resultat - vom Standpunkt der gebildeten Theorie - ebenso negiert wird wie von der positivistischen Entwicklungspsychologie.

3. Erkenntnisbedingungen individueller Entwicklung Wissenschaftliche Abstraktion selbst, ob experimentell-statistischer, ob genetischer oder kritisch-psychologischer Art, führt im Resultat zur Negation individueller Entwicklung. Damit stellt sich die Frage, ob Entwicklung überhaupt wissenschaftlich begreifbar ist, denn die Bildung von Allgemeinaussagen gehört unbestreitbar zum Geschäft der Wissenschaft.

3 . 1 . Zeitmessung als Bedingung individueller Entwicklung und ihrer Erkenntnis Einer Lösung kommt man dann näher, wenn man berücksichtigt, daß es in jedem Erkenntnisprozeß zwei Momente gibt: die Abstraktion, d . h . die Feststellung, die Fixierung von Möglichkeiten, und die Konkretion, d . h . die Realisierung der erkannten Möglichkeiten, welche immer auch eine Veränderung der Erkenntnisbedingungen und damit der Möglichkeiten ist. Die Theoriebildung, von der bisher die Rede war, betraf das Moment der Abstraktion, den Übergang von der Wirklichkeit zur Möglichkeit. Es ging um analytische Theoriebildung. Entwicklungstheorie, dialektische Theorie, betrifft das zweite Moment, den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Aus dieser Perspektive ist das Konzept der Möglichkeitsverallgemeinerung nicht nur ein Konzept für die Bildung analytischer Theorie (Möglichkeitstypen unter Berücksichtigung genetischer und individueller Realisierungsbedingungen), sondern auch ein "Entwicklungskonzept". Im ersten Fall dient die Möglichkeitsverallgemeinerung der Ausgliederung und Bestimmung eines Typs, als dessen besondere 218

Form ich mich jeweils begreife. Im zweiten Fall dient die Möglichkeitsverallgemeinerung der Durchsetzung/Realisierung jeweils meiner individuellen Besonderheit mittels des Allgemeinen. Möglichkeitsverallgemeinerung in diesem Sinn ist vor allem eine praktische Bewegung. Es geht dabei um die praktische Verallgemeinerung individueller Besonderheiten, damit um die Veränderung des Typs (qua Veränderung der gegebenen Erkenntnis- bzw. Lebensbedingungen), um die Erweiterung der gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten. Es geht nicht um abstraktive, sondern konkretive Verallgemeinerung. Die Theorie dieser Bewegung ist eine Entwicklungstheorie, eine Theorie, die sich in Einheit mit diesem Prozeß selbst verändert.(8) Das setzt allerdings voraus, Erkenntnis nicht nur als geistigen, sondern vor allem auch als praktischen Prozeß zu verstehen, als einen Prozeß, in dem die Bedingungen der Abstraktion selber hergestellt bzw. verändert werden. Aufhebung der Abstraktion von der Lebenswirklichkeit bedeutet also nicht nur die Verschiedenheit der Individuen in der Weise zu bejahen, daß sie als in besonderen Lebensbedingungen gegründete Variationen eines Typs begriffen werden, sondern bedeutet vor allem auch die Variation, die Veränderung des Typs durch die Individuen, zu begreifen . Kritisch-psychologische Erkenntnisgewinnung erfolgt auf der Grundlage kontrolliert-exemplarischer Praxis mit den Betroffenen, auf der Grundlage des Zusammenwirkens mit den Betroffenen und ihrer Entwicklung im Begreifen ihrer jeweiligen Möglichkeiten und ihrer jeweils besonderen Art und Weise, diese zu realisieren.(9) Der gesellschaftlich ganz gewöhnliche Vorgang des Eintritts eines Kindes in die Schule läßt sich unter diesem Gesichtspunkt (analytischer und dialektischer Erkenntnisgewinnung) betrachten. Die Entscheidung, ein Kind in der Schule anzumelden, impliziert eine Prognose über Entwicklungstendenzen des jeweiligen Kindes auch da, wo - ohne besondere Reflexion nur der Schulpflicht Rechnung getragen wird. Dies erfordert von allen Beteiligten - von den Eltern, von der Schulbehörde, vom Kind selbst - eine Bewertung des Entwicklungsstandes des betreffenden Kindes als "schulreif". Die Entwicklung des Kindes wird unter Bezug auf die gegebenen schulischen Bedingungen mit den Entwicklungsprozessen anderer Kinder verglichen, welche dieses Ideal, den Fall des (potentiellen) Schulkindes, repräsentieren. Das Kind selbst subsumiert sich unter den durch andere Kinder repräsentierten "Fall des werdenden Schulkindes". Es bewertet sich in bezug darauf. 219

Damit wird die Entwicklung des einzelnen Kindes als Zustandsfolge in Richtung auf ein Entwicklungsziel "Schulkind" wahrgenommen. Die Dauer seiner wirklichen Entwicklung wird am Idealwert gemessen. Von seiner wirklichen Entwicklung wird abstrahiert. Die Bewertung individueller Entwicklungsprozesse, die Negation von Entwicklung also, ist nicht nur ein alltäglicher, sondern auch ein notwendiger Vorgang. Sie ist die Bedingung von Entscheidungen für oder gegen bestimmte Maßnahmen. Sie betrifft die Verteilung individueller und gesellschaftlicher Kraft unter qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten. Gerade auch dann, wenn individuelle Entwicklungstendenzen gegen herrschende Bedingungen durchgesetzt werden müssen, ist es notwendig zu wissen, welche Kraft dafür aufgebracht werden muß und welche zur Verfügung steht. Nicht die Bewertung ist das Problem, sondern die Verabsolutierung der Bewertung. Eine typische Form ist die Personalisierung. Wenn das Werturteil über den Entwicklungsstand des Kindes als Ausdruck seiner wahren Fähigkeiten, seiner wirklichen Entwicklung mißdeutet wird. Verabsolutierung von Werturteilen ist ein ganz materieller Vorgang der Ausgrenzung/Selbstausgrenzung von individuellen Besonderheiten, die nicht mit den herrschenden Standards, den Idealen übereinstimmen. Wer allerdings im vermeintlichen Interesse individueller Entwicklung Werturteile als bloßen Ausdruck objektiver Verhältnisse mißdeutet und mit der Ablehnung von Personalisierungen, von Ausgrenzung und Selbstausgrenzung die Ablehnung von Bewertung und Prognose verbindet, der verabsolutiert Bewertungen nur in einer anderen Form und mystifiziert individuelle Entwicklung. Werturteile sind Urteile über die Fähigkeiten von Individuen unter den gegebenen Bedingungen. Die Abweichung eines Kindes vom Ideal-Typ ist immer begründet. Seine wirkliche Entwicklung hat ihre besonderen Bedingungen und ihre eigene Zeit. Kritisch-psychologische Erkenntnisgewinnung beginnt mit der Analyse ( I ) und ggf. Reformulierung, solcher alltäglicher Werturteile und ihrer Begründungen unter der Frage, inwieweit in diesen Urteilen und Prognosen wesentliche Dimensionen des individuellen Lebenszusammenhangs erfaßt bzw. mystifiziert werden (vgl. hierzu Vortrag des Projekts Subjektentwicklung in der frühen Kindheit). Reformulierte Prognosen über Entwicklungstendenzen des Kindes enthalten Annahmen darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen das betreffende Kind in der Lage ist, seine Handlungsfähigkeit beim Eintritt in die Schule zu erhalten. In diese analy220

tische Bestimmung des Einzelfalls gehen Annahmen über Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes ein, was es heißen kann, den gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang Schule zu realisieren (mit allen Implikationen der Unmittelbarkeitsüberschreitung usw.). In dem Maße, wie in der so reformu^ Herten Prognose die wesentlichen individuellen Lebensbezüge aufgehoben sind, wird sie zur Handlungsorientierung ( I I ) . Das Kind realisiert die schulischen Entwicklungsmöglichkeiten in bezug auf seinen Lebenszusammenhang. Das Kind individualisiert in diesem Prozeß die schulischen Bedingungen. Im Prozeß der ünmittelbarkeitsüberschreitung muß es sie zu seinen jeweils besonderen Lebensbedingungen in Beziehung setzen, wenn es seine Handlungsfähigkeit auch unter den neuen Bedingungen erhalten will. Indem das Kind den gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang Schule gemäß seinen Notwendigkeiten, unter seinen Bedingungen nutzt, erhält dieser dadurch eine besondere Färbung, eine besondere Bedeutung. Damit ist schon Neues entstanden, etwas was vorher weder auf der Seite des Kindes noch auf der Seite der Schule noch auf der Seite des Wissenschaftlers existierte und das daher auch nicht prognostizierbar war. Die Realisierung der subjektiven Bedeutung von Schule ist immer auch Veränderung (III) schulischer Bedingungen, Verallgemeinerung von Individualität (und damit schließlich auch Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten) ein widersprüchlicher Prozeß, der immer wieder gegen restriktive Tendenzen der bloßen Erhaltung des Gegebenen und der Negation des individuell Verschiedenen durchgesetzt werden muß. Die Entwicklung des Kindes ist "vorläufig" abgeschlossen, d . h . ein neues Niveau der Tätigkeit erreicht, wenn der Bedeutungszusammenhang Schule zu einer Prämisse des individuellen Lebenszusammenhangs geworden ist. Der vorläufige Abschluß des Entwicklungsprozesses kann als Bestätigung des vorausgesetzten Möglichkeitstyps (einschließlich der damit gegebenen Entwicklungssequenz und der damit ermöglichten Prognose) gewertet bzw. unter dem Gesichtspunkt der Präzisierung des Typs untersucht werden. Die Erkenntnismittel des Wissenschaftlers blieben bei dieser erneuten Analyse ( I f ) allerdings im Prinzip unverändert. (Zur analytischen Theoriebildung i . d . S . Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit, 1984). Theoretische Konkretion ( I V ) , Bildung von Entwicklungstheorie heißt, den Übergang zum "Schulkind" aus den Prämissen des alten Lebenszusammenhangs des betreffenden Kindes so zu erklären, daß die Erhaltung der Handlungsfähigkeit auch unter den Bedingungen der Schule verständlich wird. Dies impliziert eine 221

Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnismittel durch Reflexion. Die zentrale Kategorie dieser Theoriebildung ist die Kategorie der "gesellschaftlichen Tätigkeit" (als Moment gesellschaftlicher und hier wissenschaftlicher Arbeit). Die Prämissen des Kindes sind die Mittel, mit Hilfe derer es den neuen Bedeutungszusammenhang realisiert. Der Übergang zu dem neuen Niveau der Tätigkeit müßte sich dabei mit den kategoriell unterschiedenen Entwicklungszügen als durch die Prämissen vermittelt erklären lassen (vgl. Holzkamp 1983, Kap. 8 ) . Sie hätten in diesem Fall eine aktualgenetische Bedeutung gewonnen.

3 . 2 . Verschiedene Konzepte, die Grenzen der Theoriebildung Jean Piagets zu überwinden Christiane Schmid-Schönbein und Thomas Thiel sehen die entscheidende Bedingung, die Grenzen Piagets zu überwinden und den "wirklichen Entwicklungsprozeß" zu erfassen, darin, die Geschichte der Erkenntnishandlungen eines Individuums über einen längeren Zeitraum hinweg zu untersuchen und zu rekonstruieren, während alle anderen Merkmale ihrer Forschungsstrategie dem Untersuchungsverfahren Piagets im wesentlichen gleichen. Eine solche Untersuchung haben sie über ein Jahr hinweg mit mehreren Kindern in regelmäßigen Abständen durchgeführt und vollständig videographiert. Jede Sitzung wurde unter Bezug auf die vorangegangenen Sitzungen vorbereitet und ausgewertet. Bei der Rekonstruktion richten die Autoren besonderes Augenmerk auf die Veränderung ihrer Interventionspläne durch das Kind im konkreten Verlauf der Sitzung (vgl. Schmid-Schönbein & Thiel 1981). Thomas Thiel begründete dieses Verfahren in seinem Redebeitrag auf dem Kongreß, indem er den "Widerstand" als entscheidendes Moment kognitiver Entwicklung näher bestimmte. Er knüpfte dabei an das Konzept der Äquilibration kognitiver Strukturen in der Fassung an, wie es 1975 von Piaget vorgelegt wurde (dt. Fassung 1976). "Im Erleben von Widerständen beim Versuch des Subjekts, die Realität zu erkennen und zu bewältigen . . . liegt die Notwendigkeit für das Subjekt, sich, d . h . sein kognitives System und damit seine Transformationsmöglichkeiten der Realität zu verändern, also Neues zu entwickeln." "Das Subjekt konstituiert sich selbst durch - wie Piaget es nennt - die Kompensation von Widerständen." ( S . 3) 222

