Subjektivitat Und Freiheit: Untersuchungen Zum Idealismus Von Kant Bis Hegel (Spekulation Und Erfahrung) (German Edition) 3772826148, 9783772826146

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Subjektivitat Und Freiheit: Untersuchungen Zum Idealismus Von Kant Bis Hegel (Spekulation Und Erfahrung) (German Edition)
 3772826148, 9783772826146

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Klaus Düsing: Subjektivität und Freiheit

Spekulation und Erfahrung Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus

Herausgegeben in Verbindung mit den Institutionen Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Abteilung II: Untersuchungen

Band 47

Subjektivität und Freiheit Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel

von Klaus Düsing 2., um ein Nachwort erweiterte Auflage

frommann-holzboog

2013

Redaktion: Walter Jaeschke, Bochum Jörg Jantzen, München Guiseppe Orsi, Napoli Günter Zöller, München

in Verbindung mit: Wilhelm G. Jacobs, München Otto Pöggeler, Bochum

Dieser Band wird vorgelegt vom Hegel Archiv der Ruhr-Universität Bochum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7728-2614-6 © frommann holzboog Verlag e.K. : Eckhart Holzboog Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 Satz: Tobias Schlicht, Köln

Druck und Einband: SDL - Schaltungsdienst Lange, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Inhalt

Einleitung: ‚Subjektivität‘ in gegenwärtiger und in klassischer deutscher Philosophie ...........nsssssssenenennennnnnnnnnnnnnnnunnnnnnnnn I.

7

Theoretische Philosophie im transzendentalen Idealismus ...........nsenenesesesnenenennnnnnnnenenennnnennnnnnsenennnnnen

33

Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption ....ueeesssesesessenenenensnnsnensnnnesenensonannsnsennen seen nenne

35

Einbildungskraft und selbstbewußtes Dasein beim frühen Fichte ......uucennsessesenennenenenensnenenenn

89

Gibt es einen Zirkel des Selbstbewußtseins? Ein Aufriß

von paradigmatischen Positionen und Selbstbewußt-

II.

seinsmodellen von Kant bis Heidegger .......nnnne.

111

Subjektivitätstheorie und Metaphysik im spekulativen Idealismus .........nnesnnenenenenenenesnsnsesesnsnnesesnsnensnsnssnnanannn

141

Konstitution und Struktur der Identität des Ich.

III.

Kants Theorie der Apperzeption und Hegels Kritik...

143

Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Überwindung negativer Theologie bei Schelling und Hegel .............ensessennenenneneenene

181

Ethik und Freiheitslehre ...........enenesnennnn Spontaneität und Freiheit in Kant praktischer Philosophie ..........u.eenesesesenenenenenenesnsnnnnnesnsnsnnn een ennnnen en

209

Ethik und Staatslehre bei Plato und Hegel ................

236

211

IV.

Idealistische Ästhetik ......annaannnnnnnnenennennnnnnnennnnnnnn

251

Schellings Genieästhetik ........unnnessnsensesenesnsenenenenennnnne

253

Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel ......

275

Nachweise ...uuessesesesesesnsenenennnenenennannnnsnnnnnnnnnnennnnsnnenenenenenenenenennnens

313

Danksagung ..........eenesnesseseennnnnunnnensensnsnansennnsonn

315

Nachwort zur zweiten Auflage .......nnseesnenssenennnenennnnn

317

Personenregister .....unensessesenesesnsnennnnenenennensnsnensnnnnennsesnnonsn nenn

319

Sachregister .....uennssesenenenenenenenenenenennnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnsnnnensnnnsnsnsnsnn

322

Einleitung: ‘Subjektivität’ in gegenwärtiger und in klassischer deutscher Philosophie

I. Skizze der gegenwärtigen Situation Wer heute Fragen zu ‘Subjektivität’ und ‘Selbstbewußtsein’ erörtert, kann sich wieder einer breiteren wissenschaftlichen Aufmerksamkeit erfreuen. Das war vor kurzem noch anders. Aus unterschiedlichen, oft miteinander unverträglichen Gründen waren diese

Themen weitgehend verfemt. Man suchte die Einheit des Selbst und des Selbstbewußtseins vielmehr aufzulösen, z.B. in bewußte und vorbewußte

Erlebnisse und Erlebniskomplexionen,

so daß

solche Dekomposition dem Schlachtruf, wie ihn Ernst Mach formulierte, folgen konnte: „Das Ich ist unrettbar“'; dies geschah in

unterschiedlichen Theorien des ‘Psychologismus’; oder man versenkte die Einheit des Selbst bzw. der aktionsfähigen Person in der als eigene substantielle Entität verstandenen Gesellschaft, bzw. man löste sie systemtheoretisch ganz auf in einem derartigen substantiellen Sozialsystem; dies wurde in durchaus divergenten Theorien des bis in die Gegenwart fortwırkenden ‘Soziologismus’ unternommen, wenn man diese Analogiebildung zum “Psychologismus’ zugesteht. Jedesmal wird eine selbständige Bedeutung schon eines

empirischen Selbst oder Selbstbewußtseins, erst recht diejenige eines apriorischen Selbstbewußtseins

geleugnet, und zwar ohne

daß eine fundierte Auseinandersetzung mit einer der klassischen Subjektivitätstheorien insbesondere aus der Epoche von Kant bis

Hegel stattfindet. Dies gilt in gesteigertem Maße für die unterschiedlichen Versionen von Einwänden gegen Selbst und Selbstbewußstsein 1

E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (zuerst 1886), 9. Aufl. Jena 1922 (Nachdruck: Darmstadt

1985), S. 20.

in der zu Ende gehenden, aber immer noch wirkungsmächtigen und weitverbreiteten analytischen Philosophie. Hier werden verschiedene Einwände gegen einen genuinen Sinn der Rede in der ersten Person oder der ‘ich’-Rede erhoben, ferner gleichartige behavioristische, Introspektion leugnende Einwände und vor allem

diverse Einwände gegen den Sinn von Selbst und Selbstbewußtsein überhaupt aufgrund eines Physikalismus oder aufgrund einer der Versionen des modernen Materialismus. Gerade Einwände der letzten Art werden auch heute entschieden und kompromißlos vertreten. Diese Kontrapositionen bieten ein seltsames Schauspiel, da die klassischen Positionen, gegen die sie sich wenden müßten, nahezu aus ihrem Blickfeld geraten sind.? Die Wiederbelebung der Debatte um den Sinn von Bewußtsein, Selbst, Selbstbewußtsein oder Subjektivität ıst heute im Bereich der Wissenschaften wesentlich durch die stürmischen Fortschritte in der Gehirnphysiologie verursacht. Diese wurden und werden freilich keineswegs überwiegend zugunsten einer Revitalisierung des Sinnes jener Termini ausgelegt. Von zentraler Bedeutung ist, betrachtet man solche Auslegungen, die Unterscheidung der neuen, teilweise aufsehenerregenden empirischen Erkenntnisse der Gehirnphysiologie von deren grundlegender philosophischer Interpretation bzw. von deren Einordnung in übergeordnete, oft

nicht hinreichend durchschaute, philosophische Zusammenhänge. Daher muß man damit rechnen, daß durchaus subtile, innovative

empirische Erkenntnisse in der Neurophysiologie eine philosophische Deutung erfahren, die nicht notwendig oder sogar überhaupt nicht daraus folgt. So ist es nicht zu verwundern, daß es zu sehr divergierenden

Auffassungen über das Verhältnis von Geist und Gehirn bei solchen Deutungen gekommen ist, sei es daß sie von produktiven, 2

Zur ausführlicheren Darlegung und Erörterung dieser und weiterer Grundtypen von Einwänden gegen den eigenständigen Sinn von Selbst und Selbstbewußtsein im 20. Jahrhundert mag der Hinweis erlaubt sein auf die Untersuchung

des Verf.s: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997, S. 23-120.

empirisch Forschenden in der Gehirnphysiologie, sei es daß sie von Philosophen konzipiert wurden. Drei Grundrichtungen las-

sen sıch unterscheiden, die je in sich noch Differenzierungen bergen: Eine ältere, heute kaum mehr explizit fortgesetzte Richtung ist der neutrale Monismus (W. James, E. Mach, B. Russell).” Er unterscheidet das Physische und das Psychische nach den jeweili-

gen Methoden der Erforschung durch Physik und durch Psychologie, jeweils in weitem Sinne verstanden, führt aber diese Un-

tersuchungsgegenstände auf einen für sich selbst „neutralen Stoff“ der Welt zurück. Implizit lebt diese Auffassung heute ın man-

cherlei bloß methodischen Unterscheidungen zwischen mentalen Vorgängen und ihnen korrespondierenden Gehirnprozessen fort. Wie allerdings eine Erkenntnis des objektiv zugrunde liegenden „neutralen Stoffs“ selbst möglich sein soll, bleibt offen. Eine zwei-

te Richtung ist der Dualismus von Geist- und Gehirnprozessen. Er wird als cartesianischer Dualismus vor allem von J.C. Eccles* und seinen Anhängern vertreten; danach ist der menschliche Geist eine vom Gehirn distinkte eigene Realität. Die sich bei dieser Theorie einstellenden Probleme sind denjenigen analog, die sich

bei Descartes ergeben, z.B. wie ein Geist in das Gehirn eines aufwachsenden Menschen gelangt und sich dort ausbildet. Eine vorsichtigere Variante des Dualismus ist der Eigenschaftsdualismus

3

Vgl. W. James: Does “Consciousness’ Exist? (zuerst 1904). In: Ders.: Essays in

Radical Empiricism. Hrsg. von R.B. Perry. New York 1912, $. 1-38; E. Mach: Die Analyse der Empfindungen (s. Anm. 1), B. Russell: The Analysis of Mind (zuerst 1921), 10. Aufl. London und New York 1971. Als implizite Fortsetzung mag Th. Nagels Ansatz interpretiert werden: Der Blick von nirgendwo. Übersetzt von M. Gebauer. Frankfurt a. M. 1992 (The View from Nowhere. New York/Oxford 1986), vgl. auch unten D.J. Chalmers (s. Anm. 5).

4 Vgl. bes. K.R. Popper/].C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. Übersetzt von A. Hartung und W. Hochkeppel. 2. Aufl. München und Zürich 1982 (The Self and Its Brain. Heidelberg, London etc. 1977). Vgl. auch J.C. Eccles: Die Evolution des Gehirns - die Erschaffung des Selbst. Übersetzt von F. Griese. München und Zürich 1993 (Evolution of the Brain: Creation of the Self. London und New York 1989),

(z.B. bei D. Chalmers°); er unterscheidet nur Bewußtseinsvorgänge von physikalischen Gehirnprozessen; das Substrat beider soll

zunächst offenbleiben. Darin aber hat diese Variante eine Unbestimmtheitsstelle, die weiterer Klärung bedarf. Vom

Dualismus,

insbesondere vom Dualismus cartesianischer Prägung setzen sich dezidiert moderne Materialismen verschiedener Schattierungen ab. Als gemäßigt tritt noch die Theorie der Identität von Körper und Geist auf (H. Feigl); soll diese Identität aber empirisch-wissenschaftlich erkannt werden, so wird der Physikalismus wohl un-

vermeidlich; denn auch Geist erweist sich dann als eine bloß physikalische Realität (W. van O. Quine, G. Roth u.a.). Wird diese Realität objektiv identifiziert, so ergeben sich Versionen des modernen Materialismus, der Materie nur im Lichte der modernen

Physik verstehen will. Der eliminative Materialismus (R. Rorty, D. Dennett’) vertritt die Ansicht, subjektive Bewußtseinserlebnisse und -geschehnisse werden nur in einer Sprache unwissenschaftlicher Volkspsychologie

geäußert, die sich mit dem

Fortschritt

der Wissenschaft, insbesondere der Gehirnphysiologie als überflüssig erweisen wird und eliminiert werden kann; der reduktive

5

Vgl. z.B. D.J. Chalmers: The Conscious Mind. In search of a fundamental theory. New York und Oxford 1996, S. 124ff., auch ders.: What is a Neural

Correlate of Consciousness? In: Neural Correlates of Consciousness. Hrsg. von Th. Metzinger. Cambridge, Mass. 1999, S. 17-39 (hierauf wies mich dankenswerterweise Tobias Schlicht hin). 6

Vgl. H. Feigl: The „Mental“ and the „Physical“. In: Concepts, Theories, and

the Mind-Body-Problem. Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Vol. II. Hrsg. von H. Feigl, M. Scriven, G. Maxwell. Minneapolis 1958, S. 370-497;

W. van ©. Quine: Word and Object (zuerst 1960). 9. Aufl. Cambridge 1975, bes. S. 284f.; G. Roth: Das Gebirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1994.

7

\Vgl. zur Begriffsbestimmung R. Rorty: Incorrigibility as the Mark of the Mental. In: The Journal of Philosophy LXVII (1970), S. 399-424; zu dieser Position

vgl. bes. D. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewußtseins. Übersetzt von F.M. Wuketits. Hamburg 1994 (Consciousness Explained. New York usw.

1991).

10

Materialismus (ebenfalls R. Rorty, Fr. Crick® u.a.) führt sogleich

solche subjektiven Erlebnisse auf physikalische und bioelektrische Materie zurück; und eine Sonderform solcher Materialismen

erklärt nicht nur, der Geist sei lediglich das Gehirn, sondern auch,

dies sei ein hochkomplexer Computer (D. Dennett? u.a.). Hierbei werden nicht nur signifikante Erfahrungen des Selbst von sich geleugnet; bestimmte Erfahrungen werden auch unzulässigerweise universalisiert und dogmatisch ontologisiert, wie sich unten noch näher zeigen soll.

II. Bewußtsein und Geist in gegenwärtigen

subjektkritischen Theorien In diesen Untersuchungen ist zwar bestimmt, was unter Gehirn zu verstehen ist; weniger bestimmt, unscharf oder vage dagegen bleibt, was Selbstbewußtsein oder Geist etwa ım Unterschied zu

8

Vgl. R. Rorty: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie. Übersetzt von M. Gebauer. Frankfurt a. M. 1981 (Philosophy and the Mirror of Nature. Princeton 1979); F. Crick: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins. Übersetzt von H.P. Gavagai. München und Zürich 1994 (The Astonishing Hypothesis: The Scientific Search for the Sonl. New York 1994); vorsichtiger G.M. Edelman: Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht. Übersetzt von A. Ehlers. München und Zürich 1995 (Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind. New York 1992). Vgl. zur Auseinandersetzung mit diesen und weiteren materialistischen Theorien J.R. Searle: The Mystery of Consciousness. New York 1997; zur kritischen Übersicht über moderne materialistische Theorien vgl. auch ders.: Die Wiederentdeckung des Geistes. Übersetzt von H.P. Gavagai. München 1993, S. 20ff., S. 43-75 (The Rediscovery of the Mind. Cambridge, Mass. und London

9

1992, S. 5ff., 27-57) und E. Oeser und F. Seitelberger: Gebirn,

Bewußtsein und Erkenntnis. 2. Aufl. Darmstadt 1995, bes. S. 108ff. Vgl. bes. D. Dennett, der auch Theorien anderer Vertreter dieser Auffassung darlegt in: Philosophie des menschlichen Bewußtseins (s. Anm. 7), S. 276-298, 332-370 u.ö. (Consciousness Explained, 5. 209-226, 253-282 u.ö.).

11

Bewußtsein eigentlich bedeuten. Dabei müßte gerade dies ın einer eigenen Theorie geklärt werden, wenn gehirnphysiologische Erforschungen zu neuronalen Vorgängen, die spezifisch geistigen Leistungen entsprechen, oder wenn philosophische Bestimmungen

des Verhältnisses von Geist und Gehirn sollen erfolgreich sein können; hier darf man sich nicht auf alltägliche, ungeprüfte Meinungen verlassen. Jene obengenannten Richtungen und die dazu gehörigen Un-

tersuchungen gehen nun mit wenigen, aber nicht prinzipiell begründeten Ausnahmen von einem ungerechtfertigt engen Phänomenbereich aus; sie analysieren im wesentlichen sinnliche Wahrnehmungen und Empfindungen sowie ihre noematischen Korrelate, von denen die Qualia einen weiten Raum einnehmen, so-

wie empirisch wahrnehmbare

und mitteilbare theoretische oder

praktische Einstellungen zu den Sachverhalten, die in der Regel ebenfalls empirisch wahrnehmbar sind. Die Begrenzung der Untersuchung auf solche Bereiche unterstellt von vornherein einen

beschränkten und überdies vagen Begriff von Geist und Selbstbewußstsein. Insbesondere die breite Qualia-Debatte ist hierfür charakteristisch, mögen doch Qualia wie rot, hart, laut signifikant für Be-

wußtsein sein, aber wenig Spezifisches über Geist und Selbstbewußtsein aussagen. In vielen Untersuchungen hat sich gezeigt, daß solche Qualia und auch feinere Unterschiede etwa innerhalb desselben Quale wie z.B. einer bestimmten Farbe zwar noematische Inhalte von Sinnesempfindungen sind, denen neuronale Prozesse entsprechen; aber aus diesen läßt sich jener besondere Qualia-Ge-

halt nicht hinreichend erklären. Hier scheiden sich die Theoretiker, die einen genuin subjektiven Gehalt solcher Qualia annehmen, vor allem von den Materialisten, die jene Qualia letztlich aus

neuronalen Prozessen erklären wollen, z.T. mit Verweis auf zu-

künftige Forschungen. Solche Qualia sind in Sinnesempfindungen von Menschen weitgehend bewußt; sie werden ursprünglich ım

Wachbewußtsein wahrgenommen. Aber auch höheren Tieren kommen vergleichbare Qualia-Wahrnehmungen zu, die ebenfalls weit12

gehend als bewußt zu gelten haben.!? Es gibt bei bestimmten Tierarten visuelle Wahrnehmungen von Qualıa in einem Kurzwellenbereich, die Menschen nicht mehr wahrnehmen können, z.B. bei

Bienen oder bei Delphinen; hier können wir uns deren QualiaGehalte nur in analoger Weise evident machen. Noch weiter von unserer Qualia-Welt ist die Wahrnehmungswelt z.B. der Fledermäuse entfernt, die nicht sehen und Entfernungen durch akustische Signale bestimmen; für Thomas Nagel"! war dies das Exempel dafür, daß Qualia genuin subjektive Bewußtseinsgehalte sind, was bis heute hin und her debattiert wird. - In vergleichbarer Weise hatte L. Wittgenstein!” - offensichtlich wegen solcher QualiaEmpfindungen, die jeweils unmittelbar gegenwärtig sind, — Sätze

mit dem Subjektgebrauch der ersten Person formuliert, deren auch ın späteren Untersuchungen immer wiederkehrendes Beispiel: „ich habe Schmerzen“ bzw. „Zahnschmerzen“ lautet. In der

Folge hatte R. Rorty!” derartige mentale, besser: psychische Gegebenheiten, auf die solche Sätze zielen, für unkorrigierbar erklärt, wovon er später wieder abrückte. Inzwischen hat sich die

Aufmerksamkeit von der sprachanalytischen Untersuchung solcher Sätze, die freilich wenig über die originäre Bedeutung von ‘ich’ zutage fördern, auf die gemeinte Sache selbst, die Empfindung von Schmerzen als Qualia und ihr neuronales Korrelat zurückgewandt. Aber auch Hunde oder Elefanten haben Schmerzen, z.B. Zahnschmerzen.

10 Vgl. z.B. die Aufsatzsammlung: Bewußtsein und Repräsentation (hrsg. von F. Esken und H.-D. Heckmann. Paderborn usw. 1998), in der die meisten Beiträge solche Qualia-Probleme erörtern.

11 Vgl. Th. Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Ders.: Über das Leben, die Seele und den Tod. Übersetzt von K.E. Prankel und R. Stoecker.

Königstein/T. 1984, S. 185-199 (ders.: What is it like to be a Bat? (zuerst 1974). In: Ders.: Mortal Questions. Cambridge 1979, S. 165-180). 12 Vgl. L. Wittgenstein: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (The Blue Book. 1933-34). Hrsg. von R. Rhees, übersetzt von P.V. Morstein. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1984, S. 106ff.

13 Vgl. R. Rorty: Incorrigibility as the Mark of the Mental (s. Anm. 7). 13

Nicht also die Qualia selbst, auf deren bloß subjektiver Bedeutung schon die antiken Sophisten und Skeptiker bestanden, sagen

etwas über Selbstbewußtsein aus, sondern nur das solche Wahr-

nehmungen begleitende spezifisch menschliche Sich-Gegenwärtigsein. Dieses scheint nun ın der Gehirnphysiologie insbesondere durch die aufsehenerregenden Versuche Sperrys und seiner Mitarbeiter mit Kommissurotomiepatienten Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts teilweise oder sogar ganz in Frage gestellt worden zu sein; die Versuche wurden seither fortgesetzt.'* Die Kommissurotomie, die zur Linderung schwerer Epilepsie vorgenommen wurde, ist eine Durchtrennung des „Balkens“ (des Corpus callosum), der rechte und linke Gehirnhälfte verbindet; beide Gehirnhälften arbeiten daraufhin zunächst einmal getrennt. Wenn nun blitzartige Wahrnehmungssignale nur auf das rechte Gesichtsfeld treffen, das diese Impulse allein an die linke, zumeist die dominante

Gehirnhälfte

weiterleitet, so nımmt

der Patient

ohne Ausfallerscheinungen wahr und ist sich seiner Wahrnehmung bewußt; sie untersteht der Kontrolle seines Selbst. Treffen dagegen blitzartige Wahrnehmungssignale nur auf das linke Gesichtsfeld, das diese alleın an die rechte, zumeist die subdominante Gehirnhälfte weiterleitet, so nimmt der Patient zutreffend wahr, reagiert auch sinngerecht, aber er weiß darüber nichts; er kann darüber keine Auskunft geben; er ist sich selbst in seiner Wahrneh-

mung nicht gegenwärtig. Die Gehirnhälften arbeiten also durchaus verschieden. Sperry meinte daraufhin, es seien zwei „Bewußtseine“ durch die Kommissurotomie entstanden. Entschiedener antısubjektivistisch interpretierte Thomas Nagel! diese Erscheinungen; er vertrat die Auffassung, die Einheit des Bewußtseins, besser: 14 Vgl. die Schilderungen dieser Versuche Sperrys in K.R. Popper/].C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn (s. Anm. 4), S. 380ff., auch J.C. Eccles: Die Evolution des Gehirns (s. Anm. 4), S. 328ff. 15 Vgl. Th. Nagel: Zweiteilung des Gehirns und die Einheit des Bewußtseins (zuerst 1971). In: Ders.: Über das Leben, die Seele und den Tod (s. Anm. 11), S. 167-184 (ders.: Brain Bisection and the Unity of Consciousness. In: Mortal Questions (s. Anm. 11), S. 147-164.

14

Selbstbewußtseins gehe nicht nur bei diesen Patienten verloren; auch bei Gesunden müsse sie durch eine komplexe Koordination verschiedener Funktionen ersetzt werden. Diese extreme Ansicht

von der Auflösung der Einheit des Selbst wird gehegt, nur weil jene Patienten gewisse Wahrnehmungen und Kinästhesen (Wahrnehmungsbewegungen) nicht koordinieren können. Doch zeigte schon bald z.B. J.C. Eccles!*, daß diese Patienten keineswegs der Einheit der Person verlustig gehen; und für gesunde Personen gilt jene Auslegung ohnehin nicht. Hier wird deutlich, daß solche Universalisierungen und extremen Schlüsse lediglich aufgrund von Wahrnehmungs- und Kinästheseninkongruenzen gebildet werden, ohne daß zuvor die Bedeutung von Geist und Selbstbe-

wußtsein überhaupt bestimmt ist. Wie nun aber bewußtes Sehen oder ein Sehen, in dem der Sehende sich irgendwie selbst gegenwärtig ist, zustande kommt, ist in den letzten Jahren gehirnphysiologisch vielfältig untersucht worden. Frappierend und häufig debattiert ist die Entdeckung von

F. Crick und Chr. Koch”, daß visuelle Vorgänge dem Menschen in dieser Weise bewußt werden, wenn unter Beteiligung mehrerer Gehirnareale eine 40- bis etwa 70-Hertzschwingung im Gehirn zustande kommt; deutlich wird hierbei zugleich, daß Sehen nicht einfach ein passives Aufnehmen von Sinnesreizen, sondern ein hochkomplexer, mit mehrfachen Rückkopplungen stattfindender

Vorgang im Gehirn ist. Cricks prinzipielle Auslegung dieses Vorgangs besteht nun darin, daß er — bei manchen vorsichtigeren Formulierungen - erklärt, jene 40- bis etwa 70-Hertzschwingung sei Bewußtsein bzw. in noch näher zu charakterisierender Weise unmittelbares Bewußtsein seiner selbst im Wahrnehmen, und solches

Bewußtseins sei nichts als jene bestimmte Hertzschwingung im

Gehirn. Wie es aber möglich ıst, daß dieser bioelektrische Vorgang 16 Vgl. z.B. J.C. Eccles: Die Evolution des Gehirns (s. Anm. 4), S. 329; auch bei Durchtrennung des „Balkens“ bleiben im übrigen Verbindungen beider Gehirnhälften mit anderen, tieferen Gehirnarealen erhalten.

17 Vgl. F. Crick: Was die Seele wirklich ist (s. Anm. 8), bes. 5. 21ff., 300ff. 15

im Gehirn als eigenes Bewußtsein des Sehens erlebt wird, bleibt gänzlich unaufgeklärt. Unaufgeklärt ist auch der von Crick und Koch verwendete Begriff des Bewußtseins im visuellen Prozeß; es bedarf - angesichts von Versuchen mit dem Sehen höherer Tiere - näherer Klärung,

wie sich menschliches Bewußtsein im Sehvorgang von demjenigen höherer Tiere unterscheidet. Ist spezifisch menschliches Be-

wußtsein hierbei gemeint, so muß man, wie z.B. Ned Block" vorschlägt, zwischen phänomenalem Bewußtsein, das ‘vorbewußt’ bleiben kann, und Zugangsbewußtsein, das unter der Kontrolle des Selbst steht, unterscheiden; seine Beschreibungen legen nahe, daß damit so etwas wie der in der Phänomenologie wohlbestimmte Unterschied von unthematischem, horizonthaftem und thematı-

schem Bewußtsein von etwas in der Wahrnehmung von Gegebenem gemeint ist. Diese Unterscheidung ist bei Wahrnehmungen von Gegenständen sicherlich sinnvoll; aber von welcher Art und

Struktur die Gegenwärtigkeit seiner selbst im Unterschied zum bloßen, nicht sich selbst gegenwärtigen Wachbewußtsein beim

Sehen ist, ein Unterschied, den doch gerade die eben erwähnten Versuche mit Kommissurotomiepatienten aufweisen, bleibt nach

wie vor ganz offen. - Hier kann, was nur thesenartig hinzugefügt sei, eine Theorie unterschiedlicher Selbstbewußtseinsmodelle "? zei-

gen, daß jenes unthematische ebenso wie das thematische bewußte menschliche Sehen äußerer Gegenstände, sofern es durch gesunde Personen ausgeübt wird, zunächst immer von einem horizonthaften, unthematischen gleichsam schattenhaften Seiner-inne-Sein der

Person begleitet wird; dieses aber kann dann jederzeit in ein unmittelbares thematisches Bewußtsein seiner selbst verwandelt werden, so daß das Selbst seine Wahrnehmungen unter seiner Kontrolle hat; bei kommissurotomierten Patienten gilt dies nur, wenn

18 Vgl. N. Block: Das neuronale Korrelat des Bewußtseins. In: Bewußtsein und Repräsentation (s. Anm. 10), 5. 153-167.

19 Vgl. vom Verf.: Selbstbewußtseinsmodelle (s. Anm. 2), S. 137-163. 16

die visuellen Impulse von der dominanten, linken Gehirnhälfte verarbeitet werden. Eine Andeutung, daß in gehirnphysiologischen Untersuchungen mehrere Arten von Bewußtsein, besser: Selbstbewußtsein unter-

schieden werden sollten, findet sich auch bei G. Edelman??; er hebt einfaches Bewußtsein z.B. als Sich-Gegenwärtigsein in Wahrnehmungen von höherem Bewußtsein (seiner selbst) etwa in Sprachleistungen ab. Aber wie die Strukturen solcher Weisen von Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein näher zu bestimmen sind, in welchem

Verhältnis sie zueinander stehen und welche anderen Weisen von Selbstbewußtsein noch zu unterscheiden sein mögen, alles dies

bleibt nach wie vor eine ganz offene Aufgabe. Der Grund könnte darin liegen, daß auch Edelman glaubt, die Untersuchung geisti-

ger Funktionen seı nur über die Untersuchung von Gehirnprozessen zu bewerkstelligen, was ein Aufzäumen des Pferdes vom

Schwanze her bedeutet; dieser Ansatz bei den Gehirnprozessen

ist wiederum darin begründet, daß Edelman nach eigener, wenn auch vorsichtigerer Aussage, als sie etwa Crick vorträgt, Materialist ist, der jedoch von der evolutionär erreichten biologischen Eigenständigkeit des menschlichen Gehirns überzeugt ist, so daß es für ihn nicht wie z.B. für D. Dennett ein hochkomplexer Computer sein kann. In der Phalanx namhafter Gehirnphysiologen und analytischer Philosophen, von denen hier einige international bekannte erwähnt wurden, ist der Materialismus verschiedener Schattierungen so weit verbreitet, daß es angebracht zu sein scheint, doch

einige durchaus zentrale Fraglichkeiten dieser Richtung im Hinblick auf das Begreifen von Geist und Selbstbewußtsein zu be-

20 Vgl. G.M. Edelman: Unser Gehirn - ein dynamisches System. Die Theorie des neuronalen Darwinismus. Übersetzt von F. Griese. München und Zürich 1993 (Neural Darwinism - The Theory of Neuronal Group Selection. New York 1987), ebenso ders.: Göttliche Luft, vernichtendes Feuer (Bright Air, Brilliant Fire, s. Anm. 8).

17

nennen.?! Zum einen ist der Materialismus empirisch nicht hinreichend erwiesen, obwohl die Materialisten sich gern gerade auf die Erfahrung berufen. Nicht erwiesen, sondern vor allem aufgrund

der Lückenhaftigkeit unserer empirischen Kenntnisse nur Gegenstand

moderner

Erzählungen

ist, wie sich realgeschichtlich das

menschliche Gehirn und mit ihm menschliches intelligentes Vorstellen und Verhalten ausgebildet hat. Ferner wird fast ausschließlich ein beschränkter Phänomenbereich berücksichtigt; es sind die erfahrbaren sinnlichen Wahrnehmungen und Einstellungen ver-

schiedenster Art; und daraufhin wird eine eigenständige Existenz eines empirischen verstehenden und sich verstehenden, Einheit der Erfahrung stiftenden und einheitlich handelnden Selbst ın der Regel geleugnet. Aber jede Erinnerung an die einheitliche eigene Person in früheren, inhaltlich oft diskontinuserlichen Erlebnissen,

jede Verabredung mit Partnern, jede Beurteilung von mehrfachen Handlungsverläufen nach einheitlichen Gesichtspunkten, insbesondere solchen der Moral, jede Gewissensentscheidung setzt die Identität und Selbstbezüglichkeit des erlebenden, verstehenden und

urteilenden bzw. handelnden Selbst voraus. Kein juristischer Prozeß wäre ohne diese Voraussetzung sinnvoll durchführbar; und auch der Materialist setzt, wenn er eine Gedankenkette entwikkelt, die Einheit und das Sich-Gegenwärtigsein, d.h. eine Art von

Selbstbezüglichkeit des denkenden Selbst dabei voraus. Natürlich gibt es eine Reihe von Erfahrungen, auf die Materia-

listen sich berufen können wie die Einwirkung chemischer, bioelektrischer oder organischer Gegebenheiten und Vorgänge auf das Vorstellungsleben, was besonders manifest z.B. bei Drogen ist. Solche physische Kausalität übertragen sie dann auf andere sinnliche Wahrnehmungen und Einstellungen und deren noematische Korrelate, obwohl in allen diesen Fällen die geschilderte Erklärungslücke z.B. zwischen Qualia und jenen organischen und bioelektrischen Gehirnprozessen besteht; die Materialisten, die 21 Hierzu sei der Hinweis gestattet auf die Darlegung des Verf.s: Il problema del rapporto spirito-cervello. In: Porta di Massa. Neapel 2001, S. 4-12. 18

Popper”? die „versprechenden“ nennt, erhoffen von gleichmäßig und kontinuierlich fortschreitender gehirnphysiologischer Wissenschaft, daß jene Kluft bald überbrückt werden könne. Doch gibt es keine Sicherheit, daß sich der Fortschritt der Wissenschaft kontinuierlich in diese Richtung bewegt; er kann durchaus auch nicht geahnte Innovationen oder gar Umstürze bereithalten; und damit haben „versprechende“ Materialisten schon kein andere Auf-

fassungen überwiegendes Argument mehr für ihre Ansichten. Fer-

ner übergehen die Materialisten in ihren Erklärungen weitgehend die ebengenannten Phänomene, die offensichtlich die Voraussetzung eines einheitlichen Selbstbewußtseins erforderlich machen. Sie universalisieren ohne hinreichenden Grund in ihrer Argumentation bestimmte Erfahrungen von physischen Einwirkungen, die das Vorstellungsleben prägen, und dehnen dies auf alle Vorstellungsweisen und -inhalte aus, die dann für sie als Wirkungen solcher Einflüsse ebenfalls materiell sind. Zur nicht hinreichend gegründeten Universalisierung kommt in den Materialismen verschiedener Art eine unzulässige Ontologisierung bestimmter Erfahrungsgehalte hinzu. So werden sinnliche Wahrnehmungen und verschiedenartige Einstellungen sowie ihre jeweiligen noematischen Korrelate, von denen insgesamt empirisch-wissenschaftliche, gehirnphysiologische Erklärung erhofft und „versprochen“ wird, als an sich materiell existent qualifiziert;

über die erst in Aussicht gestellte empirisch-wissenschaftliche Erklärung hinaus wird also von diesen Vorstellungsleistungen und -inhalten materielle Existenz

an sich behauptet, wobei Materie

nur im Sinne der modernen Physik verstanden werden soll. Dies ist eine im Prinzip dogmatische Behauptung, die noch dazu für alle anderen Vorstellungsleistungen und -inhalte des Menschen gelten soll. Schwerlich kann dies durch Erfahrung hinreichend gerechtfertigt werden.

Schließlich dürfte rein methodisch kaum ein materielles Pendant - geschweige denn eine materielle Erklärung - von geistigen 22 Vgl. K.R. Popper/].C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn (s. Anm. 4), S. 130ff. 19

Vorstellungsleistungen erreicht werden können, wenn nicht zuvor, wie erwähnt, eine Theorie über die Strukturen und die noemati-

schen Korrelate solcher Leistungen sowie über deren systematische Verhältnisse untereinander und

die ihnen zugrunde

liegenden

Selbstbewußtseinsmuster entwickelt wird. Dies Problem stellt sich besonders prägnant dar, wenn es speziell um das Denken logischer Gesetze und Kategorien geht. Solches logische Denken muß zuvor entworfen und immanent analysiert sein, bevor man sich

überhaupt dessen neuronalem Korrelat zuwenden kann. Zugleich tritt hierbei ein kaum lösbares Zirkelproblem ein, wenn man sol-

ches Denken physikalistisch zu erklären sucht. Will man naturwissenschaftlich zeigen, wie ontogenetisch in einem Menschen oder

phylogenetisch-evolutiv in der Entwicklung der Menschheit logisches und kategoriales Denken als Gehirnprozeß zustande kommt, so muß man sich bereits jener logischen Gesetze und Kategorien als gültiger bedienen, deren physisch-reale Genesis man doch nachweisen will.” Eine solche materialistische oder physikalistische Erklärung verfängt sich also methodisch in einem Zirkel.

Diese subjektkritischen Theorien leiden auch deshalb an Argumentationsdefizit, weil sie die hochkomplexen Theorien der Subjektivität aus der klassischen deutschen Philosophie sowie der Phänomenologie des zwanzigsten Jahrhunderts praktisch nicht berücksichtigen.** - Nun gibt es unter den Theorien, die Ergebnisse der Gehirnphysiologie beachten, nicht nur subjektkritische; dies

gilt für manche analytischen Theorien und einige, die in der Nachfolge der französischen Phänomenologie stehen, und es gilt für verschiedene gegenwärtige deutschsprachige Entwürfe zur Subjektivitätstheorie. Auch sıe können allesamt nur gewinnen, wenn

23 In einen vergleichbaren Zirkel gerät die evolutionäre Erkenntnistheorie, wenn sie die physisch-reale Entstehung des Denkens logischer Gesetze und Kategorien empirisch-wissenschaftlich nachweisen will. 24 Dies ist merkwürdig, da ansonsten wohl kaum eine Wissenschaft bekannt ist,

die ihren Innovationsanspruch auf die Unkenntnis der einschlägigen vorangehenden Theorien stützt. 20

sie sich die geschichtliche Tiefendimension jener Subjektivitätstheorien der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel und der Phänomenologie des zwanzigsten Jahrhunderts aneignen; insbesondere die an innovativen Einsichten und differenzierten Argumenten so reichen, genialen Subjektivitätstheorien von Kant bis Hegel verdienen hier intensivste Beachtung.

III. Skizze paradigmatischer Einsichten zur Subjektivitätstheorie ın der klassischen deutschen Philosophie Im Folgenden sollen nur einige Lichtpunkte der Subjektivitätstheorien von Kant bis Hegel erwähnt werden, die für gegenwärti-

ge Subjektivitätstheorien von besonderer Bedeutung sein können. Damit soll der systematische Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen die folgenden Einzeluntersuchungen stehen, ohne deren Inhalt hier vorwegzunehmen. Grundlegend für alle folgenden Subjektivitäts- oder Selbstbewußtseinstheorien ist Kants Lehre von der Apperzeption und der Einbildungskraft. Kant konzipiert das Denken nicht als anonymen acteurlosen Vorgang, sondern als „Ich denke“ und d.h. als Einheit des Selbstbewußtseins. Wird reines Denken nun als Prinzip der Logik und der Kategorien entworfen, so wird es als reine, aller Erfahrung vorausgehende, apriorische Einheit des reinen Selbstbewußtseins oder der reinen Apperzeption gedacht, die den intellektuellen Bestand von Erfahrung erst ermöglicht. Für dieses reine „Ich denke“ oder diese reine Apperzeption als Prinzip der

Logik, generell als Prinzip der Stiftung gesetzmäßiger Einheit unter Vorstellungsinhalten, nahm Kant - anders als Descartes — keine eigenständige Existenz in Anspruch. Wenn einem denkenden Ich auch Existenz zukommt, dann erlebt es seinen Denkvollzug als zeitlichen psychischen Akt und nimmt ihn wahr; dann ist es ein noch unbestimmtes, näher zu bestimmendes empirisches Ich oder Selbst. Dieser noch näher fortzuführende Lösungsansatz ist 21

nicht derjenige Husserls, der das transzendentale Ich zugleich als ein konkretes zu verstehen sucht, oder derjenige der französischen Phänomenologie, die z.B. die Existenz des Selbst dem denkenden

Selbst voranstellt; er verdient aber als entscheidende Problempräfiguration und systematische Alternative zu diesen neueren Auffassungen sicherlich besondere Beachtung. Das reine „Ich denke“ als Konstitution gesetzmäßiger, logischer

Einheit in den Vorstellungsinhalten ist nach Kant auf Objektivität ausgerichtet; gleichwohl ist es darin zugleich irgendwie selbstbezüglich; es hat, wie Heidegger?” andeutet, sich dabei unthematisch mit ım Blick; dies läßt sıch näher bestimmen als ein horizontarti-

ges, umrißhaftes Seiner-inne-Sein im thematischen Vorstellen von anderem gemäß einem phänomenologischen Horizontmodell von Selbstbewußtsein.

Doch

muß

das reine „Ich denke“

sıch auch

ausdrücklich und thematisch denken können; als reinem denkenden Selbstbewußstsein schreibt es sich dann nach Kant reine kategoriale Bestimmungen zu, indem es sich als Substrat aller seiner Gedanken,

qualitativ als einfach, numerisch als eines denkt usf.

Auch dies ist ein näher auszuführender Lösungsansatz. Kant läßt offen, nach welchem Selbstbewußtseinsmodell das reine Selbst-

bewußstsein sich selbst in der Fülle seiner eigenen Bestimmungen denkt.” Kant läßt ferner offen, wie das konstituierende Ursprungszentrum für logische Formen und Kategorien, das reine „Ich denke“, durch ebendiese selbst gedacht werden kann.

Hiermit stellt sıch die fundamentale Frage nach dem Verhältnis von reiner Logik und Theorie der reinen Subjektivität, die beide den Anspruch darauf erheben, Grundlegungstheorien zu sein. Der 25 Vgl. M. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927). In: Ders.: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 24. Hrsg. von F.-W. von Herrmann. Frank-

furt a. M. 1975, S. 224, 225.

26 In der Theorie der Selbstbewußtseinsmodelle bietet sich hierfür das von empirischen Bestimmungen gereinigte, idealisierte epistemische Intentionalitätsmodell an. Die Konstitution des reinen Denkens und Sich-Denkens aus diesem Modell bedarf freilich eines detaillierten Aufweises und einer eigenen Begründung. 22

frühe Fichte und in seinem Gefolge der junge Schelling geben der Subjektivitätstheorie als transzendentalem Idealismus die Priorität; aber dann entsteht das Problem, wie dieser selbst wissenschaftlich

und logisch entwickelt und wie aus ihm allererst die Bestimmungen und Gesetze der reinen Logik abgeleitet werden können, die

man doch für ebensolche Darlegungen schon als gültig vorausserzen und verwenden muß. Kant ebenso wie Hegel konzipieren in je eigener Weise die Theorie der reinen Subjektivität im Rahmen der Logik oder als Logik und entgehen damit dieser Schwierigkeit. Kant erklärt im wesentlichen thesenartig, daß die Formen als

Gesetze der reinen Logik, die für sich selbständig entwickelt werden können, als Konstitutionsleistungen des rein denkenden und

sich denkenden Selbstbewußtseins begriffen werden müssen. Denn sonst wären notwendige synthetische Einheiten vorhanden ohne sie konstituierende Synthesis, die nur das reine „Ich denke“ zu-

stande bringen kann. Hegel führt seine Logik als Theorie der reinen Subjektivität nach einer anderen Konzeption aus; er expli-

ziert in einer eigenen - dialektischen — Methode systematisch den logischen Kosmos der reinen Gedankenbestimmungen oder Kategorien und zeigt, daß — nach Präfigurationen - allererst am En-

de die reine Subjektivität als reines Denken ihrer selbst innerhalb dieser Folge der Gedankenbestimmungen thematisch auftritt und diese begründet; denn nun erst stellt sich heraus, daß die ganze

Entwicklung der Kategorien nichts anderes als eine Selbstentfaltung des reinen Denkens seiner selbst in solchen Bestimmungen ist. Für Hegel ist - wie z.B. für Aristoteles oder Plotin - dieses Denken seiner selbst existent, ja es ist das vorzüglichste, das gött-

liche Seiende””, und die reinen logischen Gedankenbestimmungen haben daher ontologische und metaphysische Bedeutung. Diese z.B. mit Kants kritischer Erkenntnisrestriktion nicht zu vereinbarende Metaphysik der Subjektivität ist sicherlich problemreich;

27 Der späte Schelling löst diese Einheit wieder auf und setzt dem reinen Denken, das auch selbstbezüglich ist, ein unvordenkliches Daßsein voraus.

23

gleichwohl stellt Hegels Lösung eine entscheidende, hochdifferenzierte Theorie dar, die auch erklärt, was bei Kant offenbleibt,

nämlich wie die reine Subjektivität als generierender Ursprung der Kategorien gleichwohl durch diese bestimmt werden, ja sich selbst bestimmen kann. Das Problem des Verhältnisses von Logik und Theorie reiner Subjektivität ist heute im Zuge der Verselbständigung der formalen Logik zu einer eigenen Spezialwissenschaft und im Zuge weitverbreiteter Kritik insbesondere am apriorischen Sinn von Subjektivität verlorengegangen. Es stellt sich jedoch notwendig erneut, wenn der Subjektivitätstheorie wieder die Bedeutung einer Grundlegungstheorie zukommen soll; und dann werden jene erwähnten unterschiedlichen Lösungsansätze Kants und Hegels paradıgmatische Alternativen darstellen, zu denen vielleicht noch weitere hinzukommen müssen. Zentral für die Konzeption von Subjektivität in der klassischen deutschen Philosophie ist ebenso die Theorie der Einbildungskraft. Zunächst ist Einbildungskraft für Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ein selbständiges, vermittelndes Vermögen zwischen dem reinen „Ich denke“ und der sinnlichen

Anschauung. In der zweiten Auflage dieser Kritik tritt die subjektivitätstheoretische Bedeutung der Einbildungskraft markanter hervor; sie ist hier kein selbständiges mittleres Vermögen mehr,

sondern die Ausübung der Selbstaffektion, mit der das reine „Ich denke“ als Synthesis auf das im inneren Sinn vorgegebene Mannigfaltige einwirkt und dieses dadurch bestimmt. Solche Selbstaffektion und -einwirkung des aktiven Selbst auf sich als das passive Selbst ist im Prinzip selbstbezüglich, ohne daß Kant den Charakter dieser Selbstbezüglichkeit näher gekennzeichnet hätte; durch diese Tätigkeit der Einbildungskraft als Selbstaffektion werden zugleich reine, transzendentale Zeitbestimmungen erzeugt. Diese sowie die in ihnen enthaltenen Zeitmodi, Folge, Zugleichsein und

die beiden zugrunde liegende Beharrlichkeit, die z.T. schon die transzendentale Ästhetik lehrt, bilden die entscheidenden Grundbestim-

mungen in Kants wirkungsmächtiger Theorie der Zeit. Insbesondere

24

Heidegger”, der sich freilich vorwiegend auf die erste Auflage bezieht, interpretiert die reine Einbildungskraft und die Selbstaffektion als die eigentliche Struktur des sich in den Zeitbestimmungen und damit als Zeit verstehenden Selbst; und er sieht dieses Selbst auf dem Boden der Ontologie der Vorhandenheit als traditionelles Pendant Zeitbestimmungen züglichen Daseins Diese Deutung

des konkreten, sich als In-der-Welt-Sein ın entwerfenden und darin unmittelbar selbstbean. entspricht eher, ohne daß Heidegger dies ın-

tendierte, der Konzeption der Zeit bildenden Einbildungskraft als Grundbestimmung des theoretischen Ich, wie der frühe Fichte sie

entwarf. Aus ihr ergeben sich allererst andere theoretische Vorstellungsarten wie sinnliche Anschauung, Verstand usf. Hierbei ordnet Fichte freilich die Einbildungskraft und überhaupt das theoretische Ich dem praktischen Ich oder dem selbstbezüglichen Willen unter; sie ist ein nur relativ selbständiger Teil von dessen Aktivität. - Der Jenaer Hegel führt Kants Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft in anderer Weise, nämlich spekulativ weiter; er erblickt in ihr die Struktur der konkret begreifenden Vernunft als ursprünglicher, höherer Einheit von Sinnlichkeit und

Verstand. Erst später in der Philosophie des subjektiven Geistes ordnet er die Einbildungskraft in die Subjektivitätstheorie genauer ein und stuft ihre Bedeutung gegenüber dem reinen Denken

bzw. dem Denken seiner selbst zurück.” Der junge Schelling dagegen steigert im System des transzen-

dentalen Idealismus die Bedeutung der Einbildungskraft gegenüber

28 Vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (zuerst 1929). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1951, bes. S. 117-184; ebenso ders.: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (1925/26). In: Ders.: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 21. Hrsg. von W. Biemel. Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 338-347, auch S. 322ff. 29 Hierzu mag der Hinweis auf die Studie des Verf.s erlaubt sein: Hegels Theorie der Einbildungskraft. In: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Hrsg. von F. Hespe und B. Tuschling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, $. 297-320.

25

Kant und Fichte und führt die theoretische und die ästhetische Bedeutung der Einbildungskraft bei Kant zu einer neuen Einheit zusammen. Sie ist das „Dichtungsvermögen“?, das grundlegend für alles Vorstellen des Ich ist, und erweist sich auf ihrer höchsten

Stufe als ästhetische Anschauung des Genies. Das ästhetische Genie ist in Schellings transzendentalem Idealismus die Vollendung der

Subjektivität. Diese paradigmatische romantische Genieästhetik ist für neuere und neueste Ästhetik-Theorien, die Subjektivität nicht verabschieden, immer noch von besonderer Orientierungsbedeutung. - Die Gefahren freilich solcher Genie-Ästhetik, die lehrt, daß das Genie und speziell der Dichter seine Visionen als

göttliche Offenbarungen versteht und in Gottergriffenheit schafft, werden

in Hölderlins später Theorie des Tragischen deutlich,

nach der ein von Gott Ergriffener dahingerafft wird; in Hegels Theorie der klassischen Kunst wird solche Tragik des Einzelnen

historisiert und damit abgemildert. Insbesondere die Theorien der Einbildungskraft in ihren systematischen Verzweigungen gehören nun im deutschen Idealıs-

mus zu einem neuen subjektivitätstheoretischen Programm, das für gegenwärtige Entwürfe zur Subjektivitätstheorie sehr bedeutsam ist, aber erst wieder angeeignet werden

muß,

nämlich zur

systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Diese löst die empirische Erzählung vom Erwachen eines Vorstellungsvermögens nach dem anderen bei Condillac, die rubrizierende Aufzählung von psychischen Vermögen ın der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, aber auch Kants statische Systematik der Vermögenszuordnungen ab. Ihr Programm, das bei Fichte, Schelling und Hegel in je unterschiedlicher Weise ausgeführt wird, besagt zum einen, daß nach einem apriorischen Prinzip die Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes wie Empfindung,

30 F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 18561861. Bd. III, S. 626.

26

Anschauung, Verstand usw. systematisch, aber dynamisch und in notwendiger genetischer Folge entwickelt werden; dies Prinzip besteht in einer leitenden Struktur von Subjektivität, die sich in dieser genetisch-dynamischen Abfolge schrittweise erfüllen soll.

Das Programm der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins besagt zum anderen, daß sich mit dieser systematischen Entwicklung der Vermögen und Leistungen des menschlichen Geistes auch deren jeweiliges noematisches Korrelat oder deren jeweiliger Vorstellungsinhalt entwickelt, der auf verschiedenen Stufen konsti-

tuiert wird und der vom Empfindungs- über das Anschauungsund Verstandesobjekt zum vorgestellten einfacheren oder komplexeren Selbstbewußtsein wird; dieser Vorstellungsinhalt soll sich also von Stufe zu Stufe mit Bestimmungen der Subjektivität anreichern, bis die Struktur vollendeter Subjektivität erreicht ist und

das vollendet tätige Subjekt sich selbst in seinem vollendeten noematischen Subjektivitätsgehalt begreift. Dies Ziel adäquater Selbst-

erfassung der Subjektivität bestimmen die Idealisten ganz verschieden, Fichte als reinen sittlichen Willen, Schelling als ästhetisches Genie und Hegel als rein denkendes Wissen oder selbstbezügliches Denken. Keine dieser Bestimmungen und dieser Durchführungen der idealistischen Geschichte des Selbstbewußstseins erliegt dem schon oft und auch heute noch erhobenen Einwand der unendlichen Iteration des Ich in der Selbstvorstellung oder dem sog. Zirkeleinwand. Dieser Einwand besagt in seiner am häufigsten vorgetragenen Version, daß dem Ich, wenn es sıch selbst vorstellt, ein

tätiges Ich ın derselben Bedeutung vorangehen müsse, das als agierendes Subjekt diese Vorstellung zustande bringt, daß dieses agierende Subjekt aber als selbstbezügliches sich ebenfalls selbst als Objekt vorstellen müsse, was ein weiteres agterendes Subjekt in derselben Bedeutung voraussetzt, usf. ins Unendliche. In allen Ausführungen einer idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins aber geht dem vollendet sich begreifenden Subjekt auf den vorherigen Stufen nicht wieder das Subjekt in derselben Bedeutung voran; vielmehr handelt es sich um einfachere, weniger entwickelte 27

Bestimmungen. Ferner herrscht auch auf der Vollendungsstufe, sie mag nun als Wille, Genie oder Wissen konzipiert werden, keine

einfache Bedeutungssymmetrie zwischen tätig-vorstellendem und vorgestelltem Subjekt; jener Einwand trifft also, wie sich schon

aus dieser Skizze entnehmen läßt, nicht zu. Das Programm einer idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins erweist sich nun als fruchtbar für eine neue Theorie

von Selbstbewußtseinsmodellen. Diese zeigt gegenüber modernen Kritiken und Geist-Gehirn-Materialismen, was Selbstbewußtsein

eigentlich und irreduzibel bedeutet. Auch diese Theorie legt eine

Idealgenese des Selbstbewußtseins dar; denn ein realgeschichtlicher Aufweis der Ausbildung von Selbstbewußtsein von den Hominiden an bis zum homo sapiens scheitert zum einen daran, daß

viel zu wenig gesicherte Fakten zur Verfügung stehen, zum anderen daran, daß eine solche historisch-faktische Explikation, wenn sie denn gelingen sollte, schon über eine Konzeption des Selbst-

bewußtseins und seiner strukturellen Möglichkeiten verfügen müßte. Die Entwicklung der Selbstbewußtseinsmodelle legt ferner ebenso wie im Prinzip die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins

eine stufenartige Genesis immer komplexer werdender Selbstbeziehungsweisen dar. Aber es gibt auch gravierende Unterschiede.?! So ist die Theorie der Selbstbewußtseinsmodelle erstens keine systematisch- dynamische Explikation von psychischen bzw.

geistigen Vermögen, sondern von immer komplexer werdenden Selbstbeziehungsweisen und ihren Strukturen, die jedoch jeweils in Korrespondenz zu Weisen der Umweltbeziehung stehen. Sie

31 Zum Verhältnis der Theorie der Selbstbewußtseinsmodelle zur idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins mag verwiesen werden auf die Darlegung des Verf.s: Selbstbewußtseinsmodelle (s. Anm. 2), S. 128ff., 258 Anm. - Die Skala der Selbstbewußtseinsmodelle reicht vom phänomenologischen Horizontmodell (s.o. Anm. 19 und zugehörigen Text) bis zu dem komplexesten besonderen Modell, der voluntativen Selbstbestimmung, und dem generellen,

zugleich methodischen Konstitutions- und Entwicklungsmodell von Selbstbewußtsein. 28

folgt zweitens nicht wie die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins leitmotivisch dem Modell der Selbstbeziehung als Subjekt-Objekt-Beziehung, das jene idealistische Geschichte zwar

— Reinhold gegenüber — dynamisiert, das aber der Vielfalt und Komplexität der Selbstbeziehungsweisen in keiner Weise gerecht wird. Sie ist drittens keine apriorische Konstruktion, wie auch immer diese methodisch im Idealismus durchgeführt wird, sondern hat ein anderes Verhältnis zur Erfahrung; sie geht von signifikanten Basiserfahrungen aus und konzipiert daraufhin idealtypisch

gebildete Selbstbeziehungsweisen; diese sind also erfahrungsfundierte, idealtypische Weisen des Selbstverständnisses des Selbst, in denen es sich jeweils als ganzes erschlossen ist, oder Selbstbewußtseinsmodelle, die dann in einem idealgenetischen Zusammen-

hang dargelegt werden. Dieser ist viertens kein determinierter Zusammenhang, der durch ein teleologisch leitendes Prinzip seine Notwendigkeit erhielte, wie dies zumindest implızit in der idealıstischen Geschichte des Selbstbewußtseins der Fall ıst; der Zu-

sammenhang ergibt sich vielmehr dadurch, daß das folgende Selbstbewußtseinsmodell in der Regel horizonthaft im vorangehenden als mögliches angelegt ist; der Versuch, ein höherstufiges Selbstbewußtseinsmodell auszubilden, kann aber auch scheitern.

Der Fortgang ist somit zwar ein sinnhafter wie etwa bei der Sprachentwicklung, aber kein determinierter; er bedeutet von Stufe zu Stufe eine Sinnzunahme von Selbstbewußtsein. So wird fünftens

auch nicht ein Absolutes als Grund der idealgenetischen Entwicklung angesetzt. Wenn dieses in Religion oder Philosophie betrachtet wird, so geht es als höhere Sinngenese über die Selbstbewußtseinsmodelle hinaus.

Schließlich muß der Sinn der hochdifferenzierten Theorien klassischer deutscher Philosophie für gegenwärtige Bemühungen um Ethik und um Freiheitslehre weitgehend erst wiedergewon-

nen werden. Auch der Wille bzw. das selbstbewußt wollende Subjekt gilt in der Gehirnphysiologie teilweise als das irreale Produkt einer nachträglichen Interpretation von Aktivitäten bestimmter Gehirnareale (wie des anterioren Sulcus cinguli), die die eigentliche, 29

materielle Realität bilden.’ Ebenso ist für D. Dennett der Wille keine eigene Realität, sondern eine Gehirnfunktion. Doch auch hier gilt analog der o.g. Einwand, daß nicht erklärt wird, wie gewisse neuronale Aktivitäten komplex bestimmte voluntative Vor-

stellungen, Entschlüsse, Maximen und dgl. sind. - Die Diskussionen über grundlegende, nicht nur anwendungsbezogene Fragen der Ethik werden heute ferner durch evolutionäre, in weitem Sinne darwinistische ethische Lehren? bestimmt. Sie setzen die Gültigkeit der Evolutionstheorie voraus, damit aber auch ihre Probleme, von denen einige oben genannt wurden; und vorentschieden ist ın ihnen, daß es für den Willen als evolutiv entstan-

denes organisches Vermögen keine ihn leitenden Prinzipien a priori geben könne. Mit evolutionären Ethik-Lehren sind heute - anders

als bei G.E. Moore und seinen Anhängern - vielfach Varianten utilitaristischer Ethik verbunden;

sie setzen als natürliches Ziel

des Wollens das größtmögliche Glück der meisten an. Hierzu ist

freilich, wie sich aus mehrfachen Darlegungen entnehmen läßt, die strikte Beachtung des Selbstzweckcharakters des Menschen oder des praktischen Subjekts nicht erforderlich.” Auch in solchen Theorien ist in der Regel vorentschieden, daß es keine leitenden 32 Vgl. z.B. F. Crick: Was die Seele wirklich ist (s. Anm. 8), bes. S. 328, zu Libets Versuchen, die zeigen sollen, daß unbewußte Gehirnvorgänge „Entscheidungen“ treffen, bevor sie bewußt werden, $. 281f. - Zum Folgenden vgl. D. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewußtseins (s. Anm. 9), S. 331, 396ff., 541ff.

33 Vgl. z.B. unter den neuen Darstellungen J. Rachels: Created from Animals. Oxford und New York 1990; D. Dennett: Darwins gefährliches Erbe. Übersetzt von S. Vogel. Hamburg 1997 (Darwin’s Dangerous Idea. New York usf. 1995); auch die Aufsatzsammlung Evolution und Ethik. Hrsg. von K. Bayertz. Stuttgart 1993 sowie F.M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik. Darmstadt 1984.

34 Vgl. zu dieser Auffassung besonders P. Singer: Praktische Ethik. Übersetzt von O. Bischoff, J.-C. Wolf und D. Klose. 2. erweiterte Aufl. Stuttgart 1994 (Practical Ethics. 2. Aufl. Cambridge 1993); vgl. auch den Werteskeptizismus von J.L. Mackie: Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Übersetzt von R. Ginters. 2. Aufl. Stuttgart 1983 (Ethics. Inventing Right and Wrong. Harmondsworth 1977). 30

Prinzipien a priori der Moral gebe. Eine detaillierte grundsätzlıche Auseinandersetzung mit diesen Theorien”, die erforderlich ist vor dem Hintergrund systematisch unterschiedener Ethik-Typen, kann insbesondere von denjenigen Ethik-Theorien und Theorien der Freiheit profitieren, die ohne nähere Untersuchung von evolutionären oder utilitaristischen Lehren immer schon als ungültig abgelehnt werden, von den Theorien der klassischen deutschen Philosophie.

Die Antipoden der Utilitaristen, die Deontologen” oder Vertreter einer ethischen Pflichtenlehre berufen sich auch heute noch auf Kants Ethik; allerdings wird dessen Freiheitstheorie und deren grundlegende Bedeutung für diese Ethik dabei eher stiefmütterlich behandelt. Kant hat in der Entwicklungsgeschichte seines Denkens unterschiedliche Theorien des Verhältnisses von Sitten-

gesetz und Freiheit ausgebildet; immer aber ist die Freiheit für die Fundamente seiner Ethik essentiell. Es ist die freie Person und ihr Selbstzweckcharakter, in der sowohl individuelle Sittlichkeit oder

Tugend als auch Menschenrechte fundiert sind; hieran muß angesichts bestimmter utilitarıstischer und evolutionärer Ethiken, die dies nicht begründen können, nachdrücklich erinnert werden. -

Kant hebt den Selbstbezüglichkeitscharakter des freien sittlichen Willens nicht eigens hervor; darüber aber entfaltet der frühe Fichte seine Theorie des Ich, das zuerst praktisches oder wollendes

Ich ist und das sich im Sich-Richten nach dem allgemeingültigen

Sittengesetz seine eigene Identität mit sich verschafft. Schelling, der Fichte hierin zunächst folgt, gibt dann in seiner Freiheitsschrift

der ıdealistischen Freiheitstheorie eine Wendung in die Metaphysik; menschliche Freiheit wird nur im Horizont einer philosophi-

schen Theologie entwickelt; die hochspekulativen Probleme, die diese Theorie vom Wollen als Ursein mit sıch bringt, werden später 35 Eine solche Auseinandersetzung hat der Verf. in Arbeit, 36 Vgl. z.B. E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993; O. O’Neill: Tugend und Gerechtigkeit. Übersetzt von J. Schulte. Berlin 1996 (Towards Justice and Virtue. Cambridge 1996); Chr. Korsgaard (u.a.): The Sources of Normativity. Hrsg. von O. O’Neill. Cambridge 1996. 31

von Heidegger aufgenommen und mit dem Stand der Seinsgeschichte erklärt und entschärft. Hegel entfaltet seine Theorie der Freiheit zwar ebenfalls metaphysisch; aber die Lehre von der menschlichen, ethischen Willensfreiheit bettet er ın eine Theorie der

Institutionen sowie der Substanz des Staates als des objektiven Geistes eın, der die individuellen Willen übergreift und ihnen allererst sittliche Begründung und Berechtigung verschafft. Das Vorbild der Platonischen sittlichen Polis drängt für Hegel die EtatismusGefahren dieser Konzeption, wie sie geschichtlich später hervortraten, in den Hintergrund. Doch zeigen diese Konzeptionen der klassischen deutschen Philosophie zu Sittlichkeit und Freiheit Grundfragen der Ethik, der Theorie ethischer Subjektivität und des sittlichen Geistes auf,

die heute den Ethik-Debatten erst wieder zugeführt werden müssen. So läßt sich an vielen gegenwärtigen Diskussionen in der Philosophie, nämlich in der Erkenntnistheorig, ıin der Ethik und in der Ästhetik darlegen, daß für eine Bewältigung ungelöster oder

abgeblendeter Grundlegungsfragen die Lehren der klassischen deutschen Philosophie einschlägig sein können. Es gilt nicht, sie lediglich zu übernehmen, sondern sie in neuen Problemhorizonten, die

nicht die ihren waren, fruchtbar zu machen.”

37 Die Nachweise zu den hier gesammelten Aufsätzen über die Epoche von Kant bis Hegel und eine Danksagung finden sich am Ende des Bandes. 32

I. Theoretische Philosophie ım transzendentalen Idealismus

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Objektive und subjektive Zeıt Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption

Zur Bestimmung dessen, was Zeit! ist, bieten sich zwei grundlegende alternative Möglichkeiten als Ausgangspunkte an: Einmal kann man beim unmittelbaren, subjektiven Zeiterleben ansetzen, d.h. bei den im Erleben selbst sich bekundenden Verlaufsformen der Erlebnisse sowie bei bestimmten Komplexionen der auftretenden und vergehenden psychischen Ereignisse im Erlebniszusammenhang des Ich. Die in solchem Erleben sich zeigenden oder unthematisch jeweils mit vorgestellten Zeitmodi sınd Bestimmungen eines Grundtypus von Zeit, der „subjektive Zeit“ heißen soll.

Diese ist selbst wieder Basıs für vielfältige Arten subjektiven Zeitverständnisses, das z.B. beim natürlichen, alltäglich sich verhaltenden Bewußtsein, beim Künstler oder aber beim Betrachter menschlicher Geschichte jeweils verschieden ist. Zum andern kann man von Zeitbestimmungen ausgehen, die der Wechsel subjektiver Erlebnisse nicht tangiert, also etwa von konstanten Maßen für den Ablauf von Begebenheiten. Hierbei handelt es sich um in sich noch zu differenzierende mathematische und physikalische Begriffe von Zeit, die als Bestimmungen eines anderen Grundtypus von Zeit fungieren, der hier als „objektive Zeit“ bestimmt werden soll. 1

Die vorliegende Untersuchung ist die Ausarbeitung eines Beitrags, der auf einer Tagung über Probleme der Zeit in Köln im Januar 1978 diskutiert wurde. Der lebhaften Diskussion verdanke ich Anregungen, die ich einzuarbeiten versucht habe; ebenso gab mir ein gemeinsam mit Herrn Pöggeler (im Winter-

semester 1977/78) veranstaltetes Seminar Gelegenheit, einige Probleme, die im folgenden behandelt werden, erneut zu durchdenken.

35

Nachdem die philosophische Tradition in der Regel von Bestimmungen der objektiven Zeit in kosmologischem oder in mathematischem und physikalischem Sinn für das Begreifen dessen, was Zeit ist, ausging, wurde gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts die spezifische Bedeutung der subjektiven Zeit derjenigen der objektiven Zeit entgegengesetzt und als konstitutiv für den Begriff der Zeit geltend gemacht. Die subjektive Zeit war zwar auch der Tradition keineswegs unbekannt; als entgegengesetzt gegen die objektive Zeit hatte sie jedoch nicht wie ın den neueren Untersuchungen Leitfadenfunktion. In Machs psychophysiologischer Darstellung der Erlebniszeit z.B., die für die metrisch-physikalische Zeit nach seiner Auffassung die Basis abgibt, hat die subjektive Zeit maßgebliche Bedeutung. Noch eindeutiger verfolgen Bergson einerseits und Husserl andererseits das Konzept, aus der Erörterung der Erlebniszeit den Begriff der Zeit selbst, sei es als erlebte Dauer, seı es als „lebendige Gegenwart“,

zu gewinnen; die objektive Zeit wird dabei entweder mit dem Raum identifiziert, oder sie gilt im Prinzip nur als Derivat der subjektiven Zeit. Für Heidegger liegt dann - vor dem Hintergrund solcher Untersuchungen - die ursprüngliche Bedeutung der Zeit darin, daß sie Seins- und Verstehenshorizont des handelnden Daseins in seiner Befindlichkeit ist. Die Analyse des Zeitverständnisses darf hierbei seiner Ansicht nach selbst nicht wissenschaftlich objektivierend, sondern muß existential-ontologisch vorgehen, um der Seinsart des Untersuchten gerecht zu werden. Die Vorstellung der objektiven Zeit erscheint, von da aus gesehen, als vulgär und uneigentlich. Diese Theorien orientieren sich ebenso wie die Untersuchungen, die Husser] bzw. Heidegger nach-

folgen, für die Bestimmung der Zeit einseitig am Grundtypus der subjektiven Zeit. Diese auf die subjektive Zeit ausgerichteten Erörterungen können den Anschein erwecken, als sei der Begriff der objektiven Zeit

mit seinen internen Bestimmungen kein eigenes Problem mehr. Was zur objektiven Zeit gehört, ist jedoch weder selbstverständlich noch unstrittig. Die Vorstellung einer einheitlichen, objektiven, 36

metrischen Zeit ist durch die relativistische Physik vielmehr fragwürdig geworden. Die Bestimmung der allgemeinen Bedeutung der objektiven Zeit, ihrer philosophischen Voraussetzungen und des Verhältnisses der objektiven zur subjektiven Zeit ist ebenso Aufgabe einer philosophischen Untersuchung des Begriffs der Zeit wie die Analyse der subjektiven Zeit; eine einseitige Orientierung, in diesem Falle an der objektiven Zeit, muß aber gleichermaßen vermieden werden. Erst dann lassen sich mit Anspruch auf Evidenz grundlegende Verhältnisse unter den verschiedenen Zeittypen und -bestimmungen und eine Anordnung der Aufbauelemente des Begriffs der Zeit angeben. Eine solche Betrachtung des Zeitproblems, die diesen verschiedenen Grundtypen der Zeit gerecht werden und deren Verhältnis zueinander prinzipiell bestimmen will, kann nun für ihre Argumentation wesentliche Aufschlüsse von der bis ins 20. Jahrhundert wirksamen, oft kritisierten, aber oft auch mißverstandenen Kantischen Theorie der Zeit erhalten. Denn in dieser wird, ob-

wohl es Kant vor allem um eine Neufassung des Begriffs der objektiven Zeit geht, weder die subjektive aus der objektiven noch die objektive aus der subjektiven Zeit abgeleitet; vielmehr denkt er ın ihnen selbständige Bestimmungen, die und deren Verhältnis zueinander er in den kritisch-transzendentalphilosophischen Prinzipien begründet. Unter dieser Perspektive, einen Ansatz zur Lö-

sung des dargelegten Problems der Zeit aufzuweisen und zu beurteilen, soll im folgenden Kants Lehre von der Zeit innerhalb der kritischen Philosophie untersucht werden. Kants Theorie der Zeit ist freilich nur ganz unvollständig in der „transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft enthalten; wesentliche Aus-

führungen dieser Theorie finden sich in den folgenden Abschnitten, insbesondere in den „Analogien der Erfahrung“. Die verschiede-

nen Aussagen an den unterschiedlichen systematischen Stellen müssen auf ihre Kompatibilität hin betrachtet und zu einem einheitlichen Argumentationsgang entwickelt werden; erst dieser repräsentiert die Theorie der Zeit, die Kant konzipiert hat. - Kants Auffassung von der physikalischen Bedeutung der objektiven Zeit 37

ist nun z.T. an die Newtonsche Physik gebunden; es soll daher nach den durch die relativistische Physik notwendig werdenden Veränderungen gefragt werden. Ferner hat Kant die subjektive Zeit als Phänomen durchaus gesehen, jedoch nicht angemessen expliziert, eine Phänomenbeschreibung ist hier nicht nachzuholen;

aber hinsichtlich der philosophischen Fundierung der subjektiven

Zeit bei Kant sei in einigen Grundfragen Heideggers kritische Kantinterpretation erörtert, die auf einer am Grundtypus der „sub-

jektiven Zeit“ orientierten Zeittheorie beruht. In beiden Fällen moderner kritischer Rezeption wird sich zeigen, daß die Kantische Theorie der Zeit zwar wesentlich zu verändern ist, daß sie aber

dennoch als systematisches Orientierungsmodell fungieren kann. 1. Zuerst soll Kants Theorie der objektiven Zeit untersucht werden. Sie geht von einer bestimmten geschichtlich vorgeprägten Problematik aus. Kants Konzeption ist nicht mehr ın einer Kosmologie verankert; für ihn lassen sich Zeitablauf und Zeitmaß nicht mehr vom Lauf der Gestirne ablesen. Geschichtlicher Hinter-

grund und zugleich Gegenstand der Auseinandersetzung ist für ihn vielmehr einerseits Newtons Begriff der absoluten Zeit, die ebenso wie der absolute Raum ein nicht wahrnehmbares, apriorisches, gleichwohl reales Anordnungsschema zur eindeutigen Bestimmung physikalischer Bewegungen sein soll, und andererseits Leibniz’ Lehre von der Phänomenalität der Zeit und des Raumes, die dieser besonders im Briefwechsel mit dem Newtonianer Clarke

gegen die These von der Realität des absoluten Raumes und der absoluten Zeit vertritt.” Kant lehnt die absolute Realität ebenso 2

In einer Reflexion aus den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts bemerkt Kant: „Die Zeit ıst nichts reales. Clark hielt es vor real als reine Zeit, Leibnitz

vor einen empirischen Begrif der succession“ (XVII, S. 700). - Zitiert wird nach der Akademieausgabe: Kants gesammelte Schriften. Berlin 1910ff. Die Zı38

wie die empirische Herleitung von Raum und Zeit ab; für ihn sind Raum und Zeit ideal als Anschauungen a priori, die in den Anschauungsformen des Subjekts begründet sind. Argumente für diese Auffassung liefert Kant vor allem in der „transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft. Die Bestimmungen der Zeit, die er hierbei angibt, sind jedoch nicht vollständig; vor allem charakterisieren sie überhaupt nicht, was

die Zeit selbst ist.” Kant zeigt hier, daß die Zeit kein aus Erfahrungen abstrahierter empirischer Begriff, sondern eine für Erfahrungserkenntnisse notwendige Vorstellung a priori ist, die ihrer Erkenntnisart nach als reine Anschauung gekennzeichnet wird. Kants Begründung für die viel umstrittene Apriorität der Zeitvorstellung lautet: Alle Wahrnehmung und Feststellung des Nacheinander oder des Zugleichseins von Ereignissen setzt bereits die Vorstellung der Zeit voraus. Diese ist kein empirischer Begriff, da sie nicht auf der Vergleichung von Wahrnehmungs- und Ereignisfolgen bzw. deren Gleichzeitigkeit beruhen kann, da sie auch unabhängig von Wahrnehmungen vorstellbar ıst und da sie die Anordnung der Wahrnehmungen hinsichtlich ihrer Abfolge oder Gleichzeitigkeit erst ermöglicht. Ohne nähere Erläuterung nımmt Kant hierbei an, daß Ereignisse nicht in anderen grundlegenden zeitlichen Verhältnissen angeordnet sind als denen der Aufeinanderfolge und der Simultaneität. Die Zeit selbst ist dabei weder das Nacheinander, das Verfließen, noch die Gleichzeitigkeit; vielmehr liegt sie beiden zugrunde;* was sie als solche ist, bleibt noch offen.

Da erst durch die Vorstellung der Zeit die Anordnung der Wahrnehmungen und ihrer Gegenstände in der Zeit als gleichzeitig tate aus Kants Schriften, die die Akademieausgabe nicht in Originalschreibweise wiedergibt, werden modernisiert. Die Erst- bzw. Zweitauflage der Kritik der reinen Vernunft (Kr.d.r.V.) wird mit A bzw. B bezeichnet.

3

Dies merkt auch D.P. Dryer an: Kant’s Solution for Verification in Metaphysics. London 1966, S. 227.

4

Vgl. Kr.d.r.V. B 46; vgl. in der Dissertation von 1770: „neque successio gignit conceptum temporis sed ad illum provocat“ und: „simultanea [...] sensibus obvia fieri non possint nisi ope temporis“ (II, S. 399, 401).

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oder einander folgend möglich ist, kann sie nicht selbst aus Wahrnehmungen abgelesen oder abstrahiert sein. Alle Dinge lassen sich deshalb, wie Kant hinzufügt, aus der Zeit wegdenken,

Zeit als ein halten. Die genständen bestehendes

aber die

bestimmtes Relationensystem bleibt in Gedanken erZeit ist also weder Eigenschaft von erfahrbaren Genoch von Dingen überhaupt noch ist sie ein für sich Ding. Damit wird Leibniz’ Auffassung, die Zeit sei

eine generalisierte Eigenschaft erfahrbarer Phänomene, aber auch Newtons Auffassung von der Realität der absoluten Zeit zurückgewiesen. Gleichartige Argumente gelten für den Raum. Der Einwand gegen Newtons metaphysische These wird durch Kants eigene Ausführungen über die reine, aprıorische Vorstellung der Zeit

im weıteren Verlauf der Kritik noch verdeutlicht. Gegen die empiristische Auffassung fügt Kant in der zweiten Auflage schon an dieser Stelle hinzu, daß die Vorstellungen von Veränderung und

Bewegung die Vorstellung des Nacheinander in der Zeit bereits voraussetzen und daher nicht erst begründen können;? dasselbe Argument dürfte auf moderne physikalische Bestimmungen einer 5

Vgl. Kr.d.r.V. B 48f. - Vgl. zum Argument für die Apriorität der Zeit H.].

Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. 5. Aufl. London 1970. Bd. 1, S. 110ff. Er verunklärt freilich das Argument durch varıierende Begründungen. D.P. Dryer kritisiert dies und führt selbst zwei Gründe an (Kant’s Solution for Verification in Metaphysics, S. 228ff.): Einmal geschieht alles Bewußtwerden in der Zeit und kann daher durch keinen einzelnen Fall empirisch widerlegt werden. Dies betrifft m.E. das Verhältnis von subjektiver Zeit und Bewußtsein. Zum andern kann die Vorstellung der Zeit nicht von Wahrnehmungsobjekten abgeleitet werden. Dies hätte ausgeführt werden können; es betrifft die Apriorität der Einen, invarianten, von bestimmten Erlebnissen unabhängigen

Zeit, ın der Gegenstände und Ereignisse vorkommen. Diese Vorstellung von Zeit liegt Kants Zeitargumenten in der „transzendentalen Ästhetik“ zugrunde (vgl. B 46ff., auch II, S. 398f.). Den Vergleich mit der Dissertation von 1770 und Hinweise auf die ältere Literatur findet man bei H. Vaihinger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Stuttgart usw. 1881/1892. Bd. 2,5. 368ff. - Einen Realitätsbeweis der Zeit - in Auseinandersetzung vor allem mit McTaggart und Husserl, weniger mit Kant - versucht P. Bieri: Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs. Frankfurt a. M. 1972, bes. S. 177£f. 40

topologischen und metrischen „Zeit“ zutreffen, die an reale Be-

wegungen geknüpft werden.

Wie nun die Zeitverhältnisse des Nacheinander und des Zugleichseins zueinander stehen, wird in sog. „Axiomen“, d.h. intuitiv gewissen synthetischen Grundsätzen über die Zeit geklärt; sie besagen, daß verschiedene Zeiten nicht zugleich, sondern nur nacheinander sein können, daß Nacheinander und Zugleichsein als Zeit-

bestimmungen sich also gegenseitig ausschließen und daß infolgedessen die Zeit, genauer: das Verfließen in der Zeit nur eine

Dimension habe. Auch diese Aussagen sind nur aufgrund der Vorstellung der Zeit selbst möglich und gültig.° Es fällt auf, daß Kant in der „transzendentalen Ästhetik“ Ver-

gangenheit, Gegenwart und Zukunft als Bestimmungen der Zeit

nicht in Erwägung zieht, obwohl er sie etwa bei der Darlegung dessen, was beharrt in Vergangenem und Zukünftigem, oder bei der kosmologischen Überlegung, ob die Zeitreihe endlich oder unendlich sei, verwendet.’ Die Feststellung der Zeitstellen von Ereignissen durch solche Bestimmungen ist vom subjektiven Erleben abhängig. Kant geht es hier jedoch um Bestimmungen der objektiven Zeit, d.h. um invariante Bestimmungen der zeitlichen Verhältnisse von Begebenheiten überhaupt aufgrund der Einen Zeit, die unabhängig vom jeweiligen Erleben ist. - Dennoch wird 6

Vgl. Kr.d.r.V. B 47. Kant fügt hier als Gegenstück den Raum hinzu, dessen verschiedene Teile nicht nacheinander, sondern zugleich sind. Er nimmt dabei ohne weitere Erörterung die Zeitbestimmung des Zugleichseins in die Vorstellung des Raumes auf; vermutlich steht hierbei Leibniz’ Bestimmung des Rau-

mes als Ordnung der Koexistenz von etwas ım Hintergrund. In der „metaphysischen Erörterung“ der genuinen Bestimmungen des Raumes kann er vom Zugleichsein der Teile als dem Gegenteil des Verfließens absehen, da er dort auch vom Verfließen absieht. - Vgl. auch II, S. 401 Anm., wo Kant sich

7

mit metaphysischen Implikationen über Gleichzeitigkeit und Dimensionalıität der Zeit äußert. Vgl. Kr.d.r.V. B 228, 437ff. u.a. In der Dissertation von 1770 gebraucht er den Ausdruck: „momentum“ als Bezeichnung der Grenze eines zeitlichen quantum continuum gegen eın anderes (Il, S. 399). Darunter ist nicht notwendig der Jetztpunkt zu verstehen; Kant räumt hiermit nicht etwa der Gegenwart einen Vorrang ein.

4

die Zeit von Kant als reine Anschauungsform im Subjekt fundiert. Denn sie ıst weder selbst ein Ding noch eine Eigenschaft von erfahrbaren Dingen. Sıe stellt gleichwohl einen Erkenntnisinhalt dar, über den als Grundlage der Erfahrung gültige Aussagen möglich sind. In der zweistelligen Erkenntnisrelation von erkennendem Subjekt und erkanntem Ding kann sie daher nur im erkennenden Subjekt verankert werden, freilich nicht im faktischen Erleben,

weil die Zeit ein Vorstellungsinhalt a priori ist, sondern, wie Kant zeigt, in der reinen idealen Form der sinnlichen Anschauung, die

eine eigene Erkenntnisquelle des Subjekts bildet. Die Zeit ist nämlich ein Ganzes, das die verschiedenen Teile, die Zeitabschnitte, ın sich enthält; die Vorstellungsart eines solchen Ganzen

als eines

singulären Gegenstandes aber ist Anschauung.? Die Einzelheiten der Fundierung der Zeit im Subjekt als Prinzip bleiben allerdings ebenso wie die zwiefache Bedeutung der Zeit als Anschauungsgegenstand und als Form der Anschauung in der „transzendentalen

Ästhetik“ noch unerörtert. Die Struktur der Zeit selbst, die Kant vor Augen hatte, läßt sich deutlicher aus den „Analogien der Erfahrung“

entnehmen, vor-

ausgesetzt, es gelingt, einige Unklarheiten in den dortigen Aussagen zu beheben. So erklärt Kant: „Die drei modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein“?. Unter „Modi“ kann man

hier besondere Eigenschaften oder Bestimmungen verstehen, die zwar im allgemeinen Wesen von etwas begründet sind, sich aber nicht notwendig aus ihm herleiten lassen.!? Kant variiert nun aber 8 Vgl. hierzu H.J. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 1, S. 114ff.; D.P. Dryer: Kant’s Solution, S. 235ff. - Die zeitgenössischen kritischen Reaktionen auf Kants Begründung der Phänomenalität und Idealität der Zeit und Kants Antworten stellt H. Vaihinger dar: Kommentar. Bd. 2, S. 400ff. 9 Kr.d.r.V. B 219. 10 In der vorkantischen Metaphysik sind die „Modi“ als zufällige Eigenschaften

im Wesen einer Substanz begründet, aber nicht daraus ableitbar (vgl. z.B. A. Baumgarten: Metaphysica. 4. Aufl. Halle 1757. $ 50: „modi [...] accidentia praedicabilia [...]“, ferner $ 65). Nun ist die Zeit für Kant keine Substanz und hat kein reales Wesen. „Modi“ sind daher für Kant - unter Absehen von jenem

ontologischen Sınn - spezifische Bestimmungen eines allgemeineren Vorstel42

seine Angaben über die Zeitmodi. An die Stelle der Beharrlichkeit setzt er einmal als Zeitmodus die Dauer, die Dauer, die allerdings Beharrlichkeit voraussetzt; ein anderes Mal rechnet er zu den

Zeitmodi nur Wechsel (Nacheinander) und Zugleichsein, so daß die Beharrlichkeit kein Zeitmodus ist, und kurz danach schließt er

auch das Zugleichsein von den Zeitmodi aus. So bleibt nur das Nacheinander oder das Verfließen als Zeitbestimmung übrig; dieses bezeichnet er auch einmal — nicht in Übereinstimmung mit seiner Theorie — als die Zeit selbst.!! Trotz dieser schwankenden

Bestimmungen läßt sich eine konsistente Auffassung von der Zeıt in Kants Ausführungen finden und präzisierend darlegen. Kant sieht in der Beharrlichkeit das eigentliche Charakteristikum der Zeit: „Die Zeit also, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht“; „die Beharrlichkeit

drückt überhaupt die Zeit als das beständige Korrelatum alles Daseins der Erscheinungen

[...] aus“. Die Zeit ist für Kant „selbst

unwandelbar und bleibend“!?. Erst durch das Zugrundelegen der Beharrlichkeit läßt sich das Verfließen des Mannigfaltigen im Nacheinander und auch dessen Gegenteil, das Zugleichsein, vorstellen. Wechsel, Veränderung und Bewegung könnten gar nicht festgestellt werden ohne vorausgesetzte Beharrlichkeit. Diese bildet also die identisch bleibende Anordnungsgrundlage für die Reihenfolge lungsinhalts als eines logischen Wesens von etwas, die daraus allein jedoch nicht vollständig zu entwickeln sind. In dieser Bedeutung spricht Kant z.B. auch von den „Modi“ des Selbstbewußtseins, den Urteilsfunktionen (B 406f.), oder von den „Modi“ der reinen Sinnlichkeit wie Ort, Lage, Früher, Zugleich

(B 107). Vgl. zur Bedeutung von „Modus“ auch H.). Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 2, S. 163ff., ferner H. Vaihinger: Kommentar. Bd. 2, S. 394f. 11 Vgl. Kr.d.r.V. B 262, 226, 291, zur zuletzt genannten Stelle auch unten Anm. 17. 12 Kr.d.r.V. B 224f., 226, 183. Vgl. auch B 58, 278. Vgl. W. Müller-Lauters klare Erörterung des Verhältnisses von Beharrlichem und Beharrlichkeit (als eigentlicher Kennzeichnung der Zeit) in: Kants Widerlegung des materialen Idealismus. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), S. 70ff. Vgl. auch ]. Moreau: Le temps, la succession et le sens interne. In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses 1974. Berlin und New York 1974 (Kant-Studien 65. Sonderheft), S. 187, 196. Zu Heideggers Interpretation von Zeit und Beharrlichkeit s.u. Abschnitt IV.

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der verfließenden Zeitabschnitte. Das Verfließen selbst in der Ordnung des Nacheinander erfolgt dabei kontinuierlich. Aufgrund der Beharrlichkeit kann man im Verfließen auch Dauer denken, nämlich als Phase eines Sichgleichbleibens von etwas ım kontinuierlichen Verfließen.!? Ebenso garantiert die Beharrlichkeit, wenn sie nicht begrenzt wird, als Anordnungsbasis die Einheit der Zeit bei allen verschiedenartigen Abläufen. Im Gefolge dieses Gedankens

setzt schließlich die Gleichzeitigkeit, die an räumlich verschiedenen Zuständen oder Vorgängen die Identität eines Zeitabschnitts

oder Zeitpunktes in Einem Zeitablauf bedeutet, die Vorstellung der Einen beharrlichen Zeit voraus.

Erst durch die Beharrlichkeit also läßt sich die Struktur der Zeit und der Verhältnisse in ıhr erkennen, wie Kant sie konzipierte. Man wird daher kaum die Beharrlichkeit nur als Modus der Zeit ansehen können; es bliebe sonst bei Kant ganz unbestimmt, was man sich unter der Zeit selbst überhaupt zu denken hätte.

Allerdings darf man die Beharrlichkeit nicht einfach für sich nehmen und als das Wesen der Zeit ansehen; die einheitliche Anord-

nungsgrundlage wird offensichtlich vielmehr nur dann als Beharrlichkeit vorgestellt, wenn sie in Beziehung zu dem Verfließen im Nacheinander, dem Zugleichsein und der Dauer den Grund und den Inbegriff dieser Verhältnisse. tion dieser Beziehungen zwischen der Zeit selbst verhältnissen, die bei Kant wegen der schwankenden

steht; sie bildet - Zur Explikaund den ZeitBestimmungen

13 Vgl. Kr.d.r.V. B 226. Paton interpretiert überzeugend Kants Ausführungen über das beharrliche Reale in der Erscheinung als substantielle Grundlage empirischer Zeitbestimmung. Aber er bemerkt nicht, daß Kants Aussagen über die Struktur der Zeit und der Zeitverhältnisse erst das notwendige Fundament dafür liefern und die Bestimmungen der „transzendentalen Ästhetik“ vervoll-

ständigen. Vgl. H.J. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 2, S. 195ff. (vgl. auch oben Anm. 10). In ähnlicher Weise wie Paton argumentiert W.H. Walsh: Kant on the Perception of Time. In: Kant Studies Today. Hrsg. von L.W. Beck. Illinois 1969, S. 160-180, zur ersten Analogie bes. S. 164ff. Zu Zeit

und Substanz s. auch die vergleichende, freilich den historischen Beziehungen zu wenig nachfragende Studie von P.S. Madigan: Time in Locke and Kant. In: Kant-Studien 67 (1976), S. 20-58, bes. S. 39f.

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der Zeitmodi nicht eindeutig durchgeführt wird, sei der von Heidegger in anderem Zusammenhang dargelegte, aber auch von Kant verwendete Unterschied von Zeit und Innerzeitigkeit herangezo-

gen. Die Zeit selbst beharrt als identisches Bezugsfundament für alles Verfließen in der Reihenfolge des Nacheinander sowie für Gleichzeitigkeit und für Dauer als einer aus Beharrlichkeit, Verfließen und Größe kombinierten Zeitbestimmung. Nun sind Verfließen,

Zugleichsein

und

Dauer

Verhältnisse

von

bestimmten

Verlaufsabschnitten oder Zeitteilen, approximativ auch nur von deren Grenzen, den Zeitpunkten. Da die Zeitteile ins Unbegrenzte erweitert werden können, muß die Eine Zeit, die ein Ganzes ist

und die Grundlage für die Zeitteile und deren Verhältnisse bildet, selbst als unendliche, nicht vergehende Größe gedacht werden.'* Jene Verhältnisse beruhen damit nicht nur auf der Zeit, sondern befinden sich auch in ihr als beständiger, unendlicher Größe; sie sind innerzeitig. Daher stellen sie keine wesentlichen Eigenschaften der Zeit selbst dar; dennoch gehören die Bestimmungen der Innerzeitigkeit als das Begründete notwendig zu ihrem Grund, der Zeit, und als Zeitteile zur Zeit als dem Ganzen: sie lassen sich

ın ihren spezifischen Bedeutungen nur nicht aus der Zeit herleiten.'” Angemerkt sei, daß hiermit das Verfließen und der Richtungssinn des Verfließens, die Unumkehrbarkeit der zeitlichen Abfolge, für Kant nicht zur Zeit selbst gehören.

Eine solche Charakterisierung der Zeit - selbst ın der rudimentären Form, wie die „transzendentale Ästhetik“ sie gibt - ist nur möglich, wenn die Anordnungen, in die das für sich unbestimmte

Mannigfaltige durch die Zeit und durch die Verhältnisse in der Zeit gebracht wird, Vorstellungen von geregelter Einheit implızieren; diese aber unterstehen der synthetischen Einheit des rei-

nen Selbstbewußtseins. Nun soll nach Kants Lehre die Zeit die 14 Vgl. Kr.d.r.V. B47f. 15 Diese Angabe der Relation zwischen der Zeit selbst und den Zeitverhältnissen orientiert sich an der Relation der „Modi“ zur Essenz einer Substanz (s. Anm.

