Predigt als Vermittlung: Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten 3110318008, 9783110318005, 9783110414158, 9783110414264

Die vorliegende Arbeit untersucht, inwiefern den Predigten des jungen Schleiermacher Bedeutung für Schleiermachers theol

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Predigt als Vermittlung: Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten
 3110318008, 9783110318005, 9783110414158, 9783110414264

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung und Vorbemerkungen
I.1 Zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund
I.2 Erste Präzisierung der Fragestellung
I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung
I.3.1 Zu Quellenlage und Auswahl der exemplarisch analysierten Quellen
I.3.2 Zur Predigtanalyse
I.3.3 Zur Auswahl der für die inhaltliche Untersuchung der ersten Predigten relevanten sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen bzw. praktisch-philosophischen Aspekte
I.4 Zum Begriff der „Vermittlung“
II. Predigtanalysen: Bedeutung von Theologie und Philosophie für Schleiermachers erste Predigten anhand der in diesen Predigten vorliegenden ethischen Konzeption (1789/90 bis zu seiner Ordination am 6. April 1794)
II.1 Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie
II.1.1 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312: „Wie derjenige beschaffen sein müsse, bei dem wahre Sinnesänderung und Besserung möglich sein soll“ zum Text Lk 5,29–32, „Probepredigt zur Ersten theologischen Prüfung“ bzw. Examenspredigt, gehalten am 15.07. 1790
II.1.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt
II.1.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation
II.1.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt
II.1.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt
II.1.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention
II.1.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt
II.1.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens
II.1.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen
II.1.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens-)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen
II.1.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten
II.1.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes
II.1.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion
II.1.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt
II.1.1.7.1 Das Streben nach Vollkommenheit
II.1.1.7.2 Zur Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation
II.1.1.7.3 Cognitio hominis
II.1.1.7.4 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung
II.1.2 Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum, das Verhältnis zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie betreffend
II.2 Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Theologie der Aufklärung
II.2.1 Predigt Nr. 14 bzw. P 311: Die Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zum Text Joh 16,23, vermutlich auf Sonntag Rogate, 09. 05.1790 zu datieren
II.2.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt
II.2.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation
II.2.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt
II.2.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt
II.2.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention
II.2.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt
II.2.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens
II.2.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen
II.2.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens-)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen
II.2.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten
II.2.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes
II.2.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion
II.2.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt oder „‚ob ein Deist […] Prediger sein könne‘“
II.2.1.7.1 Bezüge Schleiermachers zum Spaldingschen Gebetsverständnis
II.2.1.7.1.1 Johann Joachim Spaldings „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zum Predigttext Joh 16,23–30
II.2.1.7.1.2 Vergleich der Schleiermacherschen mit der Spaldingschen Gebetspredigt
II.2.1.7.2 Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext deistischen Gedankengutes
II.2.1.7.3 Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings Religionstheologie
II.2.1.7.4 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung
II.2.2 Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum
II.3 Schleiermachers erste Predigten im Kontext seiner frühen philosophischen Studien und literarischen Unternehmungen
II.3.1 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319: Die Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zum alttestamentlichen Predigttext Ps 90,10, Neujahrspredigt, gehalten am 01. 01.1792
II.3.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt
II.3.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation
II.3.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt
II.3.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt
II.3.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention
II.3.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt
II.3.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens
II.3.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen
II.3.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens-)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen
II.3.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten
II.3.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes
II.3.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion
II.3.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt
II.3.1.7.1 Vergleich mit der Philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“
II.3.1.7.1.1 Einleitender Teil des philosophischen Fragments
II.3.1.7.1.2 Erster Teil des Hauptteils des philosophischen Fragments: „Wie vermag also das Leben […] meine Sehnsucht nach Glükseligkeit und Wolseyn zu stillen?“
II.3.1.7.2 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung
II.3.2 Einbeziehung zweier inhaltlich nahestehender Predigten und Rückschlüsse auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten
III. Zu den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung
IV. Predigt als Vermittlung: Ausblick auf die gegenwärtige Homiletik
V. Anhang: Liste der ersten Predigten Schleiermachers
VI. Literaturverzeichnis
VI.1 Quellen
VI.2 Hilfsmittel, Lexika, Lehr- und Handbücher sowie geschichtliche Überblickswerke
VI.3 Biographien
VI.4 Monographien
VI.5 Aufsätze und Aufsatzsammlungen, Lexikonartikel
Personenregister

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Dorothee Godel Predigt als Vermittlung

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 171

Dorothee Godel

Predigt als Vermittlung Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten

DE GRUYTER

Die vorliegende Untersuchung wurde 2012 als Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen.

ISBN 978-3-11-031800-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041415-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041426-4 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Meinen Eltern und Geschwistern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die für den Druck überarbeitete Fassung der Dissertation, die im Wintersemester 2011/2012 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Fach Praktische Theologie angenommen wurde. Das Werden und Entstehen eines Buches verdankt sich vielen Umständen, nicht zuletzt den Menschen, die diesen Prozess begleiten. Im vorliegenden Fall ist an dieser Stelle zuallererst der am Karsamstag 2013 verstorbene Prof. Dr. Volker Drehsen zu nennen, der die Entstehung dieser Untersuchung lange Zeit geduldig und mit fachkundigem Blick begleitete. Ihm gilt mein besonderer Dank. Ohne die Zeit als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl wäre die vorliegende Arbeit nicht entstanden. Frau Prof.in Dr. Birgit Weyel sei herzlich für die selbstverständliche und unkomplizierte Übernahme des Erstgutachtens gedankt, Herrn Prof. Dr. Friedrich Hermanni für das systematisch-theologische Zweitgutachten. Schon in einer frühen Phase der Arbeit waren die Anregungen eines Wittenberger Schleiermacher-Symposions für mich hilfreich. Frau Elisabeth Blumrich danke ich für den Hinweis auf den Fundort der Autographen der hier untersuchten Predigten in der Staatsbibliothek zu Berlin. Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel, Herrn Prof. Dr. Bruce McCormack und Frau Prof.in Dr. Friederike Nüssel danke ich sehr für die Aufnahme der vorliegenden Arbeit in die Reihe der Theologischen Bibliothek Töpelmann. Herrn Stefan Selbmann, Herrn Dr. Albrecht Döhnert, Frau Kathrin Mittmann und Frau Angelika Hermann vom Verlag De Gruyter sei herzlich für die unkomplizierte und freundliche Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung gedankt. Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg danke ich sehr für einen Druckkostenzuschuss zur Veröffentlichung dieser Arbeit. Ein sehr herzlicher Dank gilt darüber hinaus den Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten im Theologischen Dezernat des Evangelischen Oberkirchenrats Stuttgart. Klaglos wurde mir mehrfach ermöglicht, meinen Urlaub anzusammeln und dem Fachreferat Ethik und Weltanschauung zugunsten längerer wissenschaftlicher Arbeitsphasen fernzubleiben. Frau Illy danke ich sehr herzlich für den entsprechenden Hinweis, als es bzw. dass es an der Zeit war, die Doktorarbeit abzuschließen. Für die Unterstützung beim Korrekturlesen danke ich herzlich Frau Pfarrerin Gundula Reinshagen, Frau Susanne Müller danke ich sehr herzlich für die Bereitschaft, die Korrektur des gesamten Manuskripts zu übernehmen. Ihrer Umsicht hat diese Veröffentlichung auch in anderer Hinsicht vieles zu verdanken. Mein herzlicher Dank gilt schließlich auch allen bisher nicht Genannten, die mich in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit durch ihre Fragen und ihr Interesse, durch Anregungen und Kommentare begleitet und unterstützt haben. Gewidmet

VIII

Vorwort

ist dieses Buch meinen Eltern und Geschwistern, auf deren Unterstützung in vielerlei Hinsicht ich mich jederzeit verlassen konnte. Kirchentellinsfurt, im Februar 2015

Dorothee Godel

Inhalt I. Einleitung und Vorbemerkungen 1 I. Zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund 1 I. Erste Präzisierung der Fragestellung 5 I. Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung 10 I.. Zu Quellenlage und Auswahl der exemplarisch analysierten Quellen 12 I.. Zur Predigtanalyse 18 I.. Zur Auswahl der für die inhaltliche Untersuchung der ersten Predigten relevanten sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen 24 bzw. praktisch-philosophischen Aspekte 25 I. Zum Begriff der „Vermittlung“ II. Predigtanalysen: Bedeutung von Theologie und Philosophie für Schleiermachers erste Predigten anhand der in diesen Predigten vorliegenden ethischen Konzeption (1789/90 bis zu seiner Ordination am 6. April 1794) 29 II. Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Eber29 hardschen und Kantischen Praktischen Philosophie II.. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312: „Wie derjenige beschaffen sein müsse, bei dem wahre Sinnesänderung und Besserung möglich sein soll“ zum Text Lk 5,29 – 32, „Probepredigt zur Ersten theologischen Prüfung“ bzw. Examenspredigt, gehalten am 31 15. 07. 1790 II... Zum historisch-biographischen Ort der Predigt 31 II... Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation 38 II... Zu Inhalt und Struktur der Predigt 39 II... Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt 48 II... Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention 49 II... Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt 51 II.... Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens 51 II.... Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen 52 II.... Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen 55 II.... Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten 58

X

II.... II.... II... II.... II.... II.... II.... II..

II. II..

II... II... II... II... II... II... II.... II.... II.... II.... II.... II.... II... II....

Inhalt

Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glück59 seligkeit und des Höchsten Gutes Das Verhältnis von Tugend und Religion 60 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt 62 62 Das Streben nach Vollkommenheit Zur Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation 82 Cognitio hominis 90 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende 96 Predigt – eine Verhältnisbestimmung Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum, das Verhältnis zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie 104 betreffend Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Theologie der Aufklärung 116 Predigt Nr. 14 bzw. P 311: Die Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zum Text Joh 16,23, vermutlich auf 118 Sonntag Rogate, 09. 05. 1790 zu datieren Zum historisch-biographischen Ort der Predigt 118 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen 122 Redesituation Zu Inhalt und Struktur der Predigt 122 134 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention 137 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt 138 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens 138 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen 141 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen 144 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten 152 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes 153 Das Verhältnis von Tugend und Religion 156 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt oder „‚ob ein Deist […] Prediger sein könne‘“ 158 Bezüge Schleiermachers zum Spaldingschen Gebetsverständnis 162

Inhalt

XI

II..... Johann Joachim Spaldings „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zum Predigttext Joh 16,23 – 163 30 II..... Vergleich der Schleiermacherschen mit der Spaldingschen Gebetspredigt 171 II.... Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext 182 deistischen Gedankengutes II.... Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings 200 Religionstheologie II.... Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende 233 Predigt – eine Verhältnisbestimmung II.. Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum 238 II. Schleiermachers erste Predigten im Kontext seiner frühen philoso240 phischen Studien und literarischen Unternehmungen II.. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319: Die Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zum alttestamentlichen Predigttext 240 Ps 90,10, Neujahrspredigt, gehalten am 01. 01. 1792 II... Zum historisch-biographischen Ort der Predigt 240 II... Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation 243 243 II... Zu Inhalt und Struktur der Predigt II... Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt 256 II... Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und 262 Predigtintention II... Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt 264 II.... Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens 264 II.... Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen 272 II.... Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen 280 II.... Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten 291 II.... Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes 293 II.... Das Verhältnis von Tugend und Religion 297 II... Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt 300 II.... Vergleich mit der Philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ 302 II..... Einleitender Teil des philosophischen Fragments 306

XII

Inhalt

II..... Erster Teil des Hauptteils des philosophischen Fragments: „Wie vermag also das Leben […] meine Sehnsucht nach Glükseligkeit 330 und Wolseyn zu stillen?“ II.... Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung 360 II.. Einbeziehung zweier inhaltlich nahestehender Predigten und Rückschlüsse auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie in 366 Schleiermachers ersten Predigten III. Zu den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung

377

IV. Predigt als Vermittlung: Ausblick auf die gegenwärtige Homiletik V.

Anhang: Liste der ersten Predigten Schleiermachers

383

389

VI. Literaturverzeichnis 393 393 VI. Quellen VI. Hilfsmittel, Lexika, Lehr- und Handbücher sowie geschichtliche Überblickswerke 397 VI. Biographien 398 398 VI. Monographien VI. Aufsätze und Aufsatzsammlungen, Lexikonartikel 401 Personenregister