"Der Widerstand ist jedoch nur eine notwendige Voraussetzung für die Erkenntnis von Neuem, aber keine hinreichende. Denn es kommt darauf an, diejenigen Ursachen herauszufinden, die den Widerstand generieren. Diese Ursachen liegen oft an ganz anderen Orten als dort, wo der Widerstand auftaucht. Das Vertrackte an der Geschichte ist, daß in den meisten Fällen bei den sich aufeinander aufbauenden Interaktionen - . . . - einzelne Handlungsschritte bei dem Versuch, das Handlungsziel zu erreichen, noch zu keinem Widerstand führen, sondern erst am Ende einer Kette von Handlungsschritten ein Widerstand auftaucht, der jedoch nicht nur auf den letzten Handlungsschritt zurückzuführen ist - der allein würde zu keinem Widerstand führen - , sondern Produkt aller Handlungsschritte, die jeder für sich jedoch widerstandsfrei bleiben." (Piaget 1976, S. 6) In dem Moment, wo gegebene Erkenntnisbedingungen dem Subjekt und seinen Handlungen "Widerstand" entgegenbringen, beginnt danach kognitive Entwicklung. Ob und auf welche Weise die Bedingungen für das einzelne Subjekt widerständig werden, das läßt sich in der Regel nicht aus der unmittelbaren Situation ableiten, sondern aus der Bedeutung, die die unmittelbare Erkenntnishandlung in der individuellen Tradition der Erkenntnishandlungen gewinnt/besitzt. Mir ist allerdings nicht klar geworden, woher die Kriterien kommen, um aus der Komplexität des geschichtlichen Prozesses die wesentlichen Zusammenhänge herauszufinden, die diesen Punkt in der Entwicklung begreifbar machen. Nach meinem Verständnis ist der Bezug auf die individuelle Geschichte der Erkenntnishandlungen nur dann ausreichend, wenn er verbunden ist mit der methodisch-empirischen Berücksichtigung des Zusammenhangs dieses Erkenntnisprozesses mit der individuellen Lebenswirklichkeit. Dies setzt allerdings entsprechende Kategorien voraus, die auf die Erfassung des individuellen Lebenszusammenhangs gerichtet sind. Ob und auf welche Weise gegebene Erkenntnisbedingungen für das Subjekt zu einem Problem werden, darüber entscheiden nach der hier vertretenen Auffassung die Prämissen, das subjektive Bedeutungssystem, des Individuums. Für Mariane Hedegaard und Yrjö Engeström ist die Teilnahme des Forschers an der Tätigkeit des Subjekts grundlegende Erkenntnisbedingung. "Der Forscher muß an der Tätigkeit des Subjekts teilnehm e n . . . er bekommt dadurch die Möglichkeit zu intervenieren, damit er herausfinden kann, worin diese Tätigkeit besteht. Es genügt also nicht nur, an der Lebenssituation des Subjekts 223

teilzunehmen, der Forscher muß auch an der Tätigkeit teilnehmen. Tätigkeit ist immer ein Teil der menschlichen sozialen Verhältnisse, sie wird durch die Art der materiellen und geistigen Kommunikation bestimmt, - deshalb muß der Forscher an der Tätigkeit teilnehmen, um dadurch die grundlegenden inneren Verhältnisse herauszufinden" (Hedegaard & Engeström 1984, engl. Fassung S. 3; dt. Fassung S . 5, z . T . übersetzt durch BG). Allerdings benötige der Forscher Konzepte der Intervention: "Er muß eine Idee davon haben, was er tun soll, und wonach er fragen soll. Das Problem ist dann: Woher bekommt der Forscher diese Begriffe, die seine Forschungsaktivität leiten sollen" (engl. Fassung S . 3; dt. Fassung S . 6 ) . Die "Hypothese" der Autoren ist, "daß der Forschungsprozeß aus zwei Phasen bestehen muß? ( e b d . ) : "Eine erste Phase, wo die Forschung in enger Verbindung mit der Lebenssituation des Subjekts steht, das Modell des Forschers davon, wie er intervenieren und fragen soll, ist sehr vag, der Forscher registriert mehr oder weniger intuitiv seine Eindrücke der Veränderungen und Widersprüche in dem Prozeß, an dem er teilnimmt. Aus diesem Protokoll können einige allgemeine und vage Auffassungen des Forschungsobjektes aufgebaut werden. In dieser ersten Phase geht der Forscher von der Wirklichkeit zu einigen sehr vagen und unbestimmten allgemeinen Bestimmungen über, die nach und nach zu einem System von Abstraktionen über den Untersuchungsgegenstand führen. - Die zweite Phase besteht darin, von diesen Abstraktionen . . . zu der konkreten Manifestation des Lebens überzugehen, wodurch es möglich wird, das Modell der Abstraktion . . . zu verifizieren, indem man mit der Zone der nächsten Entwicklung arbeitet" (engl. Fassung S. 4; dt. Fassung S. 6 f . , z . T . übersetzt durch BG). Die "Modellierung der Zone der nächsten Entwicklung" soll dadurch möglich sein, daß die "aktualempirische Analyse", die das "aktuell mögliche Niveau der Individuen" bestimmen lasse, in Bezug zur (gegenstands— und theorie—) "historischen Analyse der zu entwickelnden Tätigkeit" gesetzt wird (engl. Fassung, Anhang, figure 6; dt. Fassung S . 7 ) . Die Bestimmungen der Autoren - Teilnahme an der Tätigkeit des Subjekts als grundlegende Erkenntnisbedingung und Unterscheidung des Forschungsprozesses in Abstraktion und Konkretion - entsprechen auf den ersten Blick den dargelegten kritisch-psychologischen Bestimmungen. Die nähere psychologische Kennzeichnung der Phasen des Forschungsprozesses wirft allerdings einige Fragen auf, deren 224

Beantwortung möglicherweise vorhandene Unterschiede e r kennbar werden läßt. Weder in der mündlichen noch in der schriftlichen Fassung ist deutlich geworden, wodurch die Aufhebung der Abstraktion erreicht werden soll, durch die historische Analyse ( I ) der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, durch die "Modellierung der Zone der nächsten Entwicklung" ( I I ) oder durch die Realisierung der Zone der nächsten Entwicklung (III)? Nach dem von mir dargelegten Verständnis wäre erst der letzte Schritt der Realisierung "Konkretion" zu nennen, der selbst noch rekonstruiert werden müßte, damit die theoretische Konkretion erreicht wird. Wenn die Aufhebung der Abstraktion von der gesellschaftlichen Vermitteltheit der Tätigkeit bei Piaget allerdings durch die historische Analyse ( I ) der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der Tätigkeit erreicht werden soll, dann ist zu sagen, daß erstens dieser Analyseschritt ein Teilmoment des Abstraktionsprozesses ist, nämlich zu der Bestimmung des Möglichkeitstyps gehört, und zweitens, daß darin keine grundlegende Differenz zu Piaget besteht, der als ein wesentliches Merkmal seiner Theoriebildung die Wechselwirkung von historischen mit ontogenetischen Studien kennzeichnet (vgl. u . a . Piaget 1975, Bd. 8, 20 f f . ) allerdings auf der Ebene der Erkenntnis, nicht der Arbeit. Wenn die Aufhebung der Abstraktion durch die "Modellierung der Zone der nächsten Entwicklung" ( I I ) erreicht werden soll, dann ist zu fragen, was die Autoren unter der Zone verstehen. Wygotski, auf den sich die Autoren berufen, hat diese Zone als den Bereich bestimmt, der zwischen dem liegt, was ein Kind selbständig kann, und dem, was es in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen zu tun in der Lage ist (vgl. Wygotski 1969, 236-245). Die Bestimmung der "Zone der nächsten Entwicklung" eines Kindes erfolgt mittels einer Art von Entwicklungsreihe, einer Reihe von aufeinanderfolgenden Aufgaben, die qua Curriculum oder qua historischer Analyse gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten vorgegeben sind. Anhand dieser Entwicklungsaufgaben wird das fixiert, was ein Kind allein und was es mit Hilfe von Erwachsenen realisieren kann. Mit anderen Worten, die "Modellierung" oder Bestimmung der Zone der nächsten Entwicklung eines Kindes ist eine besondere Art der Bildung von Werturteilen, eine analytische Methode, die pädagogisch gelenkte Ausbildung, Lernen - und insofern individuelle Entwicklung - zur Bedingung hat. Ähnlich wie bei Piaget werden dabei die individuellen Unterschiede in bezug auf die vorgegebenen Aufgaben faktisch genutzt. 225

Sie kommen in unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten zum Ausdruck. Aber sie erscheinen nicht als - in besonderen Lebensbedingungen begründet. Die Aufhebung der Abstraktion ist damit noch nicht erreicht. Denn das Wertmaß (die gegebene Entwicklungsrichtung, die gegenwärtig wissenschaftlich erkennbare gesellschaftliche Tendenz) wird - wie bei jedem analytischen Verfahren - der individuellen Entwicklung nur vorausgesetzt. Es wird nicht als Moment der individuellen Entwicklung begriffen, welches sich durch diese selbst verändert (vgl. III.A und C). Einem anderen Kongreßvortrag von Yrjö Engeström, den er gemeinsam mit Kari Toikka und Leena Norros verfaßte, läßt sich eine deutlichere Antwort auf die Frage nach der Aufhebung der Abstraktion entnehmen. Die Autoren bestimmen hier die Schritte des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in der Arbeitsforschung: "1. Analyse der Arbeitstätigkeit"; "2. Ausbildungsintervention"; "3. Bewußte Entwicklung der Arbeitstätigkeit" (Toikka, Engeström & Norros 1984, 44, Tab. 2 ) . Diese 3 Schritte bilden zusammen mit dem Ausgangspunkt Arbeitstätigkeit (o) den "Prozeß der entwickelnden Arbeitsforschung" ( e b d . , 43, Abb. 6 ) . Die von den Autoren bestimmten Schritte der Analyse und Intervention entsprechen - unter Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse und Möglichkeiten der Arbeitsforschung - den von mir am Beispiel des Schuleintritts gekennzeichneten Schritten der Analyse ( I ) und Orientierung ( I I ) . Erst der Schritt der Realisierung der Zone ( I I I ) , die "bewußte Entwicklung der Arbeitstätigkeit", ist - wie die Veränderung durch de realen Schuleintritt (III, vgl. MSS. 28) - praktische Aufhebung der Abstraktion, Konkretion. Bei der Nennung der Erkenntnisschritte durch die Autoren fehlt allerdings die theoretische Konkretion ( I V ) , die Bestimmung der individuellen bzw. kollektiven Entwicklungslogik, die die Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnismittel impliziert. An ihre Stelle tritt nur die erneute Analyse (I 1 ) der Arbeitstätigkeit. Damit entfällt die bewußte Entwicklung der Erkenntnistätigkeit, das Bewußtmachen der - in der praktischen Konkretion - veränderten Erkenntnisbedingungen. "Die Aufgabe der Forschung i s t " , nach Ansicht der Autoren, "diese Kreisbewegung (von Tätigkeit, Analyse, Intervention, Veränderung - BG) ingangzusetzen und durch Aufgabenstellungen zu steuern" (Toikka u . a . 1984, 45). Offen bleibt hier die Frage nach der Veränderung des wissenschaftlichen Maßes, der Steuerungsfunktion. Solange das wissenschaftliche Maß in unveränderter Form der individuellen Entwicklung (bzw. der Entwicklung der Arbeit) 226

nur vorausgesetzt bleibt, solange läßt sich individuelle Entwicklung in ihrer inneren Logik nicht begreifen. Solange verbleibt auch das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Forscher und Betroffenen, in einer naturwüchsigen, unreflektierten Form.