10), jedoch unter Abstraktion von ihrer ontologischen Bedeutung. 45

universale, reine Form der sinnlichen Anschauung als einer eigenen Erkenntnisquelle sein. Was die Zeit und die Verhältnisse in ihr bedeuten, läßt ich aber auch in der „transzendentalen Ästhe-

tik“ nicht ohne Zusammenfügung des Mannigfaltigen zur Einheit bestimmen. Diese Einheit des Mannigfaltigen, ohne die keine Anschauung a priori des Raumes oder der Zeit zustande käme, beruht nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auf der apriorischen Synthesis der Apprehension; nach der zweiten Auflage ist diese synthetische Einheit eine Bedingung aller Apprehension und Produkt der Synthesis speciosa der Einbildungskraft.!° So wird das reine Mannigfaltige zu bestimmten Verhältnissen wie denen der Aufeinanderfolge bzw. des Zugleichseins auf der Grundlage der Beharrlichkeit synthetisiert. Diese Synthesis und ihr Produkt, die Einheit enthaltende Anschauung, muß sich aber nach bestimmten regelnden Einheitsbegriffen richten,

um zur Einheit des Selbstbewußtseins gehören und damit Bestandteil einer Erkenntnis sein zu können. Diese Einheitsbegriffe

sind für Beharrlichkeit, notwendige Folge und Zugleichsein offensichtlich die Kategorien der Relation; ferner sind für die Vor-

stellung der Dauer ebenso wie der Zeitreihe die Kategorien der Quantität vorausgesetzt.! Damit aber entsteht die Gefahr, daß die Theorie von der sinnli-

chen Anschauung als einer eigenen Erkenntnisquelle aufgegeben werden muß, da reine sinnliche Anschauungen als Erkenntnisbestandteile ohne synthetische Einheiten und deren Regeln nicht vorzustellen sind. Kant löst dieses Problem durch die Unterscheidung

16 Vgl. Kr.d.r.V. A 99f., B 160f., vgl. auch B 136 Anm. Im Opus postumum nennt Kant daher die Vorstellungen von Raum und Zeit, da sie Einheit enthalten,

Produkte der Einbildungskraft (vgl. XXII, S. 76, auch 37). 17 Nicht die Zeit, wie sie nach den bisherigen Ausführungen Kant konzipiert, sondern die Zeitreihe als quantitativ geregelte Sukzession ist gemeint, wenn Kant erklärt, daß „ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge“ (Kr.d.r.V. B 182, vgl. 184). 46

von „formaler Anschauung“ und „Form der Anschauung“"®. Wird

die Zeit selbst mit den Verhältnissen in ihr zum Gegenstand des Vorstellens gemacht wie z.B. ın der „transzendentalen Ästhetik“, so ist sie Thema einer „formalen Anschauung“, d.h. sie ist rein

angeschaute thematische Einheit von gegebenem Mannigfaltigen, die der regelnden Einheit, wie sie in der Kategorie gedacht wird, konform sein muß. Ohne die Herstellung einer solchen Konformität zwischen anschaulicher, geregelter und gedachter, regelnder Einheit ist die Zeit in formaler Anschauung überhaupt nicht vorstellbar und bestimmbar. Die Zeit als „Form der Anschauung“ ist

demgegenüber die ursprüngliche Gegebenheitsweise des Mannigfaltigen, die aus den Kategorien nicht ableitbar ist, aber in den Bestimmungen der Zeit als des Anschauungsgegenstandes immer mitvorgestellt wird. Diese Bedeutung von „Form der Anschauung“ ist eine reduzierte gegenüber derjenigen der „transzendentalen 18 Vgl. Kr.d.r.V. B 160f. Anm. Schon Jacobi glaubt, in dieser Unterscheidung

einen Widerspruch sehen zu müssen (vgl. F.H. Jacobi: Sämtliche Werke. Bd. III. Leipzig 1816, S. 77ff.). Hegel verteidigt Kant zwar gegen Jacobis Mißver-

ständnisse, plädiert aber dafür, daß die Vorstellungen von Raum und Zeit wegen der in ihnen enthaltenen Einheit nicht mehr einer Sinnlichkeit zugeschrieben werden, die dem Verstand entgegengesetzt ist (vgl. G.W.F. Hegel: Ge-

sammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, S. 364f., 327). - Cohen versucht aufgrund ähnlicher Schwierigkeiten,

Raum und Zeit als Kategorien darzulegen (vgl. H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. 3. Aufl. Berlin 1918, S. 267ff., 275 und ders.: Logik der reinen Erkenntnis. 4. Aufl. Hildesheim/New York 1977. Werke. Bd. 6, S. 149ff.). Heidegger sieht in diesen Überlegungen Kants verschiedene Typen von Synthesis

angedeutet, aber nicht klar unterschieden (vgl. M. Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 25. Hrsg. von I. Görland. Frankfurt a. M. 1977, S. 132ff., 264ff. auch Bd. 21. Hrsg. von W. Biemel. Frankfurt a. M. 1976, $. 294ff.). Von modernen er-

kenntnistheoretischen und psychologischen Auffassungen und Beobachtungen her untersucht Sellars kritisch Kants Aussagen über die Einheit in sinnli-

chen Anschauungen (vgl. W. Sellars: Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes. London 1968, S. 1-30). Zu Kants Lehre vgl. H.J. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 1, S. 540f.; G. Krüger: Über Kants Lehre

von der Zeit. In: Anteile. M. Heidegger zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1950, S. 194ff.; M. Baum: Die transzendentale Deduktion in Kants Kritiken. Diss. Köln 1975, S. 140ff.

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Ästhetik“, die unter „Form der Anschauung“ auch die reine the-

matische Anschauung von räumlichen begreift. Sie muß in ihrer reduzierten theoretisch isolierter, integranter und eines reicheren Vorstellungsganzen a

und zeitlichen Verhältnissen Bedeutung als erkenntnisursprünglicher Bestandteil priori aufgefaßt werden. So

enthält z.B. das Vorstellungsganze von Beharrlichkeit und Wechsel,

das nur durch das regelnde Verhältnis von Substanz und Inhärenz geregelte Einheit hat, eine irreduzible zeitliche Komponente, de-

ren inhaltliche Bedeutung jedoch nicht getrennt repräsentierbar ist. Die reine Form der Anschauung ist aber als der Grund dafür anzugeben, daß die verschiedenen Teile der Zeit, nämlich die Pha-

sen in der Ordnung des Nacheinander, immer im Ganzen der Zeit enthalten sind, so daß die Vorstellung, die die Zeit zum Ge-

genstand hat, formale Anschauung und nicht diskursiver Begriff ist, unter den Mannigfaltiges subsumiert wird. Auf diese Weise

kann man die Theorie der getrennten Erkenntnisquellen trotz der in Anschauungen immer schon vorgestellten Einheit aufrechterhalten. Die Bestimmungen der Zeit, die ihr als Anschauungsgegenstand zukommen, sind allerdings von den „transzendentalen Zeit-

bestimmungen“, den Schemata der reinen Verstandesbegriffe, noch zu unterscheiden. So ıst z.B. das Schema der Kategorie der Substanz nicht die Beharrlichkeit als die grundlegende Bedeutung der Zeit, sondern die „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“; es wırd hiermit in den Erscheinungen etwas Reales und Daseiendes als „Substrat“ angenommen,

„welches die Zeit überhaupt vorstellt“,

d.h. welches im Wechsel der Erscheinungen an seinem realen Dasein die Beharrlichkeit der Zeit ausdrückt.!” Für dieses Schema ist 19 Kr.d.r.V.B 183, 225. Dieser Unterschied zwischen reiner Zeitbestimmung und Schema ist selten beachtet worden; vielfach wird z.B. die Beharrlichkeit als

Schema der Substanz angesehen, so etwa von Heidegger, der dabei von seiner eigenen Konzeption des ontologischen Sinnes von Zeitbestimmungen ausgeht, vgl. Kant und das Problem der Metaphysik. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1951, S. 101f. Für Krüger ist die Zeit überhaupt das Schema der Kategorien, vgl. Über Kants Lehre von der Zeit, S. 206. Walsh macht hinsichtlich der ersten Analo-

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die Bedeutung der Beharrlichkeit als Zeitbestimmung bereits vorausgesetzt. Auch in den Schemata der anderen Relationskategorien, die für die Bestimmung von Verhältnissen in der Zeit (notwendige Folge und Zugleichsein) regelgebend sınd, wird jeweils das Reale in ebendiesen zeitlichen Verhältnissen vorgestellt, die daher schon konstituiert sein müssen. Ebenso beruht die von Kant an-

gegebene Schematisierung der Qualitäts- und der Modalkategorien bereits auf der Vorstellung des kontinuierlichen Verfließens in der Einen beharrlichen Zeit; in dieser wird das sich steigernde oder

sich vermindernde Reale der Empfindung als Zeiterfüllung sowie das reale Dasein von Erscheinungen nach seinen verschiedenen Seinsweisen als In-der-Zeit-sein überhaupt mit unterschiedlichen Weisen des Auftretens in der Zeit gesetzt. Nur mit dem Schema der Quantität scheint Kant ein reines Zeitverhältnis selbst zu bestimmen, da in diesem Schema das Reale nicht impliziert ist.

Hierbei ist offensichtlich die Zeit als beharrliche Anordnungsgrundlage und auch das kontinuierliche Verfließen in der Zeit vorauszusetzen; das Schema der Quantität, genauer: der Allheit konstituiert nur die Abzählbarkeit von reinem Mannigfaltigen,

von Zeitabschnitten, in der Ordnung der Aufeinanderfolge, die als kontinuierlich gilt. Die damit entstehende Vorstellung der Zeitreihe kann als spezifische Bestimmung eines reinen Zeitver-

hältnisses aufgefaßt werden.?® - So setzen in der Regel die Schemata der Kategorien als transzendentale Zeitbestimmungen die Zeit

gie die Kontinuität als Eigenschaft der Zeit sogar von der Substanz, also etwas Realem, abhängig, vgl. Kant on the Perception of Time (s. Anm. 13), S. 165. Vgl. ferner oben Anm. 12. 20 Vgl. zu den Schemata Är.d.r.V. B 182ff. Zu Zahl und Zeitreihe vgl. oben Anm. 17, ferner auch die Aussage in den Prolegomena, daß die Arithmetik „ihre Zahlbegriffe durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit“ zustande bringe (Hervorhebung von mir, IV, S. 283). Auf Unklarheiten in Kants Schematisierung der Quantitätskategorien und in seinem Begriff der Zahl macht Paton aufmerksam, vgl. Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 2, 5. 44ff. Zur Zahl als transzendentaler Zeitbestimmung vgl. G. Böhme: Zeit und Zahl. Frankfurt a. M. 1974, S. 264ff,

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und ihre Verhältnisse bereits voraus, wie sie in formaler Anschau-

ung bestimmt werden.?! Die Bestimmungen der Zeit in formaler Anschauung wie Be-

harrlichkeit, Folge, Zugleichsein, Dauer sind nun zwar Bedingungen objektiver Zeitverhältnisse; sie sind jedoch nicht schon als solche, sondern nur durch eine zusätzliche Argumentation objektiv gültig für Erscheinungen. Kant verwendet hierbei Aussagen über das subjektive Zeiterleben als Folie. So kann man Wahrnehmungen

als verfließend im Nacheinander erleben, ohne daß die

wahrgenommenen Erscheinungen selbst verfließende Begebenheiten in derselben Anordnung sind. Die sukzessive Apprehension in der Wahrnehmung eines Hauses z.B. bedeutet nicht, daß die wahrgenommenen Teile sich in derselben Weise ereignen; ihnen kommt vielmehr relative Dauer in Koexistenz zu. Ebenso bestimmt etwa

die Abfolge von Beobachtungen, die sich zunächst auf die Gezeiten der Erde und dann auf den Umlauf des Mondes

beziehen,

nichts über die Abfolge dieser Begebenheiten selbst; diese sind durch wechselseitige Gravitation nach Kant vielmehr in objekti-

vem Sinne zugleich. Umgekehrt kann subjektiv in den Wahrnehmungen auch etwas gleichzeitig erlebt werden, was objektiv in den Erscheinungen durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung als unumkehrbare Zeitfolge geregelt ist, z.B. das Eingedrücktwerden eines Kissens durch eine harte Kugel.?? Subjektives Zeiterleben, auch bei Beobachtungen, und objektive Zeitbestimmung

realer Erscheinungen sind also oft inkongruent. 21 Kant ist dem systematischen Problem nicht weiter nachgegangen, in welcher Weise die synthetischen Einheiten der Verstandesbegriffe die Einheit von reinem Anschauungsmannigfaltigen in einer formalen Anschauung regelhaft bestimmen ohne das in vielen Kategorien mitgedachte Reale, von dem in der

formalen Anschauung gerade abgesehen wird. 22 Vgl. zu diesen Überlegungen und Beispielen Kr.d.r.V. B 235f., 247ff., 257. Schopenhauers Einwände gegen Kants Auffassung von der objektiven Realität der Zeitfolge und der Dauer von Teilen in Koexistenz sowie gegen die Unterscheidung beider voneinander werden von Cohen widerlegt. Vgl. H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, S. 582ff. Vgl. im übrigen H.]. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 2, S. 221ff. 50

Die objektive Bedeutung von Zeitstellen und -verhältnissen realer Dinge und Ereignisse, die Erscheinungen sind, läßt sich nun nicht empirisch von der Zeit als ganzer und ihrer Ordnung ablesen; denn diese ist als apriorische formale Anschauung nicht wahrnehmbar. Die Möglichkeit einer objektiven Bestimmung von Zeitverhältnissen unter den Erscheinungen ist vielmehr durch die transzendentale Deduktion der Kategorien begründet. In die subjektiven Wahrnehmungserlebnisse und die Assoziationen, die mit ihnen im Zusammenhang stehen, muß der Gedanke des Objekts oder der objektiven Geltung durch bestimmte regelgebende Leistungen erst hineingebracht werden; denn das Objekt ist ebenso-

wenig wie die Wahrnehmung etwas, das sich außerhalb des Bewußtseins befindet. Es kommt für theoretische Erkenntnis durch Synthesis von gegebenem anschaulichen Mannigfaltigen und regelhafte synthetische Einheit zustande, wie sie in den Kategorien gedacht wird. Diese synthetische Einheit selbst aber ist im reinen apriorischen Selbstbewußtsein begründet und nur dadurch möglich. Der Gedanke des Objekts oder der objektiven Geltung ist also die vom reinen Ich hervorgebrachte Vorstellung der Notwendigkeit oder des Gesetzes in der Einheit von gegebenem Anschauungsmannigfaltigen. Die Zeitverhältnisse und Zeitstellen von realen

Erscheinungen in der Einen Zeit sind demgemäß nur dann objektiv, wenn sie bestimmten in der Einheit der Apperzeption begründeten Regeln konform sind; diese Regeln sind die Kategorien, vornehmlich die Kategorien der Relation.” So wird ein zeitliches Verhältnis verschiedener Wahrnehmungsinhalte, d.h. verschiede-

ner raumzeitlicher Erscheinungen dadurch objektiv, daß man sie z.B. durch die Kategorie der Kausalität in gesetzmäßiger Zeitfolge 23 Vgl. außer den Ausführungen zur transzendentalen Deduktion der Kategorien bes. Kr.d.r.V. B 220: „Der allgemeine Grundsatz aller drei Analogien“, die den Kategorien der Relation folgen, „beruht auf der notwendigen Einheit der Apperzeption in Ansehung alles möglichen empirischen Bewußtseins [...] zw jeder Zeit, folglich, da jene a priori zum Grunde liegt, auf der synthetischen Einheit aller Erscheinungen nach ihrem Verhältnisse in der Zeit.“ Vgl. ferner B 262.

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anordnet, auch wenn man subjektiv, nämlich im inneren Sinn, die

Wahrnehmungsinhalte etwa als zugleich gegenwärtig erlebt. Hinzugefügt sei, daß eine kategoriale, objektive Bestimmung von gegebenen realen Erscheinungen nach Kant auch davon abhängig ist, daß das Reale als Inhalt unserer Vorstellungen nicht ım inneren Sinn produziert werden kann, sondern im äußeren Sinn und

damit im Raume gegeben sein muß und lediglich als Vorgestelltes im inneren Sinn vorkommt. - Mit dieser Argumentation zur Begründung der Objektivität der Zeitstellen und -verhältnisse realer Erscheinungen ist freilich nur das allgemeine Fundament für die empirische Zeitbestimmung besonderer Erscheinungen etwa ın der Physik gelegt. Die Bestimmungen der Zeit in formaler Anschauung a priori sind, wie sich nun gezeigt hat, zwar nicht schon als solche objektiv gültig; sie sind jedoch notwendige Bedingungen dafür, daß gegebene reale Dinge und Vorgänge und deren Verhältnisse zueinander, wenn sie zugleich den regelnden Einheiten der Kategorien unterstehen, ın objektiven Zeitbestimmungen angeordnet sind. In dieser Weise liefert Kants Theorie Präzisie-

rungen und Differenzierungen des eingangs erwähnten allgemeinen Gedankens der objektiven Zeit. II. Diese Kantische Lehre von der Zeit ist nun eine philosophische Grundlegung von Newtons Theorie der absoluten Zeit. Newtons Bestimmungen der Zeit werden dabei freilich in entscheidenden Punkten geändert;”* dies ist auch für die Frage des Verhältnisses

der Theorie Kants zur modernen Physik von Bedeutung. Newton setzt den Begriff der Zeit ebenso wıe den des Raumes, des Ortes und

der Bewegung für seine Untersuchungen als allgemein bekannt 24 Vgl. zu Kants und Newtons Theorie der Zeit z.B. H. Scholz: Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit. In: Kant-Studien 29 (1924), S. 21-69, zur Andeutung von Unterschieden vgl. S. 33f. 52

voraus; er unterscheidet allerdings die wahre, mathematische Zeit von der nur scheinbaren, gewöhnlichen Zeit, deren man sich zur

alltäglichen Orientierung bedient. Die wahre, mathematische Zeit ist für Newton

die absolute Zeit, deren Verlauf unveränderlich

und eindeutig in der Reihenfolge geregelt ist und die nach einem mathematisch definierbaren Zeitmaß gleichförmig verfließt, selbst

wenn es keine gleichförmigen physikalischen Bewegungen geben sollte. Diese an sich gleichförmig verfließende Zeit ist eine Größe

und wird auch als Dauer bestimmt. Sie gilt als eine und dieselbe für alle Dinge und Vorgänge in der Zeit; als absolute ist sie nicht

wahrnehmbar wie die natürlichen, untereinander ungleichen Zeitmaße, z.B. die Tage.”” - Die Auffassung von der Einen, in ihren Teilen homogenen, nicht wahrnehmbaren, insofern absoluten Zeit

übernimmt Kant.” Er ist jedoch nicht wie Newton der Ansicht, daß diese wahre, mathematische Zeit gleichförmig verfließe, und identifiziert sie auch nicht mit der Dauer, die als quantitativ be-

stimmbares Beharren im Verfließen den Gedanken des Verfließens bereits impliziert; denn alles Verfließen kann nur ın der Zeit

als beharrlicher Anordnungsgrundlage stattfinden. Die Bedeutung der absoluten Zeit in der Prinzipienlehre der Physik bei Kant muß nun analog zu derjenigen des absoluten Raumes eingeschätzt werden. Kant akzeptiert aus Newtons Theorie auch den Begriff des absoluten Raumes, nicht jedoch den einer realen, absoluten Bewegung. Reale, d.h. materielle Bewegungen können vielmehr lediglich relativ zueinander stattfinden; die Annahme des absoluten, selbst unbewegten Raumes soll - anders als bei Newton - nur

die Möglichkeit verschaffen, alle realen Bewegungen in ihm als relativ zu denken.” Damit wird ausgeschlossen, daß eine reale

25 Vgl. I. Newton: Principia mathematica. Übers. und erläutert von J.Ph. Wolfers. Berlin 1872. Nachdruck: Darmstadt 1963, S. 25ff.

26 Vgl. z.B. Kr.d.r.V. B 245, 262. Vgl. auch unten Anm. 30. 27 Vgl. IV, S. 559-563; auch II, S. 17 (die Auffassung des vorkritischen Kant

unterliegt freilich Schwankungen). Vgl. zum Problem der Absolutheit bzw. Relativität der Bewegung bei Kant R. Palter: Absolute Space and Absolute 53

Bewegung in der Natur als absolut angesehen werden kann. Der absolute Raum selbst aber fungiert hierbei nur als Idee, dem keine Realität zukommt. Ein paralleles Argument muß für die absolute

Zeit konzipiert werden. Auch sie ist als Bezugsfundament für alle realen, relativen Bewegungen selbst unbewegt in zeitlichem Sinn, d.h. beharrlich, und sie verhindert zugleich, daß ein zeitlicher,

realer Vorgang als absolut ausgezeichnet und etwa als absolutes

Maß für andere Abläufe betrachtet werden kann. In dieser Bedeutung aber ist sie selbst nur eine Idee, keine physikalische Realität. Kants Prinzipienlehre der Physik unterscheidet sich also in bedeutenden Punkten von derjenigen Newtons. Kants philosophische Grundlegung der Bestimmungen von Zeit und Raum in der klassischen Physik ist aber vor allem gegen den metaphysischen Gebrauch dieser Begriffe gerichtet, den man bei Newton und seinen Anhängern findet. Für Newton sind die absolute Zeit und der absolute Raum real; sie gründen als unver-

änderliche Dauer und unendliche Ausgedehntheit in der Ewigkeit und der Unendlichkeit, die Attribute des notwendig existierenden Wesens, nämlich Gottes darstellen. Nun ist zwar auch nach Kant

die Zeit unendlich; sie ist für ıhn in einer metaphysischen Reflexion der Dissertation von 1770 sogar die Ewigkeit der allgemeinen Ursache der Welt in der Erscheinung („cansae generalis aeternitas

phaenomenon“), so wie der Raum deren Allgegenwart in der Er-

scheinung ist. Noch in der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet er das transzendentale Schema der Notwendigkeit als Ewigkeit. Motion in Kant’s Critical Philosophy. In: Proceedings of the Third International Kant Congress. Dordrecht 1972, S. 172-187. 28 Vgl. $ 22 Scholion. II, S. 410. Die platonische und neuplatonische Bestimmung der Zeit als Abbild und Erscheinung der Ewigkeit steht hierbei im Hintergrund. Veranlassung dürfte für Kant außer Newton und - mittelbar - Henry More wenigstens im allgemeinen auch Malebranche sein, an den er hier selbst erinnert. Vgl. ferner Kants Ausführungen zu realer Unendlichkeit und Ewigkeit in der Allgemeinen Naturgeschichte, 1, S. 306-322. Zum metaphysischen

Problem der Zeit bei Kant vgl. H. Heimsoeth: Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus (zuerst 1924). In: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Kant-Studien. Ergänzungsheft 71. Köln 1956, S. 218ff. 54

Doch

bedeutet diese nun als Zeitbestimmung: Dasein zu aller

Zeit, was Kant von der Ewigkeit Gottes unterscheidet. „Was in

der Zeit ist, ist immerwährend, aber nicht ewig; denn es ist ın ieder Zeit entweder gewesen oder noch oder wird doch seyn“””. Immerwährendsein als innerzeitiges Dasein zu aller Zeit, die

durch Reales erfüllt ist, setzt also die Vorstellung der Zeit selbst voraus; weder das Immerwährendsein noch die Zeit selbst lassen

sich aber nach der Kritik als Erscheinungen der Ewigkeit Gottes erweisen. Immerhin bleibt auch in Kants kritischer Bestimmung der Zeit noch ein metaphysischer Problemhorizont gegenwärtig. Die Zeit selbst oder die in der Kantischen Konzeption veränderte absolute Zeit ist nun, wie Kant im schon erwähnten zweiten

Zeitargument und den Folgerungen ausführt, weder selbst ein Ding noch Eigenschaft eines Seienden, da die Zeit als Vorstellung erhalten bleibt, auch wenn man sich alle Dinge aus ihr wegdenkt. Übrig bleiben bei diesem Gedankenexperiment die Beharrlichkeit

als Anordnungsgrundlage und gewisse Verhältnisse in der Zeit wie quantitativ bestimmbare Sukzession und Simultaneität von Mannigfaltigem, das durch eine Vielheit von mathematischen Punkten, die überhaupt einem Wechsel unterworfen sind, hinreichend

repräsentiert werden kann. Die Zeit und die Zeitverhältnisse sind damit in Kants kritischer Theorie der Erkenntnis Idealitäten, oder sie sind transzendental ideal”, was mit der empirischen Realität 29 XVII, S. 429, vgl. Kr.d.r.V. B 186, 184. Vgl. zur Erläuterung auch XVII, S. 428: „Die Welt ıst immerwährend, nicht darum, weil sie in der Ganzen absoluten

Zeit ist, sondern weil diese gar nicht statt findet“ (d.h. nicht real ist). Kant spricht hier von der durch Reales erfüllten Zeit. - Die Auflösung der sich hiermit nahelegenden ersten Antinomie, die schon den Begriff der Zeit voraussetzt und von der Zeit des Weltganzen handelt, bedeutet dann, daß der empirische Regressus im Durchmessen des realen Zeitmannigfaltigen indefinit ıst. 30 Vgl. Kr.d.r.V. B 49ff.;, vgl. auch B 459, wo Kant sich de facto mit der Leibniz-

schen Bestreitung der Realität der absoluten Zeit einverstanden erklärt; so jedenfalls muß man m.E. die dortigen Formulierungen, die den absoluten Raum und die absolute Zeit bestreiten, interpretieren, damit sie mit den Ausführungen der „transzendentalen Ästhetik“ und der „Analogien der Erfahrung“ kompatibel sind. 55

der Zeitbestimmungen und Zeitmaße von Dingen und Vorgängen in der Natur durchaus vereinbar ist. In ihrer Idealität vermag die Zeit also nicht reale Erscheinungen realiter zu begrenzen, als ließe sich etwa ein Weltanfang an einer bestimmten Stelle der absoluten Zeit angeben; die Zeit ist vielmehr nur Form aller Erscheinungen. Da die Zeit als Form der Erscheinungen ın der Form der sinnlichen Anschauung des Subjekts begründet wird und dieser nach Kant alle menschliche Erkenntnis gemäß sein muß, kann sie nicht als Folgebestimmung oder Abbild der Ewigkeit erkannt werden; die Ewigkeit selbst ist vielmehr unerkennbar, sogar in ihrem Begriff nicht einmal positiv bestimmbar, da sie nur durch die Nega-

tion der Zeit und ihrer Verhältnisse gedacht wird.?! Kants Theorie der Zeit widerlegt also die Newtonsche metaphysische These von der Realität der absoluten Zeit; sie behält jedoch - anders als Ber-

keleys und Leibniz’ Kritik an Newton - die Apriorität der Zeit als Form der Anschauung und formale Anschauung und damit zugleich als Bedingung der menschlich-endlichen Erkenntnis bei. Mit der Kritik an den Begriffen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Preisgabe dieser Begriffe in der relativistischen Physik scheint nun nicht nur Newtons,

sondern auch Kants Lehre überholt zu sein. So

kritisierte z.B. Mach Newtons Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit aus empiristischen Gründen.” Bei Aussagen über zeitliche Veränderungen oder die Dauer von etwas bezieht man sich nach Mach nicht auf die absolute Zeit, sondern auf er-

fahrbare Zustände bzw. Vorgänge an anderen Dingen. Die Schwin31 Vgl. VIII, S. 327. - Es gibt nach Kant jedoch einen moralischen Grund, sich

unzeitliche, übersinnliche Existenz zu denken. Damit wird zugleich die praktische Bedeutung der Konzeption der Idealität der Zeit sichtbar. Wären Zeit und Zeitfolge reale Bestimmungen von Dingen an sich, wäre nach Kant intelligible, unzeitliche Kausalität und damit Freiheit nicht zu retten (vgl. Kritik der praktischen Vernunft. Rıga 1788, S. 181f). 32 Zu den Übereinstimmungen zwischen Machs und Berkeleys empiristischer Kritik vgl. K.R. Popper: A Note on Berkeley as Precursor of Mach and Einstein. In: Conjectures and Refutations. 5. Aufl. London 1974, S. 166-174. 56

gungsdauer eines Pendels läßt sich z.B. an der Dauer einer Drehung der Erde um ihre Achse und diese Dauer wiederum an der Dauer anderer Bewegungen messen. Die absolute Zeit kann von keiner Bewegung abgelesen werden; sie ist nirgends beobachtbar und daher für Mach bedeutungslos und in der Physik ohne jeden praktischen Wert. Er kann zwar ihre Denkbarkeit nicht bestreiten, hält sie jedoch - wie den absoluten Raum und die absolute Bewegung - für einen „müßigen ‚metaphysischen’ Begriff“. Diese Einwände Machs, die sich als wirkungsgeschichtlich bedeutsam

erwiesen, richten sich gegen die Realität der absoluten Bewegung und gegen die Realität der absoluten Zeit, wie Newton sie annahm. Mach erklärt, daß alle Bewegung vielmehr relativ sei und

daß kein empirisches Zeitmaß von sich aus besondere Auszeichnung mit sich bringe. Diese als Innovation vorgetragene und verstandene Auffassung wird freilich, wie gezeigt wurde, von Kant, wenn auch aus anderen Gründen, durchaus geteilt; Kant hat nur

nicht die sich daraus ergebenden grundlegenden Probleme der Physik, nämlich die Frage der Auswahl eines nur relativ gültigen Zeitmaßes, das Problem der Definition von lediglich relativen Zeitbestimmungen in der Natur und die damit verbundenen Schwierigkeiten in der Erforschung realer, nur relativer Bewegungen und Kräfte gesehen.”* Mit Kants Theorie unvereinbar sind jedoch 33 E. Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 9. Aufl. Leipzig 1933. Nachdruck: Darmstadt 1976, S. 217, vgl. 218f., XVII; zur Argumentation gegen die absolute Bewegung vgl. S. 222ff. - Mach gibt eine empiristische, nämlich psychophysiologische Begründung der Vorstellung der Zeit an und fundiert hierbei die objektive Zeit in der Erlebniszeit; vgl. Erkenntnis und Irrtum. 5. Aufl. Leipzig 1926. Nachdruck: Darmstadt 1968, $. 423-433. 34 Ein gewisses Äquivalent für die von Kant bestrittene Lehre von der Realität des absoluten Raumes und der absoluten Zeit innerhalb der Physik dürfte für Kant die zunächst nur als Möglichkeit erwogene, später entschiedener vertretene Auffassung vom Äther oder Wärmestoff sein, der Raum und Zeit unbegrenzt erfüllt (vgl. z.B. IV, S. 564, XXI, S. 551), d.h. unbegrenzter realer Raum

und unbegrenzie reale Zeit ist. Doch diese Frage gehört - entgegen der Meinung des späten Kant - in eine physikalische, nicht in eine philosophische Theorie.

57

Machs Ansichten, daß die Zeit nur eine empirische Vorstellung sei und daß Vorstellungen a priori wie die der absoluten Zeit nicht alleın in der Physik, sondern überhaupt ohne Erkenntniswert seien. Zur Begründung beider Ansichten liefert Mach allenfalls Beschreibungen,

aber keine Beweise; eine Auseinandersert-

zung mit Kants Theorie der Zeit, die ja selbst kritisch gegenüber der Metaphysik, aber auch gegenüber empiristischen Prinzipien,

auf die Mach sich beruft, ist und die die Zeit als Vorstellung a priori und als Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis

darlegt, findet nicht statt. Im Hinblick auf die Entwicklung des Zeitbegriffs in der relativistischen Physik drängt sıch jedoch die Frage auf, ob diese Kantische Theorie in ihrem Anspruch auf Apriorität und auf Erfahrungsermöglichung noch aufrechterhalten werden kann. Es entwickelte sich ein lebhafter Streit über das Problem, ob durch eine

empirische Theorie die zugegebenermaßen apriorischen Grundlagen der klassischen Physik überhaupt revidiert werden können.” Hierbei sollte man sich, was nicht oft geschah, hinsichtlich der

Grundlagen der klassischen Physik weniger an Newtons Voraussetzung der absoluten Zeit als vielmehr an Kants philosophisch we-

sentlich differenzierter ausgeführte und besser begründete Theorie 35 Die Diskussion wurde hauptsächlich anhand des Begriffs des Raumes geführt. Die Positivisten und eine Reihe von Physikern vertraten im Prinzip die Position von Mach; vgl. z.B. A. Einstein (Grundzüge der Relativitätstheorie. 4. Aufl. Braunschweig 1965, $. 2): Die Physiker mußten die Begriffe von Raum und Zeit „aus dem Olymp des Apriori herunterholen [...], um sie reparieren und wieder in einen brauchbaren Zustand setzen zu können“. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von M. Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt 1960, S. 138-220 und Einsteins Vorwort S. XIff. Hinsichtlich des Zeitproblems stellt eine Variante des „Apriorismus“, wie ihn sonst etwa Neukantianer vertraten, neuerdings die konstruktivistische Protophysik dar, vgl. P. Janich: Die Protophysik der Zeit. Mannheim usw. 1969. Zu einer ersten Unterscheidung des Apriori, das sich aus der Reinigung von Handwerksregeln zu ideativen Normen ergibt, von Kants Begriff des Apriori vgl. G. Böhme: Ist die Protophysik eine Reinterpretation des Kantischen Apriori? In: Protophysik. Hrsg. von G. Böhme. Frankfurt a. M. 1976, S. 219-234,

58

der Zeit halten. Dieser Aufgabe stellte sich früher z.B. E. Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Relativitätstheorie, in neuerer Zeit vor allem, ver-

bunden mit einer ausgewogenen Stellungnahme, P. Mittelstaedt.”° Dagegen wird die Kantische Auffassung von der Zeit etwa von Reichenbach oder von Grünbaum zwar beachtet; es findet jedoch keine grundsätzliche Auseinandersetzung statt, da der Anspruch einer vorrelativistischen apriorischen Theorie auf Gültigkeit als

durch neue Erfahrungen und darauf aufbauende Theorien widerlegt angesehen wird.” Die wesentlichen Veränderungen der Kantischen Auffassung von der Zeit durch die relativistische Physik seien nun thesenartig angegeben. Das absolute Zugleichsein räumlich entfernter Ereignisse, das Kant annahm, geht in der relativistischen Physik verlo-

ren. Gleichzeitigkeit an räumlich entfernten, relativ zueinander ruhenden Punkten, an denen die Zeit gemessen wird, kann nur mit

Hilfe einer bestimmen Synchronisation, am zweckmäßigsten durch die Lichtgeschwindigkeit als höchste, konstante Geschwindigkeit einer Signalübertragung, nach einem bestimmten, rechnerischen Schema definiert werden. Gleichzeitigkeit ist hierbei nach Synchronisationsregeln zwar noch eindeutig anzugeben. Werden jene 36 Vgl. E. Cassırer: Zur Einsteinschen Relatwitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Berlin 1921, bes. S. 75-97. P. Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik. 3. Aufl. Mannheim 1968, bes. S. 33-44. Zur Explikation der Theorie der Zeit in der relativistischen Physik vgl. ders.: Der Zeitbegriff in der Physik. Mannheim usw. 1976. - Eine relativistische Zeitropologie in kritischem Ausgang von Kant versucht H. Scholz aufzubauen: Eine Topologie der Zeit im Kantischen Sinne. In: Dialectica 9 (1955), S. 66-113. Auch C.F. von Weizsäcker knüpft mehrfach an Kants apriorische Theorie an,

vgl. z.B. C.F. von Weizsäcker: Die Einheit der Natur. München 1971, bes. S. 143ff., 189ff., 410ff.; zum Problem der Beharrung der Substanz in der Zeit

bei Kant und in der modernen Physik vgl. ebd. S. 383-404. 37 Vgl. H. Reichenbach: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Berlin und Leipzig 1928, bes. $. 1f., 43, 48, auch 135, 173 (wiederabgedruckt in: Werke. Bd. 2.

Braunschweig/Wiesbaden 1977), ebenso ders.: Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori. Berlin 1920. A. Grünbaum: Philosophical Problems of Space and Time. 2. erweiterte Aufl. Dordrecht 1973, bes. S. 200f., 244 u.ö.

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Ereignisse an relativ zueinander ruhenden Punkten aber auch im Verhältnis zu einem Bezugssystem betrachtet, das sich relativ zu

ihnen bewegt, dann wird die eindeutige Unterscheidung von Gleichzeitigkeit und Reihenfolge hinfällig. Was einem relativ zu den Ereignissen ruhenden Beobachter als gleichzeitig erscheint, erscheint einem dazu relativ bewegten Beobachter als nacheinander.” Eine Gleichzeitigkeitsangabe hängt also vom Bezugssystem ab. — Man

muß

aufgrund der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit zwi-

schen zeitartigen und raumartigen Ereignissen unterscheiden; zeitartig sind Ereignisse, zwischen denen durch Lichtsignale eine beobachtbare Verbindung möglich ist, d.h. die relativ zueinander

mit geringerer Geschwindigkeit als der des Lichts bewegt sind; raumartig sind Ereignisse, bei denen dies nicht der Fall ist, bei denen also auch mit der physikalisch höchsten Geschwindigkeit der Ausbreitung von Wirkungen vom einen Ereignis aus das an-

dere nicht erreicht werden kann. Während nun die Reihenfolge zeitartiger Ereignisse eindeutig bestimmt werden kann, etwa durch

Kausalverknüpfung, ist die Reihenfolge raumartiger Ereignisse abhängig vom Bezugssystem und daher für sich selbst unbestimmt; eine nach einem Bezugssystem vorgestellte Reihenfolge solcher Ereignisse läßt sich durch Wahl eines bestimmten anderen Bezugssystems umkehren. Die Zeitfolge raumartiger Ereignisse wird also ebenfalls vom Bezugssystem abhängig. - Ferner bedeutet die Zeitdilatation, daß in mit hoher Geschwindigkeit bewegten Systemen die Uhren langsamer gehen als ın Systemen, die sich ver-

gleichsweise dazu mit geringer Geschwindigkeit bewegen. Dadurch geht der Sinn einer einheitlichen, allgemein bestimmbaren 38 Vgl. hierzu Einsteins Eisenbahnbeispiel: Einem ruhenden Beobachter erscheinen zwei Lichtblitze, die aus entgegengesetzten Richtungen, in gleicher Entfernung von ihm, zur Zeit t = 0 ausgesandt werden, als gleichzeitig, einem in Richtung eines Lichtsignals fahrenden Beobachter aber, der sich zur Zeitt=0 an derselben Stelle befindet, als nacheinander. Vgl. zur Erklärung P. Mittelstaedt: Der Zeitbegriff in der Physik, S. 85ff., zum folgenden auch S. 78f., auch H. Reichenbach: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, S. 213f. - Als Laie in der Physik kann ich hier nur die Ergebnisse darzustellen suchen. 60

Zeitdauer verloren. - In diesen relativistischen Zeitbestimmungen ist z.B. durch den Begriff der Geschwindigkeit immer auch die Vorstellung des Raumes enthalten. Ereignisse lassen sich eindeutig nur im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum bestimmen. Dabei erhält die Zeit ein gegenüber Kants Theorie neuartiges Verhältnis zum Raum. Da sıe jedoch dem Raum gegenüber ihre eigene Bedeutung bewahrt, läßt sich der konkrete Zusammenhang von

Raum und Zeit mit einer erkenntnistheoretischen Sonderung beider voneinander vereinbaren.” Die relativistischen Zeitbestimmungen unterscheiden sich von

den Kantischen grundsätzlich dadurch, daß in ihnen die Konzeption der Einen, absoluten Zeit selbst ın ihrer bloßen Idealıität als

Anordnungsgrundlage für alle Zeitbestimmungen und -messungen aufgegeben ist. Denn in dieser Konzeption werden die tatsächlıchen physikalischen Realisierungsmöglichkeiten der Zeitmessung, vor allem die Endlichkeit und Konstanz der Lichtgeschwindigkeit als höchster Signalgeschwindigkeit, nicht berücksichtigt. Dadurch wird nun aber Kants Theorie nicht einfach unbrauchbar; sie gilt

noch für einen beschränkten Bereich von Ereignissen, freilich nicht mehr für alle Ereignisse.*? Kants Bestimmung der objektiven 39 Dies zeigt vor allem E. Cassırer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 84ff.,

92f.; H. Reichenbach betont die selbständige Bedeutung der Zeit im RaumZeit-Kontinuum, vgl. Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, S. 132£., 187. - Auf

das Problem der Anisotropie der Zeit, des nur in einer Richtung fließenden Zeitstroms, sei nur hingewiesen. Vor allem von Weizsäcker und Grünbaum vertreten hierüber verschiedene Auffassungen, die u.a. von physikalisch-kosmologischen Prämissen wie der Annahme oder der Problematisierung einer Entropie des Weltganzen abhängen. Vgl. C.F. von Weizsäcker: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft. In: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Hrsg. von L. Krüger. Köln und Berlin 1970, S. 468ff. und A. Grünbaum: Die Anisotropie der Zeit. Ebd. S. 476ff., auch L. Krügers Einführung dazu S. 461ff. Ein philosophischer Begriff der objektiven Zeit muß unabhängig von der Entscheidung dieser physikalischen Fragen konzipiert werden - wie z.B. Kants Begriff der Zeit, die grundlegend Beharrlichkeit ist. 40 Vgl. zu dieser Frage die hier im wesentlichen übernommene, differenzierte Stellungnahme P. Mittelstaedts in: Philosophische Probleme der modernen Phy61

Zeitfolge kann im Prinzip relativistisch für die zeitartigen, kausal verknüpften Ereignisse akzeptiert werden, nicht allerdings für die raumartigen Ereignisse. Gleichzeitigkeit in Kants Sinne ist auf Koinzidenz von Ereignissen am selben Raumpunkt zu begrenzen. Bei Kants objektivem Kriterium für Gleichzeitigkeit von Ereignissen in Einer Zeit an räumlich entfernten Punkten, nämlich beı

der wechselseitigen Kausalität, ist die Endlichkeit und Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die erforderliche bestimmte Synchronisation und die Möglichkeit verschiedener Bezugssysteme nicht beachtet. Ebenso gilt eine einheitliche Zeitdauer nur für Systeme, die nicht relativ zueinander bewegt sind. Kants Zeitbestimmungen, die in sich einleuchtend entwickelt werden, sind also für den

erwähnten Bereich von Ereignissen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, nicht Jedoch für die anderen Ereignisse. Die Korrektur an Kants apriorischer Theorie durch die relativistische Physik kann empiristisch gedeutet werden; danach ist

der Begriff der Zeit empirisch konzipiert und nur empirisch in der Physik aufgrund der Bestimmung und Messung von Ereignissen im Raum-Zeit-Kontinuum realisierbar. Die Korrektur durch die relativistische Physik kann aber auch als Aufweis dafür verstanden werden, daß ın Kants apriorische Theorie der Zeitbestimmungen als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung unausgewiesenermaßen nicht realisierbare physikalische Feststellungsme-

thoden eingegangen sind; dazu gehört vor allem die Annahme instantaner Signalübertragung. Dann aber muß Kants apriorische Theorie nicht insgesamt aufgegeben werden. Die zweite Möglichkeit der Korrektur an Kant erscheint sinnvoll, da schon dem Be-

griff des Ereignisses und dem Vergleich von Vorgängen untereinander eine Vorstellung von Zeit zugrunde liegt. Diese Bedeutung von Zeit wird nicht lediglich durch subjektive Erlebnisse konstituiert

sik, S. 38ff., auch 17ff. - Zur hypothetischen Vorstellung einer einheitlichen kosmischen Zeit innerhalb der relativistischen Physik vgl. ders.: Der Zeitbegriff in der Physik, 5. 39£., 25. 62

und ist daher nicht subjektiv-empirisch*', obwohl deren Entstehung „mit“, nicht „aus“ der Erfahrung durchaus zuzugeben ist.

Sie bildet vielmehr mit den Vorstellungen des zeitlichen Wechsels, des Zeitablaufs in der Reihenfolge und vor allem mit der

diese Vorstellungen ermöglichenden Bestimmung der Beharrlichkeit als der Zeit, in der erst Wechsel und Folge stattfinden können, ein allgemeines Fundament für Untersuchungen über Ereignisse und deren Verhältnisse zueinander. Darın ist nicht schon, wie Kant meinte, der Gedanke einer einheitlichen, absoluten Zeit

enthalten, auch wenn dieser nur Idealität zukommen soll. Durch

Einführung zusätzlicher Bestimmungen kann dieser Gedanke allerdings — z.B. als regulative Maxime - konzipiert werden. Zu einer Entwicklung der apriorischen Bestimmungen des philosophischen Begriffs der Zeit als Erfahrungsbedingung kommt die Explikation mathematischer Bestimmungen hinzu wie der Metrisierbarkeit, der Kontinuität von Zeitintervallen usw.; denn auch dies sind Bedingungen a priori für physikalische Zeitbestimmung. Auf dieser Grundlage läßt sich durch die Einführung des Begriffs der Bewegung eine Phoronomie (in Kants Sinne) oder Kinematik entwik-

keln, die zugleich räumliche Relationen impliziert und die die Bestimmung spezifischerer Zeitverhältnisse ermöglicht, z.B. auch den Gedanken der Gleichzeitigkeit räumlich entfernter Ereignisse. — Auf diese Weise werden Zeitbestimmungen in systematischer Anordnung entworfen, deren imaginative oder reale Bedeutung

sich nur in der physikalischen Feststellung und Messung wirklicher Ereignisse erweisen kann.

41 H. Reichenbach z.B. ist der Auffassung, daß primitive Erlebnisse von Zeit vorauszusetzen sind und in der Physik wissenschaftlich umgebildet werden, vgl. Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, S. 134£. An allgemeinsten apriorischen Grundmustern wie der Zeit als der Ordnung des Nacheinander hält dagegen z.B. E. Cassırer fest, vgl. Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 85ff.

63

IN. Kant hat, wie gezeigt wurde, die von ihm aufgestellten objektiven Zeitbestimmungen, die nach seiner Theorie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, im Subjekt fundiert, nämlich in der

Form des inneren Sinnes und im Zusammenhang von sinnlichen Anschauungen und reinen Begriffen des Verstandes. Er hat damit aber nicht die objektive Zeit und ihre Verhältnisse in der subjektiven, erlebten Zeit begründet. Die sabjektive Zeit und die zu ıhr gehörigen Bestimmungen bilden vielmehr ein eigenes Problem; auch die Möglichkeit der subjektiven Zeit und ihr Verhältnis zur objektiven Zeit muß transzendentalphilosophisch, nämlich durch Klärung ihrer Verankerung im Subjekt als Prinzip, erörtert werden*?. - Kant hat keine Theorie der Bestimmungen der subjektiven Zeit entwickelt. Er hatte jedoch verschiedene Phänomene des Grundtypus der subjektiven Zeit vor Augen, und zwar nicht nur primitive und vorwissenschaftliche, durch Wissenschaft objektivierbare Zeiterlebnisse. Die Bestimmungen der subjektiven Zeit enthalten bereits Strukturen von unterschiedlichen Komplexitätsgraden; in ihnen konstituiert sich empirisches Bewußtsein. Daher muß

mit der Bestimmung der Phänomene, die bei Kant zur subjektiven Zeit gehören, die Untersuchung über die spezifische Bedeutung 42 Zur Unmöglichkeit, in Kants Theorie die objektive Zeit auf die Erlebniszeit zurückzuführen, vgl. auch J. Moreau: Le temps, la succession et le sens interne (s. Anm. 12), S. 195. W. Lütterfels (Kants Metaphysik der subjektiven Zeit. In: Wissenschaft und Weltbild 28 (1975), S. 137-151) versteht unter subjektiver Zeit die Fundierung der Zeit im Subjekt; den Zeitbestimmungen verleiht er dabei - anders als Kant - ontologische Bedeutung. FürJ. Bennett (Kant’s AnaIytic, Cambridge 1966, bes. S. 45-67) ist in seiner sonst scharfsinnigen kritischen Kantinterpretation die Lehre von der transzendentalen Idealität der Zeit entweder unverständlich oder trivial (S. 52); die Unverständlichkeit ergibt sich bei ihm freilich großenteils dadurch, daß er Kants eigene Probleme und Beweise

nicht hinreichend

untersucht; der Anschein

der Trivialität entsteht,

wenn in der Idealität der Zeit nur die Zurückführung von Zeitbegriffen auf die subjektive Zeit gesehen wird, unter der Bennett wohl lediglich einfaches, fak-

tisches Erleben in zeitlicher Anordnung versteht. 64

des Subjekts, das diese Zeitbestimmungen unmittelbar vorstellt, verbunden werden. Kant unterscheidet von Zeitbestimmungen in objektiver Bedeutung, wie erwähnt wurde, die Erlebnisse von subjektiv bleibenden

Wahrnehmungsanordnungen. Die Abfolge von Wahrnehmungen z.B. bei der Betrachtung eines Hauses oder bei der Beobachtung von Wechselwirkungen ist subjektiv und unabhängig von den Zeitbestimmungen der jeweiligen Objekte; ebenso können Ereignisse, deren objektive Verknüpfung in der durch Kausalität geregelten Zeitfolge besteht, subjektiv gleichzeitig wahrgenommen werden, Solche Erlebnisanordnungen gehören in der Regel der alltäglichen Erfahrung an; sie lassen sich in ihren genuinen zeitlichen Bestimmtheiten offensichtlich nicht in physikalisch objektive Zeitordnung überführen, sondern bleiben von dieser gerade verschieden.* Kants Bemerkung, diese subjektive Anordnung sei „unbestimmt“ oder „beliebig“, dient nur zur Unterscheidung dieser Anordnung von

der objektiven Zeitordnung;** man muß hinzufügen, daß die Verlaufsformen der Wahrnehmungserlebnisse sinnesphysiologisch und assoziationspsychologisch durchaus erforschbar sind, aber dadurch natürlich nicht zu Bestimmungen der Zeitordnung der wahrgenommenen Objekte werden. Diese Erlebnisse von subjektiver zeitlicher Anordnung sind beı Kant an das Beobachten geknüpft; sie sind insofern nicht spezifisch individuell. Betrachtet man die allgemeinen Zeitmodi, die Kant ihnen - ohne nähere Analyse - zugrunde legt, nämlich Abfolge, Gleichzeitigkeit und relative Dauer,

43 E. Mach (Erkenntnis und Irrtum, S. 431#f.) und H. Reichenbach (Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, S. 134f.) scheinen an eine schrittweise Transposition des

alltäglichen und natürlichen Zeiterlebens ın physikalische Zeitordnung zu denken. - Dagegen sind nach A. Grünbaum das „Jetzt“ und die Bestimmungen der Vergangenheit und der Zukunft, sofern sie auf das „Jetzt“ bezogen

sind, Erlebnisinhalte des alltäglichen Bewußtseins und nicht physikalisch bestimmbar (Die Anisotropie der Zeit, S. 479, 480ff.). Vgl. zu diesem Problem P. Bieri: Zeit und Zeiterfahrung (s. Anm. 5), $. 121-176. - Vgl. auch die folgenden Ausführungen zu diesen Zeitbestimmungen bei Kant. 44 Vgl. Kr.dır.V. B 238, 246. Vgl. auch oben Anm. 22. 65

so zeigt sich, daß sie den Zeitmodi der objektiven Zeitbestimmung entsprechen. Ebenso gebraucht Kant die zeitlichen Bestimmungen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Deutlicher als in der Kritik der reinen Vernunft tritt der Erlebnischarakter dieser Bestimmungen in der Anthropologie zutage, in der Kant sie zugleich in verschiedenen Vermögen begründet. Die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft werden durch das Vermögen der Erinnerung bzw. der Vorhersehung möglich. „Beide gründen sich [...] auf die

Assoziation der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Subjekts mit dem gegenwärtigen [...]“*. Durch solche Verknüpfungen erst kommt zusammenhängende, alltägliche Erfahrung des Subjekts zustande. Kant unterscheidet hier die „vor-

sätzliche“ Vergegenwärtigung des Vergangenen vom bloßen Spiel

der reproduktiven Einbildungskraft. Hinsichtlich des Zukünfuigen gibt es vernünftigerweise für ıhn keine Ahnungsempfindung,

sondern nur Erwartung ähnlicher Fälle und Vorhererwartung, die

sich nach Erfahrungsgesetzen richtet. Er denkt dabei nicht nur an erkennendes oder kontemplatives Verhalten; für das Zukünftige interessiert sich vielmehr vor allem das Subjekt in seiner alltäglichen Praxis mit dem Bestreben, Zwecke zu verwirklichen. In die-

sem Kontext geschieht die Erinnerung an Vergangenes „nur in der

Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen: indem wir im Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen oder worauf gefaßt zu sein“*. 45 VII, S. 182. - Zu diesen Zeitbestimmungen in der ersten Kritik vgl. oben Anm. 7. Nicht ganz übereinstimmend mit seiner sonstigen Zeittheorie ist die Notiz im Opus postumum: „Die Zeit hat keine Dauer. Ihr Seyn (jetzt, künftig, zugleich, vordem, nachdem) ist ein Augenblick“ (XXII, S. 5). 46 VII, S. 146. Das Vermögen der „überlegten Erwartung des Künftigen“ ıst nach Kant sogar das „entscheidendste Kennzeichen des menschlichen Vorzuges“, um sich „seiner Bestimmung gemäß“ verhalten zu können (VIII, S. 113). Die für das Leben der Menschen bedeutsamen natürlichen Zeichen werden nach den Bestimmungen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft von Kant ın „demonstrative“, „rememorative“ und „prognostische“ eingeteilt, wobei die „prognostischen“ seiner Auffassung nach aus praktischen Gründen am mei66

Für die Praxis hat unter den Zeitmodi also die Zukunft Vorrang vor der Vergangenheit; Ausgangspunkt aber ist die in praxisbestimmten Situationen erlebte Gegenwart, die solche Orientierun-

gen über die Grenzen des aktuellen Augenblicks verlangt. Das Phänomen der Erlebniszeit und die konkreten Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Erlebnissen sowie bestimmte Verflechtungen dieser Zeithorizonte in bestimmten Grundtypen von Erlebnissen hat Kant also zumindest gesehen. Diese Bestimmungen der subjektiven Zeit enthalten bereits Synthesen, nämlich bestimmte „Assoziationen“ von aktuellen Er-

lebnissen des empirischen Subjekts mit Vorstellungen von nichtaktuellen teils früheren, teils kommenden

Ereignissen, die zum

Erlebnisbereich des Subjekts gehören. Die einfache Basıs für den Aufbau verschiedener Zeithorizonte in aktuellen Erlebnissen ist aber für Kant der „Fluß innerer Erscheinungen“, d.h. das Verfließen der Erlebnisse im Bewußtseinsstrom, den man sich als konti-

nuierlich zu denken hat. Es könnte sogar nicht einmal ein Mannigfaltiges der Anschauung vorgestellt werden, „wenn das Gemüt

nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede“*’; denn in einem einzigen Totaleindruck ist einem endlichen Vorstellungsvermögen keine Abtrennung und selektive Betrachtung verschiedenartiger besonderer Inhalte möglich. Dem menschlichendlichen Vorstellen ist vielmehr Mannigfaltiges nur in zeitlich

unterscheidbaren, sukzessiven Erlebnissen gegeben. Die spezifische Bedeutung des empirischen Subjekts, insofern es Vorstellungen nach dieser Gegebenheitsweise hat, ist nun nach Kant der innere Sinn. Während Kant in vorkritischer Zeit den Terminus: „innerer Sinn“ auch für die Grundkraft intellektueller Leistungen

gebrauchte, in Analogie zu Lockes Bestimmung der Reflexion als des inneren Sinnes, liegt für ıhn in der kritischen Philosophie im sten Aufmerksamkeit auf sich jektive Pendant zu leerer und Kurzweil. Auch diese gehören vgl. Über Kants Lehre von der

47 Kr.d.r.V. A 99, vgl. A 107.

ziehen (vgl. VII, S. 193). - Das empirisch-suberfüllter Zeit ist nach Kant Langeweile und zur erlebten Zeit; G. Krüger weist hierauf hin, Zeit (s. Anm. 18), S. 190.

67

inneren Sinn gerade „das Geheimnis des Ursprungs unserer Sınnlichkeit“*, Er identifiziert den inneren Sinn auch mit dem „passi-

ven Subjekt“*, das nur gegebene Vorstellungen aufnehmen kann. Der innere Sinn ist für Kant im Unterschied zum äußeren Sinn und den ihm angehörigen fünf Sinnen die Fähigkeit, überhaupt Vorstellungen zu haben und sich ihrer als gegebener bewußt zu werden. Da er passıv ist, produziert er nicht den Inhalt seiner Vorstellungen. In dieser Auffassung vom inneren Sinn ist für Kant die Lehre von der inneren Wahrnehmung enthalten, an deren Möglichkeit und Erkenntniswert er keinen Zweifel hat; das Subjekt betrachtet, indem es nur auf seinen eigenen Vorstellungsablauf achtet, seinen inneren Zustand, der durch zeitliche Verhältnisse der

Vorstellungen bestimmt ist, und es gewinnt dadurch eine Evidenz von sich selbst als Erscheinung. Auch alle Vorstellungen des äufßeren Sinnes, durch den Räumliches angeschaut wird, sind als Vorstellung im inneren Sinn enthalten.” Die Passivität des auf diese 48 Vgl. II,S. 60 und Kr.d.r.V. B 334. 49 Kr.d.r.V. B 153. Im Gegensatz zum damaligen Sprachgebrauch trennte Kant diese Bedeutung des inneren Sinns von der der reinen, spontanen Apperzeption ab (vgl. auch B 139f., A 106f., VII, S. 142, 161). Vgl. zur Geschichte des Be-

griffs „innerer Sinn“, auch zu Tetens’ Auffassung als einem Hintergrund für Kant H. Vaihinger: Kommentar. Bd. 2, S. 125ff. 50 Besonders in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant, veranlaßt durch den Vorwurf, er lehre das bloße Vorgestelltsein der Gegenstände (vgl. dazu IV, S. 372ff.), daß ım inneren Sinn nur Auftauchen und Verfließen der Vorstellungen ohne Beharrliches erlebt werde und daß der Stoff zu den Vorstellungen des nicht-produktiven inneren Sinns aus dem äußeren stamme; daraus folgert er in der „Widerlegung des Idealismus“, daß die Er-

kenntnis des Vorstellungswechsels in mir und die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Erkenntnis von Beharrlichem im Raume außer mir möglich sei. Zu Kants Überlegungen zur Selbsterfahrung des empirischen Ich als eines innerzeitigen vgl. auch XVIII, S. 306, 312-316. — Die Zeitbestimmtheit der Vorstellungen, die im inneren Sinn erlebt wird, bedürfte jedoch ebenso wie der Zusammenhang von innerem und äußerem Sinn ausführlicherer psychologischer Analyse; eine Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus wäre erforderlich, da Kant auch bei der Konzeption dieses Zusammen-

hangs von innerem und äußerem Sınn - freilich in einer besser zu verteidigenden Weise - am Erkenntniswert der inneren Wahrnehmung festhält. Vgl. zur Kant68

Weise universalen inneren Sinnes macht die Endlichkeit und Sinnlichkeit des menschlichen Vorstellens aus. Obwohl Kant also spezifisch subjektive Zeitbestimmungen im Erleben kennt und obwohl er dem inneren Sinn und seiner Form, der Zeit, zentrale Bedeutung für die Endlichkeit des menschlichen

Vorstellens zugesteht, hat er keine eigene Analyse der subjektiven Zeit geliefert. Dazu gehörte z.B. der Aufweis verschiedenartiger Konstellationen der Zeithorizonte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Erleben je nach Erlebnisart und Erlebnissituation ebenso wie die Darlegung der Zusammenhänge dieser zeitlichen Horizonte des Erlebens mit den Zeitbestimmungen der Sukzession, der Gleichzeitigkeit und der relativen Dauer, sofern sie Modi

der Erlebniszeit sind. Kant hätte ein solches Vorhaben für empirisch-psychologisch und für wissenschaftlich nicht ausführbar erachtet; denn man kann nach seiner Ansicht in innerer Wahrneh-

mung keine Experimente anstellen, und man verändert durch die

Beobachtung des inneren Zustandes diesen selbst.”! Dennoch ist eine wissenschaftliche Untersuchung möglich und für die Klärung des Begriffs der subjektiven Zeit und ihres Verhältnisses zur

objektiven Zeit auch erforderlich, in der die organisch-psychische Basis des Zeiterlebens sowie die verschiedenen Arten der Zeiter-

lebnisse selbst analysiert und in einer philosophischen Theorie der subjektiven Zeit im Hinblick auf die entsprechenden Leistungen

des Subjekts systematisch entwickelt und begründet werden.”

interpretation hier vor allem W. Müller-Lauter: Kants Widerlegung des materialen Idealismus, auch J. Moreau: Le temps, la succession et le sens interne (s. Anm. 12),

51 Vgl. IV, S. 471. Der zweite Grund ist bezeichnend für das Objektivitätsideal Kants ebenso wie der klassischen Physik. 52 Physiologisch-psychologische Untersuchungen des Zeiterlebens finden sich bereits bei Mach. Zu Husserls subtilen Deskriptionen des Phänomens der subjektiven Zeit und deren Verknüpfung mit einer Bewußtseinstheorie vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart. Den Haag 1966; zu Heideggers Theorie der Zeit als Zeitlichkeit des Daseins vgl. O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Pfullingen 1963, S. 59ff. 69

Im Hintergrund der Kantischen Auffassung vom inneren Sinn

als dem passiven Subjekt und der Zeit als der Form des Bewußtwerdens der Vorstellungen steht u.a. Leibniz’ Theorie der dunklen Vorstellungen. Denn beim Menschen gibt es nur innere Wahrnehmung dessen, „was im Subjekte vorher gegeben wird“ und was „ohne Spontaneität im Gemüte gegeben“? vorliegt. Dies können

nur dunkle, voneinander nicht klar abgehobene und nicht gesetzmäßig geordnete, d.h. unbewußte Vorstellungen sein, wie man sıe z.B. im Traum oder in ganz unbestimmten Sinneseindrücken hat. Sie machen nach Kant den größten Teil des Vorstellungsfeldes im Menschen aus. Erst dadurch, daß sie apprehendiert, voneinander

klar unterschieden und in bestimmte Verhältnisse untereinander gesetzt werden, treten sie ins Bewußtsein. Die Form aber dieses Bewußtwerdens von Vorstellungen, die zuvor schon materialiter

bereitliegen, ist die Zeit. Damit wird nicht Leibniz’ monadologische Lehre übernommen, daß alle Vorstellungen eines Subjekts immer schon in ihm vorhanden sein müssen, so daß in gegenwärtig bewußten Vorstellungen alle vergangenen und alle zukünfti-

gen unabgehoben und unbewußt involviert sind. Das Innere des Subjekts als Substanz und damit auch die letzten Gründe des ganzen Reichtums dunkler Vorstellungen, die vor aller Bewußtwerdung im Menschen liegen, sind nach Kant unerforschlich. Des-

halb ist die Zeit aber mit ihren Bestimmungen auf das Verhältnis der dunklen Vorstellungen untereinander, sofern diese unbewußt bleiben, nicht anwendbar; sie ist nur die irreduzible Weise des Gegebenseins

derjenigen Vorstellungen,

die aus der „Dunkelheit“

und Verworrenheit zu Bewußtsein kommen. Da die dunklen Vorstellungen im Menschen nun nicht von sich aus bewußt werden, sondern nur durch die Möglichkeit ausgezeichnet sind, zu Bewußtsein zu gelangen, bedarf es einer eigenen Tätigkeit, um sie wirklich zu Bewußtsein zu bringen. Diese Tätigkeit 53 Kr.d.r.V. B 68; vgl. auch VII, S. 135f. - Zur Zeit als Form des Bewußtwerdens

der Vorstellungen oder - in aktiver Hinsicht - als Form des Bewußtmachens vgl. B 67f., XX, S. 270.

70

nennt Kant Selbstaffektion. Sie wird erst in der zweiten Auflage

der Kritik der reinen Vernunft besonders hervorgehoben.”* Der innere Sinn als wesentlich passiver oder rezeptiver muß, wenn Vorstellungen in ihm bewußt werden sollen, affıziert werden; die

Affektion des inneren Sinns kann jedoch per definitionem nicht durch äußere Kräfte wie beim äußeren Sinn, sondern nur durch

das Subjekt selbst, und zwar durch eine spontane Aktivität des Subjekts geschehen. Diese bestimmt Kant als Handeln des Verstandes bzw. — grundlegender - der reinen Apperzeption. So lassen sich auch Kants schwierige Aussagen zur Selbstaffektion in einer der Anmerkungen

zur „transzendentalen Ästhetik“ verstehen.”

54 Vgl. Kr.d.r.V. B 67ff., 153ff., auch XX, $. 270.

55 Vgl. hier und im folgenden Kr.d.r.V. B 67ff. Zur teilweise unklaren sprachlichen Formulierung dieses Passus, der Kants ganze Lehre von der Selbstaffektion enthält, sei noch erwähnt, daß hier (anders als B 160f. Anm.) „Form der Anschauung“ auch im Sinne von „formaler Anschauung“ zu verstehen ist und

daß man - mit Kehrbach und der Akademieausgabe - B 68, Z. 1 „Setzen seiner [sc. des Gemüts] Vorstellung“ lesen muß. - In der Preisschrift über die Fort-

schritte der Metaphysik formuliert Kant (XX, S. 270): die „Auffassung (apprehensio)“ der Wahrnehmungen muß „der Art, wie das Subject dadurch affıcirt

wird, d.i. der Zeitbedingung gemäß“ sein, „indem das sinnliche Ich vom intellectuellen, zur Aufnahme derselben ins Bewußtseyn, bestimmt wird“. — Vaihingers Interpretation zu B 67ff. ist nicht sehr erhellend (vgl. Kommentar. Bd. 2, S. 477ff.). Cohen (Kants Theorie der Erfahrung, S. 424ff.) liefert zwar klare Beschreibungen, er glaubt aber, der innere Sinn übe die Affektion aus (anders S. 435). Kants Lehre von der Selbstaffektion legt, ohne Rekurs auf die dunklen Vorstellungen, Paton dar, vgl. Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 2, S. 387403, 413ff. Vgl. auch G. Krüger: Über Kants Lehre von der Zeit, S. 182ff. Zu den metaphysischen Problemen des Verhältnisses von Selbstbewußtsein und Zeit vgl. H. Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (zuerst 1924). In: Studien zur Philosophie

Immanuel

Kants. Kant-Studien. Ergänzungsheft 71. Köln 1956, S. 227ff. und - als Interpretation der transzendentalen Deduktion der Kategorien - I. Heidemann: Spontaneität und Zeitlichkeit. Ein Problem der Kritik der reinen Vernunft. Kant-Studien. Ergänzungsheft 75. Köln 1958. Zur äußeren und inneren Affektion vgl. Literaturübersicht und Interpretation von H. Herring: Das Problem der Affektion bei Kant. Kant-Studien. Ergänzungsheft 67. Köln 1953, bes. S. 74ff., auch 70. Er vertritt freilich - m.E. unkantisch - eine kritisch-realistische Position, da er Räumliches und Zeitliches von der Affektion und diese vom

71

Kant sucht hier zweierlei zu zeigen, nämlich einmal, wie die

Selbstanschauung im inneren Sinn zustande gebracht wird, und zum andern, warum wir uns selbst nur als Erscheinungen erkennen können. 1. Mannigfaltige, dunkle Vorstellungen sind im ınneren Sinn passiv, d.h. „ohne Spontaneität“ gegeben. Diese können

nur dann thematisch in abgehobener, klarer Weise vorgestellt werden, wenn sie im „Gemüt“, d.h. im Subjekt durch dessen „eigene Tätigkeit“ „gesetzt“ werden, also bestimmte, von anderen un-

terschiedene Stellen im inneren Sınn und dadurch zugleich bestimmte Verhältnisse untereinander erhalten. So wird das Subjekt in seiner Passivität durch sich zu werden“ oder klarer: durch sein „affiziert“. Dieses ist, für Vorstellungen zu produzieren;

selbst als „Vermögen, sich bewußt das reine, spontane Selbstbewußtsich genommen, nicht in der Lage, seine ordnende Spontaneität rich-

tet sich nur auf gegebene Vorstellungen. Daher schaut das Subjekt alleın durch Affektion des inneren Sinnes, die es selbst vornimmt, seine Vorstellungen, deren Wechsel und deren Verhältnisse zueinander, d.h. seinen inneren Zustand an. 2. Diese Selbstanschauung und „Setzung“ der Vorstellungen durch Selbstaffektion er-

folgt nun immer in bestimmten, der Erfahrung vorhergehenden Verhältnissen der Zeit, von denen Kant hier Nacheinander-, Zugleichsein und Beharrlichkeit nennt. Die Zeit aber bildet die Form des inneren Sinns, die die Form aller Erscheinungen ist; über den Beweis der Phänomenalıtät alles Zeitlichen in der „transzendenta-

len Ästhetik“ hinaus fügt Kant hier das Leibnizsche Argument hinzu, daß die Zeit bloße Verhältnisse enthalte und zeitlich Angeschautes daher nichts an sich, sondern nur Phänomen sein könne. So kann auch das Ich, das seinen inneren Zustand nur in zeitlichen Verhältnissen anzuschauen vermag, sich selbst lediglich als Erscheinung erkennen. transzendentalen Gegenstand abhängig ser das transzendentale Subjekt, das sich on als empirisches Subjekt erfährt. Vgl. Philosophische Rundschau 18 (1971), S. der Selbstaffektion s.u. Abschnitt IV. 72

macht; bei der Selbstaffektion ist die- nach Herring - durch Selbstaffektihierzu auch meine Bemerkungen ın: 111ff. - Zu Heideggers Interpretation

In der Selbstaffektion werden also durch Einwirkung des reinen Selbstbewußtseins verschiedene, im inneren Sınn gegebene,

für sich noch dunkle Vorstellungen in ihrem Inhalt zur Klarheit und zur Unterschiedenheit voneinander gebracht und dadurch zugleich in bestimmte zeitliche Verhältnisse untereinander gesetzt. Als Beispiel dafür nennt Kant den Actus der Aufmerksamkeit”,

der die schweifenden Vorstellungen klärend voneinander sondert und bestimmte zur Einheit eines Gedankens zusammenfügt. Der

Grad der Dunkelheit oder Bewußtheit jener schweifenden Vorstellungen, auf die als gegebene sich der Actus richtet, kann dabei ganz unterschiedlich sein. Die durch die Handlung der Aufmerksamkeit zustande gebrachte zeitliche Anordnung der Vorstellungen ist aber nicht Objekterkenntnis, sondern Bestimmung des inneren Zustandes des Subjekts, das diese Tätigkeit vollzieht. Ebenso deutet Kant einmal an, daß im ästhetischen Betrachten des Schönen

eine Selbstaffektion des Subjekts stattfindet, ohne allerdings den Bestimmungen der Erlebniszeit, die sich aus dem freien und har-

monischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand ergeben, wei-

ter nachzufragen.” In der Erlebniszeit werden verschiedenartige zeitliche Verhältnisse von Vorstellungen erlebt, die assoziiert bzw. zu Vorstel-

lungskomplexen verbunden werden. Das Vermögen, assoziative Synthesen auszubilden, ist nun aber innerhalb der gesamten Handlung der Selbstaffektion die Einbildungskraft. Diese zeichnet nach Kant im Zustandebringen von Abbildungen, Nachbildungen und Vorbildungen in ihren Vorstellungsassoziationen zugleich die verschiedenen zeitlichen Horizonte von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vor. „Gleichwie der gegenwärtige Zustand auf den

vergangenen folgt, eben so folgt auf den gegenwärtigen der künftige. Dieses geschiehet nach Gesetzen der Imagination.“ Auch 56 Vgl. Kr.d.r.V. B 156f. Anm., XX, S. 270.

57 Vgl. XX,S. 223.

58 Vorlesungen über Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821. Nachdruck: Darmstadt 1964, S. 151.

73

bei den anderen Zeitbestimmungen, die ja Vorstellungsverhältnisse sind, vollbringt sie die Synthesis. Die Einbildungskraft ist al-

lerdings in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft kein selbständiges Vermögen mehr wie noch in der ersten Auflage, sondern nur Bestandteil der Handlung der Selbstaffektion; sie bedeutet nur ein wesentliches Moment innerhalb des ganzen Prozesses der Bestimmung und Anordnung des im inneren Sınn gegebenen Mannigfaltigen durch das reine Selbstbewußtsein.”? Die Bestimmungen der subjektiven Zeit sind also nicht einfach gegeben und passiv hinzunehmen, sondern werden durch die Synthesis der Einbildungskraft und durch die Selbstaffektion erst konstituiert.

Nun ist aber in Kants Lehre die Zeit Form des passiven inneren Sinnes. So entsteht die Frage, wie damit das Zustandebringen der erlebbaren Zeitverhältnisse durch synthetische Leistungen des Bewußtseins zu vereinbaren ist. Die Auflösung dieses Problems der subjektiven Zeit ist innerhalb der Kantischen Theorie parallel zu derjenigen des analogen Problems der objektiven Zeit möglich; dort erfolgt sie, wie oben erwähnt, durch die Unterscheidung von „Form der Anschauung“ und „formaler Anschauung“. Das Erle-

ben der zeitlichen Verhältnisse von mentalen Ereignissen, also etwa der Vergangenheit und der Zukunft von der erlebten Gegenwart aus oder der Folge, des Zugleichseins und der relativen Dauer, sofern sie Momente der Erlebniszeit darstellen, ist zwar nur durch dıe Ordnung der Vorstellungen im inneren Sinn, also durch Selb-

staffektion möglich; der spezifisch zeitliche Sinn jener durch Synthesis konstituierten Verhältnisse ist aber nicht aus der Tätigkeit

der Selbstaffektion herzuleiten, sondern ursprünglich gegeben. Diese 59 Vgl. z.B. Kr.d.r.V. B 153f.: Der Verstand „übt unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affıziert werde“. Vgl. auch B 151f. - Die Zurückdrängung der Einbildungskraft in der zweiten Auflage hat vor allem Heidegger hervorgehoben, vgl. Kant und das Problem der Metaphysik. 2. Aufl. Frankfurt a. M.

1951, 5. 146ff.

74

niemals für sich erlebbare, in Erlebnissen immer nur mitvorzu-

stellende zeitliche Bedeutung von Vorstellungsrelationen untereinander ist die genuine, dem Vorstellen vorgegebene Form des inneren Sinns. Kant hat diese Theorie der Selbstaffektion jedoch nur skizziert

und nicht weiter ausgeführt.‘ Die psychologische Deskription des empirischen Vorgangs der Selbstaffektion bleibt schemenhaft. Ferner hat Kant durch keine psychologische Analyse gesichert, daß

die Selbstaffektion die einzige Weise ist, in der uns Vorstellungen klar und deutlich werden und so zu Bewußtsein kommen. Andere Weisen können z.B. passıv aufsteigende, unwillkürliche Erinnerungen oder aber blitzartige schöpferische Einfälle sein. Auch die umgekehrte Möglichkeit, nämlich daß manche Vorstellungen durch Verdrängung nicht zum Bewußtsein zugelassen werden, daß dadurch aber ebenfalls der Erlebnisablauf beeinflußt wird, verdient

hier Beachtung. Zwar gelten auch für diese Fälle die allgemeinen zeitlichen Verhältnisse

der Vorstellungen;

sie weichen

in ihrer

spezifischen zeitlichen Anordnung aber von den durch Kant berücksichtigten ab. - Ebenso sind für eine systematische Ausführung der Theorie der Selbstaffektion hier nur Ansätze vorhanden.

Kant gibt in seinem Aufriß einer Theorie verschiedene Bedeutungsebenen des Subjekts an, in dem die Zeitbestimmungen der Erlebniszeit fundiert sind, nämlich den inneren Sinn, die Einbil-

dungskraft und die beide in ihren Vorstellungsfunktionen regelnde, Einheit stiftende Apperzeption.

Er hat auch einen durchaus

nachkonstruierbaren Zusammenhang dieser verschiedenen Elemente der Subjektivität vor Augen. Der Begriff des inneren Sinnes als der Fähigkeit, Vorstellungen zu haben und ihrer sich bewußt zu werden, ist ohne den Begriff des Bewußtseins und den der Selbst-

affektion nicht zu explizieren; der Begriff der Selbstaffektion aber und mit diesem der Begriff der Synthesis der Einbildungskraft als 60 Die im Opus postumum in wiederholten Ansätzen formulierte Bestimmung des Verhältnisses von Selbstsetzung und Selbstaffektion zielt auf eine neue Durchführung der Subjektivitätstheorie ab. 75

eines Bestandteils der Selbstaffektion gründet in demjenigen der

reinen Apperzeption. Der Begriff des reinen, spontanen Selbstbewußstseins, durch das ein gegebenes Mannigfaltiges iın Vorstellun-

gen synthetische Einheit erhält, ist jedoch seinerseits nicht zu konzipieren ohne den Gedanken einer Passivität des Subjekts, die beim Menschen innerer Sinn ist. Dieser Zusammenhang müßte freilich eigens theoretisch entwickelt und von der Struktur der Subjektivität her begründet werden. Ein solches Programm verfolgten die deutschen Idealisten mit ihren Entwürfen und verschiedenartigen Ausführungen einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Die Kantische Theorie des passiven inneren Sinns und seiner Form, der Zeit, sowie die Lehre von der

Angewiesenheit der Selbstaffektion des Subjekts auf den inneren Sinn gaben sie allerdings schrittweise zugunsten einer Autarkie des praktischen, ästhetischen oder schließlich absoluten Subjekts auf. Kant hat die subjektive Zeit und ihre Bestimmungen also nicht lediglich als einfache, vorwissenschaftliche Erlebnisbasis für wissenschaftliche, vor allem physikalische Zeitbestimmung und -messung angesehen; vielfach lassen sich nach Kant, wie gezeigt wurde, die Zeitbestimmungen der Erlebniszeit gar nicht durch physikalische Forschung in objektive Zeitbestimmungen verwandeln. Er hat aber ebensowenig die objektive Zeit als Derivat der subjekti-

ven Zeit aufgefaßt. Obwohl er ın seiner Theorie der Erkenntnis vor allem Bestimmungen der objektiven Zeit entwickelt, sieht er die subjektive Zeit ebenso wie die objektive als selbständigen Grundtypus der Zeit an. Beide werden fundiert in jeweils verschiedenen bestimmten Verhältnissen von innerem Sinn, Einbil-

dungskraft und Apperzeption als den allgemeinen Grundlagen für den Einen Begriff der Zeit. Kant hat sich über das Verhältnis der Bestimmungen der objektiven Zeit zu denjenigen der subjektiven Zeit im einzelnen nicht geäußert; seine Darlegungen lassen aber zumindest Ansätze für folgende Zuordnungen erkennen: Die Bestimmungen der subjektiven Zeit sind an das aktuelle Erleben geknüpft. Von ihm aus erschließt die Einbildungskraft in Asso76

ziationen von Vorstellungen Vergangenheit und Zukunft;

nur

unter Einbeziehung dieser Horizonte kann offenbar Gegenwart erlebt werden. Im Verhältnis dieser Zeitbestimmungen zueinander ist aber bereits das Verfließen im Nacheinander enthalten; damit sind - nach Kant - auch dessen Gegenteil, die Gleichzeitig-

keit, und dessen Bedingung der Möglichkeit, die Beharrlichkeit, ferner auch - im Anschluß daran - die relative Dauer gegeben.

Die Assoziationen der Einbildungskraft hinsichtlich der Bestimmungen der Erlebniszeit bewegen sich zwar in einer Bandbreite von Möglichkeiten; sie sind jedoch nicht willkürlich, sondern unterstehen Einheit gebenden Leistungen des Selbstbewußtseins,

die schließlich den Lebenszusammenhang des zeitlichen Ich konstituieren. Kant hat in diesen Leistungen und ihrem Verhältnis zu den Kategorien allerdings kein Problem mehr gesehen. - Wird nun vom aktuellen Erleben und seinen Zeithorizonten, der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft, abgesehen, so dienen

die Zeitbestimmungen der Beharrlichkeit, der Folge, des Zugleichseins und der relativen Dauer zur Bestimmung von Vorgängen,

die unabhängig vom Erlebnisablauf sind. Subjektiv erlebte Folge oder Gleichzeitigkeit von Wahrnehmungen sagt nichts über die objektive Folge oder Gleichzeitigkeit aus. Zur Feststellung der Wirklichkeit von objektiven Vorgängen sind nur Wahrnehmun-

gen überhaupt des räumlich-zeitlichen Realen erforderlich, gleichgültig, in welchen Erlebniskontexten sie stattfinden. Die objektive Bedeutung kommt aber nicht allein durch solche Abstraktion, sondern darüber hinaus, wie gezeigt wurde, durch eindeutig geregelte kategoriale Anordnung der Vorstellungen zustande. - So ergeben sich die subjektive und die objektive Zeit als Grundtypen des Einen Begriffs der Zeit durch Hinzutreten jeweils verschiedenartiger zusätzlicher Bestimmungen, die in verschiedenartigen Leistungen der Subjektivität fundiert sind.

77

IV. Die Kantische Begründung der Zeitbestimmungen in verschiedenartigen Leistungen des Subjekts wird vom frühen Heidegger

kritisch interpretiert und umgedeutet. Er unternimmt dabei zugleich den Versuch, die von Kant nicht ausgeführte Einheit der

Subjektivität darzulegen und als Quell für grundlegende Bestimmungen der Zeit, insbesondere der subjektiven Zeit nachzuweisen. Heidegger sieht ın Kants Theorie das traditionelle, nicht konsequent durchgeführte Pendant zu „Sein und Zeit“, nämlich den

Versuch, auf dem Boden der Ontologie der Vorhandenheit das

Selbstverständnis des Subjekts ın seinem Dasein und sein Verständnis des Seienden als solchen aus dem Horizont der Zeit zu bestimmen. Heideggers kritische Kantinterpretation und -transformation, die von Prämissen seiner Fundamentalontologie geleitet ist, soll anhand seiner Auffassung der temporalen Leistungen des Schematismus, der Einbildungskraft und vor allem der Selbstaffektion untersucht werden.‘! 61 Die Vorlesungsbände der Gesamtausgabe bieten instruktive, neue Einblicke in die Intensität und die Varianten von Heideggers damaliger Auseinandersertzung mit Kant; sie sind für eine Darstellung und Beurteilung dieser Auseinandersetzung über Heideggers Veröffentlichungen hinaus unentbehrlich. Aus der Gesamtansgabe werden herangezogen: Bd. 21. Hrsg. von W. Biemel. Frankfurt a. M. 1976. Bd. 24. Hrsg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt a.M. 1975. Bd. 25. Hrsg. von 1. Görland. Frankfurt a. M. 1977. - Zur Kantinterpretatıon des frühen Heidegger nimmt von Kant aus kritisch abwägend, aber unter Beachtung der Eigenständigkeit von Heideggers Position E. Cassırer Stellung: Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Heideggers Kant-Interpretation. In: Kant-Studien 36 (1931), S. 1-26; ebenso, aber weniger präzise H. Levy: Heideggers Kantinterpretation. In: Logos 21 (1932), S. 1-43.

Aus größerem historischen Abstand unter Betonung des Problems der Grundkraft beurteilt D. Henrich Heideggers Kantinterpretation: Über die Einheit der Subjektivität. In: Philosophische Rundschau 3 (1955), S. 28-69. Heideggers Kantinterpretation wird kritisch von der Entwicklungsgeschichte des Heideggerschen Denkens aus durch E. Coreth untersucht: Heidegger und Kant. In: Kant und die Scholastik heute. Hrsg. von J.B. Lotz. Pullach 1955, S. 207-255. Die Entwicklung von Heideggers Auseinandersetzung mit Kant stellt stärker 78

Deutlicher als Kant hebt Heidegger den Unterschied von Zeit und Innerzeitigkeit hervor. Ferner versteht Heidegger die Apriorıtät der Zeit als unthematische, vorgängige Hinblicknahme, die

aller Erfahrung vorhergeht. Lassen sich diese Bestimmungen noch mit Kants Lehre vereinbaren, so ist seine Auffassung, die Zeit seı für Kant eine endlose Folge von Jetztpunkten, nach den obigen Darlegungen unkantisch; sie wird von seiner Geschichte des vul-

gären und nivellierten Zeitbegriffs her in Kants Theorie hineingetragen. Ebensowenig ist seine Ansicht, die Zeit sei für Kant als reines

Bild aller sinnlichen Gegenstände das reine Bild der Kategorien, von Kant aus aufrechtzuerhalten. Diese Prämissen, insbesondere

die zuletzt genannte, sind jedoch leitend für seine Interpretation des transzendentalen Schematismus, in dem nach Heidegger Zeit-

bestimmungen in gegenstandskonstituierendem, d.h. in ontologischem Sinn expliziert werden. Die Zeit ist danach für Heidegger das reine Bild, die „einzige reine Anblicksmöglichkeit“°? der Kate-

gorien und verschafft ihnen gegenständliche Bedeutung; an der Struktur der Zeit läßt sich infolgedessen der Regelcharakter der Kategorien anschaulich ablesen. So wird für ihn im Schema die

Zeit selbst vorgestellt. Das prägnanteste Beispiel für diese Auffassung ist Heideggers Deutung des Schemas der Substanz. „Zeit ist“, wie er sagt, „das Schema der Substanz“. Zwar bemerkt er, immanent H.G. Hoppe dar: Wandlungen in der Kant-Auffassung Heideggers. In: Durchblicke. M. Heidegger zum 80. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1970, S. 284-317; ähnlich auch H. Decleve: Heidegger et Kant. La Haye 1970, vgl. bes. $. 91-177. Ausführliche kommentierende Studien zu Heideggers erstem Kantbuch liefert Ch.M. Sherover: Heidegger, Kant and Time. Bloomington/London 1971. - Die Vorlesungen, die nun veröffentlicht sind, betreffen die für die Kantinterpretation entscheidende frühe Phase zwischen 1925 und 1929. 62 Vgl.M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (s. Anm. 59), S. 98f., Bd. 21, S. 377. Anders Kr.a.r.V. B 181f., wonach das Schema einer Kategorie „in gar kein Bild gebracht werden kann“.

63 Bd. 21, S. 352, vgl. 399f.; vgl. auch die differenziertere Entwicklung $. 391ff. Die Beharrlichkeit als Schema der Substanz stellt Heidegger ohne modifizierende Klauseln heraus in: Kant und das Problem der Metaphysik, S. 101f. Kant näher steht die Darstellung der ersten Analogie in M. Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Tübingen 1962, S. 180ff. 79

daß für Kant das Schema der Substanz die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit ist; aber dieses Schema läßt nach Heidegger das Reale erst als ein Selbiges begegnen. Das Schema der Substanz ist daher für ihn die Beharrlichkeit als solche, die die Zeit selbst vorstellig macht. Diese Beharrlichkeit wird von ihm von der Konzeption der Zeit als nivellierter Jetztfolge her interpretiert. Als ımmerwährende Folge nivellierter, d.h. gleichartiger Jetztpunkte ist die Zeit in jedem Jetzt nichts als jetzt, d.h. identisch und bleibend. Sie bietet insofern den Anblick von Beharrlichkeit. Dieses Mißverständnis Heideggers, durch das die reine Zeitbestimmung der Beharrlichkeit mit dem Schema der Substanz vermengt wird, ist

Indiz für grundlegende Verschiebungen in der Konzeption der Zeit. Die Zeit ist für Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Kant nicht nur eine Form der Sinnlichkeit, deren Mannigfaltiges

passiv den Ordnungsfunktionen der reinen Verstandesbegriffe unterworfen wird. Sie ist vielmehr der reine, in sich Strukturen enthaltende Anblick, innerhalb dessen erst Seiendes begegnen kann. Diese Strukturen der Zeit, nach Heidegger: die Schemata, sind die angeschauten Regeln der Verstandesbegriffe, die dadurch erst ontologische Bedeutung erhalten. Die Zeit wird also - ähnlich wie im Ansatz der Fundamentalontologie - zum Horizont des Seinsverständnisses, das freilich Sein als Gegenständlichkeit auffaßt.

Diese These von der Zeit begründet Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik ın seinem Begriff der zeitbildenden Einbildungskraft. Hierbei stellt er - ebenso wie verschiedenartige Kant-

kritiken im deutschen Idealismus, jedoch mit grundlegend anderer Zielsetzung - die Einbildungskraft als die gemeinsame Wurzel

der verschiedenen Erkenntnisstämme von Sinnlichkeit und Verstand dar.‘* Sie liegt für Heidegger der reinen sinnlichen Anschauung 64 Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 127-142, auch Bd. 25, S. 408424. Zur Interpretation vgl. E. Coreth: Heidegger und Kant, S. 214-222, H. Decleve: Heidegger et Kant, S. 144ff., 166ff. und D. Henrich: Über die Einheit der Subjektivität, S. 46-55. Henrich weist auch die Parallelen zu Fichte, Schelling und Hegel auf, vgl. S. 55-60. - Die Idealisten führen in ihren Theorien den Kantischen Vermögenspluralismus auf Ein Prinzip zurück. Unter der Voraus80

zugrunde, weil diese nicht verworrene Mannigfaltigkeit, sondern immer schon die Einheit und Ganzheit eines Anblicks vorstellt.

Solche Einheit und Ganzheit aber kann nur durch Synthesen der Einbildungskraft zustande gebracht werden. Dem letzten Gedanken würde auch Kant zustimmen. Nicht hinreichend berücksichtigt wird jedoch in diesem Argument, daß nach Kant auch das reine Mannigfaltige, das zur Einheit einer formalen Anschauung zusammengefaßt wird, vorgegeben sein muß und nicht durch eine

Synthesis der Einbildungskraft produziert werden kann. Die Einbildungskraft liegt ferner nach Heidegger dem Verstande zugrunde, weil dessen Regel, die Kategorien, wie Heidegger interpretiert, nur Bedeutung haben als regelnde Einheiten des synthetisierenden Verfahrens der Einbildungskraft und damit dieser selbst angehören. Nur durch Abstraktion werden die Regeln von der Tätigkeit der Einbildungskraft getrennt und einem von ihr getrennten Vermögen, dem Verstand, zugeschrieben. Dieses Argument ist

mit Kants Theorie unverträglich. Der Verstand bildet nach Kant ın der reinen Logik reine formale Regeln aus, die unabhängig von setzung dieser Konzeption wenden sie sich kritisch gegen Kant mit ähnlichen Argumenten wie Heidegger. Für den frühen Fichte ist die zeitbildende Einbildungskraft die grundlegende Tätigkeit des theoretischen Ich; aus ihrer produktiven Handlung gehen erst als Momente Anschauung und Verstand hervor. Nach Hegel ist die transzendentale Einbildungskraft eigentlich die Vernunft selbst als absolute Identität, die sich in der Erscheinung entzweit in die entgegengesetzten Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand. Dahinter steht bei beiden die Konzeption einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Fichte und Hegel sind in jeweils verschiedener Weise von der Vorstellung der Autarkie und Spontaneität der sich erkennenden Selbstbezüglichkeit, sei es des praktischen Subjekts, das dem theoretischen Subjekt und der Einbildungskraft übergeordnet ist und sich im Horizont des Absoluten versteht, sei es des Absoluten selbst geleitet. Schelling, der sich nicht mehr grundlegend mit Kant, sondern mit Fichte auseinandersetzt, legt im System des transzendentalen Idealismus als Einheit der verschiedenen, gestuften Leistungen der

Subjektivität die ästhetische, bewußtlos-bewußte, produktive Anschauung des Genies dar, in dessen aktivem Selbstvollzug das Absolute für ihn gegenwärtig ist. Weder Kant noch Heidegger teilen jedoch diese Auffassungen; eine Geschichte des Selbstbewußtseins dürfte für sie also nicht von solchen idealistischen Leitlinien abhängig sein.