405

I. Einleitung und Vorbemerkungen Die folgende Untersuchung ist ein Stück Interpretationsarbeit. Sie geht davon aus, dass Schleiermachers erste Predigten wie alle Kunstwerke im Bereich der religiösen Rede bzw. Predigt nicht nur unmittelbar und sozusagen ohne weitere Umwege im direkten Hören oder Lesen wahr- und aufgenommen werden können, sondern durch die vermittelnde Interpretation oder Analyse an Tiefe und Aussagekraft gewinnen. Insofern liegt der folgenden Untersuchung die These zugrunde, dass gute bzw. dem Sujet angemessene Interpretation die Bedeutung des Werkes nicht einschränkt, sondern neue Bedeutungsräume und neues Verstehen erschließt.¹

I.1 Zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund Die Bedeutung, die den (frühen) Predigten² Schleiermachers in Hinblick auf sein theologisches und philosophisches Denken zukommt, und damit die inhaltliche Relevanz der Schleiermacherschen Predigten ist umstritten. Christoph Meier-Dörken weist in seiner Monographie „Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers“ darauf hin, dass kein Geringerer als Karl Barth auf die theologische Relevanz der Schleiermacherschen Predigten aufmerksam machte. Denn Barth legte seiner 1923/24 gehaltenen Göttinger Vorlesung über „Die Theologie Schleiermachers“ dessen Predigten zugrunde.³ Diese theologische

 Susan Sontag problematisiert in ihrem Essay „Gegen Interpretation (Against Interpretation)“, dass die die Form zugunsten des Inhalts eines Kunstwerks vernachlässigende Interpretation oder „Übersetzungsarbeit“ (Susan Sontag: Gegen Interpretation [Against Interpretation], in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Deutsch von Mark W. Rien, Frankfurt a. M., 8. Aufl. 2006 [1. Aufl. München/Wien 1980] [Sontag: Interpretation], S. 13) den unmittelbaren Zugang zu einem Kunstwerk verstellt oder zumindest verändert. In diesem Zusammenhang kann sie die zeitgenössische Kunstinterpretation bzw. -kritik als „Rache des Intellekts an der Welt“ bezeichnen: „Interpretieren heißt die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der ‚Bedeutungen‘ zu errichten“ (Sontag: Interpretation, S. 15). Gegen diese Problematisierung der Interpretation wird im Folgenden vertreten, dass alle Kunstwerke nicht nur der unmittelbaren, immer individuell bleibenden Wahrnehmung bedürfen, sondern dass eine menschlicherseits adäquate Wahrnehmung der „Sache selbst“ (vgl. Sontag: Interpretation, S. 22) immer auch der gemeinschaftlich vermittelten und das heißt interpretierenden Kommunikation bedarf.  Eine unterscheidende Definition der beiden im Folgenden verwendeten Kategorien der „frühen“ und der „ersten“ Schleiermacherschen Predigten findet sich unten in Abschnitt I.3.1.  Vgl. Christohph Meier-Dörken: Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers (Theologische Bibliothek Töpelmann 45), Berlin/New York 1988 [Meier-Dörken: Theologie], S. 2.

2

I. Einleitung und Vorbemerkungen

Hochschätzung der Schleiermacherschen Predigten führte jedoch zu einer Kontroverse Barths mit Emil Brunner,⁴ der Schleiermachers Predigten für „biographisch ebenso hochbedeutend, als […] theologisch unbrauchbar“ hielt.⁵ Den Grund für diese Beurteilung sah Brunner darin gegeben, dass Schleiermacher nicht nur in seinem wissenschaftlich-theologischen System, sondern erst recht in seinen Predigten „die Beibehaltung der überlieferten kirchlichen Ausdrücke liebt[e]“, obwohl diese Vorgehensweise laut Brunner lediglich auf einem symbolischen Verständnis dieser Ausdrücke seitens Schleiermachers beruhte und von diesem zudem nur zur Verfolgung eines „pädagogisch-kirchlichen Zweck[s]“ eingesetzt wurde.⁶ Die Brisanz dieses Urteils liegt darin, dass Schleiermachers symbolisches Verständnis der kirchlichen Lehraussagen für Brunner auf einen „theologische[n] Agnostizismus“ zurückzuführen war, „der zur Identitätslehre Schleiermachers gehört“.⁷ Dieses „identitätsphilosophisch-mystische[…] System“ aber hatte sich Brunner zufolge gegen das konkurrierende Element des christlichen Glaubens in Person und theologischem Werk Schleiermachers durchgesetzt. Festzuhalten ist damit, dass sowohl Brunners Beurteilung der „wissenschaftlichen Theologie“ Schleiermachers als auch seine Ablehnung der theologischen Relevanz der Schleiermacherschen Predigten auf einer hermeneutischen Prämisse beruhen. Dieser hermeneutischen Prämisse zufolge befinden sich in Schleiermachers

Das erste Kapitel der Barthschen Vorlesung über „Die Theologie Schleiermachers“ ist Schleiermachers Predigt bzw. Predigten gewidmet, erst das zweite Kapitel behandelt unter der Überschrift „Die Wissenschaft“ Schleiermachers Enzyklopädie, Hermeneutik, Glaubenslehre und schließlich die „Reden über die Religion“ (vgl. Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, hg.v. Dietrich Ritschl [Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke 1923/24], Zürich 1978 [Barth: Theologie Schleiermachers], S. Vf. und S. 10 f. [kursiv Gedrucktes ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben]). Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch die eigene Aussage des späten Barth: „Es hat m. W. vor und nach mir niemand den Versuch gemacht, Schleiermacher von seinen Predigten her zu interpretieren.“ (Vgl. Karl Barths Nachwort in: Schleiermacher-Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl Barth [Siebenstern-Taschenbuch 113/ 114], München u. Hamburg 1968, S. 297).  Grundlegend für diese Kontroverse sind, ausgehend von Barths Göttinger Schleiermachervorlesung, Emil Brunners Buch zur Theologie Schleiermachers sowie Karl Barths Replik darauf in der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“: Emil Brunner: Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, 2., stark veränderte Aufl., Tübingen 1928 (1. Aufl. 1924) [Brunner: Mystik und Wort] und Karl Barth: Brunners Schleiermacherbuch, in: Zwischen den Zeiten (Heft VIII, 1924), S. 49 – 64.  Vgl. Brunner: Mystik und Wort, S. 366.  Vgl. Brunner: Mystik und Wort, S. 362 f. [Hervorh. i. Orig.].  Vgl. Brunner: Mystik und Wort, S. 363.

I.1 Zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund

3

Person und Werk zwei gänzlich miteinander unvereinbare, „heterogene Elemente“ bzw. „zwei sich widerstreitende Grundanschauungen“ im Kampf miteinander: auf der einen Seite Schleiermachers „identitätsphilosophisch-mystisches System“, auf der anderen Seite Schleiermachers christlicher Glaube.⁸ Christoph Meier-Dörkens detaillierte Darstellung der „Interpretationsgeschichte der Predigten Schleiermachers“⁹ bis in die 1980er Jahre lässt denn auch erkennen, dass im Grunde jegliche der in der Forschungsgeschichte zahlreichen Unterscheidungen eines „‚Exoterismus‘ bzw. ‚Esoterismus‘ der (frühen) Predigten Schleiermachers“, welcher Variation auch immer, letzten Endes auf die Überzeugung zurückzuführen ist, dass in Schleiermacher bzw. in seinem Werk eine Unvereinbarkeit zweier widerstreitender Elemente, einerseits eines eher christlich-religiösen bzw. -theologischen, andererseits eines eher philosophisch geprägten, zu erkennen sei.¹⁰ Die Konsequenz dieser Überzeugung ist regelmäßig die  Vgl. Brunner: Mystik und Wort, S. 365.  Meier-Dörken: Theologie, S. 1.  Vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 3 – 6, das Zitat befindet sich auf S. 3. Aus der Fülle der bei Meier-Dörken dargestellten Positionen sei exemplarisch auf Erwin Quapp und Paul Seifert verwiesen. Quapp wirft dem frühen Schleiermacher letztlich „homiletische Unredlichkeit“ (vgl. Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794 [SchlA 5], Berlin/New York 1988 [Meckenstock: Deterministische Ethik], S. 12) bzw. „intellektuelle[…] Unredlichkeit“ vor, da er seinen „Spinozismus“ nur in einigen wenigen Fällen in seinen Predigten bekenne (vgl. Erwin H. U. Quapp: Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten [Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 6], Göttingen 1972, S. 246 f., die Zitate befinden sich auf S. 246). Paul Seifert kann dem „Exoterismus“ der Schleiermacherschen Predigten einen „Exoterismus“ der Reden über die Religion gegenüberstellen. Das „Esoterische“, i.e. die „eigentlichen Elemente der Religion“ (in Anknüpfung an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2 [Schleiermacher: Über die Religion], 276, 8 – 15) könne demnach in den Reden über die Religion immerhin „ziemlich ungehindert“ geäußert werden, während der Prediger sich in den Predigten schwerpunktmäßig den exoterischen Erwartungen der Predigtgemeinde anzupassen habe (vgl. Paul Seifert: Die Theologie des jungen Schleiermacher [Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 49], Gütersloh 1960 [Seifert: Theologie], S. 118). So rücke Schleiermacher denn auch in den Predigten „das moralische Element […] bewußt als Fremdelement in den Vordergrund“ (vgl. Seifert: Theologie, S. 123). Die zugrunde liegende Begrifflichkeit des „Exoterismus“ und „Esoterismus“ geht auf eine Unterscheidung Schleiermachers selbst zurück. In einem Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann vom 14. Dezember 1803 formuliert Schleiermacher in Bezug auf die Herrnhuter: „Wirklich bin ich überzeugt daß die Herrnhuter, von denen der Mühe werth ist zu reden, recht guten Grund haben in der Religion nur freilich in der Theologie und Christologie ist er sehr schlecht; aber das ist ja das Exoterische.“ (Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Briefwechsel 1803 – 1804 [Briefe 1541– 1830], hg.v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond [KGA V/7], Berlin/New York 2005 [KGA V/7], Brief 1612, 52– 56, in: KGA V/7, S. 152). Schleiermacher stellt hier also der Religion auf der einen Seite Theologie und

4

I. Einleitung und Vorbemerkungen

Ablehnung einer maßgeblichen inhaltlichen Relevanz der (frühen) Schleiermacherschen Predigten für Schleiermachers theologisches und philosophisches Gesamtwerk. Einen anderen Weg des Umgangs mit der inhaltlichen Relevanz der (frühen) Predigten Schleiermachers wählen beispielsweise Eilert Herms und Günter Meckenstock. So unterschiedlich auch ihre Beurteilung insbesondere der in Schleiermachers Werk fortwirkenden philosophischen Traditionen ausfällt,¹¹ ziehen sie doch beide Schleiermachersche Predigten als ergänzende Quellen zur Untersuchung des Werdens und Entstehens des theologischen und philosophischen Gesamtwerkes Schleiermachers hinzu.¹² Christoph Meier-Dörken schließlich widmet seine Monographie explizit der Untersuchung der Theologie der frühen Schleiermacherschen Predigten und lässt dadurch deren inhaltlich-theologische Relevanz ganz offensichtlich zum Tragen kommen.¹³ Christologie auf der anderen Seite gegenüber, in der Interpretationsgeschichte der Schleiermacherschen Predigten aber werden sehr unterschiedliche Formen des „Exoterismus“ oder „Esoterismus“ als Interpretamente verwendet. Der abschließenden Feststellung Meier-Dörkens, „daß dieses Begriffsschema hermeneutisch unbrauchbar ist“ (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 3 f.), ist schon aus diesem Grund uneingeschränkt zuzustimmen.  Näheres dazu findet sich in Kapitel I.2.  Vgl. Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974 [Herms: Herkunft], S. 112– 117 und Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 168 – 180.  Eine vergleichbare theologische Hochschätzung, allerdings der späten Predigten Schleiermachers, findet sich beispielsweise bei Emanuel Hirsch: Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien, Gütersloh 1968 [Hirsch: Christusglaube]. Hirsch untersucht hier in einer Studie „Schleiermachers Oster- und Himmelfahrtspredigt“ anhand von Oster- und Himmelfahrtspredigten aus den beiden als „Christliche Festpredigten“ veröffentlichten Predigtbänden, eine weitere Studie ist, ebenfalls anhand von Predigten aus der Sammlung der „Christlichen Festpredigten“, „Schleiermachers Predigt von Jesu Sterben am Kreuz“ gewidmet (Hirsch: Christusglaube, S. 53 und S. 81). Hirsch kommt hier im „Vergleich mit den […] Vorlesungen Schleiermachers über das Leben Jesu von 1832“ beispielsweise zu dem Ergebnis, „daß Schleiermacher über die übliche, alle vier Evangelien zu einem einheitlichen Bericht zusammenstellende Evangelienharmonie nur bei geringfügigen Punkten in den Vorlesungen anders urteilt als in den Predigten“ (Hirsch: Christusglaube, S. 81). Ebenfalls an dieser Stelle zu nennen wäre eine Monographie Bernd-Holger Janssens, der, allerdings von dem zugrunde liegenden philosophisch-theologischen System ausgehend, Schleiermachersche Weihnachtspredigten auf deren dogmatische Inhalte hin untersucht und die Übereinstimmungen sowie Besonderheiten dieser Predigten im Vergleich beispielsweise zu den beiden Auflagen der Glaubenslehre herausarbeitet (vgl. Bernd-Holger Janssen: Die Inkarnation und das Werden der Menschheit. Eine Interpretation der Weihnachtspredigten Friedrich Schleiermachers im Zusammenhang mit seinem philosophisch-theologischen System [Marburger Theologische Studien 79], Marburg 2003). Zu ergänzen wäre, dass implizit bereits bei Wolfgang Trillhaas ein Plädoyer für die inhaltlich-theologische Relevanz der Schleiermacherschen Predigten zu finden ist, wenn er beispielsweise ganz allgemein zu äußern vermag:

I.2 Erste Präzisierung der Fragestellung

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In der neuesten Forschungsgeschichte wird die Bedeutung zumindest der philosophisch-inhaltlichen Relevanz der (frühen) Schleiermacherschen Predigten wieder zurückhaltender beurteilt. So zieht Peter Grove beispielsweise in seiner umfassenden Untersuchung der Schleiermacherschen „Philosophie der Religion“ im Kontext der Frage nach den philosophischen Anfängen Schleiermachers zwar vereinzelt auch Predigten hinzu,¹⁴ gibt andererseits aber grundlegend zu bedenken, dass „[d]ie Predigten […] unter anderen Voraussetzungen geschrieben“ seien „als die systematischen Arbeiten“ und daher „nicht zur primären Grundlage der Bestimmung der prinzipiellen moralphilosophischen Position Schleiermachers gerechnet werden“ könnten.¹⁵

I.2 Erste Präzisierung der Fragestellung Als erste Präzisierung der Fragestellung ist zu benennen, dass eine Beurteilung der inhaltlichen Relevanz der ersten Schleiermacherschen Predigten¹⁶ aufgrund des sich aus deren sittlich-religiösen bzw. sittlich-theologischen¹⁷ und praktisch-

„Jeder Prediger hat eine Christologie, welche der Dogmatiker in der Predigt auffinden und dogmatisch beurteilen kann.“ (Vgl.Wolfgang Trillhaas: Schleiermachers Predigt, Berlin/New York, 2., um ein Vorwort erg. Aufl. 1975 [Trillhaas: Schleiermachers Predigt], S. 29). In der Einleitung zu seiner Monographie stellt Trillhaas andererseits allerdings fest, dass „die Entwicklung des Predigers Schleiermacher gegenüber der theoretischen Entwicklung […] durchaus ihre eigene Logik“ habe, und kommt daher zu dem Schluss, dass – übrigens explizit in Abgrenzung von Brunner – Schleiermachers Predigten zunächst einmal „für sich selbst“ genommen und untersucht werden müssen (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 4). Christoph Meier-Dörken sieht dennoch in den in diesem Zusammenhang ausgeführten Überlegungen Trillhaas: „Wichtige theoretische Wandlungen finden – begreiflicherweise – in den Predigten keinen Niederschlag; manche christlichen Anschauungen sind hier hinwiederum deutlicher als z. B. in der Glaubenslehre und ohne Sinnverhüllung ausgesprochen“ (Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 4) eine „gefährliche Nähe“ zu Emil Brunners These gegeben (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 9, Anm. 22).  Vgl. z. B. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion (Theologische Bibliothek Töpelmann 129), Berlin/New York 2004 [Grove: Deutungen], S. 25 und S. 58, Anm. 166.  Vgl. Grove: Deutungen, S. 39, Anm. 81.  Mit den ersten Predigten Schleiermachers ist das Konvolut Schleiermacherscher Predigten gemeint, das 15 ausformulierte Predigten aus den Jahren 1789 bis 1794 enthält. Weiteres, insbesondere Literatur- und Besitzhinweise sind in Abschnitt I.3.1 der vorliegenden Untersuchung zu finden.  Voraussetzung dieses Gebrauchs der Kategorien „sittlich-religiös“ und „sittlich-theologisch“ ist, dass die hier untersuchten Inhalte der Schleiermacherschen ersten Predigten sowohl dem Bereich der Religion, also der religiösen Praxis, zugeordnet werden können, als auch dem Bereich der wissenschaftlichen, die religiöse Praxis reflektierenden, theologischen Theorie. Ausführlicher

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

philosophischen oder ethischen Aussagen ergebenden Verhältnisses von Theologie und Philosophie in diesen Predigten erfolgen sollte. Aus den bereits genannten Positionen der Forschungsgeschichte zur Beurteilung der Bedeutung der inhaltlichen Relevanz der (frühen) Schleiermacherschen Predigten geht hervor, dass die jeweilige Beurteilung ganz wesentlich damit zusammenhängt, wie das Verhältnis des einerseits in diesen Predigten festzustellenden christlich-religiösen bzw. -theologischen Elementes zu dem andererseits begegnenden philosophischen Element verstanden und beschrieben wird. Die Annahme einer gänzlichen Unvereinbarkeit dieser beiden Elemente, zusammengenommen mit derjenigen der Vorherrschaft der philosophischen Seite über die theologische, führt beispielsweise regelmäßig dazu, dass die theologische Relevanz der (frühen) Schleiermacherschen Predigten bestritten wird. Ein Votum wie Peter Groves, dass die (frühen) Predigten, da sie „unter anderen Voraussetzungen geschrieben“ seien „als die systematischen Arbeiten“, zu einer „Bestimmung der prinzipiellen moralphilosophischen Position Schleiermachers“ nicht herangezogen werden könnten, insinuiert dagegen umgekehrt, dass die philosophischen Inhalte dieser Predigten hinter deren christlich-religiösem bzw. -theologischem Element so weit zurücktreten, dass sie nicht mehr in Reinform erkenntlich sind.¹⁸ Um Aussagen über die inhaltliche Relevanz der ersten Schleiermacherschen Predigten treffen zu können – sei es nun in theologischer oder in philosophischer Hinsicht – wird man daher nicht umhin können, diese Predigten erst einmal als selbständige Größen¹⁹ wahrzunehmen und sie ohne eine hermeneutische Vorentscheidung in Bezug auf das in ihnen vorliegende Verhältnis von Theologie und Philosophie auf genau dieses hin zu untersuchen. Liegen hier tatsächlich konkurrierende und miteinander unvereinbare Grundanschauungen – eine christlichreligiöse bzw. -theologische und eine philosophische – vor oder treten hier lediglich, bildlich gesprochen, die zusammengehörigen Pole oder „Brennpunkte“ einer „Ellipse“ zum Vorschein, wie es auch für das übrige Werk Schleiermachers charakteristisch ist?²⁰ Erst das Ergebnis einer solchen Untersuchung wird Aus-

und mit relevanten Literaturhinweisen versehen wird dies reflektiert in Anm. 1683 der vorliegenden Untersuchung.  Vgl. Grove: Deutungen, S. 39, Anm. 81.  In diesem Punkt ist Trillhaas zu folgen (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 4).  Hans-Joachim Birkner benennt in seiner grundlegenden Erläuterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in Schleiermachers Werk „drei Haupttypen der Interpretation“, die sich danach einteilen lassen, „ob das Verhältnis der Theologie zur Philosophie in Schleiermachers Werk als ein solches der Unabhängigkeit, der Abhängigkeit oder der Vermittlung bestimmt wird.“ (Vgl. Hans-Joachim Birkner: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schlei-

I.2 Erste Präzisierung der Fragestellung

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kunft darüber geben können, inwiefern den untersuchten Predigten im Vergleich zum wissenschaftlichen Werk Schleiermachers eine theologische bzw. philosophische Relevanz zukommt.²¹ Da das philosophische Element zur Beurteilung der interessierenden Fragestellung also nicht außer Acht gelassen werden kann, ergibt sich als ein weiterer Aspekt der Fragestellung eine materialphilosophische Untersuchung der zugrunde liegenden Predigten. Der Blick auf die Forschungsgeschichte zum Schleiermacherschen Frühwerk informiert darüber, dass hier insbesondere zwei verschiedene Ansätze der Interpretation zur Diskussion stehen.²² Auf der einen Seite gilt im Gefolge von Wilhelm Dilthey die Bedeutung der Schleiermacherschen Kant-Rezeption als grundlegendes Interpretament des Schleiermacherschen

ermacher-Interpretation [Theologische Existenz heute 178], München 1974 [Birkner: Theologie und Philosophie], S. 13 [Hervorh. i. Orig.], auch in: ders.: Schleiermacher-Studien. Mit einer Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners v. Arnulf von Scheliha, eingeleitet u. hg.v. Hermann Fischer [SchlA 16], Berlin/New York 1996, S. 163 f.). Birkner selbst kommt zu dem Schluss, dass „die inhaltliche Unabhängigkeit der christlichen Religion und ihrer Darstellung in religiöser Rede und Lehre von spekulativer Begründung“ für Schleiermachers Werk charakteristisch ist, dass „dabei aber die ‚Zusammenstimmung‘ von philosophischem Gottesgedanken und dogmatischer Entfaltung des christlichen Gottesglaubens ausdrücklich voraus[zusetzen]“ ist (vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, S. 44). Das Bild der „Ellipse“ mit ihren beiden „Brennpunkten“ geht auf eine briefliche Äußerung Schleiermachers selbst zurück (vgl. den undatierten Brief Schleiermachers an Friedrich Heinrich Jacobi aus dem Jahr 1818 in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg.v. Ludwig Jonas u.Wilhelm Dilthey, Bd. 2, Berlin, 2. Aufl. 1860, S. 349 – 353), ist dort aber auf das Verhältnis von Verstand und Gefühl zu beziehen (vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, S. 35 f.). Die nicht ganz überzeugende These einer Unvereinbarkeit des theologischen und des philosophischen Elementes in der ersten Auflage der „Reden über die Religion“ findet sich bei Friedrich Hertel. Hertel zufolge ist „Schleiermacher der Meinung, dass die philosophische Bemühung seiner Zeit das Menschliche des Menschen nicht erfasst – ja, es bedroht und gefährdet. Aus dieser tieferen Notwendigkeit heraus“ werde „Schleiermacher Theologe und nicht Philosoph“ (Friedrich Hertel: Das theologische Denken Schleiermachers untersucht an der ersten Auflage seiner Reden „Über die Religion“ [Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie 18], Zürich/Stuttgart 1965, S. 180).  Die Vorgehensweise Christoph Meier-Dörkens, die letztlich darauf zielt, die „systematischtheologischen Schwerpunkte[…]“ der frühen Predigten Schleiermachers zu erarbeiten (vgl. MeierDörken: Theologie, S. 8), reicht daher aufgrund ihrer Konzentration auf den theologischen Bereich zur Beurteilung der Frage nach der inhaltlichen Relevanz und Aussagekraft dieser Predigten streng genommen noch nicht aus.  Vgl. Grove: Deutungen, S. 25 f. Eine grundlegende Darstellung der Forschungsgeschichte (bis in das Jahr 1986) der Interpretation des Schleiermacherschen (Früh‐)Werks findet sich bei Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 1– 18. Herangezogen werden könnte an dieser Stelle aber auch Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Jugendschriften 1787– 1796, hg.v. Günter Meckenstock (KGA I/1), Berlin/New York 1984 [KGA I/1], S. XVIIIf.