3 . 3 . Die Veränderung des Zeitmaßes durch individuelle Entwicklung Nicht der physikalische Begriff der Zeit und auch nicht die quantitative Bestimmung der Dauer von Entwicklungsprozessen ist das entscheidende Hindernis, individuelle Entwicklung zu begreifen. Im Gegenteil: beide sind notwendige Erkenntnisbedingung individueller Entwicklung. Die Messung der Dauer einer wirklichen Entwicklung, z . B . die Bewertung eines Kindes als "langsam", hat ihren gesellschaftlichen und individuellen Sinn (die zugrundegelegten Maßstäbe sind selbst eine Frage der Auseinandersetzung). Problematisch ist nicht die Messung der Dauer einer wirklichen Entwicklung, sondern ihre Verabsolutierung und die damit verbundene Verabsolutierung der dieser Messung zugrundeliegenden Entwicklungsrichtung - die immer nur eine Entwicklungsrichtung unter den gegebenen Bedingungen ist. Problematisch ist aber auch die bloße Zurückweisung jeder Messung, denn sie verhindert die Bestimmung der gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten und damit auch die Möglichkeit, sie zu verändern. Entwicklung wird so nur mystifiziert - in einen leeren Raum verlagert. Wenn sich ein Kind einem bestimmten Möglichkeitstyp und der entsprechenden ideal-typischen Entwicklungsreihe subsumiert, dann drückt die damit mögliche Messung der Dauer seiner Entwicklung (am Maßstab des Durchschnitts oder des Optimums o . ä . ) das (Kräfte-) Verhältnis dieses Individuums zu den Standards und damit zu den objektiv gegebenen typischen Lebensbedingungen aus. Es kann sich in bezug auf diesen Standard selbst verorten: Seine gegebene Entwicklungsrichtung wird durch die zeitliche Zuordnung ausgedrückt; der erforderliche Zeit- und Kraftaufwand, diese Möglichkeiten zu realisieren, ist ebenfalls kalkulierbar; seine Verschiedenheit läßt sich schließlich erst in Abgrenzung von diesem Standard bestimmen. In dem Maße, wie das Kind in der Realisierung der typischen Entwicklungsmöglichkeiten seine Verschiedenheit zur Geltung bringt, in dem Maße wird es zur Veränderung des 227

Ideal-Typs tragen .

und damit zur Veränderung

des

Zeitmaßes

bei-

Anmerkungen 1 Die Stichworte "Sputnik-schock" (Systemauseinandersetzung), "Head-start-projekt" (Bildungsreform, gesellschaftliche Fördermaßnahmen in Gestalt "kompensatorischer Erziehung"), "kognitive Wende" (Erneuerung entwicklungspsychologischer Vorstellungen) verweisen auf einen Zusammenhang der Veränderung, von gesellschaftlichen Erkenntnisbedingungen. Die Einführung von Förderprogrammen e t c . , also die gesellschaftliche Unterstützung von Prozessen individueller Entwicklung, eröffnete neue Erkenntnismöglichkeiten in der Psychologie, deren Grenzen allerdings inzwischen auch erkennbar geworden sind. Die unmittelbare Einflußnahme auf Prozesse individueller Entwicklung ist nicht sehr wirkungsvoll. Das dient heute zur Rechtfertigung von bildungspolitischen Elitekonzepten mit Reifungsund Begabungstheorien. 2 Implizit wird durch die 2. Formel die Historizität des Zeitmaßes deutlich. Auch das Lebensalter ist eine historische Größe, auch wenn es denjenigen, die auf die 1. Formel fixiert sind, nicht so erscheint. 3 Das bildungspolitische Scheitern dieser Konzeption rechtfertigt so auch keineswegs die Rückkehr zu Reifungstheorien. 4 Die Autoren haben eine englische und eine deutsche Fassung ihres Vortrages vorgelegt. Zitate werden unter Bezug auf beide Fassungen gekennzeichnet. Soweit ich die englische Fassung selber übersetzt habe, wird dies von mir besonders angegeben. 5 Jens Brockmeier konnte aus Zeitgründen keine schriftliche Fassung vorlegen. Es kann daher nur auf die notierte und erinnerte Fassung zurückgegriffen werden. Durch Anführungszeichen hervorgehoben sind wörtliche Zitate. Darüberhinaus weise ich auf seinen Aufsatz "Die Mittel der kognitiven Entwicklung - Zum Zusammenhang der individuellen mit der historischen Entwicklung des Bewußtseins bei Piaget und Wygoski" hin (1983, 48-88). Die von Jens Brockmeier auf dem Kongreß vorgetragene Kritik an der Äquilibrationstheorie wird in diesem Aufsatz in einem umfassenderen Zusammenhang entwickelt und begründet. 228

6 Die schriftliche Fassung des Redebeitrages von Hendrik Bullens lag mir ebenfalls nicht vor. Ich verweise auf die größere Arbeit "Begriffsentwicklung in der Kindheit als Aufbau kognitiver Strukturen - Forschungskonzepte und Ontogenese" 1983. 7 Diese Theoriebildung erfolgt mit den Mitteln der Bedeutungs-, Begründungs- und Funktionsanalyse entsprechend den kategoriellen Differenzierungen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Handlungsfähigkeit. Diese insbesondere im Kongreßvortrag des Projekts "Subjektentwicklung in der frühen Kindheit" herausgearbeiteten Merkmale der Theoriebildung werden an dieser Stelle nicht gesondert hervorgehoben (vgl. Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit, 1984). 8 Praktische Verallgemeinerung ist für die Kritische Psychologie in dem bisher dargestellten Zusammenhang eine Bedingung der Bildung analytischer Theorie. Im folgenden geht es um analytische Theorie als Bedingung der Bildung von Entwicklungstheorie. 9 Von der Seite des Wissenschaftlers her gesehen, erfordert dies, einen solchen Zusammenhang mit den Individuen zu realisieren, der es ihnen ermöglicht, ihre individuelle Besonderheit zur Geltung zu bringen. Entwicklungstheorie ist insofern auch eine Theorie der Entwicklung des Wissenschaftlers und seiner Erkenntnis. Dieser Zusammenhang wird im folgenden nicht gesondert hervorgehoben.

Literatur I. Redebeiträge auf dem Kongreß Brockmeier, J . : Die methodologische Bedeutung des Entwicklungszusammenhangs von Onto- und Phylogenese des Psychischen für die Untersuchung der individuellen Entwicklung von Neuem. Bullens, H.: Die Subjekt-Objekt-Tätigkeits-Beziehung als analytische Grundlage für die Erforschung der Entwicklung von Bedeutungen in der frühen Kindheit. Grüter, B . : Individuelle Entwicklung als methodologisches Problem und die Untersuchungen Jean Piagets. Hedegaard, M.; Engeström, Y . : Wie eine auf dem Tätigkeitskonzept basierende Methodologie entwickelt wird, die die Entwicklung von Erkenntnis fassen kann, englische und deutsche Fassung. 229

Schmid-Schönbein, Ch.: Einzelprozeß-Rekonstruktion oder wie können "wirkliche Erkenntnisprozesse" analysiert werden? Thiel, T h . : Die Entstehung von Neuem durch den Versuch des Subjekts, die Widerstände der Realität gegen seine Handlungsabsichten zu überwinden. Wahlen, K . : Erkenntnisprobleme entwicklungspsychologischer Kognitionsforschung (erweiterte Fassung) Thesenpapier zur AG El (Kongreßmappe). II. Sonstige Literatur Anderson, J . E . (1954): Methods of child psychology. In: Carmichael, L. ( E d . ) , Manual of Child Psychology (2nd e d . ) , New York, 1-59. Baltes, P . B . ; Goulet, L . R . (1970): Status and issues of life-span developmental psychology. In: Goulet, L.R. & Baltes, P . B . ( E d s . ) , Life-span developmental psychology. Research and theory. New York, 3-21. Brockmeier, J . (1983): Die Mittel der kognitiven Entwicklung. Zum Zusammenhang der individuellen mit der historischen Entwicklung des Bewußtseins bei Piaget und Wygotski. In: Forum Kritische Psychologie 12, AS 99, Berlin/W. 48-88. Bullens, H. (1983): Begriffsentwicklung in der Kindheit als Aufbau kognitiver Strukturen - Forschungskonzepte und Ontogenese, ünveröff. Dissertation, LMÜ-München. Holzkamp, K. (1983): Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M. Kessen, W. (1960): Research design in the study of developmental problems. In: Müssen, P.H. ( e d . ) , Handbook of research methods in child development, New York, 36-70. Piaget, J . (1975): Die Entwicklung des Erkennens I, Ges. Werke Bd. 8, Stuttgart. - (1976): Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, Stuttgart . - ; Inhelder, B. (1975): Die Entwicklung der physikalischen Mengenbegriffe beim Kihde, Ges. Werke Bd. 4, Stuttgart. - (1979): Die Entwicklung des inneren Bildes beim Kind, Frankfurt/M. Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit (1984): Theoretische Grundlagen und methodische Entwicklung der Projektarbeit. In: FKP 14, AS 114, Berlin/W. 56-81. 230

Rüben, P . ; Süss, W. (1979): Entwicklungstendenzen und Trends, über analytische Gesichtspunkte der Entwicklungserkenntnis, Berlin 1979. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 27. J g . , H. 3, 325-337. Schmid-Schönbein, Ch.; Thiel, Th. (1981): Prozeßorientierte Interventionen im Rahmen einer Longitudinalstudie zur Entwicklung des Klassenbegriffs bei 3-5jährigen Kindern, Berlin/W. 1981, unveröff. Manuskript eines Vortrages, gehalten auf der 5. Tagung Entwicklungspsychologie, Augsburg, September. Toikka, K . ; Engeström, Y . ; Norros, L. (1984): Entwickelnde Arbeitsforschung: Theoretische und methodologische Elemente, Vortrag auf dem III. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, veröffentlicht in: Forum Kritische Psychologie 15, Berlin/W. Trautner, H.M. (1978): Lehrbuch für Entwicklungspsychologie, Göttingen. Wygotski, L . S . (1969): Denken und Sprechen, Frankfurt/M.

231

VI. Zum Verhältnis psychologischer Therapie und Diagnostik: Objektive Lebensbedingungen, Eigenschaftsproblematik und Persönlichkeitsentwicklung Koordination: Ole Dreier Teilnehmer: Anne Albers, Wolfgang Jantzen, Susanne Leutner, Holger Probst, Arne Raeithel

Die Psychodiagnostik befindet sich gegenwärtig in der Krise (vgl. z . B . Jüttemann 1984). Die herkömmlichen Instrumente finden, trotz wiederholter Kritik ihrer geringen Validität usw. und obwohl sie nur vergleichende Aussagen über Populationen erlauben, immer noch breite Verwendung in Verbindung mit therapeutischer Einzelfallarbeit. In dieser Lage zeichnet sich ein steigendes Interesse ab, neue diagnostische Konzepte und Verfahren zu entwickeln. Das hat u . a . die folgenden praktischen, theoretischen und methodologischen Gründe: Erstens ist die Eigenschaftsproblematik einer Testpraxis, die den Opfern selber die Schuld zuschreibt, nicht hinreichend überwunden in einem einheitlichen und differenzierten Verständnis individueller psychischer Störungen im konkreten gesellschaftlichen Prozeß. Zweitens spitzt sich im Therapiebereich das Indikationsproblem bei knapperen Ressourcen, steigender Außenkontrolle und unübersichtlicher Vielfalt angebotener Behandlungsverfahren zu. Drittens wird versucht, zur Absicherung der eigenen Praxis der von außen gestellten Forderung nach Vorhersagbarkeit und in dem Sinne Kontrollierbarkeit der ausgeübten Therapie und deren Ergebnissen durch die Entwicklung dafür geeigneterer Verfahren der Verlaufs- und Erfolgsdiagnostik zu genügen. Viertens liegt ungefähr die Hälfte des Klienteis im ambulanten Therapiebereich außerhalb einer noch so wohlwollenden und breiten Interpretation der herkömmlichen Krankheitskategorien. Sie kommen einfach aus anderen Gründen. Ihre Probleme können deshalb nicht mit dem herkömmlichen diagnostischen Instrumentarium bestimmt werden. Fünftens zeigen sich, angesichts der Fortdauer der Krise im Bereich der Diagnostik, vermehrte Zweifel an ihren bisherigen konzeptuellen Grundlagen, z . B . an der prinzipiellen Vorhersagbarkeit von Therapieprozessen. Genau dies verdeutlicht andererseits die Unhaltbarkeit einer Lage, wo die Fähigkeiten und Verfahren zur Problembestimmung im Therapieprozeß selber 232

nicht hinreichend theoretisch und methodologisch begründet werden können. Eine Annäherung und produktive Wechselwirkung zwischen Diagnostik und Therapie setzen außerdem u . a . voraus, daß sie auf den gleichen Grundlagen beruhen. Die Entwicklung neuer Therapiekonzepte hat jedoch nicht zu einer entsprechenden Entwicklung neuer diagnostischer Konzepte geführt, weswegen sich der Widerspruch zwischen den beiden zugespitzt hat. Überhaupt ist auch in der Diagnostik die Tendenz vorherrschend, der Methodenentwicklung gegenüber der Entwicklung einer adäquateren Gegenstandsbestimmung den Vorrang zu geben, was die Forschungsarbeit auf den Kopf stellt und deswegen ihre Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt. Typischerweise wechseln daher die Einzelbeiträge, in der aktuellen Arbeit über Psychodiagnostik wie in dieser AG, zwischen eher allgemein-programmatischen Konzeptentwürfen und der Entwicklung konkreter Verfahren in bestimmten Teilbereichen der Diagnostik und Therapie. Dieser Unterschied der Herangehensweise und der Geltungsbereiche wird jedoch in der Diskussion nicht immer adäquat berücksichtigt und produktiv genutzt. Zur Vereinfachung, Demystifikation und Konzentration auf das Wesentliche unserer Fragestellung erinnern wir uns zunächst daran, was 'Diagnose1 eigentlich bedeutet. Wörtlich heißt 'Diagnose* 'erkenntnismäßige Durchdringung und Unterscheidung 1 . Nichts mehr! Es geht uns also hier darum, wie eine erkenntnismäßige Durchdringung und Unterscheidung einer psychischen Störung gesichert werden kann - und bei unserem Thema insbesondere: wie das Verhältnis zwischen der Therapie und der erkenntnismäßigen Durchdringung zu bestimmen ist. Da ist es zunächst notwendig, zwischen den Funktionen zu unterscheiden, die die Diagnostik nach außen hin hat und nach innen in den Therapieprozeß hinein trägt. Erst danach können und müssen die beiden Aspekte wieder aufeinander bezogen werden, da sie sich real beeinflussen und nicht getrennt vorkommen. In der herkömmlichen Diagnostik werden Individuen hinsichtlich inter-individueller Unterschiede auf generellen Eigenschafts- oder Anforderungsdimensionen miteinander verglichen. Hier sieht man das Moment der Unterscheidung in einer differentialpsychologischen Version. Praktisch dient diese Form von Diagnostik zur Selektion von Individuen: In welchen Fällen soll eine Therapie/pädagogische Unterstützung finanziert bzw. übernommen werden, und . welche Fälle sollen in welchen Institutionen mit welchen besonderen Ange233