8

den Bedingungen der Sinnlichkeit, also auch der Zeit, gültig sind. Zeitbestimmtheiten der logischen Gesetze, wie Kant z.B. einmal

für die Geltung des Satzes vom Widerspruch das Zugleichsein annahm, in der ersten Kritik freilich wieder verwarf®, hat Hei-

degger denn auch nicht aufgezeigt. Vor allem aber sind für Kant Kategorien ohne Schemata durchaus sinnvoll denkbar, etwa in der Metaphysik, wenn sie dort auch keine Erkenntnis ermöglıchen; sie haben sogar praktische Realität in Kants Moralphiloso-

phie wie z.B. Freiheit als intelligible Kausalıtät.° - Schließlich läßt sich gegen Heideggers Versuch geltend machen, daß hiermit die Einbildungskraft als Grundkraft erkannt werden soll, aus der die anderen Vermögen hervorgehen; die Erkenntnis einer Grundkraft aber ist nach Kants Begrenzung der menschlichen Erkenntnis nicht möglich.” Es gibt ın Heideggers Kantinterpretation jedoch noch eine andere Möglichkeit der Weiterführung von Kants Begründung der Zeit, insbesondere der subjektiven Zeit. Heidegger sieht in Kants Lehre von der Selbstaffektion den Ansatz zu einer Theorie der Einheit der Subjektivität in ihren verschiedenen Leistungen, und zwar im Horizont der Zeit. Er nimmt hierbei nicht, auch nicht implizit,

die Erkenntnis einer Grundkraft in Anspruch. Da in der Selbstaffektion erst Zeitverhältnisse gebildet werden, ist für Heidegger

65 Vgl. II, S. 401, Kr.d.r.V. B 191f.

66 Heidegger unternimmt den - unkantischen - Versuch, die Einbildungskraft in der Struktur der Achtung nachzuweisen und in ihr auch den Grund der praktischen Vernunft aufzuzeigen (vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 143-146, auch Bd. 24, S. 188ff.). Dies ist bedeutsam für eine Konzeption sittlicher Selbstbestimmung. — Es wäre freilich möglich, sowohl von Kants wie von Heideggers Position aus Bestimmungen der subjektiven Zeit als Bestimmungen des sittlichen Daseins in der Zeit herauszustellen. Heidegger hat diese Frage nicht weiter verfolgt. 67 Immerhin bemerkt Heidegger selbst diesen Einwand, tut ihn aber mit dem nicht zureichenden Hinweis ab, er suche keine „monistisch-empirische Erklä-

rung“ der anderen Vermögen aus der Einbildungskraft (Kant und das Problem der Metaphysik, S. 128f.). Vgl. hierzu und zu Kants Verdikt der Erkenntnis einer Grundkraft D. Henrich: Über die Einheit der Subjektivität, S. 30-39, 48.

82

die Selbstaffektion die Zeit selbst.°® Nach Kant werden allerdings,

wie gezeigt wurde, in der Selbstaffektion Vorstellungsverhältnisse zustande gebracht, deren zeitlicher Charakter nicht auf dieser Tätigkeit des Subjekts, sondern auf den Eigenschaften des passiven ınneren Sinns beruht. So setzt Kants Lehre von der Selbstaffektion

die genuine Verschiedenheit von innerem Sınn und reiner Apperzeption schon voraus. Heideggers Unternehmen ist trotz der Umdeutung, die er vornimmt, aber wohlbegründet; er sucht den

von Kant zwar skizzierten, aber nicht explizit dargelegten Zusammenhang

von

Selbstaffektion,

innerem

Sınn und

Apperzeption

eigens aufzuweisen. Heidegger sieht in ıhnen nicht getrennte Vermögen, sondern Strukturmomente der die Zeitbestimmungen entwerfenden und damit Seinsverständnis ausbildenden Subjektivität, die selbst Zeit ist. Die Selbstaffektion ist der von ihm gesuchte einheitliche Funktionszusammenhang, in dem die Spontaneität der reinen Apperzeption und die Rezeptivität des inneren Sinns zusammenwirken und durch den sie erst zur transzendentalen Subjektivität als ganzer gehören: „Die reine Selbstaffektion gibt die transzendentale Urstruktur des endlichen Selbst als eines solchen“. Da er die Selbstaffektion als Zeit auffaßt, die Zeit aber 68 Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 171ff.; Bd. 21, S. 338ff., 400ff.; Bd. 25, S. 150ff., 269f., 391ff. Heidegger beruft sich besonders auf Kr.d.r.V. B 102, wonach Raum und Zeit den Begriff der Vorstellungen von Gegenständen „jederzeit affızieren müssen“. Doch ist hier „affizieren“ nicht terminologisch gebraucht und bedeutet nur soviel wie „betreffen“ oder „bestimmen“; ein Zu-

sammenhang mit der Theorie der Affektion besteht nicht. - Daß Kants Ausbildung der Theorie der Selbstaffektion zur Einschränkung der Bedeutung der Einbildungskraft dient, scheint Heidegger nicht zu bemerken. Er interpretiert die Selbstaffektion in seinem Sinne schon in der Vorlesung von 1925/26, in der er die zentrale Bedeutung der Einbildungskraft noch nicht herausstellt. Diese Interpretation der Selbstaffektion behält er bis zu seinem Kantbuch von 1929 bei. - Zum Begriff der Selbstaffektion in Heideggers Schriften als Bestandteil einer Theorie des Subjekts vgl. C.-F. Gethmann: Verstehen und Auslegen. Bonn 1974, S. 150-156.

69 Kant und das Problem der Metaphysik, S. 173. Vgl. auch Bd. 21, S. 341: „Das

vorgängige Sichgebenlassen - unthematisch - ist Zeit und das, was das Sichgebenlassen sich gibt, ist Zeit, d.h. das Subjekt affiziert sich mit ihm selbst.“ 83

zugleich der unthematische Vorblick des Sich-angehen-lassens ist,

so wird die Selbstaffektion als Sich-selbst-angehen des Subjekts gedacht, jedoch mit der Maßgabe, daß sie nur als Vorbildung des

Horizonts fungiert, innerhalb dessen es sich Seiendes begegnen läßt. Heidegger hat damit den inneren Sinn und die reine Apperzeption durch diese Auffassung von der Selbstaffektion ın einer bestimmten Struktur der Selbstbezüglichkeit des Subjekts begründet; der innere Sinn und die reine Apperzeption sind nur Konstitutionsmomente dieser Selbstbezüglichkeit des Subjekts. Hierin liegt zumindest der Ansatz zu einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins, die - wie die Idealisten sie konzipierten —

die notwendige Entwicklung der verschiedenen Leistungen und Fähigkeiten des Subjekts aufgrund des leitenden Prinzips der Selbstbezüglichkeit des Subjekts darstellt. Die Selbstbezüglichkeit kommt für Heidegger jedoch nicht im Horizont des Absoluten

oder im Absoluten selbst und auch nicht wesentlich durch autarke Leistungen einer wie immer bestimmten Spontaneität zustande. Sie bedeutet vielmehr die Zugänglichkeit des Ich für sich, so daß es sich als identisches weiß, im Sich-angehen-lassen von Sei-

endem; diese Selbstbezogenheit besteht also nicht für sich; sie ist immer dasjenige, dem Seiendes begegnet und gegeben ist. In die-

ser Art der Kombination von Selbst- und Seinsverständnis liegt eine spezifische Akzentuierung der Endlichkeit des Subjekts, mit der Heidegger der Kantischen Auffassung näher steht als die idealistischen Theorien. Im Unterschied zu diesen sieht er freilich ın der Möglichkeit der Selbstbeziehung kein eigenes Problem. Ob-

wohl er selbst mehrfach eine neue Theorie der Subjektivität fordert”, bleiben daher seine eigenen transformierenden Weiterführungen der Kantischen Lehre unabgeschlossen. Heideggers Kritik an der Kantischen Lehre ist zwar im allgemeinen von den Prämissen seiner Fundamentalontologie als einer

bestimmten Ontologie der Subjektivität geleitet. Seine theoretische 70 Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, 5. 84, 198, Bd. 24, 5. 207, 238 u.ö., Vom Wesen des Grundes. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1955, $. 42. 84

Weiterentwicklung Kants stellt jedoch nicht seine eigene Lehre dar, sondern verbleibt auf dem Boden der Ontologie der Vorhan-

denheit, den seine eigene Fundamentalontologie gerade verläßt. Mit der genaueren Ausführung der Zeitbedeutung der Selbstaffektion gibt er nun - vor allem in den Vorlesungen - eine Verbindung zwischen seiner kritischen Kantinterpretation und seiner

Fundamentalontologie an. Die Zeit ist der unthematische Horizont, innerhalb dessen Seiendes begegnen kann, und sie ist das

Sich-selbst-angehen des Subjekts, das Sich-zugänglich-sein im Begegnen-lassen von Seiendem. Dieses Sich-selbst-angehen ist keine theoretische Selbstbetrachtung ım Hinblick etwa auf die Frage der Evidenz der Selbstgegebenheit. Es ist als diejenige Zeit, die zu-

gleich die grundlegende Struktur des Subjekts ausmacht, ein Zeitigen. Die Zeitigungsweise des Subjekts, das sich erkennend zu innerweltlichem Seienden, zur Natur, verhält, ist nach Heidegger das „Gegenwärtigen“. Deshalb versteht das Subjekt das Gegebene

als Seiendes, wenn dieses primär im Modus des jetzt anwesend ist. Das Subjekt ist also sich als Identisches erschlossen, indem es

gegenwärtigend Seiendes ın einem Jetzt begegnen läßt.”! Damit fügt Heidegger die Kantische Theorie der Zeit und seine eigene Weiterbildung dieser Theorie in den Ansatz einer ganz anderen,

71 Vgl. Gesamtausgabe. Bd. 21, 5. 400ff., Bd. 25, $. 395. — Die These vom Subjekt als ursprünglicher Zeit sucht Heidegger, worauf hier nur hingewiesen sei, auch in Auseinandersetzung mit Kants Begriff der reinen Apperzeption zu bewähren. Kant deute die Zeitlichkeit des reinen Subjekts mit seiner Rede vom „stehenden und bleibenden Ich“ (Kr.d.r.V. A 123) selbst an. Damit werde

das Ich als beharrlich gedacht, so wie die Zeit selbst für Kant Beharrlichkeit sei. Die Kantische Auffassung, das reine „Ich denke“ sei unzeitlich, interpre-

tiert Heidegger als rechtmäßige Bestreitung der Innerzeitigkeit des Ich. Damit sei die These, das reine Ich sei die Zeit selbst, aber durchaus vereinbar. Diese

ist nach Heidegger beim erkennenden Ich das Gegenwärtige. Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 174ff., Bd. 21, S. 402, 405f. - Für Kant ist das reine Ich jedoch weder innerzeitig noch die Zeit selbst, sondern Prinzip der logischen Einheit in Urteilen, in der keine Zeitbestimmungen mitgedacht werden,

85

nämlich seiner Lehre von der Zeit des Daseins ın der Fundamentalontologie ein. Von ihr aus gesehen, erscheinen Kants Bestimmungen der Zeit und seine Begründung dieser Bestimmungen ın

Leistungen des Subjekts als nicht ursprünglich, da Heidegger sie auf die Gegenwart und das Gegenwärtigen zurückführt, die für

ihn nicht ursprüngliche Zeit- und Zeitigungsmodi innerhalb der Zeit als Grundexistential des Daseins sind. Die Abkünftigkeit beruht darauf, daß nach Heidegger Erkenntnis und Wissenschaft zwar eine Existenzmöglichkeit des Daseins darstellt, deren Zeit-

struktur er hier angibt, aber nur eine derivative Möglichkeit, nämlich ein Verhalten zu innerweltlichem Seienden und auch dies nur als Betrachten von Vorhandenem;”? das so interpretierte Subjekt ist allerdings nach Heidegger kein Vorhandenes mehr, sondern konkret sich zu Innerweltlichem verhaltendes, Sein verstehendes

Dasein. Damit hat Heidegger die Kantischen Zeitbestimmungen nicht nur in einer von ihm skizzierten Einheit der Subjektivität begründet, sondern sie auch zu Horizonten spezifischer Verhaltensweisen des existierenden Daseins umgewandelt. Sie werden dadurch zu Bestimmungen der subjektiven Zeit. Er liefert von diesen ın ihrem Erlebnischarakter freilich nicht bloß eine Beschreibung; vielmehr entwickelt er sie fundamentalontologisch als Strukturen bestimmter Modi des Verhaltens und Verstehens des Daseins, das

darin sich selbst und Seiendes erfaßt. Heidegger hat in seiner Analytik des Daseins sicherlich neue Möglichkeiten solchen subjektiven Zeitverständnisses dargelegt. In seinem Versuch, dabei u.a. die objektiven Zeitbestimmungen als Derivate der subjektiven zu begreifen und sie in nicht-ursprünglichen Verhaltensweisen des Daseins zu begründen, wird jedoch der genuine Sınn des Grundtypus der objektiven Zeit unverständlich. Auch die Konzeption 72 Vgl. Sein und Zeit. 8. Aufl. Tübingen 1957, S. 356ff., auch 338, ferner Bd. 25,

S. 18ff. Zur Abhebung der Konzeption der Fundamentalontologie von der überlieferten Ontologie vgl. W. Marx: Heidegger und die Tradition. Stuttgart 1961, S. 93-121 und O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, S. 46-87. 86

bestimmter „Schemata“ als zeitlicher Konstituentien des weltlich

Seienden ändert hieran nichts, da der zeitliche Sinn eines „Schemas“ sich immer aus einer Bestimmung der subjektiven Zeit, aus

einem Zeithorizont des sich in bestimmter Weise verhaltenden und erlebenden Daseins ergibt.’? Selbst wenn das Verhalten theoretisch ist wie z.B. Wahrnehmen oder Beobachten von Vorgängen oder Zuständlichkeiten, d.h. von Vorhandenem, bleiben -— wie gezeigt wurde - die zeitlichen Anordnungen der Erlebnisse und des in Beobachtungen Registrierten, für sich genommen, immer subjektiv. Heideggers Ansatz liefert kein Kriterium zur Unter-

scheidung solcher subjektiven zeitlichen Anordnungen, die bereits der leitenden Vorstellung der Zeit als nivellierter Jetztfolge unterstehen, von den in Wahrheit objektiven Zeitbestimmungen. Auch die Zeitbestimmungen der relativistischen Physik im Unter-

schied zu denjenigen der klassischen Physik werden durch die Preisgabe des Begriffs der Einen absoluten Zeit nicht subjektiv, sondern setzen den Grundtypus der objektiven Zeit bereits voraus. So hat Heidegger zwar Kants Begründung der Zeit in der Subjektivität modifizierend weitergeführt sowie selbst neue Verständnismöglichkeiten der subjektiven Zeit eröffnet. Innerhalb der Daseinsanalytik, in die er Kants Lehre von der Zeit zu integrieren sucht, ist es aber unmöglich, den genuinen Sinn der objektiven Zeit darzulegen. - Eine Theorie der Zeit hat jedoch die Aufgabe, die verschiedenartigen, selbständigen Grundtypen der objektiven und der subjektiven Zeit begreiflich zu machen; sie sollte zugleich in deren systematischer Explikation aufzeigen können, in welchem Verhältnis sie zu dem Einen Begriff der Zeit stehen und wie sie ın bestimmten Leistungen und Fähigkeiten der Subjektivität

73 Vgl. z.B. Bd. 24, S. 383, 431ff. und Sein und Zeit, S. 365: „Das horizontale

Schema der Gegenwart wird bestimmt durch das Um-zu.“ Damit spielt Heidegger auf das Zuhandene an. Beim Vorhandenen wird etwas als etwas ın einem Jetzt betrachtet. Doch auch dies garantiert - wie man etwa aus Kants Auseinandersetzung mit Hume entnehmen kann - für sich noch keine Objektivität. 87

fundiert sind. Zwar muß, wie gezeigt wurde, Kants Auffassung der subjektiven Zeit erweitert, differenziert und in einer systematischen Theorie erst entwickelt werden; ebenso muß Kants Theorie

der objektiven Zeit aufgrund der Erfordernisse der relativistischen Physik umgestaltet werden, ohne dabei ihre apriorische Bedeutung zu verlieren. Dennoch kann für philosophische Bemühungen um eine Theorie der Zeit Kants Lehre in ihrem systematischen Grundriß regulatives Modell sein.

88

Einbildungskraft und selbstbewußtes Dasein beim frühen Fichte

Die Einbildungskraft ist eine wesentliche Fähigkeit des Selbst, die für dessen Existenz prägende Bedeutung hat. Diesen Gedanken legt der frühe Heidegger offenbar seiner veröffentlichten KantDeutung zugrunde; er sucht in einer weiterführenden Interpretation, die freilich auf dem traditionellen Boden der Ontologie der Vorhandenheit bleibt, anhand der ersten Auflage der Kritik der

reinen Vernunft zu zeigen, daß die Einbildungskraft nicht nur ein mittleres und vermittelndes Vermögen zwischen sinnlicher Anschauung und reinem Verstand sei, sondern daß sie Grundvermö-

gen des Selbst sei, aus dem die anderen Vermögen wie sinnliche Anschauung und Verstand als speziellere Vorstellungsfähigkeiten erst hervorgehen. Diese weiterführende Deutung ist seit Cassirer! vielfach als unvereinbar mit Kants "Theorie kritisiert worden. Dagegen lassen sich Heideggers Intentionen hinsichtlich der Einbildungskraft evidenter mit Theorien des deutschen Idealismus in Verbindung bringen; Heidegger beachtete diese Theorien damals

wohl wenig, da sie für ıhn lediglich verschiedene Varianten zu destruierender Metaphysik des Absoluten darstellten. Unter den idealistischen Theorien dürfte die Theorie der Einbildungskraft des frühen Fichte dem erwähnten Grundgedanken Heideggers am nächsten kommen. Sie ist zudem systematisch detaillierter ausgebildet als Heideggers Kant-Weiterführung. Bei der Explikation dieser Fichteschen Theorie der Einbildungskraft gilt es allerdings zugleich, auf deren spezifisches Fundierungsprofil zu achten, nämlich

auf deren subjektivitätstheoretische Fundierung ın der Grundlegung der Wissenschaftslehre und in einer systematischen Geschichte 1

Vgl. E. Cassırer: Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Heideggers Kant-Interpretation. In: Kant-Studien 36 (1931), 5. 1-26.

89

des Selbstbewußtseins. Beide Fundierungsarten gehören nicht zum Programm Heideggers, obwohl dieser in seiner Frühzeit - jedenfalls nach einer Interpretationsrichtung, die nicht Heideggers

späterer Selbstdeutung und Umdeutung folgt — ebenfalls eine Theorie der Subjektivität, nämlich der konkreten Subjektivität als In-der-Welt-sein mit den ihr genuin zukommenden ontologi-

schen Bestimmungen entwarf. So soll nun auf die ebenso grundlegende wie systematisch detaillierte Theorie der Einbildungskraft des frühen Fichte und ihre spezifische subjektivitätstheoretische Bedeutung eingegangen werden. Erstens seien die prinzipiellen inhaltlichen Bestimmungen der Einbildungskraft in dieser Theorie aufgewiesen. Zweitens gilt es, die Einbildungskraft als Fundament einer systematischen, ide-

alistischen Geschichte des theoretischen Selbstbewußtseins darzulegen. Schließlich sei gezeigt, wie kraft als grundlegendes Faktum in selbstbewußtes Dasein prinzipiell Selbstbewußtseinsmodellen Fichte

nach Fichte die Einbildungsden Willen integriert wird, wie zu bestimmen ist und welchen dabei intuitiv folgt.

I. Fichtes grundlegende Bestimmungen der Einbildungskraft Fichte geht ın seiner frühen Theorie der Einbildungskraft von Kant aus. Für Kant ist Einbildungskraft generell „das Vermögen,

einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (Kritik der reinen Vernunft, B 151). Dabeı kann die Einbildungskraft zum einen reproduktiv tätig sein und frühere Erlebnisse, speziell empirische Anschauungen

in der Erinne-

rung als Bilder zurückrufen. Zum anderen kann sie in mehrfacher Weise produktiv tätig sein und neue Bilder, freilich aus gegebenen Elementen, hervorbringen. Dabei kann sie eine empirische Pro-

duktion zustande bringen, indem sie empirische Anschauungsgehalte ohne leitendes Prinzip, d.h. willkürlich neu zusammensetzt 90

wie z. B. in der Vorstellung von Fabelwesen; sıe kann hierbei auch

als ästhetische Einbildungskraft vom Prinzip des Geschmacks geleitet sein und schöne Bilder vorstellen. Die produktive Einbildungskraft kann aber ebenso apriorisches Anschauungsmannigfaltiges regelgeleitet zu neuen Figuren zusammensetzen; dies geschieht

einerseits in der Mathematik, speziell in der Geometrie bei der Konstruktion geometrischer Figuren, und andererseits in der Transzendentalphilosophie, wenn die Einbildungskraft transzendentale Schemata bildet, nämlich anschauliche „Monogramme“, deren jeweiliger Regelcharakter nach Kant jedesmal auf einer der regeln-

den synthetischen Einheiten der Kategorien beruht. Fichte nımmt diese Grundunterscheidungen Kants im wesentlichen auf, bestimmt jedoch die Bedeutung der transzendentalen Einbildungskraft in anderer Weise. Die Einbildungskraft ist für Fichte in dieser prinzipiellen Bedeurung nach Darstellung der Grund-

lage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 das Grundvermögen des theoretischen Ich. Es ıst nach den langen Deduktionen, die auf den Grundsatz der theoretischen Wissenschaftslehre: „Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich“? als ideale

Bestimmungen folgen, das erste grundlegende „Faktum“ (GA I, 2, S. 362). Auf dieses Faktum wird jedoch nicht etwa durch ein2 Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe (im folgenden: GA). Hrsg. im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965ff., Abt. I, Bd. 2, $. 362, vgl. 285, 287 u.ö. Zur Frage, wie Werk und Gedanken der

3

Grundlage entstanden sind, vgl. R. Lauth: Die Entstehung von Fichtes „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ nach den „Eigenen Meditationen über Elementarphilosophie“. In: Ders.: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski. Hamburg 1989, S. 155-179, Zur Theorie der Einbildungskraft beim frühen Fichte vgl. die grundlegende Interpretation von W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion - Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 145-161. Vgl. ferner zur Gewinnung des „Faktums“ die kommentierende Darstellung von D. Schäfer: Die Rolle der Einbildungskraft in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95. Diss. Köln 1967, S. 121-136. Zum Problem des Faktums in der Transzendentalphilosophie vgl. U. Claesges: Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95. Den Haag 1974, S. Y1ff. und auch die ältere Darstellung von F. Duyckaerts: L’imagination productrice 91

fache Wahrnehmung verwiesen, als sei es darin gegeben; vielmehr

wird es in seinem grundlegenden Sinn als Bestätigung des Prinzips der theoretischen Wissenschaftslehre systematisch hergeleitet und

begriffen. Sein Realitätsgehalt geht nicht auf in den bloßen Reflexionen, die im Deduktionsgang angestellt werden. Er erweist sich für das Ich als eigener Realitätsgehalt jedoch erst in den Ausübungen verschiedener konkreterer Vorstellungsweisen, die die Einbildungskraft ermöglicht. Nur dadurch wird sichergestellt, daß

die vorangehenden schwierigen Deduktionen des theoretischen Teils der Grundlage nicht leere Formeln bleiben, sondern als Bedingungen der Möglichkeit des theoretischen Ich verstanden werden können,

das im Grundvermögen

der Einbildungskraft wirklich

ist, wie der Transzendentalphilosoph weiß, und das für sich wirk-

lich wird in speziellen Realisierungen der Einbildungskraft. - So weist Fichte der Einbildungskraft eine höhere systematische Bedeutung zu, als Kant sie ihr zuerkannte; sie vermittelt nicht nur zwischen sinnlicher Anschauung und Verstand, sondern bilder

deren Grundlage und Ursprung als Zentrum des theoretischen

Ich; sie ist nicht nur eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung und in anderer Hinsicht ein psychisches Vermögen, sondern

Grundfaktum, ohne das die Einheit des Ich nicht zustande käme, das als solches freilich für das Ich nicht erlebbar ist, sondern unbewußt bleibt, weil es Bewußtsein von etwas und von sich erst

ermöglicht. Dieser Einbildungskraft ın transzendentaler, nämlich grundlegend subjektivitätstheoretischer Bedeutung kommt nun nach Fichte produktive und reproduktive Tätigkeit zu; diese Bestimmungen werden gegenüber den Kantischen jedoch umgedeutet und bezogen auf die eigene Lehre von der absoluten Thesis, der Antithesis und der Synthesis (vgl. GA I, 2, S. 359). Das Ich versteht sich selbst aus einem Verhältnis von unendlicher Tätigkeit und Be-

grenztheit, das zugleich eine Selbstrelation impliziert. Dem Ich als dans la Logique transcendantale de Fichte. In: Revne philosophique de Lonvain 50 (1952), bes. S. 245ff. 92

ins Unendliche gehender Tätigkeit ist das, was es nicht ist, prinzi-

piell das Nicht-Ich, entgegengesetzt; jedes findet hierbei am anderen seine Grenze, in der beide als entgegengesetzte „zusammen-

treffen“. Diese Grenze ist jedoch als eine schwebende, nicht fıxierte im Ich selbst gesetzt; sie ist nicht einfach vorhanden, da für die allgemeine Agilität des Ich nichts etwas nur Vorhandenes ist;

alles im Ich, auch diese Grenze, wird vielmehr vom Ich selbst konstituiert; solches aktive Setzen der Grenze ım Ich ist zugleich ein „Zusammenfassen“* der Entgegengesetzten in der Grenze. Dieses Setzen der Grenze erfolgt nun nach Fichte durch „absolute Thesis“ der produktiv tätigen Einbildungskraft. Insofern hier-

bei auf das Auseinanderhalten der Entgegengesetzten durch die schwebende Grenze geachtet wird, ist die Tätigkeit der Einbildungskraft auch antithetisch; insofern Ich und Nicht-Ich in dieser Grenze ebensosehr zusammengefaßt sind, ist die Tätigkeit der

Einbildungskraft synthetisch; die letzten beiden Tätigkeitsarten gelten Fichte als reproduktiv - ohne psychologische Konnotation, wohl weil die produktive Tätigkeit von ihnen vorausgesetzt wird und spezifiziert in ihnen wiederkehrt. Dieses limitative Relationsgefüge der Tätigkeiten des Ich ermöglicht allererst die Vorstellung des vom Ich Verschiedenen, z.B. von Weltmannigfaltigem im Ich und ermöglicht ebenso erst die Vorstellung des Ich von sich als einem endlichen, vom Weltmannigfaltigen sich unterscheidenden Selbst. Die Einbildungskraft stellt die Grundlage für beides dar. In dieser grundlegenden Tätigkeit der Einbildungskraft, wie

sie soeben bestimmt wurde, liegt zugleich eine ursprüngliche 4

Vgl. GAI,2,$. 350, 356ff. u.ö., auch GA ], 3, S. 204f.

5

Zu Fichtes verwickelten Deduktionen, die bis zu dieser hier nur im Grundriß gekennzeichneten Position führen, vgl. die erhellende Darlegung über Fichtes Methode von W. Janke: Limitative Dialektik. Überlegungen im Anschluß an die Methodenreflexion in Fichtes Grundlage 1794/95 $ 4 (GA I, 2, 5. 283-285). In: Fichte-Studien 1 (1990), bes. S. 13ff. Vgl. ferner die kommentierende Darstellung von D. Schäfer: Die Rolle der Einbildungskraft (s. Anm. 3), S. 29-120; vgl. auch T.P. Hohler: Imagination and Reflection: Intersubjectivity. Fichte’s Grundlage of 1794. Den Haag, Boston, London 1982, S. 25-46. 93

Selbstbeziehung des Ich auf sich. Das Ich als ganzes, das ın sich eine schwebende Grenze zwischen sich als unendlich tätigem und dem Nicht-Ich in ihm setzt, bezieht sich damit auf sich selbst,

insofern es sich als ganzes auf sich als konstitutives Moment seiner

selbst bezieht. Diese Selbstbeziehung bedeutet aber nicht thematisches Sich-Vorstellen als Objekt, folgt damit also nicht dem Modell von Selbstbewußtsein als Subjekt-Objekt-Beziehung; dies Modell und diese Beziehung soll sie vielmehr erst ermöglichen;

sie unterliegt damit nicht den damals und erst recht heute oft erwähnten Problemen der unendlichen Iteration des Ich ın der Selbstvorstellung oder auch des Zirkels in der Bestimmung von Selbstbewußtsein, die an dem Selbstbewußtseinsmodell der Sub-

jekt-Objekt-Beziehung orientiert sind.° Jene elementare Selbstbeziehung ist vielmehr unmittelbare und weder thematische noch überhaupt psychisch bewußt erlebte Selbstbeziehung als integrativer Bestandteil des limitativen Relationsgefüges, das die Struktur darstellt, nach der die Einbildungskraft grundlegend tätig ıst. Nur wegen dieser Selbstbeziehung kann die Einbildungskraft sinnvoll als Zentrum des theoretischen Ich gedacht werden. Dieser Typ von grundlegender Selbstbeziehung stand Fichte wohl vor Augen, ohne daß er ihn eindeutig vom Modell der Subjekt-Objekt-Be-

ziehung unterschied, das seit Reinhold die bevorzugte Aufmerksamkeit der Idealisten und später auch der Neukantianer auf sich zog. Die Einbildungskraft als Zentrum des theoretischen Ich bildet für Fichte die Grundlage der systematischen Entfaltung der verschiedenen theoretischen Vorstellungsvermögen, die selbst wiederum bewußte Vorstellung des Weltmannigfaltigen, spezifischer: der Objekte und bewußte Vorstellung des Subjekts von sich selbst ermöglichen.” Als Ermöglichungsgrund solchen bewußten 6

Hierzu mag der Hinweis erlaubt sein auf die Studie des Verf.s: Typen der Selbstbeziehung. Erörterungen im Ausgang von Heideggers Auseinandersetzung mit Kant. In: Systeme im Denken der Gegenwart. Hrsg. von H.-D.

7

Zur systematischen Bedeutung der transzendentalen Einbildungskraft und zu ihrem Verhältnis zur intellektuellen Anschauung beim frühen Fichte vgl. die

Klein. Bonn 1993, S. 107-122.

94

Vorstellens und Vorgestelltwerdens bleibt die Einbildungskraft in

ihrer Tätigkeit selbst unbewußt. Diese Unbewußtheit wird von Fichte in erster Linie offenbar nicht psychologisch, sondern begründungstheoretisch konzipiert; der ermöglichende Grund des

bewußten Vorstellens kann nicht selbst in der gleichen Weise bewußt sein. Eine psychologische Einfärbung erhält der Gedanke des Unbewußten dann, wenn es um die Leistung der Einbildungskraft in der Vorstellung der Welt der Objekte geht. Da die Einbildungskraft deren Vorstellung unbewußt produziert, trennt das

vorstellende Ich die vorgestellten Objekte von sich ab; es weiß in der Vorstellung der Objekte nichts von seiner Konstitutionsleistung, anders als der Philosoph,

der die gesamte Struktur und

Leistung des Ich erkennt. - Dieser Gedanke bildet die Grundlage für einen subjektiv-idealistischen Naturbegriff und eine subjektiv-idealistische Naturphilosophie, wie Fichte sie konzipiert und

Schelling sie in einem ersten Ansatz zunächst durchführt. Die Vorstellung der realen Objektwelt und ihrer Grundbestimmungen, der Kategorien, entstammt nach dieser Fichteschen Theorie der Einbildungskraft; so heißt es in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre: „Das Ding ist gar nichts anderes als alle

diese Verhältnisse durch die Einbildungskraft zusammengefaßt“ (GA I, 4, S. 202), wobei mit „diesen Verhältnissen“ im wesentli-

chen die kategorialen Formalbestimmungen des Dings überhaupt gemeint sind. Fichte bekräftigt diese Auffassung auch für einzelne Kategorien, z.B. im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre:

„Die

sogenannte

Kategorie

der Wirksamkeit

zeigt

sich [...] als lediglich in der Einbildungskraft entsprungen“ (GA I, 3, $. 188). Zwar beruft Fichte sich auf Kants Theorie, daß zu Er-

kenntnissen alle Kategorien mit Schemata der Einbildungskraft versehen werden müssen; aber Kategorien können nach Kant, anders grundrißartige Darlegung schon von H. Heimsoerh: Fichte. München 1923, bes. S. 101ff., ebenso die detaillierteren Interpretationen von G.V. Di Tommaso: L'immaginazione trascendentale nel primo Fichte. In: Il Pensiero N.S. XXVI (1985), S. 71-95; auch ders.: Dottrina della scienza e genesi della filosofia della storia nel primo Fichte. Rom 1986, bes. S. 58-62. 95

als nach Fichte, unabhängig von solchen Schemata gedacht werden, wenn damit auch keine Erkenntnis von Seiendem gewonnen wird. An die Stelle von Kants synthetischer Einheit der Apperzeption als Prinzip der Urteilsformen, der Kategorien und der Konstitution von Objektivität tritt bei Fichte die transzendentale

Einbildungskraft. Sie leistet für ihn die Synthesis der Copula in einem Urteil (vgl. GA 1, 3, S. 184), ist Grundvermögen der Vorstellung der Kategorien, freilich, wie noch näher zu zeigen ist, als

der Zeit entsprungen, und damit Grundvermögen der Vorstellung des Objekts oder Dings überhaupt. Kategorien bedeuten hier solche Grundbestimmungen des Objekts oder Dings; sie haben nicht die prinzipiellere Bedeutung wie in Fichtes Grundlage, wo

sie abstraktiv-formale Bestimmungen der ursprünglichen Handlungen und Verhältnisse des Ich darstellen und der Spontaneität der Einbildungskraft noch idealiter vorausgehen. Für die Auffassung, daß die Einbildungskraft Grund der Vor-

stellung der realen Objektwelt und Grund der Kategorien ist, beruft Fichte sich in der Grundlage auf „einen der größten Den-

ker unseres Zeitalters“ (GA I, 2, S. 368); gemeint ıst Maimon, wie

aus dem Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre hervorgeht; dort wird Maimons an Hume erinnernde Theorie herangezogen, daß die Kategorie der Kausalität eine „Täuschung“ sei,

daß die Vorstellung der objektiven Bedeutung dieser Kategorie nur ein Produkt der Einbildungskraft sei (GA I, 3, S. 189f.).° Die skeptische Auffassung, es handle sich hier um eine Täuschung, übernimmt Fichte nicht; wie Kant vertritt er die Lehre von der objektiven Bedeutung dieser Kategorie und aller Kategorien; er übernimmt aber deren subjektive Fundierung in der Einbildungskraft von Maimon. Durch produktive Kombination dieser unterschiedlichen 8

Vgl. z.B. Sal. Maimon: Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. Nebst angehängten Briefen des Philaletes an Aenesidemus. Berlin 1794, z.B. S. XXXVf., weitere Stellen werden erwähnt in Fichte GA I, 2, S. 368f. Anm.

Zur Eigenständigkeit von Maimons Denken, das nicht nur eine Übergangsphase von Kant zu Fichte ausmacht, vgl. A. Engstler: Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimons. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. 96

Motive entsteht das zentrale Theorem Fichtes, daß die Kategorien

als Grundbestimmungen des Objekts oder Dings der Einbildungskraft als dem Zentrum des theoretischen Ich entstammen.

Fichte denkt diese Kategorien immer sogleich als grundlegende Zeitbestimmungen. Dies setzt die Konstitution von Zeit durch

die Einbildungskraft voraus. Die Einbildungskraft befindet sich in einem „Schweben“ zwischen Widerstreitenden, zwischen Un-

endlichem und Endlichem, nämlich sofern unendliche Tätigkeit des Ich nicht fixierend begrenzt werden soll; und sie dehnt, wie Fichte in der Grundlage sagt, diesen „Zustand des Ich [...] zu einem Zeit-Momente“ aus, der freilich nicht länger „als einen Moment“ währt, da die Einbildungskraft dies Schweben der Bestimmbar-

keit zwischen jenen Entgegengesetzten ohne Bestimmung nicht „aushält“ — außer im „Staunen“ gegenüber dem „Erhabenen“ als einem exzentrischen Gefühlszustand (GA I, 2, S. 360f.).” So gelangt die Einbildungskraft nach einem solchen „Moment“ des Schwebens, der freilich eine „Ausdehnung“ nach Fichtes Beschrei-

bung haben muß, d.h. nach einer solchen kurz andauernden Phase, zur Bestimmung,

der ein erneutes

Schweben

zwischen

den

Entgegengesetzten für eine weitere kurze Phase folgt, usf. Die Einbildungskraft bildet somit in diesem Wechsel von Schweben und Bestimmung die Vorstellung der Zeit als „Zeit-Reihe“ aus (vgl. GA 1,3, S. 206), als eine Abfolge von verschiedenen offenbar kur-

zen Erlebnisphasen, die sich aneinanderreihen. Das Ziel dieser phasenweisen Abwechslung von Schweben und Bestimmung ist letztlich die „Vorstellung des Vorstellenden“ (GA 1, 2, S. 361), d.h.

die erfüllte theoretische Selbstbeziehung des Ich. dieser Charakterisierung der Konstitution der Zeit bildungskraft oder das theoretische Ich werden in Sinne Zeit und auch Raum als Bestimmungen von

Erst aufgrund durch die Einspezifischerem Anschauungs-

mannigfaltigem, wie Kant sie vorsieht, möglich.

9

Vgl. zur Zeit-Bildung durch die Einbildungskraft insbesondere die weiterführende Darlegung von W. Janke: Fichte (s. Anm. 3), S. 156ff. 9%

Die Grundkonzeption der Zeit als Abfolge von Erlebnisphasen liegt auch Fichtes Verwendung der bekannten Erlebniszeitmodi: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugrunde.! Die Einbildungskraft bildet Zeit, die unsere praktische Wirksamkeit als sukzessiv ablaufend verstehen läßt (vgl. GA 1, 3, S. 339). Dieser Ablauf gliedert sich in jene Erlebniszeitmodi. Von diesen Modi erhält nach Fichte in der Perspektive willentlicher, freier Zwecksetzung und -verwirklichung die Zukunft einen Vorrang. Denn „die Frei-

heit wird [...] immer in die Zukunft gesetzt“ (GA I, 3, $. 357), wie Fichte z.B. in der Grundlage des Naturrechts hervorhebt. Die

Einbildungskraft konstituiert also Zeit; die konkrete Person versteht sich als ın der Zeit handelndes und wollendes Wesen, das sein für es wesentliches Entwerfen ın den Zeithorizont der Zukunft stellt. Hierin kann man eine systematische Präfiguration eines Grundzuges von Heideggers späterer Theorie der Zukünftigkeit des Daseins schen, ohne daß Fichte die Lehre von der Zeitlichkeit der Person oder des Daseins und von deren Zukünftigkeit bis ins Detail und von seinen subjektiv-idealistischen Vorausset-

zungen her ausgeführt hätte.

II. Die Einbildungskraft als Fundamentalvermögen des theoretischen Ich in Fichtes Geschichte des Selbstbewußtseins Nachdem die Einbildungskraft als grundlegendes Faktum eruiert ist, soll die Wissenschaftslehre zunächst in ihrem theoretischen Teil eine „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“ sein (GA 1, 2, S. 365); mit dem Faktum der Einbildungskraft finden

wir „Eingang“ in sie (ebd.). Hiermit stellt Fichte die erste Konzeption einer idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins auf; 10 Vgl. hierzu die Ausführungen von F. Inciarte: Transzendentale Einbildungskraft. Zu Fichtes Frühphilosophie im Zusammenhang des transzendentalen Idealismus. Bonn 1970, S. 78-102.

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diese bildet ein grundlegendes subjektivitätstheoretisches Programm bei allen Denkern des deutschen Idealismus. In ihr sollen die Vor-

stellungsfähigkeiten und -leistungen sowie das durch sie Konstituierte ın systematischer Abfolge genetisch aus Einem Prinzip entwickelt werden. Dies Programm hat einen empiristisch-sensuali-

stischen Vorläufer in de Condillacs Traite des Sensations von 1754; de Condillac stellt sich gemäß dem Pygmalion-Motiv eine mensch-

liche Statue vor, an der, ausgehend von der Geruchsempfindung, ein Vermögen nach dem anderen in zeitlicher Folge zu gelingen-

der Tätigkeit erwacht.'! Die Statik des Nebeneinander der Vermögen wird somit in eine Dynamik zeitlicher Entwicklung aufgelöst. Diese Idee einer genetischen Entwicklung wird aufgenommen, z.B. von Bonnet, auch von Ernst Platner in seinen Aphorismen.” Zwar hält Platner an der empiristischen Basis fest; doch ist für ıhn die „pragmatische Geschichte des menschlichen Erkenntnisvermö-

gens“ die Logik, so daß Fichte auf Platner in seinen Vorlesungen über Logik und Metaphysik von (1794/95 an) eingehen konnte. So dürften bei Fichtes Entwurf einer „pragmatischen Geschichte

des menschlichen Geistes“ Platners Aphorismen ım Hintergrund stehen. Die von Fichte konzipierte idealistische Geschichte des Selbst-

bewußtseins, die in der Grundlage von 1794/95 nur einen Teil der 11 Vgl. E.B. de Condillac: Traite des Sensations. 2 Bde. (Paris und) London 1754. Vgl. zu dem Statuen-Bild im Kontext zeitgenössischer Motive die Einleitung von L. Kreimendahl zur deutschsprachigen Ausgabe von E.B. de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen. Hamburg 1983, S. XXXIIIff. 12 Vgl. E. Platner: Philosophische Aphorismen. Erster Teil. 3. Aufl. Leipzig 1793, bes. S. 19. Vgl. zur Bestimmung von Fichtes Unternehmen und zum Platner-Hintergrund im Kontext idealistischer Theorien zur Geschichte des Selbstbewußtseins X. Tilliette: Geschichte und Geschichte des Selbstbewußtseins. In: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Societas Hegeliana Jg. 1983. Köln 1983, S. 92ff. Vgl. ebenso zur Bestimmung von Fichtes Programm

einer „pragmatischen Geschichte des menschlichen Gei-

stes“ mit Beziehungen zum spekulativen Idealismus, die nicht abgeleugnet werden, C. Cesa: Contraddizione e Non-lo: Problemi Fichtiani. In: Teoria

VIII (1988), bes. S. 68ff.

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Wissenschaftslehre, innerhalb der Wissenschaftslehre nova methodo aber im Ansatz den ganzen transzendentalen Idealismus ausmacht,” hat zwei grundlegende subjektivitätstheoretische Aufgaben zu lösen: Sie soll zum einen, wie erwähnt, systematisch und

genetisch die verschiedenen Vorstellungsvermögen und -leistungen aus Einem Prinzip entwickeln. Dies gelang der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts nicht, die - nach Hegels Spott nur einen „Sack voller Vermögen“!* mit sich führte. Jenem Pro-

gramm wird aber auch nicht die sensualistische Schilderung sukzessiver Anfänge der empirischen Betätigung verschiedener Vermögen auf der Basis des Empfindungsvermögens gerecht; denn darin fehlt die Systematik und die Entwicklung aus Einem Prinzip. Auch Kants systematische Koordinierung verschiedener Grundvermögen etwa in der Kritik der Urteilskraft erreicht dies Ziel für Fichte nicht, da sie erstens diese Grundvermögen nicht aus Einem Prinzip entwickelt und da sie zweitens bei der Statik der Anordnung der Vermögen bleibt. Ebenso ist Reinholds Rekurs auf Tatsachen des Bewußtseins dem Programm inadäquat, da selbst das grundlegende Faktum nach Fichte deduziert werden muß. - Diesen Zurückweisungen der früheren Versuche liegt zugleich der prinzipielle Unterschied von Transzendentalphilosophie und Anthropologie bzw. Psychologie zugrunde, wonach die systematische Entwicklung der Vermögen aus Einem Prinzip nur innerhalb der Transzendentalphilosophie geleistet werden kann; diese gewinnt ihre systematische Anordnung nur durch einen Entwurf a priori; Anthropologie und Psychologie erhalten erst durch die Transzendentalphilosophie ihr wissenschaftliches Fundament. Die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins soll zum anderen zeigen, wie sich das betrachtete Ich in seinen Vermögen und Leistungen über verschiedene Stufen entwickelt, wie somit 13 Vgl. hierzu E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, S. 260ff.

14 Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Histor.-krit. Ausg. Bd. 4, S. 237. 100

das Ich-Objekt zunehmend subjektiviert wird, bis es die Struktur der erfüllten Selbstbeziehung erreicht, so daß sich ın diesem Ich-Objekt das Ich-Subjekt vollständig wiederfindet. Hierbei wird die fundamentale Unterscheidung zwischen dem betrachteten Ich einerseits, ob und wie es in einem erreichten Stadium jeweils für sich ist, und dem betrachtenden Ich andererseits notwendig, das die vollentwickelte Endgestalt des Ich, für Fichte das entwickelte

Ich des Philosophen repräsentiert. Fichte spricht auch von dem Unterschied des betrachteten Ich, wie es „für sich“ ist, und des „Beobachters“ oder des „Zuschauers“ oder des „Wir“, die wir der

Entwicklung des betrachteten Ich methodisch zuschauen (vgl. GA 1,3, S. 169ff.). Diese vornehmlich im Grundhriß des Eigentümli-

chen der Wissenschaftslehre skizzierten Bestimmungen weisen deutlich auf gleichartige Unterscheidungen in Schellings System des transzendentalen Idealismus und Hegels Phänomenologie des Geistes voraus und sind entscheidend für die methodische Durchführung einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Das teleologische Prinzip dieser Durchführung, die sich über verschie-

dene Stufen des Selbstbewußtseins erstreckt, ist ein Begriff des erfüllten Selbstbewußtseins." Fichte geht hierbei dezidiert nach dem Reflexionsmodell von

selbstbewußter Selbstbeziehung vor. Das Ich übt zunächst einen Actus aus, von dem nur der philosophische Betrachter weiß, wie dieser dem Ich zukommt. Es selbst „vergißt sich“ oder ist in die

Ausübung verloren; es nimmt den Actus ohne eigenes Bewußtsein vor (vgl. GA 1, 3, $. 159, 169, 175f. u.ö.). Erst in der Reflexion auf diesen Akt weiß es etwas von sich, ist es seiner als des Ausübenden bewußt. Doch diese Reflexion geschieht erneut als spontaner Akt, dessen ausübendes Subjekt wiederum zunächst nichts 15 Schelling folgt allenfalls implizit dem Fichteschen Gedanken der Reflexionsstufung als Fortschritt (s.u.) und setzt als Ziel das erfüllte Ich als Genie an. Hegels Stufen sind in der Phänomenologie nicht mehr Reflexionsstufen, sondern Weisen des Fürwahrhaltens, die sich nach der Kategorienfolge der zugrunde liegenden Logik (von 1806), d.h. dialektisch zueinander fügen; ıhr Ziel ist das begriffliche absolute Wissen von sich. 101

von sich weiß, das seiner erst in einem erneuten Akt der Reflexion

inne wird; diese Reflexionsstufung könnte man prinzipiell ins Unendliche fortsetzen, ohne daß es je zu einem Sich-Wissen des tätigen Subjekts käme. Fichte entwickelt diesen Einwand der unendlichen Iteration der Voraussetzung des Ich in der Selbstvorstellung ausdrücklich und detailliert erst im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) und gibt dort als Auflösung die intellektuelle Selbstanschauung an; in dieser ist das Ich

unmittelbar, aber nicht sinnlich sich selbst gegenwärtig als An-

schauendes und Angeschautes in einer Einheit und daher nicht gespalten in ein bewußtloses Aktsubjekt und ein darauf reflektierendes Ich, das sich damit erst thematisiert, sich aber als tätiges Aktsubjekt höherer Ordnung wieder entgeht.!* - Wenn jedoch versucht wird, Selbstbeziehung durch Reflexion zustande zu bringen, dann ist, wie man aus Fichtes Darlegungen insbesondere im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre entnehmen kann, die Art der Selbstbeziehung dadurch noch nicht bestimmt; das empfindende oder fühlende Ich gewinnt, wenn es auf sich 16 K. Gloy stellt - wie schon D. Henrich (Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M. 1967) - die Schwierigkeiten des Reflexionsmodells von Selbstbewußtsein dar und vertritt die Auffassung, Fichte habe daher reine subjektlose,

genauer nicht-selbstbewußte oder non-egologische produktive Akte angenommen. Hiermit wird schon Fichte eine neuere Ansicht (z.B. diejenige Natorps) zugeschrieben, die die Ich-Rede obsolet werden lassen müßte. Vgl. K. Gloy: Selbstbewußtsein als Prinzip des neuzeitlichen Selbstverständnisses. In: Fichte-Studien

1 (1990), bes. S. 45-63. - Zwar hat auch Fichtes Lösung des

Problems (von 1797) durch die unmittelbare Einheit der intellektuellen Anschauung etwas Thetisches an sich; doch entwickelt er ebenso wie der junge Schelling auf ihrer Grundlage weitere Selbstbeziehungstypen und auch, wiewohl nicht mehr paradigmatisch, den Selbstzugang durch Reflexion. So verfügen beide m.E. über differenziert entwickelte Argumente für ihre egologischen Theorien (zu Fichte s.u.). - Ebenfalls im Ausgang von Henrichs Problem, aber gegen die These von der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit entwickelt W. Schrader die Bedingungen und Bestimmungen der Selbstbezüglichkeit des Selbstbewußtseins in Fichtes Grundlage in Abhebung von der sprachanalyti-

schen Philosophie, vgl. W. Schrader: Überlegungen zur sprachanalytischen und transzendentalphilosophischen Ich-Theorie. In: Der transzendentale Gedanke. Hrsg. von K. Hammacher. Hamburg 1981, 5. 107-117. 102

reflektiert, ein Selbstgefühl; dieses unmittelbar sich fühlende Ich wird, wenn es auf sich reflektiert, zum zeitlich und auch räumlich anschauenden Ich usf. Die Möglichkeit des Zustandekommens

von ausgebildeter und komplexer Selbstbeziehung durch solche Reflexion hat Fichte in seinen ersten Schriften zur Wissenschafts-

lehre offenbar noch nicht bezweifelt. Fichtes ıidealistische Geschichte des Selbstbewußtseins, die hier

nur im Überblick betrachtet sei, geht nun aus von dem deduzier-

ten Grundfaktum des theoretischen Ich, der Einbildungskraft. Die anderen theoretischen Vorstellungsfähigkeiten und -leistungen werden aus ihr durch Reflexionsstufung als spezifischer diffe-

renzierte Bestimmungen des Ich entwickelt. So ergibt sich die Frage, ob Fichte die Einbildungskraft damit als Grundkraft des menschlichen Geistes versteht, die nach Kant letztlich unerkenn-

bar bleiben müßte. Die wesentliche Grundlage dieser Geschichte des Selbstbewußtseins bildet die produktive oder „schaffende Ein-

bildungskraft“, die Fichte manchmal auch „Geist“ nennt; sie er-

möglicht erst den Vollzug von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. — Nach der Darstellung des Grundrisses des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre und der Wissenschaftslehre nova methodo ist

die anfängliche Bestimmung des Ich, die sich ergibt, wenn das „Schweben“ der Einbildungskraft zwischen Entgegengesetzten aufgehoben wird, die Empfindung eines es Begrenzenden; das Ich bezieht dadurch das in ihm aufgefundene Fremde, prinzipiell das Nicht-Ich auf sich, ist darin aber noch nicht für sich empfindend,

sondern auf das gegebene Fremde bezogen. Wird das Ich seiner als eines empfindenden oder fühlenden inne, so fühlt es sich. Fichte legt nahe, daß dies Selbstgefühl durch eine Rückbezüglichkeit des Ich auf sıch, durch eine Reflexion in weitem Sinne zustande kommt. Er sagt nicht ausdrücklich, daß solches Selbstgefühl nach

dem Modell von Selbstbewußtsein als Subjekt-Objekt-Einheit bestimmt werden müsse; denn zur expliziten Subjekt-Objekt-Einheit 17 J.G. Fichte: Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie. In: GA II, 3, S. 334ff. 103

gehört offenbar die thematische Vorstellung, Unterscheidung und Vereinigung beider korrelativen Bestandteile, was hier nicht statthat; doch hat Fichte diesen Charakter der unmittelbaren Gefühlseinheit der Elemente der Selbstbeziehung, die nur deskriptiv oder

begrifflich unterschieden werden und im Erleben gar nicht auseinandertreten, nicht vom Modell der Subjekt-Objekt-Einheit abgehoben, das ihm in Fortführung von Reinholds Konzeption als

Grundstruktur des Selbstbewußtseins gilt. - Diese elementaren Stufen der Entwicklung des Ich, nämlich Empfindung oder Gefühl und Selbstgefühl, gehören in der Grundlage von 1794/95 speziell zur Grundlegung „der Wissenschaft des Praktischen“ (GA I,

2, $. 385), die einen eigenen vom theoretischen unterschiedenen Teil einer Geschichte des Selbstbewußtseins enthält. Die Geschichte des Selbstbewußtseins besteht dort noch aus zwei getrennten Strängen,'® was Fichte später beseitigt zugunsten eines einheitli-

chen, durchgehenden Argumentationszusammenhangs. Durch Reflexion gelangt das sich fühlende Ich zu einer anderen Konstellation

der limitativ

bezogenen

Tätigkeiten

in sich, die

Fichte im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre und in der Wissenschaftslehre nova methodo als Anschauen bestimmt. Das Ich „fühlt“ sich im Anschauen tätig (vgl. GA IV, 2, S. 73f.). In der Grundlage ist dies innerhalb der Geschichte des theoretischen Selbstbewußtseins das erste deduzierte Vorstellungsvermögen und dessen Leistung. Das Anschauen ist eine bestimmte Leistung der produktiven Einbildungskraft, ein aktives „Hinschau-

en“ (GA I, 2, S. 371, Fußnote U), wie Fichte später hinzufügt. Da aber auch diese Handlung dem agierenden Ich unbewußt bleibt,

18 U. Claesges sucht sie in seiner Interpretation zu vereinigen, wobei er dem praktischen Teil Vorrang einräumt; vgl. Geschichte des Selbstbewußtseins (s. Anm. 3), $. 110-152. - Zur Herkunft und Bedeutung der Unterscheidung des theoretischen und des praktischen Teils der Grundlage vgl. C. Cesa: Zum Begriff des Praktischen bei Fichte. In: Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie. Gedenkschrift für K.-H. Ilting. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, bes. S. 464ff. 104

ist ihm das Angeschaute ein Anderes als es selbst; es ist ihm das

angeschaute Objekt. Das Ich ist in die Anschauung dieses Objekts „verloren“.

Im Grundriß des Eigentümlichen führt Fichte

dann diese Anschauung fort zur Anschauung des zeitlichen und räumlichen Mannigfaltigen, die Kant als gegeben hinnahm, die nun

aber nach Fichtes Anspruch in dieser Geschichte des Selbstbewußtseins genetisch abgeleitet ist. In der Grundlage folgt auf die Anschauung, was Fichte später in dieser Weise nicht beibehält, der Verstand. Das „Schweben“

der Einbildungskraft wird abgelöst und im Anschauen bestimmt zu einem bestimmten Vorstellen; dazu aber ist die Ausübung eınes Vermögens der Fixierung erforderlich, des Verstandes; sonst

kämen gar keine bestimmten Anschauungen zustande (vgl. GA I, 2, S. 374). Der Verstand wirkt nach Fichte unter der Leitung der Vernunft als des „absoluten Abstraktionsvermögens“ (GA ], 2, 5. 382f.); zwischen beide schiebt Fichte - ähnlich wie Kant - die Urteilskraft ein. Entscheidend ist, daß Fichte hier die gemeinsame „Wurzel“ von sinnlicher Anschauung und Verstand, die für Kant unbekannt bleiben mußte, eindeutig qualifiziert; es ıst die Einbil-

dungskraft. In ähnlicher Weise hat später Hegel, freilich auf spekulativer Grundlage, die Einbildungskraft als Grund absoluter Identität von sinnlicher Anschauung und Verstand eingesetzt, aus der diese beiden für sich genommen einseitigen Vermögen erst hervorgehen; und in vergleichbarer Art zeigt Heidegger, der in

seiner Rekonstruktion der Kantischen Lehre freilich auf dem Boden der für ihn traditionellen Ontologie der Vorhandenheit verbleibt, daß die Einbildungskraft das eigentliche, allerdings endliche Selbst sei, aus dem sich als besondere Modifikationen sinnliche

Anschauung und Verstand erst ergeben. — Auch für Fichte bleibt die genetisch zu bestimmende Subjektivität endlich. Die Einbildungskraft wird bei ihm insofern nicht zur Grundkraft, als sie nicht wesentliche Eigenschaft einer zugrunde liegen den Substanz ist; das Ich ist Tathandlung oder reines Tun, nichts für und aus sich Bestehendes; und die Einbildungskraft ist ein limitatives Relationsgeflecht von Tätigkeiten, nicht dynamische Eigenschaft an 105

etwas. Sie ist für Fichte allerdings Wesensbestimmung des theoretischen Ich; erkennbar ist sie für ihn als deduziertes grundlegendes „Faktum“; dies ist zwar selbst nicht erlebbar, ermöglicht aber

als Anfang der Geschichte des Selbstbewußtseins Leistungen wie Empfinden, Anschauen, Denken und schließlich Sich-selbst-Vorstellen, die zwar in begrifflich-eidetischen Bestimmungen rein erfaßt werden, aber faktischen mentalen Erlebnissen als deren ideale

Bedingungen zugrunde liegen.

III. Einbildungskraft und praktische Existenz ın Fichtes Geschichte des Selbstbewußtseins Der Einbildungskraft oder dem theoretischen Ich kommt für Fichte kein unabhängiges selbstbewußtes Dasein zu. Die eigentliche Bestimmung des endlichen Ich ist nach seiner Auffassung Wille, und dieser gewinnt Existenz in der individuellen sittlichen bzw. rechtlichen Person. Doch auch zur Bestimmung des Wollens

ist nach der Wissenschaftslehre nova methodo Einbildungskraft erforderlich; denn „Wollen ist zuvörderst ein selbsttätig Bestim-

men, alles Bestimmen ist durch die Einbildungskraft vermittelt“.'? Sie konstituiert das Anschauen und Denken eines Inhalts, der für

das Wollen Zweck ist; ja sie bildet die mannigfaltigen Möglichkeiten rechtlichen und sittlichen Handelns auch im intersubjektiven Zusammenhang produktiv aus.?° Die Vorstellung des Weltman-

nigfaltigen und der vielfältigen Möglichkeiten, auf es einzuwirken, als das „Materiale“ der Pflicht und ihrer Erfüllung geht also letzt-

lich auf die Einbildungskraft zurück. Der Grund dafür liegt nicht nur in einem Verhältnis des Willens zu einem ihm Äußeren, son-

dern in der Struktur der Subjektivität selbst. Fichte erklärt schon in der Grundlage: „Ist kein praktisches Vermögen im Ich, so ist 19 J.G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K.Chr.Fr. Krause 1798/99. Hrsg. von E. Fuchs. Hamburg 1982, S. 213.

20 Vgl. ebd. S. 232, vgl. auch etwa S. 206f., 210 u.ö. 106

keine Intelligenz möglich“ (GA I, 2, S. 410); die Intelligenz oder das theoretische Ich ist somit fundiert im praktischen Ich und gelangt nur zur Ausübung auf Veranlassung durch das Wollen. „Hinwiederum, ist das Ich nicht Intelligenz, so ist kein Bewußt-

sein seines praktischen Vermögens und überhaupt kein Selbstbewußtsein möglich“ (ebd.). Denn die Intelligenz oder das theoretische Ich und damit grundlegend die Einbildungskraft stellt eine Grenze der Tätigkeit im Ich vor und vermeidet daher, daß im Praktischen die Tätigkeit des Ich ins Unendliche hinausgeht und nicht mehr reflexiv ins Ich zurückkehrt; dadurch ermöglicht sie erst ein endliches Selbstbewußtsein des praktischen Ich und überhaupt Selbstbewußtsein. Durch die Intelligenz und damit wesent-

lich durch die Einbildungskraft ist also der Wille seiner selbst bewußt; sie ist mit ihrer Vorstellungstätigkeit und den aus ihr entwickelten theoretischen Vermögen und Leistungen in die komplexe Struktur des praktischen Ich oder des Willens und seiner Selbstbezüglichkeit integriert. Zur Struktur des praktischen Subjekts gehören nun wesentlich

zugleich Spontaneität und Freiheit sowie - spezifischer - sittliche und rechtliche Selbstbestimmung. Der Wille verursacht Hand-

lungen aus absoluter Spontaneität, d.h. rein aus sich selbst, damit aber ebenso aus Freiheit, ohne von außen determiniert zu sein;

diese Bestimmungen der Spontaneität und der rechtlichen sowie sittlichen Freiheit kommen ihm nicht einfach nur zu; er gewinnt sein ihm eigenes Selbstverständnis und seine Selbstbeziehung im Horizont dieser Bestimmungen. So ist für Fichte Freiheit einer-

seits „Bedingung alles Seins und alles Bewußtseins“ ! andererseits kann Freiheit „ohne Bewußtsein nicht stattfinden“.?? Freiheit als

absolute Selbsträtigkeit ist Grundlage des selbstbewußten Ich; aber Freiheit muß vom Ich auch als seine eigene gewußt werden; darin ist die Setzung einer Grenze im tätigen Ich impliziert und dessen Rückkehr zu sich als einem endlichen Selbstbewußtsein. 21 Wissenschaftslehre nova methodo (s. Anm. 19), S. 46. 22 Ebd. S. 53; vgl. ebd.: „Freiheit kann nicht ohne Intelligenz gedacht werden“. 107

Auch hieran ist die Einbildungskraft beteiligt: „Die Einbildungs-

kraft und ihre ganze Funktion ist bloß die Möglichkeit, das Handeln des Ich in seinem Bestimmen anzusehen.“? Dies gilt für das praktisch-sittliche Ich, dem das Sittengesetz das Gesetz der Identität seines Willens, d.h. seiner selbst in den verschiedenen Handlungen ist, sowie für das praktische Ich als Rechtsperson, dessen

Freiheit rechtlich geregelte Selbstbestimmung zu Handlungen in einem äußeren Spielraum ist. - So wird das reine praktische Ich oder der reine Wille auch durch Vorstellungen der Einbildungskraft, die das zweckhafte legale bzw. sittliche Handeln inhaltlich bestimmen und die äußere Mannigfaltigkeit der Umwelt als Feld des Einwirkens produktiv vor Augen halten, zur konkreten rechtlichen oder sittlichen individuellen Person; hinzukommen als wei-

tere wesentliche Bedingungen, die „Aufforderung“ zur freien Selbsttätigkeit durch andere und die wechselseitige „Anerkennung“ der

Personen untereinander;?* an der Vorstellung solcher Intersubjek-

tivität ist, wie erwähnt, die Einbildungskraft ebenfalls mitbeteiligt. Auf diese Weise konstituiert sich in philosophisch begriffener Genesis selbstbewußtes konkretes Dasein individueller Personen; eine derartige Skala von zusätzlichen Bestimmungen, die vom rei-

nen praktischen oder theoretischen Ich zum konkret existierenden Ich als Person führt, läßt sich bei Fichte eindeutiger als etwa bei Kant rekonstruieren. Solches Dasein ist für Fichte nicht nur inhaltsneutrale Modalbestimmung, sondern wird von ıhm, wie er später

gelegentlich hervorhebt, im Unterschied zum bloßen physischen

Vorhandensein als spezifische Seinsweise des Menschen bestimmt.” 23 Ebd. $. 208; vgl. auch ebd.: „In der Einbildungskraft ist die Basis alles Be-

wußtseins“. 24 Vgl. zu Fichtes Theorien der Aufforderung und der Anerkennung L. Siep: Methodische und systematische Probleme in Fichtes „Grundlage des Natur-

rechts“. In: Der transzendentale Gedanke. Hrsg. von K. Hammacher. Hamburg 1981, S. 290-306 sowie ders.: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg/München 1979, bes. S. 26-36. Vgl. ebenso E. Düsing (s. Anm. 13), bes. S. 240-289.

25 Vgl. hierzu die luzide Darlegung von W. Janke: Fichte (s. Anm. 3), S. 59ff. 108

So ist die Einbildungskraft für den frühen Fichte das Zentrum

des reinen theoretischen Ich, aber doch nicht - wie in Heideggers Weiterführung der Kantischen Theorie - das eigentliche Selbst;

sie ist allerdings ein dem reinen Willen, der immer auch etwas Bestimmtes als Zweck will, eingeordnetes wesentliches Moment

des produktiven Vorstellens, gehört somit zum komplexen praktischen Selbst; und sie ıst eine der wesentlichen Bestimmungen,

die im Ausgang vom reinen Ich in der philosophischen Reflexion zum konkret handelnden, individuellen praktischen Ich oder zur

individuellen Person und ihrem Dasein führen. Die Einbildungskraft ermöglicht Selbstbewußtsein im reinen Ich, genauer: ım rei-

nen Willen, indem sie der ins Unendliche gehenden Tätigkeit eine Grenze im Ich setzt, so daß dieses in seiner Tätigkeit zu sıch zurückkehrt und auf sich reflektiert; die Einbildungskraft konstituiert ferner das konkrete Selbstbewußtsein der individuellen Person mit ebenso wie deren Bewußtsein von intersubjektiver Existenz. Fichte folgt bei diesem seinem Aufbau der Selbstbewußtseins-

struktur dem Reflexionsmodell, das für sich die Zugangsart des Selbst zu sich noch nicht festlegt. Hinsichtlich der Qualifizierung der Selbstbeziehung des reinen und des konkreten Ich nimmt Fichte den von Reinhold herausgestellten und im ganzen deutschen Idealismus ebenso wie im Neukantianismus favorisierten Selbstbeziehungstyp auf, nämlich die Subjekt- Objekt-Beziehung oder spezieller: die Subjekt-Objekt-Einheit. Fichte erkennt klar die Schwierigkeiten dieses Modells von Selbstbewußtsein, die in

der unendlichen Iteration der Selbstvoraussetzung des Ich bei der Vorstellung seiner selbst oder im Zirkel in der Definition von Selbstbewußisein liegen; er sucht ihnen mit der Ansetzung der intellektuellen Selbstanschauung zu entgehen. In dieser ist - ähnlich wie bei dem elementaren Selbstgefühl - das Ich seiner unmittelbar inne; es ist sich unmittelbar als gestimmtes gegeben, oder es schaut sich unmittelbar als eines und in sich einiges an; hierbei wird kein thematisch vorgestelltes Objekt von einem thematisch vorgestellten Subjekt unterschieden, und diese werden auch nicht nachträglich als gleichberechtigte korrelative Momente vereinigt. 109

Ferner wird die voluntative Selbstbeziehung des reinen praktischen Ich und der konkreten Person von Fichte zwar nach dem Typ der Subjekt-Objekt-Beziehung gedacht; aber zum einen findet hier bei genauerer Betrachtung eigentlich keine Symmetrie

oder gar Einheit von Subjekt und Objekt statt; das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt bleiben vielmehr inhaltlich asymmertrisch, da das entworfene Selbst als erstrebtes Ziel nicht völlig bedeutungsidentisch mit dem entwerfenden Selbst ist; zum anderen ist dieser Selbstbeziehungstypus ohnehin inhaltlich reicher und komplexer bestimmt als das formale Gerippe der Subjekt-Objekt-Be-

ziehung. Fichte hat somit in seinen in manchem auf Heidegger vorausweisenden Darlegungen solche anderen Selbstbeziehungsweisen und Selbstbewußtseinsmodelle deskriptiv verwendet oder wenigstens angedeutet, ohne sie jedoch eigens theoretisch zu ent-

wickeln. Das Denken des frühen Fichte und auch des frühen Heidegger bietet daher reiche Anregung zur Erkundung bisher wenig

erforschter Wege und Möglichkeiten der Subjektivitätstheorie.

110

Gibt es einen Zırkel des Selbstbewußtseins? Ein Aufriß von paradigmatischen Positionen und Selbstbewußtseinsmodellen von Kant bis Heidegger

Der „Zirkel des Selbstbewußtseins“ gilt heute vielfach als eın so

gravierender Vorwurf, daß er Theorien des Selbstbewußtseins oder der Subjektivität als einer selbständigen Entität obsolet zu machen droht. Bestätigung dafür dürfte nach Henrichs Darlegungen dieses Zirkels Tugendhats Kritik an klassischen Theorien des Selbstbewußtseins aufgrund dieses Vorwurfs sein sowie die breite Zustimmung, die dieser Vorwurf findet.! Hiermit stehen nicht nur

die Grundlegungstheorien der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel oder verschiedenartige Subjektivitätstheorien des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Spiel, sondern das syste-

matische Unternehmen der Subjektivitätstheorie überhaupt. - Daher wird eine genauere Betrachtung jenes Vorwurfs notwendig, die zeigt, daß er im wesentlichen in zwei Varianten auftritt, und die ferner präzise bestimmt, welche Art von Zirkel hier eigentlich 1

Vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M. 1967, auch ders.: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Hermenentik und Dialektik. H.-G. Gadamer zum 70. Geburtstag. Tübingen 1970. Bd. I, S. 265ff. Vgl. auch U. Pothast: Über einige Fragen der Selbstbeziebung. Frankfurt a. M.

1971, S. 28ff., 35ff., auch 76ff. Vgl. insbesondere E. Tugendhat:

Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M. 1979, bes. $. 50ff., 68ff. Zur Wirkung dieses Argumenis vgl. z.B. J. Habermas’ Aneignung: Theorie kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981. Bd. I, S. 527ff. Vgl. auch Henrichs Entgegnung auf Tugendhat: Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein. In: Mensch und Moderne. Hrsg. von C. Bellut und U. Müller-Schöll. Würzburg 1989, S. 93-132. Henrich weist in der Art eines tu-quoque-Arguments Tugendhat nach, daß er selbst zirkelhaft argumentiere. Damit ist der Zirkeleinwand sachlich freilich nicht ausgeräumt. 111

begangen wird. Mit dem „Zirkel des Selbstbewußtseins“ ist allgemein gemeint, daß ein Selbstbewußtsein oder ein Ich, das sich

selbst vorstellend erfaßt, für diesen Akt der Selbstvorstellung sich schon voraussetzen muß. Dieser Gedanke ergibt, detaillierter entwickelt, den Vorwurf der unendlichen Iteration der Selbstvoraus-

setzung des Ich in der Selbstvorstellung oder des unendlichen Regresses in der Selbstvorstellung des Ich; erfaßt das Ich sich selbst,

so muß es als Subjekt für diesen Akt schon vorausgesetzt werden; soll es sich nun als Subjekt dieses Akts selbst vorstellen, so muß es für diese Selbstvorstellung erneut vorausgesetzt werden usf. ins Unendliche. G. Ryle bezeichnet diesen Gedanken als Argument der „systematischen Flüchtigkeit“ des Ich, das sich im Versuch

der Selbstvorstellung immer wieder entgeht.” Sucht man nun die vorstellende Selbstbeziehung des Ich oder des Selbstbewußtseins begrifflich zu bestimmen bzw. zu definieren, so muß man in den

definierenden Bestimmungen schon jene Selbstbeziehung verwenden, die das Selbstbewußtsein auszeichnet, das doch eigentlich definiert werden sollte. Auf methodischer Ebene wiederholt sich, was sich auf der sachlichen Ebene des Sich-selbst-Vorstellens ereignet, nämlich daß sich das Selbstbewußtsein oder Ich immer schon vorausgeht. Methodisch ist dieser Zirkel ein Zirkel in der Definition; er zeigt das Mißlingen des Definitionsversuchs an; somit wird Selbstbewußtsein

gemäß

dem Zirkeleinwand

in der

Theorie unbegreiflich; und es erfaßt sich gemäß dem Einwand der unendlichen Iteration selbst nicht. — In ganz paralleler Weise wie beim Zirkel in der Definition ist die beklagte Zirkelhaftigkeit ın der Semantik der ‘ich’-Rede, mit der ein Sprecher auf sich verweist, abhängig davon, daß der Acteur des Aktes des Sich-selbstMeinens sich ebendafür schon voraussetzen muß, was ın die un-

endliche Iteration der Selbstvoraussetzung führt. Der so entwickelte Vorwurf gegen ein Sich-selbst-Vorstellen ist keineswegs neu; er findet sich immer wieder implizit oder explizit in der Philosophiegeschichte, zuerst m.W. 2

Vgl.G.Ryle: The Concept of Mind. London 1949, S. 195ff.

112

bei Plotin, der

ihn als Einwand gegen die aristotelische Noesis Noeseos Gottes anführt und entkräftet.” Würde man in dies göttliche Denken eine Trennung einführen, so ergäbe sich nach Plotin, daß Gott denkt, daß er denkt, daß er denkt usf. ins Unendliche; der göttliche Geist

ist jedoch Einheit von Betrachtendem und Betrachtetem als Grund der Wahrheit alles Seienden; diese Einheit ist nicht trennbar. Diesen Argument erweist sich als verwandt die spätere Fichtesche

Zurückweisung der unendlichen Iteration durch Rekurs auf die unmittelbar in sich einige intellektuelle Selbstanschauung. Neu ist, daß einige Vertreter des 19. Jahrhundert wie z.B. Herbart und eine Mehrheit von Theoretikern im zwanzigsten Jahrhundert diesen Einwand gegen Selbstbewußtseinstheorien für

schlagend halten. Dies ist verwunderlich angesichts der vielfältigen und im Alltagsleben selbstverständlich als gültig angenommenen Selbstbeziehungserfahrungen wie etwa Sıch-Erinnern an

eigene frühere Erlebnisse oder Verantwortung-Übernehmen für eigene frühere Handlungen, Seiner-inne-Sein ın gegenwärtigen Erlebnissen oder Planen eigener zukünftiger Taten. Dies alles müßte Schein sein, was nicht nur eine erfahrungsferne, sondern auch eine befremdliche These ist, wenn sie von Selbstbewußstseinskritikern prinzipiell im Namen der Erfahrung vertreten wird. So sei nun an früheren prominenten Theorien untersucht, wie dieser Vorwurf in seinen Varianten entkräftet wird und welche Selbstbewußtseinsmodelle dabei im Hintergrund stehen. In einem ersten Teil sei Kants Zirkeleinwand in den „Paralogismen“

der

reinen Vernunft und der Kantische Ansatz zu einer Theorie des reinen Denkens seiner selbst erörtert. Ein zweiter Teil soll sodann auf die Zirkel- und Iterationsproblemstellungen sowie deren Lösungen insbesondere bei Fichte und bei Hegel eingehen. Ein dritter Teil hat die Aufgabe, die Problemstellungen Husserls und des frühen Heidegger sowie insbesondere Heideggers Ansätze zu zwei neuen Selbstbewußtseinsmodellen in dessen Theorie darzulegen. Ein Schluß soll zeigen, daß der Iterations- und der Zirkelvorwurf 3

Vgl. Plotin: Enneaden. II, 9, 1, S. 36ff., auch V, 3, 5, $. 10ff,

113

nicht einmal gegen ein komplexer entwickeltes Subjekt-Objekt-

Modell von Selbstbewußtsein zutreffen und daß daher eine Selbstbewußtseinstheorie auch hinsichtlich solcher Selbstbeziehungstypen durchaus möglich ist.

I. Der Zirkel des Selbstbewußtseins und das Denken seiner selbst in Kants „Paralogismen“ der reinen Vernunft Kants Kritik der rationalen Seelenlehre und insbesondere ihrer Unsterblichkeitsbeweise in der Darlegung der „Paralogismen“ der

reinen Vernunft markiert den grundsätzlichen Wandel von der Metaphysik der Seelensubstanz zur Theorie der reinen Subjekti-

vität. In der Kritik der reinen Vernunft verwendet Kant in der Einleitung zum „Paralogismen“-Kapitel ein Zirkelargument, das

bis in jüngste Zeit immer wieder als jener geschilderte Vorwurf aufgefaßt wird, ein Zirkel im Versuch der Selbstvorstellung des Selbstbewußtseins sei unvermeidlich. Wenn diese Deutung zuträfe,

könnte Kant nur um den Preis eines Widerspruchs ganz selbstverständlich ebenso die Ansicht äußern, ein reines Denken seiner selbst sei möglich. Es soll im Folgenden gezeigt werden, daß Kants Zirkelargument am Anfang des „Paralogismen“-Kapitels anders verstanden werden muß. Die rationale Psychologie sucht nach Kant das rein denkende

Ich durch „transzendentale Prädikate“*, d.h. durch Kategorien und deren apriorische Folgebegriffe zu bestimmen; so bestimmt sie die denkende Seele der Relation nach als Substanz, der Qualität nach als einfach usf. und auf dieser Grundlage als unzerstörbar und schließlich als unsterblich. Kant bleibt damit in seiner Darstellung des Vorgehens der rationalen Psychologie nicht bei allgemein-ontologischen, insofern abstrakten Prädikaten stehen, wie 4

Kritik der reinen Vernunft. 1. Aufl. Riga 1781 (zitiert als A), 2. Aufl. Rıga 1787 (zitiert als B), B 401, vgl. B 402f.

114

Hegel ihm vorwirft”, sondern gelangt auch zu Bestimmungen des geistigen Seins der denkenden Seele wie Persönlichkeit oder Unsterblichkeit. - Doch wird durch solche Prädikate nach Kant keine Erkenntnis des Daseins und der Daseinsart des denkenden Ich gewonnen; denn dieses seı eine inhaltsleere Vorstellung, die gar nichts Mannigfaltiges, Bestimmbares in sich enthalte. Dahinter steht, worauf Kant nicht eigens aufmerksam macht und was später noch zu erläutern ist, eine bei ihm neue Theorie der intellektu-

ellen Tätigkeit des Ich, wie er sie z.B. in den siebziger Jahren noch nicht vertrat. Diese intellektuelle Tätigkeit ist nach Kant nun Denken als Vollzug von spontaner, aber nicht produktiver, insofern

für sich inhaltsleerer Synthesis, die nur ein passiv vorgegebenes Mannigfaltiges synthetisiert. Wegen dieser Inhaltsarmut erklärt Kant auch, das Ich sei nicht einmal ein Begriff (vgl. B 404). Dies scheint zunächst verwunderlich zu sein, da doch das substantivierte Personalpronomen: Ich im Sinne von Selbstbewußtsein in einer Theorie durchaus allgemein, d.h. als Begriff verwendet werden kann, der für alle Perso-

nen gilt; dieser Begriff wäre auch nicht inhaltsleer. Mit jener Aussage meint Kant jedoch offenbar, daß, wenn die Apperzeption oder das Ich ein Begriff wäre, „wodurch irgendetwas gedacht würde,

so würde es auch als Prädikat von andern Dingen gebraucht werden können oder solche Prädikate in sich enthalten“°. Auch diese

These hat nicht bloß logisch-sprachlichen Sinn, da man ja sinnvoll sagen kann: dieser Mensch ist ein Ich, jener Mensch ist ein Ich usf. Vielmehr bedeutet diese These, daß „Ich“ nicht als ontolo-

gisch verstandenes Prädikat, nämlich als Eigenschaft eines anderen, 5

Vgl. Wissenschaft der Logik, s. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, S. 193f.; vgl. auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, s. Hegel: Theorie-WerkAusgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a. M. 1970ff., Bd. 20, S. 355f,

6

I. Kant: Prolegomena. $ 46 Anm., s. Kants gesammelte Schriften. Hrsg. im Auftrag der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., IV, S. 334 Anm.

115

von ihm verschiedenen Dinges gedacht werden könne. Darin liegt,

daß das denkende Ich immer als Substrat, als Zugrundeliegendes für seine Gedanken konzipiert werden muß’, woraus aber nicht

die Erkenntnis seiner Seinsart etwa als Substanz folgt. Das denkende Ich, das zwar logisch-sprachlich von Personen, nicht aber von anderen Dingen ausgesagt werden kann, ıst also

selbst nicht einer derjenigen Begriffe, die als Allgemeinvorstellungen von Eigenschaften Prädikate in Urteilen sind, sondern Prinzip der Form aller Begriffe, nämlich hinsichtlich ihres Gedacht-

seins; nur insofern gilt es Kant als inhaltsleer. Gemäß der von Kant mehrfach verwendeten Vehikel-Metapher „begleitet“ dieses denkende Ich alle Begriffe, oder es „muß“ alle Vorstellungen „be-

gleiten können“, sofern sie zum Ich gehören sollen (vgl. B 131). Das „Ich denke etwas“ wird hierbei offensichtlich nicht nach dem

Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung gedacht. Dies Modell wird

als Modell von komplexer Beziehung erst in der transzendentalen Deduktion der Kategorien geprägt und insbesondere seit Reinhold im Idealismus sowie im Neukantianismus und Neuhegelıanismus als paradigmatisches Modell der Selbstbeziehung des Selbstbewußstseins verstanden. Das „Ich denke“ dagegen, das „alle meine

Vorstellungen“ muß „begleiten können“ (ebd.), ist nicht wie einer der primären thematischen, insofern objektiven Vorstellungsinhalte, die es vor sich bringt, sondern bleibt gleichsam im Hinter-

grund solchen thematischen Vorstellens von etwas. Hierin kann man — wie Heidegger in anderen Zusammenhängen bei Kant - die

Andeutung eines Horizontbewußtseins erblicken. Ein „Begleiten“ der Vorstellungen mit Bewußtsein durch die Einheit des Selbstbewußtseins kommt für Kant nun offenbar folgendermaßen zustande: Es treten unbewußte oder halbbewußste, jedenfalls „dunkle“ Vorstellungen in die „Helle“ des auf sie aufmerksam werden-

den Bewußtseins, gewinnen darin Klarheit und Abgehobenheit 7

Dieser Gedanke entspricht der Konzeption, die aufgrund kategorischer Vernunftschlüsse als letztes Subjekt inhaltlich die denkende Seele als Vernunftidee aufweist.

116

voneinander und erhalten damit eindeutige Verhältnisse zueinan-

der, die nicht einfach in ihnen schon vorliegen, sondern durch spontane Synthesis erst konstituiert werden. In einer Reflexion auf sich wird das Ich dann seiner als des Acteurs der Synthesis und seiner Identität in den verschiedenen Phasen der Synthesis bewußt (vgl. B 133). Kant hat verstreut solche Beschreibungen des denkenden Ich

geliefert, aber keine systematisch entwickelte Theorie, da er nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis und nicht nach der inneren Struktur und Dynamik des reinen

denkenden Ich und seiner Selbstbeziehung fragte. Das auf diese Weise skizzierte denkende Ich ist für Kant nun „ein transzenden-

tales Subjekt der Gedanken“, von dem wir „abgesondert“ und unabhängig von diesen Gedanken „niemals den mindesten Begriff

haben können, um welches wir uns daher in einem beständigen Zırkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgendetwas von ihm zu urteilen“ (B 404).

Dies Argument wurde vielfach, wie erwähnt, als Darlegung des Zirkels des Selbstbewußtseins verstanden, dem gemäß das Ich sich letztlich nicht erfassen, also sich nicht denken könne.? Kants Wortlaut, für sich genommen und ohne den Kontext, kann eine solche Deutung in der Tat nahelegen. Doch widerspricht dieser Deutung, daß Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft mehrfach vom Sich-Denken des Ich spricht, ohne die Möglichkeit solcher

8

So hat Natorp in seiner eigenen Theorie in vermeintlicher Kant-Nachfolge solche denkende Selbstbeziehung bestritten, vgl. P. Natorp: Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Freiburg ı. Br. 1888, S. 14ff., 63; ders.:

Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen 1912, S. 29ff., 202ff.; vgl. dazu K. Cramer: ‘Erlebnis’. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Hegel-Studien Beiheft 11. Bonn 1974, bes. $. 548-569. Kants Zirkelargument wird auch in neuerer Zeit in der beschriebenen Weise vielfach gedeutet; vgl. z.B. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht (s. Anm. 1), S. 10ff., U. Pothast: Über einige Fragen der Selbstbeziehung (s. Anm. 1), S. 9ff.; K. Gloy: Kants Theorie des Selbstbewußtseins. Ihre Struktur und ihre Schwierigkeiten. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie 17 (1985), S. 47ff. 117

Selbstbeziehung zu bezweifeln’, daß die Auflösung der Paralo-

gismen die Möglichkeit denkender Selbstbeziehung voraussetzt und daß Kant auch später im Opus postumum mehrfach - unter Aufnahme des Selbstbewußtseinsmodells der Subjekt-Objekt-Be-

ziehung - das Sich-Denken der reinen Apperzeption betont, z.B. wenn er sagt: „Das Bewußtsein meiner selbst (apperceptio) ist der Akt des Subjekts, sich selbst zum Objekt zu machen und bloß

logisch [...]*'°. Sollen diese Aussagen mit Kants Charakterisierung eines „Zirkels“ des Selbstbewußtseins verträglich sein, so kann

sein Zirkelargument nicht im Sinne des heutigen Zirkelvorwurfs

interpretiert werden. Im weiteren Verlauf des „Paralogismen“-Kapitels dürfte ein Passus, der an das „Zirkel“-Argument erinnert, weiteren Auf-

schluß geben. Kant erläutert, daß das Objekt, wenn das Subjekt

sich als Objekt solle erkennen können, nicht nur kategorial gedacht, sondern auch anschaulich gegeben sein müsse, und fügt hinzu: „Das Subjekt der Kategorien kann also dadurch, daß es

diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen“, es „erklären“ (B 422), d.h. es erkennen. Kant meint hier nicht, obwohl der Wortlaut - ohne den Kontext -

dies wieder nahelegen könnte, daß das Ich sich nicht denken könne, weıl es diesem Akt immer wieder vorausgehe, sondern daß es sich durch solches Denken nicht als Seiendes, als Objekt erkennen könne, z.B. als substantiell Seiendes; denn dazu würde An-

schauungsgegebenheit gehören. In analoger Weise bedeutet das „Zirkel“-Argument am Anfang des „Paralogismen“-Kapitels

of-

fensichtlich nicht, Selbstbewußtsein gehe je voraus und müsse schon verwendet werden, wenn es bestimmt oder definiert werden solle; vielmehr denkt Kant daran, daß ein begründetes „Ur-

teil“, d.h. irgendeine Erkenntnis über das Selbstbewußtsein und dessen Existenz durch reines Denken nicht zu gewinnen seı, da dann schon vorausgesetzt werden müsse, was erkannt werden solle; 9 Vgl. Kr.d.r.V. B 420, 429, 430, 158, auch B 155 und indirekt B 133.

10 Kants gesammelte Schriften. XX11, S. 89, vgl. S. 77, 93 u.ö. 118

Kant dürfte also in genereller Vorwegnahme rationalen Psychologie nicht etwa einen Zirkel von Selbstbewußtsein, sondern einen Zirkel in schen Beweis über die denkende Seele und ihr

seiner Kritik der in der Definition einem metaphysiSein im Auge ha-

ben. Das Ich ist infolgedessen nach Kants metaphysikkritischer Auffassung sprachlich lediglich ein „Vorwort“ (sc. Fürwort), das

nur „ein Ding von unbestimmter Bedeutung“ bezeichnet, und logisch „das Subjekt aller Prädikate“, von dessen Wassein man durch den Ausdruck:

Ich keinerlei Begriff hat, das in seinem Wassein

und seiner Seinsart dadurch also nicht erkannt wird.!! Mit dieser Bedeutung des Zirkelarguments ist Kants Ansicht vom reinen Denken seiner selbst, das nicht schon ein Erkennen seiner selbst ist, sehr wohl kompatibel.

Hinter dieser metaphysikkritischen Auffassung Kants und dem so verstandenen Zirkelargument steht eine Konzeption des Den-

kens und auch des Sıch-Denkens des Ich, die er nicht immer vertrat. Noch in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erklärte Kant: „Ich ist die Anschauung einer Substanz“; in der Metaphysik-Vorlesung (ed. Poelitz) sieht Kant im Ich den „einzigen Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen können“, Nicht nur

die Substantialität, auch die Einfachheit des denkenden Ich glaubt Kant damals erkennen zu können.!* Kant hält damit an wesentlichen 11 Kants gesammelte Schriften. IV, 5. 542f. Anm. -— Wegen dieser Unbestimmtheit spricht Kant auch vom „Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt“

(B 404); er plädiert damit nicht für eine non-egologische Konzeption von Denken, sondern erinnert an Descartes’ res cogitans, welche res nach Kant durch „Ich“ nicht in ihrem Wassein bestimmt wird. - Zur Interpretation des

Kantischen Zirkelarguments als Zirkel in einem metaphysischen Beweis mag

auch der Hinweis erlaubt sein auf die Studie des Verf.s: Soggetto e autocoscienza in Kant e in Hegel. In: Teoria VIII/1 (1988), S. 56f. 12 Kants gesammelte Schriften. XVII, S. 572 (Refl. 4493).

13 I. Kants Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821. Nachdruck: Darmstadt 1964, S. 133.

14 Vgl. Kants gesammelte Schriften. XVII, S. 470 (Refl. 4234). Vgl. zu dieser metaphysischen Auffassung Kants H. Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie. In: ders.: Studien zur Philo119

Thesen der rationalen Psychologie für das Prinzip des „Ich denke“ fest, mit dem er den traditionellen Begriff der denkenden Seele aufnimmt, ihn aber auch umdeutet, insofern dem Ich absolute

Spontaneität und Freiheit im konstituierenden Denken und Wollen zukommt. Die intellektuelle Selbsterkenntnis dieses Ich gelingt nach Kants damaligen Reflexionen durch intellektuelle Anschauung, deren das Ich in bezug auf sich selbst fähig sei. Sie gelingt durch unser „ıintellektuelles inneres Anschauen (nicht den inneren

Sinn) unsrer Tätigkeit“'? sowie der Spontaneität und allgemeinen Freiheit des Ich. Diese der Subjektivitätstheorie insbesondere des frühen Fichte nahestehende Auffassung hat Kant später nicht beibehalten, weil

für ıhn die intellektuelle Anschauung die menschliche Erkenntnisfähigkeit überfordert. Das Ich hat von seinen eigenen Vorstellungen und seinem bestimmten Dasein, d.h. von seiner inneren Biographie offensichtlich nur Kenntnis und Erkenntnis durch seine im inneren Sinn zeitlich gegebenen Vorstellungen, die es auf-

sucht, zur Klarheit des Bewußtseins bringt und synthetisiert. Diese Vorstellungen sind ihm passiv vorgegeben; es produziert sie nicht spontan. Aber ohne solche vorgegebenen Vorstellungen ge-

langt die intellektuelle Tätigkeit des Ich nicht zum Vollzug. Diese Vorgegebenheit und Faktizität des passiven inneren Lebens dürfte für Kant der Grund sein, die intellektuelle Tätigkeit des Ich

nicht mehr als eine die Sache selbst spontan präsentierende intellektuelle Anschauung, sondern bloß als ein Denken zu konzipieren, das Vorstellungen, die im inneren Sınn vorgegeben sind, spontan

affıziert und ordnet oder synthetisiert; und das reine Ich, begriffen ohne die Vielfalt der im inneren Sinn gegebenen Vorstellungen und Bestimmungen, ist dann nur denkendes Subjekt von Bestimmungen

sophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen. Kant-Studien Ergänzungsheft 71. Köln 1956, bes. S. 233ff. 15 Kants gesammelte Schriften. XVII, S. 509 (Refl. 4336); vgl. XVII, S. 465 (Refl.

4225) u.ö.