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

(Früh‐)Werks, hier wäre beispielsweise auch Günter Meckenstocks Untersuchung einzuordnen.²³ Auf der anderen Seite wird von Eilert Herms und im Anschluss an Herms von Bernd Oberdorfer die prägende und bleibende Bedeutung der Halleschen Schulphilosophie, vermittelt durch Schleiermachers philosophischen Lehrer Johann August Eberhard, zur Grundlage eines angemessenen Verständnisses des Schleiermacherschen (Früh‐)Werkes gemacht.²⁴ Peter Grove schließlich kommt zu dem Schluss, „[d]aß es in Schleiermachers frühesten Arbeiten um bewußte Vermittlung von Schulphilosophie und Kantianismus geht“.²⁵ Einer Untersuchung dieser materialphilosophischen Fragestellung ist in der vorliegenden Arbeit schwerpunktmäßig Kapitel II.1 und damit die Analyse der sich in dieser Hinsicht besonders eignenden Schleiermacherschen Examenspredigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312: „Wie derjenige beschaffen sein müsse, bei dem wahre Sinnesänderung und Besserung möglich sein soll“,²⁶ vom 15.07.1790,²⁷ gewidmet. Neben der Untersuchung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie der ersten Predigten Schleiermachers auf dem Hintergrund der beiden Pole der Halleschen Schulphilosophie und der Kantischen Praktischen Philosophie interessiert besonders, das christlich-religiöse bzw. -theologische Element in den Vordergrund rückend, der sich in Hinblick auf die zeitgenössisch relevanten (religions‐)theologischen Strömungen ergebende Blick auf das Verhältnis von  Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Bd. I, Berlin 1870 [Dilthey: Leben I1] und Meckenstock: Deterministische Ethik.  Vgl. Herms: Herkunft und Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 (Theologische Bibliothek Töpelmann 69), Berlin/New York 1995 [Oberdorfer: Geselligkeit].  Vgl. Grove: Deutungen, S. 52.  P 312, 15.07.1790, SW II/7, 42, 2– 4 (das kursiv Gedruckte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben). Zu beachten ist, dass die Reihenfolge der Worte „Sinnesänderung und Besserung“ in der Formulierung des Themas bzw. des Titels der Predigt auf Sydow zurückgeht, im handschriftlichen Original steht „Beßerung und Sinnesänderung“ (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Predigten 1790 – 1808, hg.v. Günter Meckenstock [KGA III/3], Berlin/Boston 2013 [KGA III/3], 5, 20 – 23).  Die Nummerierungen der Predigten unter „Nr.“, gegebenenfalls mit folgender Nennung des Datums „Am […]“, entsprechen der Edition der bis in das Jahr 1808 zu datierenden Predigten Schleiermachers in KGA III/3. Die Nummerierungen der Predigten unter „P“ entsprechen Wichmann von Meding (Bearb.): Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten (SchlA 9), Berlin/New York 1992 [von Meding (Bearb.): Bibliographie], S. 331– 342. Die Titel bzw. Themen der Predigten sind SW II/7 entnommen, Sydow hat sie gemäß der Themenformulierung Schleiermachers im jeweiligen Einleitungsteil der Predigten formuliert. Die Datierungen der Predigten sowie die näheren Angaben über die jeweilige Predigtsituation entsprechen, soweit nicht anders vermerkt, sowohl den Angaben in KGA III/3 als auch denjenigen bei von Meding (Bearb.): Bibliographie. Die Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312 findet sich in KGA III/3, S. 3 – 11 bzw. in SW II/7, S. 42– 53.

I.2 Erste Präzisierung der Fragestellung

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Theologie und Philosophie in diesen Predigten. Diesem Blick ist die Analyse der Schleiermacherschen Predigt Nr. 14 bzw. P 311: „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“,²⁸ die vermutlich auf Sonntag Rogate, den 09.05.1790 zu datieren ist, gewidmet.²⁹ Als für diese Analyse aufschlussreiche zeitgenössisch relevante (religions‐)theologische Strömungen haben sich einerseits die Spaldingsche Religionstheologie, andererseits die in der Diskussion um deistische Anfragen an die traditionelle Kirchenlehre geäußerten deistischen und antideistischen Positionen erwiesen. In beiden Hinsichten bietet diese erste Schleiermachersche Gebetspredigt ein vergleichsweise großes Potential, da eine Spaldingsche Predigt über das Gebet zu nahezu demselben Predigttext vorliegt, die Schleiermacher, auch aufgrund der inhaltlichen Berührungen seiner Predigt zu dieser Spaldingschen, gekannt haben muss. Die deistischen und antideistischen Fragestellungen aber liegen durch das Gebetsthema unmittelbar auf der Hand.³⁰ Das Verhältnis von Theologie und Philosophie der ersten Schleiermacherschen Predigten im Vergleich zu seinen frühen philosophischen bzw. systematischen Studien oder literarischen Produktionen³¹ steht schließlich bei der vergleichenden Analyse der Schleiermacherschen Neujahrspredigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319: „Die wahre Schäzung des Lebens“³² vom 01.01.1792³³ mit Schleiermachers philosophischer Studie „Über den Wert des Lebens“ aus den Jahren 1792/93,³⁴ die nachweislich in literarischer Abhängigkeit zu der genannten Neu-

 P 311, SW II/7, 27, 2 f. (das kursiv Gedruckte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben).  Die Predigt Nr. 14 bzw. P 311 findet sich in KGA III/3, S. 135 – 145 bzw. in SW II/7, S. 27– 41. Zur Datierung der Predigt sei auf den Abschnitt II.2.1.1 der vorliegenden Arbeit verwiesen.  Grundlegendes hierzu ist den einführenden Bemerkungen zu Kapitel II.2 der vorliegenden Arbeit zu entnehmen, Detaillierteres findet sich in Abschnitt II.2.1.7.  Auch Christoph Meier-Dörken macht auf die Bedeutung der „Frage nach der Konvergenz bzw. Divergenz der in den Predigten und in den übrigen literarischen Produktionen des jungen Schleiermacher erkennbaren philosophisch-theologischen Einflüsse[…] und der Weise ihrer Verarbeitung“ hinsichtlich einer Beurteilung der inhaltlichen Relevanz der Predigten des jungen Schleiermacher aufmerksam (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 9 f.).  P 319, 01.01.1792, SW II/7, 135, 1– 4 (das kursiv Gedruckte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben).  Die Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319 findet sich in KGA III/3, S. 52– 65 bzw. in SW II/7, S. 135 – 152. Zur Datierung der Predigt ist auf KGA III/3, S. 52, auf Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers in die III. Abteilung, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801– 1820) mit den Varianten der Neuauflagen (1806 – 1826), hg.v. Günter Meckenstock (KGA III/1), Berlin/Boston 2012 [KGA III/1], S. LXIV, Anm. 175, auf von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331 sowie auf die Ausführungen zum historisch-biographischen Ort der Predigt in Kapitel II.3.1.1 der vorliegenden Arbeit zu verweisen.  Als Textgrundlage wird Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über den Wert des Lebens (1792/93), in: KGA I/1 [Schleiermacher: WdL], S. 391– 471 herangezogen.

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

jahrspredigt steht, im Vordergrund.³⁵ Durch die Einbeziehung der Predigten Nr. 4 Am 1. Januar wohl im Jahr 1791 bzw. P 314 und Nr. 18 bzw. P 321, die ebenfalls eine inhaltliche Nähe zur philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ aufweisen, kann dieser vergleichende Blick auf eine breitere Basis gestellt werden.³⁶ Da im gesamten Schleiermacherschen Frühwerk das Interesse an den praktisch-philosophischen bzw. sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen, oder in gegenwärtiger Terminologie ethischen Fragestellungen überwiegt,³⁷ wird die Untersuchung der genannten drei Perspektiven auf das in den ersten Predigten vorliegende Verhältnis von Theologie und Philosophie³⁸ anhand einer Konzentration auf praktisch-philosophische, sittlich-religiöse bzw. sittlich-theologische oder ethische Kategorien und Fragestellungen erfolgen.

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung Als zweite Präzisierung der Fragestellung ist zu benennen, dass eine Untersuchung des sich aus den sittlich-religiösen bzw. sittlich-theologischen, praktischphilosophischen oder ethischen Aussagen ergebenden Verhältnisses von Theologie und Philosophie in den ersten Predigten Schleiermachers als methodische Vorgehensweise die Durchführung von (exemplarischen) rhetorischen Analysen dieser Predigten erfordert.

 Hinweise zur Datierung und literarischen Abhängigkeit der beiden Texte finden sich in den Abschnitten II.3.1.1 und II.3.1.7 der vorliegenden Arbeit.  Näheres hierzu ist Abschnitt II.3.2 der vorliegenden Untersuchung zu entnehmen.  Hierüber herrscht in der Forschungsgeschichte große Übereinstimmung. Hingewiesen werden könnte beispielsweise auf Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 15 und 20, exemplarisch zitiert sei Meckenstocks Fazit: „Die thematische Hauptlinie der Jugendschriften ist also ethischer Art.“ (Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 19). Verwiesen werden könnte aber z. B. auch auf Peter Groves Äußerung, dass „zur praktischen Philosophie gehörende Gedankengänge […] Schleiermachers Frühwerk vorwiegend prägen“. (Vgl. Grove: Deutungen, S. 23). Fritz Weber stellte bereits 1973 in seiner Untersuchung des Schleiermacherschen Wissenschaftsbegriffs fest, dass sich Schleiermachers „Aufsätze“ aus den Jahren 1787 bis 1796 „alle mit ethischen Fragen [beschäftigen]“ (vgl. Fritz Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen, Gütersloh 1973 [Weber: Wissenschaftsbegriff], S. 19).  Es handelt sich, um die drei Perspektiven noch einmal zu benennen, um die Perspektive der Frage nach dem Verhältnis von Hallescher Schulphilosophie und Kantischer Praktischer Philosophie, um die Perspektive der Auseinandersetzung mit relevanten zeitgenössischen (religions‐) theologischen Positionen sowie um die Binnenperspektive des Vergleichs zwischen der Schleiermacherschen ersten homiletischen mit seiner frühen wissenschaftlichen bzw. sonstigen literarischen Produktion.

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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Durchgeführt werden soll dieses Vorhaben – und damit kommt also die zweite Präzisierung der Fragestellung der hier vorliegenden Untersuchung ins Spiel – anhand von rhetorischen Analysen exemplarischer erster Predigten Schleiermachers. Denn nur durch ein solches methodisches Vorgehen kann den zu untersuchenden Quellen in ihrer Eigenart als rhetorisch komponierte Gesamtkunstwerke angemessen entsprochen werden und können zudem, wie Hans-Joachim Birkner bereits feststellte, „die methodischen Defizite der rein systematischen“ bzw. systematisierenden Herangehensweise mit Hilfe der historischen bzw. die Predigten exegesierenden Arbeitsweise überwunden werden.³⁹ Neben die Erhebung der inhaltlichen Relevanz der untersuchten Predigten tritt auf diese Weise ein zweites Untersuchungsziel. Denn die durchgeführten rhetorischen Analysen exemplarischer erster Predigten Schleiermachers können nicht nur über die Inhalte und über die Relevanz der Inhalte, sondern auch über Form und grundlegende Funktion dieser Predigten Auskunft geben. In Hinblick auf die gegenwärtige praktisch-theologische Diskussion wird daher zu reflektieren sein, inwiefern die Ergebnisse dieses zweiten Untersuchungszieles auch etwas für das gegenwärtige Verständnis und für die gegenwärtige Theorie von homiletischer Aufgabe und Predigtpraxis austragen können. Nicht zuletzt aber ist darauf hinzuweisen, dass mit der hier konzipierten methodischen Vorgehensweise auch ein neuer Beitrag zur Methode der rhetorischen Predigtanalyse vorgelegt wird. Eine Darstellung dieses für die vorliegende Untersuchung entwickelten Verfahrens der Predigtanalyse wird den sich unmittelbar anschließenden einführenden Bemerkungen zu Quellenlage und Auswahl der exemplarisch analysierten Quellen folgen. Danach soll die für die Erhebung der ethischen Konzeption der ersten Predigten getroffene Auswahl an sittlichen bzw. ethischen Kategorien erläutert und begründet werden, bevor im nächsten Unterkapitel ein Blick auf den in der vorliegenden Untersuchung verwendeten Begriff der „Vermittlung“ geworfen wird.

 Vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, S. 12 und Meier-Dörken: Theologie, S. 7, das Zitat stammt von dieser Stelle. M.E. erfordert eine historische Vorgehensweise das Arbeiten an den einzelnen Gesamttexten. Die von Meier-Dörken gewählte Vorgehensweise dagegen, die inhaltlichen Aussagen von Predigten eines jeweils mehrere Jahre umfassenden Zeitraumes unter bestimmten systematisch-theologischen Gesichtspunkten zusammenzufassen, ist streng genommen als systematisierend zu bezeichnen.