boten untergebracht werden? Dies alles ist relativ bekannt; auch daß diese Diagnostik eigentlich keine Aussagen über Entwicklungsmöglichkeiten von Einzelpersonen erlaubt, sondern eben Mitglieder einer bestimmten Population miteinander vergleicht. Nun folgt daraus u . a . : Obwohl diese Form oft den Therapieeinrichtungen von außen aufgenötigt wird, kann sie keine Grundlage für eine direkte kooperative Unterstützung der Entwicklungsprozesse von Einzelklienten darstellen, sondern nur beliebig in die Einzelfallarbeit hineingedeutet werden. Der Klient wird ja als Gegenstand der Selektion und nicht als individuelles Subjekt erfaßt. Das Verhältnis zwischen dem Klienten und dem Diagnostiker/Therapeuten muß auf dieser Basis (in der Terminologie von Klaus Holzkamp, z . B . 1983) ein Instrumentalverhältnis, bleiben und kann sich in keine Subjektbeziehung auf Grund gemeinsamer Interessen entwickeln. Daß genau dies passiert, wenn eine solche Form von Diagnostik in die direkte Fallarbeit Eingang findet, wurde von Anne Albers am Beispiel der Behandlung von Frauen verdeutlicht. Frauen wird vom zwölften Lebensjahr an und in wachsendem Umfang bei steigendem Alter eine extrem hohe Anzahl von Diagnosen erteilt. Jede Frau kann sicher sein, mindestens einmal im Leben die Diagnose "psychisch krank" zu erhalten. Im Alter zwischen 40 und 65 Jahren erhält sie durchschnittlich pro Jahr zwölf Diagnosen und 14 verschiedene Medikamente. Mindestens eine Diagnose lautet: Neurose, Psychose oder Depression. Zudem wird diese Sicht auf die Frauen als schwache, behandlungsbedürftige und irrationale Individuen allmählich von ihnen selber internalisiert. Das diagnostische Urteil wirkt zugleich mystifizierend und diskriminierend als "geschlechtsspezifisches Herrschaftsinstrument". Es sieht ja von den realen Lebensbedingungen und Möglichkeiten der Frauen ab, beurteilt sie eben in verkürzter, vereigenschafteter Form, was ihnen das Begreifen ihrer realen Probleme erschwert und ihnen die Folgen der Frauenunterdrückung als individuelle Defekte zuschreibt. Diese Diagnostik stellt eine kontrollwissenschaftliche und keine subjektwissenschaftliche Praxis dar (vgl. Holzkamp 1983). Sie bescheinigt den Frauen eine Andersartigkeit, statt der Herstellung von Gemeinsamkeit als Mittel zu dienen. Das Moment der Unterscheidung setzt sich absolut durch als eine Praxis der Aussonderung. Anstatt der Isolierung müßte die Diagnostik der Verallgemeinerung und damit den Perspektiven des Zusammenschlusses der Individuen dienen. Eine andere Form von Diagnostik könnte allerdings anderes 234

und mehr sein in der direkten Fallarbeit als ein mystifizierendes Instrument der Kontrolle. Sie müßte sich nicht gegen die Interessen der Klienten wenden. Dafür hatte sie aber einen engeren Bezug zur therapeutischen Unterstützung zu gewinnen, indem sie andere Funktionen wahrnimmt als die der Selektion/Aussonderung, finanziellen Absicherung, Indikation und Verlaufs- und Erfolgskontrolle der Therapeuten. Die Diagnostik müßte als ein Mittel der erkenntnismäßigen Durchdringung in der therapeutischen Veränderungsarbeit selber dienen können. Sie übernähme dann sozusagen therapeutische Funktionen. Das ist aber nur möglich, wenn die Diagnostik konzeptionell und methodisch Entwicklungsorientiertheit realisiert. Erst dann kann sie als Mittel der Kooperation einer Subjektbeziehung zwischen Diagnostiker/Therapeut und Klient dienen und ist nicht mehr ein normatives Kontrollmittel über die Klienten. Konzepte und Instrumente, die auf einer derartigen Grundlage basieren, wurden in mehreren Beiträgen der AG vorgestellt: Von Wolfgang Jantzen wurde argumentiert, daß die Realität des psychisch Kranken grundlegend zwei Seiten hat. Erstens die soziale Isolation, die die allgemeine Bedingung der Psychopathologie darstellt, und die immer Isolation von Realitätskontrolle und damit Einschränkung der Handlungsfähigkeit bedeutet. Zweitens die besonderen psychopathologischen Probleme, die die Grundlage einer speziellen Psychopathologie darstellen. Diese müssen durch die allgemeine Psychologie und die Entwicklungspsychologie theoretisch begründet werden, da die isolierenden Bedingungen sich je nach dem individuellen Entwicklungsniveau unterschiedlich auswirken. Im Aufgreifen des Leontjewschen Begriffs des Sinns werden unterschiedliche ontogenetische Abbildniveaus unterschieden. Je nach erreichtem Abbildniveau verläuft die Sinnbildung unterschiedlich. Gleiches gilt für deren Störung als Folge von Isolation, die auf eben diesem erreichten Niveau eintritt. Es findet dann eine Stereotypenbildung statt. Das Stereotyp stellt die innere Reproduktion der Isolation dar. Es ist ein restringierter Bedeutungserwerb, der zur restringierten Handlungsfähigkeit führt. Auf dieser Grundlage wird eine Neubegründung der Nosologie erarbeitet, die die speziellen Psychopathologien als besondere Stereotypenbildungen auf unterschiedlichen ontogenetischen Abbildniveaus begründet (siehe dazu eine Reihe von Arbeiten im 'Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie'). Die Diagnostik dient dem Auffinden der besonderen stereotypen Persönlichkeitskonstellationen und ermöglicht damit deren therapeuti235

sehen Aufbruch in erneute Entwicklungsschritte führlicher Jantzen 1982).

(siehe aus-

Auch im Beitrag von Holger Probst wurde die Forderung erhoben, nicht nur Zustände und erreichte Leistungsniveaus zu diagnostizieren, sondern die Richtung und den Aufbau der einzelnen Schritte des pädagogisch unterstützten kindlichen Entwicklungsprozesses von besonderen Fähigkeiten zu bestimmen. Als Voraussetzung dafür soll die Existenz von allgemeinen, objektiv vorgegebenen Anforderungen, die die Grundlage des individuellen Vergesellschaftungsprozesses ausmachen, in ihrer Struktur empirisch erfaßt und modelliert werden. Einzelfähigkeiten sind immer Momente der Handlungsfähigkeit, d . h . an der Möglichkeit der Realitätskontrolle durch Bewältigung bestimmter Anforderungen gebunden. Umgekehrt stellt die Nichterfüllung bestimmter für die Realitätskontrolle notwendiger Anforderungen eine Entwicklungsbehinderung dar, die diagnostiziert und durch pädagojgische Unterstützung behoben werden soll. Ferner gibt es für bestimmte Einzelfähigkeiten, die auf bestimmte allgemeine Anforderungen bezogen sind, besondere allgemeine Stufen der Entwicklung in Richtung auf Kontrolle über diesen Realitätsaspekt. Die Bestimmung einer solchen allgemeinen Stufenfolge besonderer individueller Fähigkeiten basiert auf Abstraktionen innerhalb dreier verbundener Bereiche: Erstens eine Theorie der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Ontogenese, zweitens die empirische Bestimmung des Aufbaus und der logischen Struktur des besonderen Gegenstandes der Tätigkeit, und drittens die Bestimmung der logischen Struktur der Handlungen, die sich auf die Bewältigung dieses Gegenstandes beziehen. Dann kann nämlich aus der diagnostischen Ermittlung eines schon erreichten Niveaus der Bewältigung einer bestimmten allgemeinen Anforderung nicht nur der aktuelle Entwicklungsstand im entsprechenden Bereich festgestellt werden, sondern damit gleichzeitig der nächste und die darauf folgenden Entwicklüngsschritte festgelegt werden, was wiederum einen gezielten didaktischen Einsatz ermöglicht. Die Entwicklung dieses diagnostischen Konzepts und der zugehörigen konkreten Verfahren und didaktischen Materialien für eine Reihe von Einzelfähigkeiten (vgl. ausführlicher z . B . Probst 1981) basiert also letzten Endes auf der allgemeinen Entwicklungspsychologie. Die Diagnostik ist theoriegeleitet, inhaltsorientiert, anforderungsund strukturbezogen. Sie soll Aneignungsmöglichkeiten angeben, d . h . Möglichkeiten der Realitätskontrolle. Sie ist in diesem 236

Sinne subjektorientiert, handlungs- und entwicklungsrelevant für die pädagogisch-therapeutische Tätigkeit. Die Diagnose eines konkreten Kindes findet ohne Vergleich mit einer Normstichprobe statt. Nun fragt sich Probst, ob dieser Ansatz aus dem Bereich der Sonderpädagogik in alle Bereiche der pädagogischen und therapeutischen Arbeit hinein verallgemeinerbar ist. Dann müßten dort überall allgemeine objektive Anforderungen und dazugehörige allgemeine Einzelkompetenzen einzeltheoretisch als Grundlage einer entsprechenden theoriegeleiteten, inhaltsorientierten Diagnostik ermittelt werden können. Nicht nur bei älteren Kindern, sondern auch bei Erwachsenen, sowohl in den sozialen wie den emotionalen Aspekten ihrer Handlungsfähigkeit. Derart könnten auch diese Populationen und Aspekte entsprechend diagnostiziert und durch Berücksichtigung einer allgemeinen Stufenfolge ihrer Entwicklung pädagogisch-therapeutisch gefördert werden. Die Hauptschwierigkeit besteht, nach Probst, darin, daß hier schon bei älteren Kindern die persönlichen Entwicklungswege variationsreicher und kompensierbarer erscheinen. Im Beitrag von Susanne Leutner wurde von einem laufenden Versuch berichtet, das Konfliktverhalten, auch bei Erwachsenen, nach diesem Konzept und in Zusammenarbeit mit Probst zu untersuchen. Also müßten bestimmte Teilkompetenzen allgemein die Voraussetzung für bestimmte andere allgemeine Teilkompetenzen in einer allgemeinen Struktur und Stufenfolge der Entwicklung des individuellen Konfliktverhaltens ausmachen. Und diese allgemeine Konfliktkompetenz müßte unabhängig von dem besonderen Inhalt, den besonderen Bedingungen und dem besonderen Lebenskontext des konkreten Konflikts sein, damit sie in dem Sinne als eine Hierarchie von immer besseren Einwirkungsmöglichkeiten in allen Konfliktsituationen bestimmbar wäre. Der Ansatz von Probst u . a . wendet sich (wie ich dazu anmerken möchte) berechtigt gegen allgemeine Individualisierungstendenzen in der differentiellen Psychologie und besteht darauf, daß wir Wissen darüber, was und wie alle Schüler lernen, heute nötiger haben als zusätzliches Wissen über individuelle Besonderheiten. Nun geht aber in derartigen Konzepten eines allgemeinen Entwicklungsweges Individuelles in Allgemeinem anscheinend völlig auf. Wie umfassend werden denn die konkreten Probleme und die konkrete Entwicklung von Individuen in deren allgemeinen Momenten erfaßt? Je komplexer die Phänomene, um so abstrakter und damit um so reduzierter würden sie durch ihre allgemeine 237