120

überhaupt oder spontaner Acteur dieser Synthesis von vorgegebenem Mannigfaltigen. Als Ergebnis der Kritik der rationalen Psychologie kann Kant sagen, daß das reine Ich durch Denken nur reine Gedankenbestimmungen, nämlich Kategorien oder Folgebestimmungen von Kategorien’ von sich aussagt; es hebt damit lediglich analytisch die immanenten Bedeutungsmomente seiner selbst hervor als eine logische Deskription des „Ich denke“, nämlich daß es immer Sub-

strat seiner Gedanken, daß es einfach, numerisch eines ist usf., nicht als ontologische Erkenntnis seiner selbst; in diesen Momen-

ten denkt es sich selbst. Hierbei verwendet Kant ebenso wie die rationale Psychologie bereits Kategorien, wenn Kant sie auch nur als solche analytischen Momente des reinen denkenden Ich versteht; aber es bleibt offen, wie die vom reinen denkenden Ich allererst begründeten Kategorien dessen analytische Bestimmungen sein können, ferner wie sie genetisch aus ihm hervorgehen und wie sie zu dessen Struktur der Selbstbeziehung beitragen.

II. Idealistische Auflösungen des Zirkeloder des Iterationseinwandes a. Fichte weist ebenso wie Kant die überlieferten Beweisversuche

der rationalen Psychologie zurück, jedoch härter und mit anderen Argumenten. Während Kant deren Beweise zwar widerlegte, aber ihren berechtigten Kern in lediglich logischen Deskriptionen des 16 Kategorien werden hier als reine Gedankenbestimmungen aufgefaßt, die noch nicht schematisiert sind, aber auch nicht nur formale logische Funktionen zu urteilen darstellen. Kant hat diese Sinnbestimmtheit reiner Kategorien, wie sie nach seiner Auffassung in der Metaphysik vorkommt, nicht immer klar abgegrenzt. - Zu einzelnen Gedankenbestimmungen des Selbstbewußtseins bei Kant vgl. D. Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg 1976, bes. S. 54ff. Vgl. auch schon K. Reich: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. 3. Aufl. Ham-

burg 1986, S. 28ff.

121

„Ich denke“ erblickte, die für ihn ın sich konsistent waren, sieht Fichte in diesen Beweisen nur die „Absurdität“, aus der Sponta-

neität des Sich-Setzens des Ich dessen Existenz als eines Dinges an sich, das auch „unabhängig vom Bewußtsein“

bestehe, abzulei-

ten.” Dahinter steht seine eigene Theorie des reinen Ich, das reine Tathandlung, reines Tun ist; nicht einmal als „Tätiges“, nämlich als Zugrundeliegendes oder als Substanz, der Tätigkeit zukommt,

sei es anzusehen." Die Entwicklung des Selbstbewußtseins in seinen verschiedenen Fähigkeiten und Leistungen und den jeweiligen Korrelaten, die die Leistungen konstituieren, folgt nun - nach dem Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre - dem Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein. In einer systematischen Geschichte

des Selbstbewußtseins'? zeigt Fichte, daß das tätige Ich auf sich reflektiert, sich zum reflektierten Ich und insofern zum Betrach-

tungsgegenstand macht, daß es ferner auf höherer Stufe auf das reflektierende Ich wieder reflektiert und es seinerseits zum Betrachtungsgegenstand macht usf.; es entstehen nach Fichte jeweils höherstufige Leistungen des Ich, z.B. Empfindung, Selbstgefühl, Anschauung usf.

Im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre ist diese systematische Entwicklung des Selbstbewußtseins nicht vollendet. 17 Vgl. J.G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. In: ].G. Fichte-Gesamtausgabe. Abt. I. Bd. 4. Hrsg. von R. Lauth und H. Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S. 277. 18 Vgl. J.G. Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. In: J.G. FichteGesamtausgabe. 1, 4, S. 200.

19 Zum Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins bei Fichte vgl. X. Tillierte: Geschichte und Geschichte des Selbstbewußtseins. In: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Societas Hegeliana Jg. 1983. Köln 1983, S. 92ff. und C. Cesa: Contraddizione e Non-lo. Problemi Fichtiani. In: Teoria VIIV/1 (1988), bes. S. 68ff. Vgl. ebenso U. Claesges: Ge-

schichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslebre von 1794/95. Den Haag 1974 und E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, bes. S. 186ff., 260ff.

122

Es findet sich dort kein stichhaltiges Argument gegen den sich nahelegenden Einwand, daß die Reflexionsstufung prinzipiell ins Unendliche gehen könnte. Darin aber ist der Einwand der unendlichen Iteration der Voraussetzung des Ich in der Selbstvorstel-

lung oder des unendlichen Ich-Regresses enthalten. Ihn formuliert Fichte ausdrücklich und ausführlich in mehreren Ansätzen im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre: „Du bist — deiner dir bewußt, sagst du; du unterscheidest sonach not-

wendig dein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich. Aber damit du dies könntest, muß abermals das Den-

kende in jenem Denken Objekt eines höheren Denkens sein, um Objekt des Bewußtseins sein zu können [...]“”; Fichte führt dieselbe Überlegung auf höheren Stufen noch fort und erklärt dann, dies wiederhole sich ins Unendliche. Er formuliert damit den Einwand der unendlichen Iteration der Voraussetzung des Ich auf seiten des Subjekts, das seiner bewußt sein muß. Man kann diesen

Einwand auch, wie der Fichte-Schüler Herbart zeigt, auf seiten des gedachten Ich oder des Ich-Objekts durchführen. Das gewußte Ich muß wiederum ein sich wissendes sein; das „Sich“ ın

dem sich wissenden Ich-Objekt muß wieder das sich wissende Ich sein usf. ins Unendliche.?! Herbart würdigt freilich nicht Fichtes Lösung dieses Problems und damit nicht dessen ıidealistische Begründung der Subjektivitätstheorie gegenüber diesem Einwand. -

Fichte erklärt, die Leugnung von Selbstbewußtsein widerspreche den Fakten; es gebe Selbstbewußtsein. Dies muß also in seinem Ursprung anders und nicht nach dem Modell der Reflexionsstu-

fung begriffen werden. Nach der Überlegung, daß das „Ich denke“ immer unmittelbar mit dem Bewußtsein des Denkens verbunden ist und solches Bewußtsein des Denkens eben Selbstbewußtsein

ist, erklärt Fichte, das Bewußtsein des denkenden Ich von sich sei unmittelbare Vorstellung seiner selbst, also Anschauung, aber nicht 20 J.G. Fichte-Gesamtausgabe. 1, 4, 5. 275. 21 Vgl. J.F. Herbart: Psychologie als Wissenschaft. In: J.F. Herbart: Sämtliche Werke. Hrsg. von K. Kehrbach. Langensalza 1891. Bd. 5, S. 242f., 255f.

123

passiv-sinnlich gegebene, sondern spontan im Denken vollzogene, intellektuelle Anschauung des Ich von sich. Ich ist also nicht „bloßes Subjekt“, sondern „Subjekt-Objekt“ in einer unmittelba-

ren Einheit des Selbstanschauens.?? Das Ich ist nichts anderes als diese intellektuelle Selbstanschauung. Auf diese Konzeption des Ich trifft der Einwand der unendlichen Iteration der Voraussetzung des Ich in dessen Selbstvorstellung oder des unendlichen Ich-Regresses nicht zu; denn die Selbst-

beziehung dieses Ich kommt nicht erst durch Akte der Reflexion und nicht durch Trennung und Beziehung von Subjekt und Objekt als eigener thematischer Vorstellungsinhalte zustande. Solche

intellektuelle Selbstbeziehung ist vielmehr in ursprünglicher Einheit ein tätiges, unmittelbares Sich-selbst-Gegenwärtigsein; die Un-

terscheidung in Momente erfolgt erst durch nachträgliche Reflexion. Fichte interpretiert diese originäre und unmittelbare Einheit

des Sich-Wissens sogleich von Reinholds Modell des Selbstbewußtseins als Beziehung der getrennt vorstellbaren Momente von Subjekt und Objekt her, obwohl in dieser unmittelbaren Einheit

des Sich-selbst-Gegenwärtigseins Subjekt und Objekt noch nicht unterschieden sind und daher hier nicht ihre eigentliche Bedeutung tragen. Für Fichte ist diese unmittelbare intellektuelle Selbstgegenwärtigkeit, die dem reinen Ich ursprünglich zukommt, intel-

lektuelle Selbstanschauung. Da in ihr die Selbstbeziehung weder durch Akte der Reflexion noch durch Unterscheidung und Beziehung von Subjekt und Objekt als selbständiger Bedeutungsgehalte zustande kommt, findet jener Einwand der unendlichen Iteration oder des Ich-Regresses hier keinen Angriffspunkt.? 22 J.G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. In: J.G. Fichte-Gesamtausgabe. 1, 4, S. 277. Zur intellektuellen Anschauung bei Fichte vgl. H. Heimsoeth: Fichte. München 1923, S. 97ff.; W. Janke: Fichte. Sein und

Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 14ff. G.V. Di Tommaso: Dottrina della scienza e genesi della filosofia della storia nel primo

Fichte. L’Aquila-Roma 1986, S. 42-62. 23 Fichte erkennt also eindeutig und explizit den Einwand der unendlichen Iteration oder des Ich-Regresses; ist man - wie seit Henrichs Fichte-Dar124

Die Fichtesche Lösung des Iterations- oder Regreßproblems ist die des subjektiven Idealismus. Sieht man von der dahinterstehenden spezifischen Ich-Theorie einmal ab, ist sie analog derjenigen Plotins, ohne daß Fichte dies bewußt war. Plotin hatte, wie erwähnt, die unendliche Iteration des Denkens Gottes, daß er denkt, daß er denkt, daß er denkt usf., vermieden durch die Konzeption

der originären und untrennbaren Einheit des göttlichen Denkens seiner selbst; solche Einheit kommt dem Nous als intellektuelle, zugleich unmittelbare und in sich einheitliche, nicht ın Bestandteile getrennte Intuition zu. Hier kann jene Iteration, die eine Tren-

nung der Momente voraussetzt, nicht stattfinden. Plotin muß für diese Auffassung voraussetzen, die menschliche Seele sei in ihrer Sammlung

und Einkehr in der Lage, solches göttliche Denken

nachzuvollziehen und zu erkennen. Fichte muß ın seiner Lösung die Möglichkeit der intellektuellen Selbstanschauung für das reine endliche Ich annehmen. Diese intellektuelle Selbstanschauung ist

nicht eine von der christlichen Tradition geprägte göttlich-produktive Anschauung; insofern wird dieser Grund des kritischen

Kant, intellektuelle Anschauung für endliche Wesen zu negieren,

bei Fichte hinfällig. Fichte bestimmt offenbar die intellektuelle Anschauung anders als der kritische Kant und in manchem vergleichbar mit der Konzeption des früheren Kant. Intellektuelle

Anschauung als Wesen des selbstbezüglichen reinen Ich liegt für Fichte dem Unterschied von Verstandesdenken und sinnlicher Anschauung als spezifischer Vorstellungsarten des Ich noch voraus. Sie ist nicht - wie bei Kant die reine Apperzeption des „Ich denke“ -

spontane und aktive Synthesis eines vorgegebenen Mannigfaltigen, stellung - vor allem an der Version orientiert, die der Zirkeleinwand darstellt, kann man lediglich eine indirekte Beachtung dieses Einwandes bei Fichte feststellen. Es war wohl nicht dieser Einwand, der Fichte in die Metaphysik der Spätphilosophie trieb; dies geschah vielmehr durch die Auseinandersetzung mit dem Atheismusvorwurf. Dem Einwand der unendlichen Iteration oder des Ich-Regresses und damit implizit auch dem Zirkeleinwand begegnet Fichte schon 1797, wie dargelegt, mit der Konzeption der intellektuellen Selbstanschauung. 125

das nicht sie selbst, sondern der passive innere Sinn präsentiert;

und sie ist auch nicht göttliche, das Mannigfaltige als Seiendes im Anschauen hervorbringende Tätigkeit. Sie ist vielmehr - ähnlich wie beim früheren Kant - allgemeine, unmittelbare selbstbezügliche, spontane und freie Tätigkeit, die Bestimmungen konstituiert;

diese Tätigkeit ist aber für Fichte in ihrem Wesen endlich und begrenzt; sie gibt nicht einmal das Ich als Substanz zu erkennen. Sie

liegt aber als dynamisches Wesen des Ich allen besonderen Bestimmungen seiner Leistungen zugrunde. - Die Ausräumung des Einwandes der unendlichen Iteration ist also fundiert in einer Lehre von der grundlegenden, unmittelbaren Selbstbeziehung des Ich als intellektueller Anschauung; und sie ermöglicht die Entfaltung einer ganzen Skala von besonderen Selbstbeziehungsweisen in den spezifischen Vorstellungsleistungen des Ich. b. Hegel beachtet den von Fichte dargelegten Einwand der un-

endlichen Iteration oder des unendlichen Ich-Regresses implızit und konzipiert eine hochkomplexe, von Fichtes Lehre abweichende Lösung in seiner Theorie der absoluten Subjektivität. Ex-

plizit geht Hegel freilich auf das Zirkel-Argument ein, das Kant am Anfang des „Paralogismen“-Kapitels bringt, und deutet dies

Argument in seiner Auslegung um. In der Wissenschaft der Logik gibt Hegel dies Argument zunächst ausführlich wieder. Er hebt dabei besonders Kants Erwähnung der „Unbequemlichkeit“

her-

vor, die sich ergibt, wenn das Ich etwas über sich urteilt, sich dafür als Subjekt aber schon voraussetzen muß; Hegel erkennt offensichtlich, daß sich diese Schwierigkeit aus dem von Kant darge-

stellten Zirkel ergibt.”* Es bleibt aber offen, ob Hegel diesen Zirkel als Zirkel in einem metaphysischen Beweis versteht oder als einen Zirkel in der Definition von Selbstbewußtsein, in dem sich das

24 Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd. 3. In: ders.: Gesammelte Werke (im Folgenden: GW). Bd. 12. Hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981, S. 193f.

126

erwähnte Iterationsproblem methodisch spiegelt. Für die erste Verständnismöglichkeit spricht, daß Hegel Kants allgemeinen Grund

der Kritik an den Schlüssen der rationalen Seelenlehre aufgreift, nämlich daß das Ich als „Subjekt des Bewußtseins“ und als „Sub-

jekt eines Urteils“ (GW Bd. 12, S. 194) sich nicht durch sein Denken als Anschauungsobjekt erkennen könne; Hegel kritisiert die in dieser Begründung enthaltene, seiner Auffassung nach redu-

zierte Vorstellung vom Ich als zu abstrakt und als begrifflos. Für die zweite Verständnismöglichkeit, der Kantische Zirkel sei ein Zirkel in der Definition, in der sich die Iteration widerspiegelt, dürfte Hegels mehrfache Erwähnung der „Unbequemlichkeit“

sprechen, nach der das Ich allen Urteilen und allem Wissen von sich immer wieder vorausgeht. Hegel kritisiert auch hieran die für ihn reduzierte Vorstellung vom Ich, nämlich daß dies Ich sich nicht einmal selbst denken, sich nicht auf sich beziehen könne

(vgl. ebd. S. 194f.). Das Kantische Zirkelargument kommt für Hegel also nur durch eine defiziente Konzeption des Ich in dieser zweifachen Hinsicht zustande. Hegel akzeptiert das Kantische Zirkelargument, wie er es versteht, nicht, da er eine spekulative Theorie des denkenden

Ich

vertritt. Geschichtliche Präfigurationen dieser Theorie sieht er in den von Kant nicht berücksichtigten „wahrhaft spekulativen Ideen

älterer Philosophen“ (ebd. S. 194), insbesondere des Aristoteles ın De anima (vgl. ebd. $. 195), wobei er offenbar besonders an dessen Lehre vom aktiven Nous denkt, sofern dieser in der menschlichen Seele wirkt. Das Ich ist bei Kant, wie Hegel kritisiert, nur deshalb kein Begriff, d.h. völlig abstrakt und inhaltsleer, weil es von Kant in seiner reichhaltigen, hochkomplexen Struktur denkender Selbstbeziehung nicht begriffen wurde; und auch Kants Kriterium, daß uns etwas anschaulich gegeben sein müsse, um als Objekt erkennbar zu sein, weist Hegel zurück; es gelte speziell für das Ich als den „daseienden“ Begriff (ebd. S. 194) nicht. In seiner spekulativen Logik bestimmt Hegel das denkende Ich gerade als Begriff, als Einheit des freien Sich-Erfassens in der Vielfalt seiner Bestimmungen; es ist somit das Gegenteil der abstrakten 127

Inhaltsleere und Begrifflosigkeit, die Kant - nach der „alltägli-

chen“ Weise der Rede vom Ich (vgl. ebd. S. 195) — für es vorsah. Ebenso ist das Ich nicht nur Subjekt seiner Gedanken und Urteile, sondern zugleich auch Objekt; ihm kommt sowenig zu, sich

selbst zu entgehen und sich immer wieder voraussetzen zu müssen, daß vielmehr sein eigenes Wesen ın der denkenden Selbst-

beziehung besteht. Damit wird für Hegel der Kantische Vorwurf

eines Zirkels als eines Fehlers hinfällig. Das Wesen des Ich oder des Selbstbewußtseins besteht nach Hegel vielmehr gerade darin, „sich [...] zum Zirkel zu machen“ (ebd. S. 194). Hegel denkt hierbei offenbar an einen dialektischen „Zirkel“, wobei der Ausdruck: „Zirkel“ metaphorisch gebraucht wird und die Rückkehr des Sich-

Begreifens zu sich aus der Entgegensetzung bedeutet.

Hegel verwendet hierbei zwar das Selbstbewußtseinsmodell der Subjekt-Objekt-Beziehung; aber diese Beziehung ist keine Relation bloß verschiedener Momente wie etwa bei Reinhold, auch

keine unmittelbare Einheit, die eine Verschiedenheit der Momente noch nicht impliziert wie bei Fichte; sie ıst vielmehr eine dynamische Bewegung der Einigung mit den Phasen des Setzens, des Entgegensetzens und der Rückkehr zum Anfang auf höherer

Stufe. Das Selbstbewußtsein, das spekulativ-logisch als Begriff gefaßt wird, ist nach Hegel „die absolute Beziehung auf sich selbst

[...], welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstande macht“

(ebd. S. 194) und in diesem ihm entgegengesetzten „Gegenstand“ vielmehr sich selbst erfaßt und so zu sich begreifend zurückkehrt. „Urteil“ wird hier einerseits als „Ur-teilung“, d.h. als ursprüngli-

che Entzweiung verstanden; andererseits wird die Logik des Begriffs insgesamt subjektivitätstheoretisch fundiert; der Begriff ın

seinen Bestimmungen ist das Setzen der denkenden Selbstbeziehung, das Urteil deren Entzweiung mitsamt der begrifflosen Beziehung der entzweiten Momente durch die Copula, der Schluß dagegen die Rückkehr des Begriffs zu sich, insofern die Copula, das Verbindende, in den spekulativen Schlüssen zum Mittelbegriff wird und somit selbst als Begriff bestimmt wird, so daß der Be-

griff sich in den entzweiten Extremen und im Mittelbegriff selbst 128

begreift.? Dieses Sich-Begreifen stellt Hegel selbst noch einmal als ein sich entwickelndes dar, nämlich als eine im Fortgang der spekulativen Schlüsse immer komplexer werdende Selbstbeziehung des Begriffs. - Diese Theorie einer dynamischen Entfaltung von

Selbstbeziehungsstufen folgt nicht einfach dem Schema der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern begründet es in einem komple-

xeren Relationsgefüge und fundiert zugleich dessen Verwendung etwa in der Philosophie des subjektiven, endlichen Geistes. Der Kantische Zirkelvorwurf beruht nach Hegel also auf einer Unterbestimmung des Ich, die er in seiner spekulativen Theorie behebt; das Selbstbewußtsein begeht nach seiner Auffassung zu Recht einen dialektischen „Zirkel“, wenn

man an diesem Aus-

druck in metaphorischer Bedeutung festhalten will. Das denkende Ich kann jedoch nur solche dialektische Bewegung des Sich-Begreifens vollziehen, wenn es dabei nicht in die unendliche Iteration der Selbstvoraussetzung gerät. Dies verhindert nun die Grundkonzeption der Hegelschen Logik. Der letztlich erst in der dialektischen Methode erreichten erfüllten Erfassung seiner selbst, wie sie nur dem göttlichen Denken der absoluten Subjektivität zukommt, geht nicht wieder das erfüllte unendliche Denken seiner selbst als Bedingung voraus; es gehen vielmehr einfachere Momente dieses Denkens seiner selbst voraus als konstituierende Partialbestimmungen. So entwickelt sich die spekulative Logik

fort als ein Durchgehen durch die einzelnen kategorialen Momente, die konstituierende Bestimmungen und — methodisch gesehen — Phasen der Genesis des reinen Denkens seiner selbst darstellen. Eine unendliche Iteration der Selbstvoraussetzung ist hierbei vermieden; vermieden ist auch die Setzung einer unmittelbaren intel-

lektuellen Anschauung, die von sich her einleuchten müßte. Die 25 Zur näheren Erläuterung sei der Verweis erlaubt auf die Darlegung des Verf.s: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Hegel-Studien Beiheft 15. 3. Aufl. Bonn 1995, S. 244-288, auch 203f. —

Zur Vermeidung der unendlichen Iteration bei Hegel sei verwiesen auf S. 12f., 18, 270f., 345f.

129

denkende Beziehung auf sich ist eine stufenartig zu entfaltende, schließlich hochkomplexe, vermittelte und für Hegel dialektische Beziehung.

Zugleich ist damit das bei Kant offen gebliebene Verhältnis des „Ich denke“ zu den von diesem Ich fundierten Kategorien geklärt, die gleichwohl von ihm auszusagen sind. Die Kategorien bilden in Hegels Theorie nur konstitutive einzelne Momente bzw. Phasen

innerhalb der Entfaltung der Selbstbeziehung des denkenden Subjekts. Das Prinzip, das unendliche, reine Denken seiner selbst, ist in seiner vollständigen Bestimmung das Resultat jener Entfaltung.

— Voraussetzung für diese Theorie ist, daß wir das göttliche Denken seiner selbst und seine dialektische Bewegung des Sich-aufsich-Beziehens in seiner inneren Entwicklung erkennen können.

III. Phänomenologische Stellungnahmen zum Zirkeloder Iterationseinwand In der Phänomenologie Husserls und des frühen Heidegger werden der Einwand der unendlichen Iteration oder des Regresses und der Zirkeleinwand z.T. knapper, aber doch in ähnlicher Weise beachtet wie im Idealismus; die idealistischen Problemstellungen und Lösungen dürften ihnen dabei nicht im Detail bekannt

gewesen sein; beide wenden sich gegen neukantianische Lehren, speziell gegen diejenige Natorps. Ihre eigenen Lösungen weichen von den idealistischen ab, implizieren insbesondere den Hegelschen Erkenntnisanspruch nicht und beruhen auf andersartigen

Selbstbewußtseinsmodellen. a. Husserl entwickelt de facto den Einwand der unendlichen Iteration in der Ersten Philosophie (1923/24), betrachtet ihn jedoch nicht als Nachweis der Unmöglichkeit der vorstellenden Selbstbeziehung des Ich. Der Einwand ergibt sich durch Iterierung der Reflexion als Bedingung der Selbstvorstellung, wie Husserl an einem konkreten Beispiel darlegt. Wenn ıch eın Haus wahrnehme, 130

wobei in phänomenologischer Reduktion ganz davon abgesehen wird, ob das Haus auch so existiert, wie ich es wahrnehme, dann

bin ich in die Betrachtung des Hauses versunken und achte nicht auf mich

selbst; das wahrnehmende

Ich ist sich verborgen,

ist

„latent“, wie Husserl sagt.” Das die Wahrnehmung vollziehende Ich wird selbst thematisch erst durch einen Akt der Reflexion, die Husserl als „Wahrnehmung höherer Stufe“ (Hua VIII, S. 88) bestimmt. Vorgestellt wird nun das Vollzugsich des auf das Haus gerichteten Wahrnehmungsaktes. Latent aber bleibt erneut das Vollzugsich dieses Reflexionsaktes. Wird auf dieses reflektierende Ich nun eigens reflektiert, so ist das Ich dieses Reflexionsaktes zweiter Stufe wieder sich verborgen usf. Die Akte der Objektwahrnehmung und der Reflexion müssen hierbei nicht nacheinander erfol-

gen, wie später z.B. Ryle meint; sie können auch koexistent sein; aber dies ändert nichts an der Stufung der Akte. Husserl faßt diese Überlegung nicht als Einwand gegen die Ansetzung des Ich oder des Selbstbewußtseins als Prinzip der Akte auf, sondern als deskriptiven Ausdruck einer Grundstruktur des Ich. Gemäß seinem phänomenologischen Intuitionismus hebt er auch diese Grundstruktur als unmittelbar intuitiv gegebene hervor, indem er erklärt, er „sehe“ (ebd. S. 91), daß durch Reflexi-

onsakte das Ich sich jedesmal spaltet in das reflektierte, thematisierte und gewußte Ich einerseits und das reflektierende, seiner nicht bewußte, „latente“ Ich andererseits, daß das Ich auf diesen

verschiedenen Stufen sich aber immer als dasselbe wisse. Ent-

zweiung in Subjekt und Objekt und Selbstidentifikation gehören beide gleichermaßen zum Ich. Wie aber die Erkenntnis der Selbigkeit des Ich angesichts verschiedener gestufter Akte und ihrer jeweiligen Vollzugssubjekte möglich ist, bleibt zunächst noch offen.

26 E. Husserl: Erste Philosophie. T. 2. In: Husserliana (im Folgenden: Hua). VII. Hrsg. von R. Boehm. Den Haag 1959, S. 90, vgl. hier und im Folgenden S. 87-91.

27 S. oben Anm. 2. 131

In einer Beilage zur Krisis skizziert Husserl erneut die geschilderte Iteration, die prinzipiell ins Unendliche führen kann und überlegt, ob die „Iteration wesensmäßig immer wieder Verschiedenes

ergeben kann oder ob sich [...] der Wesensgehalt des Neuen nur wiederholt“?®. Von verschiedener inhaltlicher Bedeutung sind zwar das Ich, das den auf ein anderes Objekt, z.B. das Haus gerichteten

Akt ausübt, und das Ich, das auf diesen Akt und dessen Ich re-

flektiert. Auf allen höheren Stufen der Reflexion aber ergibt sich inhaltlich immer nur, daß ein reflektierendes Ich sich auf ein re-

flektiertes richtet und sich damit eins weiß. Die unendliche Iteration erbringt somit keinen

neuen

Gedanken

mehr;

das Ich ist

jeweils in verschiedener Hinsicht reflektierendes und reflektiertes und dies ist auf allen Reflexionsstufen - zunächst außer der ersten - immer dasselbe. Da aber auch auf das Vollzugsich des ein anderes Objekt intendierenden Akts reflektiert werden kann mit dem Index, das Ich zu erfassen, das ihn vollzieht und mit dem das reflektierende Ich sich eins weiß, ist auch das reflektierte Ich der ersten Stufe in Einheit mit dem darauf reflektierenden dasselbe wie das reflektierende und reflektierte Ich, das sıch auf den höhe-

ren Stufen und über die verschiedenen Stufen hinweg als eins weiß. So läßt sich Husserls intuitiv geäußerte Auffassung explizieren, das Ich wisse sich trotz der „Spaltung“, besser: der Stufung in

reflektierendes und reflektiertes doch als eines und dasselbe. Husserl verwendet hierbei das Modell der Subjekt-Objekt-Be-

ziehung für Selbstbewußtsein als Grundlage der Selbsterkenntnis durch Reflexion. Das Argument der unendlichen Iteration ist, wie 28 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften. In: Husserliana VI. Hrsg. von W. Biemel. 2. Aufl. Den Haag 1962, S. 458. - Landgrebe deutet das jeweilige „latente“ oder „anonyme“ (ebd.) Ich, das seiner nicht bewußt ist und doch als Vollzugssubjekt fungiert, als Vorwegnahme von Sartres „Cogito prereflexif“ und sieht darin einen der gewichtigen Gründe, den Cartesianısmus zu verlassen. Diese interessante Deutung dürfte wohl Husserls Intentionen nicht entsprechen; vgl. L. Landgrebe: Husserls Abschied vom Cartesianismus. In: Ders.: Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung. Gütersloh 1963, bes. S. 193ff., 201ff. 132

Husserls Darlegung evident zeigt, an diese Zweigliedrigkeit der Selbstbeziehung gebunden. Husserl scheint diesem Modell auch mit der Lehre von der Korrelation von Noesis und Noema z.B. in

Ideen I zu folgen; genauer betrachtet, ıst diese Korrelation ın

Fortführung der schon in den Logischen Untersuchungen dargelegten Unterscheidungen zwischen Erlebnisakt, Bewußtseinsinhalt, intentionalem und realem Gegenstand aber vielfältiger. Die

Noesen

oder Vorstellungsleistungen von bestimmter Art, z.B.

Wahrnehmen, Phantasieren oder Denken und deren Modifikatio-

nen, konstituieren zunächst bestimmte entsprechende Vorstellungsinhalte wie z.B. diese Seite eines wahrgenommenen Hauses. Erst

die Synthesis verschiedener derartiger Vorstellungsinhalte führt zu dem noematischen, immer noch bewußtseinsimmanent bleibenden Gegenstand, der von den Noesen intendiert wird und der einen Horizont weiterer möglicher Bestimmungen mit sich führt.

Der reale äußere Gegenstand bleibt in der phänomenologischen Reduktion außer Betracht. Doch auch in der Bewußtseinsimma-

nenz ist die Beziehungsstruktur bereits von der genannten Mehr-

gliedrigkeit, deren Hauptglieder Noesis, Vorstellungsinhalt und noematischer Gegenstand sind, so daß der Vorwurf der unendlichen Iteration, der sich auf die zweigliedrige Subjekt-ObjektKorrelation bezieht, darauf nicht zutreffen kann. Für Husserl ıst es zudem selbstverständlich, daß das Ich sich selbst gegenwärtig und darin seiner bewußt ıst, daß es sıch also nicht immer wieder

entgeht.”” Solche Selbstgegenwärtigkeit, die in unterschiedlichen Graden originärer Lebendigkeit zustande kommen kann, ist für Husserl prinzipiell intuitiv gegeben.

b. Während Husserl an dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung als Grundstruktur festzuhalten sucht, diese aber phänomeno-

logisch differenziert und dadurch umgestaltet, hebt Heidegger 29 Natorps Prinzip des reinen, seiner selbst nicht bewußten, für sich dunklen

Ich, mit dem Natorp sich an Kants Lehre anschließen zu können glaubt (vgl. oben Anm. 8), akzeptiert Husserl nicht. 133

schärfer die Probleme dieses Modells hervor und setzt seine Theorie entschieden dagegen ab. In lockerer Anspielung auf das Kantische Zirkelargument zu Beginn der „Paralogismen“ erklärt Heidegger

in seiner Vorlesung: Die Grundprobleme der Phänomenologie (vom Sommer 1927), daß auf das ‚Ich denke’ als Prinzip die durch es begründeten Kategorien nicht angewendet werden können. Nach Heideggers Deutung beruht diese Nichtanwendbarkeit und

d.h. auch Kants Zirkelargument letztlich darauf, daß Kategorien Begriffe von Seiendem als Vorhandenem seien, daß das Ich aber nicht in demselben

Sinne ein Vorhandenes

sei, was

Kant

hier

wohl wenigstens geahnt habe.” Hinter dieser Deutung steht Heideggers eigenes damaliges Programm einer spezifischen Ontologie der konkreten Subjektivität; daß auch Fichte und Hegel, wie gezeigt, erklärten, auf das Ich seien nicht einfach die Kantischen Kategorien, speziell die Kategorie der Substanz anzuwenden, weil

es von grundlegend anderer, nämlich geistiger und selbstbezüglicher Struktur sei, wird von Heidegger damals nicht genauer beachtet.! 30 Vgl. M. Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 24. Hrsg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt a. M. 1975, S. 204; vgl. 181f. Vgl. auch erwa Bd. 21. Hrsg. von W. Biemel. Frankfurt a. M. 1976, S. 322ff., 338ff. und Sein und Zeit. 8. Aufl. Tübingen 1957, $ 64, bes. $. 318ff. Heideggers Stellungnahme zu Kants Ichbegriff wird in der Literatur zu Heideggers Kant-Deutung bisher weniger beachtet; vgl. zu diesem Problem aber A. Fabris: Soggetto ed essere nell’ interpretazione Heideggeriana di Kant. In: Teoria VI1/1 (1987), bes. S. 110ff., ders.: Filosofia, storia, temporalitä. Heidegger e „I problemi fondamentali della fenomenologia“. Pisa 1988, bes. S. 83ff. Vgl. ebenso die ausführliche Untersuchung von D. Dahlstrom: Heideggers Kant-Kommentar, 1925-1936. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 96 (1989), S. 343-366. Zur Darlegung und zu weiterer Literatur sei der Verweis erlaubt auf die Studie des Verf.s: Selbstbewußtseinsmodelle. Apperzeption und Zeitbewußtsein in Heideggers Auseinandersetzung mit Kant. In: Zeiterfahrung und Personalität. Hrsg. von P. Rohs. Frankfurt a. M. 1991, S. 90-123. Zum

Gesamtbild von

Heideggers Kant-Deutung vgl. J.-F. Courtine: Heidegger et la phenomenologie. Parıs 1990, S. 107-127. 31 Vgl. etwa die kurze Fichte-Anspielung M. Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 24, $. 201, auch die Hegel-Anspielung ebd. S. 226.

134

Insbesondere dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung, wie

es für Heidegger noch etwa Natorp und Rickert vertraten”, liegt die traditionelle Ontologie der Vorhandenheit zugrunde; in der

Selbsterfassung des Subjekts als Objekt wird es als Vorhandenes verstanden. Die Unangemessenheit solchen Verständnisses zeigt sich nach Heidegger unmittelbar daran, daß die „Existenz der

Subjekt-Objekt-Beziehung“”” immer vom Ich und dessen Dasein abhängig ist, womit sich der Vorwurf der unendlichen Iteration

nahelegt; denn wenn das der Subjekt-Objekt-Beziehung vorausgehende Ich wiederum nach dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung zu verstehen ist, muß erneut ein vorausgehendes Ich an-

genommen werden usf.; das Ich wird auf diese Weise nicht genuin erfaßt; das Verständnis des Ich nach dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung bleibt diesem und dessen Seinsart nach Heidegger

ganz unangemessen. Heidegger wendet sich auch gegen das Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein, das seiner Auffassung nach Kant vertrat, das,

wie gezeigt, Husserl dezidiert aufgriff und ausführte und das auch

sonst oft angewendet wird. Nach diesem Modell kommt Selbstbeziehung des Selbstbewußtseins dadurch zustande, daß es zunächst einen Akt ausübt, der sich intentional auf einen anderen

Gegenstand richtet, und dann in einem weiteren Akt auf sich zurückkommt und sich selbst, wie Heidegger nahelegt, als Gegen-

stand oder Objekt vorstellt.”* In dieser Version aber führt das Reflexionsmodell auf das Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung und dessen ungelöste Probleme zurück.

Auf die angegebenen Weisen also kann die Selbstbeziehung des Selbstbewußtseins nach Heidegger nicht erfaßt werden. Heidegger deutet in seinen Kant-Interpretationen jedoch eine Weise der

Selbsterfassung an, die von den erwähnten Einwänden nicht getroffen wird. Er knüpft dabei an Kants Theorie der Selbstaffektion 32 Vgl. ebd. S. 221f. 33 Ebd. S. 223.

34 Vgl. ebd. S. 225ff.

135

an, nach der das aktive, spontane Subjekt auf sich als das passivsinnliche einwirkt und dabei in der Bestimmung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes Zeitbestimmungen hervorbringt. Die darin

enthaltene Selbstbezüglichkeit deutet Heidegger als ein „Sichselbstangehen des Selbst“ im Begegnenlassen von Seiendem, genauer: als ein „Mitenthülltsein des Selbst im seinsverstehenden Sichrich-

ten auf Seiendes“?°. Das Modell dieser Selbsterfassung könnte man das phänomenologische Horizontmodell von Selbstbewußtsein nennen. Im Konstituieren von Zeitbestimmungen als grundlegenden Bestimmungen des Seienden ist das Selbst sich horizonthaft,

aber unthematisch miterschlossen. Heidegger verwendet hierbei Husserls Unterscheidung zwischen intentionalen Akten, die sich in

klarem thematischem Bewußtsein auf etwas richten, und intentionalen Erlebnissen, in denen etwas zugleich horizonthaft und unthematisch mitbewußt ist, für die Bestimmung dieses besonderen Typs von Selbstbeziehung. Solche Selbstbeziehung nach dem

phänomenologischen Horizontmodell kann einerseits beim Selbst in traditionell-ontologischem Verständnis zustande kommen, wie Kant dies nach Heidegger speziell mit der „Selbstaffektion“ ange-

deutet hat; andererseits und eigentlich gilt diese Selbstbeziehung vom besorgenden Dasein als In-der-Welt-sein, das sich im Bilden

seines Verständnisses von Seiendem durch Zeitbestimmungen immer schon horizonthaft und unthematisch miterschlossen ist. Auf dieses Selbstbeziehungsmodell können der Zirkeleinwand und der Vorwurf der unendlichen

Iteration nicht zutreffen, da

hier keine Subjekt-Objekt-Relation, nämlich keine zweistellige Relation selbständiger, thematisch vorgestellter, korrelativer Bedeutungsinstanzen vorliegt. Alles nur horizonthaft und unthematisch Mitbewußte kann eigens thematisiert und zu klarem Bewußtsein gebracht werden, auch das unthematisch sich miterschlossene Selbst. Es erhält dann eine andere Weise von Selbstbeziehung; für Heidegger ist sich das 35 M. Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 21, S. 339 sowie Bd. 24, S. 224. Vgl. Bd. 21,$. 331.

136

Selbst des konkreten Daseins thematisch primär in der unmittelbaren Befindlichkeit seiner Stimmungen erschlossen. Die Grund-

befindlichkeit, in der das Selbst rein vor sich selbst gelangt, ist nach Heideggers Ansicht die Angst. Gleichgültig, ob diese umstrittene inhaltliche Qualifizierung nun zutrifft oder nicht, die darin liegende formale Selbstbeziehungsart folgt einem neuen

Grundtypus der als Modell der thematischen Unmittelbarkeit von Selbstbeziehung bezeichnet werden kann. Das Selbst ist darin seiner als grundlegend gestimmtes in seiner Befindlichkeit inne. Auch in dieser Selbstbeziehung findet keine thematische Unterscheidung zwischen selbständigen, aber korrelativen Bedeutungsinstanzen, etwa von Subjekt und Objekt statt, so daß Zirkel- und Iterationseinwand auch hier nicht zutreffen können; in der un-

mittelbaren Selbstbeziehung der Gestimmtheit sind erfahrendes und erfahrenes Selbst thematisch eins als gestimmtes Selbst. - Eine

Selbstbewußtseinstheorie mit der Darlegung verschiedener Selbstbeziehungstypen ist also durchaus möglich, auch wenn man - wie offenbar Heidegger - den Zirkel- und den Iterationseinwand ge-

gen die Selbstbeziehung, die nach dem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung vorgestellt wird, für zutreffend hält. Schluß: So hat sich wohl gezeigt, daß eine Theorie des Selbstbewußtseins durchaus möglich ist, die Typen der Selbstbeziehung entwickelt, ohne dabei Selbstbeziehung nach dem Modell der Sub-

jekt-Objekt-Beziehung zu konzipieren. Gegen eine solche Theorie lassen sich der Zirkel- und der Iterationseinwand nicht mehr erheben. Aus Heideggers Auseinandersetzung mit Kant und aus Heideggers eigener Fundamentalontologie kann man entnehmen,

daß Selbstbeziehung ohne Subjekt-Objekt-Korrelation beispielhaft nach dem phänomenologischen Horizontmodell und nach dem Modell thematischer Unmittelbarkeit der Selbstvorstellung gedacht werden kann; nur dies sollte hier an Heideggers Darlegungen aufgewiesen werden. Doch auch eine Selbstbewußtseinstheorie, die das Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung verwendet, muß durchaus nicht jenen 137

Einwänden rettungslos ausgeliefert sein; sie lassen sich vielmehr

wirksam vermeiden. Kants Zirkelargument, so hatte sich gezeigt, ist nicht das Argument eines Zirkels in der Definition von Selbst-

bewußtsein. Wie dieser Zirkel in der Definition bzw. die unendliche Iteration im wesentlichen unschädlich ist für eine reflexive und erst recht für eine komplexer bestimmte Selbstbeziehung des Ich, läßt sich aus Husserls Theorie entnehmen; in welchen Weisen diese Einwände sich sogar argumentativ vermeiden lassen, kann

man aus Fichtes und insbesondere aus Hegels Theorie ersehen.

Fichte entgeht dem ausführlich von ihm formulierten Vorwurf der unendlichen Iteration der Voraussetzung des Ich ın der Selbstvorstellung durch seine Konzeption der intellektuellen Selbstanschauung. Fichte bestimmt die darin enthaltene Selbstbeziehung als Subjekt-Objekt-Einheit, obwohl hierbei Subjekt und Objekt noch keine unterschiedenen, thematisch vorgestellten, selbständigen Be-

deutungsinstanzen darstellen, was für das Modell der SubjektObjekt-Beziehung eigentlich erforderlich wäre; ferner muß man für diese Lösung die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung in Fichtes Sinne akzeptieren. Hegels Lösung ist eine andere; in ihr haben Subjekt und Objekt eine thematisch vorstellbare, je verschiedene, selbständige Be-

deutung, die jedoch in ein komplexeres Selbstbeziehungsmodell integriert wird. Da nun die erfüllte Selbstbeziehung des reinen Denkens seiner selbst in ihrer Komplexität erst am Ende einer langen stufenartigen Entwicklung steht, geht dieser erfüllten Selbstbeziehung der vollendeten Subjektivität nicht wieder die voll-

ständig entwickelte erfüllte Selbstbeziehung voraus; es gehen vielmehr einfachere Momente und Bestimmungen voraus, aus deren

Stufenfolge sich erst jene erfüllte Selbstbeziehung konstituiert. Eine unendliche Iteration der Voraussetzung der Subjektivität für deren erfüllte Selbstvorstellung findet also nicht statt, und damit

ergibt sich auch kein Zirkel in der Bestimmung der vollendeten Selbstbeziehung der Subjektivität. Eine Theorie des Selbstbewußstseins ist also auch dann möglich,

wenn sich in ihr - z.B. ın der Bestimmung komplexerer Weisen 138

der Selbstbeziehung — das Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht vermeiden läßt. Dies dürfte z.B. bei der Selbsterkenntnis der Fall sein.” Hier schreibt das Selbst sich Eigenschaften zu und

versucht sich selbst als synthetische, wenngleich ursprüngliche Einheit zumindest seiner wesentlichen Eigenschaften zu bestimmen; dabei betrachtet es sein vorgestelltes Selbst als intentionales

Objekt in formalem Sinne; über die Seinsart des vorgestellten Selbst wird dadurch nichts entschieden. Da das Selbst als lebendiges Dasein mit diesem Prozeß der Selbstbestimmung aber offenbar nicht an ein definitives Ende

kommt,

bleibt das Verhältnis

von Subjekt und Objekt in dieser Selbsterkenntnis asymmertrisch. — Auch die voluntative Selbstbestimmung impliziert eine SubjektObjekt-Beziehung. Hierbei entwirft das Selbst in neuen wesentlichen

Möglichkeiten

sein eigenes Dasein,

das es erreichen will.

Basis für solche selbstbezügliche Zielvorstellung ist das vorgestellte Selbst, wie es in der soeben skizzierten Selbsterkenntnis erlangt wird. Das darüber hinaus entworfene Selbst, das das entwerfende Selbst sein will, wird ebenfalls - ohne ontologische Vorentscheidung - als intentionales Objekt in formalem Sinn vorgestellt, mit dem das entwerfende Selbst sich zwar identifiziert, mit dem es aber inhaltlich nicht deckungsgleich ist; auch hier

bleibt die Subjekt-Objekt-Beziehung asymmerrisch. Die unendliche Iteration und der Zirkel des Selbstbewußtseins werden durch solche Asymmetrie vermieden; dem vorgestellten Selbst in seinen Bestimmungen geht inhaltlich nicht dieselbe Bestimmtheit des vorstellenden Selbst voraus. Jene Einwände werden generell vermieden durch die stufenartige Entwicklung der Selbstbeziehungsweisen, so daß der jeweiligen Selbstbeziehung nicht immer wieder das gleiche inhaltlich bestimmte Ich vorausgeht. - Die verschiedenen Grundtypen der Selbstbeziehung (von 36 Zur folgenden Skizze mag es gestattet sein, die Studie des Verf.s zu erwähnen: Typen der Selbstbeziehung. Erörterungen im Ausgang von Heideggers Auseinandersetzung mit Kant. In: Systeme im Denken der Gegenwart. Hrsg. von H.-D. Klein. Bonn 1993, $. 107-122.

139

denen hier einige erwähnt wurden, gehören alle zum vollständi-

gen Selbstbewußtsein und müssen in systematischer Anordnung stufenweise

entwickelt

werden,

angefangen

von

der einfachen,

noch unthematischen Unmittelbarkeit der Selbstbeziehung, wie

sie im phänomenologischen Horizontmodell gedacht wird, bis zur hochkomplexen Vermittlung innerhalb der Selbstbeziehung, wie sie sich z.B. in der voluntativen Selbstbestimmung findet. So wird Selbstbewußtsein in den vielfältigen Weisen seiner Selbstbe-

ziehung vollständig erst gemäß einem integrativen Entwicklungsmodell von Selbstbewußtsein expliziert werden können.

140

II. Subjektivitätstheorie und Metaphysik ım spekulativen Idealismus

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Konstitution und Struktur der Identität des Ich Kants Theorie der Apperzeption und Hegels Kritik

Die Philosophie der Neuzeit geht seit Descartes vom Prinzip der

Identität des Selbst oder vom Prinzip des Selbstbewußtseins aus und entwickelt unterschiedliche Modelle einer Theorie der Subjektivität. Seit Ende des 19. Jahrhunderts aber werden Begriff und Theorie des Selbstbewußtseins oder des Ich nahezu einhellig, wenn

auch mit ganz verschiedenen Argumenten kritisiert. Nicht immer ist dabei deutlich, ob sich die Kritik spezifisch gegen einen Begriff

des empirischen Selbstbewußtseins als selbstbezügliches Subjekt seiner Erfahrungen oder gegen einen Begriff des reinen Selbstbewußtseins als Subjekt des reinen Denkens von logischen Regeln und Kategorien oder aber gegen beides richtet; Vorwürfe gegen den einen Begriff treffen aber nicht ohne weiteres den anderen. Ferner sınd Einwände gegen eine historische Theorie, in der die kritisierten Begriffe ihren Platz haben, wenn sie zutreffen, nicht

notwendig gültig gegen eine andere. Ernst Mach! erklärt, um einige Vorwürfe anzuführen, allge-

mein und ohne Wendung gegen eine spezifische Subjektivitätstheorie, das Ich sei nicht zu retten; dies gilt für das empirische ebenso wie für das reine Ich, da sich beide in psychologischen Deskriptionen als einfache Gegebenheiten nicht vorfinden. Für 1

Vgl. E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhaltnis des Physıschen zum Psychischen. 6. Aufl. Jena 1911, S. 18ff.; vgl. zum Folgenden E. Husserl:

Logische

Untersuchungen.

Halle

1900/01,

Bd. 2, S. 325-342,

W.

James: The Principles of Psychology. London o.). Bd. 1, S. 329ff., ders.: Does Consciousness exist? In: Essays in Radical Empiricism. 2. Aufl. New York 1922, S, 1ff,

143

den frühen Husserl vor seiner Begründung der transzendentalen Phänomenologie ist ein über den Erlebnissen schwebendes, sie angeblich synthetisierendes Ich deskriptiv nicht ausweisbar; er lehnt damit ein reines, apriorisches Ich ab, aber auch ein empirisches Selbstbewußtsein, sofern es über das Bewußtsein als Inbegriff von Erlebnissen hinausgeht. Ebenso wendet sich William James gegen die Annahme eines reinen Ich, sowohl des transzendentalen, wie Kant es lehrte, als auch des substantiellen, das z.B. Descartes vertrat, und läßt ein empirisches Ich nur als Bewußt-

seinsstrom mit relativer Identität in verschiedenen Erlebnisphasen zu. Diese Auffassung integriert er in die Theorie des neutralen Monismus, nach der das Bewußtsein keine selbständige Entität ıst. James’ neutralen Monismus nimmt Russell? später auf; er kritisiert in diesem Rahmen insbesondere Descartes’ Auffassung vom „Ego cogito“, nämlich, daß dieses Substanz sei und selbständig

existiere, ja daß Denken überhaupt von einem Ich vollzogen werden müsse. Warum

sollte man nicht sagen können:

„Es denkt“

wie: „Es regnet hier“? Russell folgt damit einer Überlegung von James, faktisch aber einem geistreichen Votum Lichtenbergs für die Möglichkeit

der Aussage:

„Es denkt“

in Analogie

zu: „Es

blitzt“. Denken wird hierbei als ein zeitlicher psychischer Vorgang verstanden, der empirisch feststellbar ist, so daß mit dieser impersonalen Formulierung ein empirisches Ich bestritten wird. Die Bestreitung eines reinen, apriorischen Ich ist für Russell ohnehin selbstverständlich. Noch radikaler beseitigt Gilbert Ryle ın seiner behavioristischen Theorie das Ich als unabhängige Entität; er gesteht nicht einmal mehr — wie noch James und Russell - Introspektion zu. Auch er wendet sich vor allem gegen Descartes’ Theorie, die seiner Meinung nach den Mythos von der geistigen Welt als einem zweiten Theater in selbständiger Existenz gegenüber 2

Vgl. B. Russell: The Analysis of Mind. 10. Aufl. London 1971, $. 9ff., ders.: Ar Outline of Philosophy. 8. Aufl. London 1961, S. 218ff.; vgl. zum Folgenden J.Chr. Lichtenberg: Aphorismen. Hrsg. von A. Leitzmann. Bd. 5. Berlin 1908, $S. 128, Bd. 3. Berlin 1906, S. 7f.; G. Ryle: The Concept of Mind. London 1968 (zuerst 1949), S. 186ff.

144

der Körperwelt aufgebracht habe. Geistige Leistungen seien, wie er betont, höherstufig gegenüber körperlichen wegen ihres anderen logischen Status, aber zugleich von deren Gegebensein abhängig. So sei auch das Ich, gemeint ist das empirische, in seinem Selbstbewußtsein nur eine höherstufige Reflexionsleistung gegen-

über einfachen Vorstellungen und ihren Inhalten. Daher entgehe es sich selbst immer wieder, wenn es sich selbst als Gegenstand zu erfassen suche; es sei systematisch flüchtig und letztlich nicht begreifbar. Dieser Einwand richtet sich gegen jede Art der Selbst-

Vorstellung des Ich. Eine andere Art von Einwänden gegen das Ich liefert die Kritik, die als die ontologische bezeichnet werden kann. In ihr wird

der Grundlegungscharakter des Ich in der neuzeitlichen Philosophie abgelehnt, weil - wie für Nicolai Hartmann? - die allgemeine ontologische Bedeutung der Kategorien des Seienden vorausgehe

oder weıl - wie für den späten Heidegger — das Sein und dessen Geschichte allen Versuchen der Begründung der Erkenntnis, auch

dem subjektivitätstheoretischen Versuch, der selbst eine geschichtliche Position sei, zugrunde liege. - Wieder anders argumentiert der marxistische Einwand, der das Selbstbewußtsein, insbesondere

das reine apriorische Ich als Hypostasierung des bürgerlichen Subjekts zu entfüllen beansprucht, das aus der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Widersprüchen herausgelöst worden sei. Die Prämissen dieser Einwände sind sehr verschieden und untereinander teilweise inkompatibel. Einer der Einwände jedoch ist von diesen Prämissen unabhängig, da er die logische Möglichkeit

der Selbsterfassung des Ich bezweifelt. Er wird von Henrich für sich entwickelt, ist aber auch in Ryles These von der Flüchtigkeit

3

Vgl. z.B. N. Hartmann: Der Aufbau der realen Welt. 2. Aufl. Meisenheim a. G. 1949, S. 5ff., auch 512ff., vgl. zum Folgenden bei M. Heidegger z.B. dessen Auseinandersetzung mit Hegel: Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik. In: Identität und Differenz. 4. Aufl. Pfullingen 1957, S. 31ff.; vgl. ferner zur marxistischen Kritik z.B. Th. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Stuttgart 1956, S. 196ff. 145

des Ich enthalten und wird in bezug auf das Denken seiner selbst in ähnlicher Weise faktisch schon von Plotin erhoben.* Danach muß das Vorstellen oder Denken seiner selbst für den Vollzug dieser Unterscheidung und Identifikation bereits vorausgesetzt werden, und wenn dies vorausgesetzte selbstbezügliche Denken eigens gedacht werden soll, so ist es wieder vorauszusetzen usf. ins Unendliche. Dieser Einwand möge das Argument der unendlichen Iteration heißen; da es immer dasselbe Ich ist, das sich erfassen will und sich selbst dafür voraussetzt, ist er auch als

Zirkelargument formuliert worden. Diesen Einwand muß jede Subjektivitätstheorie beachten. Entgegen der Meinung derjenigen, die ihn vertreten, wird er in idealistischen Subjektivitätstheorien ent-

kräftet. - Bei den anderen Einwänden ist das Spektrum der Differenzierungen des Subjektbegriffs in den verschiedenen Theorien oft nicht hinreichend präsent. Die Einwände gegen Descartes’ Philosophie als Einwände gegen die Subjektivitätstheorie überhaupt vernachlässigen die späteren Kritiken und systematischen Weiterführungen von Descartes’ Lehre bis hin zu Kant. Die philosophi-

sche Begründung und Explikation der internen Struktur des reinen, transzendentalen Ich bei Kant sowie die Aufdeckung ihrer Lücken und die dadurch motivierte Veränderung dieser Theorie ın Hegels Logik bleiben in den modernen Kritiken der Subjektivitätstheorie weitgehend außer acht. — Daher sei hier Kants Theorie der reinen Apperzeption erörtert im Hinblick auf Möglichkeiten, aber auch Mängel einer kritischen Subjektivitätstheorie. Hegels Ein-

wände gegen diese Kantische Lehre seien betrachtet im Hinblick auf eine Weiterführung der von Kant nicht vollendeten Subjektivitätstheorie; es seien aber auch seine abweichenden spekulativen

Prämissen sowie seine eigene spekulative Theorie der Subjektivität davon abgehoben. Wenn Kants und Hegels Argumente beachtet und gewürdigt werden, dann dürften einige Einwände, wie sie bisher erhoben wurden, nicht mehr schlagend sein. 4

Vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M. 1967. Vgl. Plotinos: Enneades 11, 9, 1, S. 55ff.

146

I. Eine Betrachtung von Kants Theorie der reinen Apperzeption könnte angesichts der erdrückenden Anzahl von Untersuchungen darüber entweder als überflüssig oder bei Skeptikern als aussichtslos erscheinen. Diese Kantische Theorie sei hier jedoch ın einer spezifischen, weniger beachteten Perspektive erörtert, nämlich im Hinblick auf Ansätze, Probleme und auch Lücken einer krı-

tisch-transzendentalphilosophischen Darlegung der inneren Struktur der reinen Subjektivität und ihrer Konstitution. Diese Fragen be-

rücksichtigen die Idealısten, insbesondere Fichte und Hegel, in ihrer Kant-Kritik. Neuere Interpretationen dieser idealistischen Kant-Krıitik, von denen später noch einige zu erwähnen sind, gehen zumeist von einer Fichteschen oder Hegelschen Position aus. Hier dagegen sollen diese Theorieansätze und Probleme bei Kant

aus dessen eigenen Ausführungen und von der Entwicklung seines Denkens her skizziert werden - unabhängig von solchen idealistischen Interpretationshinsichten. - Im Neukantianismus, um einige Interpretationen zu benennen, z.B. bei Cohen, wird die reine Apperzeption in Kants Lehre als oberstes Prinzip der Er-

kenntnis- und Wissenschaftstheorie angesehen, das den Gebrauch allgemeiner Regeln sowie Objekterkenntnis ermöglicht.” Dagegen 5

Vgl. z.B. H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. 3. Aufl. Berlin 1918, S. 393ff.;

H. Heimsoerh: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (zuerst 1924). In: Studien zur Philosophie I. Kants. Kant-Studien Ergänzungsheft 71. Köln 1956, S. 227-257; M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1951, S. 76ff., 134ff., 171ff. und M. Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 25. Frankfurt a. M. 1977, S. 386ff.; H.]. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience (zuerst 1936). 5. Aufl. London und New York 1970, Bd. 1, S. 396ff., 503ff.; H.J. de Vleeschauwer: La deduction

transcendantale dans l'oeuvre de Kant. 3 Bde. Antwerpen 1934-37; J. Ebbinghaus: Kantinterpretation und Kantkritik (zuerst 1924). In: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Darmstadt 1968, S. 1-23; K. Reich: Die Vollstän-

digkeit der kantischen Urteilstafel (zuerst 1932). 2. Aufl. Berlin 1948, S, 25ff.; P.F. Strawson: The Bounds of Sense (zuerst 1966). 3. Aufl. London 1973, S. 93ff.; J. Bennett: Kant’s Analytic (zuerst 1966). 2. Aufl. Cambridge 1975, S. 100ff.; 147

betont Heimsoeth die enge Verbindung von reiner Apperzeption und personalem Dasein. In verwandter Weise ist für Heidegger die reine Apperzeption innerhalb einer traditionellen Ontologie

ein Begriff menschlichen Daseins, das zeitliche als ontologische Bestimmungen konstituiert. Unabhängig von diesen Auseinandersetzungen zwischen neukantischen und ontologischen Kant-Deutungen verschiedenster Art kommentiert Paton in immanenter

Interpretation Kants Theorie der Apperzeption. Ähnlich geht mit entwicklungsgeschichtlicher Entfaltung de Vleeschauwer vor; Ebbinghaus und Reich retten den Sinn der metaphysischen Deduktion der Kategorien und interpretieren den Begriff der reinen Apperzeption als Prinzip der Logik und Erkenntnistheorie unter

Vermeidung des neukantianischen Zirkels, der im Fortgang von der Erfahrung als wirklicher Erkenntnis zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit besteht, in der dieselbe Erkenntnis betrachtet wird. — Die kritische analytische Interpretation insbesondere

Strawsons und Bennetts weist u.a. Kants Begriff der apriorischen synthetischen Einheit der Apperzeption und speziell Kants Auffassung von deren reiner Synthesis a priori als bedeutungslos zurück. Dagegen umreißt und bestimmt Dryer im historischen Rahmen von Kants Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Metaphysik den Sinn der Kantischen Lehre von Urteil und reinem Selbstbewußtsein. In ausführlicher historisch-rekonstruktiver Analyse hebt Henrich den theoretischen Zusammenhang hervor, der zu Kants Lehre von Apperzeption und Synthesis angelegt ist. In der Fragestellung ist speziell dieser letzten Darlegung die folgende Untersuchung verwandt. Anhand des zentralen Lehrstücks über die reine Apperzeption soll hier Kant tendenziell nicht als analytischer Erfahrungstheoretiker und auch nicht als vorsichtiger, M. Hossenfelder: Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion. Berlin und New York

1978, S. 96ff.; D.P. Dryer: Kant’s Solution for

Verification in Metaphysics. London 1966, S. 117ff.; D. Henrich: /dentität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg 1976, S. 54-112. — Zu weiterer Literatur vgl. den Forschungsbericht von V. Gerhardt und F. Kaulbach: Kant. Darmstadt 1979. 148

zurückhaltender Metaphysiker, sondern als Idealist in kritischen

Grenzen verstanden werden. Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien als der Untersuchung darüber, wie und in welchen Zusammenhängen durch

Kategorien Objekte erkannt werden können, geht notwendig der Erweis der Idealität von Raum und Zeit voraus. Räumliche und

zeitliche Anschauungen als subjektive Vorstellungen müssen sich so zueinander fügen, daß sie ein Objekt, ein Seiendes zu erkennen

geben. Das Objekt als solches ist hierbei nicht etwas anschaulich Gegebenes oder überhaupt Vorfindliches, sondern das Produkt einer Konstitution durch intellektuelle Synthesis; sie ist nach Kant

der Gedanke der Notwendigkeit im Zusammengesetztsein der sinnlichen Anschauungen; dies Zusammengesetztsein kommt nur durch reine, intellektuelle und spontane Synthesis und syntheti-

sche Einheit zustande. Der Vollzug solcher Synthesis ıst das Denken; dieses aber und dessen jeweils in sich einheitliche Leistung, der eine sie leitende synthetische Einheit zugrunde liegt, wird ın der reinen Apperzeption begründet. Kant fundiert damit das reine Denken als solches noch einmal, nämlich im reinen Selbstbewußtsein. Von seiner Theorie des reinen Selbstbewußstseins, zumindest

von dem Teil dieser Theorie, in dem die Objektkonstitution begründet wird, hängt also ein entscheidender Schritt der Deduktion der Kategorien ab. Der reinen Apperzeption kommt nach Kant sowohl die intellektuelle Synthesis der Vorstellungen als auch deren synthetische Einheit zu. Diese Bestimmungen sind jedoch nicht identisch. Die intellektuelle Synthesis ist ein Akt der Spontaneität des Denkens;® das zu synthetisierende Mannigfaltige von Vorstellungen muß frei-

lich vorgegeben sein; es wird nicht im Akt der Synthesis erst erzeugt. Die Synthesis bringt ferner Vorstellungen zusammen unter 6

Vgl. Kr.d.r.V. B 129ff. ($ 15); dazu H.]. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 1, S. 503ff.; D. Henrich: Identität und Objektivität, S. 55ff.; auch hier und

im folgenden vom Verf.: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, S. 196-242. 149

dem leitenden Hinblick auf eine Einheit des Inhalts der verschie-

denen Vorstellungen. Was auf diese Weise durch die Synthesis konstituiert wird, ist die Einheit eines Sachverhalts im gegebenen

Mannigfaltigen. Sie ist jedoch selbst nur möglich durch die Einheit des Selbstbewußtseins’, die den Vollzug und die Einheit der Synthesis der Vorstellungen garantiert. Damit ıst eın Begründungsgefüge von Synthesis und synthetischer Einheit ım reinen Selbstbewußstsein als solchen angedeutet. - Die zugrunde liegende Einheit des Selbstbewußtseins ist nach Kant nun zugleich Einfachheit. Wäre nämlich diese Einheit aus disparaten Momenten zusammengesetzt, dann wäre das Selbstbewußstsein als konstituie-

render Grund nicht in sich selbst einheitlich und könnte nicht die ursprüngliche Einheit eines Gedankens und des in ihm Gedachten hervorbringen. Diese Zusammenhänge werden von Kant beschrieben, z.T. nur angedeutet, aber nicht eigens ın einer Theorie der Subjektivität

entwickelt. Einiges ist für ıhn dabei selbstverständlich, was hier hervorgehoben sei. So ist für Kant z.B. nicht die bewußte Vorstellung des „Ich denke“ oder der Einheit des Selbst in aktueller Ge-

genwärtigkeit, sondern nur die Möglichkeit solcher synthetischen Einheit für den Vollzug der Synthesis erforderlich. Das Selbstbe-

wußtsein als solches muß also nicht in bestimmten psychischen Akten der Vorstellung präsent sein; es muß nur überhaupt vorgestellt werden können. Erweist sich dies freilich bei einer Synthesis verschiedener Vorstellungen als unmöglich, so sind diese Vorstel-

lungen entweder widersprüchlich oder wenigstens für das Selbst nichts. —- Ferner unterscheidet Kant in der zweiten Auflage der

Kritik der reinen Vernunft, der unsere Untersuchung folgt, deutlicher als in der ersten zwischen intellektueller Synthesis, die dem 7

Kants Ausdruck:

„Einheit des Selbstbewußtseins“ schließt oft zwei Bedeu-

tungen ein; sie ist englisch „unity“ als in sich einige Ganzheit verschiedener Vorstellungen und zugleich „identity“ als Selbigkeir des Einen und Selben ın diesen vielen Vorstellungen. Auch an dieser Stelle ist beides gemeint. Vgl. unten die Ausführungen zu Kants eigener, analoger Unterscheidung zwischen synthetischer und analytischer Einheit der Apperzeption. 150

Verstand, und figürlicher Synthesis, die der Einbildungskraft zukommt. In der ersten Auflage hatte Kant gelegentlich die Einbildungskraft ım allgemeinen als das Vermögen der Synthesis bestimmt; die metaphysischen Urteile aber, die widerspruchsfrei denkbar sind, auch wenn sie keine Erkenntnisse liefern, oder reine praktische Erkenntnisse setzen eine rein intellektuelle Synthesis ohne Einbildungskraft voraus. Kants Identifikation der reinen Synthesis mit der Synthesis des Verstandes ist jedoch noch weiterer Begründung bedürftig. Denn die Synthesis des Verstandes, die die logische Einheit in theoretischen Urteilen zustande

bringt, ist einmal nur eine Art reiner

Synthesis z.B. neben derjenigen, die Einheit in ästhetischen Urteilen konstituiert. Durch Kants scheinbar selbstverständliche Festlegung, die durch das Beweisziel, die objektive Realität der Kategorien aufzuzeigen, motiviert ist, wird der Sinn des Subjekts, das diese reine Synthesis ausübt, von vornherein begrenzt. Zum ande-

ren ist die Ansetzung einer solchen reinen Verstandessynthesis nicht ganz so fraglos, wie Kant noch glauben konnte. Sie dürfte jedoch als wohlbegründet erscheinen, wenn man - wie hier nur skizziert werden kann - bedenkt, daß logische Bestimmungen und Gesetze, deren apodiktische Gültigkeit und damit Apriorität vorauszusetzen ist, sonst an sich und ohne ein Denken müßten bestehen und gelten können. Die Voraussetzung der apodiktischen Gültigkeit und Apriorität logischer Gesetze müßte freilich, was hier nicht geschehen kann, eigens als berechtigt erwiesen werden. Trifft sie aber zu, dann können diese Gesetze nur gelten,

wenn sie denkbar sind und gedacht werden. Ein Denkbares und Gedachtes ohne Denken wäre lediglich ein willkürliches Abstraktionsprodukt. Das Denken, die reine intellektuelle Synthesis, ist

dabei freilich kein psychischer Vorgang, der empirisch feststellbar wäre; es handelt sich vielmehr um reine mentale Akte als Aus-

übungen der reinen Spontaneität, durch die apriorische logische Gesetze Gedanken werden. Diesen apriorischen Akten kommt ın Kantischer Theorie keine gesonderte, reale Existenz zu; sie stellen

insofern nur die idealen Konstitutionsprinzipien für diejenigen 151

psychischen Ereignisse dar, die man im Unterschied zu Wahrnehmungen oder Träumen mit einiger Legitimation als tatsächlich geschehene Denkhandlungen bestimmen kann. Kant setzt außerdem ein Subjekt dieser reinen, apriorischen Denkakte an, das reine Ich oder Selbstbewußtsein. Denn einmal

wird ein reiner Denkakt spontan ausgeübt. So kann er nicht als anderweilig erwirkt aufgefaßt werden; damit entfällt z.B. die neu-

platonische Erklärung, das Denken komme durch Emanation aus dem Einen zustande, ebenso eine Erklärung theologischer Art, es sei eine göttliche Wirkung im Ich. Nun ist dasjenige, was spontan, aus sich heraus und gleichsam autonom aktıv ıst, ein Subjekt seıner ihm eigenen Aktivität. Daher kann nur ein solches Subjekt diese spontanen Denkakte ausüben. Zusammenhänge mit der Spon-

taneität des reinen Willens einer sittlichen Person liegen hier nahe und sind bei Kant angedeutet; sie werden freilich nicht aus der Einheit der Subjektivität entwickelt.® Zum anderen kann ein anonymes, ichloses Geschehen des reinen Denkens auch deshalb nicht

angenommen werden, weil die logische Einheit in Urteilen, die durch intellektuelle Verbindung zustande kommt, selbst als notwendige und gültige eingesehen werden muß.” Dabei bezieht sich das Denken, das auf die logische Einheit und die sie konstituierende Verbindung reflektiert, auf dasjenige Denken, das die ıntel-

lektuelle Synthesis zustande bringt, und weiß sich in beidem, wenn auch auf verschiedenen Stufen, als dasselbe Denken. Daher ist es reines Selbstbewußtsein, das seine eigene Synthesis als regelhaft

8

9

Vgl. zu diesen Zusammenhängen H. Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (s. Anm. 5) und I. Heidemann: Spontaneität und Zeitlichkeit. Ein Problem der Kritik der reinen Vernunft. Kant-Studien Ergänzungsheft 75. Köln 1958, S. 185ff., N. Rotenstreich: Theory and practice in Kant and Hegel. In: Kant oder Hegel?: Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1983, S. 99-128. Vgl. zu diesem Gedanken (auch) D.P. Dryer: Kant’s Solution for Verification in Metaphysics, S. 121. - Vgl. zum Folgenden Kr.d.r.V. B 158 „[...] daß ich mich denke [...}“, ferner 135.

152

erkennt, sich ihrer als seiner Leistung bewußt ist und damit, worauf auch Kant hinweist, sich selbst denkt.

Dies Problem des Verhältnisses synthetischer Einheit zur denkenden Selbstbeziehung des reinen Selbstbewußtseins liegt auch Kants Bestimmung des Verhältnisses zwischen synthetischer und

analytischer Einheit der Apperzeption zugrunde.'? Vorstellungen gehören nicht schon dadurch zur Einheit des Selbstbewußtseins, daß jede einzelne für sich bewußt, d.h. klar und von anderen abgehoben vorgestellt wird. Vielmehr muß eine zur anderen hinzugesetzt und so eine Verbindung unter ihnen zustande gebracht werden. Eine solche Synthesis aber wird zu einer in sich einheitlichen Handlung nur durch die synthetische Einheit der Apperzeption. So werden z.B. Vorstellungsinhalte, die nacheinander ins Bewußtsein treten und jeweils für sich klar sein können, durch regel-

hafte Synthesis in ein notwendiges Zeitfolge-Verhältnis gebracht gemäß der Einheit gebenden Kategorie der Kausalität, die in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins begründet ist. Dem-

gegenüber ist nach Kant die analytische Einheit der Apperzeption eine Gewißheit des denkenden Ich von seiner Identität ın den verschiedenen Vorstellungen und in den verschiedenen Phasen seiner Synthesis; mithin denkt hierin das Ich sich selbst. An dieser subjektivitätstheoretischen Bedeutung, die sich hier ergibt, ist Kant freilich weniger interessiert als an dem epistemologischen Begründungssinn der analytischen Einheit des Selbstbewußtseins; sie fundiert den Gedanken eines Inhalts, der in den verschiedensten

10 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 133f. Paton beachtet diese Stelle in seinem Kommentar; er übergeht freilich die spezifische Problematik im Verhältnis dieser Bestimmungen, vgl. Kant’s Metaphysic of Experience. Bd. 1, S. 513f. Vgl. aber L. Lugarini: La logica trascendentale kantiana. Milano-Messina 1950, S. 183ff. und vom Verf.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Hegel-Studien Beiheft 15. 3. Aufl. Bonn 1995, S. 237ff.

153

Vorstellungen identisch bleibt, d.h. die analytische Identität eines

diskursiven Begriffs. - Diese Bestimmungen der analytischen und der synthetischen Einheit gehören zur Struktur des reinen Selbstbewußtseins. Weder kann der Akt der reinen Synthesis, der in sich einheitlich wird durch die ihn leitende synthetische Einheit, noch diese Einheit selbst als anonymer, subjektloser Sachverhalt verstanden

werden;

beides

muß

dem

reinen

Selbstbewußtsein

zukommen. Das Selbstbewußtsein muß daher den Akt als seine eigene Leistung, dessen Einheit als seine eigene Einheit ansehen und sich selbst in ihnen als identisches wissen. Kant ordnet freilich die analytische der synthetischen Einheit der Apperzeption nach;

denn für ihn kann erst aufgrund der Synthesis verschiedener Vorstellungen und ihrer synthetischen Einheit ein Bewußtsein der Identität des Ich in diesen synthetisierten Vorstellungen und damit eine denkende Beziehung des Ich auf sich selbst zustande kommen oder besser: sich konstituieren. Doch bleibt hierbei unklar, wie es möglich ist, daß ohne die analytische Einheit des seine

Identität wissenden Selbstbewußtseins die Synthesis und die synthetische Einheit, die nach Kant vorausgehen, interne Bestim-

mungen des reinen Selbstbewußtseins sein können, für das doch denkende Selbstbeziehung definitiv ist. - Kant hat also das Pro-

blem der Struktur und der Selbstkonstitution der vereinigenden und zugleich sich denkenden Apperzeption angeschnitten; er hat eine Lösung angedeutet, die jedoch Fragen offenläßt und nicht systematisch in einer eigenen Theorie der Subjektivität entwickelt wird. Kant befaßt sich allerdings in der transzendentalen Deduktion der Kategorien mit der Struktur der reinen Subjektivität nur, in-

sofern sich daraus deren Objektbezug ergibt. Dieser ist in den bisherigen Bestimmungen der Einheit des reinen Selbstbewußtseins bereits implizit enthalten. Die intellektuelle Synthesis fügt unter der sie leitenden synthetischen Einheit der Apperzeption ein Mannigfaltiges gegebener Anschauungen in einen geregelten oder notwen-

digen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ıst nach Kant schon das Objekt im allgemeinen, das durch die regelhafte Verbindung 154

konstituiert wird.!! Der Gedanke der Notwendigkeit dieses Zusammenhangs sowie der Regelhaftigkeit der Synthesis ist begründet in der Konzeption der synthetischen Einheit des Selbstbe-

wußtseins als logischer Einheit. Entsprechend den grundlegenden Weisen logischer Einheit, wie sie in den Urteilsformen gedacht werden, differenziert sich der notwendige Zusammenhang, der im gegebenen Mannigfaltigen durch die Verstandessynthesis hervorgebracht wird, in verschiedene logische Einheiten als Bestimmungen der Anschauungen, d.h. in verschiedene Kategorien; die logischen Einheiten in den Urteilsfunktionen und in den Kategorien sind nämlich dieselben. Soll also ein gegebenes Mannigfaltiges der Anschauung zur Einheit des Selbstbewußtseins gehören, dann muß es so zusammengefügt und angeordnet werden, wie es eine logische Funktion zu urteilen als Regel der Synthesis vorsieht. Die erste und entscheidende Antwort auf die Frage, wie Kategorien

als reine Verstandesbegriffe objektive Bedeutung haben können, lautet also: Kategorien beziehen sich überhaupt auf ein Objekt,

weil sie und die intellektuellen Synthesen, deren Einheitsbegriffe sie sind, das Objekt als solches erst konstituieren. Da hierin aber das gegebene, d.h. nur sinnlich rezipierbare Mannigfaltige der Anschauungen für die Synthesen als das zu Synthetisierende vorausgesetzt wird, ist in dieser Begründung zugleich die Begrenzung der objektiven Bedeutung der Kategorien enthalten; sie gelten nur für solches sinnliche Anschauungsmannigfaltige, nicht aber darüber hinaus.

Diese Argumentation reicht für den Erweis der objektiven Bedeutung der Kategorien aus; sie löst jedoch nicht zugleich die grundlegende subjektivitätstheoretische Frage, die durch sie auf-

geworfen wird, nämlich wie sich aus der Struktur des reinen Selbstbewußtseins ein notwendiges Verhältnis zwischen denkender Selbstbeziehung und Objektkonstitution ergibt. Während für Kant der konstituierte Zusammenhang das Objekt überhaupt ist, bestimmt

Hegel, wie noch

gezeigt werden

soll, in Erörterung

11 Vgl. Kr.d.r.V. B 137#f.

155

dieses subjektivitätstheoretischen Problems das konstituierte Objekt als das gedachte Subjekt, in dem dieses sich selbst denkt. Der konstituierte notwendige Zusammenhang, das Objekt in Kants Theorie, ist nun Gegenstand der Wissenschaft. Das Objekt ist also nicht einfach ein Wahrnehmungsding, das sich ın der alltäglichen Welt vorfindet, wie ein Pferd oder ein Haus, sondern gesetzmäßige Einheit von Anschauungsgegebenheiten wie ein gesetzlich bestimmter Raum-Zeit-Inhalt oder ein Naturgesetz.!? Diese Gesetzlichkeit ist bei Kant in besonderer Weise bestimmt;

sie ist prinzipiell logische Einheit in Urteilen als Regelung von Anschauungsmannigfaltigem. Die logische Einheit in Urteilen ist, wie erwähnt, nach Kant dieselbe wie in den ontologischen Bestimmungen, den Kategorien. Dieser Gedanke bildet den Inhalt von Kants „metaphysischer“ Deduktion der Kategorien; er ist prinzipiell aristotelisch; Plato oder Hegel gewinnen ihre ontologischen Grundbestimmungen im allgemeinen nicht in Orientierung an den Urteilsfunktionen. Für Kant aber ist wie für Aristoteles der Sinn des Seienden primär aus dem Sinn der Urteilsverbindung und ihrer verschiedenen Weisen zu eruieren. So kann Kant anhand der Systematik der Urteilsformen eine Systematik der Kategorienlehre als Ontologie aufstellen, freilich nicht als Erkenntnis. Doch ergeben sich hier die Fragen, ob sich die Entsprechung einzelner Urteilsformen und Kategorien konsequent durchführen läßt und ob die Urteilsformen aus deren Prinzip, der synthetischen Einheit der Apperzeption, zu entwickeln sind. Die Idealisten, insbesondere Hegel, vermissen eine solche systematische Ableitung

12 Daß „Objekt“ für Kant sehr oft gesetzmäßige Einheit oder überhaupt Gesetz bedeutet, läßt sich auch aus Kants Bezeichnung des Sittengesetzes als eines „objektiven“ praktischen Gesetzes entnehmen; obwohl er „Gegenstand“ und „Ob-

jekt“ terminologisch nicht unterscheidet, könnte das Sittengesetz nicht „gegenständlich“ genannt werden. 156

der Vielheit der Kategorien bzw. der logischen Formen aus der Einheit des reinen Selbstbewußtseins.!? Wie das Objekt nicht einfach ein Wahrnehmungsding

in der

Lebenswelt ist, sondern als gesetzmäßig bestimmte Einheit konstituiert wird, so ist das zugrunde liegende reine Selbstbewußtsein nicht ein psychisches, im inneren Sinn sich vorstellendes Ich, sondern Prinzip logischer Einheit überhaupt; es wird damit als Prinzip der formalen Logik konzipiert und - neben den Formen reiner sinnlicher Anschauung - als ein Prinzip der transzendentalen

Logik. Die viel erörterten Fragen hinsichtlich unmittelbarer Selbstgewißheit des Ich im Fühlen und Empfinden der eigenen Zustände oder hinsichtlich eines von den psychischen Abläufen noch zu unterscheidenden empirischen Ich stellen sich hier also nicht. Allerdings ergibt sich das Problem, in welchem Verhältnis dieses reine

Selbstbewußtsein, das zwar Prinzip logischer Einheit, aber ebenso reine Spontaneität des Denkens und intellektuelle Selbstbeziehung ist, zum empirischen, existierenden einzelnen Selbstbewußtsein steht; als dessen Grundlage muß es ıdeales Konstitutionsprinzip des Denkens und der intellektuellen Selbstbeziehung als

psychischer Akte, d.h. auch der intellektuellen Leistung innerhalb der Selbsterkenntnis des eigenen erfahrbaren Daseins sein. Diese Bestimmung des reinen Selbstbewußtseins als Prinzip gehört in Kants kritische Philosophie, in der theoretische Erkenntnis, auch Selbsterkenntnis begrenzt wird; eine rein intellektuelle

Erkenntnis des Daseins des reinen Selbstbewußtseins a prior ist danach unmöglich. In den Reflexionen erwa der 70er Jahre deutet Kant dagegen, was hier nur skizziert sei, eine Theorie des Ich an, die solche intellektuelle Selbsterkenntnis annimmt; diese Theorie

ist nicht nur als Vorgänger der Kritik von Bedeutung, sondern auch als Dokument

eines idealistischen Ansatzes, den dann der

frühe Fichte, ohne es zu wissen, weiterführt. - In den von Poelitz 13 Eine systematische Ableitung der Urteilsformen hat Kant in den veröffentlichten Schriften nicht vorgenommen, wohl aber ın Reflexionen und Briefen entworfen; vgl. K. Reich (s. Anm. 5). 157

herausgegebenen Metaphysik-Vorlesungen versichert Kant, das Ich als das „absolute Subjekt“ aller Prädizierungen seı das Substantiale, „der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar an-

schauen können“.'* Dieser Gedanke gehört in den systematischen Kontext der rationalen Psychologie, ın der die Substantialität der Seele und damit ihre Immaterialität erwiesen werden soll. Der Beweis gegen die materielle Zusammensetzung und damit für die Einfachheit der Seele läuft nach einer Reflexion Kants „darauf hinaus, daß sie eine unmittelbare Anschauung seiner selbst durch die

absolute Einheit Ich sei, welcher der singularis der Handlungen des Denkens ist“.’” Die Erkenntnisart dieser Selbstvorstellung des Ich ist somit Anschauung, die nicht materiell oder sinnlich sein

kann. So spricht er in den Träumen eines Geistersehers von der geistigen Selbsterkenntnis als einem „immateriellen Anschauen“.

Dort erinnert er an den platonistischen Hintergrund der reinen geistigen Schau der Intellektualwelt in der Präexistenz und fügt in gemäßigter Skepsis hinzu, die Menschen seien ohne Erinnerung an diese geistige Schau. Im Felde der Sittlichkeit sei die Annahme der Geisterwelt und die Vorstellung des Subjekts als Mitglied in ihr erlaubt; hinsichtlich der theoretischen

Erkenntnis

aber übt

Kant dort — mit kritischem Blick auf Swedenborg - Urteilsenthal-

tung. Diese Zurückhaltung findet sich nicht in den erwähnten Reflexionen und Metaphysik-Vorlesungen. In diesen Reflexionen nimmt Kant in anderem systematischen Kontext, der Problematik der Freiheit, eindeutig eine intellektuelle Anschauung des Ich von sich selbst an: „Das Ich ist eine unerklär-

liche Vorstellung. Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist.“ Von der Freiheit und ihrer Wirklichkeit haben wir „einen Begriff 14 I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821, Nachdruck: Darmstadt 1964, S. 133, vgl. Kants gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe XXVIII, 1, S. 266. Vgl. hierzu H. Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (s. Anm. 5), S. 232ff.

15 Kants gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, XVII, S. 470 (Refl. 4234). Zum Folgenden s. II, S. 337. 158

[...] durch unser intellektuelles inneres Anschauen (nicht den ınneren Sinn) unserer Tätigkeit, welche durch motiva intellectualıa

bewegt werden kann“.'° In dieser Auffassung steht Kant der Theorie des frühen Fichte nahe. Das Ich hat eine unmittelbare, d.h. anschauliche Gewißheit seiner eigenen spontanen Tätigkeit; aber diese ist nicht sinnlich bedingt oder rezeptiv, also ist sie intellektuell. In ihr erkennt sich das Ich in seinem intellektuellen Sein, das bestimmt ist durch wirkliche Freiheit. Die Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit dieser Selbsterkenntnis des Ich beruht

darauf, daß das Ich als absolutes, in sich einfaches Subjekt aller Prädikate nicht selbst wieder Prädikat, also auch nicht Begriff sein kann, daß es aber nach Kant sich selbst in seiner wirklichen Spontaneität und Freiheit unverstellt zugänglich ist. Daher nımmt Kant in diesen Reflexionen - wie dann Fichte - eine intellektuelle An-

schauung des Ich von sich an. In der Kritik bestreitet Kant freilich

eine solche intellektuelle Selbstanschauung; denn die Selbstbetrachtung des Ich setzt das Gegebensein von Vorstellungen ım inneren Sinn nach der Form der Zeit, also sinnliche Rezeptivität voraus. Die Möglichkeit

intellektueller Selbstanschauung

kann

deshalb

für eine endliche Erkenntnisfähigkeit, die auf solches Gegebensein von Mannigfaltigem angewiesen ist, nicht aufgezeigt werden; daher aber ist die beanspruchte Einsicht ın das intellektuelle Dasein des Ich und darüber hinaus in die Intellektualwelt nicht zu

rechtfertigen. Ein intellektuelles Selbstverhältnis leugnet Kant freilich auch später nicht; aber es ist keine erkennende intellektuelle

Anschauung mehr, sondern ein bloßes Denken seiner selbst ohne Erkenntnis.”

16 Kants gesammelte Schriften XVII, S. 465 (Refl. 4225) und S. 509 (Refl. 4336). Vgl. Kants Rede von der „Anschauung der Selbsttätigkeit zu möglichen Wirkungen“ (XVII, S. 509, Refl. 4334). 17 Ein Relikt der früheren Auffassung ist offenbar Kants Formulierung in der Kritik der reinen Vernunft innerhalb der Auflösung der dritten Antinomie: „Der Mensch [...] erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption [...]* (B

574).

159

Im Opus postumum betont Kant, vermutlich aufgrund einer vagen Kenntnis der beginnenden idealistischen Diskussion über

das Ich, die Selbstbezüglichkeit des Denkens der reinen Apperzeption: „Der erste Akt des Vorstellungsvermögens ist das Bewußtsein meiner selbst, welches ein bloß logischer Akt ist, der

aller übrigen Vorstellung zum Grunde liegt, wodurch das Subjekt

sich selbst zum Objekte macht“.'? Die Selbstvorstellung des reinen Ich bleibt der kritischen Philosophie gemäß ein bloßes Denken. Aber zum ersten Akt in der idealen Ordnung der Erkenntnisbedingungen, der eine rein logische Denkhandlung ist, gehört nun ausdrücklich die Selbstbeziehung. Deutlich unterscheidet Kant in

diesen spätesten Reflexionen zwischen Selbstobjektivation der reinen Apperzeption im Sich-Denken und Konstitution erkennbarer Objekte. Doch gelangt Kant auch hier nicht zu einer ausgeführten Theorie der internen Struktur des reinen Selbstbewußtseins und ihres Verhältnisses zur Konstitution von Erkenntnisobjekten. Für

seine Konzeption ist jedoch wesentlich, daß der ursprüngliche Akt der Apperzeption nicht — wie für Fichte - eine der Logik noch vorausgehende und logische Bestimmungen erst begründende „Tathandlung“,

sondern

ein rein logischer, d.h. durch

logische

Einheit geregelter Denkakt ist. Die reine Apperzeption ist also Prinzip der Logik auch in diesen spätesten Entwürfen Kants. Es bleibt bei Kant allerdings ein Problem, wie ım einzelnen die denkende Selbstbeziehung der reinen Apperzeption als Prinzip der Logik zu bestimmen ist. Er hält sie zwar auch in der Krıtik der reinen Vernunft für möglich, zu der wır nach diesen Ausblicken in die Vorgeschichte und die Weiterbildung der erörterten Frage bei Kant zurückkehren.

Doch

erklärt Kant hier, daß das reine

Selbstbewußtsein als Subjekt der Kategorien sich selbst durch diese Kategorien nicht als Objekt, d.h. als erkennbares Dasein bestimmen kann, da es gerade Prinzip der logischen Einheiten ist, die

in den Kategorien gedacht werden. Kant meint, wie der Kontext

bestätigt, daß es sich auf diese Weise nicht zu erkennen vermag. 18 Kants gesammelte Schriften XXI, S. 77, vgl. 89, 98 u.ö. 160

Es kann jedoch versuchen, sich selbst durch Kategorien als logische Einheiten nur zu denken; es bewegt sich dabei nach Kant als Subjekt dieser kategorialen Gedanken, die es selbst erst begründet und die nur seine eigenen Momente

sind, im Zirkel.!” Aus dem

erwähnten früheren Ansatz behält Kant hier beı, daß das reine Ich als absolutes, einfaches Subjekt aller Prädikate durch Prädikate, wie es die Kategorien sind, nicht erfaßt werden kann; da es sich

jedoch - anders als in dem früheren Entwurf - nicht selbst intellektuell anzuschauen vermag, bleibt für sein Selbstverhältnis nur ein Denken seiner selbst. Der Zirkel, der sich hierbei nach Kant

ergibt, macht dies Denken seiner selbst nicht unmöglich, ist kein Zirkel in der Definition der denkenden Selbstbeziehung, sondern verhindert nur jeden Erkenntnisfortschritt, so daß Kant ihn als „Unbequemlichkeit“ ansieht.

Ebenso liegt hier das eingangs erwähnte Argument der unend-

lichen Iteration nahe; das Ich muß sich, wenn es sich in Kategorien erfassen will, dafür ständig selbst voraussetzen. Auch dadurch wird für Kant die denkende Selbsterfassung des Ich nicht unmög-

lich, da sich das jeweils vorausgesetzte Ich mit den kategorialen Momenten, in denen es sich denkt, in analytischer Identität befindet. Kant hat hierbei bereits die Kritik an der Metaphysik der Seelensubstanz vor Augen; wenn das reine Ich sich als substantiell, als einfach, als numerisch eines usf. denkt, begreift es sich nıcht ın ontologischen Bestimmungen, sondern nur in Weisen logischer 19 Vgl. Kr.d.r.V. B 422 und 404. Solche Stellen werden zum Ausgangspunkt mannigfaltiger Auseinandersetzungen und eigener Theorien. Hegel kritisiert, wie noch zu zeigen ist, Kant hierin heftig. Im Neukantianismus, z.B. von Cohen, Natorp oder Rickert werden diese Stellen für eigene Überlegungen rezipiert. Insbesondere Natorp, für den ein solcher Zirkel das Begreifen der Selbstobjektivierung und Selbstbeziehung des Ich unmöglich macht, begründet eine eigene Theorie, die von der Unbegreiflichkeit des spontanen Ich ausgeht. Kants These vom Zirkel in einem metaphysischen Beweis wird dabei zur Auffassung eines Zirkels in der Definition des selbstbezüglichen Ich, ein m.E. folgenreiches Mißverständnis, dem auch noch neuere deutsche Darstellungen erliegen. - Kritisch zu Kants Darlegung äußert sich J. Bennett: Kant’s Dialectic. Cambridge 1974, S. 69#f, 161

Einheit seines eigenen Denkens. Da es selbst kein existierendes Individuum ist, sondern als Prinzip der Logik allgemeines Denken, konzipiert es, indem es dieses denkt, als seinen Gedankenin-

halt eine spontane intellektuelle Tätigkeit, die in sich einig ist

gemäß logischer Einheit überhaupt und spezieller gemäß den logischen Einheiten, die in den Kategorien gedacht werden. Indem das rein denkende Ich dies Denken denkt, denkt es sıch selbst. In

der Möglichkeit solcher Selbstbeziehung liegt also nach der Kan-

tischen Theorie kein Problem. Offen bleibt freilich, abgesehen von der Frage nach der Entwicklung der Urteilsformen und Kategorien aus jener logischen Einheit überhaupt, wie innersubjektiv der Gedankeninhalt oder das mentale bzw. intentionale Objekt, in dem das reine Ich sich denkt, zu konstituieren ist.