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

I.3.1 Zu Quellenlage und Auswahl der exemplarisch analysierten Quellen In seiner „Bibliographie der Schriften Schleiermachers“ bietet Wichmann von Meding im Jahr 1992 eine Liste von „583 Predigten bzw. Predigtentwürfe[n]“ Schleiermachers in der Reihenfolge „de[s] Datum[s] ihrer ersten Veröffentlichung“.⁴⁰ Terrence Tice spricht im Jahr 1997 von fast 600 bereits veröffentlichten Schleiermacherschen Predigten und Homilien, darunter ca. 90 Predigtskizzen und zwei Exzerpte, zudem erwähnt er eine in Arbeit befindliche Liste, die noch einmal 503 unveröffentlichte Predigten bzw. mehrheitlich Predigtskizzen Schleiermachers verzeichnet.⁴¹ Günter Meckenstock schließlich verweist darauf, dass die den Schleiermacherschen Predigten gewidmete III. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe über die bei von Meding aufgelisteten Predigten und Predigtentwürfe hinaus „Texte zu weiteren 757 bisher unbekannten [Predigt-, D.G.]Terminen“ erschließt, hinzu kommt die Mitteilung von „11 undatierbare[n] Predigtentwürfe[n]“ Schleiermachers.⁴² Im Anhang des ersten Bandes der III. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe findet sich ein von Günter Meckenstock erarbeitetes „Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers“,⁴³ das 3556 Termine verzeichnet. „Dabei liegen Texte für 1341 Termine vor; […]. Zusätzlich listet das Kalendarium anhangsweise 11 undatierbare Predigtentwürfe Schleiermachers ohne Terminzuordnung auf.“⁴⁴ U.a. angesichts dieser Fülle wird in Hinblick auf Schleiermachers Predigten, wie auch hinsichtlich seines sonstigen Werkes, zwischen frühen und späteren bzw. späten Texten unterschieden.⁴⁵ Christoph Meier-Dörken beispielsweise un-

 Vgl. von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 12; die Liste der Predigten findet sich auf S. 229 – 330, auf S. 331– 342 folgt ein Predigtkalendarium dieser Predigten, auf S. 343 – 353 ein zugehöriges Bibelstellenregister. Günter Meckenstock weist in der Einleitung des Bandherausgebers in die III. Abteilung der KGA darauf hin, dass die bei von Meding genannte Zahl auf „588 Texte (496 Predigtverschriftungen und 92 Predigtdispositionen)“ korrigiert werden muss (vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers in die III. Abteilung, KGA III/1, S. XXI und S. XXI, Anm. 6).  Vgl. Terrence N. Tice: Schleiermacher’s Sermons. A Chronological Listing and Account (Schleiermacher: Studies and Translations Volume 15), Lewiston/Queenston/Lampeter 1997 [Tice: Sermons], S. 1.  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers in die III. Abteilung, KGA III/1, S. XXIf.  Vgl. KGA III/1, Anhang: Günter Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, S. 769 – 1034.  Vgl. KGA III/1, Anhang: Günter Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, S. 769 f.  Dabei wird die zeitliche Begrenzung der „frühen“ Phase Schleiermachers bzw. der Zeitraum, der für den „jungen“ Schleiermacher angesetzt wird, durchaus unterschiedlich gefasst. Ein

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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tersucht dezidiert die Theologie der „frühen“ Schleiermacherschen Predigten und fasst diesen Zeitraum von der Schlobittener Zeit⁴⁶ bis zum Jahr 1804.⁴⁷ Der Zeitraum, der den im Folgenden untersuchten Predigten zugrunde liegt, ist noch enger zu fassen. Denn der vorliegenden Untersuchung liegt allein die, fünfzehn ausformulierte Predigten umfassende, erste Schleiermachersche Predigtsammlung zugrunde, die, wie weiter unten dargelegt,⁴⁸ bereits aus den Jahren 1789 bis 1794, genauer bis zur Ordination Schleiermachers am 6. April 1794, datiert.⁴⁹ Diese Predigten sind in Schleiermachers eigener Handschrift⁵⁰ und m. E.

Überblick über maßgebliche, bis 1988 erarbeitete Varianten von Zäsuren in Hinblick auf den frühen Lebenslauf und das frühe Werk Schleiermachers findet sich in der Einleitung von Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 1– 23. Um nur einige dieser Varianten zu benennen, sei zunächst auf Dilthey verwiesen, der mit dem Jahr 1796 Schleiermachers „Jugendjahre und erste Bildung“ enden lässt (vgl.Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. I, Berlin 1870 [Dilthey: Leben I1], S. V) und den Zeitraum bis 1802 dann mit „Fülle des Lebens. Die Epoche der anschaulichen Darstellung seiner Weltanschauung“ überschreibt (vgl. Dilthey: Leben I1, S. VI, das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben). Emanuel Hirsch unterteilt die Zeit des Schleiermacherschen „Werdens und ersten Schaffens“ in drei Unterabschnitte: „Bis 1796 ist Schleiermacher nichts andres als ein […] junger aufgeklärter Theolog“, die Jahre 1796 – 1802 sieht Hirsch durch „den Einfluß Fichtes und Spinozas“ sowie durch „die Bewegung der frühen Berliner Romantik“ geprägt. Der dritte Abschnitt umfasst dann die Jahre 1802– 1807/08 und „zeigt“ Schleiermacher, „wie er in der Einsamkeit Stolps sich zum wissenschaftlichen Schriftsteller emporbildet und dann an der Universität zu Halle den ihm bestimmten Lebensberuf des Universitätslehrers und Predigers für die Gebildeten […] ergreift“ (vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. IV, Gütersloh, 3. Aufl. 1964 [11949] [Hirsch: Geschichte IV], S. 491 [Hervorh. i. Orig.]). Eilert Herms dagegen sieht mit der Jacobi-Rezeption 1793 eine erste Zäsur in der Zeit der Theoriebildung Schleiermachers gegeben (vgl. u. a. Herms: Herkunft, S. 8) und übernimmt sodann, was als „Gemeingut der Forschung“ gilt, „[d]aß mit Schleiermachers Übersiedlung nach Berlin im Spätsommer 1796 eine neue Periode seines Arbeitens anhebt“ (vgl. Herms: Herkunft, S. 167). Als „Schlüsselwerk der Arbeitsperiode bis 1804“ beurteilt Herms Schleiermachers „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ (vgl. Herms: Herkunft, S. 174, das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben). Peter Grove schließlich spricht von der „Periode […], die insbesondere im Zeichen der Kant-Rezeption Schleiermachers steht“, „ihren Schwerpunkt in den Jahren 1789 – 1794“ hat und „spätestens bis 1796/97“ dauert (vgl. Grove: Deutungen, S. 23 [Hervorh. i. Orig.]).  Meier-Dörken: Theologie, S. 63. In Schlobitten hielt sich Schleiermacher ab Oktober 1790 auf (vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001 [Nowak: Schleiermacher], S. 50).  Vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 177.  Vgl. insbesondere den Abschnitt II.2.1.1 der vorliegenden Untersuchung.  Es handelt sich um die ausformulierten Predigten Nr. 1 Am 15. Juli 1790, Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, Nr. 4 Am 1. Januar wohl im Jahr 1791, Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, Nr. 6 Am 1. Januar 1792, Nr. 7 Am 12. Februar 1792, Nr. 9 Am 29. Dezember 1793,

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

auch Anordnung⁵¹ erhalten und befinden sich im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Sydow versah diese Predigtsammlung für deren Veröffentlichung im Jahre 1836 mit dem Titel „Erste Sammlung. Aus Schleiermachers Candidatenjahren 1789 bis 1794“.⁵² Im Jahr 2013 wurden diese Predigten

Nr. 10 Am 6. April 1794, Nr. 12, Nr. 14, Nr. 15, Nr. 16, Nr. 17 und Nr. 18 in KGA III/3. Wichmann von Medings Nummerierung entsprechend sind das die Predigten P 309, P 310, P 311, P 312, P 313, P 314, P 315, P 316, P 317, P 318, P 319 und P 320, P 321, P 322 sowie P 323 (vgl. von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 295 – 297). Zu beachten ist, dass diese Predigten in KGA III/3 und bei von Meding nicht in derselben Reihenfolge angeordnet sind.  Vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, Verzeichnis von Lothar Busch, erstellt in Zusammenarbeit mit der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel auf der Grundlage von deren für die Kritische Gesamtausgabe (Abt. III. Predigten) vorgenommener Rekonstruktion der Predigtnachschriften, Endredaktion: Günter Meckenstock, Berlin, im Februar 2009, I.3.2, Mappe 9 befindliche Konvolut Schleiermacherscher Predigten oder auch das Vorwort des Herausgebers in Friedrich Schleiermacher: Predigten in den Jahren 1789 bis 1810 gehalten, Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und aus Nachschriften der Hörer hg.v. Adolf Sydow (Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Zweite Abtheilung. Predigten Bd. 7) (Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. Predigten, Bd. 3), Berlin 1836 [SW II/7], S. XI.  Vgl. das in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz erhaltene Konvolut handschriftlicher Predigten. Sydow bemerkt in seinem Vorwort in SW II/7 zu den beiden in SW II/7 als erste und zweite Sammlung abgedruckten Textbeständen: „Jede der beiden ersten Sammlungen war sorgfältig zusammengeheftet, und beide in einen Bogen eingeschlagen, auf den er (i. e. Schleiermacher, D.G.) ‚alte Predigten‘ geschrieben hatte“ (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XIII [Hervorh. i. Orig.]). Sydow geht dabei davon aus, dass die von Schleiermacher gewählte Reihenfolge bei beiden Sammlungen die chronologische war (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XV). Günter Meckenstocks These ist jedoch, dass „[d]ie Aufteilung des Konvoluts in Kandidatenzeit und Landsberger Zeit“ von Sydow „nicht vorgefunden, sondern sekundär vorgenommen“ worden ist. „Diese beiden Sammlung[en, D.G.] waren wohl nicht jeweils ‚sorgfältig zusammengeheftet‘[…], denn die Blätter zeigen davon keine Spuren; die Umschlagblätter der beiden Packen und die Umschlagblätter der Einzelpredigten stammen alle von Sydow.“ (Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA III/3, S. XI). M.E. besteht zu dieser Annahme Meckenstocks allerdings kein zwingender Grund. Sydow könnte vorgefundene Umschlagblätter o. ä. ersetzt haben, ohne dass dies Spuren an den Blättern hinterlassen hätte. Aus inhaltlichen Gründen gehe ich davon aus, dass Predigt Nr. 14 bzw. P 311 auf jeden Fall chronologisch vor Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312 anzuordnen ist, dass also zumindest hier in dem erhaltenen Konvolut der Autographen sowie bei Sydow in SW II/7 die angemessene Reihenfolge vorliegt. Weitere Ausführungen hierzu finden sich in Abschnitt II.2.1.1 der vorliegenden Untersuchung.  Vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Umschlagblatt, das diesen Titel in der Handschrift Sydows trägt, und SW II/7, S. 1. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Sydow in seinem Vorwort zu SW II/7 berichtet, dass „[d]ie erste Sammlung […] von Schleiermacher’s eigener Hand die

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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sorgfältig den handschriftlichen Originalen entsprechend von Günter Meckenstock in Band 3 der III. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe herausgegeben. Sie finden sich dort innerhalb des Abschnitts „Frühe Predigten 1790 – 1797“.⁵³ Der folgenden Untersuchung wird der in der KGA III/3 gebotene Textbestand zugrunde gelegt. An einer Stelle folgt die Predigtanalyse allerdings hinsichtlich der Umstellung eines ganzen Abschnittes dem ursprünglichen Gedankengang der ersten handschriftlichen Version Schleiermachers, die Bezüge innerhalb des Gedankengangs sprechen dafür.⁵⁴ Die Qualität der Überlieferung dieser 15 Predigten ist für Schleiermachersche Predigten also durchaus bemerkenswert. Denn während ein Großteil derselben lediglich „als von Schleiermacher durchgesehene Nachschriften […], als Nachschriften ohne seine Veröffentlichungszustimmung“ oder „als nicht ausgearbeitete Entwürfe“ erhalten sind, gehört die im Folgenden zugrunde gelegte erste Schleiermachersche Predigtsammlung zu den „ausgearbeitete[n], literarische[n] Predigten“,⁵⁵ die in vollem Wortlaut von Schleiermachers Hand selbst erhalten sind. Eine umfangreiche, druckspezifische Überarbeitung, wie sie Schleiermacher später des Öfteren vornahm,⁵⁶ haben diese Predigten, die in erster Linie um der Rückmeldungen zu Übungszwecken des jungen Predigers willen verschriftlicht wurden,⁵⁷ allerdings nicht erfahren.⁵⁸ Günter Meckenstock verortet diese Predigten biographisch, indem er im Anschluss an Johann Christoph Wedekes „Bemerkungen auf einer Reise durch einen Theil Preussens“ darauf hinweist, dass „[d]ie meisten dieser Predigten“ aus Schleiermachers „Hofmeisterzeit bei den Dohnas in Schlobitten (1790 – 1793)

Bezeichnung ‚Predigten 1789 bis 1794‘ [führte]“ (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XIII).  Vgl. KGA III/3, S. 1– 186.  Vgl. Abschnitt II.2.1.3 der vorliegenden Arbeit.  Vgl. von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 11.  Grundlegend ist dazu auf Schleiermachers widmende Worte an Stubenrauch in Friedrich Schleiermacher: Predigten. Neue Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1843 [SW II/1], S. 5 f. hinzuweisen. Hier äußert Schleiermacher auch, dass eine gedruckte Predigt prinzipiell länger und anspruchsvoller sein dürfe als eine vorgetragene.  Das ist Schleiermachers Briefwechsel mit seinem Onkel Stubenrauch zu entnehmen, etwa dem zu rekonstruierenden Brief 182, in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Briefwechsel 1774– 1796 (Briefe 1– 326), hg.v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond (KGA V/1), Berlin/New York 1985 [KGA V/1], S. 251 sowie der Antwort Stubenrauchs in Brief 183, 2 f.16 – 20, in: KGA V/1, S. 251 f., oder bereits Stubenrauchs Schreiben vom 3. Februar 1791 (vgl. Brief 154, in: KGA V/1, S. 213 f.).  Im Anschluss an die Trillhaasschen Überlegungen zur unterschiedlichen Qualität der Überlieferung und Bearbeitung der erhaltenen Schleiermacherschen Predigten wäre deshalb einschränkend darauf hinzuweisen, dass Schleiermacher seine erste Predigtsammlung nicht selbst „für den Druck besorgt“ hat (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 22 f.).