Bestimmung erfaßt. Die Gefahr eines Reduktionismus wächst damit, d . h . hier die Gefahr einer Reduktion konkreter Individuen auf ein abstrakt-allgemeines Individuum, mit einem abstrakt-allgemeinen Verhältnis zur Welt und einem abstrakt-allgemeinen Entwicklungsweg. Durchschnittlichkeit und Allgemeinheit könnten dadurch unbeachtet verschmelzen, da die allgemeinen Bestimmungen aktualempirisch ermittelt werden. Es bleibt deswegen fraglich, ob jedes komplexe Phänomen analytisch in eine allgemeine Struktur von Einzelkompetenzen aufgelöst werden kann; und es muß konzeptionell darauf bestanden werden, Allgemeines analytisch zum Begreifen von Individuellem zu benutzen statt Individuelles in Allgemeines zu überführen, sonst wird alles Nicht-Allgemeine in den Bereich der Randbedingungen und Zufälligkeiten geschoben. Daraus verdeutlicht sich, daß im vorliegenden Ansatz überhaupt auf der Ebene von besonderen Einzelkompetenzen gearbeitet wird. Auf dieser Ebene stellen Wissen und die besonderen Einzelkompetenzen Mittel konkreter menschlicher Handlungen dar, womit besondere Anforderungen bewältigt werden. Dies trifft auf der operativen Ebene menschlicher Handlungen durchaus zu, ist aber nicht darüber hinaus verallgemeinerbar (vgl. Holzkamp 1983, Kap. 7 . 2 ) . Ein solcher Ansatz kann daher für die Bereiche und Aufgaben der pädagogisch-therapeutischen Arbeit Geltung beanspruchen, wo auf einer operativen Ebene eingegriffen werden soll. Nun ergibt sich aber außerdem die Schwierigkeit, daß die subjektive und objektive Bedeutung bestimmter Operationen nicht erschöpfend und eindeutig auf der operativen Ebene bestimmt werden können, stellen sie doch unselbständige Teilmomente gesamtgesellschaftlich vermittelter individueller Handlungen dar, und können sie erst aus deren Bedeutungsdimensionen und Zielen in ihrer subjektiven Funktionalität für bestimmte Handlungsgründe bewertet werden. Das führt uns ferner zur Frage, ob uns denn immer und überall im individuellen gesellschaftlichen Leben bestimmte Aufgaben und Anforderungen als sozusagen unerbittliche allgemeine Notwendigkeiten vorgegeben sind? Wo werden dann von einem und mehreren Individuen selber Forderungen und Aufgaben gestellt? Wird dies nicht mitberücksichtigt, reduziert sich die Erfassung der objektiven gesellschaftlichen Realität auf eine vorgegebene Struktur von allgemeinen Anforderungen. Im vorliegenden Ansatz wurde eben aus der Existenz allgemeiner Anforderungen (bezogen auf allgemein-notwendige Gegenstände), auf allgemeine Aneignungs238

weisen, -schritte und -richtungen geschlossen. Dadurch ist der Ansatz von einer abstrakten und normativen Vereigenschaftung menschlicher Entwicklungsprozesse losgekommen, ist aber bei einer Abstraktion von operativen Anforderungen und Aneignungsprozessen stehengeblieben. Dabei ist die Annahme einer Allgemeinheit von Anforderungen - obwohl es im konkreten gesellschaftlichen Leben durchaus auch besondere und individuelle Anforderungen von unerbittlicher Notwendigkeit gibt - wohl eher berechtigt als die Annahme einer Allgemeinheit von individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten des Überlebens und der Entwicklung. Eine Fixierung allein auf den Aspekt der Anforderungen kann deshalb gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse aus dem Blickfeld verschwinden lassen, einschließlich der gesellschaftlichen Unterschiede in den konkreten individuellen Bedingungen und Möglichkeiten der Erfüllung auch von allgemeinen gesellschaftlichen Anforderungen. Also muß sowohl das Moment der Unterscheidung als das Moment der Verallgemeinerung im Blickfeld behalten und in einen besonderen Bezug zueinander gesetzt werden: in der Perspektive der Verallgemeinerung der Möglichkeiten der Verfügung über die Bedingungen des gemeinsamen und individuellen gesellschaftlichen Lebens. Damit können die individuellen Unterschiede, die durch strukturelle Unterschiede in den Bedingungen und Möglichkeiten bedingt sind, aufgehoben werden. Das beinhaltet natürlich andererseits nicht, daß danach keine pädagogisch-therapeutische Unterstützung der individuellen Erfüllung allgemeiner und besonderer Anforderungen und Entwicklung allgemeiner und besonderer Aspekte der Handlungsfähigkeit mehr nötig sein wird. Von Ole Dreier und von Arne Raeithel wurde gegen die diagnostische' Vorhersagbarkeit und in diesem Sinn gegen Planbarkeit des Klientenverhaltens und damit des Therapieerfolgs am Anfang der Therapie argumentiert. In solcher Vorstellung wird das Klientensubjekt in ein Objekt von aus der Diagnose hergeleiteten therapeutischen Maßnahmen verwandelt. Unter Umständen ist sie mit der Vorstellung von festen, unveränderlichen Eigenschaften des Klienten verbunden, womit er als prinzipiell vorhersagbar erscheint, aber zugleich, wie früher erwähnt, in der diagnostischen Abstraktion von seinen realen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten als selbstschuldig diskriminiert und ausgesondert wird. Hinzu kommt die Unhaltbarkeit von direkten Schlüssen aus theoretischen Annahmen über abstrakt-allgemeine Eigenschaften, die in nach differentialpsychologischer 239

Art gedachter interindividueller Variation bei den Einzelindividuen vorkommen sollten, auf die konkrete Problematik des Einzelfalles. Der Klient erscheint so bloß als eine problematische zufällige individuelle Variation eines Standardmenschen, seine individuelle Problematik als eine individuelle Variation eines besonderen Standardproblems. Die Schlüsse aus solchen besonderen Standards der traditionellen Krankheitslehre in die Einzelfälle hinein unterliegen völlig dem Belieben des betreffenden Diagnostikers/Therapeuten, gleichviel ob der betreffende Einzelfall als einer bestimmten Kategorie nicht zugehörig oder als dieser völlig subsumierbar interpretiert wird. Zum Beispiel wird dann ein deprimiertes individuelles Subjekt bloß als ein individueller Fall von Depression erfaßt, die als ein Standardleiden beschrieben ist, womit man die individuellen Fälle vergleichen kann, um festzustellen, woran sie leiden. Kein Wunder, daß man daraufhin auch meinen kann, daß es für ein jedes Standardleiden eine besondere Standardtherapie mit besonderen Standardverfahren geben könne, was eben die Handlungsrelevanz der Diagnostik begründe. - Allerdings wird auch in anderen üblichen Formen von Konzepten ( z . B . Jüttemann 1984), in denen einer abstrakten Vereigenschaftung zu entgehen versucht wird, daran festgehalten, daß am Syndrom generalisiert werden soll: für jedes besondere Syndrom wird eine entsprechende allgemeine Erklärung gesucht im Sinne des Vorhandenseins einer besonderen Bedingungsstruktur, die in allen Fällen dieser Krankheit auffindbar sein soll. Wenn jeder Krankheit allgemein eine besondere Bedingungsstruktur zugrunde liegt, haben wir es wieder mit einem kontrollwissenschaftlichen Bedingtheitsmodell (vgl. Holzkamp 1983, Kap. 9) zu tun, wonach das Klientenverhalten durch Bedingungsanalyse und -manipulation kontrollierbar und vorhersagbar sein soll. Die Annahme der diagnostischen Vorhersagbarkeit einer Therapie setzt weiterhin das Vorhandensein eines eindeutigen Therapieziels am Anfang der Therapie voraus, woran die Vorhersage sich orientieren und bewerten ließe. In der Regel müssen aber die Ziele des Klienten und der Therapie erst im Laufe der Therapie geklärt, entwickelt, umanalysiert und definiert werden. Ist doch ein häufiger Grund der Therapiebedürftigkeit eben ein ungeklärtes und problematisches Verhältnis zu vorhandenen im- und expliziten Zielen. Wesentlich besteht die Therapie eben in einer Qualifikation der Fähigkeiten des Klienten zur Zielbestimmung. Müßten die Ziele also am Anfang der Therapie endgültig festgelegt werden, ist die Gefahr groß, daß der Klient vom Diagnosti240

ker/Therapeuten in seiner Subjektivität übergangen wird. Wiederum scheint eine kontrollwissenschaftliche Vorstellung durch, wonach Therapie in der Beeinflussung des Klienten durch den Therapeuten bestünde, bis der Klient die Vernunft des Therapeuten angenommen habe. Anstatt das therapeutische Interesse darauf zu richten, wie sich der Klient zu den Bedingungen seines Problems in seinem konkreten Lebenszusammenhang verhält, verschiebt es sich darauf, wie sich der Klient zur therapieinternen Beeinflussung durch den Therapeuten verhält. überhaupt setzt die Vorstellung der vollen Erreichbarkeit bestimmter (vorgegebener) Ziele im Laufe des Therapieprozesses (wie z . B . im sogenannten "Problemlöseansatz") voraus, daß es sich um relativ kurzfristige Ziele handeln muß. Es muß darin von langfristigeren individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Zielen abstrahiert werden. Individuelle Probleme und Möglichkeiten werden auf das hier und jetzt Machbare vereinfacht und reduziert. Derart verharmlost und einer langfristigeren Perspektive beraubt, muß pragmatisch innerhalb der bestehenden Lebensformen gearbeitet werden, und das heißt überwiegend auf individueller Ebene des Privatlebens. Eine Form von restriktiver Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1983) dominiert, die gesellschaftliche Möglichkeiten der Verfügungserweiterung zur Zeit der Therapie nicht wahrnimmt. Wenn nun die diagnostische erkenntnismäßige Durchdringung eines Einzelfalles nicht vor dem Anfang seiner Therapie realisiert werden kann, folgt daraus, daß Diagnose und Therapie nicht als getrennte Phasen der Fallarbeit gedacht werden können. Anders formuliert heißt dies, daß die analytischen und die intervenierenden Funktionsaspekte der Therapie wechselwirkend verbunden werden müssen, und daß sie im Prozeß ineinander übergehen und nur analytisch trennbar sind: Eine Intervention kann zugleich analytischen Zwecken dienen, usw. Im therapeutischen Veränderungsprozeß selber entwickeln sich Erkenntnis und Handlungsmöglichkeiten, d . h . konkreter: das Problemverständnis des Klienten und des Therapeuten. Die Diagnose, verstanden als ein bestimmter aktueller Stand der erkenntnismäßigen Durchdringung, muß sich also mitverändern. Auch gerade dort, wo sie handlungs- und entwicklungsrelevant war, muß sie sich mitentwickeln. Das Verhältnis von Diagnose und Therapie ist nicht nach der traditionellen Vorstellung des Verhältnisses von Theorie und Anwendung denkbar, wo aus einer bestimmten generellen geschlossenen Theorie bestimmte Routinehandlungen für Theorieanwender hergeleitet werden kön241

nen. Wir müssen uns für eine handlungsbezogene Prozeßdiagnostik entscheiden. Durch probierendes Eingreifen lernen wir etwas über unsere Bedingungen, Möglichkeiten, eigene Fähigkeiten und Verhaltensweisen, über die Reaktionen Anderer und damit über Interessenwidersprüche und -Gemeinsamkeiten, d . h . Konflikte und Bündnismöglichkeiten. Wir lernen auch, und besonders, durch Veränderungsversuche über die Veränderbarkeit und Unveränderbarkeit dieser Aspekte durch eigenes und gemeinsames Handeln auf kurze und lange Sicht. Basierte ein Eingreifen auf einer Diagnose, war diese für den Klienten handlungsrelevant, und brachte dem Therapeuten zugleich Neues über die Bedingungen des vorliegenden Problems und dessen Veränderbarkeit bei. In einem derart optimal fortschreitenden Prozeß kombinieren sich Teilerkenntnisse mit Teilerkenntnissen von Teilproblemen in einer umfassenderen zusammenhängenden Erkenntnis der konkreten Problematik des Klienten. Dies verdeutlicht eine weitere funktionale Forderung an eine handlungsbezogene Prozeßdiagnostik: Sie muß als analytische Grundlage der Verknüpfung von Einzelinterventionen und -analysen dienen. Sie muß den Aufbau und die therapeutische Ausrichtung der Veränderbarkeit analytisch begründen. Also muß sie Zusammenhänge und nicht isolierte Probleme/Symptome begreifbar machen. Ob sie zutrifft oder nicht, hängt dementsprechend nicht von bloßem Konsens ab, sondern davon, ob sie in Richtung erweiterter Vorherbestimmung über relevante Lebensbedingungen weiterführt, d . h . ob sie dafür relevante Einsichten und Handlungsmöglichkeiten fördert. Deswegen sind die Vorstellungen über Prozeßdiagnostik, die diese bloß als ein analytisches Mittel zur Regulation des Probierens begreift, unzulänglich. Es sei denn, man wäre bereit, zur Ergänzung sich mit rein normativ festgelegten Grundlagen und Zielen cles Veränderungsprozesses oder mit dem vereinfachten Kriterium der Symptombeseitigung zu begnügen. Denn es fehlt eine Grundlage für die Ausrichtung der Veränderungsprozesse, für die Begründung ihrer Orientierung und Perspektive, d . h . für den Aufbau und inneren Zusammenhang der therapeutischen Unterstützung. Eine formale, sich als inhaltlich neutral verstehende reine Prozeßdiagnostik verselbständigt ebenso die operative Ebene des diagnostischen und therapeutischen Handelns und erkennt nicht an, daß sie ein Mittel der Erkenntnis der Verfügbarkeit über die relevanten (problematischen) Lebensbedingungen sein muß. Die nötige Grundlage muß deswegen in einer verallgemeinerten Bestimmung der individuellen Möglichkeitsräume des 242