Soll das Ich sich nicht nur denken, sondern auch erkennen können, so muß es sich zugleich in verschiedenen Anschauungen gegeben sein, die für uns immer sinnlich sind. Hierbei wird dann das Denken des Ich als ein bestimmter psychischer Akt verstan-

den, der zwar den allgemeinen Anforderungen des Denkens überhaupt gemäß sein muß, der aber durch ein Subjekt vollzogen wird, dessen Dasein in der Zeit bestimmbar ist. Kant setzt sich hier, wıe

nur angedeutet sei, mit Descartes’ oberster Gewißheit auseinander, nach der das Ich sich im Vollzug des Denkens seines Daseins unerschütterlich gewiß ist.?° Kant akzeptiert diese Gewißheit weder als intuitive Erkenntnis noch als Syllogismus; ferner ist das Dasein des Ich als einfacher Substanz, woraus dessen Unsterblich-

keit zu folgern wäre, nach Kants kritischer Lehre unerkennbar. Kant spaltet die Cartesianische oberste Gewißheit in seiner Theorie auf in ein reines „Ich denke“ als Prinzip der Logik ohne Da-

seinserkenntnis und die psychische, inhaltlich noch nicht weiter bestimmte Gewißheit oder das unbestimmte „Wahrnehmen“ von

tatsächlichen Vollzügen des Denkens durch das Ich, das darin eine Gewißheit von seinem ın der Zeit bestimmbaren Dasein erlangt. 20 Vgl. Kr.d.r.V. B 422ff. Anm. Vgl. u.a. die kritische Interpretation von J. Bennett: Kant’s Dialectic, S. 66ff.

162

Bestimmt und damit konkret erkannt wird dieses zeitliche Dasein des Ich dann durch inhaltlich erfüllte, anschauliche Zeitbestim-

mungen; so werden z.B. ein Lebensjahr eines Ich und dessen Pha-

sen bestimmt durch den planetarisch und klimatisch geprägten Verlauf eines Jahres mit allen speziellen Folgen, ın die das Mannigfaltige der Raumanschauung einbezogen ist; hinzugefügt sei,

daß zur konkreten Selbsterkenntnis des empirischen Ich als individueller Person ferner das Sich-Verstehen und Handeln innerhalb der Intersubjektivität in der räumlich-zeitlichen Welt gehört. Kant gibt freilich nur die allgemeinen Bedingungen empirischer Selbsterkenntnis und des Verhältnisses der idealen Bestimmungen des reinen zu den realen des konkreten empirischen Selbstbewußtseins an. Kant macht also trotz aller offengebliebenen Fragen das „Ego

cogito“ Descartes’ allererst zum Inhalt einer eigenen, selbständigen Theorie; er entwickelt es wesentlich weiter und verändert es gemäß seiner kritischen Philosophie. Kant stellt dabei zentrale Probleme einer Subjektivitätstheorie zum ersten Mal. Er bestimmt den systematischen Ort der Betrachtung der reinen Subjektivität, indem er es als Prinzip der Logik denkt; davon ist auch die inhalt-

liche Erörterung der Spontaneität des Selbstbewußtseins und seiner Selbstbeziehung geprägt. Daß Kant hierbei viele Fragen, z.B. der Konstitution der Selbstbeziehung, des Verhältnisses des rei-

nen Selbstbewußtseins zur Objektkonstitution sowie zum empirischen Selbst nicht oder nicht zureichend löst, liegt einmal an der Neuigkeit und Ungewöhnlichkeit seiner Untersuchungen, zum anderen offensichtlich aber daran, daß solche Fragen nicht notwendig zur Explikation der Theorie der Objekterkenntnis und ihrer Grenzen gehören, die das eigentliche Thema der ersten Krı-

tik bilden. Gerade solche Probleme aber werden dann von idealıstischen Subjektivitätstheorien behandelt, die freilich wiederum Kants erkenntniskritische Grundlagen abändern.

163

II. Die dargelegten Probleme einer Theorie der reinen Subjektivität werden im Idealismus am deutlichsten von Hegel weiterentwikkelt und einer bestimmten Lösung zugeführt; er behält die Bestimmung des reinen Selbstbewußtseins spezifisch als „Ich den-

ke“ bei. Auch Fichte - und in seinem Gefolge Schelling - gehen auf diese Probleme ein; sie bestimmen aber die Vorstellungsart des reinen Ich von sich selbst als intellektuelle Anschauung. Ob diese Theorien sich den kritischen Gründen gewachsen erweisen, die Kant bewogen haben, eine vergleichbare, von ihm selbst früher vertretene Theorie der intellektuellen Selbstanschauung zu verlassen, mag hier offenbleiben. Sie geraten jedoch in systematische Schwierigkeiten, da sie versuchen, die unmittelbare Selbstanschauung des reinen Ich und die Objektkonstitution in einem transzendentalen Idealismus als selbständiger wissenschaftlicher Theorie vor der Logik und als Begründung der Logik zu entwickeln; hierbei müssen die Bestimmungen und Gesetze der Logik bereits

als gültig vorausgesetzt werden, die doch eigentlich erst abgeleitet und begründet werden sollten. Auch wenn dieser Zirkel erkannt wird — wıe von Fichte -, bleibt er vitiös. Solche Schwierigkeiten

können vermieden werden, wenn die reine Subjektivität nicht in einer der Logik vorausgehenden Theorie, sondern innerhalb der

Logik als deren erstes Prinzip expliziert wird; damit zu verbinden ist die Auffassung, daß das reine Ich sich nicht intellektuell an-

schaut, sondern sich denkt. So wird es von Kant konzipiert und von Hegel in spekulativer Umdeutung ausgeführt.?!

Hegels Kant-Kritik wird zumeist von Hegels Position aus beurteilt. Zeitgenössische Rezensenten der Phänomenologie monieren zwar, daß Hegel sein neues System aufstelle, ohne zuvor das Kantische hinreichend widerlegt zu haben. Aber Hegel-Schüler wie z.B. Rosenkranz übernehmen dann Hegels Sicht, und zwar 21 Vgl. zu diesen Thesen vom Verf.: Das Problem der Subjektivität (s. Anm. 10), $. 120ff., auch 141f. und 20f., 336ff.

164

auch in der eigenen Kant-Interpretation.?” Gegen die Vernachlässigung der Hegelschen Philosophie im Neukantianismus richtet sich der Neuhegelianismus Kroners; er deutet Kants Lehre von der

Apperzeption und der Synthesis a priori als Ansatz zu einer Metaphysik der Subjektivität, die - in seiner hegelianischen Sicht nach der Weiterentwicklung des Idealismus durch Fichte und Schelling erst Hegel spekulativ-dialektisch vollendet habe. Kroners Darstellung ist von beträchtlicher Wirkung. H. Marcuse und G. Günther übernehmen die Auffassung, Hegel sei der Vollender der

idealistischen Philosophie; Marcuse sucht in Anknüpfung an Dilthey und Heidegger u.a. in der Konzeption lebendiger Bewegtheit die Grundlagen von Hegels Kant-Kritik aufzuzeigen; Günther erklärt, Kant lasse in seiner Erkenntniskritik die traditionelle Lo-

gik mit ihrer Subjekt-Objekt-Spaltung noch bestehen, die Hegel dann in einer neuen metaphysischen Logik dialektisch überwinde. Hyppolite steht dieser Hegel-Renaissance noch nahe in seiner

affirmativen Darlegung von Hegels Kant-Kritik insbesondere in Glauben und Wissen. Eine Reihe von neueren Untersuchungen löst sich von dieser

Richtung, die jedoch wirkungsmächtig bleibt. Hegels Kant-Interpretation wırd von Henrich und van der Meulen parallelisiert mit Heideggers Kant-Interpretation; danach heben Hegel wie Heidegger in den Begriffen der Apperzeption und der Einbildungs-

kraft die ursprüngliche Mitte des Selbst hervor.” Van der Meulens 22 Vgl. K. Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie. Leipzig 1840 (bes. $. 10f., 489). Zu den ersten Rezensionen vgl. W. Bonsiepen: Erste zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Studien 14 (1979), S. ff. (bes. S. 25, 27£.). Vgl. zum Folgenden R. Kroner: Von Kant bis Hegel. 2 Bde. (zuerst 1921/1924). 2. Aufl. Tübingen 1961; H. Marcuse: Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1932, bes. S. 18ff., 24ff., 132ff., 183ff.,; G. Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik (zuerst 1933). 2. Aufl. Hamburg 1978, bes. S. 40f., 104ff., 108ff., 147£f.; ]. Hyppolite: La critique hegelienne de la reflexion kantienne. In: Kant-Studien 45 (1953/54), S. 83ff. 23 Vgl. D. Henrich: Über die Einheit der Subjektivität. In: Philosophische Rundschaun 3 (1955), S. 28-69; J. van der Meulen: Hegel. Die gebrochene Mitte. 165

Position ist hierbei metaphysisch, Henrichs metaphysikkritisch und kantisch in bezug auf den Anspruch der Erkennbarkeit einer Grundkraft des Subjekts. Ebenfalls aus vorsichtiger kritischer Distanz, aber von marxistischen Voraussetzungen her interpretiert Merker Hegels Jenaer Kant-Krıitik, und zwar neben der spekulativen Umdeutung der Antinomien auch die der reinen Apperzeption. Einen gewissen Abstand zu Hegel hält auch Görland; sie sucht historisch nachzuweisen, daß Hegel insbesondere in der

Phänomenologie sich gegen eine schon durch Fichte umgedeutete Kantische Theorie des Selbstbewußtseins wendet. Für Maluschke ist Hegels Kant-Kritik, speziell an den Begriffen: Apperzeption und Einbildungskraft, nur von Hegels spekulativen Prämissen aus

verständlich. - Doch gibt es auch durchaus neuere Interpreten des Verhältnisses Hegels zu Kant, die Hegel-Freunde bleiben. Genannt seien Griffiss”*, für den Hegel die Endlichkeit des reinen Selbstbewußtseins überwindet, so daß eine insgesamt dialektische Logik möglich wird, und J.E. Smith, der in Hegels Vernunftmeta-

physik, obwohl er einige Vorwürfe Hegels gegen Kant nicht akzeptiert, die Überwindung Kants sieht. Ebenso legt Petry - im wesentlichen

zustimmend

- Hegels

Kritik an Kants

„Inkonse-

quenzen“ in der Unterscheidung und Beziehung von logischem

und psychologischem Ego dar. - In Kants eigenen grundlegenden Motiven findet Rotenstreich ohne Entfernung von Hegel mehr -

Hamburg 1958, bes. S. 218ff., auch 31ff., 168ff. Vgl. zum Folgenden N. Mer-

ker: Le origini della logica hegeliana. Milano 1961, bes. S. 218ff.; I. Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. Frankfurt a. M. 1966 (vgl. dazu meine Rezension in: Hegel-Studien 5 (1969), S. 298ff.); G. Maluschke: Kritik und absoIute Methode in Hegels Dialektik. Hegel-Studien Beiheft 13. Bonn 1974, bes. S. 82ff. 24 Vgl. J.E. Griffiss: The Kantian Background of Hegel’s Logic. In: The New

Scholasticism 43 (1969), S. 509-529; zum Folgenden vgl. J.E. Smith: Hegel’s Critique of Kant. In: Hegel and the History of Philosophy. Hrsg. von ].]. O’Malley etc. Den Haag 1974, S. 109-128 (zuerst 1973); G.W.F. Hegel: T’he Berlin Phenomenology. Edited and translated wıth an introduction and explanatory notes by M.]. Petry. Dordrecht/Boston 1981, bes. S. XXff., XLIXfE.

166

XXX VIHf.,

Evidenz; er legt abwägend Hegels Kritik an Kants Bestreitung des

Substanzcharakters des denkenden Ich und Hegels Aufhebung der Substanz ins Subjekt dar, das als selbstbezüglicher Geist Grundlage sittlich-religiöser Praxis ist.° In ähnlicher Weise Hegel nahestehend, aber unter Beachtung der Umdeutungen, die Kants Philosophie erfährt, interpretieren Lugarini und Verra Hegels Kant-Kritik. Lugarini weist die Entwicklungsgeschichte dieser Kant-Kritik in Hegels Denken auf und hebt die spekulativen Motive, z.B. ım

Begriff der Apperzeption hervor, die Hegel in Kants Lehre sieht. Verra analysiert im Horizont der geistesgeschichtlichen Umbrüche etwa um 1800 Hegels Kritik und Umdeutung von Kants Begriffen der Einbildungskraft und des intuitiven Verstandes; er hebt Goethes Uminterpretation des intuitiven Verstandes davon ab. Auch der Verfasser interpretiert Hegels Kant-Kritik mit besonderer Berücksichtigung des Problems des reinen Selbstbewußstseins; er steht zwar Kants Metaphysik-Kritik näher, hebt aber

Hegels Theorie der Subjektivität als eine exemplarische Theorie hervor. Im folgenden soll Hegels Anerkennung und Kritik sowie die beidem zugrunde liegende Umdeutung von Kants Theorie der Apperzeption dargelegt werden. Es wird sich zeigen, daß Hegels Auseinandersetzung mit Kant nicht immanent, sondern aufgrund seiner eigenen Prämissen erfolgt, daß er jedoch verschiedene, erst

von Kant aufgeworfene, aber nicht zu Ende geführte Probleme der Subjektivität weiterentwickelt und sie spekulativ löst. Zu die-

sen spekulativen Lösungen müssen freilich wieder kritisch-ıdealıstische Alternativen erwogen werden. 25 Vgl. N. Rotenstreich: From Substance to Subject. Studies ın Hegel. Den Haag 1974, ders.: On Spirit - An Interpretation of Hegel. In: Hegel-Studien 15 (1980), S. 199-240. Zum Folgenden vgl. L. Lugarini: La ‚confutazione’ hege-

liana della filosofia critica. In: Hegel interprete di Kant. Hrsg. von V. Verra. Neapel 1981, S. 13ff.; V. Verra: Immaginazione trascendentale e intelletto intuitivo. Ebd., S. 67-89. Vgl. auch vom Verf.: Das Problem der Subjektivität (s. Anm.

10), S. 109ff., 233ff. und mit ausführlicherer Literaturübersicht ders.:

Hegel und die Geschichte der Philosophie (s. Anm. 6). 167

Hegel setzt sich in Glauben und Wissen (1802) zum ersten Mal ausführlich und selbständig mit Kants Theorie der Apperzeption auseinander. Die einzelnen Argumente, die er hier vorbringt, bleiben in seinen späteren kritischen Erörterungen der Kantischen Philosophie im wesentlichen erhalten; die eigenen systematischen Prämissen wandeln sich jedoch noch. Entscheidend für Hegels Kant-Kritik ist, daß Hegel die Möglichkeit wissenschaftlicher Metaphysik, die Kant kritisch untersucht, überhaupt nicht fraglich ist; er hält seit Beginn seiner Jena-

er Zeit (1801) Metaphysik als Wissenschaft, sogar als vollständige vernünftige Erkenntnis des Absoluten uneingeschränkt für möglich. Daher erscheinen ihm Kants Theoreme und Beweise, die eine

solche Ansicht zurückweisen und zur Begrenzung unserer Erkenntnis führen, als Halbherzigkeit, Inkonsequenz oder mangeln-

de Einsicht. So wird auch Hegels Umdeutung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori verständlich.” Er sieht in diesen Urteilen die Idee der absoluten Identität entgegengesetzter Bestimmungen angelegt; in ihnen werden Subjekt und Prädikat, Besonderes und Allgemeines sowie Sein und Denken unter Wahrung ihres Unterschiedes vereinigt. Ihr Prinzip, die absolute Identität, ist in einem solchen Urteil, das Hegel als Entzweiung,

als Ur-teilung - mit Hölderlins Etymologie - und wegen dieser Trennung als Sphäre des endlichen Bewußtseins versteht, nur als different gewordene gewärtig; eigentlich und als solche ist die absolute Identität nach Hegel im spekulativen Sinn der synthetischen Einheit der Apperzeption enthalten. Während Kant die Bedeutung von „synthetisch“ in den synthetischen Urteilen und der

synthetischen Einheit der Apperzeption unterscheidet, da die letztere auch Prinzip der analytischen Urteile ist, konfundiert Hegel

sie und unterlegt beiden eine ganz andere, die absolute Identität. Die Apperzeption ist auch für Hegel Prinzip der Urteile, jedoch nicht in logischer, sondern in metaphysischer Bedeutung als absolute 26 Vgl. hier und im folgenden zur Erörterung der Kantischen Philosophie in „Glauben und Wissen“ Gesammelte Werke. Bd. 4. Hamburg 1968, S. 326ff.

168

Identität, die sich ur-teilt, entzweit in die Entgegensetzungen des

Bewußstseins. — Hegel faßt Kants transzendentale Deduktion der Kategorien als den Erweis der absoluten Identität von Subjekt und Objekt auf, die für ihn in deren Prinzip, der reinen Apperzeption, vorgeprägt ist. Sie ist für ihn auch Einheit von Denken und Anschauung, die erst durch Entzweiung und trennende Re-

flexion zu den einseitigen Bestimmungen einerseits des leeren Ich oder des Verstandes und andererseits der gegebenen sinnlichen Anschauung auseinandertreten. Kant sei in der systematischen Ausführung in das Denken dieser trennenden Reflexion zurückgefallen und habe die ursprünglich spekulative Einsicht in das Prinzip der absoluten Identität, die er im Begriff der reinen Apperzeption konzipiert habe, nicht festgehalten. Dasselbe gilt nach Hegels Darlegung in Glauben und Wissen für andere zentrale Begriffe Kants wie z.B. für die transzendentale Einbildungskraft oder den intuitiven Verstand, die Hegel jeweils als ursprüngliche Mitte oder Identität von Extremen und als eigentliche Vernunfterkenntnis deutet. Hegel weist dabei die unsystematische Vermögenslehre des 18. Jahrhunderts und Kants mit ihrer Vorstellung eines „Sacks voll

Vermögen“? zurück und fordert eine systematische Entwicklung der Vermögen und Leistungen aus einem Prinzip - wie zuvor schon Fichte und Schelling in ihren Programmen einer systematischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Die Konzeption der Erkenntnis des Absoluten als absoluter Identität, von der aus Hegel Kant auslegt und kritisiert, folgt ın dieser Periode von Hegels Denken aber noch einer spinozistischen

Theorie der Einen allumfassenden Substanz.”? Das reine Selbstbewußtsein als unterschieden von der absoluten Identität ıst für 27 Gesammelte Werke. Bd. 4, S. 237, vgl. 329. Diese Kritik behält Hegel später

bei, vgl. z.B. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 3. Aufl. Heidelberg 1830, $ 445 Anm. u.ö. 28 Zur Substanzmetaphysik Hegels in der frühen Jenaer Zeit, die ihm mit Schelling gemeinsam ist, vgl. vom Verf.: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena. In: Hegel ın Jena. HegelStudien Beiheft 20. Hrsg. von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980, S. 25-44. 169

Hegel als solches nur einseitig und endlich; es muß in seiner Wahrheit, der absoluten Substanz, versenkt werden. Dadurch ist der Dissenz zu Kant in diesem systematischen Programm einer idealistischen Substanzmetaphysik am größten. Schon wenig später gibt Hegel eine solche Substanzmetaphysik aber zugunsten einer Theorie der absoluten Subjektivität auf. Dadurch ändern sich die grundlegenden systematischen Prämis-

sen seiner Kant-Krıitik. Die neue Auffassung liegt der Phänomenologie von 1807 bereits als gefestigte zugrunde. Die Darlegung einzelner Bewußtseinsgestalten dort impliziert zwar eine KantKritik. Sie sei in unserem Zusammenhang aber übergangen. Denn einmal „idealisiert“ Hegel ın den Bewußtseinsgestalten Kants Philosophie und vermischt sie mit der Philosophie Fichtes, die er für

die konsequente Ausführung der Kantischen hält; zum anderen werden nur Erscheinungsweisen des Geistes expliziert und als unwahr erwiesen - und dies nicht aufgrund der von Hegel für wahr gehaltenen Lehre, sondern aufgrund der Überführung in die je-

weils folgende Erscheinungsweise des Geistes, die dann ebenfalls als unwahr dargestellt wird. Hierbei allerdings verwendet Hegel

spekulativ-logische Argumente, die z.T. mit Kants Theorie unverträglich sind. Daher ist das eigentliche Feld der Auseinandersetzung zwischen Hegel und Kant die Logik der Wahrheit.

Hegel sieht auch in der Wissenschaft der Logik in der syntheti‚schen Einheit der Apperzeption die Vorprägung der spekulativen,

“absoluten Identität. Diese hat für ihn jedoch nicht mehr die anonyme Bedeutung einer absoluten, substantiellen Einheit; sie gilt ihm nun als Bestandteil der reinen Subjektivität in spekulativ-logischem Sinne, d.h. des sich denkenden Begriffs.” Hiermit meint

Hegel nicht den traditionellen diskursiven Begriff, der als Verstandesinhalt nur analytische Identität für sonst vielfältig Verschiedenes ist, sondern das konkrete Allgemeine, das sich im Denken 29 Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 17ff. Zum Unterschied zwischen traditioneller und hegelscher Begriffslehre vgl. z.B. G.R.G. Mure: A Study of Hegel’s Logic (zuerst 1950). Oxford 1967, S. 159#f. 170

seine unterschiedlichen besonderen Bestimmungen selbst verschafft und sich in ihnen selbst denkt. Für diese Konzeption beruft er

sich auf Kants Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption. Er übernimmt dabei zentrale Kantische Bestimmungen dieses Begriffs wie reine Synthesis und synthetische Einheit, Einfachheit in sich selbst, intellektuelle Spontaneität und Selbstbezüglichkeit. So führt er die Kantische Theorie der reinen Denkhandlungen und ihrer Begründung im rein denkenden Ich fort. Da diese Handlungen aber, wie gezeigt, keine psychischen Ereignisse und Fakten sind, ist sein Vorwurf, Kant verfalle in einen „psychologischen Idealismus“, unberechtigt.”? - Ferner versteht Hegel Kants Nachweis, daß die intellektuelle Synthesis gemäß logischer Ein-

heit die Objektivität erst zustande bringe, von vornherein als Darlegung der Selbstobjektivation der reinen Subjektivität, die sich auf sich selbst beziehendes Denken ist. Deshalb ist für Hegel das Objekt nicht — wie für Kant - eine allgemeine, gesetzmäßige Einheit, die im synthetisierten Anschauungsmannigfaltigen konstituiert wird; es ist für ihn vielmehr die „objektive Einheit“, die spezifisch „die Einheit des Ich mit sich selbst“?', nämlich das Ge-

dachte und Erkannte im reinen Denken seiner selbst ist. So wird für Hegel die transzendentale Deduktion der Kategorien zu einem Erweis der Möglichkeit und Realıtät der intellektuellen Selbsterkenntnis des reinen Subjekts oder des Begriffs. Dies entspricht weder Kants Beweisabsicht noch seiner Begrenzung der menschlichen Erkenntnis, die auf sinnliche Anschauungen angewiesen bleibt. Das intellektuelle Selbstverhältnis ist für Kant, wie gezeigt,

vielmehr lediglich reines Denken seiner selbst, das nur vollziehbar ist aufgrund gegebener Vorstellungen ım inneren Sinn und das

nicht als solches schon Selbsterkenntnis bedeutet. Hegel trifft in seiner Umdeutung jedoch zugleich ein Problem, das bei Kant offengeblieben ist, nämlich den Zusammenhang zwischen intellektueller Selbstbeziehung und Objektkonstitution. 30 Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 22f., vgl. schon Bd. 4, $. 332. 31 Gesammelte Werke. Bd. 12, 5. 18.

171

Dieser Zusammenhang muß in einer Subjektivitätstheorie geklärt

werden. Während Kant — ausdrücklich in seinen spätesten Reflexionen — einerseits zwischen dem Objekt, als das das reine Ich sich selbst denkt, und andererseits dem erkennbaren, anschaulichen

Objekt unterscheidet, besteht das Spezifische von Hegels spekulativ- idealistischer Theorie der Objektkonstitution in der Identi-

fikation beider. Hegel führt somit jenes subjektivitätstheoretische Problem spekulativ-idealistisch aus. Das reine Ich, das sich selbst objektiviert und sich darin er-

kennt, muß nach Hegel nicht auf ein vorgegebenes Mannigfaltiges von Vorstellungen rekurrieren; es bringt dieses Mannigfaltige vielmehr selbst erst hervor, in dem es sıch erkennt. Dies Mannigfaltige besteht nach Hegel zuerst in den Bestimmungen, die dem reinen Begriff, dem reinen Subjekt selbst zugehören. Dieser Gedanke der Produktion des eigenen Mannigfaltigen durch das reine Subjekt wird verständlich, wenn man den Hintergrund berücksichtigt: Hegels spekulative Lehre von der Erhebung der Substanz zum Sub-

jekt.?? Die Eine und universelle Substanz, die Hegel in Anknüpfung an Spinoza als Kategorie konzipiert, ist reine Aktuosität und absolute Macht im Setzen und Aufheben ihrer eigenen Bestimmungen. Diese Aktuosität und Macht als solche aber sind hierbei einfach und ungehindert gegenwärtig; sie sind für Hegel lediglich positiv bestehende Identität, der die Negation fehlt. Die Aufhebung dieser Einseitigkeit und damit der Substanz geschieht durch Entwicklung einer Negativität, die der Identität der allumfassenden

32 Vgl. bes. Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 394ff., Bd. 12, S. 11ff. Vgl. zu diesem

Problem allgemein N. Rotenstreich: From Substance to Subject (s. Anm. 25) und speziell zur Argumentation auch vom Verf.: Das Problem der Subjektivität (s. Anm. 10), S. 228ff. und ders.: /dealistische Substanzmetaphysik (s. Anm.

28), S. 41ff.- Walsh zeigt in ähnlichem Zusammenhang auf, daß Hegel Kants Dualismus der Erkenntnisquellen nicht akzeptiert, vgl. W.H. Walsh: Subjective and Objective Idealism. In: Kant oder Hegel?: Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1983, S. 83-98.

172

Substanz immanent sein muß, die sich somit nicht auf anderes, sondern nur auf sich selbst beziehen kann.

Dadurch wird die Aktuosität der Substanz zur intellektuellen Spontaneität, die sich durch solche negative Selbstbeziehung in sich unterscheidet, somit verschiedene Bestimmungen hervorbringt und darin doch identisch mit sich bleibt. Dies ist das Sich-Denken

des reinen Subjekts oder des Begriffs in den ihm eigenen Bestimmungen;” er enthält die Substanz als das eigentlich Seiende in aufgehobener Weise in sich, ist die Substanz, die Subjekt geworden ist. Da Kant seiner Lehre von der reinen Apperzeption diesen metaphysischen Sinn und die darin begründete These von der Pro-

duktion des Mannigfaltigen nicht unterlegen kann, kritisiert Hegel sie als Theorie des trennenden Verstandes, der das leere Ich und das Mannigfaltige der Anschauung voneinander sondert; Kant habe

nicht darüber reflektiert, daß die Begründung der Endlichkeit der Erkenntnis selbst nur durch endliches Erkennen erfolge und da-

her keine absolute Wahrheit beanspruchen dürfe. Kant freilich ist sich des Unterschiedes zwischen der Erkenntnis von Objekten und transzendentaler Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen solcher Erkenntnis sehr wohl bewußt; die Theorie der Er-

kenntnisrestriktion ist reflexiv und keineswegs Erkenntnis objektiver Erscheinungen, schon gar nicht mit dem zusätzlichen Anspruch

des Ranges einer Erkenntnis von Dingen an sıch, nämlich einer

absoluten Wahrheit, wie Hegel es mit seinem Vorwurf nahelegt. Die reine Subjektivität als Begriff ist also für Hegel Grund für ihre eigenen, von ihr selbst hervorgebrachten Bestimmungen. Daher wirft Hegel Kant zum einen vor, er habe die verschiedenen logischen Formen und Kategorien nicht aus der Einheit des „Ich

33 Diese Skizze dürfte den leitenden Gedanken Hegels in einer längeren Argumentationskette enthalten, die die Kategorien von der Substanz über die Kau-

salität und die Wechselwirkung bis hin zum Begriff entwickelt. Ob Hegels einzelne Argumente der Herleitung des Denkens, das im Denken seiner selbst sich in sich unterscheidet und sich mit sich identifiziert, aus Verhältniskategorien der objektiven Logik überzeugen können, mag dahingestellt bleiben. 173

denke“ abgeleitet, die dadurch zur leeren Identität werde.’* Kant

hat diese Ableitung in den veröffentlichten Werken tatsächlich nicht geleistet, sie aber, freilich nicht nach dem Generierungsgedanken, wie Hegel ihn konzipiert, in Reflexionen und Briefen entworfen. - Zum anderen bestimmt Kant für Hegel das Verhältnis der denkenden Selbstbezüglichkeit des Ich zu den Kategorien durchaus unzureichend, nämlich — wie erörtert - als „Unbequemlichkeit“ und als „Zirkel“ in der Selbstvorstellung durch Kategorien. Da Hegel glaubt, Kant sehe darin etwas „Fehlerhaftes“ und

suche daher beim „Ich denke“ von der denkenden Selbstbeziehung

zu abstrahieren, kritisiert er diese Formulierungen heftig. Hegel beachtet zwar den Zusammenhang jener Aussagen Kants mit der Kritik an der Metaphysik der Seelensubstanz. Doch wird für ıhn hierbei nur eine abstrakte Theorie, die von Kant kritisierte Meta-

physik, die im wesentlichen abstrakte ontologische Verhältnisbestimmungen als Prädikate der Seele aufstellt, durch eine noch abstraktere Theorie wie die Kantische kritisiert, ın der das Ich, da es nur Subjekt der Gedanken sei, überhaupt nicht mehr durch Prä-

dikate bestimmt werden könne. Kants Darlegung, daß sie das Ich durch reines Denken nicht erkennen könne, da ıhm dabeı das Anschauungsmannigfaltige fehle, interpretiert Hegel, ohne Kants

eigene Gründe näher zu untersuchen, als ein Abtrennen des Sub-

jekts vom Objekt und als ein Festhalten des Subjekts in reiner -

34 Vgl. zu diesem idealistischen Standardvorwurf z.B. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 44, 205, Enzyklopädie. 3. Aufl. $ 42 Anm. Vgl. außerdem oben

Anm. 13. Zum Folgenden vgl. Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 193ff.; zu Kant s.o. Anm.

19, zu Hegel vgl. z.B. K. Cramer:

„Erlebnis“. Thesen zu Hegels

Theorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. HegelStudien Beiheft 11. Bonn 1974, bes. S. 592ff. Zum Zirkelproblem allgemein sowie bei Fichte vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M. 1967.

174

Abstraktion sogar ohne denkende Selbstbeziehung. Hiermit aber wird für Hegel das konkrete Wesen des Begriffs und des reinen Ich verfehlt. Definitiv für dieses ist die denkende Selbstbeziehung, d.h. die denkende Selbstobjektivation durch Unterscheidung des Ich in sich und die Selbstidentifikation des Ich mit sich in den Un-

terschiedenen; dies ist die spontane Hervorbringung einer Mehrheit von Bestimmungen durch das Ich selbst, in denen es sich

erkennt. Diese Selbstvergegenständlichung und Selbstbeziehung ist für Hegel - in polemischer Aufnahme der Kantischen Formulierung — der „Zirkel“. Bei Kant verhindert der Zirkel als Zirkel ın

einem metaphysischen Beweis, wie gezeigt, einen Erkenntnisfort-

schritt, aber nicht das reine Denken seiner selbst; das Ich als logische Einheit überhaupt denkt in den Kategorien als logischen Einheiten sich selbst. Für Hegel bedeutet der „Zirkel“ jedoch ge-

rade die konkrete denkende Selbstbeziehung des reinen Ich, das sich in der Mehrheit seiner eigenen Bestimmungen selbst als sein

Objekt erkennt und als Begriff oder konkrete Allgemeinheit begreift. Dieser „Zirkel“, die Selbstobjektivierung und Selbsterkenntnis des Ich, ist von dem durch Kant dargelegten zu unterscheiden und kann nicht - oder nur mit einem gewissen Leichtsinn gegenüber Verdikten klassischer Logik - als Zirkel im Beweis ausgegeben werden. Er ist, wie eine systematische Betrachtung zeigt, kein solcher logischer Zirkel. Hegel vermeidet de facto den logischen Zirkel ebenso wie den Einwand der unendlichen Iteration in seiner eigenen Lehre von der Konstitution der denkenden und erkennenden Selbstbezie-

hung des reinen Ich. Die unmittelbare Einheit des Begriffs oder des Subjekts mit sich entsteht für Hegel nicht wieder aus dem Begriff, sondern aus der Entwicklung der ın sich einfachen Seins-

bestimmungen

und der Verhältnisbestimmungen,

speziell der

Substanz, die in sich negativ und selbstbezüglich wird. Seine Konzeption der weiteren Entwicklung dieser noch unmittelbaren Selbstbeziehung zum vermittelten Sich-Denken deutet er ım Kontext seiner Auseinandersetzung mit Kant an: Der Begriff ıst „die abso-

lute Beziehung auf sıch selbst [...], welche als trennendes Urteil 175

sich zum Gegenstande macht [...]*°. Urteil bedeutet hier sowohl

ursprüngliche Teilung der Einheit des Begriffs ın getrennte Begriffsbestimmungen als auch logische Funktion zu urteilen, die sich in verschiedene Funktionen systematisch differenziert. Der Urteilsinhalt an den logischen Stellen des „Subjekts“ und des „Prädikats“ ist dabei in der spekulativen Logik nicht gleichgültig, son-

dern a priori bestimmt; er besteht in den verschiedenen Begriffsbestimmungen,

z.B.: „Das Einzelne ist allgemein“. Da diese im

Urteil andere füreinander sind, da aber doch jede den Begriff selbst repräsentiert, ist sich der Begriff hier „Gegenstand“, d.h. er

tritt sich im Urteil als selbständiges Anderssein gegenüber. So entwickelt Hegel explizit die Selbstbeziehung des Begriffs, die zunächst nur unmittelbar in ihm enthalten ist, durch dessen Selbst-

vergegenständlichung im Urteil.’ Da im Urteil die Identität des Begriffs, der in seine unterschiedlichen Bestimmungen geteilt ist, nur durch die einfache, begrifflose Kopula ausgedrückt wird, be-

greift der Begriff oder das reine Subjekt sich erst zureichend in der Erfüllung der Kopula durch den Begriff selbst; dies geschieht

nach Hegel im Schluß,” in dem die Conclusio begrifflich vermittelt ist oder in dem zwei verschiedene Begriffsbestimmungen jeweils durch eine dritte vermittelnde verbunden werden. Sofern der

Mittelbegriff selbst entwickelt und nicht mehr nur eine getrennte 35 Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 194. Vgl. zum Folgenden die ausführlichen Darlegungen des Verfassers in: Das Problem der Subjektivität (s. Anm. 10),

S. 251#f., 266ff.

36 Hinsichtlich des Verhältnisses der logischen Urteile zu den Kategorien folgt Hegel nicht der arıstotelischen und kantischen ontologischen Auffassung, daß die Grundweisen zu sein oder Objekt zu sein urteilslogisch geprägt seien. Insofern steht seine Theorie der Entwicklung ontologischer Grundbestimmungen eher der spätplatonischen nahe. Vgl. zu dieser Lehre z.B. F.M. Cornford: Plato’s Theory of Knowledge (zuerst 1935). London 1973, S. 274ff. 37 Vgl. hierzu auch Hegels Bestimmung schon in der „Jenaer Realphilosophie“ von 1805/06, daß die Entgegengesetzten: Einzelheit und Allgemeinheit im Schluß vermittelt verbunden werden: „Copula ist Ich“; das Ich als Identität,

die die entgegengesetzten Bestimmungen in sich einhält, ist der wahre Mittelbegriff (vgl. Gesammelte Werke. Bd. 8, 5. 197). 176

dritte Bestimmung

zu den beiden anderen, sondern, wie Hegel

intendiert, deren ursprüngliche Einheit und somit eine konkrete Allgemeinheit darstellt, ist er die Objektivität, in der die reine Subjektivität sich selbst erkennt, oder die entwickelte Subjektivität

selbst als erkannter Inhalt des Selbsterkennens. Ob es Hegel gelingt, das Programm überzeugend durchzuführen, mag hier da-

hingestellt bleiben. Er vermeidet dabei jedoch den logischen Zirkel im Beweis, weil die Subjektivität, von der in diesem Beweisgang ausgegangen wird, die unmittelbare und unentwickelte Einheit des Begriffs ist, die in dem skizzierten spekulativen Schluß nicht wiederholt wird. Auf die gleiche Weise vermeidet er die unendlıche Iteration; für die vermittelte intellektuelle Selbstbeziehung,

die ım Syllogismus erreicht wird, ist nicht wieder das schon vollständig entwickelte sich denkende

Ich vorauszusetzen, sondern

nur einfachere Momente oder Konstitutionsprinzipien wie die Spontaneität des Denkens überhaupt, die Selbstentzweiung und die Ausbildung einer begrifflichen Einheit der entzweiten Begriffsbestimmungen. Daher geht der entwickelten denkenden Selbstbeziehung nicht wieder das entwickelte selbstbezügliche Ich schon voraus. Dasselbe Argument gilt für die Vermeidung eines Zirkels in der Definition der Selbstvorstellung, wıe der Einwand

der unendlichen Iteration öfters auch formuliert wird. Ein solcher definitorischer Zirkel, der darın bestehen würde, daß zur Bestimmung des Sich-selbst-Vorstellens des Ich das Ich und seine Selbstbeziehung oder deren begriffliche Äquivalenzen schon vorauszusetzen und in der Bestimmung zu verwenden wären”, wird

38 Zentral für diesen Einwand wie für den der unendlichen Iteration ist die Behauptung, das Ich müsse sich für seine Selbstvorstellung immer schon als selbstbezügliches voraussetzen. Dies gilt dann auch für den Versuch, das sich vorstellende Ich zu definieren. Unklar bleibt jedoch, ob dabei nur eine Nominaldefinition unmöglich sein soll - dieser Auffassung wäre mit Äquivalenzen für das Vorstellen seiner selbst zu begegnen -, oder ob eine Realdefinition des selbstbezüglichen Ich als unmöglich gilt; dann freilich wäre zwar dessen reales Wesen unerkennbar, seine denkende Selbstbezüglichkeit bliebe jedoch durch177

durch die skizzierte spekulativ-logische Entwicklung der Subjek-

tivität ebenfalls vermieden. Trotz der z.T. vehementen Kritik Hegels an Kant verbindet

beide die grundlegende systematische Bedeutung der reinen Apperzeption oder der reinen Subjektivität. Sie wird von beiden als Prinzip der Logik konzipiert, dessen Bedeutung für die systematische Explikation der logischen Bestimmungen innerhalb dieser

Logik selbst evident wird. Damit werden die Schwierigkeiten vermieden, in die Fichte und Schelling geraten, die das Prinzip der Subjektivität vor der Logik und als Begründung der Logik in ei-

ner eigenen Theorie des transzendentalen Idealismus zu entfalten suchen. Bei Kant ist die reine Apperzeption Prinzip der Urteilsfunktionen

und

weiterhin

der formalen

Logik;

sie ist nur ein

Prinzip — neben der reinen sinnlichen Anschauung - für die transzendentale Logik in ihrem positiven, Erkenntnis begründenden

Teil. Dagegen ist bei Hegel die reine Subjektivität als Begriff hinreichendes Prinzip der systematischen Entfaltung der spekulativen Logik, speziell der Formen und apriorischen Inhalte der Begriffsbestimmungen, der Urteile und Schlüsse. Denn dieses Mannigfaltige von Bestimmungen, in denen die Subjektivität sich denkt, bringt

sie selbst zustande. Vollendet ist diese Selbstkonstitution erst ın der Darlegung des adäquaten Begriffs oder der Idee. So wird die reine Subjektivität als Grund der systematischen Explikation der logischen Bestimmungen selbst im Verlaufe der subjektiven Logık in ihrer komplexen Struktur in immer reicheren Bestimmungen entwickelt. Sie ıst für Hegel jedoch nicht nur Prinzip der subjektiven Logik, sondern der Logik insgesamt. Die vorangehenden Kategorien der objektiven Logik, die ın sich einfachen Seinsbestimmungen und die Verhältnisbegriffe, sind nur vorausgehende,

einfachere Konstitutionselemente, die und deren Synthesis dann die denkende Selbstbezüglichkeit des reinen Subjekts oder Begriffs zutage treten lassen. Damit wird die spekulative Logik als aus denkbar. - Wegen dieser Unklarheiten im Zirkeleinwand ist der Einwand in der Formulierung der unendlichen Iteration exakter. 178

solche auch in ihrer ontologischen Bedeutung zur Theorie der reinen, schließlich absoluten Subjektivität. —

Für Hegel ist also wie für Kant die reine Subjektivität systematisch Prinzip der Logik; die Bedeutung der Logik aber und das Verhältnis der Subjektivität zu den einzelnen logischen Bestimmungen wird von ihnen jeweils verschieden bestimmt. Ebenso akzeptiert Hegel die Kantische Auffassung von der Notwendigkeit der Annahme reiner Denkhandlungen sowie der Reflexion des Denkenden auf sie oder der Selbstbeziehung des reinen Ich. Seine Kritik an Kants Theorie der reinen Apperzeption ist, wie sich wohl erwiesen hat, im wesentlichen nicht immanent; sie geht

von spekulativen Prämissen aus, in denen wissenschaftliche Metaphysik angenommen wird, deren Möglichkeit gerade Kants bren-

nende Frage war. Sie deckt jedoch Lücken in Kants Theorie auf, die Hegel selbst in seiner Logik ausfüllt wie die systematische Entwicklung logischer Bestimmungen aus dem Prinzip der Subjektivität oder den Zusammenhang zwischen denkender Selbstbeziehung und Objektkonstitution als Selbstobjektivation des reinen Ich. Ferner räumt er in seiner Umdeutung des Kantischen Problems eines Zirkels im Beweis für rein denkende Selbsterkenntnis insbesondere den Einwand der unendlichen Iteration aus,

der Selbstvorstellung unverständlich machen würde. Auch Kant hält, nachdem er seine frühere, anspruchsvollere Konzeption ei-

ner Selbsterkenntnis durch intellektuelle Anschauung aufgegeben hat, wenigstens an der Möglichkeit des Denkens seiner selbst fest;

Hegels Theorie aber ist in der Vermeidung jenes Einwandes weiter entwickelt. Ferner sind Einwände, die gegen die Substantialität des Cartesianischen

„Ego cogito“ erhoben werden, gegen Kanıs,

aber auch gegen Hegels Theorie nicht gültig; denn auch für Hegel ist das Sich-Denken des Begriffs nicht Substanz und damit nicht Notwendigkeit; es ist für ihn vielmehr Freiheit. - Hegels spekulative Logik ist freilich Metaphysik, genauer: Ontologie und On-

totheologie der absoluten Subjektivität. Daher erhalten anders als bei Kant z.B. die reinen Denkhandlungen, in denen die Subjektivität sich selbst bestimmt, zugleich ontologische Bedeutung. Es 179

mag erlaubt sein zu bezweifeln, ob diese Metaphysik sich einer Metaphysik-Kritik wie der Kantischen gegenüber aufrechterhal-

ten läßt.?” Doch sind einige grundlegende Einsichten Hegels in die systematischen Erfordernisse einer Subjektivitätstheorie auch unabhängig von seiner Metaphysik zu verwenden wie z.B. der Ge-

danke der reinen sich denkenden Subjektivität als Prinzip der Logik und ihrer als gültig beanspruchten Gesetze und Kategorien,

die systematische Explikation der logischen Bestimmungen überhaupt aufgrund der Subjektivität als Prinzip, die Darlegung der Genesis ihrer Selbstvergegenständlichung und Selbstidentifikation und dabei insbesondere die Vermeidung des Einwandes der unendlichen Iteration durch Konstitution der reinen Subjektivität

aus einfacheren Elementen und als Resultat solcher Entwicklung. Allerdings muß auch dann gesichert sein, daß die logischen Gesetze und Kategorien a priori gelten, daß dazu deren Gedachtsein, damit aber ideale, wenn auch nicht reale reine Denkhandlungen anzunehmen sind und daß diese in der sich denkenden, reinen Sub-

jektivität als einem idealen Prinzip gründen. Angesichts der heute beliebteren empiristischen Alternativen sei der Gedanke, daß eine solche Konzeption als Bedingung wissenschaftlichen Denkens und ebenso als eine notwendige Bedingung wissenschaftlicher Erfahrung weder unmöglich noch sinnlos ist, ernster grundlegender Erwägung empfohlen.

39 Vgl. dazu auch vom Verf.: Das Problem der Subjektivität (s. Anm. 10). 180

Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein

Konzeptionen der Überwindung negativer Theologie bei Schelling und Hegel

Die idealistischen Systementwürfe können als unterschiedliche Konzeptionen von Einheit angesehen werden. Einheit hat hierbei einen methodologischen Sinn als oberstes Prinzip des Denkens und Erkennens und einen metaphysischen Sinn als höchstes Prinzip alles Seienden. Die Abfolge der idealistischen Systementwürfe führt schließlich einerseits zu Hegels reifer dialektischer Lehre von einer hochkomplexen vernünftig erkennbaren Einheit, wie sie der absoluten Subjektivität zukommt, und andererseits in Schellings Spätphilosophie zur Voraussetzung einer unvordenklichen Einheit des Daßseins, die aller Vernunfteinheit noch vorgeordnet werden müsse. Eine sachliche Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Grundpositionen des entwickelten idealistischen Denkens - sine ira et studio und unabhängig vom wechselseitigen Streit der jeweiligen Schüler - ist noch nicht weit gediehen. Sie kann in Hegels und Schellings Theorien implizit zugleich paradigmatische Antworten auf die Frage finden, ob und wie eine bloß negative philosophische Theologie metaphysisch zu überwinden sei. Diese späten Theorien Schellings und Hegels beruhen jeweils auf einer langen und zumeist nicht geradlinigen Entwicklungsgeschichte des Idealismus, die nicht isoliert nur für einen Denker zu

betrachten ist; verschiedene außeridealistische philosophische Anstöße sowie zahlreiche wechselseitige Anregungen und Auseinandersetzungen der Idealisten untereinander formen sie. Aus dieser Entwicklungsgeschichte sei hier lediglich die Phase von Schellings und Hegels gemeinsamem Philosophieren in Jena von 1801 bis 181

1803 mitberücksichtigt, in der Schelling und Hegel zum ersten Mal eine Metaphysik der vollständigen vernünftigen Erkenntnis des Absoluten aufstellen. Schelling interpretiert diese Theorie, die er als Identitätsphilosophie bezeichnet, später restringierend als

bloß negative Philosophie. Auch Hegel verläßt diese Theorie in ihren Vorläufigkeiten später wieder; er integriert sie als eine Vorstufe in seine Metaphysik der absoluten Subjektivität. So bilden

sich die späten spekulativen Einheitstheorien Schellings und Hegels, wie im folgenden wenigstens skizziert sei, aus unterschiedlichen Fortentwicklungen jener ersten metaphysischen Identitätskonzeption heraus. In einem ersten Teil sei nun die Idee der Einheit als absoluter Identität in dieser frühen gemeinsamen Metaphysik des Absoluten bei Schelling und Hegel mit den jeweiligen Nuancierungen herausgestellt. In einem zweiten Teil sei Hegels Weiterentwicklung und Veränderung dieses systematischen Entwurfs in seiner Theorie der Einheit der absoluten Subjektivität untersucht. In einem dritten Teil gilt es schließlich, mit dieser Lehre Schellings Ansatz

einer Einheit des unvordenklichen Daßseins, die jener Vernunfteinheit noch vorausgeht, in dessen Spätphilosophie zu konfrontieren. Hierbei sollen zugleich drei Modelle metaphysisch-idealistischer Überwindung der negativen Theologie und die Probleme solcher Modelle sichtbar werden.

I. Die Idee der absoluten Identität in Schellings und Hegels erster Metaphysik des Absoluten Im Jahre 1801 gehen Hegel und Schelling gemeinsam zu ihrer ersten Metaphysik des Absoluten über aufgrund der These, das Absolute, das die bisherige Metaphysik als Gott dachte, sei vollständig durch Spekulation erkennbar. Die Gemeinsamkeit dieses neuen Entwurfs läßt sich u.a. daraus ersehen, daß Schelling und Hegel ihre

Beiträge im Kritischen Journal nicht mit Namen unterzeichnen. 182

Noch im Jahre 1800 waren dagegen beide der Auffassung, das Absolute sei philosophisch bzw. durch Denken in seinen Bestimmungen nicht zu erkennen. Schelling erklärte, das Absolute als höchste Einheit sei den trennenden Bestimmungen des Verstandes und damit des Denkens unerreichbar; es könne allenfalls ın

künstlerischer ästhetischer Anschauung erlebt werden. Hegel sah in vergleichbarer Weise dem endlichen Denken oder der Reflexion den Zugang zum Absoluten verwehrt; nur die religiöse An-

schauung könne das göttliche Leben mitvollziehen. Insofern ge-

hören diese Positionen Schellings und Hegels, die sie im Jahre 1800 einnahmen, noch zum Frühidealismus, in dem noch nicht

die These von der spekulativen Erkennbarkeit des Absoluten vertreten wird. Demnach muß die philosophische Theologie, da sie Gott nicht in Denkbestimmungen erfassen kann, negativ bleiben. Dies ändert sich grundlegend mit dem ersten Entwurf einer

Metaphysik des Absoluten bei Hegel und Schelling. Insbesondere in Hegels späteren Frankfurter Schriften ergaben sich Probleme, deren Lösung über eine negative Theologie hinausführen mußte. So charakterisierte Hegel damals Gott mehrfach schon mit reinen Denkbestimmungen,

z.B. als Sein oder Leben bzw. als Verbin-

dung der Verbindung und der Nichtverbindung usw.; sollen diese keineswegs nur negativen Bestimmungen nicht völlig bedeutungslos bleiben, so müssen sie wenigstens partielle Bedeutungsbereiche des Absoluten oder Gottes erfassen. Ferner dachte der junge Hegel Gott auch als unendlichen Geist, dem die Beziehung auf den endlichen Geist immanent ist, so daß sich auch der endliche auf den göttlichen Geist zu beziehen vermag; also können die reinen Denkbestimmungen des endlichen Geistes, die vom unendli-

chen ausgesagt werden, diesem nicht völlig inkommensurabel sein; sie müssen etwas von ihm, wenn auch nicht dessen Wesen, zu erkennen geben.!

1

Vgl. zu diesen Problemen, die zu Hegels Theorie der spekulativen Erkenntnis

hinführen, ausführlicher vom Verf.: Das Problem der Subjektivität in Hegels 183

Diese Probleme werden mit einem Schlage durch die These von der spekulativen Erkenntnis des Absoluten gelöst. Anders als Schelling verbindet Hegel mit dieser These die Auffassung von der konstitutiven, wenn auch untergeordneten Bedeutung der reinen Denkbestimmungen für die Erkenntnis des Absoluten. Für sich genommen, werden sie in einer Logik ent-

wickelt. Diese ist hier noch nicht spekulativ. Sie enthält vielmehr in geregelter Abfolge nur die reinen Bestimmungen der endlichen Reflexion oder des endlichen Bewußtseins. Ihre systematische Be-

deutung ist damals noch zweifach; zum einen führt diese Logik der endlichen Reflexion nach Hegel notwendig zum absoluten Wissen hin und erfüllt damit die Aufgabe, die später der Phänomenologie zufällt; zum anderen ist sie mit ihren Kategorien und

Formen unselbständiger und untergeordneter Bestandteil der Metaphysik als Explikation des Absoluten. Die Logik als Einleitung soll dabei die Hindernisse im Denken beseitigen, die der spekulativen Erkenntnis des Absoluten im Wege stehen. Sie weist Widersprüche im Verhältnis der endlichen Reflexionsbestimmungen auf und endet nach Hegels Konzeption mit der grundlegenden Erkenntnis, daß alles Denken der Reflexion als ein Denken endlıcher Bestimmungen in sich widersprüchlich ist. Da für das endliche Denken aber der Satz vom Widerspruch gilt, wird alles Denken

und Erkennen von Endlichem das Endliche selbst als nichtig aber ist nach Hegel schon die chen. Man kann hinzufügen,

und damit in diesem Ansatz auch und ungültig erwiesen. Ebendies negative Erkenntnis des Unendlidaß eine negative Theologie bis

hierhin reicht, nämlich bis zur Erkenntnis des paradoxen Charakters des Unendlichen, das sich im Selbstwiderspruch des Endlı-

chen innerhalb des Bewußtseins manifestiert. Den entscheidenden Schritt über diese Position hinaus unternimmt Hegel nun mit der Voraussetzung der Möglichkeit und Wirklichkeit

der intellektuellen

Anschauung

für uns, in der

Logik. 3. Aufl. Bonn 1995 (zuerst Hegel-Studien Beiheft 15 (1976)), S. 70-74. — Zur folgenden Charakterisierung von Hegels früher Logik vgl. ebd. S. 75-108. 184

unmittelbar das Absolute und allein Wahre präsent und evident ist. Er führt damit die Lehre Fichtes und Schellings weiter, auch die Kantische Lehre unter Aufhebung der Erkenntnisrestriktion. Doch bleibt die intellektuelle Anschauung, in der das Absolute und Eine gegenwärtig ist, für Hegel - anders als für Schelling für sich genommen bewußtlos; von ihr kann nichts gewußt und entwickelt werden, wenn sie und das in ihr Präsente nicht in das endliche Bewußtsein aufgenommen und in Übereinstimmung mit dessen reinen logischen Bestimmungen expliziert wird; nur wenn dies geschieht, kann über das Absolute philosophiert und ein Sy-

stem aufgestellt werden. Hegel vertritt in seiner frühen Jenaer Zeit also eine Dichotomie der „Erkenntnisquellen“, nämlich von Reflexion und intellektueller Anschauung. Die Reflexion oder das Denken des Ich stellt reine endliche Bestimmungen bereit, deren Verhältnisse untereinander jeweils dialektisch als widersprüchlich erwiesen werden. Aus solchen Widersprüchen oder „Antinomien“, wie Hegel sagt,

ergibt sich jedoch noch nicht als methodische Folgerung die höhere Einheit; diese wird von den Antinomien der Reflexion vielmehr nur „postuliert“. Denn es bedarf des Einsatzes eines ganz andersartigen Erkenntnisvermögens, der intellektuellen Anschau-

ung, um diese Einheit vorstellen zu können. Mit dem Vollzug der intellektuellen Anschauung aber ist die Reflexion nicht einfach überwunden. Sie wird vielmehr synthetisiert mit der intellektuellen Anschauung zur Spekulation. Erst diese vermag Hegels Forderung gerecht zu werden und das Absolute „im Bewußtsein“ zu

„konstruieren“;? erst sie gelangt zu einer systematischen Entfaltung des Absoluten als höchster Einheit unter konstitutiver Verwendung logischer Bestimmungen. Das Absolute wird dabei grundlegend als „Identität der Identität und der Nichtidentität“ gedacht,

2

G.W.F. Hegel: Sämtliche Werke [abgekürzt SW]. Hrsg. von H. Glockner. Stuttgart 1927-1931, Bd. 1, S. 50 (die Formulierung stammt aus der Differenz-Schrift), zum folgenden Zitat s. ebd. S. 124. 185

die dem Gedanken der Identität anderer Gegensatzbestimmungen zugrunde liegt. Ebenso wie Hegel vertritt Schelling von 1801 an die These von der vollständigen Erkennbarkeit des Absoluten durch Vernunft.

Während zunächst für Schelling in der Darstellung meines Systems (1801) das Absolute als absolute Identität schlechthin unendlich ist ohne Einbeziehung der Endlichkeit,* denkt er es bald darauf, insbesondere im Gespräch: Bruno und in den Ferneren

Darstellungen, ähnlich wie Hegel, betont als Einheit des Unendlichen und Endlichen; denn dem Absoluten darf nichts, auch das Endliche nicht äußerlich sein. Ferner bestimmt Schelling es wie Hegel als „Einheit der Einheit und des Gegensatzes“, als Einheit

des Allgemeinen und Besonderen und als Einheit anderweitiger grundlegender Gegensatzbestimmungen.’ Durch diese verschiedenen Bestimmungen von Einheit wird al-

so von Schelling und von Hegel die höchste Einheit, die absolute Identität als Struktur des Absoluten gedacht, die als universale Einheit ihr Gegenteil bzw. das Gegenteil einer ihrer Bestimmun-

gen nicht außer sich, sondern in sich selbst hat. Doch zeigen sich hier auch bereits erste Unterschiede in der Konzeption der absoluten Einheit zwischen Schelling und Hegel. Schelling denkt diese Einheit des Absoluten auch - von Hegel abweichend - als „abso-

lute Indifferenz“, in der die Grundgegensätze ungetrennt eins, d.h. verschwunden sind; er denkt sie als ursprüngliche einfache Einheit über den Gegensätzen.° Schelling folgt damit einem ganz anderen Einheitsmodell, das, ohne daß er darüber damals schon ein klares Wissen hatte, in der Tradition insbesondere der spätantiken 3

un

4 6

Die Frage, inwiefern Schelling hierin durch Hegel angeregt wurde, sei nur als Problem erwähnt, aber an dieser Stelle nicht weiterverfolgt. Vgl. F.W.). Schelling: Sämtliche Werke [abgekürzt SW]. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Sruttgart-Augsburg 1856-1861, Bd. 4, S. 118f. Vgl. Schelling: SW, Bd. 4, S. 236, 239-246 u.ö., auch Bd. 4, S. 346, 367f. u.ö. Auf die neuplatonische Herkunft dieses Einheitsmodells macht W. Beierwal-

tes aufmerksam: Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings „Bruno“. In: Philosophisches Jahrbuch Bd. 80 (1973), S. 242-266. 186

neuplatonischen Einheitstheorien von Plotin und Proklos steht.’

Wenn diese höchste ursprüngliche, in sich einfache Einheit jenen Grundgegensätzen und allem Mannigfaltigen und Verschiedenen

noch vorausgesetzt wird - neuplatonisch geht sie als begründende Dynamis den vielen Ideen und dem in ihnen sich denkenden Nous in seiner Zweiheit von Denkendem und Gedachtem noch voraus -, dann können jene Gegensätze oder mannigfaltigen Bestimmungen in ihr nur ungetrennt und ununterscheidbar eins sein, d.h. ihr als solche nicht zukommen; dies aber ergibt die Position der negativen Theologie, über die das Identitätssystem mit der vollständigen vernünftigen Erkenntnis des Absoluten doch

gerade hinausführen sollte. Schelling sucht beide Einheitsmodelle, die Einheit, die als absolute den Gegensatz bzw. Vielheit und Gegensätze des Endlichen in sich selbst hat, und die übergegensätzliche Einheit, der keine Gegensätze und keine Mannigfaltigkeiten zukommen,’ fol-

gendermaßen zu verbinden: Das Absolute ist in sich gegensatzlos und übergegensätzlich; „in der Beziehung aber auf die Dinge“ ist es die Einheit von Gegensätzen. 7

Außer sekundären Berichten, die damals philosophiegeschichtlich nicht genau waren, kannte Schelling als neuplatonischen Auswahltext offenbar nur den Abschnitt: „Von dem Einen“ ın dem Bruno-Auszug innerhalb der Beilagen zu Jacobis Briefen Über die Lehre des Spinoza (F.H. Jacobi: Werke, Bd. 4/2. Leipzig 1819. Nachdruck: Darmstadt 1968 [zuerst in der 2. Aufl. von 1789], S. 34-46); hier wird auch die Cusanische coincidentia oppositorum - freilich mit Hinweis auf Heraklit - erwähnt (vgl. S. 43f.). Die ersten Originaltexte Plotins lernt Schelling erst 1805 durch seinen Freund Windischmann kennen; er spendet ihnen mit allen Zeichen eines ersten Entdeckens überschwengliches Lob. Kenntnis von Proklos gewinnt Schelling noch später. 8 Diese beiden Einheitsmodelle wurden bisher vornehmlich in der Neuplatonismus-Literatur unterschieden. -— Vgl. zu solchen unterschiedlichen Einheitsmodellen überhaupt die systematisch-typologische, zugleich geschichtliche Möglichkeiten aufweisende Untersuchung von K. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des „und“. Berlin-New York 1981. 9

Schelling: SW, Bd. 4, S. 246. Auch in dem Abschnitt: „Von dem Einen“ in dem

in der vorvorigen Anmerkung erwähnten Bruno-Auszug werden andeutungsweise, freilich ohne Hinsichtenunterscheidung, jene beiden Einheitsmodelle 187

Diese unterschiedlichen Bestimmungen des Absoluten werden möglich durch Schellings ebenfalls von Hegel abweichende Auffassung, daß das Absolute in sich durch reine intellektuelle An-

schauung ohne Reflexion erfaßt werden könne. In ihr ist es als gegensatzlose reine Indifferenz gegenwärtig. Diese Anschauung soll jedoch keine mystische Schau, sondern „spekulative“ oder „Vernunftanschauung“!? sein. Die Reflexion gehört dagegen nur

dem Bereich des Endlichen oder der Erscheinungen zu; sie ist für die Erfassung des Wesens des Absoluten überflüssig. - Sollen aber endliche Dinge erkannt werden als Bestandteile des Universums, so muß das Absolute mit Rücksicht auf die Dinge als All von

bestimmter Einheit in bezug auf die Mannigfaltigkeit, ja Gegensätzlichkeit der Dinge gedacht werden. Die intellektuelle Anschauung

ist dann konstruierend;

sie konstruiert in diesem an-

schaulich gegebenen, in sich mannigfaltig bestimmten Ganzen die besonderen Formen der Dinge. Nur in dieser Hinsicht also führt

Schelling Brunos und Spinozas Pantheismus weiter. Doch

auch diese Verbindung

beider Einheitsmodelle

wirft

Probleme auf, zumal da sie von Schelling theoretisch nicht hinreichend entwickelt wird. Zum einen wird von Schelling nur behauptet, daß die Anschauung der ursprünglichen gegensatzlosen

und übergegensätzlichen Einheit nicht mystische Schau, sondern Vernunftanschauung oder spekulative Anschauung sei; so bleibt

die These der vernünftigen Erkennbarkeit des Absoluten in seiner absoluten Identität eine reine Setzung. Zum anderen läßt sich aus solcher einfachen gegensatzlosen Einheit, was auch Hegel später kritisch hervorhebt, kein Identitätssystem mit einer geordneten Vielheit weiterer Bestimmungen des Absoluten entwickeln; auch das Verhältnis der gegensatzlosen Einheit zu derjenigen, die die

Gegensatzbestimmungen in sich enthält, bleibt damit im wesentlichen ungeklärt. verbunden, was Schelling wohl kannte (vgl. F.H. Jacobi: Werke, Bd. 4/2,

5.438),

10 Schelling: SW, Bd. 4, S. 361, 369, 451 (aus den Ferneren Darstellungen). 188

Diese Probleme stellen sich ebenfalls innerhalb der entwickelten Identitätsphilosophie dar.!! Von der gegensatzlosen Einheit

und Indifferenz des Absoluten gelangt Schelling zur Vielheit der Dinge nur über die These der Absonderung und eines Absonderungsaktes des jeweils bestimmten Endlichen vom Absoluten, eine These, die von Philosophie und Religion (1804) an zur Theorie des „Abfalls“ vom Absoluten führt. In diesem Vorgang des Absonderungsaktes, ja erst recht des „Abfalls“ vom Absoluten aber

bleibt Unbegreifliches, nie Deduzierbares. Doch führt gerade dieses religionsphilosophische Motiv in der Identitätsphilosophie zur Weiterentwicklung des Gedankens der absoluten Identität. Diese ist dann nicht mehr als Bestimmung einfachen Seins und Bestehens zu denken, sondern des lebendigen, freien Gottes, der im abgefallenen, zur Selbständigkeit gelangten, lebendigen und freien Endlichen ein Gegenbild finden kann. Dieser Ansatz veranlaßt Schelling dann von der Freiheitsschrift (1809) an zu theosophischen Spekulationen. Erst in der Spätphilosophie wird dieser ganze Ansatz und seine Weiterführungen, deren Entwicklung hier nicht

zu verfolgen ist, zurückgenommen, restringiert und als eine bloß negative Philosophie in ein größeres systematisches Ganzes integriert, in dem der frühere metaphysische Anspruch deutlich moderiert wird. Die absolute Identität, die Schelling auf diese Weise weiterentwickelt, wird von ihm nicht nur als formale Struktur verstanden,

sondern als Struktur des Absoluten und allein Wahren und Wirklichen, das in der Weise der Einen Substanz existiert." Damit kommt dem Absoluten als der in sich einfachen, übergegensätzli-

chen Einheit zugleich Einzelheit, Einzigkeit sowie Selbständigkeit 11 Zur Identitätsphilosophie Schellings im allgemeinen vgl. z.B. H. Zeltner: Das Identitätssystem. In: Schelling. Hrsg. von H.M. Baumgartner. Freiburg-München 1975, S. 75-94.

12 Zur Spinoza-Rezeption und -Veränderung bei Schelling und Hegel in diesen Jenaer Jahren (1801-1803) vgl. vom Verf.: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena. Hrsg. von D. Henrich u. K. Düsing. Bonn 1980 (Hegel-Studien Beiheft 20), bes. S. 34ff. 189

im Existieren zu, später nach Schelling auch Lebendigkeit und Freiheit; dies führt dann eindeutig über den zuvor von Schelling

konzipierten spinozistischen Substanzbegriff hinaus. - Sofern die absolute Identität als Einheit gedacht wird, die die Gegensatzbe-

stimmungen in sich enthält, gilt sie Schelling als Struktur des Absoluten im Hinblick auf die Dinge; das Absolute wird dann onto-

logisch-kosmologisch als Totalität, als Allund Universum gedacht. Auch Hegel konzipiert - wie Schelling - die absolute Identität, unter der er diese die Gegensätze in sich enthaltende Einheit versteht, ontologisch und metaphysisch als Struktur des Absoluten, das für ihn ebenfalls als das einzige Wahre und Wirkliche ın der Weise der spinozistisch verstandenen Einen Substanz existiert. Bei dieser Bestimmung bleibt auch Hegel nicht stehen." - Offenbar muß jede idealistische Theorie einmal durch eine Auseinandersetzung mit dem Spinozismus als dem Modell einer Theorie, nach der die transsubjektive Einheit des Absoluten Wesens- und Seinsgrund von allem ist, hindurchgegangen sein. Als idealistisch sind dabei allgemein diejenigen Theorien anzusehen, die von einer 13 Dieser Typus der absoluten Einheit, die die Gegensätze ın sich enthält, ergibt sich bruchlos aus Hegels Frankfurter Schriften, nicht dagegen aus Schellings Frühschriften; er wird von Hegel in der ersten Jenaer Zeit in der Beziehung der Reflexion des Bewußtseins, innerhalb dessen das Absolute zu konstruie-

ren ist, auf die intellektuelle Anschauung begründet, während bei Schelling eine vergleichbare Begründung fehlt. - Darüber ist in der Forschung vielfach und kontrovers diskutiert worden. Verwiesen sei hier bes. auf D. Henrich, der

von der Diltheyschen, schon vom späten Schelling vertretenen These ausgeht,

daß eben Schelling ursprünglich das Identitätssystem und mit ihm eine bestimmte Begriffsform absoluter Identität konzipiert habe und daß Hegel davon abhängig sei, aber schrittweise seine eigene Konzeption begrifflich differenziere; vgl. D. Henrich: Andersheit und Absolutheit des Geistes. Sieben

Schritte auf dem Wege von Schelling zu Hegel. In: Ders.: Selbstverhaltnisse. Stuttgart 1982, S. 142- 172. - Zur ebenfalls traditionsreichen These, daß Hegel in dieser grundlegenden Frage Schelling angeregt habe, was vielfältige Anre-

gungen, die er von Schelling damals empfing, in anderen Fragen keineswegs ausschließt, vgl. z.B. vom Verf.: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in Jena. In: Hegel-Studien Bd. 5 (1969), S. 95-128, auch ders.: Absolute Identität. Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802) in Vorlesungsnachschriften von I.P.V. Troxler. Köln 1988.

190

positiven Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Ich oder Selbstbewußstsein prinzipiell ausgehen; diese Bestimmung kann in einer der Logik vorausgehenden Metaphysik oder Subjektivitätstheorie mit allen methodischen Problemen, die sıch daraus er-

geben, oder in der Logik als Grundlegungswissenschaft, die selbst Subjektivitätstheorie ist, erfolgen; ın jedem Falle wird, auch wenn das Absolute als dem Ich übergeordnetes Prinzip gilt, ein Hinausgehen über Spinoza notwendig, für den Selbstbewußtsein inner-

halb seiner Darlegung der Einen Substanz noch kein Prinzipien-

problem war.'* Hegels Gründe, über die Metaphysik der Einen Substanz, wie

auch er sie zunächst vertrat, hinauszugehen, dürften zum einen

gewesen sein, daß die Selbsterkenntnis, die er wie Schelling dem Absoluten wesentlich zuschreibt, mit der bloßen Bestimmung der Substanz nicht hinreichend zu erfassen ist, zum anderen, daß innerhalb der Geistesphilosophie, der die Metaphysik zugrunde liegt, kaum sinnvoll zu erweisen ist, das endliche Bewußtsein werde sich durch Versenken in die allgemeine Substanz des Volksgeistes

in seiner Eigenbestimmtheit erfüllen. Aufgrund solcher Überlegungen muß nach Hegel die Struktur der absoluten Einheit als „Identität der Identität und der Nichtidentität“ weiterentwickelt

werden zur Struktur der denkenden Selbstbeziehung und Selbstkonstitution der absoluten Subjektivität. Dies unternimmt Hegel schon im Manuskript über Logik, Metaphysik, Naturphilosophie

von 1804/05; zu Ende geführt ist es in der Wissenschaft der Logik. In beiden Werken zeigt er auf unterschiedliche Weise die immanente Fortbestimmung jener in sich gegensätzlichen Identität sowie der Einen Substanz zur absoluten Subjektivität auf.

14 Vgl. zu diesen Grundfragen des Idealismus vom Verf.: Das Problem der Subjektivität, bes. S. 19#f., 228ff.; zum Folgenden vgl. auch ders.: Idealistische Sub-

stanzmetaphysik, S. A1ff. 191

II. Hegels Theorie der Einheit der absoluten Subjektivität Der Begriff der Einheit als „Identität der Identität und der Nicht-

identität“ ist nicht in der Lage, konkreteres Geschehen, insbesondere geistige Prozesse und Tätigkeiten wie die Entwicklung des

endlichen Bewußtseins und Selbstbewußtseins zur erfüllten Selbstbeziehung oder gar die Selbsterkenntnis des Absoluten spezifisch zu begründen. Auch die ontologische Bestimmung der Substanz reicht dazu nicht aus. Daher gilt es, die Einheit geistiger Selbstbe-

ziehung der Subjektivität, die Fichte noch als einfaches Ich = Ich konzipiert hatte, als höherentwickelte, komplexere Einheit zu begreifen, die jene „Identität der Identität und der Nichtidentität“

sowie die Einheit der Substanz als einfachere Momente in sich enthält. Diese Einheit der Subjektivität stellt eine höhere Entwicklung

des Einheits-Typus der in sich gegensätzlichen Einheit dar. Hegel erörtert jedoch in der Wissenschaft der Logik auch den Typus der gegensatzlosen, übergegensätzlichen Einheit; er sucht in dem Kapitel über „Das Absolute“ aufzuzeigen, wie man darüber notwendig

hinausgehen und wie man somit die negative in eine positive spekulative Theologie verwandeln muß. Dies wird anhand der Abfolge: „Auslegung des Absoluten“, „Attribut“ und „Modus“ dargestellt,

die zugleich, was nur erwähnt sei, Hegels Auseinandersetzung mit Spinoza ın der Logik enthält; doch auch die neuplatonische Theorie der Emanation des Einen ist mitgemeint.” 15 Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. 2. Aufl. Leipzig 1934, T. 2, S. 167; SW, Bd. 4, S. 675. - Die gegensatzlose Einheit wird auch im Kapitel über die „absolute Indifferenz“ erörtert. Dort kritisiert Hegel

implizit Schellings Lehre, freilich ohne ausdrücklichen Bezug auf das Problem der negativen Theologie; das Ergebnis besteht dort wie hier im Hinausgehen über diesen Typus von Einheit (vgl. Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. T. 1, S. 387ff.; SW, Bd. 4, S. 466ff.). - E. Fleischmann hebt in seiner Interpretation des Kapitels über das „Absolute“ Hegels Auseinandersetzung

mit Spinoza hervor, vgl. La science universelle ou la logique de Hegel. Paris 1968, S. 200ff.

192

Hegels Argument, das in der Frage der Überwindung der negativen Theologie entscheidend ist, lautet folgendermaßen: Alle vorangehenden Bestimmungen des Seins und des Wesens werden in der absoluten, aber unbestimmten Identität des Absoluten aufgelöst; „das Absolute selbst erscheint nur als die Negation aller Prä-

dikate und als das Leere.“!® Dies ist das Absolute der negativen Theologie. Es ergibt sich innerhalb der spekulativen Logik als einheitlicher Grund der Seins- und Wesensbestimmungen, d.h. aller ontologischen Begriffe; diese sind in der Identität des Absoluten „untergegangen“; 17 sie sind in seiner Identität ununterscheidbar

eins geworden. Das Absolute ist somit nur Ende dieser spekulativ-logischen Gedankenbewegung, nicht zugleich ihr Anfang. Ebenso geht die Handlung, diese Bestimmungen als Prädikate vom Absoluten durch Negation fernzuhalten, zunächst außerhalb des Absoluten vor sich; sie scheint.das Absolute selbst nichts anzugehen; so ist sie eine Handlung der äußeren Reflexion. In beiderlei Hinsicht zeigt sich damit das Absolute als nicht universal und als unvollkommen, also als begrenzt, was seiner Konzeption selbst innerhalb der negativen Theologie nicht entspricht. Über diese Auffassung vom Absoluten muß man deshalb hinausgehen. Die folgenden Darlegungen Hegels laufen darauf hinaus, schrittweise zu zeigen, daß der Vorgang der Auslegung des Absoluten in der negativen Theologie im Grunde dem Absoluten selbst zukommt. Die Auslegung ist zunächst negativ; hierbei werden die ontologischen Bestimmungen, die im Absoluten als deren Grund versenkt werden, die ihm insofern in ihrer Bestimmtheit nicht zugesprochen werden können, in der spekulativen Logik nicht eıinfach äußerlich aufgegriffen, sondern immanent und in notwendigem Zusammenhang entwickelt. Das Pendant dazu, die positive Auslegung, die es freilich noch nicht zu einer positiven Theologie bringt, betrachtet diese ontologischen Bestimmtheiten in ihrer Unterschiedenheit und Mannigfaltigkeit und hält sie als endliche vor 16 Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. Ebd., $. 157, SW, Bd. 4, 5. 663.

17 Ebd., S. 158; SW, Bd. 4, 5. 665.

193

ihrem „Verschwinden“'® im Absoluten zunächst auf, denkt sie als Schein, um sie dann doch im Absoluten zu versenken. So wird das Absolute gedacht als absolute Identität und als Bestimmtheit,

die aber in der Identität wiederaufgelöst wird; Hegel deutet diesen Gedanken als Attribut des Absoluten. Das zweite Moment,

das im Attribut gedacht wird, ist das Negative als solches gegenüber der Identität; inhaltlich kann darunter das Setzen von Mannigfaltigkeiten durch eine Reflexion verstanden werden, die der Identität äußerlich ist. Dies deutet Hegel als Modus des Absoluten. Dies Negative als solches aber kann nicht einfach dem Abso-

luten äußerlich sein; es muß als der Schein des Absoluten aufgefaßt werden, den dieses selbst setzt. Damit ist das entscheidende Argument erreicht, das über eine

negative Theologie hinausführt; der Modus, allgemeiner und grundsätzlicher: der gesamte Vorgang der Auslegung des Absoluten in sich selbst, in Attribut und Modus ist eine „reflektierende Bewe-

gung [...], als welche das Absolute nur wahrhaft die absolute Identität ist“; d.h. sie findet nicht außerhalb des Absoluten, sondern in ihm und durch es selbst statt. Dann aber kommt dem Absoluten das Versenktwerden der vorausgehenden ontologischen Bestimmungen in ihm und die Negation dieser Bestimmungen als seiner Prädikate, ohne die seine absolute Identität nicht gedacht werden könnte, als seine eigene, ihm immanente Negativität selbst zu. Somit ist es nicht nur Ende, sondern auch Anfang der Ausle-

gung als Selbstauslegung. Es ist also zu denken als absolute Identität und als Negativität, in der sich das Absolute nicht auf anderes,

sondern nur auf sich selbst bezieht, sowie als deren Vereinigung im „absoluten sich für sich selbst Manifestieren“,?° wodurch das

Absolute sich offenbart in seinem andern, der Mannigfaltigkeit

18 Ebd,, S. 159; SW, Bd. 4, $. 666. 19 Ebd., S. 163; SW, Bd. 4, S. 670. 20 Ebd., S. 164; SW, Bd. 4, S. 672

194

seiner Bestimmungen, die es doch nur selbst ist. Damit wird be-

reits eine Reihe von Bestimmungen vom Absoluten als positiv gültig ausgesagt, die in der weiteren Kategorienlehre, z.B. im Begriff der Einen Substanz noch fortzuführen ist. Voraussetzung für diese Argumentation ist zum einen, daß der

Bedeutung des Absoluten die Bedingungen ihres Gedachtwerdens nicht gleichgültig sein können; sie wird durch die Bedingungen

des Denkens selbst mitbestimmt; zum anderen verfolgt Hegel hier wie auch sonst in seiner Logik das Prinzip, methodische Bestimmungen auf der jeweils nächsten Stufe ın den kategorialen Inhalt aufzunehmen; denn nur so läßt sich in ständiger Bereicherung des Inhalts der logisch-ontologischen und metaphysischen

Bestimmungen zeigen, wie sich aus einfachen, immer komplexer werdenden Bestimmungen schließlich die sich denkend auf sich beziehende absolute Subjektivität konstituiert. - Die erste Voraussetzung kann als allgemein transzendentalphilosophisch bezeichnet werden; schon sie reicht aus für die Forderung, das Absolute und vernünftig zu denkende Eine in der Mehrfältigkeit ihm immanent zukommender Bestimmungen zu explizieren, da es sonst

gar nicht gedacht werden könnte; denn im Denken werden immer mehrere Bestimmungen in einen notwendigen, einheitlichen Zu-

sammenhang gebracht; welche Bestimmungen dies sind und wie sie gewonnen werden, muß eine Logik und Kategorienlehre zeigen. Dieser Voraussetzung ist etwa die neuplatonische negative Theologie nicht kongruent. Plotin z.B. setzt das überseiende Eine über alle Denkbestimmungen hinaus; es kann daher von uns nur

analogisch intendiert und umschrieben, aber nicht selbst gedacht werden; zum Erweis dafür, daß jenes Eine dann nicht ein bloßes

Nichts als inhaltloses Subjekt bloß logischer Negationen ist, muß er letztlich die mystische Schau annehmen, die somit systematisch

konstitutive Bedeutung erhält.! Eine solche Annahme ist bei jener

21 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie stellt Hegel zwar diese Plotinische Auffassung vom überseienden, die Vernunft überragenden 195

transzendentalphilosophischen Voraussetzung, die verlangt, das Absolute in Bestimmungen zu erfassen, die dem Denken gemäß sind, nicht erforderlich. - Hegels zweite Voraussetzung, die nicht notwendig aus der ersten folgt, aber von dieser abhängt, ist spezi-

fisch spekulativ und gehört zu seiner Theorie der absoluten Subjektivität; sie programmiert die Kategorienentwicklung vor, in der sıch der Inhalt mehr und mehr anreichert, bis die sich denkende

Subjektivität als konkrete Allgemeinheit erreicht ist. Die gegensatzlose Einheit und die übervernünftige Einheit der

negativen Theologie sind also als solche nach diesen Argumenten und diesen Voraussetzungen Hegels undenkbar; über sie muß in einer philosophischen Theologie hinausgegangen werden. Hegel

bleibt jedoch auch nicht bei seinem früheren Einheitsmodell der „Identität der Identität und der Nichtidentität“ stehen. „Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d.i. abstrakteste Definition des

Absoluten angesehen werden“, erklärt Hegel in der Wissenschaft der Logik.” Ihr müssen reichere, komplexere Bestimmungen folgen, wie sie die Logik systematisch entwickelt. Eine höherentwickelte Bestimmung solcher Einheit ist z.B. die Eine Substanz,

die Hegel nun deutlicher von jenem vorangehenden Einheitssinn unterscheidet als in seinen frühen Jenaer Entwürfen. Dieser Be-

griff der Substanz wird selbst noch einmal differenziert in den des „Absoluten“, wie er soeben erörtert wurde, und den der komplexer bestimmten, eigentlichen Substanz, wie Hegel ihn selbst als Kategorie des Substantialitätsverhältnisses expliziert, eine Diffe-

renzierung, die er in der kurzgefaßten Logik der Enzyklopädie wiederaufgibt.

Das

Prinzip

der Fortentwicklung

der „Identität

der Identität und der Nichtidentität“ zu immer höheren und inhaltlich reicheren Einheitsbestimmungen, in denen jene anfängEinen dar; er akzeptiert sie jedoch ebensowenig wie Plotins Mystik, ohne sich dort um genauere Widerlegung zu bemühen, SW, Bd. 19, S. 48ff. Erlaubt seı

der Hinweis auf die Darstellung des Verf.s: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983, S. 142ff. 22 Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson. A.a.O., T. 1, $. 59; SW, Bd. 4, $.78 („d.i. abstrakteste“ ist Hinzufügung ın der 2. Aufl.). 196

liche Einheitsbestimmung als Moment bewahrt wird, ist dasselbe wie das Prinzip der spekulativen Kategorienentwicklung überhaupt; es ist, wie sich am Ende der Logik explizit zeigt, das reine,

unendliche Denken, anderes,

nichts

das ın allen diesen Bestimmungen

ihm Fremdes,

sondern

nichts

nur sich selbst denkt

und erkennt. Da dies Denken seiner selbst auch in der logischen Bestimmung der Einheit des Substantialitätsverhältnisses nicht angemessen erfaßt wird, muß auch über diese Kategorie,

die für Hegel

zu Beginn

der Jenaer

Zeit die eigentliche

spekulative Bestimmung des Absoluten darstellte, hinausgegangen werden. Das Substantialitätsverhältnis ist für Hegel das um die Modalbestimmungen bereicherte „Absolute“. Er bestimmt die Substanz

als die absolute Macht, die ihre Bestimmungen in reiner Aktuosität als ihre Akzidentien setzt, d.h. in Wirklichkeit überführt, und wiederaufhebt, d.h. in die Möglichkeit zurücknimmt, und in diesem Wechsel der Akzidentien beharrend eine und dieselbe bleibt und darin das grundlegend Wirkliche ist. So manifestiert sich in dieser gleichbleibenden „ruhigen“ Tätigkeit die Einheit der Substanz in dem für sie anderen, den wechselnden Akzidentien,

in denen sie doch rein gegenwärtig ist und nur sich selbst darstellt. Geschichtliche Präfiguration dieses Substanzbegriffs ist auch hier Spinozas Konzeption der Einen Substanz. — Das entscheidende Argument Hegels für eine Überwindung dieses Substanzbegriffs besteht nun darin, daß diese Substanz, die in ihrer ruhigen Aktuosität des Setzens und Aufhebens ihrer Bestimmungen selbst beharrt, bloß positiv bestehende, somit einsei-

tige Identität ist; ihr fehlt die Negativität; diese muß als immanente und mit jener Identität gleichursprüngliche Bestimmung der Substanz entwickelt werden; sonst wird die Substanz ıhrem Uni-

versalitätsanspruch nicht gerecht. In der Darlegung der folgenden Kategorien von Kausalität, Wechselwirkung und Begriff sucht Hegel zu zeigen, daß die Substanz, wenn ihr gleichwesentlich mit der positiven Identität und Totalıtät die Negation immanent zukommt, sich in ihrer Tätigkeit entzweit, daß die dadurch gesetzten 197

Extreme selbst jeweils Totalität und Reflexion in sich, d.h. Substanzen sind, die sich schließlich nicht einfach negativ aufeinander

beziehen, sondern von denen jede in dieser negativen Beziehung auf die andere sich selbst in der anderen wiederfindet und als identisch mit ihr setzt. Damit wird die Tätigkeit der Substanz in

der Beziehung auf ihre Akzidentien nach Hegel zur spontan denkenden Selbstbeziehung des Subjekts in seinen ihm eigenen Bestimmungen; die blinde Notwendigkeit, die im Wechsel der Akzidentien herrscht durch die bloß beharrende, positive Identität der Substanz, wird zur Freiheit des Denkens als der zugleich in

sich negativen Selbstunterscheidung - z.B. in Ich als Subjekt und Ich als Objekt -, in der doch die absolute Identität des Denkens sich findet und erst erfüllt, so daß wahres Denken sich als Denken seiner selbst erweist. Die logische Bestimmung dieses aus der Substanz entwickelten

Subjekts und seiner Einheit ist der Begriff in seinen Bestimmungen; durch ihn wird nach Hegel eine immanente, nicht äußerliche Aufhebung des Spinozismus möglich. Der Begriff und die aus ihm zu entwickelnde Einheit seiner Bestimmungen des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen vollendet sich aber erst in der absoluten Idee. Hier erst ıst die vollkommenste und höchste Ein-

heitsbedeutung erreicht, die den Widerspruch ın sich trägt, d.h. die dialektisch ist, aber zugleich durch Negation solcher Negativität sich selbst restituiert. Die durch solche höchste absolute Iden-

tität und Negativität zur Einheit verbundenen Bestimmungen sind die je zur konkreten Allgemeinheit entwickelten Begriffsbestimmungen, in denen der Sinn der Substantialität als untergeordnetes Moment jeweils bewahrt ist; so stellt die Theorie der absoluten Idee als der absoluten, sich denkenden Subjektivität eine meta-

physische Überwindung des Spinozismus dar. Die zuhöchst entwickelte Einheit, die alle vorherigen Einheitsbestimmungen in sich aufhebt, ist spekulativ-logisch die Einheit eines spekulativen Schlusses. Dieser drückt die dialektische Me-

thode in der vollendeten, den Widerspruch implizierenden, aufhebenden und bewahrenden Einheit der Begriffsbestimmungen aus, 198

die selbst schon entwickelte konkrete Allgemeinheiten sind.” Die

höchste Einheit bedeutet metaphysisch die Einheit des unendlichen Denkens seiner selbst, die Einheit der absoluten Subjektivität, die nach Hegel spekulativ-theologisch als die Einheit des Denkens Gottes zu begreifen ist.

III. Die Konzeption der Einheit des unvordenklichen Daßseins ın Schellings Spätphilosophie Diese spekulative Theorie Hegels wird vom späten Schelling heftig kritisiert. Obwohl Schelling ın der Tat neuralgische Punkte wie das Problem des Anfangs der Logik mit dem reinen Sein oder

das Problem des Endes der Logik mit dem Sich-Entlassen der Idee in die Natur herausgreift, kritisiert er den Erkenntnisanspruch von Hegels spekulativer Logik nicht immanent, sondern von seiner eigenen Konzeption der Dichotomie von negativer und posi-

tiver Philosophie her.”* Generell wirft er der Hegelschen Logik vor, daß sie, obwohl sie nur negative Philosophie sein könne, die durch Denken nur Wassein und Möglichkeiten erkenne, die Gren-

zen der negativen Philosophie überschreite und Erkenntnis von 23 Hierzu sei als Erläuterung der Verweis auf die Abhandlung des Verf.s erlaubt: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik. In: Hegels Wissenschaft der Logik. Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1986, S. 15-38.

24 Zu Schellings Hegel-Kritik vgl. W. Schulz: Die Vollendung des deutschen

Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 1955, 2. Aufl. Pfullingen 1975, bes. $. 102ff., 307ff., X. Tilliette: Schelling contre Hegel. In: Archives de Philosophie Bd. 29 (1966), S. 89-108, ders: Schelling Critique de Hegel. In: Hegel-Tage. Urbino 1965. Hrsg. von H.-G. Gadamer. Bonn 1969, S. 193-203; vgl. ferner vom Verf.: Spekulative Logik und positive Philosophie. Thesen zur Auseinandersetzung des späten Schelling mit Hegel. In: Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975. Hrsg. von D. Henrich u. K. Cramer. Bonn 1977, $S. 117-128 und R.-P. Horstmann: Logifizierte Natur oder naturalisierte Logik. Bemerkungen zu Schellings Hegel-Kritik. In: Hegels Philosophie der Natur. Hrsg. von R.-P. Horstmann u. M.. Petry. Stuttgart 1986, 5. 290-308.

199

Existenz und Wirklichkeit prätendiere, d.h. beanspruche, zugleich positive Philosophie zu sein. Schelling erkennt hierbei sehr wohl, daß Hegels spekulative Logik Theorie der absoluten Subjektivität ist; aber das Denken des Denkens wird dort seiner Auffassung nach - ebenso wie alle vorangehenden Bestimmungen in Hegels Logik — nur abstrakt dargelegt; er beachtet dabei allerdings Hegels Theorie der konkreten Allgemeinheit in der Logik nicht. Ferner akzeptiert Schelling die Grundlegungsbedeutung der spekulativen Logik nicht, die spekulative Erkenntnisse in der Natur-

und der Geistesphilosophie erst ermöglicht. Die logischen Bestimmungen und Kategorien, die Hegel entwickelt, gelten ihm als abstrahiert aus der Identitätsphilosophie, die von Anfang an konkret sei.”

Doch nicht nur gegenüber der spekulativen Logik Hegels, auch gegenüber seinem eigenen Identitätssystem restringiert der späte Schelling den Erkenntnisanspruch der Vernunft. Auch seine Identitätsphilosophie,

so interpretiert der späte Schelling sich selbst,

dürfe nur als negative Philosophie verstanden werden; eine solche Begrenzung hatte er früher nicht vorgenommen. Zwar hält er am

Prinzip der absoluten Einheit von Subjekt und Objekt als Vernunftprinzip fest; dadurch wird das wahrhaft Seiende in seinem

Wesen denkend erfaßt. Aber es wird nicht mehr die Einheit von Wesen und Existenz des Absoluten oder das reine Wirkliche durch Denken erkannt. Es war nach Schelling „der Fehler der ersten Darstellung, das Positive nicht außer sıch gesetzt zu haben“; aber darin „wurde sie durch die folgende (Hegelsche) übertroffen.“

25 Vgl. hierzu auch oben Anm. 13. Anerkennender scheint Schelling - gemäß der Nachschrift, die Paulus veröffentlichte - 1841/42 gesagt zu haben, er habe „nicht unabhängig von Hegel“ eingesehen, daß diese Wissenschaft sich „in das

Logische auflösen müsse“ (H.G.E. Paulus: Die endlich offenbar gewordene positive Philosophie der Offenbarung. Darmstadt 1843, S. 377). W. Schulz sieht hierin eine gewisse Nähe Schellings zu Hegel (vgl. Die Vollendung des deutschen Idealismus, S. 104), was X. Tilliette 2.T, relativiert (vgl. Schelling. Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris 1970, Bd. 2, $. 42). 26 Schelling: SW, Bd. 13, $. 89. Vgl. zum Folgenden ebd. $. 83. 200

Schelling erinnert in diesem Zusammenhang an Kants Metaphysikkritik; auch nach Kant gelange die Vernunft mit dem transzendentalen Ideal zwar zum Begriff des höchsten Seienden, nämlich Gottes, aber nicht zur Erkenntnis von dessen Existenz. Kant blieb

freilich bei der negativen Philosophie stehen; er konnte von seiner Auffassung her, wie Schelling kritisiert, keine positive Philoso-

phie aufstellen. So gelingt der negativen Philosophie zwar das Denken des Begriffs des wahrhaft Seienden oder des Absoluten; die Subjekt-Objekt-Einheit, die sie als Prinzip konzipiert, wird dabei offensichtlich als eine Einheit gedacht, die differente Bestimmungen in sich enthält; ob diese differenten Bestimmungen in ihr sogar gegensätzlich sein können, wie es das Identitätssystem ın einer

Hinsicht vorsah, bleibt beim späten Schelling offen. Aber es wird keine Erkenntnis von Existierendem oder Wirklichem durch dieses Denken gewonnen. Vielmehr erreicht die Vernunft in der ne-

gativen Philosophie ein rein denkendes Begreifen ihrer selbst in den ihr eigenen Bestimmungen; darin setzt Schelling die idealıstische Grundkonzeption der Bestimmung denkender Selbstbeziehung im Horizont des Absoluten fort.” In diesem Sich-Begreifen erkennt die Vernunft, die sich mit der denkenden Erkenntnis des Wasseins bescheidet, ihre eigene Begrenztheit.