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

[stammen]“ und „in einer der Dohnaschen Schloßkirchen zu Schlobitten, Karwinden oder Schlodien“ gehalten wurden. „Dazu kommen die Predigten, die Schleiermacher 1790 zu seinem ersten theologischen Examen[…] und 1794 zu seiner Ordination[…] in Berlin vorgetragen hat.“⁵⁹ Terminologisch ergibt sich durch die vorgenommene Beschränkung der zugrunde gelegten Quellen für die vorliegende Arbeit die Unterscheidung zwischen Schleiermachers „ersten“ Predigten, die Sydows „Erste[r] Sammlung. Aus Schleiermachers Candidatenjahren 1789 bis 1794“ sowie der dieser zugrunde liegenden, in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz handschriftlich erhaltenen, ersten Predigtsammlung Schleiermachers entsprechen,⁶⁰ und den „frühen“ Predigten Schleiermachers, für die in Anlehnung an Christoph Meier-Dörken der Zeitraum von 1789/90 bis 1804⁶¹ oder in Anlehnung an Günter Meckenstocks Einteilung in KGA III/3 der Zeitraum von 1790 bis 1797 in den Blick genommen werden kann.⁶² Zur Textgattung ist anzumerken, dass im Folgenden der Terminus „religiöse Rede“ synonym mit dem Begriff der „Predigt“ verwendet wird. Die Gattung der „Homilie“ wäre daher als Spezialfall der „Predigt“ bzw. der „religiösen Rede“ zu verzeichnen.⁶³ Diese Praxis entspricht Schleiermachers eigenem Sprachgebrauch,⁶⁴ verdeutlicht aber auch, dass die Gattung der „Predigt“ im 18. Jahrhundert üblicherweise für den Terminus der „Rede“ offen war.⁶⁵

 Vgl. Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 168, mit Hinweis auf [Johann Christoph Wedeke:] Bemerkungen auf einer Reise durch einen Theil Preussens von einem Oberländer, Erstes Bändchen, Königsberg 1803, S. 64 f. und 99 f. (das Original wurde anonym herausgegeben). Zu vergleichen ist inzwischen auch KGA III/1, Anhang: Günter Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, S. 769 – 1034, hier 787– 790.  Vgl. die im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Predigtsammlung und deren Umschlagblatt, das diesen Titel in der Handschrift Sydows trägt, und SW II/7, S. 1.  Vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 11. Dass auch Meier-Dörken in Hinblick auf die oben genannte erste Predigtsammlung von der „Theologie der ersten Predigten“ (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 63) spricht, ist den Quellenbelegen der Seiten 63 – 100 zu entnehmen. Denn beispielsweise Meier-Dörken: Theologie, S. 75, Anm. 52 macht deutlich, dass hierfür auch noch die Ordinationspredigt vom 6. April 1794 herangezogen wird, obwohl die entsprechende Überschrift bei Meier-Dörken für die ersten Predigten nur den Zeitraum „bis 1793“ in den Blick nimmt (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 63).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA III/3, S. VIII – XVII und KGA III/3, S. 1.  Vgl. für den Schleiermacherschen Kontext beispielsweise Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 23 f.  Augenfällig insbesondere durch die als „Theorie der religiösen Rede“ bezeichnete Homiletik seiner Praktischen Theologie (vgl. u. a. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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Die Kriterien, die zur Auswahl der Predigten führten, die in der vorliegenden Untersuchung detailliert analysiert werden, und um welche Predigten es sich dabei handelt, wurden bzw. wurde bereits oben, in I.2, deutlich gemacht. Zusammenfassend kann hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass solche Predigten ausgewählt wurden, bei denen mit Sicherheit davon auszugehen war, dass sie philosophische bzw. theologische Grundlagen und Traditionen bieten, anhand derer sich ein Vergleich hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung des in ihnen vorliegenden Verhältnisses von Theologie und Philosophie lohnt. Die Reihenfolge der exemplarisch analysierten Predigten betreffend wurde der Blick zuerst auf die vorhandenen material-philosophischen Fragestellungen, i. e. auf die Frage nach dem Verhältnis zur Halleschen bzw. Kantischen Praktischen Philosophie gerichtet. Daran anschließend wurde mit der zweiten hier detailliert untersuchten Predigt die (religions‐)theologische Perspektive in den Fokus genommen. Der Blick auf das in Schleiermachers ersten Werken, theologisch-homiletischen und philosophisch-literarischen Texten, intern vorliegende Verhältnis von Theologie und Philosophie wurde an den Schluss gestellt. Grundsätzlich ist darauf zu verweisen, dass die gewählte Vorgehensweise der Tatsache Rechnung trägt, dass Predigten eigenständige Größen und auch als solche wahrzunehmen sind. Einzelne Predigten können aufgrund ihres Themas oder ihrer Intention von sonst festzustellenden Tendenzen oder Gewohnheiten, auch inhaltlicher Art, abweichen. Die inhaltlichen Ergebnisse der Predigtanalysen sind daher zunächst einmal als exemplarische zu verstehen. Ausgehend von den exemplarisch erarbeiteten Ergebnissen wird dann allerdings auch die Frage nach der Bestätigung dieser Ergebnisse durch weitere der ersten Predigten Schleiermachers gestellt werden können und dürfen.

nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs [Friedrich Schleiermacher‘s literarischer Nachlaß. Zur Theologie, Bd. 8, dieser in: SW I.13], Berlin 1850 [Schleiermacher: PT], S. XVI).  Hinzuweisen wäre hierfür u. a. auf die Fosterschen Reden, die in Sacks Vorwort der Gattung der moralischen Predigten zugerechnet werden (Jacob Fosters: Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Erster bis fünfter Theil, Erster Theil nebst einer Vorrede August Friedrich Wilhelm Sacks, von dem Nutzen moralischer Predigten, Frankfurt und Leipzig 1750 – 1752 [Fosters: Reden I – V]).

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

I.3.2 Zur Predigtanalyse Nach Schleiermacher stellt die Kunst des Verstehens eine „unendliche“ Aufgabe dar.⁶⁶ Zugrunde liegt dabei u. a. die Einsicht, dass schon ein vollständiges Erfassen der beiden für das Verstehen konstitutiven „Momente“⁶⁷ je für sich jenseits des menschlichen Vermögens liegt: „[D]ie grammatische Seite“ der Interpretation würde „für sich allein vollendet […] eine vollkommne Kenntniß der Sprache“ voraussetzen, die psychologische Seite in entsprechender Weise „eine vollständige Kenntniß des Menschen“.⁶⁸ Auf diesem Hintergrund kann die im Folgenden in Angriff genommene Aufgabe einer Analyse und inhaltlichen Untersuchung von exemplarischen ersten Predigten Schleiermachers nur als eine Art Annäherung an das „Nachconstruiren der gegebenen Rede“⁶⁹ verstanden werden, als ein anfängliches Sich-Hineinbegeben in die reziproke hermeneutische Bewegung, die sich ausgehend davon, „daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleich stellt“, zugleich dessen bewusst ist, dass dies „[b]eides […] erst vollkommen durch die Auslegung selbst gewonnen werden“ kann.⁷⁰ Die im Folgenden vorgestellte methodische Verfahrensweise zur Analyse und inhaltlichen Untersuchung exemplarischer Schleiermacherscher Predigten ist also wie jede Verstehens- und Auslegungsbemühung an vorgegebene Bedingungen und Grenzen der Interpretation gewiesen und kann verständlicherweise keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Innerhalb dieser grundsätzlichen Grenzen jedoch sind der methodischen Reflexion durchaus Kriterien an die Hand gegeben, die es auch für die hier in den Blick genommene Analyse und inhaltliche Untersuchung von Predigten aufzusuchen und in angemessener Weise zusammenzustellen gilt. Als Voraussetzung einer solchen Analyse und inhaltlichen Untersuchung exemplarischer Schleiermacherscher Predigten ist zunächst einmal festzuhalten, dass es sich bei den zu untersuchenden Predigten um von Schleiermacher selbst schriftlich verfasste und daher literarische Reden handelt, die in der Gestalt vorliegen, in der sie auch gehalten wurden bzw. in der sie für den Vortrag kon Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg.v.Wolfgang Virmond unter Mitwirkung v. Hermann Patsch (KGA II/4), Berlin/Boston 2012 [KGA II/4], S. 129: „Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche,weil es ein Unendliches der Vergangenheit und der Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehn wollen.“  Vgl. KGA II/4, S. 121: „6. Das Verstehen ist nur im Ineinandersein dieser beiden Momente.“ Gemeint sind mit „diese[n] beiden Momente[n]“ die „grammatische“ und die „psychologische“ Interpretation.  Vgl. KGA II/4, S. 122.  Vgl. KGA II/4, S. 128.  Vgl. KGA II/4, S. 129.

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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zipiert wurden.⁷¹ Entscheidend für die methodische Herangehensweise wird zudem sein, dass hier letzten Endes eine inhaltliche Untersuchung der vorliegenden Predigten auf einzelne exemplarische praktisch-philosophische bzw. sittlich-religiöse oder sittlich-theologische Aspekte hin intendiert ist, die Aufschluss über das in diesen Predigten vorliegende Verhältnis von Theologie und Philosophie zu geben vermögen. Dies erfordert eine Konzentration auf die Analyse des inhaltlichen Gehaltes der Predigten⁷² und daher dann auch eine v. a. an rhetorischen Gesichtspunkten orientierte Verfahrensweise.⁷³ Eine solche Verfahrensweise entspricht dann aber auch der grundlegenden Bedeutung, die der Rhetorik in Schleiermachers späterer Konzeption der Theorie der religiösen Rede zukommt.⁷⁴

 Dazu ist noch einmal auf die Ausführungen des vorangegangenen Abschnitts I.3.1 hinzuweisen, in denen erläutert wurde, dass die erste Predigtsammlung Schleiermachers u. a. um der Übung und Ermöglichung einer Rückmeldung seitens des Onkels willen in der Form verschriftlicht wurde, die uns erhalten geblieben ist. Es ist davon auszugehen, dass noch keine bewusste Überarbeitung und Veränderung dieser Predigten im Nachhinein durch Schleiermacher stattgefunden hat, wie Schleiermacher das beispielsweise später bei für den Druck vorgesehenen Predigten praktiziert hat.  Das bedeutet, dass es im Folgenden nicht in erster Linie etwa um „Analysen der Selbstäußerungen des Predigers“ als Person bzw. zu seiner Person oder um Beobachtungen zu Wirkung und Hörerreaktionen oder Perzeptionsanalysen der zu untersuchenden Predigten gehen kann, wie es z. B. die Modelle der Predigtanalyse vorsehen, die Stefanie Wöhrle: Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen (Homiletische Perspektiven 2), Berlin 2006, auf S. 9 – 125 vorstellt. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen Willi Borns zur nötigen Unterscheidung zwischen einer Analyse von mündlichen und derjenigen von schriftlich vorliegenden Predigten: „Die mündlich in Gestalt der Rede vorgetragene Predigt […] verläuft in einer abfließenden Zeit und ist schließlich vorbei. Sie sollte deshalb nicht nur wie die schriftlich vorliegende nach ihrem Inhalt, ihren biblischen, theologischen und gegenwartsbezogenen Aussagen, sondern ebensosehr nach den Komponenten und Kriterien ihrer Darbietung und Aufnahme befragt werden.“ (Willi Born: Kriterien der Predigtanalyse [Handbücherei für Gemeindearbeit 52], Gütersloh 1971, S. 30). Für die Analyse schriftlich vorliegender Predigten erscheint die Konzentration auf eine inhaltliche Untersuchung demnach aber sinnvoll und angemessen zu sein.  Die „Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik“ hinsichtlich des grundsätzlich als „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“ zu verstehenden Redens und die damit ebenfalls gegebene grundsätzliche Verankerung beider in der Dialektik gehört für Schleiermacher zu den Grunddaten der Hermeneutik (vgl. KGA II/4, S. 120).  So ist die Gliederung der Gegenstände der Theorie der religiösen Rede in Schleiermachers Praktischer Theologie z. B. an den Vorgaben der antiken Rhetorik bzw. an deren Bearbeitungsphasen oder „rhetorices partes“ orientiert, wie sie beispielsweise bei Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, § 255, S. 139 f. aufgeführt sind. Im Anschluss an Quintilian werden dort fünf Teile bzw. Bearbeitungsphasen des rhetorischen Prozesses genannt: „omnis autem orandi ratio […] quinque partibus constat: inventione, dispositione, elocutione, memoria, pronuntiatione sive actione“. In