analysierten Klienten gesucht werden. Diese Verallgemeinerungen beruhen wiederum auf einer empirischen Analyse, die mit den Kategorien der Kritischen Psychologie als Analysemittel durchgeführt wird. Solche Verallgemeinerungen individueller Möglichkeitsräume stellen typische Möglichkeitsräume oder Möglichkeitstypen dar (vgl. Holzkamp 1983, Kap. 9 ) , worin die Einzelfälle in ihren allen gemeinen Aspekten, die auf der Gemeinsamkeit ihrer Bedingungen und Handlungsgründe beruhen, enthalten sind. Die empirisch bestimmten Möglichkeitstypen dienen als Grundlage der Erkenntnis neuer Einzelfälle, die eben damit analysiert werden. Die Einzelfälle werden erprobend als Fälle vom betreffenden Möglichkeitstyp untersucht, können also die empirische Bestimmung des historisch sich verändernden typischen Möglichkeitsraums einerseits korrigieren, andererseits anreichern. Offenheit gegenüber den besonderen Aspekten der individuellen Möglichkeitsräume, die nicht in dem verallgemeinerten Möglichkeitstyp aufgehen, ist deswegen notwendiger Bestandteil einer jeden Einzelfallanalyse. So läßt sich das Fortschreiten der Erkenntnis des Einzelfalles allgemein folgendermaßen bestimmen: Ausgehend von einem bestimmten Möglichkeitstyp als vorläufiger und nichterschöpfender Bestimmung des Falles, geht die Erkenntnis in Richtung einer Verallgemeinerung des vorliegenden Einzelfalles. Dabei werden die konkreten Besonderheiten der je individuellen Fälle als Ausdruck von unterschiedlichen Realisierungsbedingungen und Realisierungsformen des Möglichkeitstyps verallgemeinert, die Individuen m.a.W. auch in ihrer Besonderheit verallgemeinert und diese nicht in die Störvarianz eines vorgestellten Standards geschoben. Da die reale Grundlage der Verallgemeinerung in der gemeinsamen subjektiven Betroffenheit von gemeinsamen Bedingungen, Möglichkeiten / Beschränkungen liegt, verweist sie auf die Möglichkeiten der Verallgemeinerbarkeit der Lebensbedingungen durch intersubjektiven Zusammenschluß der Betroffenen und Aufhebung der durch unterschiedlich beschränkte individuelle und typische Möglichkeitsräume bedingten individuellen und typischen Besonderheiten. Darin realisiert dieses Konzept die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz und verweist gesellschaftskritisch auf die Grundlagen und Möglichkeiten der Möglichkeitsverallgemeinerung. Auch in dem Sinne kann die erkenntnismäßige und die praktische Durchdringung der eigenen Angelegenheiten nicht getrennt werden. Anders könnte verallgemeinerte Vorherbestimmung nicht gedacht werden. Diagnostik ist, so Raeithel, letztlich immer eine Bestimmung jetzt realisierbarer und künftig möglicher Lebensformen. 243

Eine Diagnose legt aktual die Bedingungen der Ermöglichung/ Beschränkung von Entwicklung fest. Sie setzt bestimmte Bedingungen voraus, die, wenn unverändert, die Funktionalität des vorliegenden Problems/Symptoms aufrechterhalten, aber gibt gleichzeitig an, welche Bedingungsveränderungen (einschließlich pädagogisch-therapeutischer Unterstützung) für die Überwindung des Problems notwendig und möglich sind. Sie zeigt damit Zusammenhänge zwischen objektiven Möglichkeiten/Beschränkungen und individuellen Handlungen auf, verdeutlicht darin subjektive Handlungsgründe. Müßte doch in einer veränderungsorientierten Arbeit wie in der Therapie eben eine derartige Erkenntnis von Möglichkeiten die praxisrelevante Ausrichtung der erkenntnismäßigen Durchdringung und Unterscheidung durch die Diagnostik ausmachen. Daher muß die verallgemeinerte Erkenntnis von Möglichkeitsräumen eine Verallgemeinerung von abstrakten Eigenschaften oder von Syndromen als Grundlage der Psychodiagnostik ersetzen. Erst dann wird die Rolle des besonderen Symptoms im konkreten Lebenszusammenhang des Möglichkeitsraums begreifbar. Es folgt daraus, daß die Diagnose eines bestimmten Einzelfalles eher als Ergebnis denn als Ausgangspunkt der Therapie zu begreifen ist. Stellt sie doch die erkenntnismäßige Durchdringung, d . h . Verallgemeinerung eben dieses Einzelfalles dar. Sie ist aber ein im Laufe der Therapie unabschließbarer Prozeß, da sie an die Realisierung der realen Verallgemeinerung der gesellschaftlichen Lebensräume gebunden ist. Das Problem der Zeitlichkeit muß daher, wie von Hans Pfefferer-Wolf argumentiert wurde, grundsätzlicher im diagnostischen Denken aufgearbeitet werden. Schließlich ist die Diagnose ein Mittel in den Händen der betroffenen Klienten, um für sie selbst ihre Handlungsgründe durchdringbar zu machen: also eine subjektwissenschaftliche Diagnostik und kein Mittel der Kontrolle über den Klienten durch den Therapeuten. Nun muß die Entwicklung konkreter Methodiken, z . B . auf der Grundlage der oben skizzierten programmatischen Entwürfe, jeweils unter bestimmten aktuellen institutionellen Bedingungen in Angriff genommen und darin selber zur handlungsbezogenen Prozeßforschung werden. Dies wurde im Beitrag von Geert von der Laan & Jacques Zeelen betont (vgl. auch Zeelen 1983). Die Fortschritte werden durch Nutzung und Erweiterung konkreter Möglichkeitsräume realisiert. Konzepte und Methodiken der therapeutischen und diagnosti244

sehen Praxis können m.a.W. nicht bloß in Gedanken überwunden und verändert werden. Man kann vom Zwang des Therapeuten/Diagnostikers zum Überleben unter schwer veränderbaren institutionellen Bedingungen seiner Berufstätigkeit nicht absehen. Dieser Zwang drückt sich u . a . in der Forderung aus, hier und jetzt und auf kurze Sicht handeln und die täglichen Aufgaben in irgendeiner Weise bewältigen zu müssen. Gegenüber einer solchen Alltagstheorie der klinischen Arbeit ist jedoch die Gefahr hervorzuheben, die in der Verabsolutierung einer solchen Sichtweise liegt. Wenn das Mögliche auf das heute Abgeforderte und Machbare reduziert wird, verliert man den Blick für das morgen Mögliche und die weiteren Perspektiven und nutzt so auch die heutigen Spielräume der Erweiterung solcher Möglichkeiten nicht aus. Der unmittelbare Widerspruch zwischen der Alltagstheorie und der kategorial begründeten wissenschaftlichen Theorie muß ausgehalten werden, damit wir nicht den Kopf verlieren, orientierungs- und perspektivelos werden und den inneren Zusammenhang unserer Arbeit verlieren, so daß wir, ohne es zu merken, gegen die eigenen verallgemeinerbaren Interessen und die der Klienten handeln. Umgekehrt sollte die theoretische und methodische Neuorientierung uns als ein analytisches Mittel zur Ausrichtung und zur Überwindung der gegenwärtigen Beschränkungen und Widersprüche unserer Arbeit dienen. Von van der Laan & Zeelen wurde davor gewarnt, solche theoretisch-methodischen Entwicklungsversuche losgelöst von den durchschnittlichen Bedingungen der Praxis in spektakulärer Weise durchzuführen. Man würde dann in die Randgebiete gedrängt und hätte zur Bewältigung der Probleme unter den durchschnittlichen beschränkten Bedingungen nichts in der Hand. Es wurde daran erinnert, daß ein reines und totales Bündnis zwischen Therapeut und Klient heute durchschnittlich nicht realisierbar ist. Der Aspekt der Kontrolle über den Klienten, der Interessengegensätze und der Instrumentalisierung der Beziehung könne nicht einseitig eliminiert werden in der gegenwärtigen diagnostischen und therapeutischen Praxis. Eine rein subjektorientierte Diagnostik und Therapie stellt, in den Worten von Raeithel, eine konkrete Utopie dar. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß wir unter allen Bedingungen ein begründetes und ausgearbeitetes theoretisch-methodisches Instrumentarium benötigen, um im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die Bedingungen/Interessen zu analysieren und zu beeinflussen, die für die Klienten die Erwei245

terung ihrer Verfügungs- und Lebensmöglichkeiten fördern oder hemmen. Und warum sollte dabei die vom Therapeuten zu leistende Entwicklungsarbeit so grundlegend anders beschaffen sein als die, die er bei seinen Klienten fördern will? Also gilt auch für unsere eigene Praxis, daß wir uns dabei nicht blind in der jeweils aktuellen Problematik verfangen dürfen. Bei den Klienten wie beim psychologischen Praktiker führt eine Ausklammerung der Perspektive von Veränderungsmöglichkeiten in der gegenwärtigen Situation zu unklaren Problem- und Zielbestimmungen, so daß die Ausrichtbarkeit der eigenen Arbeit beeinträchtigt wird, was dann etwa durch die Ideologie einer neutralen Dienstleistung als einer Form restriktiver Handlungsfähigkeit überdeckt wird. Wenn die Klarheit über die Arbeit, d . h . über deren Ziele und Problembestimmungen fehlt, verschiebt sich ferner die Kontrollproblematik und spitzt sie sich gleichzeitig zu. Einerseits ist nicht länger klar, worauf die Kontrolle sich eigentlich beziehen sollte und ob den Interessen der Klienten gedient wird, andererseits macht sich eben deshalb ein Bedürfnis der methodisierten Kontrolle über den Therapieverlauf und über den Klienten stärker geltend. Solche Themen wurden ausführlicher vom "Projekt TheoriePraxis-Konferenz" auf dem Kongreß behandelt.

Literatur Holzkamp, K. (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. Jantzen, W. (1982): Diagnostik im Interesse der Betroffenen oder Kontrolle von oben?. In: Fach schaftsinitiative Sonderpädagogik ( H r s g . ) : Diagnostik im Interesse der Betroffenen, Würzburg, 10-51. Jüttemann, G. (Hrsg.) (1984): Neue Aspekte klinisch-psychologischer Diagnostik. Göttingen. Probst, H. (1981): Zur Diagnostik und Didaktik der Oberbegriffbildung. Jarick-Oberbiel. Zeelen, J . (1983): Zum Problem von Arbeit und Therapie in einer psychiatrischen Anstalt. Köln.

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VII. Anforderungsbezogene Entwicklung von Handlungsfähigkeit. Bericht über das Forschungs- und Anwendungsfeld "sozialpsychologisches Verhaltenstraining" an der Karl-Marx-Universität Leipzig Traudl Alberg

1. Allgemeine Zielstellung In diesem Beitrag wird über ein Forschungs- und Anwendungsfeld der Psychologie berichtet, das in der DDR unter dem Begriff sozialpsychologisches Verhaltenstraining bekannt ist, welches vor etwa 15 Jahren von Vorwerg (1971a, 1971b) initiiert wurde und gegenwärtig in konzeptioneller Verbindung mit Persönlichkeitspsychologie an der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Üniversität in Leipzig weiterentwickelt wird. Der Begriff sozialpsychologisches Verhaltenstraining ist insofern streitbar, als damit zwangsläufig zwei Richtungen angewandter Psychologie assoziiert werden, von denen sich unsere aktive Lernmethode jeweils konzeptionell unterscheidet. An anderer Stelle hatten wir uns sowohl von behavioristischen Veränderungskonzepten als auch von humanistisch-psychologischen Trainings abgegrenzt (Alberg, Schmidt 1980), das soll hier nicht nach vollzogen werden. Es ist zu hoffen, daß das Konzept in seiner Darstellung deutlich wird. Allgemeinstes Ziel der von uns entwickelten aktiven Lernmethode ist es, Personen in bestimmten Anforderungen handlungsfähiger zu machen, sie zu befähigen, effektiver zum Erreichen gesellschaftlicher Zielstellungen im Sinne verallgemeinerter Interessen beizutragen. Zielgruppe unserer Bemühungen sind in der Regel Personen, die für kooperative Prozesse leitend verantwortlich sind, so etwa Leiter in der sozialistischen Industrie und Erzieher, auch Eltern und Psychologen. Diese Verantwortung ist auf zwei miteinander verknüpfte Ziele der Kooperation bezogen. Zum einen haben sie den Kooperationsprozeß bezüglich einer Sachaufgabe (unter Berücksichtigung interpersonaler Kooperationsbedingungen) anzuleiten, zum anderen gehört es zu den Postulaten unserer Gesellschaft, in jeglicher kooperativen Sachaufgabe gleichzeitig die persönliche Entwicklung der am Kooperationsprozeß beteiligten Personen zu fördern. Diese beiden Ziele sind nicht widerspruchsfrei zu integrieren, häufig ist es 247