Den Überstieg über diese Sphäre der reinen Vernunft bewerk-

stelligt Schelling nun auf variierende Weise. Sein Grundgedanke besteht darin, daß das reine Denken der sich als endlich durchschauenden Vernunft gar nicht stattfinden könnte ohne ein es er-

möglichendes, in bezug darauf selbst unvordenkliches Daßsein.?? 27 Vgl. zum Idealismus des späten Schelling insbesondere W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus, S. 42ff., 83ff., 321ff.

28 Dieser Grundgedanke ist bereits vorgeprägt in Descartes’ Gottesbeweis in der dritten „Meditation“, wonach endliches Denken etwas wirkliches, positiv Un-

endliches voraussetzt. Sehr verfeinert und argumentativ durchgeführt ist er ın Kants Einzig möglichem

Beweisgrund zu einer Demonstration

des Daseins

Gottes; danach setzt Denken des Möglichen notwendigerweise etwas rein Wirkliches voraus, das sich als Gott erweist. Auch wenn Schelling wohl beide Argumente kannte, ist nicht zu erweisen, daß er sie für seine eigene Auffassung vom Überstieg zum reinen Daßsein spezifisch nutzte. 201

Diesen Gedanken spezifiziert Schelling manchmal zu einem Argument, das an der Struktur des kategorischen Urteils orientiert ist.” Alle Wasbestimmtheiten, die die Vernunft als Allgemeinheiten denkt, müssen als Prädikate bzw. Attribute zuletzt einem ihnen

zugrunde liegenden Subjekt zukommen; dieses kann keine Allgemeinheit und kein nur Mögliches mehr sein; es ist — wie Schelling mit Aristoteles betont - Einzelnes und Wirkliches. Doch scheint Schelling dieses Argument, das an eine bestimmte ontologische Interpretation des kategorischen Urteils gebunden bleibt, nur versuchsweise eingeführt zu haben. - Ein prinzipiell anderer, von

Schelling dann als seine Lehre aufgestellter Versuch, den allgemein

als notwendig

erkannten Überstieg zum unvordenklichen

Daßsein spezifisch zu begründen, besteht in Schellings Rekurs auf Bedürfnis und Entschluß des Willens: Dem Ich entsteht „das Be-

dürfnis, Gott außer der Vernunft (Gott nicht bloß oder in seiner Idee) zu haben, durchaus praktisch“. Schelling auch erklären: „Ich will das, was über dem nicht das bloße Seiende ist, sondern mehr als dieses,

im Denken Daher kann Seın ist, was der Herr des

Seins.“?° So wird es zum Inhalt eines grundlegenden Wollens, daß der Vernunft und dem von ihr gedachten Seienden ein unvordenkliches Daßsein vorausgesetzt werde. Dieser Grund der Vor-

aussetzung des Daßseins kann kaum als existentielle Motivation im Sinne von Existenzphilosophie oder Existenzialismus gedeutet

werden;?! er stellt ein voluntaristisches Argument dar, das am

29 Vgl. Schelling: SW, Bd. 11, S. 331, 315, 317. 30 Schelling: SW, Bd. 11, S. 569, Bd. 13, S. 93, vgl. auch $. 67, ebenso Bd. 11,

S. 564ff. u.ö. Mit diesem Wollen fängt die positive Philosophie an; sie kann nach Schelling auch für sich - ohne Vorausgehen der negativen Philosophie damit anfangen. Vgl. dazu und zu den entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen im Verhältnis von negativer und positiver Philosophie X. Tilliette: Schelling, Bd. 2, bes. S. 53ff., insgesamt $. 27-66, 297-339, auch S. 343ff.

31 Vgl. hierzu z.B. W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings. Mainz 1965, S. 122ff.,

H. Holz: Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling. Bonn 1970, 5. 355ff. Kritisch sieht W. Schulz frühere Ausle202

ehesten Fichtes Argument der im Willen begründeten Annahme einer Halt gewährenden, ja zuletzt einer göttlichen Realität in der Bestimmung des Menschen gleicht, nachdem alle Versuche der Gewinnung einer wahren Erkenntnis durch Selbstvergewisserung des rein denkenden Ich in Realıtätslosigkeit versunken waren. Auch dieser Gedanke Schellings ist also idealistisch. Er begründet frei-

lich im Unterschied zu Fichtes Argument nicht einen moralischen Vernunftglauben, sondern stellt die Grundlage letztlich für einen religiösen Offenbarungsglauben dar.

Der das Wassein erkennenden Vernunft wird also ein unvordenkliches Daßsein vorausgesetzt. Schelling stützt sich hierbei insbesondere auf Arıstoteles’ ontologische Bestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit; diese haben konstitutive Bedeutung für Schellings Einteilung der Philosophie in negative und positive Philosophie. Daß jedoch die Bestimmungen des Aristoteles und der arıstotelischen Tradition von Möglichkeit und Wirklichkeit,

ebenso von Wesen und Existenz nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden dürfen, zeigen auf ganz unterschiedliche Weise z.B. Kants Lehre von der subjektiven Bedeutung der Modalkategorien und Hegels spekulative Neubestimmung und Neuanordnung dieser Kategorien. So hätte Schelling seiner Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie und seiner Lehre vom Wasseıin und Daßsein sowie vom Möglichen und Wirklichen eine eigene Theorie, nämlich eine Logik der Modalkategorien voranschicken müssen.” Das unvordenkliche Daßsein, das der Vernunft absolut voraus-

gesetzt werden muß, enthält nun nach Schelling als dieses rein Vorausgesetzte keinerlei Wasbestimmtheit. Ihm kommen die Gedankenbestimmungen der endlichen Vernunft nicht zu, die diese in der negativen Philosophie aufgestellt hat. Es ist für Schelling

gungsversuche, die in diese Richtung gehen, vgl. Die Vollendung des deutschen Idealismus, S. 145ff.

32 Vgl. dazu vom Verf.: Spekulative Logik und positive Philosophie, S. 125. 203

„das Eine selbst“, wie es für sich ist.”” Er spielt auf Platos Lehre

vom ersten Urgrund (epekeina tes ousias) an, den dieser noch als

Idee des Guten bestimmte und den dann die Neuplatoniker als das ursprüngliche Eine konzipierten. Konsequent zu Ende gedacht, führt diese Ansetzung des ersten, bestimmungslosen Einen

zur negativen Theologie.’ Der Vernunfteinheit, die differente Bestimmungen in sich enthält, muß damit das ursprüngliche, in sich bestimmungslose Eine vorgeordnet werden. Eine vergleichbare Konstellation von Einheitsmodellen war unter anderen metaphysischen Prämissen, wie gezeigt, teilweise schon in der Identitäts-

philosophie zu erkennen. Schelling hat Position und Probleme der negativen Theologie in seiner Spätphilosophie nicht mit hinreichender Konsequenz und Klarheit expliziert. Dennoch läßt sich aus seinen Angaben über die Grundlagen der positiven Philosophie entnehmen, wie er eine Überwindung der negativen Theologie entwarf. Diese Art der Überwindung weicht deutlich von derjenigen Hegels ab. Schon

die Bestimmung, das ursprüngliche Eine seı als unvordenkliches Daßsein das wahrhaft Seiende, trennt Schelling von einer strengen negativen Theologie, wie sie die spätantiken Neuplatoniker durchführten, die das ursprüngliche Eine als überseiend verstanden; noch mehr aber trennt Schelling von einer strengen negativen Theologie seine weitergehende arıstotelisch-scholastische Bestimmung, das ursprüngliche Eine sei reine Energeia, actus purus. Zwar ist

das wahrhaft Seiende und reine Wirkliche nach Schelling am Anfang der positiven Philosophie ohne Wesen und Wasbestimmtheit; aber auch jene über die reine Bestimmungslosigkeit des Einen schon hinausgehenden Modalbestimmungen müssen gerechtfertigt werden. Sie bilden für Schelling die unabdingbare Grundlage für das, was das Ich, was die Vernunft als außer ihr Seiendes will, 33 Schelling: SW, Bd. 11, S. 317. Zum Folgenden vgl. S. 314ff., 560 Anm., 588. 34 In diese Richtung gehen m.E. auch M. Theunissens Hinweise in seinem Aufsatz: Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie. In: Ist systematische Philosophie möglich? Hrsg. von D. Henrich u. K. Cramer, vgl. bes. S. 185. 204

d.h. zuletzt und zuhöchst für die geschichtliche Tat der Offenbarung des einen und einzigen Gottes. Schelling geht hierbei wie sonst keiner der klassischen Rationalisten oder Idealisten in der Neuzeit von der absoluten, nicht begründbaren Vorgegebenheit

und Wahrheit der Offenbarung Gottes aus, die im Christentum verstanden und gedeutet wurde. So wird er - noch vor Kierkegaard — zum philosophischen Theoretiker der Offenbarung als eines der Vernunft absolut vorgegebenen, nicht deduzierbaren, verbindlichen geschichtlichen Ereignisses. Denn diese göttliche Tat kann sehr wohl durch die Vernunft verstanden und angemessen bestimmt werden; dies geschieht in der positiven Philosophie, die Wissenschaft zu sein beansprucht. So wird dasjenige, „was selbst oder in sich ohne alles Was ist“, zu dem „alles begreifenden

Was“.® In der Explikation der positiven Philosophie werden schrittweise die Wasbestimmtheiten wiedereingeführt, die die Vernunft in der negativen Philosophie entwickelt hatte, aber nunmehr als Teilbestimmungen des wahrhaft Seienden, die für sich

genommen zum Begreifen dieses wahrhaft Seienden nicht zureichen. Damit kehrt die negative Philosophie als Theorie der reinen Vernunft innerhalb der positiven Philosophie als dieser untergeordnet wieder; auf diese Weise werden nach Schelling Theosophie oder Mystik vermieden. - Die positive Philosophie entfaltet sich also zugleich als positive philosophische Theologie, die im Ausgang von den Bestimmungen des reinen Daßseins, des wahren Sei-

enden und Wirklichen sowie im Fortgang bis zu den geschichtlich erfahrenen und aufgenommenen konkreten Offenbarungsereignissen die Bestimmungen Gottes mit Hilfe der Vernunft entwikkelt.3®

35 Schelling: SW, Bd. 11, 5. 586, vgl. S. 587, 564f. 36 Der Unterschied zwischen Schelling und Hegel wird u.a. daran deutlich, daß Schelling seine positive Philosophie auch als philosophische Religion ansieht und damit den Primat der geschichtlichen Offenbarung vor dem philosophischen Denken dokumentiert; Hegel dagegen betrachtet seine Theorie über die

Offenbarung als Religionsphilosophie; die Offenbarung ıst nur für den vor205

So haben sich in dieser Untersuchung drei idealistische Modelle, über die negative Theologie hinauszugehen,

gezeigt. Sie be-

ruhen auf unterschiedlichen Konzeptionen metaphysisch und methodologisch verstandener Einheit. Obwohl es sich um klassisch gewordene idealistische Theorien handelt, bringen sie doch jeweils auch Probleme mit sich. In ihrer ersten absoluten Metaphysik setzen Schelling und Hegel ihre Konzeption der absoluten Identität ohne bewußte Auseinandersetzung mit der negativen Theologie einfach an. Diese Metaphysik begreift das Absolute noch als die Eine Substanz, die Schelling und Hegel später in je verschiedener Weise als eine bloße Vorstufe höherer Einheit in ihre weiterentwickelten Theorien integrieren. — Hegel zeigt dann in seiner Logik mit spekulativen Argumenten, daß und wie eine

negative Theologie zu überwinden ist, und legt als vollendete Ein-

heit die Einheit der absoluten Subjektivität dar, die methodologisch die spekulative Dialektik ist. Als problematisch erweist sich der darin enthaltene absolut-idealistische Erkenntnisanspruch. Dies zeigt sich u.a. an Verstößen gegen zentrale Lehren der klassischen

Logik wie z.B. den Satz vom Widerspruch oder gegen die Lehre vom diskursiven Begriff, ohne daß Hegels metaphysische Begründungen für sich einleuchten könnten. - Schellings Spätphilosophie läßt von diesem Anspruch der Vernunfterkenntnis ab. Aber er muß eine andere höhere Erkenntnisquelle, eine metaphysische Erfahrung oder übersinnliche Anschauung annehmen, die in seiner Lehre eine petitio principii bleibt. Auf ihr beruht jedoch als Vermögen,

auch die Offenbarungsevidenz zu vernehmen, letzt-

lich Schellings Überwindung der negativen Theologie. Hinzukommt, daß Schellings Spätphilosophie zu keinem systematischen

Abschluß gelangt; insbesondere fehlt zur Begründung des Unterschieds von negativer und positiver Philosophie eine eigene Logik der Modalkategorien.

stellenden Geist etwas Vorgegebenes; begriffen und insofern aufgehoben wird sie im philosophischen Denken. 206

So sind uns mit diesen idealistischen Lösungen auch die ihnen immanent bleibenden Fragen und Probleme überliefert. Wesentliche Schwierigkeiten lassen sich wohl vermeiden, wenn man als die

höchste uns denkbare Einheit - etwa in Anknüpfung an Kant und den frühen Fichte, in gewisser Weise auch an Husserl - die Ein-

heit des endlichen Selbstbewußtseins ansetzt, in der die anderen denkbaren Einheitsmodelle fundiert sein müssen. Dann freilich können die Einheit des Absoluten und der absoluten Subjektivität bzw. die unvordenkliche Einheit des Wirklichen, das sich als sich

offenbarender Gott erweist, nicht mehr in den Umkreis des philosophischen Erkennens des endlichen Selbstbewußtseins fallen. Wenn dadurch die Theologie ihr eigenes Gebiet zurückerhält, so

wird eine andersartige Grundlegung des Verhältnisses von philosophischem Wissen und theologischer Gewißheit erforderlich; philosophische Versuche, über die negative Theologie hinauszugehen, können dann nicht mehr metaphysisch, wohl aber etwa wie de facto bei Kant und dem frühen Fichte - prinzipiell praktisch-sittlich begründet werden. Doch bleiben die reifen idealıstischen Theorien Schellings und Hegels innerhalb der Metaphysik paradigmatische Möglichkeiten metaphysischen Hinausgehens über die negative Theologie und damit spekulativer bzw. positiver philosophischer Theologie.

207

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Ill. Ethik und Freiheitslehre

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Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie

Einleitung Was Aristoteles vom Seienden behauptete, gilt sicherlich auch von der Freiheit; sie wird in vielfältigen Bedeutungen ausgesagt. So unterscheiden wir etwa Bewegungsfreiheit als Möglichkeit ungehinderter Bewegung im Raume, ästhetische Freiheit als assoziatives Spiel der Einbildungskraft, Handlungsfreiheit als Sphäre der

Möglichkeiten zu handeln und Willensfreiheit, worin Handlungsfreiheit gründet. Die Willensfreiheit als ungehinderte Selbstbestimmung des Wollens zu etwas ist sicherlich die für den Menschen bedeutsamste Freiheitsbestimmung; auch sie aber ist ın sich mehrfältig zu bestimmen. Sie kann z.B. Wahlfreiheit als Möglichkeit des Sich-Entscheidens unter Alternativen sein; diese gründet in psychischer individueller Freiheit als einer gewissen inneren Souveränität des Einzelnen. Sie kann ebenso rechtliche Freiheit und politische Freiheit des Einzelnen sein etwa als Fähigkeit, die individuellen Rechte bzw. das politische aktive oder passive Wahlrecht wahrzunehmen; die individuelle psychische Freiheit ist dafür Voraussetzung; sie kann auch Freiheit eines Volkes sein als

dessen Vermögen, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Die für das Menschsein grundlegende Freiheitsbestimmung aber ist die ethische oder die sittliche bzw. moralische Freiheit als die selbsterworbene

Fähigkeit und

Leistung,

aus vollkommener

innerer

Unabhängigkeit sich den Erfordernissen der Sittlichkeit, die noch näher zu bestimmen sind, gemäß zu verhalten. — Diese verschie-

denen Bedeutungen der Freiheit sind untereinander für den Menschen vereinbar, aber nicht auf eine einzige Bedeutung zurückzu-

führen, aus der sie sich deduzieren ließen. Gleichwohl bleibt die

ethische Freiheit grundlegend; der Mensch verfehlt seine eigensten 211

Möglichkeiten, wenn er sie verfehlt. Klassisch ist hierfür, worauf etwa Aristoteles hinweist, das Beispiel des sagenumwobenen assyrischen Schlemmer-Königs Sardanapal geworden, dem die meisten der erwähnten Freiheiten des Einzelnen zukamen, nur die ethische Freiheit nicht, da er ein Sklave seiner Genußsucht war.

Die unterschiedlichen Einwände gegen die These von der Freiheit des Menschen richten sich nun gegen unterschiedliche Frei-

heitsbedeutungen, ohne daß diese immer klar auseinandergehalten werden; sie wenden sıch im wesentlichen aber gegen die Behauptung ethischer Freiheit. Generell kann man drei Typen von Einwänden benennen: erstens den empirisch-psychologischen, der Freiheit leugnet, da der Mensch in seinem bewußten Wollen doch unbewußt

von den Bedürfnissen und den in ihm gewalttätig sich durchsetzenden Trieben beherrscht werde, zweitens den gesellschaftstheoretischen Einwand, der den Menschen als unfrei — ohne sein klares

Bewußtsein — bestimmt sein läßt durch übermächtige gesellschaftliche Einflüsse, und drittens den allgemein-deterministischen Einwand, den auch Kant kennt, der grundsätzlich alles in der Welt als determiniert ansieht, also auch menschliches Handeln und Wollen, obwohl dem Menschen solche Determination ın seinem Wollen in der Regel unbewußt bleibt. In allen diesen Einwänden wird somit ein subjektives Freiheitsbewußtsein konzediert, das

jedoch als Schein erwiesen werden soll. Zur Klärung der Bedeutung ethischer Freiheit sei nun auf die wohl prominenteste Theorie hierzu aus der Geschichte der Philosophie eingegangen, auf die Kantische, die in ihren Grundlinien auch heute noch in ethischen Diskussionen gegenwärtig ist. Es soll gezeigt werden, daß die Lösung des Problems des Verhältnis-

ses von Sittengesetz und Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft für Kant keineswegs selbstverständlich ist, daß ihr eine z.T. davon abweichende, in sich changierende Theorie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorausgeht, die selbst wiederum Restbestände einer Freiheitskonzeption Kants aus den siebziger

Jahren des 18. Jahrhunderts enthält; diese Freiheitskonzeption steht der idealistischen Freiheitstheorie des frühen Fichte näher 212

als seiner eigenen späteren Freiheitslehre. Bei der Untersuchung dieser Wandlungen und ihrer Gründe wird sich zugleich ergeben, daß eine Theorie der Freiheit nicht nur in die praktische, sondern

z.T. auch in die theoretische Philosophie gehört. Ferner dürfte sich aus dem immanenten Gang der Untersuchung wohl auch eine

Antwort auf jene drei Typen von Einwänden nahelegen. So sei nun erstens Kants Freiheitstheorie in der Grundlegung, zweitens seine Freiheitskonzeption in den Reflexionen der siebziger Jahre und schließlich seine Theorie zum Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft untersucht.

I. Das Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit ın der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Mit der Freiheitstheorie der Grundlegung sei begonnen, da sie Assonanzen an die frühere und ebenso an die spätere Freiheitskonzeption Kants aufweist. - Voraussetzung der Freiheitstheorie in der Grundlegung ist der Nachweis, daß, wenn der Mensch sittlich frei sein soll, solche Freiheit in der Welt wenigstens nicht

unmöglich sein darf. Diesen Nachweis führt Kant innerhalb seines transzendentalen Idealismus in der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft. Hierbei sind implizit auch

der empirisch-psychologische und der gesellschaftstheoretische, explizit der allgemein-deterministische Einwand gegen menschliche Freiheit berücksichtigt; die Kantische Freiheitstheorie ist die einzige innerhalb der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel, die solche Einwände noch ernstnimmt und die dahinterstehenden grundsätzlichen Positionen würdigt. Ob nun in empirisch-psychologischer Hinsicht den Handlungen des Menschen als übermächtiger, wenn auch evtl. unbewußter Bestimmungsgrund die sinnlichen Begehrungen des Trieblebens zeitlich vorausgehen oder ob in gesellschaftlicher Hinsicht Einflüsse wie Herkunft, Erziehung und soziale Umwelt die Handlungen eines 213

Menschen vorweg bestimmen oder ob man schließlich allgemeindeterministisch annımmt wie für Kant z.B. der Spinozismus', daß alle Ereignisse in Raum und Zeit, also auch die menschlichen Handlungen ohne Einschränkung naturkausal determiniert sind, jeweils geht in diesen Einwänden der bewußten Handlung eine hinreichend bestimmende zeitliche Ursache voraus, die nicht im Willen des Einzelnen selbst liegt. Hierbei spielt es für Kant keine Rolle, ob der Einzelne noch Spielräume für Wahlfreiheit sieht;

Wahlfreiheit ist für ihn - nach der berühmten Formulierung der Kritik der praktischen Vernunft - nichts besseres als „die Freiheit

eines Bratenwenders“ (KpV 174)?. Im Felde der Erscheinungen von Raum und Zeit gibt es also keine eigentliche Freiheit. Spezifisch dagegen wird von Kant wahre, nämlich transzendentale Freiheit abgesetzt. Eine Handlung ist in transzendentaler Bedeutung frei, die nicht durch eine zeitlich vorhergehende, fremde Ursache bestimmt wird, die somit durch einen „Selbstanfang“

des Handelnden zustande kommt. Solche Freiheit ist somit eine bestimmte Weise von Kausalität, nämlich unzeitliche, authenti-

sche Kausalität des Handelnden sua sponte; diese aber muß intelligibel, nicht Erscheinung sein und kann für Kant nur - wie man hinzufügen mag - von nichtsinnlichen Wesen, von Intelligenzen ausgeübt werden. Da sie zur Welt der Dinge an sich gehört, ist

uns die reale Möglichkeit solcher intelligiblen Kausalität nach Kants Erkenntnisrestriktion unerkennbar; ebenso ist uns ihre Wirklichkeit theoretisch unbeweisbar; aber wir sehen doch ein, daß solche

Freiheit in transzendentaler Bedeutung als intelligible Kausalıtät mit Naturkausalität im Felde der Erscheinungen wenigstens als

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Zu den historischen Hintergründen der Positionen von Thesis und Antithesis in Kants dritter Antinomie vgl. H. Heimsoeth: Zum kosmotheologischen Ursprung der Kantischen Freiheitsantinomie. In: Kant-Studien 57 (1966), S. 206229. Vorbild der Position der Antithesis ist nach Heimsoeth nicht nur der Spinozismus im Gewande Newtonscher Mechanik, sondern ebenso z.B. die stoische Lehre vom Fatum. Zitiert wird Kritik der praktischen Vernunft. Rıga 1788.

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vereinbar gedacht werden kann, daß sie also auch bei durchgängiger Naturkausalität nicht unmöglich ist. - Wie jene Einwände gegen die Annahme menschlicher Freiheit insgesamt zur theoretischen Philosophie gehören, so gehört Kants Sicherung der Nicht-

unmöglichkeit der wahren Freiheit sogar angesichts lückenloser Naturkausalität ebenfalls zur theoretischen Philosophie; ohne diese theoretische Absicherung bliebe praktische Freiheit eine Chimäre.

Ob es jedoch sinnvoll und begründet ist, für den Menschen tatsächlich Freiheit anzunehmen, läßt sich nicht in der theoretischen, sondern nur in der praktischen Philosophie, genauer: zuerst in

der Ethik entscheiden. In der Grundlegung entfaltet Kant freilich ein Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit, das er später nicht beibehält. Seine Ausgangsfrage lautet: Wie ist die Formel des Sıttengesetzes, der kategorische Imperativ als synthetischer praktischer Satz a priori möglich? Dahinter steht die Frage, warum das

Sittengesetz überhaupt für uns gültig und absolut verpflichtend ist. Das Sittengesetz ist nach Kantischer Lehre nicht analytisch im menschlich-endlichen, vernünftigen, aber durch sinnliche Begierden affızierten Willen enthalten; sondern stellt für ihn ein absolutes Sollen dar. Positionen des Hedonismus, Utilitarismus und dgl.

sind daher nicht analytisch falsch, sondern nur angesichts jenes Sollens. So ist die Verbindung des endlichen Willens mit dem Sittengesetz in einem Imperativ synthetisch a priori und bedarf einer eigenen Deduktion oder Rechtfertigung.’ Kant erklärt: „Der 3

Über diese „Deduktion“ des Sittengesetzes ist in den Interpretationen viel diskutiert worden; sie ist bis heute strittig, wie eine Übersicht in Auswahl zeigen mag: Nach Paton will Kant eine Deduktion des kategorischen Imperativs liefern, die aber versage, weil u.a. die Voraussetzung der Freiheit für ein vernünftiges Wesen nicht zureichend bewiesen werde (vgl. H. J. Paton: The Categorical Imperative. A Study in Kant’s Moral Philosophy. Chicago 1948, S. 242ff., vgl. auch S. 223ff.). D. Henrich vertritt anhand einer Untersuchung von Reflexionen der siebziger und frühen achtziger Jahre die Auffassung, Kant habe mehrfach eine Deduktion der sittlichen Einsicht aus theoretischer Vernunft oder aus der Einheit bzw. der engen Verwandtschaft von theoretischer und praktischer Vernunft versucht, bevor er zur Lehre vom

„Faktum der Ver-

nunft“ gelangt sei (vgl. D. Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und 215

Kants Lehre vom Faktum der Vernunft. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für H.-G. Gadamer. Tübingen 1960, bes. S. I8ff.). Die Grundlegung untersucht Henrich in seiner Abhandlung: Die Deduktion des Sittengesetzes. In: Denken im Schatten des Nihilismus. W. Weischedel zum 70. Geburtstag. Darmstadt 1975, $. 55-112. Er legt dar, daß es Kant wesentlich um eine Deduktion des Freiheitsbewußtseins gehe und erst in der Folge um eine Deduktion des imperativisch formulierten Sittengesetzes. Beides müsse als mißlungen gelten, da Kant keine Klarheit über sein Deduktions- bzw. Beweisverfahren habe und da er von der Voraussetzung des vernünftigen Willens ausgehen müsse. Was Kant demnach tatsächlich zeigt, rückt Henrich nahe an die Lehre vom Faktum der Vernunft heran. Von jenen Reflexionen, von der Ethik-Vorlesung Kants (hrsg. von P. Menzer) und der Grundlegung sowie von Henrichs Interpretation gehen die unterschiedlichen Deutungen von K. Ameriks (Kant’s Deduction of Freedom and Morality. In: Journal of the History of Philosophy 19 (1981), S. 53-79) und H.E. Allison (The Concept of Freedom in Kant’s „Semi-Critical“ Ethics. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 68 (1986), S. 96-115) aus. Ameriks sieht dort einen eigenen Beweis der transzendentalen Freiheit, der aber unklar bleibe, als Grundlage der praktischen Freiheit, was Allison ihm bestreitet; als konsequent gilt Allison nur die Lehre von der praktischen Freiheit in der praktischen Philosophie. Diese vertritt Kant allerdings eindeutig erst in der zweiten Kritik. Gegen theoretische oder transzendentale Erörterungen bzw. Beweise in der Grundlegung wendet sich auch R. Brandt in seinem Aufsatz: Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten’. In: Kant. Analysen-Probleme-Kritik. Hrsg. von H. Oberer und G. Seel. Würzburg 1988, $. 169-191. Brandt sieht Kants Vorhaben in einer Rechtfertigung des kategorischen Imperativs — wie Paton -, die aber nicht versage - anders als Paton glaubt. Der „Zirkel“, den es aufzulösen gelte, sei nicht Kants eigener, sondern der „Zir-

kel“, nämlich der „dialektische Trugschluß“ der Metaphysik, genauer: einer Metaphysik der Sitten (es wird nicht klar gesagt, welcher „Metaphysik“). Die Lösung, die Brandt sieht, steht derjenigen der Kritik der praktischen Vernunft nahe. - Nicht speziell auf die Grundlegung bezogen, aber kritisch gegen Kants Freiheitslehre insgesamt gerichtet ist Lewis White Becks Aufsatz: Five Concepts of Freedom in Kant. In: Philosophical Analysis and Reconstruction. Hrsg. von J.T.J. Srzednick und $. Körner. Dordrecht 1987, S. 35-58. Ohne nähere Beachtung entwicklungsgeschichtlicher Unterschiede bei Kant fordert Beck, man müsse genauer als Kant verschiedene Freiheitsbedeutungen auseinanderhalten; dabei zeigt sich, daß er insbesondere der transzendentalen Frei-

heit in Kants praktischer Philosophie keine klare Bedeutung zuweisen kann. Zu transzendentaler und praktischer Freiheit in Kants Kritik der reinen Vernunft mit Hinweisen auf frühere Interpretationen der Entwicklungsgeschichte von Kants kritischer Freiheitstheorie vgl. H.E. Allison: Practical and Trans-

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positive Begriff der Freiheit schafft dieses Dritte“ (Akad.-Ausg. IV, S. 447), das die Verbindung des endlichen vernünftigen Willens

und des Sittengesetzes rechtfertigt und gültig macht. Der Begriff der praktischen Freiheit oder der Willensfreiheit gründet nach Kant im Begriff der transzendentalen Freiheit als Selbstanfang; praktische Freiheit ist nur wahre Freiheit, insofern der Wille zum Selbstanfang in der Lage ist.* Innerhalb des Begriffs der praktischen Freiheit unterscheidet Kant einen negativen Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit von fremden, bestimmenden Ursachen und einen positiven Begriff der Freiheit als gesetzmäßiger Verknüpfung von

unzeitlicher, intelligibler Ursache und Wirkung, einer Verknüpfung, die vom Willen selbst gewollt wird. - Wenn man nun mit Gründen ansetzen könnte, daß dem Menschen Willensfreiheit ın

beiderlei Bedeutung wirklich zukomme, dann ließe sich darın das Sittengesetz als die gesetzmäßige Verknüpfung von freier Ursache und ihrer Wirkung und damit Sittlichkeit des Willens in seiner Autonomie leicht aufweisen. - Aber hier stellt sıch die Frage: Was berechtigt uns zur Annahme, der menschliche Wille sei wirklich frei? Wenn es nur das Bewußtsein des Sittengesetzes ist, das solche Annahme der Freiheit erlaubt und begründet, ergibt sich wie Kant in der Grundlegung erklärt - ein Zirkel; wir schließen cendental Freedom in the Critique of Pure Reason. In: Kant-Studien 73 (1982), S. 271-290. Vgl. ebenso F. Chiereghin: /! Problema della liberta in Kant. Verifiche, Trento 1991, S. 13-61, über die Grundlegung S. 76-85. - Im

folgenden sei skizziert, daß Kants Aufgabe schen Imperativ formulierten Sittengesetzes eigenen Theorie zugehört, aber auch nıcht Metaphysik, daß er vermieden werden und

die Deduktion des im kategoriist, daß der „Zirkel“ nicht seiner einer nicht näher bestimmbaren die Deduktion durchgeführt wer-

den kann, freilich unter Verwendung von Argumenten, die z.T. einer früheren

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Freiheitstheorie Kants angehören und die Kant später fallen läßt. Kant spricht in der Grundlegung auch einmal von einer „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ (IV, S. 447). Gemeint ist offenbar die Rechtfertigung der Gültigkeit nicht eines Begriffes, sondern eines Satzes wie: Endliche vernünftige Wesen, die über reine praktische Vernunft verfügen, sind wirklich frei (vgl. IV, S. 448). Anders als später bildet die-

ser Gedanke für Kant offenbar hier einen Bestandteil der Deduktion des Sittengesetzes. 217

aus der Freiheit und ihrer Gesetzmäßigkeit auf die Autonomie des Willens und das Sittengesetz; aber wir nehmen solche Freiheit nur an, weil wır das Bewußtsein des Sittengesetzes schon voraussetzen (vgl. IV, S. 450, 453). Dieser „Zirkel“ ıst vermeidbar und

die projektierte Deduktion durchführbar, wenn es einen von diesem Bewußtsein des Sittengesetzes unabhängigen Grund gibt, Freiheit für den Menschen als wirklich anzunehmen.

Diesen Grund sucht Kant nach einem vorbereitenden Hinweis auf die Urteilsfreiheit (vgl. IV, S. 448), die mit der Freiheit zu denken oder mit „logischer Freiheit“? äquivalent ist, spezifisch in der „reinen Selbsttätigkeit“ und Spontaneität des reinen Ich oder

der Vernunft aufzuweisen (vgl. IV, S. 451f.). Sie kommt dem Menschen „wirklich“ zu. Durch diese reine spontane Tätigkeit gerade

im Konstituieren von Vernunftideen versetzt sich das spontane Subjekt ın die „Verstandeswelt“ oder intelligible Welt; es gehört insofern nicht der Rezeptivität der Sinnlichkeit und ihrer Formen an; es betrachtet sich vielmehr in seiner Spontaneität als solcher, die noch nicht spezifisch praktisch bestimmt ist, als „Intelligenz“

(IV, S. 453), als reines intellektuelles Wesen. Während Kant noch in der Kritik der reinen Vernunft an einer Stelle - nicht der Erkenntnisrestriktion

gemäß

— einmal sagt, der Mensch

„erkennt

sich selbst [...] durch bloße Apperzeption“ (B 574), hält er ın der Grundlegung daran fest, daß solches Sich-als-Intelligenz-Betrachten kein Erkennen,

sondern

nur ein Denken

seiner selbst® ist.

Dies aber reicht aus für den Gedanken, der nach Kants Grundlegung notwendig ist, das spontane Ich als Intelligenz sei Mitglied der intelligiblen Welt. 5 6

Vgl. in Kants Schulz-Rezension VII, $. 14 sowie Refl. 4904 (XVIII, S. 24)

und Refl. 5441 (XVII, S. 182£.).

Kant hält ein reines Denken seiner selbst (trotz des Zirkel-Arguments ın Kr.d.r.V. B 404) durchaus für möglich, vgl. Kr.d.r.V. B 420, 429, 430, 158, XXII, 5. 89 u.ö.; hierzu mag der Hinweis auf die Darlegung des Verf.s erlaubt

sein: C’2 un circolo dell’ autocoscienza? Uno schizzo delle posizioni paradigmatiche e dei modelli di autocoscienza da Kant a Heidegger. In: Teoria XII (1992), bes. S. 6ff. (s. auch in dt. Fassung im vorliegenden Band). 218

Nun gibt es in der intelligiblen Welt ebenso wie ın der Natur Kausalität; die in der intelligiblen Welt herrschende Kausalıtät ist selbst intelligibel; es ist die Kausalität aus Freiheit. Kant geht bei seiner Argumentation davon aus, daß jede Intelligenz über Kau-

salität aus Freiheit verfügt vermöge eines vernünftigen Willens, den er ihr zuschreibt. Er setzt dabei ohne nähere Erläuterung die Leibnizsche metaphysische Auffassung als reinen Gedanken voraus, daß die intelligible oder noumenale Welt aus individuellen Substanzen besteht, denen, sofern sie lebendig sind, jeweils perceptio und appetitus als innere Bestimmungen zukommen. Bei Intelli-

genzen - und nur von diesen ist hier die Rede- ist jener appetitus jeweils der vernünftige freie Wille.” Freiheit ist hier somit immer Freiheit des Einzelnen. Solche Freiheit darf nun nicht als Gesetzlosigkeit verstanden werden. Sie enthält vielmehr eine gesetzmäßige Verknüpfung der selbstanfangenden Ursache mit ihrer Wirkung. Diese Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung erlegt sich, wie

Kant nun in der Grundlegung eigens darlegt, das intelligible Subjekt selbst auf; seine Freiheit ist somit in spezifischerer Bestimmung Autonomie. Die Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung in der intelligiblen Welt aber ist das Sittengesetz. Daher ist das Sittengesetz für einen freien Willen absolut gültig. Das Sittengesetz soll aber auch für den menschlich-endlichen, sinnlich affızierbaren Willen Gültigkeit haben. Hier führt Kant nun mehrfach das Argument an, daß die intelligible Welt und ihre 7

Henrich vermißt eine eigene Begründung Kants dafür, daß einer Intelligenz ein vernünftiger und freier Wille zukommt, vgl. D. Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes (s. Anm. 3), S. 67, 72, 91ff. Diese Begründung gehört, wie

sich gezeigt hat, in eine Metaphysik des Substanzenpluralismus. Wenn Kant von einem „von Leibnizen ausgeführten, an sich richtigen platonischen Begriff von der Welt“ als mundus intelligibilis spricht (IV, S. 507), so meint er die Welt der Ideen als für sich existierender Einheiten, der Henaden, die spezifi-

scher als Monaden zu verstehen sind. Ein Beweis aber, warum geistigen Monaden Freiheit zukommen müsse, übersteigt die kritische Restriktion der Erkenntnis; daher bleibt dies ein vermittels der Vernunftspontaneität und des appetitus der Monade begründeter reiner Gedanke. 219

Gesetzmäßigkeit der Sinnenwelt und deren Gesetzen urbildhaft zugrunde liegt (vgl. IV, S. 453f.); also gilt dies auch für den menschlichen Willen, der sich einerseits als vernünftig und frei, somit als

intelligibel weiß, andererseits sich aber als sinnlich bedingt erkennt. Da nun bei diesem Willen, was intelligibel gesetzmäßig gilt, d.h. was dem Sittengesetz entspricht, doch physisch zufällig ıst, in der Sinnenwelt also nur möglicherweise ausgeführt wird, da gleichwohl aber das intelligibel Gesetzmäßige als Grundlage der sinnlichen Vorgänge und Handlungen gelten soll, so hat das Sittengesetz als Gesetz der Freiheit für unseren zugleich sinnlichen Willen den Charakter eines absoluten Gebots, das in einem kategorischen Imperativ formuliert wird. Das darin ausgedrückte absolute Sollen enthält die Notwendigkeit dessen, was in der sinnlichen

Natur nur möglich und nur zufällig geschieht. Damit ist die Formel des Sittengesetzes, der kategorische Imperativ als synthetischer praktischer Satz a priori in seiner Gültigkeit gerechtfertigt; er ist für den sinnlichen, zugleich intellektuellen Willen absolut verpflichtend. Der entscheidende Deduktionsgrund besteht darin, daß das spontane intellektuelle Selbst sich als Mitglied der intelligiblen Welt und damit als frei weiß. Die zusätzliche Begründung, daß die intelligible der sinnlichen Welt zugrunde liege, um die Gültigkeit des Sittengesetzes auch für den menschlich-endlichen, zugleich sinnlichen Willen aufzuzeigen, ist in der kritischen Philosophie nicht spezifizierbar; es kann in ihr nicht gezeigt werden, welche intelligiblen Ursachen und Wirkungen welche sinnlichen Handlungen und Ereignisse spezifisch auslösen, da dies Einsicht in die innere Beschaffenheit der Kausalität aus Freiheit verlangte.° 8 Vgl. Henrichs Kritik, der freilich die Deduktion selbst tangiert sieht, in Die Deduktion des Sittengesetzes (s. Anm. 3), S. 97. Entschieden schärfer kritisiert

L.W. Beck diesen Gedanken; jedem sinnlichen Ereignis müsse danach noumenale Freiheit zugrunde liegen, und dies mache sie überhaupt zu einem gänzlich unbestimmten Gedanken (vgl. L.W. Beck: Five Concepts of Freedom in Kant,

s. Anm. 3, S. 40ff.). Allerdings geht es Kant hier nicht um göttliche Freiheit in bezug auf Erscheinungen überhaupt, sondern speziell um den einzelnen freien Willen und dessen Erscheinung sowie dessen Handlungen, die eben nur ihm 220

Aber eine solche Erkenntnis ist für die praktische Bedeutung des Sittengesetzes auch nicht erforderlich. Daher bildet dieser Gedanke eigentlich kein inhaltlich bestimmtes Argument für die Deduktion des Sittengesetzes, sondern allenfalls - als reiner Gedanke

- eine Erläuterung dieser Deduktion; es genügt für die Deduktion die Feststellung, daß der Gedanke der Gültigkeit des Sittengesetzes für einen freien Willen im Begriff dieses Gesetzes liegt und für den menschlich-endlichen freien Willen ein absolutes Sollen be-

deutet. Theoretische Bedingung dafür ist, daß intelligible und sinnliche Welt nicht zwei ontologisch getrennte Welten darstellen, so daß das Gesetz der intelligiblen ın anderer Betrachtung auch in der sinnlichen Welt gelten kann. In den weiteren Erläuterungen seiner Deduktion des Sittengesetzes hebt Kant hervor, daß hiermit keine Erkenntnis der inne-

ren Möglichkeit der Freiheit oder der Notwendigkeit des Sitten-

gesetzes als Gesetzes der intelligiblen Welt beansprucht werde; denn diese wäre metaphysisch. Es werde in jener Deduktion le-

diglich gezeigt, daß das Bewußtsein des Sittengesetzes, das ein Sollen für uns darstelle, allein unter der Voraussetzung der Freiheit des Willens, auch des menschlich-endlichen Willens möglich sei und daß man „die Notwendigkeit dieser Voraussetzung einse-

hen“ könne (IV, S. 461). Versteht man die Einsicht in die Not-

wendigkeit der Voraussetzung der Freiheit dahingehend, daß es eben das Bewußtsein des Sittengesetzes sei, das diese Vorausset-

zung erfordere, so bringt man Kants Erläuterung ganz in die Nähe der Position der Kritik der praktischen Vernunft, wodurch die in der Grundlegung durchgeführte Deduktion obsolet würde. Diese Erläuterung dürfte statt dessen — der Deduktion der Grundlegung konform - bedeuten, daß das Bewußtsein des Sittengesetzes auf der Freiheit des Willens beruht, die sich Intelligenzen notwendig zuschreiben; sie schreiben sie sich deshalb notwendig zu, zuzurechnen sind. Zutreffend bleibt freilich, daß von bestimmten Erscheinun-

gen als Wirkungen eines freien Willens nach Kant nicht auf dessen innere Beschaffenheit geschlossen werden kann. 221

weil sie als absoluter Vernunftspontaneität fähige Wesen sich als Mitglieder der intelligiblen Welt denken müssen, in der Kausalıtät aus Freiheit herrscht. Dies ist die Skizze einer Implikationskette reiner Gedanken, die in dieser Zusammenfassung nur in umgekehrter Abfolge zur Deduktion selbst angelegt ist. Kant

betont

nun,

der

„praktische

Gebrauch

der

gemeinen

Menschenvernunft“ (IV, S. 454) bestätige diese Deduktion. Die

komplizierte Beweisführung soll demnach nichts anderes enthalten, als was dem

„gemeinen“

sittlichen Bewußtsein

ohnehin -

obgleich nicht in einzelnen Beweisschritten - gegenwärtig und evident ist. Die Kenntnis des Sittengesetzes und der eigenen Frei-

heit sind allgemeine Bewußtseinsgegebenheiten oder ursprüngliche Evidenzen

des sittlichen Subjekts. Dies

kommt

inhaltlich der

Lehre vom „Faktum der Vernunft“ in der Kritik der praktischen

Vernunft nahe; beweistheoretisch bleibt es in der Grundlegung

eine bloße Bestätigung der unabhängig von dieser Lehre durchgeführten Rechtfertigung der Gültigkeit des Sittengesetzes für uns.

Doch enthält diese Deduktion des Sittengesetzes inhaltlich metaphysische Prämissen; vermutlich hat Kant sie deshalb später fallenlassen. Das rechtfertigende Dritte für die Verbindung des menschlich-endlichen Willens mit dem Sittengesetz ist die intelligible Welt und genauer: die gesetzmäßige unzeitliche Kausalität in ihr. Diese intelligible Welt ist für Kant die Welt der Intelligenzen, denen Willensfreiheit zukommt. Damit ist zugleich die inter-

subjektive Bedeutung des Sittengesetzes gesichert. Aber zum einen

bleibt es eine metaphysische, nach Kants kritischer Lehre unerweisbare Voraussetzung, daß wir uns auch unabhängig vom Be-

wußtsein des Sittengesetzes schon durch die reine Spontaneität des

„Ich denke“

und

der Vernunft

als selbständig existierende

Mitglieder der intelligiblen Welt ansehen; aus der Auflösung der Paralogismen, nach denen dem „Ich denke“ selbständige intellek-

tuelle Existenz zukommen soll, was Kant kritisiert, folgt dies keıneswegs; durch das reine „Ich denke“ ist über eine Existenz dieses

Ich als Mitglied der intelligiblen Welt nichts ausgemacht. Zum anderen ist, was Kant selbst anspricht, das rechtfertigende Dritte 222

selbst etwas theoretisch Unerkennbares; von der intelligiblen Welt als Welt der Intelligenzen können wir inhaltlich ebensowenig er-

kennen wie von der inneren Möglichkeit ihrer Kausalität aus Freiheit. So dient in dieser Deduktion etwas als Rechtfertigungsgrund, das selbst nicht erkennbar ıst.

II. Spontaneität und Freiheit in Kants metaphysischer

Freiheitskonzeption der siebziger Jahre Die metaphysischen Implikationen der Freiheitstheorie der Grundlegung werden deutlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund von Kants früherem Ansatz einer Freiheitslehre aus den siebziger Jahren sieht, der zu einer Metaphysik des reinen Ich gehört. Die

Grundlegung enthält offensichtlich noch einzelne Momente dieses früheren Entwurfs.” In den Reflexionen der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts

und noch in der von Poelitz herausgegebenen Metaphysik-Vorlesung erklärt Kant, reine Selbsttätigkeit und Spontaneität des Ich seien schon als solche Freiheit. So heißt es ın Reflexion 4220: „Freiheit ist eigentlich nur die Selbsttätigkeit, deren man sich bewußt ist.“ (XVII, S. 462) Noch in der genannten MetaphysikVorlesung hält Kant daran fest: „Das Ich beweiset aber, daß ich

selbst handele; ich bin ein Prinzip und kein Principiatum [...]. Dadurch, daß das Subjekt libertatem absolutam hat, weil es sich bewußt ist, beweiset es, daß es nicht subjectum patiens, sondern

agens sei [...]. Wenn ich sage: ich denke, ich handele etc.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei.“!? 9 Eine ähnliche Ansicht vertritt D. Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes (s. Anm. 3), S. 85.

10 I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. von C.H.L. Poelitz. Erfurt 1821, Nachdruck: Darmstadt 1964, S. 206. Vgl. Refi. 4225 (XVII, S. 464f.), Refl. 5441 (XVIL, S. 182) sowie Refl. 6860 (XIX, S. 183). Vgl. die erste umfassende Interpretation der Reflexionen und Äußerungen Kants zur Ich-Metaphysik aus den siebziger Jahren mit ihren Nachwirkungen in der kritischen 223

Dem Ich kommt also per definitionem reine Spontaneität und damit absolute Freiheit zu. Mit dieser absoluten Freiheit versetzt das Ich sich in die geistige oder intelligible Welt; es ist unabhängig von aller Passivität der Sinnlichkeit. Hierbei steht der Dualismus von sinnlicher und geistiger Welt im Hintergrund. In diesem Begriff der absoluten Freiheit als reiner, intellektuel-

ler Spontaneität ist offenbar der Begriff der praktischen, speziell der sittlichen Freiheit des menschlichen Willens begründet, wenn die lockere Fügung der Reflexionen solche systematische Interpretation erlaubt. Das sinnliche Begehrungsvermögen ist determiniert durch sinnliche Gründe; der göttliche oder auch der rein intellektuelle Wille ist determiniert durch intellektuelle, rein geistige Gründe; obwohl er nicht anders handeln kann, ist er doch frei, nämlich

selbsttätig handelnd

aus innerer Motivation.

Der

menschliche Wille ist weder in der einen noch in der anderen Hinsicht determiniert; er ist frei zur sinnlichen ebenso wie zur intellektuellen Bestimmung seiner selbst (vgl. Refl. 4226, XVII, S. 465). Diese Freiheitsauffassung, die auch heteronomes Handeln in der Freiheit begründet, nimmt in etwa erst der späte Kant wieder auf;

sie bildet eine Präfiguration von Reinholds oder auch von Schillers Auffassung von der menschlichen Willensfreiheit.!! - Sofern Philosophie von Heimsoeth, die wesentlich dazu beitrug, die Kant-Auffassung des Neukantianismus abzulösen: H. Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (zuerst 1924). In ders.: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen. Kant-Studien Ergänzungsheft 71, Köln 1956, S. 227-257. 11 Kant vertritt in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft die Lehre, daß „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einer-

lei“ sei (IV, S. 447); Wahlfreiheit finde nur in der Erscheinung statt nicht wahre Freiheit. Die zeitgenössische Diskussion richtet an diese sung die Fragen, ob dies Determinismus sei und ob dann unmoralische lungen unfrei und nicht zurechenbar seien. So erklärt Carl Christian

und sei AuffasHandErhard

Schmidt (1790), er sche darin nur Determinismus und vertrete selbst einen in-

telligiblen Fatalismus. Carl Leonhard Reinhold aber wendet sich (1792) gegen die Auffassung von der Unmöglichkeit der Freiheit für unsittliche Handlungen und plädiert für eine Freiheit des Willens, die sich zu sittlichen und zu unsittlichen Handlungen entscheiden kann. Diese Lehre kritisiert wiederum Leon224

der freie Wille sıch nun intellektuell bestimmt, will er das Gute, ist er sittlicher Wille; das Gute wird hierbei inhaltlich nıcht näher von Kant charakterisiert.'? Dieser sittliche, freie Wille des Men-

schen ist offenbar nur eine Spezifikation des absolut freien und selbsttätigen Ich, das noch vor der Trennung ın theoretisch erkennendes und praktisches Selbstbewußstsein liegt und das selbst damit rein und spontan intellektuell vorstellendes, seiner selbst

bewußtes Subjekt ist. Dieses spontane intellektuelle Ich muß nun auch seiner selbst in seiner Aktivität inne sein. Die Vorstellungsart dieser Selbstbeziehung bestimmt Kant in den Reflexionen der siebziger Jahre und noch in der erwähnten Metaphysik-Vorlesung auf eine - von der Kritik der reinen Vernunft her gesehen - ganz ungewöhnliche Weise. So erklärt er: „Das Ich ist eine unerklärliche Vorstellung.

hard Creuzer (1793); er sieht einen Widerspruch in einem freien Willen, der

sich zu kontradiktorisch entgegengesetzten Handlungen bestimmen kann. So hält er den Fatalismus zwar für theoretisch konsistent, aber für praktisch unbefriedigend. Reinholds und Creuzers Auffassung wird von Johann Gottlieb Fichte kritisch erörtert (1793). Die reine Selbstbestimmung des Ich, seine reine

Spontaneität, die für Fichte zugleich grundlegend Freiheit ist, liegt dem Satz des Grundes (scil. und dem Satz des ausgeschlossenen Dritten) voraus; des-

halb und nicht aus spezielleren moralphilosophischen Rücksichten kann sie Fähigkeit zur Entscheidung für kontradiktorisch entgegengesetzte Handlungen sein. Determiniert und bestimmt aber ist das Ich immer nur als Erschei-

nung (vgl. den Auswahlabdruck der Schriften dieser Autoren in Materialien zu Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft’. Hirsg. von R. Bittner und K. Cramer. Frankfurt a. M. 1975, S. 241ff.). Hinzugefügt sei, daß Schiller Reinholds

Position fortführt und daß Kant selbst in seiner Religions-Schrift und in der Metaphysik der Sitten sowohl einen intelligiblen, aber unerforschlichen Grund des Bösen in der Freiheit als auch böse Willkürhandlungen zugibt, die sich als Ereignisse in der Erscheinungswelt finden. Allerdings hält Kant daran fest, daß „die Freiheit der Willkür [...] nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln [...], definiert werden“ kann, „wie es

wohl einige versucht haben“ (VI, S. 226). - Die Freiheitsdiskussion in der

Entwicklung von Kant zu Fichte und zu Schiller als Grundlage frühidealistischer Freiheitstheorien ist noch nicht genügend aufgeklärt. 12 Vgl. Refl. 4226 (XVII, S. 465), Refl. 4227 (XVII, S. 466), Refl. 3868 (XVII,

S. 318) u.ö.

225

Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist.“ (Refl. 4225, XVII, S. 465) „Unerklärlich“ ist die Vorstellung des Ich, weil sie nicht

aus anderem bestimmbar, sondern selbst ursprüngliches Prinzip ist. Was aber wie dieses Prinzip allein aus sich selbst verstehbar ist, kann nur in einer es als solches präsentierenden, unmittelba-

ren Vorstellung, d.h. in einer Anschauung gegenwärtig sein; da diese das Ich selbst und damit reine selbstbewußte Spontaneität

und Freiheit vorstellt, kann sie auch in ihrem Vollzug durch das Ich keinem zeitlichen Wandel noch Wechsel unterworfen sein; so ist sie „unwandelbar“, was inhaltlich nur eine negative Bestim-

mung ist. Die Erkenntnisart dieser vorstellenden Selbstbeziehung

des spontanen und freien Ich bestimmt Kant noch genauer: „Die Wirklichkeit der Freiheit können wir nicht aus der Erfahrung schließen. Aber wir haben doch nur einen Begriff von ihr durch unser intellektuelles inneres Anschauen (nicht den innern Sinn) unsrer Tätigkeit, welche durch motiva intellectualia bewegt werden kann.“ (Refl. 4336, XVII, S. 509). In ähnlicher Weise spricht er in einer anderen Reflexion von „unseren intellektualen Anschau-

ungen vom freien Willen“ (Refl. 4228, XVII, S. 467). ne und freie Ich ebenso wie der freie Wille beziehen sich selbst ın intellektueller Anschauung, die Kant vom inneren Sinn unterscheidet und die er hiermit,

Das spontasich also auf ausdrücklich weil sie das

Verständnis wirklicher Freiheit erschließt, nicht nur als möglich, sondern sogar als wirklich ansieht.

Durch

diese

intellektuelle

Anschauung

als ursprüngliche,

unmittelbare Selbstbeziehung des Ich, das sich damit noch nicht in thematisch vorgestelltes Subjekt und thematisch vorgestelltes Objekt aufgeteilt hat und das Kant offenbar noch nicht in der generellen Perspektive der Selbstbeziehung als Subjekt-ObjektBeziehung sieht, wird sogar eine metaphysische Erkenntnis möglich, die Kant später entschieden bestreitet. So heißt es in einer Reflexion der siebziger Jahre: „Ich ist die Anschauung einer Substanz.“ (Refl. 4493, XVII, S. 572) - und in der von Poelitz heraus-

gegebenen Metaphysik-Vorlesung: „Also drückt das Ich das Substantiale aus [...] Dieses ist der einzige Fall, wo wir die Substanz 226

unmittelbar anschauen können.“” Da diese Substanz wie für Leibnız einfach sein muß, können wir auch die Einfachheit des Ich unmittelbar erkennen: „Eigentlich läuft aller Beweis von der ein-

fachen Natur der Seele darauf hinaus, daß sie eine unmittelbare Anschauung seiner selbst durch die absolute Einheit: Ich sei [...]“ (Refl. 4234, XVII, S. 470). Kant erklärt ferner: „Der Verstand selber (ein Wesen, das Verstand hat) ist einfach. Es ist Substanz. Es ist transzendental frei.“ (Refl. 4758, XVII, S. 707) Das Ich schaut sich also in seiner Spontaneität und Freiheit selbst intellektuell an als in sich einfaches Substantiale aller seiner Gedanken und damıt zugleich als Mitglied der intelligiblen Welt, das selbständig existiert, d.h. Substanz ist. Die Metaphysik der Seelensubstanz wird in diesem Entwurf Kants zur Metaphysik der Ich-Substanz. Diese Freiheits- und Ichkonzeption steht der idealistischen Freiheitstheorie des frühen Fichte, der sie gar nıcht kannte, näher als Kants eigener späterer Theorie des Verhältnisses von Sittengesetz und Freiheit. Auch für Fichte ist das reine Ich absolute Spontaneität und Selbsttätigkeit oder Tathandlung; auch für Fichte ist

die Selbstbeziehung dieses Ich intellektuelle Anschauung; und auch Fichte schreibt diesem reinen selbsttätigen Ich schon Freiheit zu. Diese Freiheit unterscheidet er von der spezifisch praktischen Freiheit. Im System der Sittenlehre (1798) gelangt er zur ethischen

Freiheit dadurch, daß er jene allgemeine Freiheit als absolute Tätigkeit des Subjekts näher bestimmt durch eine Gesetzmäßigkeit,

die die Identität des Ich bewahren soll; diese Gesetzmäßigkeit ist das Sittengesetz, das - ähnlich wie in jenen Reflexionen der sieb-

ziger Jahre, aber anders als beim späteren Kant - zunächst nur die Identität des handelnden Subjekts aufrechterhält und erst daraufhin Sollenscharakter und intersubjektive Bedeutung gewinnt.!* Auch für Fichte ist das freie und wollende Ich Intelligenz im traditionellen 13 I. Kant: Vorlesungen über die Metaphysik (s. Anm. 10), 5. 133. 14 Vgl. dazu E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, S. 208ff., 226ff. 227

und auch im Kantischen Sinne, die schon ihrer Spontaneität und

Selbsttätigkeit wegen zur intelligiblen Welt gehört. Sıe ist aufgrund dessen selbständig existierendes Mitglied dieser intelligiblen Welt oder - wie Kant alterrümlich und präzise sagte - Substanz. Fichte weist allerdings den Begriff und die Erkenntnis des Ich als substantielles Ding an sich, das außerhalb des Bewußtseins existieren müßte, zurück. Gegen Kants spätere Lehre vom „Faktum der Vernunft“, aber ähnlich wie Kant es vorher anstrebte,

sucht Fichte eine systematische Ableitung des Sittengesetzes aus der Freiheit und der Selbsttätigkeit des Ich. Die inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit Kants früherer Freiheitskonzeption sind also umfangreich und vielfältig. - Fichtes argumentatives Vorgehen ist freilich ein grundlegend anderes; es ist geleitet vom Programm der systematischen Entwicklung einer Subjektivitätstheorie, speziell einer Theorie der praktischen Subjektivität, und es entfaltet Subjektivität wesentlich vom Modell der Selbstbeziehung als SubjektObjekt-Beziehung oder der Subjekt-Objekt-Einheit her. Beides findet sich in Kants früherem Ansatz noch nicht.

III. Das Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit in Kants Kritik der praktischen Vernunft Kant gibt in der Grundlegung und schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Theorie der intellektuellen Anschauung des Ich und der Erkenntnis des reinen Ich als Substanz auf, offensichtlich weil sie der Erkenntniskritik nicht standhalten.

Er gibt auch den Begriff der Freiheit als reiner Spontaneität und Selbsttätigkeit auf; für die Freiheit ist ihm nun die spezifischere Bestimmung einer unzeitlichen Kausalität als Selbstanfang wesentlich. - Doch auch die Theorie der Grundlegung enthält noch, wie gezeigt, metaphysische Prämissen, deren Geltung nicht erweisbar ist. Zum einen läßt sich die Voraussetzung nicht erweisen, daß das vernünftige Ich schon seiner Spontaneität wegen und noch 228

vor aller sittlichen Selbstbestimmung als existierendes Mitglied der intelligiblen Welt, nämlich der Welt der Intelligenzen gedacht

werden müsse. Zum anderen ist der Rechtfertigungsgrund für die Verbindung von endlichem Willen und Sittengesetz, nämlich die in der intelligiblen Welt herrschende Kausalität aus Freiheit, selbst unerkennbar. Daher müssen sowohl das Ausgehen von einer noch nicht sittlich bestimmten Spontaneität als auch dieser für sich unerkennbare Grund der Deduktion des Sittengesetzes vermieden werden. Dann aber läßt sıch das ganze Unternehmen einer De-

duktion des Sittengesetzes, das parallel zur transzendentalen Deduktion der Kategorien aufgebaut werden sollte, gar nicht mehr durchführen. Kant stellt daher - als Ergebnis dieses Scheiterns in der Kritik der praktischen Vernunft eine ganz neue Theorie des Verhältnisses von Sittengesetz und Freiheit auf, die jene metaphysischen Beweisführungen bzw. Prämissen vermeidet.

In impliziter Erinnerung an die Bemühungen in der Grundlegung erklärt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft, daß „an

die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips“ nun die umgekehrte Begründung trete, daß es „selbst

zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens“ werde (KpV 82), nämlich reinen, noch nicht sittlich gangen werden kann, um Sittengesetz zu gelangen,

der Freiheit. Da nicht mehr von der bestimmten Spontaneität des Ich ausgezur Freiheitsthese und daraufhin zum bleibt nur noch der Ausgang vom Be-

wußtsein des Sittengesetzes selbst als eines „Faktums“ oder — wie Kant auch vorsichtiger sagt - „gleichsam“ eines „Faktums der

Vernunft“ (KpV 56, 72, 74, 81, 96 u.6.)."” Das Sittengesetz wird 15 Zu Kants Lehre vom „Faktum der Vernunft“ angesichts seiner früheren Ver-

suche einer Deduktion des Sittengesetzes vgl. D. Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft (s. Anm. 3), bes. S. 110ff.; vgl. auch L.W. Beck: A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason. Chicago 1960, S. 164ff., 170ff. Das „Faktum der Vernunft“ bedeutet

für Kant offenkundig das ursprüngliche Bewußtsein des Sittengesetzes; wenn Kant auch das Sittengesetz selbst (vgl. XpV 37, 81) oder die Autonomie (vgl. KpV 72) als „Faktum“ bezeichnet, so geschieht dies in abkürzender Redeweise.

229

dabei aufgefaßt als Inhalt einer ursprünglichen, sich von selbst aufdrängenden Evidenz des sittlichen Bewußtseins, dem niemand

seine Zustimmung und sein Sich-Verpflichtet-Wissen in der Prüfung und in der Setzung von Handlungsmaximen verweigern kann; es ist kein empirisches

Faktum,

sondern ein unableitbarer, ur-

sprünglich einleuchtender apriorischer Inhalt der vernünftigen sittlichen Einsicht. Das Sittengesetz wird nach wie vor im kategorischen Imperativ als einem synthetischen praktischen Satz a priori formuliert; aber dessen Gültigkeit kann nicht, wie Kant nun erklärt, aus anderen Gründen deduziert werden, sondern muß von

sich aus ursprünglich einleuchten. - Aufgrund dieses Bewußtseins des Sittengesetzes als eines absolut den Willen verpflichtenden ist es nun aber gerechtfertigt, ja sogar notwendig, für den Menschen Freiheit anzunehmen. Vom Sittengesetz, wie es sich uns in der

Vernunft aufdrängt, kann nämlich nicht gedacht werden, daß es dem menschlich-endlichen Willen etwas Unmögliches gebiete und insofern absurd sei; denn dann könnte es nicht ernsthaft als absolut verpflichtende Aufforderung zu bestimmten praktischen Hand-

lungsmaximen und Handlungen verstanden werden. Daher muß der menschlich-endliche Wille, der das Sittengesetz als sinnvolles Gebot an ıhn auffaßt, auch in der Lage sein, ihm zu folgen, d.h.

sich von sinnlich-privaten Bestimmungsgründen unabhängig zu machen, was dem negativen Freiheitsbegriff entspricht, und aus eigener Spontaneität dem Sittengesetz gemäße Handlungen verursachen, was dem positiven Freiheitsbegriff entspricht, auf dem Begriff der transzendentalen Freiheit als Selbstanfang ruht. So dient das ursprüngliche Bewußtsein des Sittengesetzes

zu der bezu

einer Deduktion der Freiheit; der synthetische Satz a priori: „der

menschlich-endliche Wille des Ich ist frei“ wird in seiner Gültigkeit Beck läßt freilich weitgehend offen, daß und warum diese Lehre die Deduktionsversuche der siebziger Jahre und der Grundlegung revoziert. Vgl. ferner die Zurückweisung verschiedener neuerer Kritiken an Kant bei K. Konhardt:

Faktum der Vernunft? Zu Kants Frage nach dem eigentlichen Selbst des Menschen. In: Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie. Hrsg. von G. Prauss. Frankfurt a. M. 1986, S. 160-184.

230

gerechtfertigt durch das ursprüngliche Bewußtsein vom absoluten, sinnvollen Verpflichtungscharakter des Sittengesetzes. Durch dieses „Faktum der Vernunft“ ist es - allerdings nur praktisch -

gerechtfertigt, für den menschlich-endlichen Willen Freiheit als wirklich vorauszusetzen. Für dieses Verhältnis von Bewußtsein des Sittengesetzes und

Freiheit gibt Kant noch eine detailliertere begriffliche Verschränkung an: Das Bewußtsein des Sittengesetzes als das „Faktum der Vernunft“, von dem auszugehen ist, stellt die „ratio cognoscen-

di“, den Erkenntnisgrund der Freiheit dar (vgl. KpV 5 Anm.); erst aufgrund der Gewißheit, daß das Sittengesetz unseren Willen absolut verpflichtet, haben wir das Recht, uns Freiheit zuzuschreiben, „erkennen“ wir mittelbar - freilich nur durch praktische Vernunft, d.h. um der Sittlichkeit willen - daß wir wirklich frei sind. Umgekehrt ist die Freiheit die „ratio essendi“, der Seinsgrund des

Sittengesetzes und unseres Bewußtseins von ihm (vgl. ebd.); wir

könnten uns des Sittengesetzes als eines unseren Willen absolut verpflichtenden gar nicht bewußt werden, es gäbe solches Bewußt-

sein des Sittengesetzes in uns gar nicht, wenn wir nicht praktisch voraussetzten, daß wir wirklich frei sind. So können wir aufgrund reiner sittlicher Einsicht uns als wirklich frei ansehen, das Sıttengesetz dabei als Gesetzmäßigkeit der Kausalität aus Freiheit verstehen und uns selbst aufgrund der sittlichen Freiheit als Mitglieder der intelligiblen Welt betrachten. Durch diese Hinsichtenunter-

scheidung ist auch der in der Grundlegung genannte Zirkel vermieden; das Bewußtsein des Sittengesetzes ist nur „ratio cognoscendi“ der Freiheit; die Freiheit ist „ratio essendi“ des Sittengesetzes und

unserer Gewißheit von ihm. Diese Zusammenhänge von Sittengesetz und Freiheit gelten nur

für die praktische Vernunft; sie sind lediglich Darlegungen der Implikate der sittlichen Einsicht. Zu ihr gehört notwendig die Voraussetzung, daß wir wirklich frei sind. Eine theoretische Erkenntnıs der inneren Möglichkeit der Freiheit als intelligibler Kausalıtät ist damit nicht verbunden. Eine solche Erkenntnis ist vom Argumentationszusammenhang her nun auch nicht mehr erforderlich, 231

da die Freiheit als Kausalität in der intelligiblen Welt nicht mehr wie noch in der Grundlegung - Rechtfertigungs- oder Deduktionsgrund für die Verbindung des menschlich-endlichen Willens mit dem Sittengesetz ist. So sind in dieser Theorie der Kritik der praktischen Vernunft keine theoretisch-metaphysischen Beweisstücke mehr erforderlich; die metaphysischen Bestandteile, die in

ihr nach Kants Auffassung nach wie vor notwendig enthalten sind wie die Annahme der Wirklichkeit intelligibler Kausalıtät für uns und die Annahme, wir seien Mitglieder der intelligiblen Welt, sind

allein in der praktischen Vernunft und im Evidenzbewußtsein von

der absoluten Verpflichtung durch das Sittengesetz begründet. Diese Theorie des Verhältnisses von Sittengesetz und Freiheit ist somit in allen ihren Teilen zwar Kants Erkenntniskritik konform; sie bringt jedoch andere Nachteile mit sich, auf die Kant

nicht mehr eingegangen ist. Da es keine Deduktion des Sittenge-

setzes und damit keinen Beweis seiner Gültigkeit für unseren Willen gibt, kann diese Gültigkeit in der These vom „Faktum der Vernunft“ nur behauptet werden; es gibt keinen ostensiven Be-

weis mehr gegen diejenigen ethischen Lehren, die diese Gültigkeit bestreiten; es bleiben nur noch Verteidigungen gegen Angriffe oder indirekte Widerlegungen, die beide mit dem Argument der

strengen Allgemeingültigkeit als der Vernünftigkeit des Sittengesetzes durchgeführt werden.'® Sie sind als spezifisch praktische Argumentationen variantenreicher und unter Berücksichtigung signifikanter Anwendungsfälle vielfältiger zu entwickeln als jene ostensiven Beweise der Reflexionen aus den siebziger Jahren oder

der Grundlegung. Sie bleiben - kurz gesagt - ethische Dialogargumentationen, die letztlich an die eigene sittliche Einsicht des Dialogpartners appellieren müssen.

16 Hier möge erlaubt sein, auf die Skizze einer solchen Auseinandersetzung in dem Beitrag des Verf.s hinzuweisen: Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosopbie 2 (1976), bes. S. 51ff. 232

Schluß: Kant sieht in seinen Theorien der Freiheit unter den verschieden bleibenden Freiheitsbegriffen, die der rechtlichen, der politischen, der ästhetischen Freiheit usw. gelten, die ethische Freiheit

als die für den Menschen wesentliche an. Ihr ethischer Charakter liegt für Kant darin, daß die Ausübung der Freiheit dem allgemeingültigen Sittengesetz angemessen zu sein hat. Sie ist keine Wahlfreiheit und keine Freiheit eines Spielraums gleichberechtig-

ter Handlungsmöglichkeiten.

Obwohl

reines sittliches Wollen

und Handeln vernunftgesetzmäßig determiniert ist, wird dadurch die Freiheit des vernünftigen Menschen realisiert, nämlich sich vom bestimmenden Einfluß der sinnlichen Begehrungen unabhängig zu machen und sich durch Vernunft für das sıttlich Notwendige und Gebotene von sich aus zu entscheiden. Diese Entscheidung ist keine Wahl; gleichwohl stellt sie das Ergreifen einer von mehreren Möglichkeiten dar, nämlich der sittlich gesollten; denn beim

menschlich-endlichen Willen ist, wie dargelegt, das sittlich Notwendige doch zugleich physisch zufällig; es ist daher nur ein Gesolltes. Der Unterschied von Möglichkeit, Wirklichkeit und Not-

wendigkeit, der nur für den endlichen Verstand und Willen gilt (vgl. KU $ 76, B 342), und damit eine bestimmte theoretische Basıs ist hierbei vorausgesetzt. Eine theoretische Basis enthält auch Kants Deutung dieser ethischen Freiheit innerhalb seines transzendentalen Idealismus. Die Unabhängigkeit von sinnlichen Begehrungen ist für Kant prinzipiell Unabhängigkeit von der Naturkausalıtät, die er als deter-

ministisch unter raumzeitlichen, sinnlichen Erscheinungen auffaßt. Diese Unabhängigkeit hat als positives Pendant die Selbstbestimmung, die demgemäß als intelligible Kausalität zu verstehen

ist. Zur theoretischen Philosophie gehört diese transzendentalidealistische Grundlage sowie die Sicherung der Denkbarkeit der Freiheit angesichts des kausalen Determinismus der Erscheinungen auch ohne Einsicht ın die innere Möglichkeit dieser Freiheit. Schließlich ıst die Ansetzung ihrer Wirklichkeit für den Menschen eine zwar allein praktisch-sittlich motivierte, inhaltlich aber theoretische Behauptung. - Der beliebt gewordene Vorwurf eines 233

naturalistischen Fehlschlusses, der davon ausgeht, ethische Prinzipien seien genuin praktisch und ohne theoretische Vernunft zu konzipieren, erweist sich - ganz abgesehen von der darin enthaltenen Petitio principii - also generell als zu simpel.” Kants unterschiedliche Theorien der Freiheit haben, wie sich

wohl gezeigt hat, eine jeweils unterschiedliche theoretische, z.T. metaphysische Deutungsbasis. Selbst Kants spätere, kritischen Prinzipien konforme Theorie ethischer Freiheit, in der er von einer ursprünglichen praktischen Einsicht, vom unableitbaren, evidenten

Bewußtsein des Sittengesetzes ausgeht, steht im Deutungshorizont des transzendentalen Idealismus. Auf eine solche theoretische Deutungsbasis kann offensichtlich keine praktische Philosophie der Freiheit verzichten, auch wenn sie von genuin praktischen, nicht

theoretisch ableitbaren Prämissen ausgeht. Kant nimmt in seiner

kritischen Ethik bei der Deutung des Sollenscharakters des Sittengesetzes zunächst den traditionellen anthropologischen Dualismus von sinnlichen Begehrungen und reiner Vernunft auf; die-

ser wird aber in theoretischer Deutung transzendentalidealistisch fundiert im Unterschied von Erscheinungswelt und intelligibler Welt. Das Sollen als Notwendigkeit dessen, was sinnlich bloß mög-

lich ıst, wird mit Modalkategorien gedeutet, die in der kritischen

Philosophie lediglich subjektive Bedeutung haben. Schließlich ist die praktisch begründete These von der Wirklichkeit der Freiheit als intelligibler Kausalität für den Menschen, die uns aber unbegreiflich bleibt, eine theoretische, sogar mit metaphysischen Be-

griffen vorgetragene Behauptung, die gleichwohl der Kantischen

Erkenntniskritik gemäß ist. - So muß sich jeder Versuch, über

17 Vgl. diesen Vorwurf in bezug auf Kant bei G.E. Moore: Principia Ethica. 1. Aufl. Cambridge

1903, 14. Aufl.

1968, $. 126ff., übersetzt von B. Wisser.

Stuttgart 1970, S. 184ff. und detaillierter und vorsichtiger bei K.-H. Hting: Der naturalistische Fehlschluß bei Kant. In: Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. 1. Hrsg. von M. Riedel. Freiburg 1972, S. 113-130; Ilting glaubt,

Kant habe diesen Fehlschluß ın der Grundlegung begangen und in der Kritik der praktischen Vernunft - freilich nicht konsequent genug - vermieden. 234

diese Kantische Theorie ethischer Freiheit hinauszuführen, nicht

mit einzelnen Sätzen und Bedeutungsbestimmungen, sondern mit diesen zentralen Lehrstücken der praktischen und der theoretischen Philosophie Kants, d.h. im Grunde mit dem Gesamtprofil der kritischen Philosophie auseinandersetzen.

235

Ethik und Staatslehre bei Plato und Hegel

In systematischer Hinsicht gibt es unterschiedliche Grundtypen in der Anlage und der Ausführung einer Ethik. Ein Grundtypus der Ethik unter mehreren ist die politische Ethik. Sie legt dar, daß und wie die Sittlichkeit des Einzelnen primär in einem politisch

organisierten Ganzen, in der Regel also in einem Staat zustande kommt. Dieses politische Ganze ist dabei nicht nur die eigentliche Handlungssphäre des sittlichen Einzelnen; es gilt in sich als ursprünglich sittlicher Bereich. Ethik und Rechts- bzw. Staatslehre sind hier entweder noch nicht getrennt und unmittelbar eins wie bei Plato oder nicht mehr

getrennt, sondern zu neuer höherer

Einheit zusammengefügt wie bei Hegel. Diese Ethik kann durchgeführt werden in der Art eines weiteren Grundtypus, der in der heute viel diskutierten Alternative zwischen den Grundtypen einer Deontologie als ethischer Pflichtenlehre und eines Utilitarısmus oder älter: eines Eudämonismus als ethischer Zwecklehre weitgehend vernachlässigt wird und den insbesondere Plato paradigmatisch ausbildet, in einer Ethik, die grundlegend Tugendlehre ist; aus der Sittlichkeit als menschlicher Tugend ergeben sich in diesem Grundtypus von Ethik erst sittliche Zwecke und Ziele sowie sittliche Pflichten. Zuerst sei nun Platos Konzeption eines ethischen Staates vor allem in Politeia Buch IV vor dem Hintergrund der Frühdialoge, insbesondere des Protagoras umrissen. Sodann soll gezeigt werden, wie Hegel sich in seiner Jenaer Naturrechtskonzeption zur Überwindung der modernen, aufklärerischen Trennung von Recht und Sittlichkeit auf Plato beruft. Hinzugefügt sei eine Skizze von Hegels späterer Interpretation und Kritik von

Platos Politeia in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie vor dem Hintergrund seiner eigenen Rechtsphilosophie, die in ihrer Theorie des modernen Staates gleichwohl eine Grundorientierung an Plato beibehält. 236

I. Die Politeia enthält Platos klassische politische Ethik. Auf sie vor allem bezieht sich Hegel in seiner Auseinandersetzung mit Platos praktischer Philosophie. Plato selbst hat später seine Konzeption im Politikos und in den Nomoi abgeändert und insbesondere in

politischen Details näher ausgeführt.! In der Politeia vertritt Plato ferner — wie schon in vielen Frühdialogen - eine grundlegende Konzeption von Ethik, die in der heutigen generellen Gegenüberstellung von Deontologie und Utilitarismus oder Eudämonismus und ihrer verschiedenen Spielarten überhaupt nicht präsent ist,

nämlich eine Ethik als Tugendlehre. Grundlage dieser Ethik ist nicht ein Prinzip der Pflichten und nicht ein bestimmter höchster Zweck, sondern die Tugend als eigentliche Bestimmung der Sittlichkeit.

Die Politeia enthält eine scheinbar einfach formulierte Ethik als Tugendlehre, die sich aber als sehr diffizil erweist, wenn man sie

vor dem Hintergrund der Probleme und Aporien der Frühdialoge betrachtet. In den Frühdialogen scheitern oft die Versuche, eine einzelne Tugend zu bestimmen; ım Laches bleibt schließlich offen, was Tapferkeit ist, im Euthyphron, was Frömmigkeit ist, im Charmides, was Besonnenheit ist; im Gorgias gehen alle Tugenden in die der Besonnenheit zurück, die dann wohl kaum eine

Einzeltugend sein kann, im Protagoras und Menon wird allgemein nach dem Verhältnis der Einheit der Tugend zur Vielheit der Tugenden gefragt. Vermutlich gelangen die Versuche, die ein-

zelnen Tugenden jeweils zu bestimmen, nicht zu einem befriedigenden Ergebnis, weil diese Frage nach dem Verhältnis der Einheit 1

Zur politischen Philosophie des späten Plato vor allem in den Nomoi vgl. die umfassenden

Untersuchungen

von

A.

Neschke-Hentschke;

besonders

ge-

nannt seien A. Hentschke: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der „Nomoi“ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles. Frankfurt a. M. 1971, bes. $. 50ff., 85ff., 163-324; A.

Neschke-Hentschke: Der Ort des ortlosen Denkens. Über Platos Politik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 597-619. 237

der Tugend zur Vielheit der Tugenden nicht grundsätzlich geklärt ist.? Im Protagoras sagt Sokrates am Schluß, es gebe eigentlich keine real verschiedenen Tugenden; sie alle seien vielmehr Erkenntnis

und Wissen.” Protagoras dagegen hatte im gleichnamigen Dialog die reale Verschiedenheit der Tugenden behauptet, ohne sie aller-

dings gegen Sokrates verteidigen zu können. Erstaunlicherweise führt Plato diese Grundlinie des Protagoras, freilich ohne die Einzelheiten von dessen Ansicht und nicht die Auffassung des Sokrates in der Politeia aus. In ihr werden die Tugenden als real verschieden expliziert und in einer bestimmten ethischen Koordi-

nation, der Gerechtigkeit, begründet. Eine Änderung der Seelenlehre, nämlich die Lehre von den unterschiedlichen Seelenteilen, die er in dieser Weise vorher nicht vertrat, dürfte ihm für seine

neue Tugendlehre als Fundament dienen.

Schon in den Frühdialogen spricht Plato von arete politike, gemeint ist dabei die Tugend eines Einzelnen als Polis-Bürgers. Die Tugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit werden in der Politeia jedoch zuerst als Prädikate der idealen Polis dargelegt. Plato erklärt dazu nur, daß insbesondere die Gerechtigkeit an einem größeren Ganzen leichter erkannt werden könne als an der Einzelseele.* Diese Begründung der Erkenntniserleichterung nennt Hegel in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie eine „naive, anmutige Einleitung“; in Wirklichkeit erfordere die „Natur der Sache“ die Betrachtung der Gerechtigkeit 2

Zu diesem Problem vgl. G. Vlastos: The Unity of the Virtues in the Protagoras. In: Ders.: Platonic Studies. 2. Aufl. Princeton 1981, S. 221-265, 427ff. Hierzu, zur Tugendlehre in der Politeia und zu Hegels Aufnahme und Kritik dieser Lehre sei gestattet, auch auf die Untersuchung des Verf.s zu verweisen: Politische Ethik bei Plato und Hegel. In: Hegel-Stndien 19 (1984), S. 95-145; zur weiteren Entwicklung bei Plato vgl. auch vom Verf.: Wandlungen der Tugendlehre bei Platon und Aristoteles. In: Eros und Eris. Liber amicorum for Adriaan Peperzak. Hrsg. von P. van Tongeren u.a. Dordrecht usw. 1992, S. 25-37.

3

Vgl. Plato: Protagoras. 361a-c (die Angaben folgen der Plato-Ausgabe von Henricus Stephanus. Genf 1578).

4

Vgl. Politeia. 368e-369a.

238

im „Staate“.? Aber vielleicht hat Plato gemeint, was er gesagt hat;

über das Verhältnis des Einzelnen zur Polis findet sich bei ihm zwar keine Theorie, da er darın kein besonderes Problem sieht;

wohl aber finden sich bei ıhm einige signifikante Aussagen. Vor dem Problemhintergrund scheiternder Versuche der Frühdialoge dürfte die Lehre von den vier später sogenannten Kardınaltugenden in der Politeia keineswegs nur Übernahme von damals Bekanntem und Gängigem sein.° Zwar nımmt Plato auch

damals bekannte Bestimmungen auf wie wohl die Idiopragieformel für Gerechtigkeit; aber die Lehre von den vier klassischen Tugenden unter Ausschluß derjenigen Tugend, die eigentlich keine politische Tugend ist, der Frömmigkeit, die im Euthyphron, Protagoras und Gorgias etwa noch dazugehört, ebenso die besondere politische Bedeutung der Kardinaltugenden und insbesondere deren Systematik dürften doch erst Platos Werk sein.

Plato korreliert nun, wie bekannt, die einzelnen Tugenden mit den einzelnen Ständen; er vertritt dabei die Theorie eines im ganzen festgefügten Ständestaates. Für den Vergleich mit Hegel ist von Bedeutung, daß Plato zunächst von Wächtern ım allgemeinen redet; ihnen entspricht später in Hegels Jenaer Konzeption der erste Stand. Plato teilt die Wächter im allgemeinen dann jedoch ein in die Regierenden, die den ersten Stand ausmachen, und die

Wehrleute, die den zweiten Stand bilden. Die Tugend der Weisheit (sophia) als Tugend der Polis ist die spezifische Tugend des ersten Standes.? Sie gilt als Wohlberatenheit

5 G.W.F. Hegel: Theorie-Werk-Ausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. 6

Michel. Frankfurt a. M. 1970f. Bd. 19, S. 106f. Vgl. dazu O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons „Staat“. Erster Band: Buch I-IV. Zürich und München 1976, S. 467.

7 8

Vgl. Politeia. 374d ff. Vgl. hierzu und zur folgenden Darlegung der Tugendlehre Politeia. 427e-445e. Zur Interpretation vgl. O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie (s. Anm. 6), $. 466-539; ebenso — mit besonderer Hervorhebung der Gerechtigkeit - R.W. 239

durch ein Wissen. Die ganze Polis ist weise, wenn ein kleiner Teil ihrer selbst, die Regierenden weise sind. Schon hier legt sich nahe, daß die Einzelnen als Standesmitglieder weise sein müssen, damit der Stand und die Polis weise sein können. - Die spezifische Tugend des zweiten Standes, des Standes der Wehrleute, ist die Tap-

ferkeit (andreia). Sie ist unverbrüchliche, richtige Meinung über das, was zu fürchten ist für die Polis und was nicht. Auch hier kommt der Polis diese Tugend, die Tapferkeit, zu, weıl ein Teil

ihrer selbst, der zweite Stand, tapfer ist, und diesem müssen eben

tapfere Einzelne angehören. Die Tapferkeit ist hier freilich nicht mehr wie noch im Protagoras identisch mit Wissen; diesen extremen Intellektualismus hat Plato aufgegeben. Sie ist nur richtige Meinung

(orthe doxa), die sich am Wissen, und

zwar hier am

Wissen anderer, nämlich der Regierenden orientiert. Dies mag uns schwer verständlich sein; aber für Plato galt noch nicht die Vorstellung, daß Sittlichkeit auch immer Autonomie

und Selbstän-

digkeit des Einzelnen impliziere. - Die spezifische Tugend des dritten Standes, der in der Polis für die Bedürfnisbefriedigung arbeitet, der Handwerker, Geschäftsleute und Bauern, ist die Be-

sonnenheit (sophrosyne). Sie ist eine Harmonie oder eine Einstimmigkeit darüber, daß der vortrefflichere Teil, der vernünftige,

über den geringeren, nicht vernünftigen, nämlich über die sinnlichen Begehrungen, ın der Polis herrschen soll. Insofern ist sie auch Tugend des ersten und zweiten Standes und betrifft die gan-

ze Polis. Die Mitglieder des dritten Standes sind in ihrer Besonnenheit ebenfalls nicht selbständig und autonom; sie vertrauen vielmehr den Regierenden, die für vernünftige Zügelung der sinnlichen Antriebe sorgen. Alle diese Tugenden ermöglicht erst die Gerechtigkeit (dikaiosyne) als eine Tugend höherer Ordnung; sie gibt diesen Tugenden die Fähigkeit, in der Polis zu existieren, indem sie als deren

koordinativer Grund zugleich die Verschiedenheit ihrer eide wahrt. Hall: Plato. London 1981, S. 54-80, auch K. Bormann: Platon. 2. Aufl. Freiburg und München 1987, S. 155f., 157-167.

240

Sie ist Tugend nicht eines Standes, sondern der ganzen Polis, indem

sie die Harmonie der verschiedenen Stände und ihrer sich bewährenden Tätigkeiten begründet. So interpretiert Plato die Idiopragieformel, nämlich daß jeder das Seine tue, in bestimmter Weise ethisch, ständisch und politisch. Die Gerechtigkeit ist dabei Grund-

tugend der Polis, die spezifischeren Bestimmungen wie sozialer Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit u.a. zugrunde liegt. Zugleich enthält die Gerechtigkeit die Lösung des früheren Problems, wie sich Einheit und Vielheit der Tugenden zueinander verhalten. Sie ist der einheitliche ermöglichende Grund für Koordination und Unterscheidung der anderen Kardinaltugenden untereinander sowie für deren Realisierung ın der Polıs. Die Übertragung dieser Bestimmungen der Tugend auf den Einzelnen ist leicht möglich. Grundlegende Orientierung ist hierbei für Plato die ın der Politera offensichtlich gegenüber seiner früheren Auffassung veränderte Seelenlehre, nämlich die Lehre von den verschiedenen Seelenteilen oder Seelenvermögen. So ist weise derjenige Einzelne, bei dem die Vernunft am stärksten hervortritt; tapfer ist der Einzelne, bei dem der Mut besonders hervorsticht;

besonnen kann auch derjenige sein, der diese Vorzüge nicht besitzt und mehr der sinnlichen Bedürfnisbefriedigung verhaftet bleibt, aber gerade darin sich vernünftiger Leitung anvertraut. Ein Mißbrauch solcher Leitung ist im Idealstaat nicht zu befürchten.

Gerecht ist schließlich derjenige Einzelne, dessen Seele sich in gelungener Harmonie und Ordnung der ihr eigenen verschiedenen Vermögen und der ihnen gemäßen Tätigkeiten befindet. - Auch die Tugenden des Einzelnen aber sind politisch, setzen die Polis als Horizont sittlicher Haltung und Tätigkeit voraus. So sind für Plato zwar einerseits die Tugenden der Einzelnen grundlegend, da sie nur durch die Einzelnen in der Polis verwirklicht werden;

andererseits aber ist und handelt der Einzelne tugendhaft wesentlich als Standesmitglied und Polis-Bürger. Die Zuweisung zu einem Stand erfolgt nach seiner Begabung durch die Regierenden, nämlich nach besonderem Herausragen eines seiner Seelenvermögen. Sittlichkeit ist somit keine innerliche Gesinnung, die vielleicht 241

privat bliebe; der sittliche Einzelne Platos ist kein autonomes und freies Individuum auch außerhalb der Polis, sondern selbstver-

ständlich Mitglied der Polis.’ Diese Tugenden sind bei Plato Ideen; sie stellen paradigmatisch Ansichseiendes vor. Gleichwohl behalten sie zugleich praktische Bedeutung als mentale Ursachen für wirkliches, auch sinnliches

Handeln des Einzelnen ın der Polis; solches ethische Handeln kann daher jeweils an einer der Tugenden teilhaben. Die Verhältnisse der Tugenden aber untereinander, nicht zu Einzeldingen, sind Ideenverhältnisse. Diese Ideenverhältnisse der Tugen-

den bilden ein signifikantes Beispiel für die im Liniengleichnis angedeutete Ideendialektik. Ihr letzter ethischer und ontologischer Grund ist das an sich Gute. Es liegt noch über die Tugenden, auch über die Gerechtigkeit, ja sogar über den Bereich von Idea

und Ousia hinaus und ist als letztes, selbst nicht mehr begründetes Fundament der Grund von allem und damit auch allgemeines Prinzip der Ethik und sogar der Ontologie.