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

Auf dem Hintergrund dieser Voraussetzungen kann nun die im Folgenden anzuwendende methodische Verfahrensweise zur Untersuchung der einzelnen Predigten in den Blick genommen werden. Dafür wird zunächst einmal festzuhalten sein, dass zu Beginn der einzelnen Untersuchungen eine kurze historischbiographische Verortung vonnöten sein wird, die neben den jeweiligen allgemeinen zeitgeschichtlichen Ereignissen sowohl die Situation des Predigers als auch, wenn möglich, die der zuhörenden Gemeinde skizzieren sollte.⁷⁵ Die spezifische Gattung der Predigten wird in diesem Zusammenhang des Weiteren einen Blick auf den jeweiligen kirchenjahreszeitlichen bzw. jahreszeitlichen oder kasualen sowie, wenn möglich, liturgischen Kontext der Predigten erforderlich machen.⁷⁶ Auf diese einführende Vergegenwärtigung der zugrunde liegenden Entstehungs- und Redesituation soll die Untersuchung von Struktur und Inhalt der jeweiligen Predigt folgen, die einem Überblick über das Ganze bzw. über die Gesamtkonzeption der betreffenden religiösen Rede dienen soll. Grundlegend dafür ist – die im Grunde schon Schleiermachersche – hermeneutische Einsicht, dass eine inhaltliche Untersuchung von bestimmten einzelnen Begriffsfeldern oder Themen, wie sie hier durchgeführt werden soll, das Wahrnehmen des lite-

Schleiermachers Theorie der Rede folgen, ausgehend von der „innere[n] Einheit aus der das ganze hervorgeht“, die im Grunde einer intellectio der materia entspricht, zunächst die Überlegungen zur „Disposition“, dann die Ausführungen zur „Erfindung“. Das abschließende Kapitel über den „Ausdrukk“ behandelt bei Schleiermacher sowohl die Aspekte der elocutio, als auch die der memoria und der pronuntiatio (vgl. Schleiermacher: PT, S. 220 f. sowie das Inhaltsverzeichnis der PT, S. XVI – XVIII).  Vgl. dazu KGA II/4, S. 129: „Der Sprachschaz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihnen“ sowie die grundlegende Bedeutung, die im Zusammenhang mit der technischen Interpretation der Kenntnis des „Wirkungskreise[s]“ eines Werkes bzw. der Überlegung, „für wen der Gegenstand […] bearbeitet werden, und was die Bearbeitung in ihnen bewirken soll“ (a. a.O., S. 158), zukommt.  Vgl. dazu auch die Frage nach dem Charakter der „Redesituation“ als „Ausgangspunkt“ der Predigtanalyse bei Gert Otto: Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriss, Mainz/Leipzig 1999, S. 184. Christian Albrecht: „… klare und belebende Darstellung der gemeinsamen inneren Erfahrung“. Schleiermachers Predigtweise, untersucht an seiner Neujahrspredigt 1807, in: Beutel, Albrecht/Drehsen, Volker (Hg.): Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen (FS Hans Martin Müller zum 70. Geburtstag), Tübingen 1999 [Beutel/Drehsen (Hg.): Wegmarken], S. 106 – 136, bearbeitet in seiner Predigtanalyse die Frage nach dem „historischbiographischen Ort“ ebenfalls an erster Stelle (a. a.O., S. 109 – 111), lässt darauf aber einen Abschnitt „[z]ur Textbeschaffenheit“ der untersuchten Predigt folgen (S. 111– 113), um den kirchenjahreszeitlichen und liturgischen Kontext dann in den beiden ersten Unterabschnitten des Abschnitts „[z]ur homiletisch-rhetorischen Eigenart der Neujahrspredigt“ (a. a.O., S. 113 – 117) zu verhandeln.

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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rarischen Gesamtkontextes, der zugrunde gelegt wird, voraussetzt.⁷⁷ Die daher der inhaltlichen Untersuchung sozusagen obligatorisch vorausgehende „cursorische Lesung […] des Ganzen“⁷⁸ soll an dieser Stelle ihren Niederschlag in einer kurzen Nachzeichnung des Gedankengangs und einer sich daraus ergebenden Skizze der jeweiligen Predigtdisposition finden.⁷⁹ Auf diese Weise wäre dann einerseits der inhaltliche Gesamtgehalt der religiösen Rede veranschaulicht, andererseits der Komposition der Rede ein besonderes Interesse entgegengebracht und schließlich mit diesen beiden Aspekten zugleich der Tatsache Rechnung getragen, dass Inhalt und Form eines literarischen Werkes immer aufeinander verweisen und im Grunde nicht getrennt voneinander analysiert und interpretiert werden können.⁸⁰ Der Doppelcharakter dieses Interpretationsschrittes, Nachzeichnung des Gedankengangs und Entwurf einer Predigtskizze, wird dabei bewusst nicht vermieden, da sich die zweifache Annäherung an Gesamtgehalt und Gesamtgestalt der jeweiligen Predigten als für das Textverständnis außerordentlich hilfreich herausgestellt hat. Im Anschluss daran soll in einem nächsten Schritt näher auf grundlegende rhetorisch-homiletische Beobachtungen zu den jeweiligen Predigten eingegangen werden. Dabei wird es z. B. um Schlüsselwörter und Leitmotivisches, um sprachliche Beobachtungen und rhetorische Figuren, um Stil und Grundtenor der  Vgl. KGA II/4, S. 131: „Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine cursorische Lesung um einen Ueberblick des Ganzen zu erhalten der genaueren Auslegung vorangehn“.  Vgl. KGA II/4, S. 131.  In den Skizzen der Predigtdispositionen werden dabei schon erste, strukturierende oder für den Duktus der jeweiligen religiösen Rede grundlegende rhetorische Stilmittel kenntlich gemacht. Die Terminologie dieser Stilmittel richtet sich dabei grundsätzlich nach Lausberg: Handbuch und wird durch Kursivdruck hervorgehoben. Wenn dafür in einzelnen Fällen auch einmal Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg (1971), 9. aktualisierte u. erw. Aufl. 2001, herangezogen wird, wird das an der jeweiligen Stelle vermerkt.  Vgl. die Ausführungen der Calowschen Nachschrift von 1832/33 zur Bedeutung der innerhalb der technischen Interpretation (vgl. KGA II/4, S. 950 f.) zu verortenden und der Meditation korrespondierenden Frage der Komposition in KGA II/4, S. 965: „In Beziehung auf das was Ausdruck ist, beginnt das Fertigwerden der Elemente erst mit der Composition selbst […]. Der Sprachgehalt der Elemente als Resultat der Composition ist nur vorläufig, der Ausdruck ist erst mit der Composition fertig, und sie kann man nur verstehen, wenn sich vollständig übersehn läßt das Verhältniß des Inhalts, den die Form gestaltet oder den man ihr geben will […]. So sind also die beiden Punkte zu betrachten, die Stellung die Jedes bekommt und die Ausfüllung der Form durch den Inhalt und – den Ausdruck, der im Zusammensein der Elemente definitiv mitbestimmt ist.“ Vgl. des Weiteren auch Schleiermachers Bemerkungen zur wechselseitigen Bedeutung der „Einheit des Ganzen“ einerseits, für die „einzelnen Massen“ einer literarischen Produktion andererseits, und umgekehrt in KGA II/4, S. 59, sowie darüber hinaus seine Überlegungen zum Verweisungszusammenhang zwischen der „Eigenthümlichkeit der Composition“ und der „Individualität“ oder „Eigenthümlichkeit“ des Schriftstellers in KGA II/4, S. 61.

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

Rede sowie um die Frage nach Duktus, Dynamik und Kulminationspunkten gehen.⁸¹ Aus Schleiermachers Hermeneutik wiederum kann in diesem Kontext der Hinweis auf die grundlegende Bedeutung der eher materialen Unterscheidung zwischen „Haupt und Nebengedanken und solchen, die nur Darstellungsmittel sind“⁸² sowie der eher formalen Untersuchung der „Verbindungsweisen“ der einzelnen Sätze ergänzt werden.⁸³ Hingewiesen werden muss an dieser Stelle allerdings auch auf die gegebenen Grenzen und notwendigen Beschränkungen, die im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung im Blick zu behalten sind. Eine umfassende semantische oder linguistische Analyse der Predigten wäre natürlich interessant, würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.⁸⁴ An rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigten sollen deshalb nur solche Aspekte erhoben werden, denen für die inhaltliche Untersuchung eine

 Anregungen verdankt diese Zusammenstellung Gert Otto: Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriss, Mainz/Leipzig 1999, S. 184– 187, ders.:Wie entsteht eine Predigt? Ein Kapitel praktischer Rhetorik, München 1982, S. 63, Born: Predigtanalyse, v. a. S. 38 – 43 und S. 64 f., sowie, in etwas eingeschränkterem Maße, Joachim Konrad: Die evangelische Predigt. Grundsätze und Beispiele homiletischer Analysen, Vergleiche und Kritiken (Sammlung Dieterich 226), Bremen (1963), 2. Aufl. 1966 [Konrad: Predigt], S. 479 – 521. Die von Konrad vorgesehene „Grundlagenanalyse“ beispielsweise erscheint mir etwas problematisch zu sein, insbesondere in Hinblick auf die damit verbundene Gefahr, die „Richtigkeit“ der biblischen und kirchlichen Fundierung einer Predigt für generell feststellbar zu halten, wie Konrad selbst das z. B. bei seiner Analyse einer Schleiermacherschen Predigt über die Ehe zu Eph 5,22– 31 aus dem Jahr 1818 vorführt: „Schleiermacher nimmt insoweit den Ephesertext richtig auf […]“ (Konrad: Predigt, S. 172).  Vgl. die Ausführungen der Calowschen Nachschrift von 1832/33 in KGA II/4, S. 812. Die Bandbreite der möglichen Darstellungsmittel reicht dabei weit: von der „Vergleichung“ über die „Allegorie“ und „Parallele“ bzw. das „Gleichniß“ bis hin zu „jede[m] Fall, wo Einzelnes […] zur Erläuterung des Allgemeinen vorgetragen wird, das ist also jedes Beispiel“, oder umgekehrt zu „allgemeine[n] Maximen“, die „als Schlüssel zur Auffassung“ von „Einzelnem“ fungieren, zusammengefasst: zum „bildlichen Ausdruck […]“ (vgl. KGA II/4, S. 825 f.). An früherer Stelle ist der Calowschen Nachschrift in diesem Zusammenhang auch der „Gegensatz“ – im Vergleich zu „Analogie oder Differenz“ – als wesentliches „hermeneutisches Hülfsmittel“ zu entnehmen (vgl. KGA II/4, S. 811).  Vgl. die Ausführungen zur grammatischen Interpretation, insbesondere KGA II/4, S. 154 [Hervorh. i. Orig.]: „44. Das quantitative Verstehen der Säze führt sich zurück auf das der Elemente und auf das der Verbindungsweisen. Säze haben ein Verhältniß unter sich und eins zur Einheit der Rede. Im lezten kommt alles auf den Gegensaz Haupt und Nebengedanken an, im ersten alles auf coordinirt und subordinirt.“  Einen Eindruck des breiten Spektrums möglicher methodischer Ansätze zur Predigtanalyse vermittelt die bereits genannte Untersuchung von Stefanie Wöhrle: Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen (Homiletische Perspektiven 2), Berlin 2006. Die in der vorliegenden Arbeit vorgestellte methodische Verfahrensweise wäre am ehesten in der Nähe der von Wöhrle untersuchten Kategorie der „Rhetorischen Predigtanalyse“ zu verorten, vgl. a. a.O., S. 128 – 144, insbesondere S. 136 f.