zeitweilig notwendig, einer Seite das Primat zu geben. Umso bedeutsamer ist es, Personen zu befähigen, gerade mit diesem Widerspruch produktiv umzugehen. Dabei zu helfen ist ein Anliegen des sozialpsychologischen Verhaltenstrainings. Wir gehen davon aus, daß sich die kooperative Realitätskontrolle (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975) in je konkreten Kooperationsprozessen vollzieht, die von den Mitgliedern der Gesellschaft arbeitsteilig realisiert werden. Die Teilhabe an arbeitsteilig realisierten gesellschaftlichen Kooperationsprozessen mit größtmöglichem Nutzen für die Erreichung verallgemeinerter Interessen stellt an Personen in Abhängigkeit von ihrer Stellung in diesem Prozeß sehr unterschiedliche Anforderungen. Es gibt keine Kooperativität schlechthin, ebenso wie kooperatives Verhalten von gesellschaftlichen Zielen abhängig ist. Ziel des Trainings ist es, Personen zu befähigen, an ihrem spezifischen Platz in der Gesellschaft (in der Regel interessiert uns der Beruf) die je spezifischen Kooperationsbedingungen in möglichst hohem Maße auszuschöpfen und damit den eigenen Anteil an der aktiven Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse gemäß verallgemeinerter Interessen zu erhöhen. Damit wird insofern ein Beitrag zur Entwicklung individueller Handlungsfähigkeit geleistet, als Menschen befähigt werden, unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen die Möglichkeiten und Potenzen einer effektiven Einflußnahme auf die Prozesse, für die sie Verantwortung übernommen haben, wirklich im Sinne gesellschaftlicher Zielstellungen auszuschöpfen. Bei den uns interessierenden Personengruppen haben die Anforderungen, die sich aus der Stellung im gesellschaftlichen Kooperationsprozeß ergeben, im Aktuellen interpersonalen Charakter. Nach außen wird die Handlungsfähigkeit in der Realisierung von Handlungen wirksam, die eine effektive Anforderungsbewältigung zur Folge haben. Psychologisch ist natürlich relevant, wie diese Handlungen psychisch reguliert sind, welche psychischen Voraussetzungen entsprechendes Verhalten ermöglichen. Ziel einer psychologisch begründeten Veränderungsstrategie von Verhalten ist es demzufolge, effektives Verhalten auf der Grundlage veränderter Regulationsbedingungen zu erreichen; Hauptgegenstand unserer Forschungen ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen effektivem Verhalten und entsprechenden psychischen Regulationsbedingungen und Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Dabei geht es nicht darum, in einem Trainingskurs Persönlichkeiten zu verändern oder psychische Regulationsbedingun248

gen und Verhalten für den gesamten Anforderungsbereich beispielsweise einer Berufsgruppe zu entwickeln. Ein Programm ist immer nur auf einen spezifischen Anforderungsbereich gerichtet. Erfahrungen haben gezeigt, daß es sich bei komplexeren Anforderungen als günstig erweist, mehrere aufeinanderfolgende Aufbaukurse durchzuführen. Damit ergibt sich das Problem der Auswahl einer relevanten Anforderung und einer Anforderungsanalyse als Voraussetzung für ein Trainingsprogramm (vgl. 2 . ) . Beispiele für solche anforderungsbezogenen Trainingsprogramme sind das zum kollektiven Problemlösen (Lampe, in Vorbereitung), zur Gesprächsführung in konflikthaltigen partnerschaftlichen Situationen in der Leitungstätigkeit (Schmidt 1984), zur Führung von Beratungsgesprächen in der Berufsberatung (Slomka, in Vorbereitung), zum Erziehungsverhalten von Kindergärtnerinnen im Spiel (Born 1984) und zur Verhandlungsführung (Alberg 1979, 1982). Die Art der aufgezählten Programme macht deutlich, daß die Akzentuierung von Sachlösungen und persönlicher Entwicklung der am Kooperationsprozeß Beteiligten natürlich unterschiedlich ist. Während im Kindergarten die Sachaufgabe im Hinblick auf die persönliche Entwicklung der Kinder organisiert ist, dominiert in der Verhandlung der Sachaspekt. Darüber hinaus gibt es Trainingsprogramme, die stärker auf die Entwicklung psychischer Teilfunktionen gerichtet sind, die für bestimmte Anforderungen zunächst unspezifisch sind, so z . B . zur Entwicklung von Denkbeweglichkeit bei der Problemlösung (Schmidt 1978, 1979). Auch zur Behandlung von psychischen Fehlentwicklungen (Vogel 1980) und zur Entwicklung von Erfolgsmotivation konnte Training erfolgreich angewendet werden (Vorwerg 1977, Horst 1982). Wir sind nicht der Auffassung, mit dem Training in unserem Verständnis die Methode gefunden zu haben, mit deren Hilfe individuelle Handlungsfähigkeit entwickelt werden kann. Es handelt sich um eine Methode aktiven Lernens mit eingegrenzter Zielstellung, die sich in den Gesamtkontext von Lern- und Entwicklungsbedingungen in der Gesellschaft einordnet. Die Ableitung theoretischer und methodischer Fragen wird exemplarisch durch Aussagen über zwei Programme, die sich auf zwei in ihrer Struktur unterschiedliche Anforderungen beziehen, unterlegt, nämlich über Programme zur Effektivierung von Verhandlungsverhalten und zum Führungsverhalten von Kindergärtnerinnen im Spiel.

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2. Anforderungsanalysen als Voraussetzung für anforderungsbezogenes Training Mit dem Ziel, Beliebigkeit in der Trainingsforschung einzuschränken, geht der Entwicklung von Trainingsprogrammen eine Anforderungsanalyse voraus, mit deren Hilfe gesellschaftlich bedeutsame Anforderungen ausgewählt, in ihrem Wesen, ihrer Widersprüchlichkeit und den Potenzen nach, die sie für gesellschaftliche Ziele haben, bestimmt werden. Es werden Analysen vorgenommen, in deren Ergebnis Annahmen darüber stehen, wie die Potenzen der Anforderung für gesellschaftliche Realitätskontrolle durch Entwicklung individueller Handlungsfähigkeit tatsächlich nutzbar gemacht werden können und welche Konsequenzen sich daraus für Trainingsprogramme ergeben. Im folgenden werden die Hauptsschritte von Anforderungsanalysen skizziert.

2 . 1 . Anforderungsauswahl und -bestimmung Wenn sich Training immer nur auf bestimmte Anforderungen richtet, so muß durch die Forschungsstrategie gesichert werden, daß es sich dabei um relevante Anforderungen handelt. Bei der Anforderungsauswahl kommen in unserer Forschung mindestens drei Relevanzkriterien zur Anwendung, nach denen das Anforderungsprofil der entsprechenden Population untersucht wird. 1. Wir wählen solche Anforderungen aus, die für die Erreichung gesellschaftlicher Zielstellungen für die jeweilige Population besonders bedeutsam sind, eine zentrale Stellung im Anforderungsprofil einnehmen. 2. Uns interessieren Anforderungen, die weniger effektiv bewältigt werden als andere (was häufig durch ihre strukturelle Andersartigkeit gegenüber anderen Anforderungen dieser Population erklärt werden kann). 3. Wir erachten solche Anforderungen (meist mit 2. eng im Zusammenhang) für relevant, bei deren Bewältigung die Schwierigkeiten tatsächlich von den Betroffenen reflektiert werden, auf die bezogen eine hohe Änderungsbereitschaft festgestellt werden kann. Teilweise wird diese Auswahl bereits durch den Auftraggeber vorgenommen, andernfalls erfolgt sie auf der Grundlage empirischer Untersuchungen unter Einbeziehung der betreffenden Personen. Das soll am Beispiel des Trainings für 250

Kindergärtnerinnen veranschaulicht werden. Hier waren es vor allem die folgenden drei Gesichtspunkte, die uns dazu bewogen, das Führungsverhalten von Kindergärtnerinnen in der Organisationsform Spiel als relevante Anforderung auszuwählen und zum Gegenstand weiterer Analysen und eines Trainingsprogrammes zu machen. Zum ersten gilt das Spiel im Vorschulalter als dominierende Tätigkeit, ihm kommt aus entwicklungspsychologischer Sicht (und der wird im Bildungs- und Erziehungsplan der Vorschulerziehung in vollem Maße Rechnung getragen) ein besonderer Stellenwert für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu, vor allem in Hinblick auf die Herausbildung von Selbständigkeit, Kooperativität und Kreativität. Es zeigte sich, daß sich der Führungsstil der Kindergärtnerinnen im Spiel auf Grund der Spezifik dieser Organisationsform wesentlich von effektivem Führungsverhalten in anderen Organisationsformen unterscheiden muß. Darüber hinaus konnten wir bereits in ersten Untersuchungen zeigen, daß die Kindergärtnerinnen während des Spiels (also in einer Beschäftigungsform, die im Vorschulalter wesentlich für die Entwicklung des Kindes ist) die größten Unsicherheiten bezüglich ihres Führungsverhaltens hatten. Hier werden Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Anforderung am ehesten reflektiert, das Änderungsbewußtsein der Erzieherinnen ist groß. Eng mit der Auswahl einer trainingsrelevanten Anforderung verbunden erfolgt ihre nähere Bestimmung. Es muß geklärt werden, welche gesellschaftlichen Anliegen mit der jeweiligen Anforderung realisiert werden können, welche Potenzen eine effektive Bewältigung der Anforderung bezüglich der Realisierung gesellschaftlicher und individueller Interessen in sich birgt. Das setzt genauere Strukturanalysen einschließlich der Analyse potentieller Tätigkeitsergebnisse voraus. Es sind gesellschaftlich nützliche von weniger nützlichen Ergebnissen zu unterscheiden, wobei der größte gesellschaftliche Nutzen nicht immer mit einem Maximum identisch ist. So kann beispielsweise das Erziehungsziel nicht darin bestehen, ein Maximum an Kreativität, Selbständigkeit und Kooperativität zu entwickeln. Das würde zwar dem Ideal einer sozialistischen Persönlichkeit entsprechen, jedoch unter realen Bedingungen einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Erziehungsziele können nur aus einer Vermittlung von Idealen, die in der Entwicklung angestrebt werden, und konkret historischen realen Entwicklungsbedingungen abgeleitet sein. Damit sind Kreativität, Kooperativität und Selbständigkeit immer historisch konkret bestimmt. 251

Wir hatten uns bereits an anderer Stelle dazu geäußert, daß Subjekt-Sein eine Wechselwirkung von Bestimmung der Lebensverhältnisse und von Bestimmtsein durch konkret historische Verhältnisse einschließt (Vorwerg, Alberg 1983, vgl. Holzkamp 1977). Daraus folgt, daß diejenigen Persönlichkeiten am ehesten ihre Subjektfunktion realisieren, die mit diesem Widerspruch produktiv umgehen können, die in der Lage sind, als sich integrierende Mitglieder der Gesellschaft unter konkret historischen Bedingungen die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung ihrer Ideale voranzutreiben. Damit wird ein generelles Anliegen des Trainings deutlich. Es geht weder darum, Personen in konkrete gesellschaftliche Bedingungen einzupassen, noch darum, Trainingsziele allein aus Entwicklungsidealen abzuleiten, sondern Personen zu befähigen, die realen Potenzen ihrer je konkreten Stellung in der Gesellschaft tatsächlich für gesellschaftliche Entwicklung, also für die Realisierung verallgemeinerter und damit auch eigener Interessen zu nutzen und damit natürlich zwangsläufig die Anforderungen selbst zu verändern . Trainingsziele sind demzufolge nicht allein mit psychologischen Methoden zu generieren. Es gehen übergeordnete (formationsspezifische) gesellschaftliche Ziele ein. Auch sind die Anforderungsanalysen in der Regel nur auf der Grundlage von Erkenntnissen anderer Wissenschaften möglich, so im Falle des Führungsverhaltens von Kindergärtnerinnen neben entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten von Erkenntnissen der Pädagogik und deren Umsetzung in Bildungs- und Erziehungsplänen. Es wird ebenfalls eine genaue Kenntnis der Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne vorausgesetzt. Im Ergebnis der Anforderungsbestimmung sollte ein Modell der jeweiligen Anforderung, das die wesentlichen Strukturparameter und die gesellschaftliche Relevanz effektiver Ergebnisse (in Absetzung von ineffektiven Ergebnissen) umfaßt, stehen. Für die uns interessierende Zielgruppe gehört zur Wesensbestimmung immer auch der je spezifische interpersonale Charakter der Anforderung, die ja immer eine Konkretisierung kooperativer Prozesse ist, in der die oben skizzierten Widersprüche je spezifisch gelöst werden müssen. Die Anforderung selbst ist ihrerseits durch ihre immanenten Widersprüche charakterisiert, die aufzudecken eine Aufgabe der Anforderungsanalyse ist. So ist beispielsweise die Verhandlung durch eine spezifische partiell widersprüchliche Interessenstruktur charakterisiert, mit der der Verhandler bewußt 252

umgehen muß. Die Anforderung an das Führungsverhalten im Spiel ist insofern in sich widersprüchlich, als ein Prozeß gelenkt werden muß (Spiel), der sich gerade durch einen (durch die Erzieherin zu fördernden) Grad an Selbständigkeit und Kreativität auszeichnet.