II. Auf diese politische Ethik Platos beruft Hegel sich in seiner eigenen frühen Jenaer Konzeption im Naturrechtsaufsatz von 1802/03. Bezüge zu Aristoteles sollen damit nicht geleugnet werden; aber 9

Poppers Auffassung, Platos Staatslehre sei totalitär und kollektivistisch, läßt sich sicherlich nicht aufrechterhalten, vgl. K.R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. Übersetzt von P.K. Feyerabend. Bern und München

1957. 3. Aufl. 1973, S, 126-168. Den ethischen

Primat des Einzelnen heben dagegen z.B. hervor R. Maurer (Platons „Staat“ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin 1970, $. 74ff., 192ff.) und O. Gigon (Gegenwärtigkeit und Utopie (s. Anm. 6), S. 497ff., 506f.). Auch Hall sieht die Bedeutung des Einzelnen in Platos Politeia, vgl. R.W. Hall: Plato and the Individual. Den Haag 1963, S. 163-186; insbesondere die Gerechtigkeit des Einzelnen erfährt bei Plato eine eigene Bestimmung, die der Totalitarismus-These entgegensteht, vgl. R.W. Hall: Plato (s. Anm. 8), S. 60ff. 242

der entscheidende Kronzeuge für die Einheit von Recht und Sitrlichkeit in einem politischen Ganzen ist für Hegel Plato.!? Gegen

die Trennung von Recht und Staat einerseits und Sittlichkeit des Einzelnen andererseits, die schon bei Aristoteles in Ansätzen be-

ginnt, für Hegel aber in der Aufklärung und in der philosophischen Theorie Kants ihren Höhepunkt erreicht, beruft er sich auf

Platos Gedanken einer ursprünglichen ethisch-politischen Ganzheit, die Hegel selbst aus der Entzweiung wiederherstellen will. Wie Plato konzipiert Hegel einen Ständestaat, und zwar mit

drei Ständen, die freilich im einzelnen von den Platonischen abweichen. Wie Plato korreliert er Stände und Tugenden, ohne al-

lerdings eindeutig die Ethik als Tugendlehre zu begründen. Wie Plato schließlich ist er der Auffassung, daß Sittlichkeit des Einzelnen nur im sittlichen Gemeinwesen möglich ist, das er aber nicht als Polis, sondern als „Volk“ versteht. In seinem Blick ste-

hen hierbei Platos Politeia und Politikos, nicht die Nomoi.!! Den Ständestaat skizziert Hegel folgendermaßen: Der erste Stand ist für ıhn der Stand der „Freien“. Er entspricht den Platonischen Wächtern im allgemeinen vor ihrer Aufteilung in Regierende und 10 Ilting stellt insbesondere Aristoteles-Bezüge heraus, vgl. K.H. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Phrlosophisches Jahrbuch 71 (1963/64), S. 38-58. Dieser Auffassung ist man vielfach vorsichtig gefolgt, vgl. z.B. M. Riedel: Hegels Kritik des Naturrechts. In: Hegel-Studien 4 (1967), bes. S. 182f., 190f. D. Janicaud (Hegel et le destin de la Grece. Paris 1975, bes. $. 93-101) spricht allgemeiner von platonisch-aristotelischem PolisDenken beim früheren Hegel. Dagegen betont J.L. Vieillard-Baron (Platon et Pidealisme allemand (1770-1830). Paris 1979, bes. S. 136-142) gerade PlatoEinflüsse für Hegels Jenaer praktische Philosophie mit einzelnen Belegstellen. 11 Daß insbesondere in der deutschsprachigen Plato-Rezeption und -Interpretation seit etwa 1800 die Politeia als repräsentatives Werk für Platos Staatslehre und politische Ethik gilt und die Nomo: dabei weitgehend unberücksichtigt bleiben, zeigt A. Neschke-Hentschke auf: Über Platos „Gesetze“. In: Philosophische Rundschau 33 (1986), S. 265ff.; vgl. auch von derselben Verfasserin: Der Ort des ortlosen Denkens (s. Anm. 1), bes. S. 599ff. Zur Rezeption der Politeia s. ihr Vorwort und die Angaben in U. Zimbrich: Bibliographie zu Platons Staat. Die Rezeption der Politeia im deutschsprachigen Raum von 1800 bis 1970. Frankfurt a. M. 1994. 243

Wehrleute; beide Gruppen also gehören für Hegel zum Stand der Freien. Die ihnen gemäße Tugend ist die Tapferkeit. Sie gilt Hegel in diesem Entwurf als die „absolute Sittlichkeit“, als eigentliche

Sittlichkeit.!? Sie ist für ihn nicht eine Tugend unter vielen, sondern die grundlegende Tugend. In den Jugendschriften hatte er noch die Liebe als einheitlichen Grund der einzelnen Tugenden angegeben; sie war für ihn in Abhebung vom Kantischen Sitten-

gesetz das Prinzip der Ethik; eine solche systematische Funktion übernimmt nun die Tapferkeit in einem neuen ethisch-politischen Entwurf. Sie ist prinzipiell politische Tugend. Sie bedeutet für das Individuum den vollständigen Einsatz für das politische Ganze

auch bei Lebensgefahr und Aufsichnehmen des Todes. Darın beweist nach Hegel das Individuum seine Unabhängigkeit und Freiheit von den lebensbestimmenden Endlichkeiten und besonderen endlichen Verhältnissen. - In dieser Auffassung der Sittlichkeit als Tapferkeit liegt damals offenbar eine ethische Grundanschauung

Hegels. Schon in den Jugendschriften feiert er die Tugend des freien Republikaners, der sein Leben für das „Vaterland“ opfert.

Der griechisch-römische Hintergrund dürfte auch noch für den frühen Jenaer Ansatz gelten. Diese ethische Grundhaltung kann wenigstens z.T. auch die zentrale Bedeutung des Kampfes auf

Leben und Tod für Selbstkonstitution und Anerkennung des einzelnen Selbstbewußtseins in der ersten Jenaer Geistesphiloso-

phie und in der Phänomenologie verständlich machen;!? denn hierin beweisen die Kämpfenden nach Hegel ihre Unabhängigkeit vom physischen Dasein, obwohl diese Haltung noch nicht Sittlichkeit 12 G.W.F. Hegel: System der Sittlichkeit. Hamburg 1967 (Nachdruck aus: G.W.F. Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. von G. Lasson. 2. Aufl. Leipzig 1923), S. 57. Das System der Sittlichkeit entstand 1802/03. Vgl. ebenso aus dem Naturrechtsaufsatz in G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, S. 449f. 13 Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hrsg. von H. Kimmerle und K. Düsing. Hamburg 1975, S. 307ff.; G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, S. 110ff. Vgl. dazu die detaillierte Untersuchung von L. Siep: Der Kampf um Anerkennung. In: Hegel-Studien 9 (1974), S. 155-207.

244

ist, da die ethische und die politische Dimension noch fehlt. Die Bedenklichkeiten dieser Auffassung aber dürfen nicht verschwiegen werden. Das Gemeinwesen, für das der Tapfere sich einsetzt und aufopfert, ist das Volk in seiner konkreten Wirklichkeit. Dies

sieht Hegel gerade als besonderen Vorzug seiner Theorie der Sıttlichkeit gegenüber der als formell und abstrakt kritisierten Kantischen an. So setzt denn jeder Tapfere sein Leben ein für das Volk, dem er gerade angehört. In der Tat hat Kant Sitten und Selbstver-

ständigungsweisen eines konkreten geschichtlichen Volkes nicht zum absolut verpflichtenden sittlichen Maßstab erhoben, da diesem gerade die Verallgemeinerungsfähigkeit mangelt. Es ist -

leider — keine zufällige Folge bei Hegel, daß er die gewaltsame Kollision zwischen geschichtlichen Völkern, den Krieg hinnimmt, ja als den paradigmatischen Bewährungsfall für Tapferkeit an-

sieht.!* Der zweite Stand ist der Stand des Bourgeois, der sich nicht für das sittliche Ganze, sondern nur für sein Privateigentum interes-

siert. Dies zeigt Hegel schon im Naturrechtsaufsatz auf.'” Dabei kritisiert er die Bourgeois-Existenz heftig aus ethischen Gründen. Der zweite Stand repräsentiert die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem formalen Recht, das nur zur Sicherung von Leben und Eı-

gentum des Einzelnen dient. So nımmt Hegel den modernen 14 Vgl. System der Sittlichkeit (s. Anm. 12), S. 58ff.; Gesammelte Werke. Bd. 4 (s. Anm. 12), S. 450; der Krieg bewahrt hier sogar „die sittliche Gesundheit der

Völker“. Auch später bleibt Hegel bei dieser höchst bedenklichen Einschätzung des Krieges, vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von ]. Hoffmeister. Hamburg 1955. $ 324 Anm. 15 Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 4 (s. Anm. 12), $. 455ff., auch 468f. und System der Sittlichkeit (s. Anm. 12), S. 65ff. Zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft vor allem in Hegels Jenaer Schriften vgl. R.-P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. In: Hegel-Studien 9 (1974), S. 209-240, zu Hegels späterer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und ihren geschichtlichen Hintergründen vgl. M. Riedel: Hegels Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. von M. Riedel. Frankfurt a. M. 1975. Bd. 2, $. 247-275.

245

liberalen Staat in seine platonisierende Staatskonzeption auf, beschränkt ihn aber zugleich auf die Funktion eines untergeordneten

Standes. Die modernen europäischen Staaten haben, wie Hegel kritisiert, das Prinzip des zweiten Standes auf das politische Ganze ausgedehnt. Die „Tugend“ des Bourgeois, wenn man so reden darf, ist die Rechtschaffenheit, die bare Legalität. Später wertet

Hegel die Rechtschaffenheit als Staatsbürgertugend auf. Der dritte Stand ist in Hegels früher Jenaer Konzeption der Stand der Bauern.!® Hegels zweiter und dritter Stand entsprechen so bei aller Verschiedenheit insbesondere durch die Beachtung der modernen bürgerlichen Gesellschaft in etwa Platos drittem Stand. Die Tätigkeit des Bauern ist einfacher, naturhafter, ganz-

heitlicher als die des Bourgeois. Daher ist der Bauer nach Hegel eines einfachen, unreflektierten Interesses für das Ganze fähig. So kann er die Tugend des „Zutrauens“ zum ersten Stand ausbilden,

einem Pendant zu Platos „richtiger Meinung“ eines Tugendhaften, und sich ebenfalls für das konkrete politische Ganze einset-

zen, ja notfalls aufopfern. Hegels Konzeption dieser holistischen politischen Ethik kann als anti-individualistisch charakterisiert werden, was sie bei Plato

nicht war. Hegel begründet sie in einer Metaphysik der Einen Substanz, die er damals noch vertritt. Danach sınd Individuen keine selbständigen Existenzen, sondern unselbständige, abhängige

Bestimmungen des Volksgeistes, den Hegel als Substanz denkt.”

16 Vgl. Gesammelte Werke. Bd. 4, S. 455; System der Sittlichkeit, S. 61, 68.

17 Der „Geist eines Volkes“ ist, wie Hegel in der Geistesphilosophie seines Systementwurfs von 1803/04 sagt, „die absolute, einfache, lebendige, einzige Substanz“ (Gesammelte Werke. Bd. 6, s. Anm. 13, $. 315; vgl. 314); vgl. auch

die an der spinozistischen Einen Substanz als der entscheidenden ontologischen Bestimmung des Absoluten orientierte Systemskizze im Naturrechts-

aufsatz: Gesammelte Werke. Bd. 4, S. 432f. Wird der Volksgeist als absolute Substanz konzipiert, so wird damit eine Selbständigkeit des Einzelnen ausgeschlossen. Zu dieser spinozistischen Konzeption des Absoluten in Hegels früher Jenaer Zeit sei der Verweis auf die Darlegung des Verf.s erlaubt: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und 246

In dieser metaphysischen Begründung weicht Hegel nicht nur von Kant, sondern auch von Plato ab.

Zu Ende seiner Jenaer Zeit gibt Hegel diese Substanzmetaphysık auf. Vom Systementwurf von 1805/06 an kritisiert er, was er

dann beibehält, Platos Politeia, weil ın ihr das Prinzip der Subjek-

tivität fehle."? Doch sieht Hegel dies Fehlen geradezu als notwendig an. Plato habe in der Darlegung seines Idealstaats das Wesen der griechischen Sittlichkeit begriffen und das in Sokrates bereits aufgetretene Prinzip subjektiver Innerlichkeit und Eigenverant-

wortung, so Hegel, als verderblich für die griechische Sittlichkeit von dem Idealstaat ferngehalten. Die griechische Sittlichkeit rekurriert nach Hegels Theorie nicht auf die innerliche Gesinnung des Einzelnen, sondern faßt das handelnde Selbst in Einheit mit den wirklichen Folgen seines Handelns, für die es dann auch verantwortlich ist; die Polis aber ist die harmonische Koordination

der Stände und ihrer mit diesem Verständnis von Sittlichkeit handelnden Mitglieder. Hegel stellt seine These von Platos Begreifen griechischer Sittlichkeit in den Zusammenhang seines berühmtberüchtigten Satzes, was vernünftig sei, sei auch wirklich und um-

gekehrt.'” Platos Idealstaat ist damit gerade nichts Imaginäres, sondern die ideale Wirklichkeit der griechischen Sittlichkeit. Hintergrund für diese Auffassung, die Hegels Satz von der Vernünftigkeit des Wirklichen in neuem Licht erscheinen lassen kann, ist

der spekulative Begriff von Wirklichkeit als der geschichtlichen Hegel in Jena. In: Fegel in Jena. Hegel-Studien Beiheft 20. Hrsg. von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980, 5. 25-44. 18 Vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 8. Unter Mitarbeit von J.H. Trede hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1976, S. 263; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Theorie-Werk-Ausgabe (s. Anm. 5). Bd. 19, S. 105-130. Zur Kritik an dieser Plato-Kritik Hegels vgl. schon M.B. Foster: T’he Political Philosophies of Plato and Hegel (1935). Nachdruck: Oxford 1968, bes. S. 7298, 121ff.

19 Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts (s. Anm. 14), S. 14; TheorieWerk-Ausgabe. Bd. 19, S. 110f. Zu Hegels eigener Interpretation des Vernunft-Wirklichkeit-Satzes vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 2. Aufl. Heidelberg 1827, 3. Aufl. Heidelberg 1830. $ 6 Anm. 247

Gegenwart und Manifestation des Absoluten und hier spezifischer des Geistes griechischer Sittlichkeit. Hegel interpretiert ferner in seiner späteren Zeit Platos Staat vom Gedanken der ontologischen Prävalenz von Institutionen her. Er hebt drei Regelungen hervor, durch die Plato subjektive, indi-

viduelle Freiheit ausgeschlossen habe: Erstens dürften die Individuen ihren Stand nicht wählen; zweitens hebe Plato das Privateigentum auf; drittens hebe er Ehe und Familie auf und lasse die Regierung jeweils Frauen und Kinder zuordnen.?? Hegel nimmt hier Topoi sicherlich berechtigter Kritik an Platos Politeia auf, die

freilich z.T. nur für den ersten und zweiten Stand gilt. In seiner eigenen politischen Ethik beansprucht Hegel, die Rechte des Individuums zu berücksichtigen. Im holistisch-politischen Grundzug folgt er immer noch Plato, aber verändert um die Beachtung des Prinzips der Subjektivität. Bei näherer Betrachtung zeigt sich freilich, daß die eigentliche Tugend des Individuums

im Staate die Rechtschaffenheit?! ist, die nun nicht mehr

auf die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft eingeschränkt bleibt. Es ist die bewußte Loyalität mit den Anforderungen, Gesetzen und Aufgaben eines konkreten Staates, der als „die Wirklichkeit

der sittlichen Idee“? gilt. Große Tugenden und bedeutende sittliche Energien sind nach Hegels Auffassung nur im vorstaatlichen Heroenzeitalter erforderlich oder eben in der Rückkehr des Naturzustandes unter den Staaten, im Krieg. Im Frieden aber ıst nach Hegel sittliche Existenz in einem Staate Bürgeralltag. - Doch auch beim reifen Hegel bleibt die kategoriale Fundierung des Verhältnisses von Individuum und Staat ım Verhältnis von Akzidens und

20 Vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Theorie-WerkAusgabe. Bd. 19, 5. 123ff. 21 Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts (s. Anm. 14). $ 150. Zu Hegels

Ethik und Tugendlehre sowie speziell zur Tugend der Rechtschaffenheit sei besonders verwiesen auf A. Peperzak: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. In: Hegel-Studien 17 (1982), S. 97-117, bes. S. 107ff.

22 Grundlinien der Philosophie des Rechts. $ 257. 248

Substanz erhalten.” Die Individuen erlangen innerhalb des objektiven Geistes, sofern dieser als Substanz gedacht wird, eigentlich keine selbständige Bedeutung. Diese wird ıhnen nach der Lösung des späten Hegel erst in der Religion, nämlich im religiösen Ge-

wissen zuteil. Dieses ist der Ort der subjektiven sittlichen Sanktionierung oder Verwerfung von staatlichen Forderungen.?* So

kann Hegel eigentlich erst im religiösen Gewissen und damit außerhalb der genuinen Sphäre des Staates, der doch Recht und Sittlichkeit vereinigen sollte, dem Prinzip der Subjektivität und der realen Individualität für die Fundamente der Sittlichkeit ge-

recht werden. Aufgrund der geschilderten Probleme sollte man vielleicht den Platonischen Idealstaat wieder eher als sittliche Utopie und nicht als metaphysisch begründete Wirklichkeit verstehen. Hegels eigene Staatskonzeption ist wie die Platonische holistisch; sie vereinigt wieder, was insbesondere ın der Aufklärung und bei Kant getrennt war, nämlich Ethik und Rechts- bzw. Staatslehre; dafür ist ihm die ursprüngliche Einheit beider bei Plato Vorbild. Der Staat organisiert für Hegel das sittliche Leben; dazu gehört als wesentliche

Aufgabe

auch, was

heute selten gesehen wird, die

Förderung von Sitte und Kultur. Aber in dieser Hegelschen Konzeption sind die ursprünglichen Freiheitsrechte des selbstbewußten Individuums offensichtlich zurückgedrängt; und dies bringt Hegels holistische Theorie der Vereinigung von Recht und Sittlichkeit im Staat in Inkongruenz zu ıhrem Anspruch, dem Prinzip der Subjektivität innerhalb dieser Staatskonzeption konkrete Rea-

lität und Geltung zu verschaffen.

23 Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts. $$ 144ff. Die „sittlichen Mächte“

als Momente des „Objektiven“, des allgemeinen Willens „regieren“ das Leben der Individuen, denen nur der Status von „Akzidentien“ zukommt.

24 Vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 3. Aufl. Heidelberg

1830. $ 552 Anm.

249

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IV. Idealistische Ästhetik

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Schellings Genieästhetik

Die Glanzzeit der Ästhetik ist zweifellos die Epoche von Kant bis Hegel. In ihr wird einerseits der Ästhetik eine herausragende systematische Bedeutung zuerkannt; die Ästhetik gehört fast immer

zum Vollendungssinn damaliger philosophischer Theorien. Andererseits werden in dieser Periode grundlegende Möglichkeiten

der Konzeption und des inneren Aufbaus einer Ästhetik paradigmatisch erprobt. Auch wenn sich solche Grundmöglichkeiten einer Ästhetik nicht unvermittelt auf gegenwärtige Versuche, eine Ästhetik zu entwickeln, anwenden lassen, da das sogenannte Ende

des Idealismus und die Entstehung der modernen Kunst geschicht-

liche Barrieren bilden, so können doch diese paradigmatischen Ästhetik-Konzeptionen unter Berücksichtigung des Zeitenabstandes sehr wohl zur Auflösung verschiedener Probleme in gegenwärtigen Auffassungen zur Ästhetik herangezogen werden. Eine Ästhetik kann zum einen als Lehre von den ästhetischen

Bestimmungen der reinen Form eines Anschauungsgegenstandes begründet werden; nur auf dieser Grundlage können dann dessen ästhetischer Gehalt, das Verhältnis von Natur und Kunst sowie

hinsichtlich der ästhetischen Einstellung das Verhältnis von Betrachter und Künstler entwickelt werden. Eine solche Ästhetik findet sich in Kants Kritik der Urteilskraft. Zum anderen kann

eine Ästhetik auf gegenteilige Weise begründet werden, nämlich als Gehaltsästhetik. Dann gründen in den genuin ästhetischen Bestimmungen des Gehalts eines Anschauungsgegenstandes die ästhetischen Qualitäten der Form dieses Gegenstandes sowie das

genannte Verhältnis von Betrachter und Künstler, ebenso das Verhältnis von Natur und Kunst. Am reinsten führt Hegel diesen

Grundtypus von Ästhetik durch. - Geht diese Alternative von unterschiedlichen Auffassungen des ästhetischen Gegenstandes aus, so beruht die folgende auf einer bipolaren Auffassung von 253

ästhetischer Subjektivität. Danach kann eine Ästhetik einerseits die ästhetische Anschauung und Beurteilung des Betrachters ästhetischer Gegenstände als Grundlage ansetzen, der Betrachter mag nun Kunstkritiker, Leser, Zuschauer oder dgl. sein; diese

Lehre wird zur Geschmacksästhetik, wie sie prinzipiell Kant, und zwar ebenfalls in der Kritik der Urteilskraft entwickelt. Erst aufgrund der ästhetischen Wertprädikate, über die der Geschmack verfügt, können hier die anderen schon genannten Probleme der Ästhetik gelöst werden. Andererseits kann eine Ästhetik das Schaffen des Künstlers, des Genies, als Fundament aller anderen ästhetischen Bestimmungen begreifen, die in ihrer eigenen Bedeutung dadurch jeweils begründet und erhellt werden müssen. So entsteht eine Genieästhetik, wie sie insbesondere der junge Schelling kon-

zipiert. Gerade diese letzte systematische Möglichkeit einer Ästhetik zeigt, daß über den Vorrang der Natur oder der Kunst in einer

Ästhetik jeweils mitentschieden sein muß; dies gilt auch für die erwähnten anderen Ästhetik-Ansätze. Während in Kants Ästhetik noch ein freilich in kritischen Grenzen verbleibender Nachklang einer „Ästhetik“ der Natur zu finden ist, die ehemals kosmotheo-

logisch fundiert war, ist alle idealistische Ästhetik grundlegend Philosophie

der Kunst.

- Es sind, wie leicht ersichtlich,

auch

durchaus Kombinationen unter diesen systematischen Grundtypen einer Ästhetik möglich.

Vor diesem systematischen Hintergrund soll nun im folgenden die Kunstphilosophie des jungen Schelling als Grundtypus der Genieästhetik in ihren Erklärungsmöglichkeiten und in ihrer Bedeutung für Schellings Idealismus-Konzeption dargelegt werden. Diese Genieästhetik, die sich bei Schelling als ein solcher Grundtypus der Ästhetik nur im System des transzendentalen Idealismus findet, unterscheidet sich im Prinzip und im Detail von der ıden-

titätsphilosophischen Ästhetik in Schellings Vorlesungen über die

Philosophie der Kunst. So sei in einem ersten Teil Schellings Begriff des transzendentalen Idealismus in Abhebung von demjenigen Fichtes umrissen. In einem zweiten Teil gilt es, Schellings

Theorie des Genies und der Kunst innerhalb seines Ansatzes des 254

transzendentalen Idealismus zu entwickeln. In einem dritten Teil soll die systematische Bedeutung von Schellings Genielehre innerhalb seiner frühidealistischen Philosophie bestimmt werden.

I. Der transzendentale Idealismus Schelling geht im System des transzendentalen Idealismus ebenso wie Fichte in seinen früheren Konzeptionen der Wissenschaftslehre vom reinen Ich aus mit dem Satze: „Ich bin“ oder „Ich =

Ich“. Beide verstehen die Formel der Identität des Ich mit sich

nicht als bloße Tautologie; entschiedener als Fichte denkt Schelling sie als Gleichheit Entgegengesetzter (vgl. SW III, S. 372). Diese Entgegengesetzten im Ich sind Subjekt und Objekt, Tätigkeit und Sein, Produzierendes und Produziertes. Wie Fichte be-

stimmt Schelling die spontane Tätigkeit des reinen Ich als intellektuelle Anschauung, als ein unmittelbares, aber rein geistiges Gegenwärtighaben seiner selbst. Prononcierter als Fichte hebt er ihren Grundcharakter der Produktivität hervor. Für Fichte ist das eigentlich produzierende Vermögen in der Regel die Einbildungskraft. Schelling nimmt auch diese Bestimmung mit seinem Begriff

des „Dichtungsvermögens“ auf und denkt sie als wesentliches Ingrediens der intellektuellen Anschauung. Diese Charakterisierung

1.SW = Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. von K.F.A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856-1861. Die Bandzahl wird mit römischen, die Seitenzahl mit arabischen Ziffern angegeben. - Jochen Schmidt erörtert im Rahmen seines großen geschichtlichen Durchblicks durch die Geschichte des Genie-Gedankens auch Schellings Genielehre. Er glaubt, Schelling sei mehr an der Bestimmung des Kunstwerks als des Genies interessiert; so gehöre seine Ästhetik nicht eigentlich zur modernen Subjektivierung der Produktionsästhetik. Schmidt übergeht dabei, daß Schellings Genieästhetik systematisch den Abschluß und die Vollendung des transzendentalen Idealismus als Subjektivitätstheorie bildet. Vgl. J. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. Bd. 1, 5. 390-403.

255

der intellektuellen Anschauung ermöglicht Schelling dann ihre zwangslose Weiterentwicklung zur Anschauung des Genies. Wie Fichte vertritt Schelling die Auffassung, daß durch den spontanen Vollzug der intellektuellen Anschauung das Ich in seinem Fürsichsein und in seinem unmittelbaren Wissen von sich erst entsteht. Dezidierter als Fichte besteht er darauf, daß hierbei

freilich das Ich-Objekt, das da intellektuell angeschaut wird, als das Gegenteil des vollziehenden Ich-Subjekts in der Theorie aller-

erst entwickelt werden muß und in dieser am Anfang noch keineswegs als ein Ich vollendet ist. Vielmehr muß sich das Ich über eine ganze Stufenreihe von Vermittlungen, in denen das betrachtete Ich-Objekt immer mehr mit Strukturen und Momenten der Subjektivität erfüllt wird, bis es zuletzt dem entwickelten IchSubjekt gleicht, mit sich selbst vermitteln. Doch findet sich diese Konzeption im Prinzip ebenfalls schon bei Fichte, der die Dicho-

tomie von betrachtendem und betrachtetem Ich und die Weisen

ihrer Beziehung aufeinander der Entwicklung seines frühen Idealismus zugrunde legt. — Ferner konzipiert Schelling den gesamten transzendentalen Idealismus als systematische Geschichte des Selbstbewußtseins. In der Grundlage von 1794/95 hatte Fichte nur einen Teil seines Idealismus für ein solches Programm vorgesehen. Dagegen läßt sich insbesondere aus seiner Darlegung der Wissen-

schaftslehre nova methodo, die Schelling freilich nicht kennt, entnehmen, daß er den gesamten Idealismus der Wissenschaftslehre -

ähnlich wie dann Schelling — als systematische Geschichte des Selbstbewußtseins anlegt,? d.h. als systematische Explikation der verschiedenen Fähigkeiten und Leistungen des endlichen Geistes aufgrund des einen Prinzips des Ich. - Für Schellings Konzeption des transzendentalen Idealismus ist es nun kennzeichnend, daß er

diese beiden Argumentationsstränge, die sich auch schon bei Fichte finden, nämlich die Entwicklung von Stufen des Ich-Objekts 2

Vgl. dazu E. Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, bes. S. 260ff., auch 186ff.

256

als Stufen der Selbstvermittlung des Ich mit sich und die systematische Darlegung der Fähigkeiten und Leistungen des Selbstbewußtseins, prinzipiell verbindet und — nach seinem Anspruch vollständig ausführt. So ist für ihn der transzendentale Idealismus eine solche systematische Geschichte des Selbstbewußtseins, in der einer Stufenfolge von verschiedenen Fähigkeiten und Leistungen des Subjekts eine Stufenfolge von Bestimmungen des Ich-Objekts, die sich zunehmend mit Subjektivitätsbedeutung anreichern, notwendig korrespondiert. Die höchste subjektive Vorstellungsfähigkeit ist danach diejenige, die sich auf ein nicht mehr defizientes, sondern vollständig als Subjektivität erwiesenes Ich-Objekt zu beziehen vermag. Diese Position ist nach Schelling erst mit der ästhetischen schöpferischen Anschauung des Genies und seiner Kunst erreicht. Diese Abänderungen, die Schelling gegenüber Fichte vornimmt, betreffen das Prinzip und die subjektivitätstheoretische Anlage des transzendentalen Idealismus. Sie sind verbunden mit anderen,

materialen Abänderungen, die leicht zu erkennen sind. Schelling erweitert Fichtes transzendentalen Idealismus zum einen um die Darlegung der transzendentalen Vorgeschichte des Selbstbewußtseins. Hierbei baut er Fichtes Lehre von der unbewußt produzierenden Einbildungskraft zu einer Theorie von Stufen unbewußter produktiver Leistungen des Ich aus, die zu ihrem jeweiligen Korrelat Stufen der Natur haben.? Dieser Naturphilosophie als untergeordnetem Bestandteil des transzendentalen Idealismus liegt bei Schelling die sich von Fichte entfernende Auffassung zugrunde, daß die unbewußte Tätigkeit, von der das endliche reflektierende Ich nichts weiß, dem erfüllten Ich ebenso wesentlich ist wie die

bewußte Tätigkeit. - Zum anderen erweitert Schelling gegenüber Fichte den transzendentalen Idealismus um eine Theorie des Genies und der Kunst. Selbstbewußtsein ist für Schelling nicht vollendet 3

R. Laurh zeigt, daß solche Naturphilosophie prinzipiell auch von Fichte konzipiert wurde; vgl. Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984. 257

im vernünftigen, adäquat evidenten Selbstbezug des Wollens, das Welt und Geschichte von sich unterscheiden muß. Dem Selbstbe-

wußtsein kommt nach Schelling vielmehr gleichermaßen wesentlich die bewußte und keiten aber einander sein erst, wenn eine Konstitution dieser

die unbewußte Tätigkeit zu. Da diese Tätigwiderstreiten, entsteht erfülltes Selbstbewußthöhere Einheit beider zustande kommt. Die höheren Einheit gelingt nach Schelling nur

dem Genie. — Die Einführung eines naturphilosophischen Teils und einer Genieästhetik in den transzendentalen Idealismus be-

ruht also auf einer gegenüber Fichte veränderten Auffassung von erfülltem Selbstbewußtsein.* Diesem transzendentalen Idealismus als Theorie des „Subjektiven“ geht nun nach Schelling gleichursprünglich und gleichberechtigt eine Theorie des „Objektiven“ oder die Naturphilosophie voraus. Diese Naturphilosophie ist nicht Teil der Transzendentalphilosophie, sondern selbständiger, der Transzendentalphilosophie gegenübergesetzter Systemteil. Dies wäre in Fichtes Konzeption unmöglich. Fichtes Protest gegen diese Bedeutung der Naturphilosophie und Schellings Festhalten an seiner eigenen Auffassung zeigen indirekt, daß Schelling eine grundlegend von Fichtes Theorie abweichende Bedeutung von transzendentalem Idealismus vor Augen hat, die er freilich nicht hinreichend ausführt.

Fichte bewahrt in seinem Begriff des Idealismus die Kantische

Auffassung, nach welcher der transzendentale Idealismus als Theorie der Erkenntnisarten und

ihrer Verbindungen

untereinander

die Grundlegungswissenschaft für alles Erkennen darstellt. Fichte erweitert diese Bestimmung noch, indem er seinen transzendentalen Idealismus als Grundlegungswissenschaft für alle Arten des

Vorstellens und Wollens des Ich versteht. So kann nach Fichte 4

Vgl. hierzu - etwas anders -R. Kroner: Von Kant bis Hegel. 2 Bde. (1921/24). 2. Aufl. Tübingen 1961, bes. Bd. 2, S. 76-83. - Die Erweiterung der praktischen Philosophie innerhalb des transzendentalen Idealismus um eine an Kant sich anlehnende Theorie der Geschichte fügt keinen neuen Teil zum transzendentalen Idealismus hinzu, sondern vervollständigt einen schon bestehenden Teil.

258

ebenso wie nach Kant eine Untersuchung der Bestimmungen der Natur weder methodisch noch inhaltlich vom Prinzip allen Wissens, dem Selbstbewußtsein, abstrahieren. Schelling dagegen be-

streitet dem transzendentalen Idealismus gerade diesen Charakter einer Grundlegungswissenschaft; er betont das Begrenzte der Aufgabe dieses Idealismus, der nur das „Subjektive“ zu entfalten ha-

be. Daher hält er eine selbständige Naturphilosophie von eigener ontologischer und kosmologischer Dignität für möglich. Auch sie

impliziert nach Schelling zwar die Bestimmung des Selbstbewußtseins, jedoch nicht als Grundlage allen Wissens und Erkennens, sondern als reale höchste Potenz in der Stufenreihe der Natur,

wodurch diese sich zugleich selbst übersteigt. Der transzendentale Idealismus entwickelt parallel zu solcher Naturphilosophie Stu-

fen der realen Fähigkeiten und Leistungen des Geistes und deren jeweiliges korrelatives Ich-Objekt. Schelling versteht diesen Idealismus nicht als Grundlegungswissenschaft, sondern — ohne freilich zu letzter Klarheit zu gelangen - offenbar als eine Theorie des Aufbaus des realen endlichen Geistes, ın dem sich schließlich das

Absolute manifestiert, also der Intention nach als Geistesphilosophie, wie sie auf spekulativer Basis Hegel später ausführte.? - Diese Theorie des „Subjektiven“ ist ebenso wie die Naturphilosophie in einer Konzeption von absoluter Identität metaphysisch fundiert. Doch kann diese absolute Identität nach Schellings damalıger Auffassung (vor 1801) nicht erkannt, ja nicht einmal gedacht werden;

darin erweist sich diese Schellingsche Konzeption

der

Philosophie eindeutig noch als frühidealıstisch.

II. Genie und Kunst Innerhalb

dieser Konzeption

von

transzendentalem

Idealismus

entwickelt Schelling nun seine Genieästhetik. Diese ist für ihn die 5

Ob Schelling damit einer Grundlegungswissenschaft entbehren kann, wie sie für Fichte der transzendentale Idealismus ist, bleibt allerdings fraglich. 259

Vollendung des transzendentalen Idealismus. Dem endlichen Geist ist nach Schelling, wie sich gezeigt hatte, gleichursprünglich die unbewußte ebenso wie die bewußte Tätigkeit, d.h. die Bildung dunkler, naturhafter und traumhafter ebenso wie klarer, deutlicher und reflektierter Vorstellungen, damit aber auch der Widerstreit dieser Tätigkeiten immanent. Schon mit der ersten Vorstel-

lung seiner selbst befindet sich das Selbstbewußtsein in der Entzweiung dieser seiner Tätigkeiten; in dieser Entzweiung bleibt es auch als Wollen und Freiheitsbewußtsein. Wird diese Entzweiung vom Ich selbst aber erlebt und erlitten, so schließt es die unbe-

wußte Tätigkeit nicht mehr von sich aus; es erfährt damit den Zwiespalt seiner selbst; dieser Widerstreit geht nach Schelling an „die Wurzel

seines ganzen Daseins“

(SW IH, S. 616). Dadurch

entsteht ein unendliches Streben, eine höhere Einheit und Versöhnung zu schaffen, ın der das Ich sich selbst als mit sich identisches in diesem Widerstreit seiner Kräfte anzuschauen vermag. Es bringt diese höhere Einheit und damit seine Selbstanschauung nur zustande als Genie. Diese Einheit kann nicht durch Entschlüsse herbeigezwungen werden; sie gilt ihm „gleichsam als [...] Gunst einer höheren Natur“, durch die es selbst „überrascht und be-

gläckt“ wird (SW IH, S. 615). Das ästhetische Wohlgefallen kommt also zuerst dem Genie zu, das sıch in seinem glückhaft gelingenden Schaffen unmittelbar der Aufhebung seines inneren Widerstreits und damit seiner Selbstvollendung bewußt wird.

Eine Quelle dieser Bestimmung des Schaffens des Genies als Einheit von bewußter und unbewußter Tätigkeit dürfte für Schelling Kants Genielehre ın der Kritik der Urteilskraft sein. Im Genie gibt nach Kant die Natur der Kunst die Regel; die Natur im

Schaffen des Genies ist das diesem selbst unbegreifliche, insofern dunkle und unbewußte Sich-Zusammenfinden seiner mannigfaltigen Vorstellungen zu einer ästhetischen Idee, zu einer geglückten, reichen ästhetischen Anschauung,

die viel zu denken

gibt.

Zugleich erfolgt das Schaffen des Genies aber bei klarem Bewußtsein nach einer bestimmten Zielsetzung, ist bewußte Poiesis. Für Schelling gewinnt das Unbewußte im Schaffen des Genies größere 260

Bedeutung als für Kant. Darin ist wohl kaum eine Vorprägung von Freudscher Psychologie und Tiefenpsychologie zu sehen; das Reich des Unbewußten bleibt bei Schelling, damaligem Wissensstand gemäß, allgemein das Reich der unbegreiflichen, dunklen, auch traumhaften Vorstellungen. Neu ist der systematische Gedanke, daß dies wesentlich dem Ich angehört, ein Gedanke freilich, der in manchen Entwürfen der Jenaer Romantik vorbereitet ist. - Für das Naturhafte, Unreflektierte und Unbewußte im Schaf-

fen des Genies deutet vor Schelling z.B. Schiller eine höhere Dignität an; Schillers Auffassung des Genies, wie sie insbesondere in Über Anmut und Würde und Über naive und sentimentalische

Dichtung enthalten ist, dürfte für Schellings Genielehre einen weiteren wesentlichen Hintergrund darstellen. Schiller erklärt, daß das Genie in naturhafter Naivität den „Eingebungen eines Gottes“

gehorcht. Schelling folgt Schiller, abgesehen von seiner Abänderung des Schillerschen Verständnisses des Naturhaften, und er folgt damit der langen Tradition, in der auch Schiller steht und die auf Platos im Phaidros dargestellte Lehre von der theia mania des

6

Dies versucht ©. Marquard zu zeigen, vgl. z.B. Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. In: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Hrsg. von M. Frank und G. Kurz. Frankfurt a. M. 1975, S. 341-377. - Schelling identifiziert einmal das „Unbegreifliche“, Unbewußte mit dem Genie (SW II, S. 616). Doch legt er es sonst als Einheit von bewußter und unbewußter Tätigkeit dar. 7 Vgl. F. von Schiller: Sämtliche Werke. Aufgrund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H.G. Göpfert. München 1958ff. Bd. 5, S. 704. Beide Abhandlungen Schillers zieht Schelling auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst heran, insbesondere Über naive und sentimentalische Dichtung, wozu dort noch die erst 1801 veröffentlichte Schrift: Über das Erhabene kommt. - In einem Brief an Goethe vom 27.3.1801 wendet sich Schiller gegen Schellings Bemerkung, daß man in der Kunst vom Bewußtsein zum Bewußtlosen gehg; diese trifft in der Tat nicht Schellings eigentliche Theorie. Schiller bestätigt jedoch die Vereinigung des Bewußten (Besonnenen) und Unbewußten ım Schaffen des Genies. Vgl. dazu D. Jähnig: Schelling. Die Kunst in der Philosophie. 2 Bde. Pfullingen 1966/69, Bd. 2, S. 167-172. 261

Dichters zurückgeht.? Dabei deutet Schelling das Unbegreifliche der Gottergriffenheit, des „pati Deum“ (SW III, S. 617), und des

Enthousiasmos des Genies innerhalb seiner Theorie des Ich als das Unbewußte im genialen Schaffen. In diesem ist also als ein arcanum der Gott gegenwärtig, der dem Genie zugleich das wesens-

erfüllende Gelingen der Vereinigung von unbewußter und bewußter Tätigkeit gewährt. Das Schaffen des Genies in dieser geglückten und als glückhaft

erlebten Vereinigung der entgegengesetzten Tätigkeiten ist nun nach Schelling immer Poiesis; es bleibt nicht nur innerliche Anschauung, nicht nur werklose, ins Innere eingeschlossene Phantasie

oder gar bloßer Kunstwille, sondern bringt ein originales Kunstwerk hervor, das als gestaltetes auch äußerlich und objektiv anzuschauen sein muß. Die Kunst und ihre Werke, wie die Ästhetik

sie grundsätzlich zu begreifen sucht, entstammen also notwendig dem Schaffen des Genies. Dies hatte mit anderer Zielrichtung schon Kant in der Kritik der Urteilskraft dargelegt. Da „Kunst“ ın

allgemeinem Sinne auf absichtsvoller, vom Begriff eines Zweckes geleiteter, bewußter Hervorbringung beruht, ist schöne Kunst

nach Kant nur möglich als zugleich naturhafte, insofern unbewußte Hervorbringung des Genies. Hierbei wird das Genie - wie bei Schelling - grundlegend als poietisch gedacht. Da für Kant anders als für die Idealisten Ästhetik nicht sogleich Philosophie der Kunst ist, garantiert nach seiner Lehre erst das Genie die Möglichkeit schöner Kunst und damit die Möglichkeit, in der Ästhetik auch Grundbestimmungen der schönen Kunst zu erörtern. Dies bedarf nach Schelling keines eigenen Beweises mehr. Da für Schelling Ästhetik Philosophie der Kunst ist und da ferner Kunst, sofern ıhr ästhetische Wertprädikate wesentlich zukommen,

8

Zur Wirkungsgeschichte des Gedankens der theia mania vgl. den grundlegenden Durchblick von O. Pöggeler: Dichtungstheorie und Toposforschung. In:

Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 5 (1960), bes. S. 112123.

262

nur durch das Schaffen des Genies entsteht, muß das Genie anders als bei Kant - zum Ausgangspunkt und Prinzip der Ästhetik werden.

Das Genie wirkt nun einerseits, wie Schelling sagt, indem er einem antiken Topos folgt, „mit der größten Besonnenheit“”; andererseits legt es eine „unergründliche Tiefe“ ın sein Werk (SW III,

S. 619). Darin sind die allgemeineren Bestimmungen der bewußten und unbewußten Tätigkeit sowie deren Einheit im genialen Schaffen enthalten. Das Gleiche gilt für Schellings Unterscheidung von „Kunst“ im engeren Sinne als erlernbarer Kunstfertigkeit und „Poesie“ als allgemeinem naturhaftem „Dichtungsvermögen“,

als naturhaft gegebener produktiver Phantasie überhaupt; in dieser Weise denken auch Schlegel und Novalis die Poesie; sie stehen damit in der Tradition der allgemeinen Bestimmung der Poesie als Poiesis in Platos Symposion. Beides, „Kunst“ und „Poesie“ als

bewußtes und unbewußtes Hervorbringen, ist nach Schelling im genialen Schaffen vereint. Diese beiden Komponenten sind auch in Schillers Über Anmut und Würde oder in Kants Kritik der

Urteilskraft angedeutet; sie gehen letztlich auf die Horazische Unterscheidung von „ars“ und „ingenium“ zurück, die selbst in

der Tradition der griechischen Unterscheidung von Techne einerseits und Phantasıa bzw. Enthousiasmos andererseits steht. Schelling ordnet hier - ganz unromantisch — die „ars“ dem „ingenium“

9

Diesem Topos gemäß gewährt solche Besonnenheit und Klarheit Apoll dem Dichter. F. Schlegel z.B. nimmt dies auf und stellt es der Wirkung des Dionysos gegenüber; vgl. Über das Studium der griechischen Poesie von 1797, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 1,5. 298. Vgl. auch J. Paul: Vorschule der Ästhetik. $ 12. Der Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen bahnt sich damit an. Zur Verbindung von Besonnenheit und Fortgerissenwerden, ja Wahnsinn im künstlerischen Schaffen vgl. auch in Schellings Akademierede Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807), SW VII, S. 313. - Zur Fortführung des Problems Genie und Wahnsinn bei Schopenhauer vgl. die problembewußte und perspektivenreiche Studie von O. Pöggeler: Schopenhauer und das Wesen der Kunst. In: Ders.: Die Frage nach der Kunst. Von Flegel zu Heidegger. Freiburg/München 1984, bes. S. 115-135. 263

über hinsichtlich des Zustandebringens gelungener Kunstwerke." — So nimmt Schelling durchaus klassische Topoi, die aus der Antike überliefert sind, in seine Genielehre auf.

Das Schaffen des Genies und die Verfaßtheit des Genies in diesem Schaffen hat Schelling zwar auch später noch erörtert, z. B. ın der Akademierede Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807). Doch greift Schelling dabei u.a. Bestimmungen des Systems des transzendentalen Idealismus wieder auf; vor allem aber können diese Bestimmungen, was die poetische Patina jener Rede gelegentlich verschleiert, ım späteren identitätsphilosophi-

schen Ansatz nicht mehr die gleiche grundlegende systematische Bedeutung innehaben wie in der Konzeption des transzendentalen Idealismus. Dem Produkt des genialen Schaffens, dem Kunstwerk, kommt nun nach Schelling der Grundcharakter der Schönheit zu. Von ihr unterscheidet Schelling die Erhabenheit; mit diesen beiden grundlegenden ästhetischen Wertprädikaten folgt er erneut der Tradition, die bis in die Antike zurückreicht und die - für Schelling bedeutsam - insbesondere Kant und Schiller weiterentwickeln. Schönheit ist, wie Schelling im System des transzendentalen Idealismus nur knapp charakterisiert, „das Unendliche endlich dargestellt“ (SW

II, S. 620). Die Versöhnung des absoluten, insofern unendlichen Gegensatzes von bewußter und unbewußter Tätigkeit im Schaffen des Genies bietet sich in dem von ihm hervorgebrachten, gestalthaft begrenzten Werk als Harmonie von Endlichkeit und Unendlichkeit, d.h. für Schelling als Schönheit dar. Bleibt im Ob-

jekt dagegen der Widerstreit bestehen und werden die Widerstreitenden nur in der subjektiv bleibenden Anschauung in eins ge-

faßt, so entsteht nach Schelling die alle Gemütskräfte anspannende 10 Vgl. dazu und zu den antiken Hintergründen D. Jähnig: Schelling. Bd. 2, S. 139ff., 145ff.; er führt für die Entgegensetzung von „ars“ und „ingenium“ und die Überordnung der „ars“ Stellen aus Horaz: De arte poetica an, einem

Werk, das Schelling bekannt gewesen sein dürfte. - In der nachgetragenen Bemerkung (SW III, S. 619 Anm.) nimmt Schelling jene Priorität freilich zurück. 264

Vorstellung des Erhabenen. Eigentlich aber, so emendiert Schel-

ling ın seinem Handexemplar, ist das wahrhaft Schöne zugleich erhaben und umgekehrt; er folgt damit Schillers Lehre von der Synthesis beider im Ideal.!! Ebenso nimmt er mit der Charakterisierung, das Kunstwerk strahle „Ruhe“ und „stille Größe“ (SW III, S. 620) aus, Winckelmanns Klassizismus auf, und zwar nicht

nur für die bildende, sondern für alle Kunst.'? Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit den ästhetischen Urteilen zeitgenössischen „Klassiker“ - ebenso wie später Hegel.

der

Weil die Genieästhetik Philosophie der Kunst ist, muß Schelling - wie später Hegel und anders als Kant - ausschließen, daß die Naturschönheit ursprünglicher Inhalt dieser Ästhetik sei; sie

ist nur zufällig da und erfüllt nicht die höheren Bestimmungen des geistigen Schönen. Schon im System des transzendentalen Ide-

alismus weist Schelling daher die Auffassung von der Kunst als Nachahmung der Natur zurück.!” Vielmehr ist für Schelling die Kunst des Genies Maßstab der Beurteilung auch der Naturschön-

heit. Das Genie ist für Schelling autonom (vgl.

SW V, S. 349); es

bildet in seiner genialen Produktivität allererst die intuitiven Nor-

men und Muster aus, nach denen überhaupt ein Naturding oder Kunstwerk als schön oder erhaben erfaßt werden kann. Ihnen folgt der Betrachter, der ebenfalls, wenn auch nur nachschaffend

produktiv ist. Dieses intuitive produktive Vermögen des Genies, das aus sich selbst die ästhetischen Maßstäbe erst hervorbringt, die sein Schaf-

fen regeln, charakterisiert Schelling auch mit Bestimmungen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft dem göttlichen intuitiven Verstand vorbehält. Das Genie schaut die „Idee des Ganzen“ (SW III, 11 Vgl. SW III, S. 621, vgl. auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, SWV,S. 468, zu Schillers Auffassung vgl. z.B. Sämtliche Werke. Bd.V, S. 481ff., dazu vgl. W. Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Diss. Köln 1967, S. 90-99.

12 Vgl. auch Schellings Äußerungen zu Winckelmann SW V, S. 477 und - zumeist mit Beziehung auf die bildende Kunst - SW VII, S. 295f., 306, 309 u.ö. 13 Vgl. SWIII, S. 622. Vgl. auch VII, S. 292ff.

265

S. 623) als Grund der Teile und ihres Zusammenhangs an. Eine solche Anschauung ist auch nach Kant intellektuell und spontanproduktiv; sie bringt durch ihre Tätigkeit Seiendes als ihr Produkt hervor. Zwar deutet auch Kant einmal die auf antike Tradition zurückgehende Vorstellung an, daß das Genie ein „alter deus“ sei;

doch erst Schelling überträgt die Bestimmungen des intuitiven Verstandes

auf das

Genie;'* dies ıst für ıhn das

„inwohnende

Göttliche des Menschen“ (SW ’V, S. 460). -

So finden sich in der Genieästhetik des jungen Schelling eine Reihe von „klassischen“ Momenten, von Wiederaufnahmen anti-

ker Bestimmungen und Topoi sowie von Gemeinsamkeiten mit zeitgenössischen ästhetischen Auffassungen, die schon bald als „klassisch“ galten. Doch nimmt Schelling ebenso zentrale romantische Überlegungen in seine Genieästhetik auf; nicht immer leuchtet

deren Kompossibilität mit jenen „klassischen“ Momenten ohne weiteres ein. - So gibt es für ihn als realisierte Einheit von bewußter und unbewußter Tätigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit eigentlich „nur Ein absolutes Kunstwerk, welches zwar in ganz verschiedenen Exemplaren existieren kann, aber doch nur Eines

ist“ (SW III, S. 627). Große Dichter suchten es nach Schelling nicht in einem einzelnen Gedicht, sondern „durch das Ganze ıhrer

Dichtungen hervorzubringen“ (ebd.). Ähnlich hatte sich F. Schlegel im Gespräch über die Poesie geäußert.” Die Vorstellung der Einheit

und

Vollendung

eines künstlerischen

Einzelwerks

wird

damit aufgegeben. Bei diesen Bestimmungen eines universellen Kunstwerks hat

Schelling offenbar die Mythologie und als bestimmtes Beispiel die griechische Mythologie vor Augen. Zwar erklärt er im System des 14 Zu diesen Zusammenhängen sei der Hinweis erlaubt auf meine Abhandlung: Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. In: Hegel-Studien 21 (1986), S. 87- 128, bes. S. 99f., auch 123.

15 Vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Gesamtausgabe. Bd. Il. Hrsg. von H. Eichner. München usw. 1967, z.B. S. 313: „[...] die alte Poesie sei ein einziges, un-

teilbares, vollendetes Gedicht“. 266

transzendentalen Idealismus nicht wie F. Schlegel geradezu, die

Mythologie sei ein solches Kunstwerk. Er vergleicht vielmehr nur die unendliche Sinnfülle der Mythologie, in der symbolisch „Ideen“ (SW III, S. 620) dargestellt werden, und das unabsichtliche, unbewußte Entstandensein der Mythologie mit den gleichen Qualitäten eines einzelnen Kunstwerks. Auch in den Vorlesungen über

die Philosophie der Kunst ist die Mythologie zunächst lediglich der „Stoff“, der Inhalt der Kunst. Da jedoch die Mythologie nur ın den einzelnen Kunstwerken existiert, da sie das Unendliche ın endlicher, symbolischer Gestalt, d.h. schön darstellt, ja da „das

Grundgesetz aller Götterbildungen [...] Schönheit“ ist (SW V,

S. 397f.), deshalb ist für Schelling letztlich die Mythologie selbst das universelle Kunstwerk; es tritt bei den Griechen, wie Schelling in jenen Vorlesungen erklärt, exemplarisch als Mythologie der Natur, später im Christentum exemplarisch als Mythologie der Geschichte auf (vgl. SW V, S. 427). So entwirft Schelling - ebenso wie Schlegel - den Begriff einer ästhetischen Mythologie.'° Schelling deutet dabei eine Mythologie in vage neuplatonischer Weise als Darstellung „aller Ideen“ in konkreten, symbolisch-sinnträch-

tigen göttlichen Gestalten.’” Dieser Gedanke läßt sich eigentlich erst in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst ausführen, die die Theorie der Mythologie weiterentwickeln; denn für Schelling ist erst die Identitätsphilosophie in der Lage, in Ideen spekulativ zu begreifen, was die Kunst in konkreten Gestalten anschaulich

darstellt. Solche Deutung gilt dann nicht nur der griechischen, sondern auch der christlichen und schließlich sogar der neuen 16 Dieser Mythologiebegriff ist ein anderer als der des „ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“, was ©. Pöggeler überzeugend dargelegt hat; damit entfällt ein entscheidendes inhaltliches Argument, Schelling als Verfasser dieses Programms anzusehen. Es stammt, wie als erster Pöggeler gezeigt hat, von Hegel; vgl. O. Pöggeler: Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. In: Hegel-Studien Beiheft 4. Bonn 1969, S. 17-32 und ders.: Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm. In: Hegel-Studien Beiheft 9. Bonn 1973, S. 211-259, bes. $. 245f. 17 Vgl. z.B.: „Die Ideen in der Philosophie und die Götter in der Kunst sind ein und dasselbe“ (SW V, S. 401; vgl. $. 370), 267

Mythologie, die Schelling ebenso wie Schlegel fordert;!? Hegel dagegen hält schon in seinen ersten Jenaer Jahren die Mythologie - und mit ihr die Kunst - für etwas in der wirklichen Geschichte Vergangenes.

Aus dieser Bestimmung

der Mythologie als des Inhalts der

Kunst, ja als des universellen Kunstwerks selbst ergibt sich eine weitere zentrale Bestimmung der Ästhetik, die Schelling - ebenso

wie Schlegel - nicht eigens begründet; die Ästhetik wird dadurch notwendig zur Gehaltsästhetik.

Diese Konzeption der Mythologie als Kunstwerk, die Schelling schon im System des transzendentalen Idealismus vorschwebt, führt nun zu einer überraschenden Anwendung des Geniegedan-

kens. Während er mit den oben dargelegten, mehrfach auf die klassische Tradition zurückgehenden Bestimmungen das menschliche Künstlerindividuum als Genie betrachtet, bestimmt er im

Kontext der Erörterung der Mythologie - wie Schlegel - ın romantischer Ausweitung als Genie ein „Volk“, z.B. dasjenige der Griechen, oder ein ganzes „Geschlecht“ eines Zeitalters (vgl. SW

II, S. 620, 629). Genie wird damit zu einem die menschliche Individualität übersteigenden, allgemeinen kunstschaffenden Vermö-

gen, ohne daß Schelling aufzeigt, wie diese „romantische“ mit jener „Klassischen“ Auffassung im Detail zu verbinden ist. Das Gleiche

gilt für das durch das Genie ın beiderlei Bedeutung Hervorgebrachte, das einzelne bzw. das universelle Kunstwerk. 18 Zu Schellings Lehre von der Mythologie in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst vgl. die detaillierte, sehr instruktive Interpretation von X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris 1970, Bd. 1, 5. 439-471, zum Verhältnis Schellings zu Schlegel hinsichtlich der Forderung einer neuen Mythologie vgl. S. 442ff. 19 Am Beispiel der Göttlichen Komödie deutet Schelling in seinem Dante- Aufsatz eine Verbindung beider Begriffe vom Kunstwerk an. Die Göttliche Komödie ist zwar de facto ein einzelnes Werk; aber es repräsentiert zugleich „die ganze Gattung der neueren Poesie“, ıst „Vorbild“ der „modernen Poesie“, s.

Schellings Journal- Aufsatz in: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, S. 486f., 493. Zu Schlegels vergleichbarer Auffassung vom universellen Kunstwerk und zu seiner Vorstellung 268

Schließlich deutet Schelling die Malerei, die „die unsichtbare Scheidewand“ zwischen „wirklicher und idealischer Welt“ (SW

III, $. 628) aufhebt, mit einem Anklang an den „magischen Idealismus“, d.h. romantisch. Denn diese Kunstwerke bzw. diese einzelnen Repräsentationen eines allgemeinen Kunstwerks stellen anschaulich-bildhaft die Wirklichkeit der wahren, „idealischen“, nur

durch die ästhetische Phantasie erfaßbaren Welt dar, die durch die Sinnenwelt „nur unvollkommen hindurchschimmert“ (ebd.). Diese Auffassung mit ıhrer „magisch idealistischen“ Konnotation bleibt

bei Schelling nicht auf die Malerei beschränkt, auch wenn er die Trennung von gegebener Sinnenwelt und „idealischer“, ästhetischer Welt nicht vollständig aufhebt.?° Da die Mythologie für ihn Darstellung des Absoluten und Göttlichen und damit des absolut

Wahren ist und da diese Bedeutung der Mythologie auch für die Gegenwart und Zukunft gültig bleibt, ist die genial und künstlerisch zu erschauende und zu erschaffende religiöse Phantasiewelt das wahre Urbild, das der künstlerisch Erlebende durch die ıhn umgebende Sinnenwelt hindurch erblickt.

III. Kunst und Philosophie Aufgrund dieser Mythologiekonzeption wird Schellings These verständlich, Kunst sei „die einzige und ewige Offenbarung“, die es gebe, und nur durch „das Wunder“ der Kunst könne man „von

der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugt“ werden (SW II, von einer progressiven Universalpoesie vgl. z.B. W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920). Hrsg. von H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1973, S. 81ff. und - detaillierter - E. Behler: Friedrich

Schlegels Theorie der Universalpoesie (1957). In: Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Hirsg. von H. Schanze. Darmstadt 1985, S. 194-243. 20 Solche inhaltlichen Assonanzen bleiben möglich trotz der gegenseitigen Abneigung zwischen Schelling und Novalis, die schon R. Haym detailliert schildert, vgl. Die romantische Schule. Berlin 1870. Nachdruck: Hildesheim/New York 1977, S. 610ff., zum „magischen Idealismus“ vgl. $. 358ff.

269

S. 618).?! Schelling vertritt hiermit einen ästhetischen Gotteserweis. Denn Kunst ist für ihn Kunstreligion; dies gilt nach Schellings Auffassung nicht nur — wie später in Hegels Ästhetik - für die klassische Kunst der Griechen, sondern auch für die vielgestaltige moderne Kunst und die Kunst der Zukunft. Die Philosophie denkt jenes „Höchste“

und Absolute im Hinblick auf die

von ihr zu entwickelnden Stufen der Entzweiung als das allen Entzweiungen voraus- und zugrundeliegende absolut Identische. Da philosophisches reflexives Denken immer diesen Entzweiungen verhaftet bleibt, weil es selbst auf Entzweiung beruht, kann die Philosophie dies Absolute nicht in seinen inneren Bestimmungen

begrifflich erfassen; sie bleibt negative Theologie. Deshalb offenbart nur die Kunst als Kunstreligion jenes „Höchste“ oder Gott.

Darin stellt sie das Vorbild der Philosophie dar; sie erreicht für Schelling, wonach die Philosophie im Denken immer nur streben kann. Sie eröffnet dem Philosophen „das Allerheiligste [...] wo in

ewiger

und

ursprünglicher

Vereinigung

gleichsam

in

Einer

Flamme brennt“, was sonst, was auch im Denken immer getrennt

bleibt (SWTI, S. 628). Der poetische Aufschwung an dieser Stelle ist inhaltlich wohlmotiviert; von jener göttlichen Einheit kann man nach Schelling aufweisend nur in dichterischer Begeisterung reden. Nicht nur hinsichtlich der Darstellung des Absoluten und Göttlichen, auch hinsichtlich des „Organs“

seiner Erfassung ist

die Kunst für Schelling Vorbild der Philosophie. Die ästhetische Anschauung wird in der Kunst in eigentlicher Weise realisiert; in der Philosophie dagegen bleibt sie bloß innerlich, bleibt sie als

intuitive, spontan-produktive Vorstellungstätigkeit bloß innere Grundlage der begrifflich-reflexiven Entwicklungen. Mit dieser Auf-

fassung von der ästhetisch-poietischen und produktiven Grundkraft als Basisvermögen für Kunst und Philosophie steht Schelling F. Schlegel und Novalis nahe; Schelling integriert sie freilich in 21 Vgl. hierzu und zu Hegels späterer Kritik an dieser Auffassung Schellings O. Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik. Diss. Bonn 1956, S. 159ff. 270

seine eigene Konzeption des transzendentalen Idealismus. Die Entwicklung der Philosophie, speziell des transzendentalen Idealismus, beruht danach auf der spontanen, intellektuellen Anschauung; deren ursprüngliche Evidenzen transformiert das entzweiende und fixierende Denken in Begriffe und Theorien; in diesen aber kann

die in sich einige intellektuelle Anschauung selbst nicht adäquat ausgedrückt werden. In der Kunst dagegen bleibt die intellektuelle Anschauung nicht innerlich, sondern gewinnt im Kunstwerk ästhetische Objektivität. So ist die „ästhetische Anschauung“ die „ob-

jektiv gewordene intellektuelle“ (SW III, S. 625); sie ist damit paradigmatisch für die Philosophie. - Die eigentlich realisierte intellektuelle Anschauung, die ästhetische Kunstanschauung des Genies, wird sogar zum „Organon [...] und Dokument der Philo-

sophie“ (SW III, S. 627).? In der Tradition vor Kant war die Logik Organon der Philosophie als Theorie der Formen und Gesetze des reinen Denkens. Für Schelling ist im eminenten, die philoso-

phische Erkenntnis überragenden Sinn die ästhetische Anschauung des Genies ein solches Organon. Über sie muß in ihrem wesentlichen Bedeutungsgehalt auch der Philosoph verfügen; sie ist

für ihn poietisch-produktive intellektuelle Anschauung, die allen seinen Deduktionen zugrunde liegt. Die Kunst des Genies ist zugleich „Dokument“ und Beweis für die adäquate Verwirklichung solcher Anschauung des höchsten Einen, die die Philosophie erstrebt, aber nicht erreicht. Schelling sieht freilich auch die Philosophie der Kunst und damit nicht die Kunst selbst als Organon der Philosophie an (vgl. SW III, S. 351, 612). Die Logik als Organon ist nämlich in der Tradition Bestandteil der Philosophie.

22 Diese zentrale Stelle ist oft interpretiert worden; vgl. z.B. die kritische Interpretation von R. Haym: Die romantische Schule, S. 647f. Vgl. ebenso H. Kuhn: Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel (1931). In: Ders.: Schriften zur Ästhetik. München 1966, S. 85f., 91; D. Jähnig: Schelling. Bd. 1, S. 12ff.; Bd. 2, S. 313f. u.ö. - J. Schmidt: Die Geschichte des

Genie-Gedankens. Bd. 1, S. 394, 396, 398. 271

Das Gleiche gilt von der Philosophie der Kunst als Organon.” Sie entwickelt die Erkenntnisweise der „objektiv gewordenen intellektuellen“ Anschauung, die — wesensgleich, aber nicht objektiv werdend - aller philosophischen Erkenntnis zugrunde liegt.

Dieses Vermögen produktiver intellektueller Anschauung macht nach Schelling nun insbesondere den Stufenbau des transzendentalen Idealismus verständlich. Es liegt dem für sich werdenden und schließlich zur erfüllten Selbstanschauung gelangenden Ich

zugrunde als „Dichtungsvermögen“ oder - in Fortführung von Fichtes Lehre - als „Einbildungskraft“ (SW II, S. 626), die Wider-

streitendes vereinigt. Sie tritt auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung des Ich in je verschiedenen Potenzen auf von der naturhaft produktiven bis zur genial ästhetischen Anschauung.

Erst die Kunst und die ästhetische Anschauung des Genies verschaffen die Überzeugung von der selbständigen Existenz dieses Vermögens; dadurch allein besteht nach Schelling die Gewißheit, daß auch die deduzierte Stufenreihe der Vorstellungsweisen des für sich werdenden Ich, d.h. die dargelegte systematische Geschichte des Selbstbewußtseins nicht leere begriffliche Konstruk-

tion ist, sondern objektive Realität hat. - Der transzendentale Idealismus gelangt somit zu seiner Vollendung und zur Rechtfertigung seiner Bedeutung durch die Explikation von Genie und Kunst als objektiver Realität; er kehrt in sein Prinzip zurück, ın das Ich, und weist nach Schelling zugleich über seine Grenzen

hinaus. Das Ich als Genie erkennt im Objekt seiner Selbstbetrachtung, nämlich in seiner eigenen poietischen Produktivität, die sich

in dem von ihm geschaffenen Kunstwerk manifestiert, vollständig sich selbst; es weiß sich damit als erfüllte Subjektivität. Das Telos

der transzendentalphilosophisch aufzuzeigenden Entwicklung des 23 In Schellings Konzeption geht der transzendentale Idealismus und dessen Vollendung, die Genieästhetik, generell der Logik, sie begründend, voraus. Da

er selbst kel. Der Gesetze ten und 272

jedoch Wissenschaftslehre sein will, ergibt sich hier ein logischer Zirtranszendentale Idealismus muß Sinn und Gültigkeit der logischen und Kategorien schon voraussetzen, die er doch eigentlich erst ableibegründen will.

Ich, die entfaltete, sich anschauende Subjektivität, ist also das Genie. Nur das Genie vereinigt die entgegengesetzten, aber nach

Schelling dem Ich gleichwesentlichen Tätigkeiten bewußten und unbewußten produktiven Vorstellens. Damit überschreitet das Genie zugleich die Grenzen der Philosophie; es verwirklicht in seiner ästhetischen Anschauung die absolute Identität und ist darin Offenbarung Gottes. Diese Genieästhetik bildet die Vollendung des transzendentalen Idealismus. Sie stellt innerhalb dieses Idealismus die höhere Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie sowie ihrer

Gebiete: der Natur und der Freiheit dar. - Schelling erwägt wenig später”* eine Philosophie der Kunst als dritten Systemteil, der zur Natur- und lich ist und offen. Bald tätssystems,

Transzendentalphilosophie hinzutritt. Wie dies mögwelche Gestalt die Ästhetik dann annehmen soll, bleibt darauf gelangt Schelling zur Konzeption des Identiin dem das Absolute vollständig durch Vernunft er-

kannt wird. In diesem System wird die Philosophie der Kunst in der Erkenntnis des Absoluten und des Universums begründet. Zwar behält Schelling eine Genielehre bei, aber dieser kommt für

die Ästhetik keine Grundlegungsbedeutung mehr zu; die Ästhetik wird wesentlich zu einer metaphysischen Theorie der Mythologie

als Kunstreligion. Letztlich wird dem künstlerischen Schaffen nun - ebenso wie bei Hegel von seinen Jenaer Entwürfen an - das philosophische Begreifen des Absoluten übergeordnet. Die grundlegende systematische Abänderung, die die Ästhetik in der Identitätsphilosophie erfährt, dient offensichtlich nicht der

Auflösung etwaiger immanenter Probleme und Schwierigkeiten der Genieästhetik. Sie ist die Folge einer prinzipiellen Umwandlung von Schellings systematischer Gesamtkonzeption, da er von einer frühidealistischen Position, nach der das Absolute philosophisch nicht zu erkennen ist, zu einer absoluten Metaphysik, einem System vollständiger philosophischer Erkenntnis des Absoluten 24 Vgl.SWIV, S. 89, 92. Vgl. auch Schelling an Fichte. 19.11.1800. In: Fichte- Schel-

ling. Briefwechsel. Einleitung von W. Schulz. Frankfurt a. M. 1968, S. 109. 273

übergeht. Doch auch diese Wendung zur absoluten Metaphysik läßt nicht erkennen, wie dadurch etwa offengebliebene Fragen des transzendentalen Idealismus besser gelöst werden können. Schel-

lings Genieästhetik im System des transzendentalen Idealismus ıst durch die Identitätsphilosophie ebenso wie auch durch die nachfolgenden idealistischen Konzeptionen als Repräsentant eines Grundtypus idealistischer Ästhetik nicht überholt worden. - Sie behält Bedeutung auch für moderne ästhetische Reflexionen, wenn man nur den Zeiten- und Problemabstand berücksichtigt, der uns von Schellings Idealismus und Kunsttheorie trennt, denn sowohl den systematischen Grundtypus der Genieästhetik als auch den Reichtum an klassischen und romantischen Einsichten und Motiven zum Genie, den Schelling aufnimmt und sich anverwan-

delt, kann man als Potential der Ästhetik nur zum eigenen Nachteil vernachlässigen. Beachtet man dagegen einen solchen Ansatz

der Vergangenheit, dann kann man das Problembewußtsein der modernen Ästhetik durchaus vertiefen. Schließlich ist Mnemosyne die Mutter der Musen.

274

Die Theorie der Tragödie beı Hölderlin und Hegel

Die tiefgründigsten und eindrucksvollsten Konzeptionen

einer

Theorie des Tragischen und der Tragödie finden sich in Hölderlins Spätwerk und in Hegels ausgebildeter Ästhetik. Kein Versuch einer modernen Ästhetik, sich diesen eher unmodernen Problemen des Tragischen und der Tragödie zu stellen, kann die Kon-

zeptionen Hölderlins und Hegels übergehen. Sie bilden durchaus divergierende Ausformungen eines wenigstens teilweise gemeinsamen Anfangs in der Theorie, der für uns heute auch durch subtile historische Vergleichsforschung nicht mehr vollständig aufgehellt werden kann.

Dieser Anfang gehört in die gemeinsame Zeit Hölderlins und Hegels in Frankfurt und auch in Homburg mit den wechselseitig anregenden Gesprächen, den Diskussionen im Freundeskreis und den damals entstandenen, z.T. nur fragmentarisch überlieferten

Schriften. Hölderlins Empedokles-Dichtung

etwa bleibt nicht

ohne Einfluß auf Hegels Jesus-Darstellung in Der Geist des Christentums, Hegels Begreifen des Positivwerdens einer Religion wohl nicht ohne Einwirkung auf Hölderlins Auffassung von der geschichtlichen Bestimmtheit einer Religion. Im Entwurf einer Theorie des Tragischen und der Tragödie ist Hölderlin - ebenso wie in anderen prinzipiellen Fragen - damals offenbar führend,

wie insbesondere die Abhandlung über den Grund zum Empedokles zeigt; Hegel äußert sich selbständig und von Hölderlin unabhängig erst im Naturrechts-Aufsatz von 1802 grundlegend zum Problem des Tragischen und legt, soweit wir dies aus der Überlie-

ferungslage entnehmen können, erst in der Phänomenologie von 1807 eine eigene Theorie des Tragischen und der Tragödie dar. Hölderlin entwickelt in anderer Weise nach seiner Empedo-

kles-Dichtung und dem Grund zum Empedokles seine Auffassung 275

weiter und gelangt schließlich zu seiner grandios hermetischen Darstellung in den Sophokles-Anmerkungen. So sprachgewaltig und herb-verschlossen der Tiefsinn dieser Anmerkungen auch ist, den

Hölderlin sich in dieser schon von Krankheit gezeichneten Zeit noch abringen konnte, dem mitdenkenden Verstehen eröffnen sich doch Sinnmöglichkeiten einer Gedankenwelt, die m.E. ihre

Kontinuität zu der früheren Theorie des Tragischen und der Tra-

gödie im Umkreis der Empedokles-Dichtung nicht verleugnet. Die Auffassung, das Denken des späten Hölderlin seı nicht mehr metaphysisch-idealistisch, wird somit zumindest fraglich. Infolgedessen können sich auch einige wesentliche Gemeinsamkeiten beı bleibenden grundlegenden Unterschieden — zwischen der

Konzeption des späten Hölderlin und der ausgebildeten Theorie Hegels zeigen. Dabei sollen zugleich die spekulativen Grundlagen

beider Ansätze sichtbar werden. In der folgenden Untersuchung werden Unterscheidungshinsichten verwendet, die auch Hölderlin und Hegel beachten, die sie jedoch nicht eigens theoretisch herausheben. So ist insbeson-

dere das Tragische als Phänomen der sittlichen und geschichtlichen Welt, das individuelle Schicksale bestimmt, von der Tragödie als der dramatischen Kunst über das Tragische zu unterscheiden. Solche Kunst kann es geben, auch wenn das Tragische geschicht-

lich bereits vergangen ist. Ebenso muß die antike Tragödie in ihrem Inhalt und ihrer Kunstform von der modernen Tragödie unterschieden werden; auch wenn die griechische Tragödie als klassisch und vorbildhaft gilt, können ihre Charakteristika nicht ohne weiteres auf die moderne Tragödie übertragen werden. Unter Wahrung dieser Hinsichten sei nun in einem ersten Teil gezeigt, welche Grundlagen und welche Grundzüge einer Theorie des Tragischen und der Tragödie Hölderlins späte Sophokles-Anmerkungen bergen und wie darin die frühere Theorie aus dem Umkreis der Empedokles-Dichtung fortgeführt, aber auch umgewandelt ist. In einem zweiten Teil sei nach einer Skizze der

Entwicklung Hegels in dieser Frage die reife Theorie des Tragischen und der Tragödie erörtert, die weitgehend schon in der 276

Phänomenologie ausgebildet ist und in den Ästhetik-Vorlesungen dann noch differenziertere Konturen gewinnt.

I. Hölderlin

nimmt

seine Sophokles-Anmerkungen'

zum

Anlaß,

sich im Ausgang von der Deutung zentraler Stellen des Ödipus und der Antigone prinzipiell zum Tragischen und zur Tragödie zu äußern.? Tragisch ist für ihn, „wie der Gott und Mensch sich

1

2

Hölderlin schreibt an Wilmans am 8.12.1803, daß diese Anmerkungen seine „Überzeugung von griechischer Kunst, auch den Sinn der Stücke nicht hinlänglich“ ausdrücken, und kündigt deshalb noch eine besondere „Einleitung“ an (vgl. auch Hölderlin an Wilmans 28.9.1803), die aber nicht mehr zustande kommt. Vgl. F. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von F. Beißner. Stuttgart 1943ff., Bd. VI, S. 435 (Orthographie und Interpunktion sind hier und ım Folgenden gemäß der kleinen Stuttgarter Ausgabe modernisiert). Band und Seitenzahl der Großen Stuttgarter Ausgabe werden im Folgenden im Text in Klammern angegeben. Vgl. hierzu die Darstellung von M. Corssen: Die Tragödie als Begegnung zwischen Gott und Mensch: Hölderlins Sophokles-Deutung. In: Hölderlin-Jahrbuch 3 (1948/49), S. 139-187, ferner den das Aorgische und Revolutio-

näre hervorhebenden Aufsatz von K. Reinhardt: Hölderlin und Sophokles (zuerst 1951). In: Hölderlin. Beiträge zu seinem Verständnis in unserem Jahrhundert. Hrsg. von A. Kelletat. Tübingen 1961, S. 287-303, den Hölderlin und Sophokles vergleichenden Beitrag von W. Schadewaldt: Hölderlins Übersetzung des Sophokles. In: Ders.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften. Bd. II (1960). 2. Aufl. Zürich und Stuttgart 1970, bes. S. 287-314, den sorgfältig abwägenden und klar interpretierenden Aufsatz von W. Binder: Hölderlin und Sophokles (in: Hölderlin-Jahrbuch 17 (1969/70), S. 19-37), der zum Verhältnis

Griechenland-Hesperien über die früheren, z.T. entgegengesetzten Positionen von B. Allemann (Mölderlin und Heidegger. Zürich und Freiburg ı. Br. 1954, vgl. bes. S. 27-50) und F. Beißner (Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (1933). 2. Aufl. Stuttgart 1961, bes. S. 147-184) hinausgeht, sowie die

textgetreue, teilweise kommentierende Darlegung von R.B. Harrison: Hölderlin and Greek Literature. Oxford 1975, bes. $. 160-219, 226ff. - ©. Pöggeler stellte mir freundlicherweise das Manuskript seines Beitrags zur Verfügung: Hölderlins Antigone-Übertragung im Spiegel von Hegels und Heideggers 277

paart, und grenzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird“, wie aber zugleich „das grenzenlose Ei-

neswerden durch grenzenloses Scheiden sich reiniget“ (V, 5. 201). Der Gott und der Mensch werden danach unmittelbar und vollständig, nämlich unbegrenzt Eines. Der Gott, im Ödipus der Gott des Orakels, nämlich Apoll, wird auch als „Naturmacht“ bezeich-

net. Dies ist zwar eine pantheistische Reminiszenz, jedoch mit grundlegend neuer Beurteilung und Wertung. Die Natur ın ihrer

Macht gilt nicht mehr als das einfache, ursprüngliche göttliche Leben im Zustand des Friedens, sondern als die unheimliche göttliche Macht, die den Menschen in seinem Innersten ergreift und „in die exzentrische Sphäre der Toten reißt“ (V, S. 197). Diese vollständige Einheit prinzipiell Unterschiedener kann für Hölderlin keinen Bestand haben; sie löst sich auf, geht in uneingeschränktes, beständiges Unterscheiden über. Darin sieht Hölderlin eine Reınigung; die Arıstotelische Katharsis der Gefühle des Zuschauers

beim Betrachten und Miterleben einer Tragödie wird für ıhn zu einem zutiefst religiösen, aber von ıhm zugleich metaphysisch gedeuteten Prozeß der Wiederherstellung des wahren, Bestand habenden, wesensmäßigen Unterschiedsverhältnisses zwischen Gott und Mensch. Deshalb ist die Identifikation des Menschen mit dem Gott eigentlich ein „Nefas“, ein Frevel, der freilich, wie sich

zeigen wird, notwendig ist. Ödipus versteht nach Hölderlin den allgemeinen Orakelspruch, staatsbürgerliche Ordnung einzuhalten, „zu unendlich“ (V, S. 197); er gibt ıhm eine zu große Sinnfülle für einen Einzelnen, sich selbst. Darin ahnt Ödipus schon sein Schicksal, ja ist eigentlich schon „alles wissend“; sein Nefas be-

steht also für Hölderlin nicht in den unwissentlich begangenen Untaten, sondern in dieser Beanspruchung göttlichen Wissens. Aber im Folgenden verbirgt sich zunächst die Wahrheit vor ıhm. Im Zwiespalt zwischen göttlichem Wissen, das eigentlich schon über ihn gekommen ist, und dem Sich-Verbergen der Wahrheit Sophokles-Deutung (1984), in dem in mehrfacher perspektivischer Brechung Hölderlins Sophokles-Auffassung interpretiert wird. 278

vor ihm unternimmt er die verzweifelte Anstrengung eines „närrischwilden Nachsuchens“, ja eines „geisteskranken Fragens nach einem Bewußtsein“ (V, S. 199, 200), um schließlich dem vernich-

tenden Schlage des Gottes zu erliegen. Auch wenn Hölderlin da-

mit persönliche Probleme auf Ödipus überträgt’, allgemein theoretisch bleibt doch der Gedanke, daß der Mensch die Identität seines Bewußstseins verliert, wenn ein Gott als Naturmacht ıhn er-

greift. Solche Entpersönlichung in der Einswerdung mit dem Gott wird nicht neuplatonisch-mystisch als Glück erlebt; Ödipus sieht

sie vielmehr in Hölderlins Deutung als zerstörerische Bedrohung auf sich zukommen und erleidet sie. Das Schicksal der Antigone deutet Hölderlin in ähnlicher Wei-

se; er versteht es ebenso wie das Schicksal des Ödipus in paradigmatischer Weise als tragisch. Denn als tragisch gilt ihm, „daß der

unmittelbare Gott, ganz Eines mit dem Menschen“ wird, „daß die unendliche Begeisterung unendlich, das heißt in Gegensätzen, im Bewußtsein, welches das Bewußtsein aufhebt, heilig sich scheidend, sich faßt, und der Gott, in der Gestalt des Todes, gegenwär-

tig ist“ (V, S. 269). Auch hier wird das Einswerden des unmittelbar in seiner Gewalt anwesenden Gottes und des Menschen sowie das Einswerden des Menschen mit diesem Gott ın „unendlicher Begeisterung“, im Enthoustasmos, nicht neuplatonisch als vollen-

dende und beglückende Schau verstanden, sondern als Identitätsverlust, ja als Tod des Menschen. Dies ist die „heilige Scheidung“,

bei der sich im Bewußtsein das Bewußtsein aufhebt, wenn der Gott

es ergreift. Wegen der Gefahr der Zerstörung ihrer selbst weicht daher Antigone nach Hölderlin „auf dem höchsten Bewußtsein“

dem Bewußtsein aus (V, S. 267); sie wehrt sich gegen den nahenden Gott, weicht dem, was sie werden soll und was ihr gewiß ist,

aus, bevor die Einswerdung geschieht. Auch bei Antigone aber hat die Einswerdung keinen Bestand.

3

Vgl. auch Hölderlins bekannte Aussage (im Brief an Böhlendorff vom November 1802), ihn habe „Apollo geschlagen“. VI, S. 432. 279

Begrifflich bedeutsam ist hier Hölderlins in der Kürze schwer verständliche Erläuterung, daß sich die Einswerdung, speziell die Begeisterung „unendlich, d.h. in Gegensätzen“ vollziehe (V, S. 269). Die unmittelbare Gegenwart des Gottes im Bewußtsein löscht das

Bewußtsein und das Leben des Menschen aus, ist also paradox. Vom endlichen Bewußtsein des Menschen aus gesehen, bedeutet Unendlichkeit dann ein solches punktuelles Dasein im Gegensatze. Das endliche Bewußtsein existiert und wird aufgehoben ange-

sichts der Gegenwart des Unendlichen ın ihm. — Dies erinnert an den Gedanken des jungen Hegel in Frankfurt, daß das Göttliche „den Verstand, der es aufnimmt, und dem es Widerspruch ist“,

zerrütte*; solche Zerrüttung gilt vom endlichen Bewußtsein überhaupt, das das Göttliche zu erfassen sucht. Es gerät notwendig in Widersprüche. In der Jenaer Zeit (von 1801 an) ist es für Hegel dann dialektisch, ohne daß er zunächst eine methodische Rückkehr aus den Widersprüchen zur Einheit auf dieser Ebene der Dialektik konzipiert. Er glaubt freilich anders als der späte Hölderlin, dies Göttliche sei an sich selbst intellektuell anschaubar und dar-

aufhin unter Verwendung der endlichen Formen des Bewußtseins sogar im Bewußtsein konstruierbar.” Wegen der partiellen Ver-

gleichbarkeit mit der Dialektik-Auffassung Hegels in der ersten Jenaer Zeit, wonach Dialektik die Aufstellung von Gegensätzen als der Präsenz des Unendlichen im Endlichen noch ohne positive höhere Einheit bedeutet, läßt sich jener zentrale Gedanke Hölderlins von der Gegenwart des Gottes als einem unendlichen Ereignis, das sich in Gegensätzen vollzieht, als dialektisch ansehen. 4 5

Vgl. Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. von H. Nohl. Tübingen 1907, S. 306. Eine Beeinflussung Hölderlins durch Hegel in dieser Frage soll hiermit nicht behauptet werden. Zur Erläuterung dieser Thesen und insbesondere zu einer frühen Bedeutung der Hegelschen Dialektik, die negativ bleibt, sei der Hinweis erlaubt auf die

Darlegung des Verfassers: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des

Idealismus und zur Dialektik. Hegel-Studien Beiheft 15. 3. erw. Aufl. Bonn

1995, S. 55£., 79ff., 93-108.

280

Darin liegt, daß die Einswerdung von Mensch und Gott in sich selbst unendlich ist und die Scheidung in jene Gegensätze notwendig impliziert. Eine Rückkehr zur Einheit auf höherer Stufe wie in der Dialektik des späteren Hegel ist in dieser Konzeption nicht möglich. Freilich ist dieser grundlegende Hölderlinsche Gedanke, der in seiner inneren Struktur als negativ-dialektisch angesehen werden kann, kein logisch-methodisches Prinzip; er bedeutet vielmehr das innere Gesetz des Tragischen im Verhältnis von Gott und Mensch.

In diesem Tragischen, daß ein Gott und ein Mensch unmittelbar eins werden, der Mensch aber die unendliche Gegenwart des

Gottes nicht aushält, so daß die Scheidung notwendig eintritt, liegt nach Hölderlin ein Sich-Begreifen und Sich-Fassen des „Un-

geheuren“, das die Vereinigung von Gott und Mensch ausmacht (V, S. 201, vgl. 269). Hierbei kann kaum die unmittelbare Einswerdung als solche gemeint sein; Hölderlin dürfte vielmehr, wie sich später noch deutlicher zeigt, an das wechselseitige, im Unterschiedsverhältnis bleibende Bewußtsein der Götter, „der Himmli-

schen“, und der Menschen voneinander denken. In deren unterscheidender Beziehung zueinander liegt jeweils ein wechselseitiges, durch die andere Seite vermitteltes Sich-selbst-Erfassen. Diese Grundbestimmung des Tragischen in den Sophokles-

Anmerkungen ist im Tod des Empedokles, in besonderer Weise ın der dritten Fassung, sowie im Grund zum Empedokles bereits we-

sentlich vorgeprägt. Die Empedokles-Dichtung gibt Hölderlin dann zwar auf, nicht aber die darin enthaltene Konzeption des Tragischen; sie wird vielmehr weiterentwickelt. Nach dem Grund zum

6

Auch K. Reinhardt (Hölderlin und Sophokles, S. 187ff.) und W. Binder (Hölderlin und Sophokles, S. 30f.) heben diese Zusammenhänge hervor; vgl. ebenso G. Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975, bes. $. 200ff. Für J. Söring (Die Dialektik der Rechtfertigung. Überlegungen zu Hölderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 211f., 213ff., 242f.) scheitert Hölderlin trotz

281

Empedokles scheint durch den Austausch der Extreme des Aorgischen und des Organischen, der Natur und der Kunst eine Einheit allgemeiner Gegensätze in einem Individuum verwirklicht zu sein; „in dieser Geburt der höchsten Feindseligkeit“ scheint „die

höchste Versöhnung wirklich zu sein“ (IV, S. 153f.). In den ersten beiden Fassungen ist dies der Augenblick, da Empedokles seine Einheit mit dem Gott ausspricht, in der dritten Fassung ist er zurückhaltender; er sieht sich nur als einen von den Göttern beson-

ders Auserwählten und Gezeichneten an. In ıhr ist dann auch nicht mehr von Selbstüberhebung und Hybris als einer persönlichen Schuld die Rede. — Aber dieser Augenblick unmittelbarer Einheit der Gegensätze in einem Individuum hat keinen Bestand;

erneute Trennung tritt ein und fordert den Tod dieses Individuums, wodurch die unterschiedenen Mächte des Aorgischen und

des Organischen in eine höhere und reinere Allgemeinheit der Beziehung, als sie zuvor bestand, gelangen. Die Struktur des Tragi-

schen, wie sie in den Sophokles-Anmerkungen herber und tiefsinniger ausgeführt wird, ist damit vorgebildet. Allerdings gilt die Natur noch als ursprüngliche, naive Einheit und Einigkeit in sich;

die Nähe zum Göttlichen und die Vereinigung mit ihm wird mystisch-pantheistisch als beglückend, noch nicht als identitätsbedrohend und zerstörerisch aufgefaßt. Im Grund zum Empedokles und in der dritten Fassung des Empedokles-Dramas tritt ein neuer Gedanke klar hervor, der zuvor im Hintergrund blieb: Empedokles ist ein Zeichen des Göttlichen in der Geschichte, nämlich in einer Zeit des Niedergangs der allgemeinen Sitten und sich verschärfender Polarisierung der Gegensätze, also in der Zeit eines grundlegenden Umbruchs ım Ganzen

weiterführender Reflexion mit seiner dichterischen Tragödienkonzeption, ähnlich K.-R. Wöhrmann: Hölderlins Wille zur Tragödie. München 1967, bes. S. 162ff. - Zusammenhänge von Hölderlins Theorie im Grund zum Empedokles mit Empedokles’ Philosophie hebt U. Hölscher hervor: Empedokles und Hölderlin. Frankfurt a. M. 1965. 282

seines Volkes. In solcher Zeit des Untergangs und Übergangs’ wählen die Götter einen großen genialen Menschen aus, in dem noch einmal für einen Augenblick aller Streit ausgesöhnt, ja alle Gegensätze „zu innig“ vereint sind. Für ihn ist diese zu innige Vereinigung damit eine tragische Notwendigkeit. Die Schicksalsfra-

gen seiner Zeit aber sind in diesem Einen nur scheinbar und nur momentan gelöst „wie [...] bei allen tragischen Personen“ (IV, S. 157); er muß als „Opfer“ des Schicksals seiner Zeit untergehen. So

wird das Drama Der Tod des Empedokles dem Ansatz nach in der dritten Fassung zu einer Tragödie der Zeitenwende. Dieser Gedanke liegt auch Hölderlins Sophokles-Anmerkungen zugrunde; er wird dort freilich entschieden weiterentwickelt. Für

Hölderlin sind der Ödipus und die Antigone ebenfalls Tragödien der Zeitenwende. Ödipus’ Tragik ereignet sich in einer Welt, „wo

unter Pest und

Sinnesverwirrung

und

allgemein

entzündetem

Wahrsagergeist, in müßiger Zeit, der Gott und der Mensch, damit

der Weltlauf keine Lücke hat und das Gedächtnis der Himmlıschen nicht ausgehet, in der allvergessenden Form der Untreue sich mitteilt, denn göttliche Untreue ist am besten zu behalten“ (V, S. 202). Hölderlin deutet also die Zustände in Theben als Charakteristika einer Periode des Untergangs, die in innerer Passivität - oder „müßig“ -— der Wende oder Umkehr der Zeit zutreibt und

in der die früheren religiösen Bindungen und Orientierungen obsolet werden und ihren Sinn verlieren. Dieser Sinnverlust und die Erfahrung der Vergeblichkeit ım Sich-Richten nach alten Werten dürften in dem Attribut „müßig“ mitgemeint sein. In dieser

Zeit nun wird Ödipus von den Göttern zu dem Nefas versucht, sich göttliches Wissen zuzuschreiben. Die darin liegende unmittelbare Einheit aber wird zur vollständigen Scheidung. In dieser Entwicklung folgt Ödipus nur der „kategorisch“, d.h. hier der un-

bedingt und vollständig sich wendenden Zeit als Geschichtszeit; sie reißt ihn mit sich. In dieser Umkehr 7

oder revolutio „vergißt

Vgl. hierzu Hölderlins Aufsatz: Das Werden ım Vergehen. In: StA IV, S. 282287.