2 . 2 . Zum idealtypischen Verlauf des interpersonalen Prozesses Nachdem wir Vorstellungen über Relevanz und Wesensmerkmale der Anforderung im oben genannten Sinne und darüber haben, welche potentiellen Ergebnisse effektiv sind, entsteht die Frage, welcher Prozeß ablaufen müßte, damit entsprechende Ergebnisse erreicht werden können. Dabei ist das Einbezogensein der uns interessierenden Personen an diesem je spezifischen interpersonalen Prozeß unterschiedlich. Die beiden zur Illustration ausgewählten Trainingsprogramme repräsentieren hier jeweils einen anderen Fall der Integration im interpersonalen Prozeß der Aufgabenbewältigung. Im Falle der Erziehungssituation liegt folgender Sachverhalt vor: Hauptanliegen des Spiels ist es, daß die Kinder in ihrer Entwicklung hinsichtlich Kooperativität, Kreativität und Selbständigkeit gefördert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muß der Prozeß, den die Kinder durchlaufen (also das Spiel) derart sein, daß die Kinder in schöpferischer, selbständiger, kooperativ aufeinander bezogener Spieltätigkeit die angezielten Persönlichkeitsmerkmale herausbilden können. Eine entsprechende Spieltätigkeit der Kinder in ihrer regelhaften Wiederholung ist die entscheidende Bedingung dafür, daß die gesellschaftlichen Ziele der Anforderung erreicht werden. Wobei den Kindern natürlich dieses Ziel, sie in* ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, nicht bewußt i s t . Ihr subjektives Interesse ist es zunächst, im Spiel aktiv zu sein, mit Partnern gemeinsam eine selbständige Aufgabe spielerisch zu bewältigen und Spaß daran zu haben. Dafür bedürfen sie der Hilfe durch die Erzieherin in Form unterstützenden lenkenden Verhaltens. Die Erzieherin ist für diesen Prozeß verantwortlich, muß ihn (indirekt) lenken, sie ist jedoch nicht direkt sachlich in den Spielprozeß integriert. Sie ist für die Kinder insofern Partner, als sie ihnen hilft, deren Tätigkeit "effektiv" (im Sinne kindlicher Zielstellungen) zu gestalten, kontrolliert jedoch den Prozeß relativ "von außen", indem sie ihn organisiert und spezifisch so lenkt, daß sich der Ablauf auf die Ziele der Kinder bezogen gestaltet. Damit realisiert sie gesellschaftliches Interesse. 253

Für die Ariforderungsanalyse gilt es, auf vorangegangenen Analyseergebnissen aufbauend und durch empirische Erhebungen unterstützt, Vorstellungen über einen idealtypischen Verlauf des zu organisierenden Prozesses zu entwickeln. Idealtypisch meint hier, daß sehr unterschiedliche individuelle Konkretisierungen solcher Tätigkeitsverläufe möglich sind, von denen abstrahiert wird. Bei den Verlaufsanalysen machen wir uns tätigkeitspsychologische Beschreibungskategorien zunutze (vgl. Tomaszewski 1975, 1978). Wir fragen also beispielsweise im Spiel danach, wie sich die Spieltätigkeit strukturieren und gestalten sollte, damit sich die Kinder im gewünschten Sinne entwickeln können. So ist es wichtig, daß die Kinder beispielsweise in der Vorbereitungsphase auf das Spiel zunächst selbständig Spielgruppen bilden und dabei alle Kinder integrieren, Spielideen aufeinander bezüglich Spielinhalt, Rollen, Spielmaterial u . a . abstimmen, Material bereitstellen usw. Es zeigt sich, daß das Spiel häufig gestört ist, wenn sich die Kinder in der Vorbereitungsphase nicht die nötigen Bedingungen dafür schaffen. Die Qualitäten der eigentlichen Spielphase, in der die Kinder spielerisch Rollen übernehmen und sich in diesen Rollen tätig aufeinander beziehen, in spielerischer Tätigkeit Bedeutungen aneignen, können hier nicht im einzelnen beschrieben werden. Der eigentliche Spielverlauf geht dann in die Abschlußphase über, in der die Kinder die Rollen ablegen, die Spielgruppen auflösen und aufräumen. Erst im Zusammenhang mit diesem Spielverlauf interessiert uns, mit welchem Verhaltensmuster und mit welchen Mitteln die Erzieherin diesen Prozeß aus der Position des Erziehers spezifisch beeinflussen müßte, damit er idealtypisch ablaufen kann. Insofern kontrolliert sie diesen Prozeß relativ "von außen". Die Art der Integration eines Verhandlers in eine Verhandlungssituation gestaltet sich anders als die eines Erziehers im Spiel der Kinder. Er geht eine interpersonale Beziehung zum Verhandlungspartner bezüglich eines Verhandlungsgegenstandes ein, an dem er vornehmlich sachlich interessiert ist. Sein Hauptinteresse ist ein möglichst effektiver Vertrag über den Verhandlungsgegenstand, selbstverständlich gibt es daneben in der Regel auch ein interpiersonales Interesse hinsichtlich längerfristiger Kooperationsbeziehungen mit dem jeweiligen Partner. Der wesentliche Unterschied zu oben geschilderten Aufgaben der Erzieherin besteht darin, daß der Verhandler direkt in den Prozeß integriert ist, der zum Verhandlungsergebnis führt. Das Tätigkeitsziel beider Partner bezieht sich auf einen gemeinsamen Gegenstand, jedoch mit zumindest partiell gegenläufigen Zielvorstel254

lungen, die den immanenten Widerspruch der Anforderung ausmachen. Es ist möglich und notwendig, Vorstellungen über einen idealtypischen Verlauf von Verhandlungen bezogen auf effektive Verhandlungsergebnisse zu entwickeln. Beachtet werden muß jedoch der Umstand, daß der Verhandlungspartner direkt in diesen Prozeß integriert ist, den er steuern muß. Ebenso ist es auch das Anliegen seines jeweiligen Partners, den Prozeß auf ein Ziel hin zu steuern, das zu dem des Verhandlungspartners zumindest partiell widersprüchlich ist. Das stellt eine andersartige Anforderung an das Verhalten dar, worüber in einem nächsten Analyseschritt Aussagen gewonnen werden müssen. Beiden Anforderungen ist gemeinsam, daß es nicht möglich ist, einen relativ festgelegten Algorithmus für bestimmte Anforderungen zu beschreiben, der jeweils von den trainierten Personen nachvollzogen werden kann. Interpersonale Situationen sind jeweils auf übergreifende gesellschaftliche Bedeutungen und Ziele bezogen und realisieren sich in der Gesamtstruktur von Anforderungen. Sie werden immer auch von den Partnern und deren Beziehungen zueinander und zu Gegenständen beeinflußt. Die Steuerung dieses von gesellschaftlichen Bedeutungen getragenen interpersonalen Prozesses durch Verhalten muß sich demzufolge (orientiert an idealtypischen Modellvorstellungen) überaus dynamisch realisieren, und entsprechend muß es psychisch reguliert werden (vgl. 2 . 3 . ) . In der Begrifflichkeit von Busse und Lampe (1984) gewinnen wir mit den bisher vollzogenen Schritten der Anforderungsanalyse also lediglich Aussagen über die Anforderung auf der abstrakt-potentiellen Handlungsebene. Abstrakt meint hier, daß Modellvorstellungen entwickelt werden, die noch nicht auf eine konkrete Situation einer bestimmten Person bzw. Gruppe bezogen sind, sondern eine Verallgemeinerung über einen Typ von Anforderungen darstellen. Potentiell meint, daß die Konkretisierungen des Idealtypischen in einer konkreten Situation sehr vielfältig sein können.

2 . 3 . Psychische Voraussetzungen für anforderungsadäquates Verhalten Wir wollen nun Konsequenzen untersuchen, die sich für das Verhalten und dessen psychische Regulation ergeben. Über das Verhalten kann zunächst ganz allgemein angenommen 255

werden, daß es darauf gerichtet ist, den konkreten interpersonalen Prozeß an den idealtypischen Prozeßverlauf anzunähern, um damit effektive Ergebnisse zu erzielen. Die psychische Regulation des Verhaltens realisiert sich unserer Auffassung nach dabei mindestens auf zwei Ebenen. Wir folgen der Einstellungskonzeption der von üsnadse (1961, 1966, vgl. Prangischwili 1978, Vorwerg 1976) begründeten georgischen Schule der sowjetischen Psychologie, die eine jeweils ganzheitliche Gerich tetheit psychischer Prozesse in einer aktuellen Anforderung zu Grunde legt. Gemeint ist damit ein spezifisches Eingestellt-Sein (üstanowka) auf eine Anforderung, das im Aktuellen als eine anforderungsspezifische selektive Informationsaufnahme, Situationsbewertung (die motivationale Prozesse einschließt) und Handlungsaktualisierung wirksam wird. Verhaltensregulation verläuft immer im Aktuellen und ist auf Aktuelles bezogen (also auf eine konkrete aktuelle Anforderung). Das Eingestelltsein auf die aktuelle Situation resultiert jedoch aus Bedeutungen, die über das Aktuelle hinausgehen. Zum einen beziehen sie sich auf abstrakt-potentielle Handlungsebenen im oben skizzierten Sinne, zum anderen darauf, wie sich die jeweilige Person mit ihren subjektiven und objektiven Handlungsmöglichkeiten dazu ins Verhältnis setzt. Dieses Sich-ins-Verhältnis-Setzen beschreiben Busse und Lampe (1984) als konkretpotentielle Handlungsebene. Konkret meint hier, daß es sich um eine bestimmte Person mit ihren subjektiven Handlungsmöglichkeiten unter konkreten, objektiven Handlungsbedingungen handelt. Potentiell bedeutet, daß diese Person (unter den konkreten subjektiven und objektiven Bedingungen) jeweils sehr unterschiedliche Möglichkeiten hat, die Anforderung im Aktuellen zu bewältigen. Adäquate, effektive Anforderungsbewältigung setzt Vereinbarkeit zwischen potentiell-abstrakten und potentiell-konkreten Handlungsebenen im Sinne eines Sich-Einstellens auf die aktuelle Situation voraus. Das ist eine Bedingung für anforderungsadäquate Verhaltensregulation in der aktuellen Handlungsebene. Ich will versuchen, unsere Vorstellungen über wichtige Komponenten der Verhaltensregulation am Beispiel des Verhandlungsverhaltens zu verdeutlichen. Effektives Verhandlungsverhalten setzt neben unspezifischen Bedingungen seitens des Verhandlers mindestens folgende situationsspezifischen Regulationsvorgänge und Tätigkeiten voraus (vgl. Abb. 1 ) . Der Verhandler hat ein abstrakt-potentielles Abbild von Verhandlungen und von effektiven Ergebnissen, die in Verhandlungen erreicht 256

werden können, und ein Abbild über den idealtypischen Prozeßverlauf von Verhandlungen und über diejenigen Verhaltensmuster, mit deren Hilfe man Verhandlungen effektiv führen kann. Das bedeutet, daß er über Abbilder verfügt, die der oben skizzierten Anforderungsanalyse entsprechen. Aus diesem Abbild und der Kenntnis seiner Handlungsmöglichkeiten (unter konkreten Bedingungen seines Betriebes, seiner personellen Voraussetzungen, des Partners usw.) kann er (vorausgesetzt, er akzeptiert die gesellschaftlichen Ziele als persönliche Ziele und ist motiviert, sich für deren Erreichung einzusetzen) Vorstellungen über eine konkrete bevorstehende Verhandlung mit einem konkreten Partner um einen konkreten Gegenstand generieren, in dem die konkrete potentielle Interessenstruktur, der potentielle Verlauf dieser konkreten Verhandlung und konkrete potentielle Ergebnisse repräsentiert sind. Konkret meint hier, daß schon klar ist, wer mit wem wann worüber unter welchen Bedingungen verhandeln wird. Potentiell meint, daß abhängig vom Verhalten beider Partner und abhängig von tatsächlichen Verhandlungsbedingungen (objektseitig) sehr unterschiedliche aktuelle Verläufe und Ergebnisse möglich sind. Eben diese aufeinander bezogenen Abbilder (auf der abstrakt-potentiellen und der konkret-potentiellen Ebene) funktionieren im Sinne eines Sich-Einstellens auf die aktuelle Verhandlungssituation mit dem Partner X zum Zeitpunkt t über den Gegenstand Y unter den Bedingungen Z. Sie machen die situationsspezifische ganzheitliche Gerich tetheit der psychischen Verhaltensregulation auf die aktuelle Situation aus. Diese situationsspezifische ganzheitliche Gerich tetheit (aktuelle Einstellung) entsteht natürlich auf dem funktionalen Hintergrund von anforderungsunspezifischen aktuellen und Grundeinstellungen der Person. Dieser Zusammenhang soll hier nicht näher untersucht werden. Wenn eine Person zielstrebig in eine vorbereitete Verhandlung geht, beginnt dieses Sich-Einstellen bereits vorab, befindet sie sich unvorbereitet in einer Situation, so muß sie sich zunächst in der Situation orientieren, sie identifizieren (z.B. ein abstrakt-potentielles Abbild aktualisieren) und Abbilder über die konkret-potentielle Handlungsebene generieren. Das so verstandene Eingestelltsein auf eine aktuelle Situation auf dem beschriebenen Wege stellt das Prinzip der selektiven Informationsaufnahme und -bewertung, der Zielbildung und der Aktualisierung von Verhaltensmustern im Aktuellen dar. Die Abbildung 1 soll verdeutlichen, daß zum Zeitpunkt t- (Beginn der Verhandlung) der aktuelle Pro257

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