283

der Mensch sich und den Gott“ (V, S. 202); er vollzieht im Momente der Umkehr den Bruch mit seinem früheren Leben und

seinem früheren Gottesverständnis.? - Welche spezifische Situation im Ödipus hiermit getroffen sein soll, dürfte nicht leicht zu zeigen sein. Zwar wird, worauf Hölderlin hinweist, der eigentlich

schon alles wissende Ödipus in der Mitte des Stücks zu einem Unwissenden; ob er damit freilich schon der kategorischen Umkehr folgt, wie Hölderlin sie bestimmt, bleibt unklar. Eine Um-

kehr und das dazu gehörige Leiden enthält auch und gerade der Schluß: Ödipus wird in erschreckender Weise von Apoll getroffen; durch sein Wissen, das er nunmehr ertragen muß, wird sein

ganzes bisheriges Leben vernichtet. - In jenem Bruch nun, wie Hölderlin ihn allgemein beschreibt, besteht die menschliche „Un-

treue“ innerhalb der geschichtlichen Umkehr. Zuerst aber ist der Gott „untreu“; er zeigt sich vor der Epochenwende anders als in und nach ihr, ıst insofern ebendieser Wandel der Geschichtszeit,

der sich in der Umkehr ereignet; der Gott läßt den Menschen, der sich vorher auf ihn verließ, im Stich, „vergißt“ ihn und seine eigene frühere Weise der Gegenwärtigkeit. Diese Untreue ist „allver-

gessend“; aber gerade sie bleibt, weil sie tief beeindruckend und

verletzend ist, am nachhaltigsten ın der Erinnerung der Menschen. So wird durch göttliche Untreue „das Gedächtnis der Himmlischen“ ohne „Lücke“, d.h. auch in grundlegender „Umkehr“ der

Zeit kontinuierlich aufrechterhalten. Die Tragik des Ödipus ist

also für Hölderlin zuletzt in dieser notwendigen Untreue des

8

Vgl. hierzu und zum Folgenden W. Binder: Hölderlin und Sophokles (s. Anm. 2), S. 31ff., vgl. auch die Bemerkungen von P. Szondi: Versuch über das Tragische. In: Ders.: Schriften I. Redaktion W. Fietkau. Frankfurt a. M. o.]., S. 163ff. - Angemerkt sei, daß Hölderlin, wie der Vergleich des Ödipus-Dramas mit einem „Ketzergericht“ zeigt, z.T. wohl ganz andere geschichtliche Begebenheiten vor Augen hat; an einem spätmittelalterlichen Ketzerprozeß ließe sich die menschliche religiöse Untreue eines Ketzers und die „Untreue“ Gottes in der Zeitenwende leichter darstellen; dergleichen deutet Hölderlin in die „ÖOdi-

pus“-Tragödie hinein. 284

Gottes in der Zeitenumkehr fundiert, wodurch ein bewußtes Ver-

hältnis der Menschen zu den Göttern gewahrt bleibt. Betrifft die Zeitenumkehr im Ödipas vornehmlich das Verhältnis der Menschen und Götter zueinander und damit nach Höl-

derlin Idee und Wahrheit, so ist die geschichtliche Wende in der Antigone die „vaterländische Umkehr“ (V, S. 271); in dieser kehren sich in ihrem Volk alle politischen, moralischen und auch religiösen Grundsätze und Sitten um. Die dem Untergang geweihten Zustände nennt Hölderlin in ähnlichem Sinne wie in den Ödipus-Anmerkungen das „tragisch-müßige Zeitmatte“ (V, S. 266)”; es ist die Periode, in der aus innerer Passivität politische, ethische und politisch-religiöse Maßstäbe verfallen. Diese Zustände folgen am heftigsten dem „reißenden Zeitgeist“ (V, S. 266), der sie und alle Menschen, die ihnen verhaftet bleiben, dahinrafft. Der Konflikt liegt nach Hölderlin in dieser Situation für Antigone damit nicht in dem schicksalhaften Gegensatz von Wissen und Nichtwissen der Wahrheit wie für Ödipus, sondern in dem politischen Antagonismus von Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit. Diese Art

des Konflikts und des tragischen Untergangs ist bei Antigone wesentlich durch die „vaterländische Umkehr“ bestimmt. Die vater-

ländische Umkehr ist in Theben ein Aufruhr; Hölderlin deutet an, daß er auch andere Weisen von vaterländischer Umkehr für

möglich hält. Dieses geschichtliche Ereignis führt dann zur Tragik Einzelner, wenn es sich in der Konfrontation von Aktion und

Reaktion Einzelner realisiert. So geschieht es in der Antigone; das „Unförmliche entzündet sich an Allzuförmlichem“ (V, S. 271), vertreten durch Antigone und Kreon. Die „vaterländische Umkehr“, mit der Hölderlin Gedanken des Aufsatzes Das Werden im

Vergehen fortführt, bedeutet also allgemein eine politisch-ethischreligiöse Zeitenwende in einem Volk oder einer Polis. Sie bedeutet 9

Bei der Lesung: „tragisch-mäßige“ geht die Parallelität zu der Formulierung: „furchtbare Muße einer tragischen Zeit“ in den Antigone-Anmerkungen (V, $. 270) und der sachlich bedeutsame Anklang an jene erwähnte Stelle in den Ödipus- Anmerkungen verloren. 285

nicht schon eine spezifische Wendung oder Rückkehr ins Eigene, Vaterländische. Die Zeitenwende ın einem Volk stellt den Grund

für die tragische Konfrontation und den tragischen Untergang Einzelner dar. Sie darf allerdings keine „gänzliche Umkehr“ sein;

diese ist „dem Menschen als erkennendem Wesen unerlaubt“ (V, S. 271). Der Mensch bewahrte nichts identisch Bleibendes mehr darin, weder ein Bewußtsein von sich noch von den Göttern und

damit auch keine Unterscheidung beider.'° Der theologische Hintergrund, der mit dem „Unerlaubtsein“ wohl angedeutet ist, erinnert an die Gedanken zur „kategorischen Umkehr“ der geschichtlichen Zeit überhaupt in den Ödipus-Anmerkungen. Die vaterländische ist eine solche kategorische Umkehr, in der die Götter auf

tragische Weise die Kontinuität der unterscheidenden Wechselbeziehung zwischen ihnen und den Menschen aufrechterhalten. Dies Tragische und seine Gründe und Hintergründe werden im tragisch-dramatischen Gedicht, in der Tragödie gestaltet. Im

Grund zum Empedokles hatte Hölderlin erklärt, gerade weil der Dichter das Göttliche vor Augen hat, auf innige Einheit mit ıhm tendiert und sich so dem „Nefas“ nähert (IV, S. 150), muß er sein

Gefühl und seine Anschauung von sich ablösen, begrenzen und ın fremden redenden und handelnden Personen darstellen. Diese er-

halten dadurch gleichnishaften, symbolischen Charakter. Die äu-

ßere Darstellung in Konflikten herausragender Individuen ist daher nach dem Unterschied der Dichtarten „heroisch“; ıhr liegt aber eine intellektuelle Intuition des Dichters und dessen Erleben des Göttlichen zugrunde, so daß der „Grundton“ eines solchen Dramas „ıdealisch“ ist (vgl. IV, S. 267f.). Diese Bestimmungen behält Hölderlin in den Sophokles- Anmerkungen zwar nicht bei. Doch auch in diesen Anmerkungen hebt er hervor, daß die unmittelbare 10 In Hölderlins Erläuterung zum Pindar-Fragment: Das Höchste wird nur die Unterscheidung und Entgegensetzung als für die menschliche Erkenntnis wesentlich hervorgehoben; dies gilt in Abhebung von seiner früheren Auffassung von der Einheit und Einigkeit der intellektuellen Anschauung; aber Unterscheiden und Entgegensetzen ist ohne ein Identisches, nämlich ohne Identität des Bewußtseins, nicht möglich.

286

Vereinigung von Gott und Mensch sowie deren notwendige und bleibende Unterscheidung und das tragische Schicksal von Einzelnen innerhalb dieses Prozesses nicht in unmittelbarer eigener Aussage des Dichters, sondern in Tragödien, in fremden heilig leidenden Personen und ihrer Welt, in ihren Streitdialogen und in den deutenden, im Streit Richtung weisenden und Halt gewäh-

renden Liedern des ehrwürdigen Chores darzustellen ist. Dies Ungeheure und Tragische, das den Dichter innerlich am tiefsten

bewegt, bedarf daher der am meisten von ihm absehenden, klar unterscheidenden Gestaltung. Deshalb betont Hölderlin auch das „Handwerksmäßige“ und den gesetzmäßigen Bau von Tragödien als Regelung des Vorstellungsflusses in ihnen; er beschreibt dies wie einen Vers, in dem das Versmaß den lebendigen Rhythmus regelt und eine Zäsur das Gleichgewicht der Teile wahrt. Diese Zäsur stellen für Hölderlin ın beiden Sophokles-Dramen die Reden, nämlich die göttlichen Worte des Sehers Teiresias dar, die

jeweils zwei sehr ungleiche, aber nach Hölderlin gleichgewichtige Teile voneinander trennen und gegeneinander abwägen. Die Darstellungsart einer Tragödie ist nun wesentlich grie-

chisch oder wesentlich hesperisch, Hölderlin nimmt hierbei die vielerörterte Querelle auf und deutet sie spekulativ vollständig um. Die neue Grundthese

dieses Dichters, der sich zuvor wohl am

reinsten von allen seinen Zeitgenossen durch den Vorbildcharakter der griechischen Kunst und Religion in seinem Dichten be-

stimmen ließ, lautet nun: Die griechische Kunst und Religion kann für die Hesperier nicht kanonisches Paradigma sein, das es nach-

zubilden gilt. Außer dem inhaltlich nicht näher bestimmten „lebendigen Verhältnis und Geschick“ (VI, S. 426), wohl dem Wechselverhältnis der Götter bzw. des Gottes und der Menschen sowie dem darin fundierten menschlichen, aber zugleich gottgewirkten Schicksal, gibt es nichts „Gleiches“ zwischen Griechen und Hesperiern. Die griechische Kunstform muß der „vaterländischen“, hesperisch-christlichen sogar „subordiniert“ werden (V, S. 270;

vgl. 272). Daher will Hölderlin selbst in der Sophokles-Übersetzung in hesperischem Geist den „Kunstfehler“ der Griechen, „wo 287

er vorkommt“, verbessern (VI, S. 434). Aus dieser ‚abendländischen Wendung’ Hölderlins, wie man sie nennt'!, und seiner Cha-

rakterisierung des Griechischen und des Hesperischen seien nun die Grundzüge hervorgehoben, die für seine Tragödientheorie von Bedeutung sind. Die zentralen Bestimmungen des Griechischen und des Hesperischen werden in den Antigone- Anmerkungen festgemacht an der Untersuchung der Wirkung des Wortes innerhalb des Dramas

sowie an der Untersuchung der Wirksamkeit des höchsten Göttlichen. Das „griechischtragische Wort ist tödlichfaktisch“, wie Hölderlin sich ausdrückt, „weil der Leib, den es ergreift, wirklich tötet“ (V, S. 269). Es ergreift einen „sinnlicheren Körper“ und wirkt „mittelbar“ durch diesen tödlich. Innerhalb der Antigone

möchte Kreons Edikt gemeint sein, das Antigone und Haimon als sinnlich gegenwärtige und handelnde Personen ergreift, so daß sie Selbstmord begehen; Kreon aber begeht dadurch „wirklichen Mord

aus Worten“ (V, S. 270). Das „vaterländische“, nämlich hesperische Wort dagegen ist „mehr tötendfaktisches“ und endigt „nicht eigentlich mit Mord oder Tod“. Zwar ist es „aus begeistertem

Munde schrecklich [...] und tötet“ (ebd.), wie Hölderlin sagt; aber es verursacht nicht wirklichen Tod einer sinnlich gegenwärtigen Person, sondern wirkt innerlicher und geistig bedeutsamer. Hölderlin denkt hierbei an Ödipus auf Kolonos, der zum gotterfüllten Seher wird und dessen Prophezeiung als reines göttliches Wort zwar schrecklich, für Menschen nicht erträglich ist, der aber

doch nicht wirklichen, physischen Tod erleidet, sondern von den Göttern entrückt wird. So gilt Hölderlin diese Sophokleische Tragödie hinsichtlich der Wirkung des Wortes im Drama schon als eindeutiger Vorklang des Hesperischen; Hegel vertritt später eine ähnliche Auffassung. Diese Beschreibung des griechischen und des hesperischen

dramatischen Wortes wird von Hölderlin begründet in der Darlegung der unterschiedlichen Wirksamkeit des höchsten Göttlichen. 11 Vgl. W. Michel: Hölderlins abendländische Wendung. Weimar 1922, S. 5-53. 288

Zeus wird in Hölderlins Deutung der Götternamen, die sie den Hesperiern nahebringt, zum „Vater der Zeit“ oder „Vater der Erde“!?. Er kehrt nach Hölderlin „das Streben ans dieser Welt in die andre“, die Totenwelt, um „zu einem Streben aus einer andern Welt in diese“ (V, S. 268). Er wehrt dem „Ungebundenen“ und der

„Todeslust“ der Völker (II, S. 51), bezwingt sie und ermöglicht, in klaren Gesetzen ein endliches, zeitliches, irdisches Leben zu führen. Diese allgemeine Bestimmung des Gottes des endlichen Lebens wird nun hinsichtlich der Griechen und der Hesperier spezifiziert. Das Streben der Griechen, denen nach dem Brief an

Böhlendorff (vom 4.12.1801) das „Feuer vom Himmel“ (VI, S. 426),

das Aorgische und ordnungslos Unendliche ursprünglich und natürlich ist und die daher „abendländische Junonische Nüchtern-

heit“, klare, abgegrenzte Darstellung und Plastizität in der Kunst suchen und erwerben, hält Zeus, der Vater der Erde, „zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Toten inne“ (V, S. 269)"; er

ermöglicht ihnen endliches Leben in Bändigung, Gestaltung und

Selbstbegrenzung, ohne daß sie ihr Ursprüngliches, das Aorgische, Feurige und Wilde jener anderen Welt dabei verlieren; er hält ihr Leben innerhalb dieser Pole. Gehen sie aber ins Extrem

des Organischen, der Verfestigung, über und verlieren sie dabei ihre Natur, so sind sie keine Griechen mehr. Bei den Hesperiern,

denen nach jenem Böhlendorff-Brief das Organische, die klare

Abgegrenztheit, aber auch Erstarrtheit ursprünglich ist, die daher nach dem Aorgischen und chaotisch Unendlichen, dem Feuer der Leidenschaft streben, „zwinget“

der Vater der Erde

„den ewig

menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andre Welt, entschiedener zur Erde“ (V, 5. 269). Der „Naturgang“ gilt 12 Vgl. hierzu und zum Folgenden W. Binder: Hölderlin und Sophokles (s. Anm. 2), S. 25f., 29f., auch ders.: Hölderlins Namensymbolik.

In: Ders.: Hölder-

lin-Aufsätze. Frankfurt a, M. 1970, bes. S. 166f. 13 Die „Wildnis“ der Totenwelt weist hin auf die Ordnungslosigkeit. In der Übersetzung spricht Hölderlin einmal von der „Wildnis“ der Gestorbenen,

wo wörtlich deren Gräber (kataskaphai) gemeint sind (V, S. 243, Vers 920 ım griechischen Text). 289

hier - anders als Hölderlin es früher sah - als menschenfeindlich; denn er strebt ins Aorgische, ungebunden Unendliche, in die To-

tenwelt, und macht menschlich-endliches Leben unmöglich. Da die Hesperier gerade in Richtung auf dies Aorgische und Feurige aufbrechen aus ihrer Erstarrung und Verfestigung, um durch das ihnen Fremde den „freien Gebrauch des Eigenen“ zu lernen, hält

der Vater der Erde sie, Leben ermöglichend und bewahrend, auf und zwingt sie - „entschiedener“ als die Griechen, die bereits aus

eigenem Streben irdisch sind — zur Erde. Da Zeus, der Vater der Erde, seiner allgemeinen Bestimmung nach das Streben ins Aorgische und Wilde, in die Totenwelt, umkehrt zu einem Streben in

die Welt endlichen, zeitlichen Lebens und da er diese Aufgabe bei den Hesperiern eindeutiger erfüllt, ist er für diese der „eigentlichere Zeus“.

Zeus ermöglicht den aorgischen Griechen also das endliche Leben im Anderen, im Begrenzten und Endlichen; er bewirkt für sie keine Rückkehr ins Eigene. Aber auch der „eigentlichere Zeus“,

der Vater der Erde der Hesperier, bewirkt, streng genommen, für

diese keine Rückkehr ins Eigene. Deren Eigenes, Ursprüngliches ist erstarrte Begrenztheit ohne wirkliches Leben. Der Vater der

Erde aber kehrt das Streben ins gesetzlose Unendliche um zum Streben in die Welt endlichen Lebens, nicht zurück ın die Erstarrung. Die Welt endlichen Lebens ist die Erde; den energischen

Aufbruch aus der unlebendigen Begrenztheit als dem Ursprünglichen der Hesperier in die aorgische Unendlichkeit und Wildheit der Totenwelt zwingt er in endliche Bahnen, in die Welt endli-

chen, umgrenzten Lebens als dem Zwischenreich zwischen Erstarrtheit in der Begrenzung und aorgischer Unendlichkeit. - Auf

diese Weise wird endliches, dem Wesen des Menschen angemessenes Leben, das seine Unterschiedenheit zu dem Gott wahrt, für

die Griechen wie für die Hesperier möglich. In diesem Rahmen steht Hölderlins knappe Charakterisierung, daß die „Haupttendenz“ der Griechen sei, „sich fassen zu können“, während die „Haupttendenz“ der Hesperier darin liege, „etwas treffen zu können, Geschick zu haben, da das Schicksallose, 290

das dysmoron, unsere Schwäche ist“ (V, S. 269f.). Die Griechen gehen aus von aorgischer, ungebundener Unendlichkeit, die ihnen

natürlich ıst, und schaffen in der Kunst Selbstgestaltung und Selbstbegrenzung, so daß sie sich darin als etwas Bestimmtes er-

fassen können.!* Die Hesperier, so wird man Hölderlins schwierige Hinweise wohl ausdeuten müssen, gehen aus von künstlich gewordener, unlebendiger Begrenztheit und verfestigter Gesetzlichkeit als ihrem Ursprünglichen; sie streben im Vertrauen auf die Natur oder den „Naturgang“ aus der erstarrten Begrenztheit

heraus ins aorgische Unendliche; aber es gelingt ihnen nur durch das Wirken des „eigentlicheren Zeus“, ein zeitliches, gottgewolltes Dasein, ein lebendiges Schicksal zu erhalten, im begeisterten Aufschwung

etwas Bestimmtes,

einen schicksalhaften

„Augen-

blick“ in der „großen Zeit“ zu treffen.'? Das „Schicksallose“, das Hölderlin mit dem ‚dysmoron’, dem Unseligen, erläutert, kann

nicht den seligen Zustand der Götter bezeichnen, sondern bedeutet offenbar den Zustand des Unlebendigseins, der Erstarrung,

des Todes; Hölderlin sieht es als spezifische Tragık eines Hesperiers an, wenn er darin verbleibt und nicht zum eigentlichen Le-

bensvollzug gelangt.'* Diesen künstlich gewordenen Zustand als 14 W. Michel sieht hierin die Hervorhebung der griechischen Sophrosyne, was

nicht ohne Evidenz ist; die Sophrosyne muß dann freilich auch als „Athletentugend“ angesehen werden. Vgl. W. Michel: Hölderlins abendländische Wendung, S. 31. 15 Eine sprachliche, freilich selbst schwer verständliche Parallele zu den Formulierungen der Antigone-Anmerkungen findet sich in der zweiten Fassung von Der Einzige; dort hält nicht Zeus, sondern der „Evier“, Dionysos, „die Todeslust der Völker“ auf; die Menschen „hüten das Maß, daß einer / Etwas für sich ist, den Augenblick, / Das Geschick der großen Zeit auch, / Ihr Feuer fürch-

tend, treffen sie [...]* (I, S. 158). 16 So schreibt er an Böhlendorff (4.12.1801), tragisch sei bei uns, wenn einer „ganz stille in irgendeinem Behälter eingepackt“ hinweggeht (VI, S. 426). „Schicksallos“ (amoiron) nennt Hölderlin den toten Polyneikes (V, S. 250, Vers 1071 im griechischen Text). - Auf die sprachlichen Probleme macht - mit anderer Deutung - B. Allemann aufmerksam: Hölderlin und Heidegger, S. 35f. - Nach der von mir vorgeschlagenen Deutung ist die Schicksallosigkeit die Unlebendigkeit und Erstarrung als das Eigene der Hesperier. Dies ist ihre 291

seinen Ursprung, der zugleich als Mangel an Natur seine „Schwäche“ ist, muß er verlassen, um eigentlich und schicksalhaft in der Zeıt und auf der Erde leben zu können. Diese grundlegenden Bestimmungen des Griechischen und des

Hesperischen sind eingebettet in die Überlegungen zur Wirkung des Wortes im Drama. Die Griechen erstreben und erreichen, um „sich fassen“ zu können, klarere Plastizität; das Wort wırkt dadurch, daß es verstanden wird, auf die körperlich sichtbaren, zu-

gleich sinnlich handelnden Personen. Die Hesperier, die ein gottgewolltes Schicksal erstreben, verstehen das Wort im Drama innerlicher, geistiger. In diesen Bestimmungen schwingt noch ein Nachklang von Schillers Unterscheidung der griechischen naiven, sinnlicheren Poesie, die zwar Kunst ist, aber die ursprüngliche Natur ın sich bewahrt, von der modernen, sentimentalischen, reflektierteren Poesie, deren geschichtliche Grundlage der Naturverlust ist.

Griechisch-plastische Charaktere sind für Hölderlin die Hauptpersonen der beiden von ıhm übersetzten Tragödien des Sophokles. Ödipus ist für ihn eine „antike Originalnatur“, ein „Freigeist“, ver-

glichen mit der Einfalt der Landleute, aber nicht ırreligiös, son-

dern gerade von göttlichem Wissen, das ihn als ganze, auch sinnliche Person ergreift und vernichtet. Im Antigone-Drama sind für Hölderlin Antigone und Kreon die Hauptgegner; ihre gegensätzlichen „Schwäche“ als künstlich gewordener Zustand, wie für die Griechen das durch Kunst zu Erwerbende ihre „Schwäche“ war. - Die Schicksallosigkeit kann aber auch den Zustand der wilden Welt der Toten bezeichnen, in deren Richtung das hesperische Streben aufbricht. Dann ist die „Schwäche“ der

Hesperier - wie bei den Griechen - das Antinationelle. Sprachlich ist dies glatter; ferner entspricht es eher dem Gedanken des Aufsatzfragments: Die Bedeutung der Tragödien, daß die Erscheinung des Ursprünglichen in der Regel dessen „Schwäche“ ist. Allerdings heißt es dort auch, beim Tragischen sei das

Ursprüngliche „gerade heraus“ (IV, S. 274). Sachlich ist die zweite Deutung von Schicksallosigkeit und Schwäche weniger einleuchtend, da der Aufbruch der Hesperier aus der Erstarrung nach deren eigenem Verständnis kaum ın die Totenwelt und das dysmoron zielen kann, sondern vielmehr das ihnen fehlende Leben, ein „Geschick“ erstrebt.

292

religiösen Orientierungen bilden dort den eigentlichen Antagonismus. Antigone verhält sich „in Gottes Sinne wie gegen Gott“, erkennt den „Geist des Höchsten gesetzlos“; Kreon bewahrt da-

gegen „die fromme Furcht vor dem Schicksal“, ehrt „Gott als ei-

nen gesetzten“ (V, S. 268). Der Gegensatz des Empedokles gegen Hermokrates aus der zweiten Fassung des Empedokles-Dramas oder des Empedokles gegen den königlichen Gegner aus dem

Grund zum Empedokles und der dritten Fassung des Dramas wird in diesem Verständnis fortgeführt.” Nicht nur Antigone, die ein unmittelbares, gesetzloses Wissen um göttlich Norwendiges hat, ja die vom „gegenwärtigen Gott“ (V, S. 267) ergriffen wird, geht unter; auch Kreon, der im Aufruhr der Zeitenwende am gesetzten Recht als dem Gottgewollten festhält, wird am Ende nahezu

zerstört. Antigone und Kreon verhalten sich dabei, wie Hölderlin ausdrücklich hervorhebt, „nicht wıe Nationelles und Antinatio-

nelles“; Antigones aorgische Grundeinstellung ist weder griechischnationell noch auch eine griechische Rückkehr ins Eigene, Nationelle; Kreons

Festhalten am

Gesetzten bedeutet nicht nur den

Erwerb des Fremden. Beide sind für Hölderlin vielmehr, was er freilich nicht näher ausführt, griechische Charaktere, die „gleich gegeneinander abgewogen“ sind (V, S. 269), plastische Repräsentanten der vaterländischen Umkehr oder Zeitenwende in Theben. Kreon vertritt das alte förmliche Recht; gerade dagegen geht, dem Geist der Umkehr folgend, Antigone vor. Diese Auffassung von

der gleichgewichtigen Bedeutsamkeit der den politisch-religiösen Konflikt miteinander ausfechtenden tragischen Helden: Antigone und Kreon steht Hegels Deutung der Antigone nicht fern. Anders als für Hegel ıst für Hölderlin freilich der Grund des Antagonismus die Zeitenwende in einem Volk; ebenso deutet Hölderlin an-

ders als Hegel den Konflikt entschiedener religiös. Die Gegenwart Gottes im Menschen wird nach Hölderlin von den plastischen Griechen als unmittelbare Einigung verstanden, die keinen Bestand hat und die einzelne Person auch sinnlich 17 Vgl. K. Reinhardt: Hölderlin und Sophokles, S. 289f.

293

dahinrafft. Dies gilt für Ödipus ebenso wie für Antigone. Der

tragische Untergang, der sie in je verschiedener Weise trifft, ist bei beiden daher spezifisch griechisch. Für die Hesperier ist dagegen ein anderes Gottesverhältnis möglich; „der Gott eines Apostels ist

mittelbarer, ist höchster Verstand in höchstem Geiste“ (V, S. 269); er kann im Menschen, wenn dieser die klare Erkenntnis des Unterschieds bewahrt, rein geistig gegenwärtig sein, ohne daß der Mensch dadurch vernichtet wird. Hölderlin hält auch eine moderne Tragik und eine moderne Tragödie für möglich; beide setzen die hesperischen Grundbe-

stimmungen voraus. Sowohl das Gottesverständnis als auch die Tragödie müssen geistiger und innerlicher sein als bei den Griechen. Hölderlins verstreute Bestimmungen hierzu, die im vorher-

gehenden schon berücksichtigt wurden, lassen sich jedoch kaum zu einer klar konturierten Theorie darüber zusammenfügen. Hölderlins späte Theorie der Tragödie, insbesondere der griechischen Tragödie, setzt die Realität der Götter als wirkender Mächte, freilich mit einer Tendenz zum Monotheismus, voraus. Den klassischen Pantheismus hat er damit verlassen; die griechischen

Götter erscheinen z. T. als menschenfeindliche Naturmächte, denen gegenüber der christliche Gott geistig ist. Hölderlin geht hiermit von Grundzügen einer Metaphysik der Mythologie aus. Seine Bestimmungen des Tragischen und der Tragödie sind davon

abhängig und weder einfach aus Sophokles gewonnen noch in jedem Falle zwanglos auf dessen Tragödien applizierbar. Sie folgen der leitenden Frage, wie ein menschliches Bewußtsein von sich und vom Göttlichen möglich ist und Bestand haben kann angesichts der Gegenwart des Göttlichen ın ihm. Diese Frage

einer Metaphysik der Mythologie kann durchaus idealistisch'* begriffen werden; denn idealistisch ist das Grundproblem, in welchem Verhältnis das Selbstbewußtsein zum Absoluten oder Göttlichen steht, das dabei sehr wohl als geschichtlich und real in 18 Zur idealistischen Fragestellung im allgemeinen vgl. vom Verfasser: Das Problem der Subjektivität, S. 19#f. 294

Mythologien entfaltet verstanden werden kann. In dieser Weise

konzipiert der späte Schelling seine Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, die Hölderlins Vorhaben prinzipiell, wenn

auch nicht in der Durchführung nahesteht. — In Hölderlins später Bestimmung des griechischen Tragischen als einer unmittelbaren Einigung eines Menschen und eines Gottes, die notwendig zur

Trennung und zum Untergang jenes Menschen führt, hält sich im wesentlichen der frühere Gedanke des Tragischen aus dem Grund zum Empedokles und der dritten Fassung des Empedokles-Dramas durch. Vor allem wird die grundlegende Struktur der Trennung nicht nur beibehalten, sondern entschiedener akzentuiert, die aus

unmittelbarer Einigung hervorgeht und die allein ein klares, unterscheidendes Wechselverhältnis von Göttern und Menschen ermöglicht, das die Menschen in ihrem Leben bewahrt. Dies gilt auch für die Zeitenwende in einem Volk, die die Tragik Einzelner begründet und die von Hölderlin selbst mythologisch-religiös fundiert wird; gerade in solcher geschichtlichen Umkehr soll die

Kontinuität unterscheidender Wechselbeziehung zwischen Göttern und Menschen aufrechterhalten werden. Es gilt schließlich grundsätzlich, wenn auch auf je verschiedene Weise für die Grie-

chen und für die Hesperier und hat unterschiedliche Tragödiengestaltung zur Folge. Diese Einsicht Hölderlins, die sich seit der

Endphase der Empedokles-Dichtung und in unterschiedlichen Problemzusammenhängen durchhält und verstärkt, nämlich daß das

Göttliche und Unendliche in seiner unmittelbaren Gegenwart Gegensatz, Widerspruch und Zerstörung des Endlichen bedeutet und daß daraus negative, nämlich unterscheidende und zugleich bewahrende Wechselbeziehung beider aufeinander notwendig folgt, kann, wie gezeigt, als negativ-dialektisch angesehen werden. Damit ist nicht eine logische Methode gemeint, sondern der metaphysische Begriff einer religiösen Einsicht in die Struktur des

Verhältnisses von Gott und Mensch. Die unterscheidende Wechselbeziehung, die besagt, daß jedes Beziehungsglied, sowohl der Mensch als auch der Gott, erst mittelbar durch das jeweils andere sein Bewußtsein seiner selbst gewinnt und doch vom anderen 295

verschieden bleibt, ist eine Koordination von Beziehungen Unterschiedener, nicht aber wie bei Hegel eine höhere, die Unterschiedenen in sich aufhebende Einheit.

II. Hegels Anfänge einer eigenständigen Bemühung um das Problem des Tragischen liegen in der Zeit der Gemeinsamkeit mit Hölder-

lin in Frankfurt und Homburg. In einer wahren, griechischen Tragödie muß — nach Hegels Ausführungen in Der Geist des Christentums — im Unterschied.zu Shakespeares Macbeth ein schönes,

in sich einiges, göttliches Individuum aus notwendigen Gründen fehlgehen und das daraus erfolgende Schicksal und Leiden ertragen. Nur dies bewirke Furcht und Mitleid.'” Als ein solches Individuum, das sich in schöner Einigkeit in sich eins fühlte mit Gott, das in schuldloser Schuld mit dem erstarrten Geist seines Volkes

brach, dadurch das Schicksal seines eigenen Leidens und Untergangs heraufbeschwor und dies tapfer und erhaben auf sich nahm, schildert Hegel Jesus. Diese Tragik ist der Tragik des Hölderlinschen Empedokles im wesentlichen analog. Eine eigene Theorie des Tragischen aber entwickelt Hegel noch nicht. — Dies ist auch im Naturrechts-Aufsatz (von 1802) noch nicht der Fall, in dem Hegel metaphorisch von der „Tragödie im Sittlichen“ spricht, die „das Absolute ewig mit sich selbst spielt“, obwohl die dahinter-

stehende Auffassung von der griechichen Tragödie an Konturen gewonnen hat. Als nähere Bestimmung dieses „Bildes“ der „Tra-

gödie“ des Absoluten im Bereich der politischen Sittlichkeit führt 19 Vgl. Hegels theologische Jugendschriften (s. Anm. 4), S. 260. - Zu den Beziehungen von Hegels Jesus-Darstellung in Der Geist des Christentums und Hölderlins Empedokles-Drama vgl. insbesondere J. Hoffmeister: Hölderlin und Hegel. Tübingen 1931, S. 38ff. und Chr. Jamme: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983. Hegel-Studien Beiheft 23, S. 269ff., 296ff. (dort auch die Berücksichtigung weiterer Literatur).

296

Hegel Aischylos’ Orestie, insbesondere das versöhnliche Ende, an.?? Die Eumeniden dürfen als untere Götter ebenso Recht und Verehrung in Athen beanspruchen wie Apoll. Dieser Ausgleich soll für Hegel metaphorisch anzeigen, daß das Absolute im Sittlichen, nachdem es eine „unorganische“, fremde Natur als ein im

Geschichtsgang notwendiges „Schicksal“ von sich abgetrennt hat,

dies Andere, Fremde zugleich als für es notwendig anerkennt und sich damit versöhnt. Die Zulassung des „Unorganischen“, Fremden ist das „Opfer“, das das Absolute bringt. Dahinter steht die Auffassung, die auch Hölderlin teilt, daß zum Tragischen das Op-

fer gehört. Hegel meint hier mit der Metapher der Tragödie das Absolute im Bereich der politischen Sittlichkeit, nämlich insofern in einem modernen sittlichen Staat neben dem Stand der „Freien“

und deren wahrhafter Sittlichkeit, der Tapferkeit, auch die bürgerliche Gesellschaft und der private Egoismus des Bourgeois als die „unorganische“ Natur vorkommen muß, institutionell aber

getrennt von Jener Sittlichkeit, die sich damit rein erhält.

Erst die Phänomenologie enthält eine ausgeführte Theorie des Tragischen und der Tragödie, die in den Grundzügen der Theorie in der späten Ästhetik entspricht. Insbesondere die Unterscheidung des Tragischen, das zur griechischen sittlichen Welt gehört, von der Tragödie als der Kunst, nämlich der dramatischen Dich-

tung über solches Tragische, nimmt Hegel schon in der Phänomenologie vor. Er unterscheidet freilich noch nicht grundsätzlich zwischen antiker, klassischer und moderner, romantischer Tragödie; die Theorie der verschiedenen Kunstformen überhaupt, der klassischen und der romantischen Kunstform, denen dann noch

eine eigene symbolische Kunstform vorausgeht, entwickelt Hegel erst später. Schließlich ist die Phänomenologie systematische Einleitung in das System und nicht das System selbst; auch die Kunst als Kunst-Religion wird in ihr als eine Weise des Fürwahrhaltens

20 Vgl. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, S. 458. 297

des hält Die gen aus,

selbstbewußten Geistes erörtert, die einer Prüfung nicht standund in höhere Weisen des Fürwahrhaltens übergehen muß. Ästhetik als Teil der Philosophie des absoluten Geistes dagesetzt die spekulative Logik systematisch als Grundlage vorwas z.B. für die Bestimmung des Schönen als des sinnlichen

Scheinens der Idee bedeutsam ist, und expliziert den absoluten Geist,

wie er sich als Kunst manifestiert, gemäß den idealen Bestimmungen der Weisen seines Sich-Wissens sowie in seiner geschichtlichen Realität. Hegels Ausführungen in der Phänomenologie werden im folgenden mitberücksichtigt, sofern vom Einleitungscharakter der Phänomenologie und von der noch fehlenden Theorie der Kunstformen abgesehen werden kann.?! Das Tragische, das Hegel in der Phänomenologie anhand des Inhalts griechischer Tragödien der Sache nach bestimmt und das er in den Ästhetik-Vorlesungen zudem ausdrücklich mit diesem Terminus bezeichnet, entsteht seiner Theorie gemäß aus dem Status der Sittlichkeit eines bestimmten Weltzustandes. Die griechische Vorstellung substantieller Sittlichkeit trennt nach Hegel noch nicht das subjektive Wissen und die subjektive Verantwortung für den Entschluß von der wirklichen Tat und ihren Folgen ab. Ein 21 Die Theorie des Tragischen und der Tragödie in der Phänomenologie ist die einzige, die Hegel selbst veröffentlicht hat. Sonst finden sich - wie in der Rechtsphilosophie von 1820 - allenfalls Hinweise. Der Text der Vorlesungen über Philosophie der Kunst, wie Hotho ihn herausgab, ist kompiliert und bearbeitet, also nicht sicherer Hegel-Text. Verschiedene Nachschriften von Hegels Ästhetik-Vorlesungen, die mir zugänglich waren, weisen allerdings wie der Text Hothos die systematisch bedeutsamen Unterscheidungen des Tragischen und der Tragödie sowie der antiken, klassischen und der modernen, romantischen Tragödie auf. - Ähnliche Authentizitätsunsicherheiten bestehen bei Hegels konzentrierten Ausführungen über Tragödie in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Das Manuskript zur Vorlesung über Religionsphilosophie von 1821 enthält nur einzelne Anspielungen, vgl. Hegel: Religionsphilosophie. Bd. I: Die Vorlesung von 1821. Hrsg, von K.-H. Ilting. Neapel 1978, bes. S. 363, 373, 381. Vgl. ferner Hegel: Vorlesungen über die Philo-

sophie der Religion. 'T. 2: Die bestimmte Religion (a. Text). Hrsg. von W, Jaeschke. Hamburg

557#f., 6398.

298

1985. (= Vorlesungen. Bd. 4a), S. 82, auch 379ff., 396,

Individuum, das Sittlichkeit in dieser Weise versteht, übernimmt die Verantwortung für die ganze Tat vom Entschluß bis zu den dadurch verursachten, auch unvorhergesehenen oder ohne sein Wissen eintretenden wirklichen Ereignissen. Diese seine ganzheitliche Sittlichkeit ist nach Hegel fundiert im einheitlichen Wesen, in der einheitlichen Substanz von sittlichem Wissen und wirkli-

cher Tat als der Grundlage der griechischen sittlichen Welt. In diesem substantiellen Ganzen aber liegen entgegengesetzte Momente der Sittlichkeit, die als ursprüngliche, nicht institutionalisierte, aber zu verwirklichende sittliche Wesenheiten zugleich bestimmte sittliche Mächte darstellen. In ihrem besonderen Wollen und Handeln identifizieren sich Individuen jeweils mit einer solchen bestimmten Macht, die sie als göttlich-sittlich verstehen und die ihr „Pathos“, ihre ganze Leidenschaft und den Zweck ihres

individuellen Daseins ausmacht In der Verwirklichung aber einer solchen bestimmten, d.h. zugleich einseitigen sittlichen Macht wird notwendig die ihr entgegengesetzte verletzt; alles Handeln und Verwirklichen dieser Art in einem solchen Weltzustand ist daher

sowohl sittlich zutiefst berechtigt als auch notwendigerweise wirklich schuldhaft. Das menschliche Individuum folgt in solchem Handeln einerseits der Helle des Bewußtseins, seinem Wissen als Grundlage des Entschlusses, und ist doch andererseits der ihm unbekannten, nicht ın seiner Hand liegenden Wirklichkeit, der Seite des Nichtwissens

oder des Dunkels, preisgegeben.?? Diese Doppeldeutigkeit des 22 Vgl. hier und im Folgenden Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg

1952, S. 335f., 513f. (Gesammelte Werke. Bd. 9.

Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980, $. 255, 394). Vgl. auch Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955, $ 118 und von Hegels Randbemerkungen S$. 380ff. Vgl. ferner: Ästhetik. Mit einer Einführung von G. Lukäcs hrsg. von F. Bassenge. 2. Aufl. Frankfurt a. M. o.]., Bd. 1, 5. 229ff., Bd. 2, S. 548ff., 566. Zu Hegels

Tragödientheorie vgl. die entwicklungsgeschichtliche, zugleich kritische Darlegung von O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage. Hegel-Studien Beiheft 1. Bonn 1964, S. 285-305, auch Chr. Axelos: Zu Hegels Interpretation der Tragödie. In: Zeitschrift für philosophische 299

menschlichen Handelns zeigt sich nach Hegel an Ödipus. Das „Pathos“

des Ödipus

ist das Wissen, die Klarheit des Bewußt-

seins; er löste das Rätsel der Sphinx. Das Handeln folgt für ıhn allein dem Wissen. Dies ist für ihn unmittelbar das Göttliche, die „lichte“ sittliche Macht des Tages, die in Phöbus und Zeus ver-

ehrt wird. Aber menschliches Handeln ist nicht allwissend. Ödipus verletzt durch sein Tun die entgegengesetzte sittliche Macht des Verborgenen, der unteren Götter, die nicht ın seinem Wissen

vorhanden ist; unwissend verletzt er heilige Familiengesetze und lädt damit tragische Schuld auf sich. So stellt Ödipus in seinem wirklichen Handeln den für ihn lebensentscheidenden Konflikt der sittlich-göttlichen Mächte des Tages und der Bewußtseinshelle oder des Wissens mit den unteren göttlichen Mächten der Verborgenheit, des Dunkels, des Nichtwissens dar. Weil er die Mäch-

te der Verborgenheit durch seine einseitige Orientierung an den Mächten des Tages und der Klarheit notwendigerweise verletzt

und dadurch schuldig wird, muß er als Erblindeter die nicht mehr von ıhm weichende Nacht ertragen. Die Tragik wird von Hegel

also nicht wie von Hölderlin in der notwendigen Scheidung und dem Untergang des Menschen gesehen, mit dem ein Gott sıch unmittelbar vereinigte; sie liegt für Hegel vielmehr nur in der Einseitigkeit der göttlichen Macht, mit der das Individuum sich ın seinem „Pathos“ identifiziert und sich eins weiß; die Einigkeit selbst

führt für ihn nicht zur Tragik. Verschiebt sich der dargelegte Konflikt von den Bestimmungen des Wissens und Nichtwissens auf die inhaltliche Bestimmtheit der göttlichen Mächte, so ergibt sich nach Hegel der Konflikt Forschung 19 (1965), S. 654-667. Hegels Theorie der Tragödie wird geschicht-

lich pointiert berücksichtigt von K. von Fritz: Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit ın der griechischen Tragödie. In: Ders.: Antike und moderne Tragödie.

Berlin 1962, S. 1-112, bes. S. 80-100, ferner von V. Hösle: Die

Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Ästhetisch-historische Bemerkungen zur Struktur der attischen Tragödie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, bes. S. 23-27, ebenso von H. Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Wiesbaden 1983, bes. S. 379ff.

300

Orests. Er rächt wissentlich den Vater, verletzt aber - von ihm unbeachtet — die unteren Götter. Ödipus und Orest verstoßen ohne ıhr Wissen gegen die ihrem Pathos entgegengesetzte göttlich-sittliche Macht. „Aber das sittliche Bewußtsein ist vollständi-

ger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenüberrritt [...] und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht.“ (Phän., S. 336; GW 9, S. 255). In So-

phokles’ Antigone sieht Hegel das „absolute Exempel der Tragödie“, weil ın ihr das Tragische am reinsten dargestellt wird. Antigone folgt wissentlich dem sittlichen Recht der unteren Götter der Familie; sie verletzt in einer und derselben Handlung wissentlich das Recht des öffentlichen staatlichen Gesetzes, das unter

Zeus’ Schutz steht und lädt damit tragische Schuld auf sich. Aber da ıhr „Pathos“ allein die Familiengötter sind, ist die Verletzung der entgegengesetzten göttlich-sittlichen Macht unausweichlich. Das Gleiche gilt nach Hegel für Kreon, dessen Handeln einseitig dem sittlichen Recht des staatlichen, öffentlichen Gesetzes und

damit dem Willen des Zeus folgt. Beide Individuen, die je ihre besondere sittlich-göttliche Macht zu ihrem Lebensinhalt machen,

die mit gleichem Recht bestimmte, begrenzte, einander entgegengesetzte sittliche Mächte vertreten, müssen an ihrer Einseitigkeit

zugrundegehen. Daß diese Deutung Sophokles’ Darstellung nicht entspricht, ist schon oft bemerkt worden. Aber auch Hölderlin hatte, wie erwähnt, den Konflikt zwischen Antigone und Kreon in ähnlicher Weise aufgefaßt, die sie beherrschenden Mächte jedoch entschiedener religiös gedeutet und den tragischen Streit in

der vaterländischen Umkehr ihres Volkes begründet. Der tragische Konflikt der Individuen beruht für Hegel also auf der jeweiligen Einseitigkeit der göttlich-sittlichen Macht, mit der ein Individuum sich identifiziert, und auf deren Entgegensetzung 23 Sämtliche Werke. Bd. XII, S. 133 (Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von G. Lasson. Leipzig 1927. Nachdruck: Hamburg 1966, Bd. 2, Halbband 1, S. 156). Vgl. zum Folgenden ebd. und Ästbetik I, S. 218, 448; II, S. 564f., 568, auch Grundlinien der Philosophie des Rechts, $ 166.

301

gegen eine gleichberechtigte andere, ebenfalls einseitige sittlichgöttliche Macht. Diese Entgegensetzung gleichberechtigter sittlicher

Mächte kann durchaus in Hegels Sinne als dialektisch angesehen werden; sie geht hervor aus der ganzheitlichen sittlichen Substanz, in der wissentlicher Entschluß und wirkliche Folgen des

Handelns als ursprünglich eines gedacht werden. Die Setzung einer sittlichen Bestimmtheit, die in dieser Substanz liegt, ruft

nach Hegel notwendig die Setzung der ihr konträr entgegengesetzten sittlichen Bestimmtheit, ruft somit Entzweiung hervor.” Die Entzweiung dieses ursprünglich in sich einigen Ganzen aber führt nach Hegel notwendig zu höherer Einheit. Die entgegengesetzten Mächte kämpfen in den Individuen, in denen sie real sind,

gegeneinander. Dadurch aber geschieht es, daß jede der göttlichsittlichen Mächte die ihr entgegengesetzte in negativer Bestimmtheit an ihr selbst hat. Dies kann sich auch ım Wissen der im Konflikt liegenden Individuen niederschlagen. Antigone weiß, daß sie die entgegengesetzte sittliche Macht verletzt; diese ist als negativ bestimmte in ihrem sittlichen Bewußtsein; das Gleiche gilt von

Kreon.” Dadurch geht die Einseitigkeit der Macht und somit das Individuum, das sich mit ihr identifiziert hat, zugrunde. Die einseitigen Mächte verschwinden im Aufgang des „allmächtigen und

gerechten Schicksals“ (Phän., S. 337; GW 9, S. 256) als der höheren Einheit. Diese Dialektik der Sittlichkeit gilt nach der Auffassung des

späten Hegel freilich nur für einen bestimmten Weltzustand, für eine vorstaatliche Epoche oder eine Zeit, in der wesentliche sittliche Bestimmungen und Rechte im Gemeinwesen nicht verwirk-

licht sind und daher Realität nur in Individuen als Vorkämpfern 24 Zu Hegels oft kritisierter, aber vielfach wohlgeregelt durchgeführter Verwandlung kontradiktorischer in konträre Gegensätze innerhalb seiner Dialektik im allgemeinen vgl. vom Verfasser: Das Problem der Subjektivität, S. 180, 223 u.ö., ausführlicher in der Abhandlung des Verfassers: Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel. In: Hegel-Studien 15 (1980), bes. S. 144ff. 25 Ästhetik II, S. 568: „So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie

sich wechselweise erheben.“ 302

haben. Die griechische Sittlichkeit, die zur Tragik führt, ist die Sittlichkeit des Heroenzeitalters; die sittlichen Individuen, die ın eine bestimmte sittlich-göttliche Macht ıhr „Pathos“ setzen und

diese dadurch erst verwirklichen, sınd die Heroen. Jeder einzelne

von ihnen steht als individuelle Person ein für das wirkliche Gelten der von ihm vertretenen sittlich-göttlichen Macht. Dies ist der Grund, warum Heroen ihr individuelles persönliches Wissen und

Wollen nicht von der Wirkung ihrer Handlungen, von der Wirklichkeit ihres Sittlichen abtrennen. Daraus folgt, daß es nach Hegel im Rahmen der modernen Sitt-

lichkeit keine Tragik in dem eben bestimmten ursprünglichen Sinne mehr geben kann. Eine dreifache systematische Begründung ist dafür ausschlaggebend: Im Verständnis der modernen Sittlichkeit wird erstens die subjektive Freiheit des Einzelnen unter-

schieden vom Erfolg des Handelns und der äußeren Wirklichkeit. Die Person ist nur verantwortlich für ihr subjektives, wissendes Wollen und ihre Gesinnung, nicht für die objektiven, wirklichen

Folgen ihres Handelns, sofern sie nicht in ihrer Macht stehen. So

ist z.B. Ödipus nach diesen Maßstäben unschuldig an seinem Vollzug des Orakels; die Selbstblendung, mit der er die Verantwortung für die ihm nicht bewußten wirklichen Seiten seiner Taten übernimmt,

ist danach

ohne

Sinn. Schon

Sokrates

hatte

versucht, diesem Prinzip der subjektiven Freiheit gegen die griechische Sittlichkeit Geltung zu verschaffen; aber er mußte nach Hegels Schilderung in antiker Tragik wie ein Heros untergehen.

Auch Jesus endete, wie es insbesondere der junge, kaum mehr der spätere Hegel darstellt, tragisch. Das Prinzip der subjektiven Freiheit aber, das er nach Hegels Deutung verkündete, wurde im Christentum dann zu einem neuen weltgeschichtlichen Prinzip. In diesem Prinzip ist zweitens impliziert, daß an sich der Mensch mit Gott schon versöhnt ist; ein für Individuen tragischer Kon-

flikt göttlich-sittlicher Mächte ist religiös daher nicht mehr möglich. Drittens ist für Hegel die Tragik in der modernen Sittlichkeit auch deshalb aufgehoben, weil die sittlichen Mächte, die früher Heroen verwirklichen mußten, nunmehr institutionelle, staatliche 303

Wirklichkeit sind und Heroentugenden somit entbehrlich werden. Der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee, als das hö-

here sittliche Ganze vereinigt nach Hegel nun jene besonderen sittlichen Mächte in sich. - Aus diesen Überlegungen folgt allerdings nicht notwendig, daß es keine modernen, nämlich romantıschen Tragödien mehr geben könne. Das Tragische wird nun in Tragödien künstlerisch gestaltet.

Tragische Handlungen, Konflikte und Schicksale ereignen sich hier nicht mehr unmittelbar, werden nıcht mehr einfach erlitten, sondern dargestellt und mit Bewußtsein durchschaut. Das Göttliche ist dabei in der höheren Weise anwesend, daß es sich in der künstlerischen Gestaltung dem anschauenden, aber zugleich un-

mittelbar begreifenden Betrachten zu erkennen gibt. Die Verstehenden, nämlich die Zuschauer sind dieses höhere begreifende Bewußtsein, das in den dargestellten tragischen Konflikten und Schicksalen oft seine eigene sittliche Vergangenheit anschaut. Dies trifft insbesondere auf die klassischen griechischen Tragödien zu,

die als künstlerische Bestandteile religiöser Feste der Kunst-Religion angehören. Durch sie wird der sittliche Geist und die Dialektik der Sittlichkeit in ein höheres „Wissen seiner selbst“ (Phän.,

S. 490; GW 9, S. 376) erhoben. Die Sphäre der Kunst ist damit die über die ın sich einfache Sittlichkeit und die in ıhr fundierte Tragik hinausgehende Sphäre des absoluten Geistes, der in ihr ein noch unmittelbar anschauliches Wissen von sich gewinnt. Geschichtlich ist bei den Griechen die Überwindung der heroischen Sittlichkeit Voraussetzung für ein solches höheres Verstehen und Sich-Verstehen des Geistes in der Kunst.

Die griechische Tragödie gehört nach Hegel nun zur klassıschen Kunstform; diese aber ist Kunst des Ideals, der sinnlich-an-

schaulichen individuellen Gestalt, deren Bedeutungsgehalt die göttliche Idee in ihrem sinnlichen Widerschein ist. Hegel hat hierbei

primär die himmlische Ruhe und Hoheit der griechischen Götterplastiken in Winckelmanns Deutung vor Augen. Die Tragödien können das Ideal nicht ın dieser - für Hegel vollendeten Weise darstellen, sondern haben das Ideal, wie es in Handlung 304

eintritt, zum Inhalt. Handlungen offenbaren nach Hegel das Innerste und Wesentliche der menschlichen Individuen. Da herausragende Individuen, nämlich die Heroen, sich jeweils mit einer göttlich- sittlichen Macht als ihrer innersten bewegenden Kraft identifizieren, wird auch in Handlungen und Konflikten der Heroen das Göttliche in seiner weltlichen und sinnlichen, zugleich selbstbewußten Realität dargestellt, wie es klassischer Kunst ent-

spricht. Daher werden die Heroen gelegentlich mit griechischen Skulpturen verglichen.” Freilich sind Tragödien weniger sinnlichplastisch als die Skulpturen, dafür aber als poetische, dramatische Werke um so geistiger und bedeutungsreicher. In der klassischen griechischen Tragödie treten die Helden und der Chor einander gegenüber. Der Chor stellt die allgemeine Grundlage des Sittlichen dar, aus der die handelnden Individuen emporwachsen; er repräsentiert für Hegel das Volk, das nicht selbst handelnd in den Konflikt eingreift, sondern nur allgemein darüber reflektiert. Seine Äußerungsweise ist daher lyrisch. Der Chor gehört nach Hegels Auffassung „dem Standpunkte an, wo sich den sittlichen Verwickelungen noch nicht bestimmte rechtsgültige Staatsgesetze und feste religiöse Dogmen entgegenhalten lassen [...] und nur das Gleichmaß unbewegten Lebens gesichert gegen die furchtbaren Kollisionen bleibt“ (Ästh. IL, S. 562). Die Mitglieder des Chors sind Zuschauer innerhalb der Tragödie selbst; sie befinden sich noch - anders als die Zuschauer, vor denen die Tra-

gödie aufgeführt wird und die nur ästhetisch erschüttert werden, da sie über die tragischen Konflikte eigentlich schon hinaus sind — auf demjenigen Standpunkt des alten, polytheistischen Götterglaubens, der die Notwendigkeit des Konflikts sittlich-göttlicher Mächte noch nicht erkannt hat. Furcht vor dem Schicksal und Mitleid mit den leidenden Helden schreibt Hegel zuerst diesen 26 Die Einzelkunst, die dem klassischen Ideal am meisten gemäß wird, ist nach

Hegel die Skulptur. Zum Vergleich Sophokleischer tragischer Gestalten mit Skulpturen s. Ästhetik I, S. 235, allgemeiner II, $. 548. Die geistigste Kunst un-

ter den Einzelkünsten ist jedoch für Hegel die Poesie und innerhalb dieser das Drama (vgl. Ästh. II, S. 327, 512).

305

Zuschauern in der Tragödie, dem Chor zu”, von dem und dessen

Standpunkt die tragischen Helden sich abheben. Obwohl Hegel den Chor als wesentliches Konstituens der griechischen Tragödie ansieht, nämlich als „geistige Szene“ für die Helden, vergleichbar dem Tempel, der die Götterbilder umgibt (Ästh. II, S. 563), räumt

er ihm doch nicht wie Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina die überragende Bedeutung ein, daß er eine „Riesengestalt“

sei, vor der alle Figuren erst eigene tragische Größe erhielten. Da ferner die Aufgabe des Chores nach Hegel darin besteht, jenen geistigen Rahmen für die Helden darzustellen und die ungebrochene, in sich gediegene alte Vorstellung von Sittlichkeit und polytheistischer Religiosität zu repräsentieren und auszusprechen, wird nach seiner Auffassung — entgegen der Darlegung Schillers in der erwähnten Vorrede — der Chor in der romantischen Tragödie inhaltslos und überflüssig.? Ähnlich wie Schiller freilich ging offenbar auch Hölderlin von der Beibehaltung des Chores in hesperischen Tragödien aus. Hegel vertritt hier aus gehaltsästheuschen Gründen wohl die modernere Theorie. Die tragischen Helden, die vor dem Chor handeln und untereinander und mit ihm ihre Dialoge führen, stellen die tragischen Konflikte und Schicksale jener Heroen dar, die jeweils ıhr „Pathos“ in eine bestimmte sittlich-göttliche Macht setzen. Die Sittlichkeit und Tragik der Heroen, wie sie oben philosophisch in Hegels Begriffen entwickelt wurde, wird in der Kunstgattung der Tragödie in besonderen Gestalten anschaulich bewußt gemacht und unmittelbar eingesehen und begriffen.” Diese Helden sind in der 27 Vgl. hierzu bes. Phänomenologie, S. 511f., GW 9, S. 392f., auch Ästhetik II,

S. 562f. Wegen der notwendigen Kollisionen göttlicher Mächte, die die Helden darstellen, und der darauf folgenden Vereinigung sieht Hegel schon in der griechischen Tragödie eine Tendenz zum Monotheismus (Phän., S. 514ff., GW

9,5. 395f).

28 Vgl. Ästhetik II, S. 563. Zum Folgenden vgl. Hölderlin: StA V, S. 270. 29 Hegel erklärt, daß das Tragische „in seinem totalen Umfange und Verlaufe“

nur von der Tragödie angemessen dargestellt werden könne (Ästhetik II, S. 551). Darin liegt, daß es unvollständig und weniger angemessen auch in anderen Einzelkünsten thematisch zu werden vermag. 306

klassischen Tragödie Repräsentationen des Ideals, das in Hand-

lung übergegangen ist. Solches unmittelbare Begreifen in der Betrachtung von Tragödien macht die tragische Versöhnung erforderlich. Sie bedeutet nicht notwendig, faktisch sogar nur sehr selten wie etwa in Ai-

schylos’ Eumeniden, einen inhaltlich versöhnlichen Ausgang. Die tragische Versöhnung ist vielmehr die Haltung und das Gefühl, mit dem der Zuschauer den Ausgang einer Tragödie betrachtet und versteht. Wenn der Zuschauer — mit höherem Verständnis als der Chor - Furcht nicht primär vor der äußeren Gewalt, sondern

vor der vom einseitigen Helden verletzten sittlich-göttlichen Macht entwickelt, wenn er nicht einfach mit dem unglücklichen, sondern mit dem aus sittlichen Gründen leidenden Helden Mitleid fühlt,

dann hat er den sittlich-tragischen Gehalt einer Tragödie erfaßt. Der Untergang der Helden kann dann nicht einfach entsetzlich und sinnlos sein. Vielmehr ergibt sich durch die Dialektik der heroischen Sittlichkeit, daß in jenem Untergang der Helden als

der Realität einseitiger sittlich-göttlicher Mächte das ewig gerechte, allgemeine Schicksal aufgeht. Dies wird vom Zuschauer in dem „Gefühl der Versöhnung“ verstanden (Ästh. II, S. 551). So ist sein „Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt [...] erschüttert durch das Los der Helden, versöhnt in der Sache“ (Ästh. II, S. 566). - Doch bleibt nach Hegel zumindest für uns auch in dieser tragischen Versöhnung noch eine „unbefriedigte Trauer [...] indem ein Indi-

viduum untergeht“.?° Der Held gelangt nicht selbst zur verantwortlichen Einsicht in die sittliche Einseitigkeit seines Tuns; erreichte er sie, so wären äußere Strafen und natürlicher Tod nicht

mehr erforderlich. Aber dies überschreitet den Gesichtskreis antiker Tragödien.

30 Sämtliche Werke. XI, S. 135. (Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von G. Lasson (s. Anm. 23). 11/1, S. 157). Vgl. in der Edition von W. Jaeschke (s. Anm. 21). T. 2a, S. 558.

307

Diese oft kritisierte Auffassung von der tragischen Versöhnung” hat in Hegels Theorie die Aufgabe, die Tragödien-Betrachtung vor dem Absturz in die Verzweiflung angesichts eines sinnlosen Grauens zu bewahren. Denn solche Verzweiflung konnte

kaum das Ziel der griechischen heiter-ernsten Kunst-Religion sein. Systematisch ist die tragische Versöhnung als Verstehenshaltung des Zuschauers begründet in der spekulativen Dialektik Hegels, nach der aus der Entzweiung der sittlichen Substanz in entgegengesetzte bestimmte sittlich-göttliche Mächte und deren wechselseitiger negativer Beziehung aufeinander notwendig die höhere Einheit der ewigen Gerechtigkeit hervorgeht. Die Lehre von der tragischen Versöhnung als einem Gefühl, das sich bei der ästhetischen

Anschauung dieser Gerechtigkeit anläßlich des Untergangs der Helden einstellt, ist daher keine Inkonsequenz, auch kein Verlas-

sen einer zuvor ursprünglicheren Einsicht in das Tragische bei Hegel, sondern konsequente Durchführung der Theorie des Tragischen und der Tragödie aufgrund der spekulativen Dialektik mit ihrem positiven Resultat. Eine Kritik an Hegels Auffassung von der tragischen Versöhnung bedeutet also eine Kritik an Hegels gesamter dialektischer Theorie des Tragischen und der Tragödie und bedarf daher wohl selbst äquivalenter systematischer Fundierung.

Aus Hegels Ästhetik läßt sich aber nicht nur eine Theorie der klassischen griechischen, sondern auch eine Theorie der romantischen, modernen Tragödie entnehmen. Die romantische Kunstform setzt das weltgeschichtliche Auftreten der christlichen Religion und mit ihr des Prinzips der subjektiven Freiheit und Innerlichkeit voraus. Der Inhalt auch der romantischen, nämlich der christlichen und der modernen Kunst ist wesentlich das Göttliche, und zwar wie es sich im Inneren des Menschen, in der Geistigkeit

seiner Gefühle und Entschlüsse darstellt. Aber die romantische Kunst ist nicht mehr notwendiger Bestandteil der Religion, son-

dern gewinnt eine davon unabhängige Existenz. Die Aufführung 31 Vgl. hierzu O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie, S. 298ff. 308

romantischer Tragödien gehört in der Regel nicht mehr zu einem religiösen Fest.

Da der griechische Polytheismus ebenso wie die griechische Sittlichkeit nunmehr endgültig vergangen sind, können Konflikte gleichberechtigter sittlich-göttlicher Mächte und die darin begründete Tragik der Heroen nicht mehr Inhalt einer romantischen

Tragödie sein. Die Handlungen und Konflikte werden zufälliger. Das künstlerisch darstellbare Tragische, wie es romantische Tra-

gödien gestalten können, findet sich nun vor allem im Charakter der Helden. Hegels Beschreibungen legen nahe, daß er hinsichtlich des Tragischen innerhalb der modernen Tragödie vor allem zwei Arten von Charakteren in ihrem Weltbezug vor Augen hat. Die eine Art

des Charakters realisiert in sich das moderne Prinzip der subjektiven Freiheit und der geistigen Innerlichkeit; doch wird dieser

Charakter in Kollisionen, ja gerade in antike Kollisionen gestürzt, die er nicht bewältigen kann, und findet, in sich gebrochen, einen tragischen Untergang. Einen solchen Charakter sieht Hegel in Hamlet. Dessen Konflikt, den Tod des Vaters, zumal da die Mutter den Mörder heiratet, zu rächen, dabei aber vielleicht andere Mächte zu verletzen, ist dem Konflikt Orests ähnlich. Während Orest seiner sittlich-göttlichen Macht folgt und handelt, zaudert Hamlet.’ In diesem Zaudern liegt ein zweiter antiker Konflikt verborgen, der jedes Handeln begleitende Konflikt von Wissen

und Nichtwissen, wie er sich in Ödipus zeigt. Auch Ödipus handelt, während Hamlet in tiefsinnige Melancholie versinkt. Hegel deutet Hamlets Charakter als schöne Seele, die sich in die Welt ihrer Innerlichkeit, ihrer tiefen Gefühle und Gedanken zurück-

zieht, aber kraftlos die Berührung mit der Wirklichkeit scheut. Hamlet ahnt, daß alles Handeln im Vertrauen auf das Offenbare

und Gewußte eine Vergessenheit und damit eine Verletzung des Verborgenen ist; aber gerade sein Versuch, sich vor dem tragischen 32 Vgl. Ästhetik 1,5. 212; II, S. 575f., zum Folgenden 1, S. 228f.; Pbänomenologie, S.514 (GW,

S. 394f.), auch Ästh. I, S. 558f.

309

Konflikt zurückzuhalten, führt ihn in Verstrickungen und in die Irre. Die Konflikte holen ihn ein. zufällig; im Grunde aber war nach Anfang an in den Konflikten dem II, S. 581), und dies Schicksal des

Sein Tod ist zwar äußerlich Hegel diese schöne Seele von Untergang geweiht (vgl. Ästh. modernen Charakters, der an

antiken tragischen Konflikten zugrundegeht, kann man daher ın Hegels

Perspektive

als dessen

subjektive Tragik

ansehen,

die

Shakespeare in seiner Tragödie gestaltet. Die andere Art des Charakters in romantischen Tragödien restituiert für sich selbst künstlich das Heroentum. Solche Charaktere betrachten sich selbst in ihrer Individualität jeweils als das Dasein einer sittlichen höheren Macht und müssen versuchen,

entweder alle staatliche und bürgerliche Ordnung in ihrer Umwelt aufzuheben oder doch entschieden umzugestalten, um sich selbst Geltung zu verschaffen; aber sie gehen an der modernen Verfaßtheit ihrer Umwelt zugrunde. So sucht nach Hegel z.B. in Schillers Räubern Karl Moor den heroischen Zustand durch Empörung gegen die Gesellschaft wiederherzustellen und sich als Heros der Gerechtigkeit und Rächer des Unrechts zu erweisen. Aber die moderne Zeit ist darüber hinweggeschritten; seine Rache verkehrt sich in Privatrache und Verbrechen (vgl. Ästh. I, S. 194;

I, S. 574). In ähnlicher Weise verfolgt Wallenstein in Schillers Drama, wie Hegel es in der Ästhetik und anders als früher versteht”?, bedeutende sittlich-politische Zwecke als großes Individuum oder als ein Heros. Aber er scheitert an der modernen

Wirklichkeit schon bestehender staatlicher Ordnung sowie an dem 33 Der Wallenstein- Aufsatz stammt aus der Jugendzeit, in dem Hegel kritisiert, es sei „abscheulich“, daß hier der Tod über das Leben siege (vgl. Sämtliche Werke. XVII, S. 413. In der Ästhetik vgl. I, S. 195; II, S. 574, 580). - Das von Hotho überlieferte Diktum, Goethes „Faust“ sei „die absolute philosophische

Tragödie“ (II, S. 574), wird hier nicht herangezogen, da neuerdings die Echrheit bezweifelt wird, vgl. A. Gethmann-Siefert/B. Stemmrich-Köhler: Faust: Die „absolute philosophische Tragödie“ - und die „gesellschaftliche Artigkeit“ des West-Östlichen Divan. In: Hegel-Studien 18 (1983), S. 23-64, vgl. bes. S. 28ff. 310

subjektiven Pflichtbewußtsein seiner Untergebenen. Da solche heroischen Charaktere ihre moderne Umwelt und das institutionali-

sierte Recht kennen müssen, vermischt sich ihr tragisches Schicksal mit persönlicher subjektiver Schuld am begangenen Verbrechen. In romantischen Tragödien kann daher auch die tragische Ver-

söhnung kein reines Gefühl für die höhere sittliche Einheit mehr sein, die aus der antiken Kollision sittlich-göttlicher Mächte her-

vorgeht. Sie wird eher zur Befriedigung über moralische Gerechtigkeit in der Bestrafung des Bösen oder über religiöse Versöhnung. Solche reine religiöse Versöhnung sieht Hegel schon im Ödipus auf Kolonos angedeutet; weil die Götter Ödipus zu sich holen, nähert sich diese Tragödie der „christlichen Vorstellung

von der Versöhnung“ an?*; auch Hölderlin hatte den hesperischen Grundzug dieses Sophokles-Dramas hervorgehoben. So enthalten für Hegel die romantischen Tragödien zwar noch Darstellung von Grundzügen des Tragischen, aber keine reine Gestaltung des Tragischen mehr. Das Tragische als Dialektik grie-

chischer Sittlichkeit gehört einem anderen Weltverständnis und einer anderen Ethik an, die geschichtlich jeweils mit dem Auftreten des Christentums vergangen sind. Auch wenn es in romantischen Tragödien teilweise wiederbelebt wird, kann in ihnen von der modernen Welt und der subjektiven Freiheit nicht abstrahiert werden. Die Kritik, die Hegel von diesem Verständnis aus viel-

fach an modernen Tragödien übt, ist für ihn durch den Vorbildcharakter der klassischen Tragödie begründet. So sind Hölderlins und Hegels Theorien des Tragischen und der Tragödie mit ihrer wesentlichen Verschiedenheit und ihren Kongruenzen ım einzelnen unterschiedliche Ausprägungen einer

jeweils metaphysisch und idealistisch fundierten gehaltsästhetischen Gesamtkonzeption. Hegel geht nicht wie der späte Hölderlin von der Realität der Götter aus. Das Tragische faßt er anders 34 Sämtliche Werke. XII, S. 135 (Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von G. Lasson (s. Anm. 23). IV/1, S. 157). Vgl. in der Edition von W. Jaeschke (s. Anm. 21). T. 2a, S. 559, 311

als Hölderlin primär ethisch auf. Er bestimmt es durch eine Dialektik des Sittlichen, die notwendig — wieder anders als bei Hölderlin - zu einer positiven höheren Einheit führt. Dieses Tragische ist für ıhn geschichtlich vergangen. Hölderlin sieht im Tragischen dagegen ein genuin religiöses, nicht vergangenes Problem. Religi-

ös fundiert ist für Hölderlin als Grund des Tragischen auch die Zeitenwende, die Hegel in seiner Tragödientheorie nicht essentiell

berücksichtigt. Die religiöse Dimension des Tragischen wird bei Hegel nur dadurch tangiert, daß das Sittliche zugleich als göttliche Macht verstanden wird. Auch Hegel ordnet das Tragische

aber — wie Hölderlin - in eine Metaphysik der Mythologie ein, die freilich seiner spekulativen Philosophie der Religion und des geschichtlichen Fortschreitens der Religionen zugehört. Die grie-

chische Tragödie bereitet für Hegel durch die Darstellung des Konflikts der göttlich-sittlichen Mächte und der höheren, daraus

resultierenden Einheit den Schritt von der polytheistischen Mythologie zum Monotheismus vor. In religionsgeschichtlichem Kontext

steht bei Hegel auch die Unterscheidung von antiker, klassischer und moderner, romantischer Tragödie, die ebenso Hölderlin vorsieht, aber nur andeutet; Hegel hebt ın der Ausführung die unter-

schiedlichen Kunstformen der Tragödien deutlicher hervor. Grundsätzlich aber bestimmt Hölderlin ebenso wıe Hegel den entscheidenden Problemgehalt der Tragödie aus der ıdealistischen Frage nach dem Verhältnis des menschlichen Bewußtseins und

seiner Identität zum Göttlichen und Absoluten. Diese fundamentale Frage liegt allen Theorien des deutschen Idealismus zugrunde.

Grundsätzlich unterschiedlich antworten Hölderlin und Hegel darauf und entwickeln daher wesentlich verschiedene Tragödien-

theorien. Während für Hölderlin allein das unterscheidende Wechselverhältnis von Gott und Mensch ohne höhere Vereinigung Bestand haben kann, ist für Hegel das Göttliche als das Absolute

des Sittlichen oder als absoluter Geist der Kunst im menschlichen Bewußtsein unverhüllt gegenwärtig, ja sogar eins mit dessen Geistigkeit. Hierin liegen, wie es scheint, selbst klassische Alternativen metaphysisch-idealistischen Denkens. 312

Nachweise

Die hier gesammelten Aufsätze bilden eine thematische Einheit. Sie erörtern an ausgewählten Beispielen Systematik und Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie. Dabei konzentrieren sie sich auf die unterschiedlichen Ausprägungen der Theorie der Subjektivität und der Freiheit. Der einleitende Aufsatz gilt dem Aufweis, daß gerade die gegenwärtige Problematik des Verhältnisses von Geist und Gehirn erneute Fragen nach Subjektivität und Freiheit motiviert, so daß die klassischen Theorien hierzu auch in der Gegenwart entscheidende Bedeutung behalten. Die Aufsätze entstanden zu unterschiedlichen Zeiten. Neben jenem ersten bisher unveröffentlichten Beitrag erscheinen hier

vier weitere Aufsätze, die bisher nur fremdsprachlich publiziert sind, erstmals in deutscher Originalfassung. Einleitung: ‚Subjektivität” in gegenwärtiger und deutscher Philosophie. Originalbeitrag.

in klassischer

Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und

zu ihrer modernen

kritischen Rezeption.

In: Kant-

Studien 71 (1980), S. 1-34. Einbildungskraft und selbstbewußtes Dasein beim frühen Fichte. In: Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Janke. Hrsg. von K. Held und J. Hennigfeld. Würzburg 1993, S. 61-76. Gibt es einen Zirkel des Selbstbewußtseins? Ein Aufriß von paradigmatischen Positionen und Selbstbewußtseinsmodellen von Kant

bis Heidegger. Erschienen auf Italienisch: C’® un circolo dell’ autocoscienza? Uno schizzo delle posizioni paradigmatiche e dei

modelli di autocoscienza da Kant a Heidegger. in: Teoria 12 (1992), 5. 3-29.

313

Konstitution und Struktur der Identität des Ich. Kants Theorie der Apperzeption und Hegels Kritik. Erschienen auf Englisch: Constitution and Structure of Self-Identity: Kant’s Theory of Apperception and Hegel’s Criticism. In: Midwest Studies in Philo-

sophy 8 (1983), S. 409-431.

Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Überwindung negativer Theologie bei Schelling und Hegel. In:

Einheitskonzepte in der idealistischen und in der gegenwärtigen Philosophie. Hrsg. von K. Gloy und D. Schmidig. Bern 1987, S. 109-136.

Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie. Er-

schienen auf Italienisch: Spontaneitä e libertä nella filosofia pratica dı Kant. In: Studi Kantiani 6 (1993), S. 23-46.

Ethik und Staatslehre bei Plato und Hegel. Erschienen auf Französisch: Ethique et doctrine de l’&tat chez Platon et Hegel. In: Images de Platon et lectures de ses oeuvres. Hrsg. von A. NeschkeHentschke. Louvain-Paris 1997, S. 283-294.

Schellings Genieästhetik. In: Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Stuttgart 1988. Bd. 1, $. 193-213.

Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel. In: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806). Hrsg. von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Bonn 1988, S. 55-82.

314

Danksagung

Herrn Tobias Schlicht möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen für die Gestaltung der Druckvorlage und alle seine Unterstützung; danken möchte ıch für vielfältige Unterstützung ebenso

Frau Kristina Engelhard, Herrn Dr. Dietmar Heidemann, für alle Hilfe im Umfeld Frau Angelika Schmitz und schließlich, aber in

ganz besonderer Weise meiner Frau.

315

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. vorbehalten Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Nachwort zur zweiten Auflage

Daß die zweite Auflage eines Buches, ja sogar einer Aufsatzsammlung gewünscht wird, ist für jeden Autor Grund zur Freude. Die Aufsätze erscheinen hier unverändert erneut. Sie entstanden zu unterschiedlichen Zeiten (zwischen 1980 und 2001). Natürlich gab es in diesen Jahren Perspektivenverschiebungen, hermeneutische Differenzierungen und neue systematische Schlaglichter; an den wesentlichen Einsichten und Argumenten aber möchte ich festhalten. Die Aufsätze gruppieren sich unter den systematischen Titel-

begriffen: „Subjektivität und Freiheit“. Diese haben heute wieder an Interesse und intellektueller Belebungskraft gewonnen. Das Für und Wider in Bezug auf Freiheit in psychologischem, ethischem und juridisch-politischem Sinne wird gegenwärtig heftig diskutiert. Die Vorbehalte gegen „Subjektivität““ bestehen auf breiter, aber buntscheckiger, argumentativ keineswegs einhelliger Front immer noch; „Selbstbewußtsein“ als höchst differenziertes

Phänomen, wodurch der Mensch

sich vom Tier unterscheidet,

und „Subjektivität“ als der entsprechende Theorieterminus

aber

gewinnen erneute philosophische Aufmerksamkeit, wie ja denn Fragen der Vernunft selten dauerhaft unterdrückt werden können. — Zu diesen systematischen Problemtiteln finden sich in vorleuchtender Kraft in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel zentrale Theorien von faszinierender Intensität, Reichhaltigkeit und Argumentationshöhe, wie sie bis heute schwerlich wiedererreicht wurden. Diese ganze PhilosophieEpoche kann grundsätzlich als innovative und entschieden einsichtsreiche Explikation des Baumes der Freiheit und der Subjektivität in Wurzel, Stamm und Ästen als den verschiedenen Systemteilen angesehen werden. Dies sollen die Aufsätze anhand unterschiedlicher systematischer Darlegungen der „Heroen“, wie

317

Hegel

gesagt hätte, jener herausragenden

Philosophie-Epoche

aufweisen; und dabei soll sich die Fruchtbarkeit dieser Theorien

für gegenwärtige philosophische Bemühungen auch dann zeigen, wenn

sie im wesentlichen nicht übernommen

werden

können,

sondern erst in einem Transformationsprozeß heutige Gedanken schöpferisch mitformen. Mein aufrichtiger und herzlicher Dank gilt allen, die an der Entstehung der Aufsätze sowie an deren Sammlung in erster und nun in zweiter Auflage hilfreich beteiligt waren.

Köln, im Juni 2011

318

Personenregister Adorno, Th. Allemann, B. Allison, H.E. Ameriks, K.

W. 145 277, 291 216 216

Dennett, D.C. 10f., 17, 30 Dı Tommaso, G.V. 95, 124

Arıstoteles

23, 127, 156, 202f., 211f.,

Düsing, E.

Dilthey, W. 165, 190 Dryer, D.P. 39f., 42, 148, 152 100, 108, 122, 227, 256

Düsing, W. 265

237-243

Axelos, Chr. 299

Duyckaerts, F. 91

Baum, M.

Ebbinghaus, J. 147f.

47

Beck, L.W. 44, 216, 220, 229f. Behler, E. 269 Beierwaltes, W. 186 Beißner, F. 277 Bennett, J. 64, 147f., 161f. Bieri, P.

40, 65

Binder, W. 277, 281, 284, 289 Block, N.

16

Böhme, G. 49, 58 Bonsiepen, W. 165, 244, 299 Bormann, K. 240

Brandt, R. 216 Buchner, H. 47, 244, 268, 297

Cassirer, E. 59, 61, 63, 78, 89 Cesa, C.

99, 104, 122

Chalmers, D.J. 9. Chiereghin, F. 217 Claesges, U.

91, 104, 122

Clarke, S. 38 Cohen, H.

47, 50, 71, 147, 161

Condillac, E.B. de 26, 99 Coreth, E. 78, 80 Cornford, F.M. 176 Corssen, M. 277 Cramer, K. 117, 174, 199, 204, 225 Creuzer, L. 225

Crick, F. 11, 15-17, 30

Decleve, H. 7%.

Eccles, J.C. 9, 14f., 19 Edelman, G.M. 11,17 Einstein, A. 56, 58, 60

Engstler, A. 96 Feigl, H. 10 Fichte, 147, 207, Foster,

J.G. 23-27, 31, 89-113, 120-138, 157-170, 174, 178, 185, 192, 203, 212, 225-228, 254-258, 272f. M.B. 247

Gadamer, H.-G. 199, 216 Gerhardt, V. 148 Gethmann, C.-F. 83 Gethmann-Siefert, A. 310 Gigon, ©. 239, 242

Gloy,K. 102, 117, 187

Görland, I. 47f., 161 Griffiss, J.E. 166 Grünbaum, A. 59, 61, 65 Günther, G. 165 Habermas, J. 111

Hall, R.W. 240, 242 Hammacher, K. 102, 108 Harrison, R.B. 277 Hartmann, N.

145

Haym, R. 269, 271

Hegel, G.W.F. passim

319

Heidegger, M.

22, 25, 32-47, 69-91,

94, 98, 105, 109-116, 130-148, 165

Heimsoeth, H.

54, 71, 95, 119, 124,

147£., 152, 158, 214, 224

Held, K. 69 Henrich, D.

78ff., 102, 111, 117-124,

145-152, 165f., 174, 190, 199, 215f., 220-229

Krause, K.Chr.Fr. 106 Kreimendahl, L. 99 Kroner, R.

165, 258

Krüger, G.

47£.,67, 71

Krüger, L. 61 Kuhn, H. 271

Landgrebe, L. 132

Heraklit 187 Herbart, J.F. 113, 123

Lauth, R. 91, 122, 257 Leibniz, G.W. 38-41, 55f., 70ff., 219, 227

Herring, H. 71f.

Levy, H. 78

Hoffmeister, J. 245, 296, 299 Hohler, T.P. 93

Lichtenberg, J.Chr. 144

Liber, B. 30

Hölderlin, F. 26, 168, 275-312

Locke, J. 67

Hölscher, U. 282 Holz, H. 202 Hoppe, H.G. 79

Lugarini, L. 153, 167

Horstmann, R.-P.

Lütterfels, W. 64 199, 245, 247

Hösle, V. 300 Hossenfelder, M. 148 Husserl, E. 36, 40, 69, 113, 130-136, 143f., 277

Hyppolite, J. 165

Mach, E. 7, 9, 36, 56ff., 65, 69, 143

Mackie, J.L. 30 Madigan, P.S. 44 Maimon, Sal. 96 Malebranche 54 Maluschke, G. 166 Marcuse, H.

Ilting, K.-H.

104, 234, 243, 298

165

Marquard, ©. 261

Inciarte, F. 98

Marx, We.

Jacobi, F.H. 47, 187f.

McTaggart, J. 40 Merker, N. 166

Jähnig, D.

261, 264, 271

James, W. 9, 143f. Jamme, Chr. 296 Jammer, M. 58

Janıcaud, D. 243 Janich, P. 58

Janke, W. 91, 93, 97, 108, 124

86

Metzinger, T. 10 Meulen, J. van der 165f. Michel, W. 288, 291 Mittelstaedt, P. 59ff. Moore, G.E. 30, 234 More, H. 54 Moreau, J. 43, 64, 69

Müller-Lauter, W. 43, 69

Kant, I. passım Kasper, W.

202

Kaulbach, F. 148 Klein, H.-D. 94, 139 Konhardt, K. 230 Korsgaard, Chr. 31

320

Mure, G.R.G. 170 Nagel, T. 9, 13f. Natorp, P.

102, 117, 130-135, 161

Neschke-Hentschke, A. 237, 243 Newton, I. 38, 40, 52-58, 214

Novalis 263, 271, 269

Schlegel, F. 263, 266-271

O’Neill, O. 31

Scholz, H. 52, 59 Schopenhauer, A. 50, 263 Schrader, W. 102 Schulz, W. 199-202, 273

Oeser, E.

11

Paetzold, H. 300 Palter, R. 53 Paton, H.J. 40-50, 71, 147ff., 153, 215f.

Schmidt, J. 255, 271

Searle, J.R. 11 Seitelberger, F. 11

Paulus, H.G.E. 200 Peperzak, A. 238, 248 Platner, E. 99

Sellars, W. 47 Sherover, Ch.M.

Plato 32, 54, 152ff., 204, 236-246, 261ff. Plotin 146, 187, 195-196

Singer, P. 30

Pöggeler, O. 35, 69, 86, 262-267, 270, 277,299

Popper, K.R.

9, 14, 19, 56, 242

Pothast, U. 111, 117 Proklos 187

Quine, W. vanO.

10

Sıep, L.

79

108, 244

Smith, J.E. 166 Sophokles 276-312 Söring, J. 281 Sperry, R.W. 14 Spinoza, B. 172, 187-192 Stemmrich-Köhler, B. 310 Strawson, P.F. 147f. Szondi, P. 284

Rachels, J. 30

Tetens, J.N. 68 Theunissen, M. 204

Reichenbach, H. 59-65 Reinhardt, K. 277, 281, 293

Tilliette, X.

Reich, K. 121, 147f., 157 Reinhold, C.L.

29, 94, 100, 104, 109,

116, 124, 128, 224f.

Rickert, H.

99, 122, 199-202, 268

Troxler, I.P.V. 190 Tugendhar, E. 31, 111

Tuschling, B. 25

135, 161

Riedel, M. 234, 243, 245

Vaıhinger, H. 40-43, 68, 71

Rorty, R. 10-13 Rosenkranz, K. 164f. Rotenstreich, N. 152, 166-172

Verra, V.

Roth,G. 10

Russell, B. 9, 144 Ryle, G.

112, 131, 144f.

167

Vieillard-Baron, J.L. 243 Vlastos, G. 238 Vleeschauwer, H.J. de 147-148

Walsh, W.H. 44, 48,172 Weizsäcker, C.F. von 59, 61

Sartre, J.-P. 132 Schadewaldt, W. 277 Schäfer, D. 91, 93 Schelling, F.W.J.

164-169, 253-274

Schiller, F. von

23-27, 31, 80f., 95,

101f., 224f., 261-265, 292, 306, 310

Winckelmann, J.J. 265, 304 Wittgenstein, L. 13 Wöhrmann, K.-R. 282 Zeltner, H. 189 Zimbrich, U. 243

32]

Sachregister Absolutes

158-161,

172, 179ff., 207,

246ff., 259, 269-274, 294-298, 301,

304, 312 Allgemeines, Allgemeinheit

31, 42, 54,

61-65, 75£., 93, 115, 126, 163-177, 186, 191, 195-202, 212#f., 222, 232#., 242,

89-110, 151, 165-169, 255ff., 266, 272 Eines 152, 169, 172, 185-197, 204ff., 246, 256, 266-271, 278-283, 302 Einheit 23, 46-50, 81, 85, 102, 148-207, 227, 236ff., 241-249, 258-270, 278-283, 296, 299, 302, 308, 311f.

Einzelnes, Einzelheit

262f., 268f., 278-285, 289, 305

Anschauung

170,

ästhetische 26, 73, 81, 183, 254-260, 270-273, 308

formale 47-52, 71, 74, 81 intellektuelle 72, 94, 102, 105, 113, 119f., 124-129, 138, 158f., 164, 179, 184-190, 206, 226f., 255-272, 286

sinnliche 24ff., 39, 42, 46, 50f., 56, 64,

67, 81, 89ff., 97, 105, 122, 125, 149

198ff.,

26, 95, 153, 157, 211-219,

268, 278, 285ff., 295, 303 Endlichkeit, endlich

236-249,

41, 56, 60f., 67ff.,

83f., 93ff., 105ff., 125ff., 159, 166f., 173 183-192, 201-222, 229ff., 244, 264-267

Erkennen, Erkenntnis

$f., 20ff., 32, 39,

42-86, 95-121, 125-132, 139, 145-207, 214-235, 244, 257ff., 271ff., 286, 293

Faktum 90ff., 98, 100-106, 222, 228ff. Freiheit 29-32, 82, 98, 107f., 120, 158f., 179, 190, 198, 211-235, 244, 248f., 260, 273, 303, 308-311

154-157, 162f., 169-183

Apperzeption (s. auch Ich und Selbstbewußtsein) passım Begriff 39, 46-64, 76, 80, 101, 106, 114120, 127-134, 143ff., 154-159, 170-179,

190-201, 206, 226ff., 234, 247, 271,295

Besonderes, Besonderheit

176,

105, 126,

Geist 8-12, 15-19, 26ff., 32, 98f., 103, 113ff., 129, 134, 167, 183, 260, 288, 293, 296, 304, 312

Gehirn

168, 171, 186ff., 198

Bewußtsein passım

Genie

8-20, 28ff. 26f., 81, 101, 253-274

Geschichte des Selbstbewußtseins 26ff.,

Copula 96, 128, 176 Deduktion,

transzendentale

116, 149, 154, 169ff., 229

Denken

76, 81ff., 98-106, 122, 169, 256f., 272 Glück, Glückseligkeit 30, 260ff., 279ff.

51, 71,

Gott, göttlich 23, 26, 54f., 113, 123-130, 182f., 189, 199-207, 261f., 270-312

18-27, 31, 35, 56, 65, 78, 106-

138, 143-202, 218ff., 260, 270ff., 312

Dialektik 206, 242, 280f., 302f., 307-312

Ich (s. auch Apperzeption, Selbstbewußtsein) passim

Differenz

Idealismus, transzendentaler

103, 134, 155, 176, 186, 192,

196, 199, 280, 302

81, 100f.

Idee

Einbildungskraft 21-26, 46, 66, 73-82,

322

23, 25f.,

54, 116, 127, 168, 182, 198f., 204,

265, 285, 298, 304

Identität 10, 18, 31, 44, 81, 105ff., 117, 143f., 153f., 161, 168-176, 182-206, 227, 254f., 259-273, 279ff., 312

Identitätsphilosophie

182, 189, 200,

204, 267, 2738.

Pantheismus

Imperativ 215-220, 230 Iteration, unendliche 27, 94, 102, 109,

Kategorie 20-24, 46-52, 71, 77-82, 91,

95ff., 101, 114-121, 130, 134, 143-162, 169-180, 184, 195ff., 203ff., 229, 234 Kausalität 18, 51, 56, 62, 65, 82, 96, 153, 173, 197, 214-223, 228-234

Klassık, klassisch

188, 278ff., 294

Person 7f., 13-18, 31, 98, 106-110, 115f., 152, 163, 292ff., 303

Prinzip

111-139, 146, 161, 175-180

19-31, 36, 42, 53-58, 62ff., 80-

102, 116, 120, 130ff., 143, 147f., 157, 160ff., 168f., 178ff., 191-201, 223ff., 229, 242ff., 254ff., 263, 272, 303, 309

Psychologie, psychologisch

20-24, 43, 81ff., 99ff.,

115-129, 143-203, 271, 281, 295, 298

47, 65-69, 75, 93ff., 100, 114, 119f., 143, 158, 166, 261 Raum 36-41, 46-57, 60ff., 68ff., 83, 97, 149, 214 Reflexion 38, 54, 67, 92, 101-109, 117,

120ff., 130ff., 145, 157ff., 169ff., 179, 183#f., 193£., 198, 213ff., 223#f., 232, 274, 282

Romantik, romantisch Mannigfaltiges

24, 43, 45, 51, 55, 67,

72-82, 91ff., 97, 105ff., 115, 121ff., 126, 136, 149-163, 171-178, 187, 260

Metaphysik,

metaphysisch

23, 31f.,

40ff., 54ff., 71, 82, 89, 99, 114, 119ff, 125f., 148ff., 156, 161, 165-175, 179207,

219-232,

294£., 311f.

7-10, 26,

7#f., 20-32, 54, 58,

69, 87, 111, 175, 205f., 212f., 237f., 264-276, 294, 297, 304-308, 311f. Kunst 26, 253-292, 297#., 304-312 Logik, logisch

36, 42-48, 64, 78-90, 105, 114f., 121, 134-139, 145, 148, 156, 161, 174, 179, 190-194, 202f., 221, 242, 248, 259

246ff., 259, 273-278,

Methode, methodisch

9, 23, 62, 93,

129, 181, 185, 191, 195, 198, 206,

274, 297, 304-312

26, 261, 266ff.,

Seiendes 80, 84ff., 118, 126, 136, 145, 149, 156, 173, 181, 200ff., 211, 266 Sein 32ff., 49, 80-86, 107f., 115ff., 135ff., 168, 175ff., 183, 189f., 199ff., 231

Selbstbewußtsein (s. auch Apperzeption, Ich) passim Selbstbewußtseinsmodell

16, 22, 28f.,

9off., 110,113, 118, 128ff.

Selbstbeziehung 28f., 84, 94ff., 101-140,

256ff., 280, 295

153-163, 172-179, 191f., 198ff., 225ff.

Natur 54, 58, 85, 95, 199, 219f., 227, 253-262, 273, 278ff., 291£., 297 Negatıon 56, 172, 193-198

Sittengesetz 31, 108, 212-235, 244 Sittlichkeit 31f., 158, 211, 217, 231, 236f., 240-249, 297-311

Spekulation 182-189 Objekt, Objektivität

10, 22, 27, 32,

36-88, 94-97, 101, 105, 109f., 116ff., 123-179, 198, 226, 249ff., 262-272, 303

Ontologie, ontologisch

11, 19, 23ff.,

Spontaneität

70ff., 81ff., 96, 107, 120,

122, 149ff., 157ff., 163, 171ff., 211-230

Staat 32, 236-249, 278, 297, 301#f. Subjekt, Subjektivität passim

323

Subjekt-Objekt 29, 94, 103-118, 124, 128-139, 165, 201, 226ff. Substanz

32, 42-49, 59, 70, 79f., 105,

114ff., 122, 126, 134, 144, 158, 161f., 167-179, 189-197, 206, 219, 226ff., 246ff., 299ff., 308

Synthesis, synthetisch 23-24, 41ff., 51,

67, 73#f., 81, 91ff., 96, 115-125, 144181, 185, 215, 220, 230, 265

Theologie

31, 181-207, 270

Tragödie, tragisch, Tragik 26, 275-312 Tugend 31, 236-249, 304 Unendlichkeit, unendlich

27, 41ff., 54,

92-97, 102, 107-113, 123, 129ff., 146, 183-186, 197ff., 260-267, 278

Unmittelbarkeit

13ff., 25, 35, 65, 94,

102ff., 109, 113, 119, 123-140, 157ff.,

164, 175ff., 226f., 236, 255ff., 278ff.,

324

293ff., 300-307 Urteil 43, 85, 96,

116f.,

121,

148-181, 202, 218, 253, 265

126ff.,

Urteilskraft 100, 105 Vernunft

25, 81f., 105, 113ff., 201ff.,

212, 218, 222, 230ff., 241, 273

Verstand 25, 27, 47ff., 64, 71-81, 89, 92, 105, 125

Wahrheit 87,113, 170ff., 205, 278, 285 Widerspruch

47, 82, 114, 151, 184, 198,

Wille, Wollen

25-32, 90, 98, 106ff., 120,

206, 280, 295, 225

152, 202f., 211-233, 260, 299-303

Zeit 21ff., 35-88, 96ff., 105, 120, 136, 149, 162, 168, 214, 282ff. Zirkel 20, 27, 114ff., 125, 146ff., 161ff., 174-180, 216ff., 231, 272