I.3 Zweite Präzisierung der Fragestellung und Ziele der gesamten Untersuchung

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grundlegende Relevanz zukommt. Ausgehend von diesen rhetorisch-homiletischen Beobachtungen soll der Blick dann auf das Ganze der jeweiligen religiösen Rede gelenkt werden, nun aber zugespitzt auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Thema oder „Einheit“ der Predigt und der jeweils zugrunde liegenden Predigtintention. Schon Schleiermacher hat im ersten Entwurf seiner Hermeneutikvorlesung von 1805 zwischen der „Idee“ und dem „Zwekk“ eines literarischen Werkes unterschieden.⁸⁵ Johannes Bauer hat eben diese Differenz für die Analyse der Schleiermacherschen Predigten fruchtbar gemacht, indem er konsequent zwischen deren „Stoffthema“ und deren „Zweckthema“⁸⁶ bzw. – unter Verweis auf die Formulierung der entsprechenden homiletischen Regel durch den französischen Homiletiker Alexandre Vinet sowie auf deren Vorkommen u. a. bei Schleiermachers Schüler Alexander Schweizer – indem er zwischen „Kausal- und Finalthema“ der Schleiermacherschen Predigten unterschied.⁸⁷ Zugrunde liegt dem die Beobachtung Bauers, dass „das Stoffthema, das den Gegenstand darstellt, worüber Schleiermacher reden will (natürlich der Gegenstand, wie er aus der Assimilation von Text und Gemeinde, von Text und Prediger entstanden ist), […] im Laufe der Predigt […] in ein Zweckthema“

umgeformt wird.⁸⁸ Die vorliegende Untersuchung erhofft sich von der Berücksichtigung dieses Sachverhalts an der hier zugewiesenen Stelle des methodischen Verfahrens eine zusammenfassende oder auch korrigierende Bündelung der zuvor

 Vgl. KGA II/4, S. 59.  Johannes Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus 4), Gießen 1908, S. 275 [Hervorh. i. Orig.].  Vgl. Bauer: Prediger, S. 275 – 277. Alexandre Vinet formuliert im Kontext der Frage nach der Einheit einer Predigt folgendermaßen: „Aus Alle dem ziehe ich den Schluß, es finde sich Einheit in der Predigt, wenn dieses auf einen leicht in einen Imperativsatz zu verwandelnden oder wirklich verwandelten Assertivsatz zurückgeführt werden kann.“ (Alexandre Vinet: Homiletik oder Theorie der Predigt, Deutsch bearb.v. J. Schmid, mit einem Vorwort v. K. R. Hagenbach, Basel 1857, S. 58). Bauer stellt in diesem Zusammenhang fest: „Wenn dann Vinet die Regel aufstellte, daß das Stoff- oder Kausalthema eine Behauptung, das Ziel- oder Finalthema eine Forderung enthalten müßte, so hat er nur ausgesprochen, was bei Schleiermacher tatsächlich vorliegt.“ (Bauer: Prediger, S. 275 [Hervorh. i. Orig.]).Volker Drehsen: Die Predigt, die es ihrem Verfasser nicht recht machen sollte. Karl Barths 1916 in Safenwil gehaltene Predigt über Ezechiel 13,1– 16, in: Beutel/ Drehsen (Hg.): Wegmarken, S. 206 – 222, unterscheidet in seiner Analyse der Barthschen Predigt noch differenzierter zwischen Thema, Predigtidee – als Mittel der Umsetzung des Themas – und Predigtintention (vgl. a. a.O., S. 214– 216).  Bauer: Prediger, S. 275 [Hervorh. i. Orig.].

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

dargelegten Beobachtungen zu Inhalt und Form der bearbeiteten Predigt. In einem weiteren Schritt wird es dann an eine Erhebung der der jeweiligen Predigt zugrunde liegenden ethischen Konzeption – anhand von für die zu untersuchenden Predigten relevanten praktisch-philosophischen bzw. sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen Aspekten – gehen. Auf dem Hintergrund dieser inhaltlichen Untersuchung sollen schließlich Überlegungen zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die jeweilige Predigt angestellt werden, wobei insbesondere die Reflexion der der jeweiligen Predigt zugrunde liegenden theologischen und philosophischen Einflüsse oder Traditionen in den Blick genommen werden soll. Für die methodische Verfahrensweise der in der vorliegenden Untersuchung durchgeführten Predigtanalysen ergibt sich zusammenfassend folgende Struktur: 1) Zum historisch-biographischen Ort der Predigt 2) Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation 3) Zu Inhalt und Struktur der Predigt 4) Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt 5) Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention 6) Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt 7) Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt

I.3.3 Zur Auswahl der für die inhaltliche Untersuchung der ersten Predigten relevanten sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen bzw. praktisch-philosophischen Aspekte Da das gesamte Frühwerk Schleiermachers einen sittlich-religiösen oder sittlichtheologischen bzw. praktisch-philosophischen Schwerpunkt aufweist, wie oben in Abschnitt I.2 bereits dargestellt, erfolgt die inhaltliche Untersuchung der ersten Predigten Schleiermachers im Folgenden anhand von sittlich-religiösen oder sittlich-theologischen bzw. praktisch-philosophischen Aspekten und Kategorien, die auch Aufschlüsse über die ethische Konzeption der jeweiligen Predigten zu geben vermögen. Gewählt wurden für diese inhaltliche Auswertung solche Aspekte und Kategorien, die sich einerseits in besonderer Weise eignen, die (religions‐)theologischen und philosophischen Wurzeln oder Traditionen sichtbar zu machen, auf die Schleiermacher sich bezog, und die andererseits nach Durchsicht der ersten Schleiermacherschen Predigtsammlung als für diese Predigten bedeutungsmäßig relevante Aspekte oder Kategorien zu erkennen waren. So wurden beispielsweise die Aspekte der menschlichen Vollkommenheit; des Ursprungs und der Motivation des sittlichen Handelns, der Bedeutung der Gesinnungen und der (Willens‐)Freiheit des Menschen; der Verbindlichkeit bzw. Pflicht sowie die Kategorie der Glückseligkeit berücksichtigt, da anhand dieser Aspekte eine Po-

I.4 Zum Begriff der „Vermittlung“

25

sitionierung des Verfassers im Spannungsfeld zwischen Hallescher Schulphilosophie und Kantischer Praktischer Philosophie auszumachen ist. In (religions‐) theologischer Hinsicht vermögen Aspekte wie die Frage nach der Schwachheit bzw. theologisch gesprochen der Erbsünde des Menschen; das Thema der menschlichen Vollkommenheit und Bestimmung und deren Zusammenhang mit Rechtfertigung und Heiligung bzw. Eschatologie; die im Aspekt der Glückseligkeit greifbar werdende Frage nach der geschöpfmäßigen leib-seelischen Einheit des Menschen sowie das für den Religionsbegriff grundlegende Verhältnis zwischen Tugend und Religion Auskunft zu geben. Schleiermacher-intern schließlich war u. a. ein Schwerpunkt auf den Aspekt der Bestimmung des Menschen zu legen, welche in der philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ in spezifischer Weise als „Humanität“ konzipiert wird.⁸⁹ Die inhaltliche Untersuchung der exemplarisch zu analysierenden Predigten erfolgt auf diesem Hintergrund anhand folgender sittlich-religiöser oder sittlichtheologischer bzw. praktisch-philosophischer Aspekte oder Kategorien: 1) Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens 2) Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen 3) Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung und (Willens‐) Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen 4) Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten 5) Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes 6) Das Verhältnis von Tugend und Religion

I.4 Zum Begriff der „Vermittlung“ Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der „Vermittlungstheologie“ von der polemisch gebrauchten Fremdbezeichnung zur Selbstbezeichnung u. a. einer von Schleiermacher herkommenden theologischen Richtung, deren Anliegen, wie Friedrich Wilhelm Graf es beschrieben hat, eine „behutsam reformerische […] Mediation zwischen Tradition und Gegenwart, Christentum und moderner Kultur, Kirche und Wissenschaft“ war.⁹⁰ Der Begriff der „Vermittlungstheologie“, dessen „bislang frühester Begriffsbeleg“ sich im Jahr „1856 bei Schwarz“ findet,⁹¹ kann

 Vgl. den Abschnitt II.3.1.7 der vorliegenden Arbeit.  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf:Vermittlungstheologie, HWP Bd. 11 [Graf: HWP Bd. 11], Sp. 727.  Vgl. Alf Christophersen: Vermittlungstheologie. I. Kirchengeschichtlich, RGG4 Bd. 8, Sp. 1032. Friedrich Wilhelm Graf weist zudem darauf hin, dass Hagenbach bereits im Jahr 1847 von „der ‚vermittelnden Theologie‘ gesprochen“ hat (Graf: HWP Bd. 11, Sp. 726). An anderer Stelle

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

und sollte aufgrund dieser zeitlichen Differenz jedoch trotz der offensichtlichen Verbindungslinien nicht direkt auf Schleiermacher bezogen werden.⁹² Ein grundlegendes Interesse der „Vermittlungstheologie“ aber findet sich bereits in den ersten Predigten Schleiermachers. Es ist dies das schon bei Semler im Zuge der Differenzierung von Theologie und Religion begegnende Interesse an der Frage, „an welche außerhalb der Theologie und ihr vorausliegende Wirklichkeit die Theologie gebunden ist“.⁹³ Friedemann Voigt spricht, wenn man zur Wirklichkeit gehörig immer auch den Zugang zu oder die Deutung dieser Wirklichkeit hinzunimmt, in durchaus vergleichbaren Zusammenhängen, von dem „Symptom eines tiefer liegenden Problems der Theologie […], das sich als die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, Religion und moderner Wissenschaft bestimmen läßt“.⁹⁴ Die Reflexion des den Schleiermacherschen ersten Predigten zugrunde liegenden Verhältnisses von Theologie und Philosophie jedenfalls hat ergeben, dass es sich bei diesem im Grunde um nichts anderes handelt als um das Inbeziehungsetzen der Theologie mit der – nicht unbedingt „außerhalb“ von der Theologie aber eben strikt unter den Prämissen der Vernunft – ausgebildeten zeitgenössischen, wissenschaftlichen bzw. philosophischen Deutung der Wirklichkeit. Wie Friedemann Voigt nun aber bereits darauf hingewiesen hat, dass das Verhältnis „von Glaube und Vernunft, Religion und moderner Wissenschaft“ in „der Schule Schleiermachers wie Hegels“ mit dem Begriff der „‚Vermittlung‘“

äußert Graf die Vermutung, dass der Begriff schon von Friedrich Lücke geprägt worden sein könnte (vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Vermittlungstheologie, WdC, Sp. 1318).  John Claytons Überlegung zufolge, dass der Begriff der „Vermittlungstheologie“ eventuell „eher systematisch als historisch verwendet werden“ sollte, könnte Schleiermacher selbst in dieser weit gefassten, systematischen Bedeutung des Begriffes auch als Vermittlungstheologe bezeichnet werden, da er ohne Zweifel bereits ein „theologisches Programm“ der Vermittlung verfolgte (vgl. John Clayton: Theologie als Vermittlung – Das Beispiel Schleiermachers, in: KurtVictor Selge [Hg.]: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Teilband 2 [SchlA 1.2], Berlin/New York 1985 [Clayton: Vermittlung], S. 901). Aus Gründen einer präziseren Begriffsverwendung plädiere ich aber dafür, den Begriff der „Vermittlungstheologie“ stärker historisch als systematisch zu gebrauchen und den dann in seiner Bedeutung begrenzteren Begriff, wie oben dargelegt, nicht für Schleiermacher selbst zu verwenden.  Vgl. Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 1966, S. 27 und S. 63 f. (das Zitat entstammt S. 27) sowie Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion Bd. 1, Gütersloh 1988 [Drehsen: Konstitutionsbedingungen], S. 85.  Vgl. Friedemann Voigt: Vermittlung im Streit. Das Konzept theologischer Vermittlung in den Zeitschriften der Schulen Schleiermachers und Hegels (Beiträge zur historischen Theologie 140), Tübingen 2006 [Voigt: Vermittlung], S. 5.

I.4 Zum Begriff der „Vermittlung“

27

bestimmt wurde,⁹⁵ so lässt sich auch das in Schleiermachers ersten Predigten obwaltende Verhältnis von Theologie und Philosophie, so das Ergebnis der folgenden grundlegenden Reflexion dieses Verhältnisses, am treffendsten als „Vermittlung“ bestimmen: Vermittlung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen christlicher Sittenlehre und Praktischer Philosophie, zwischen Theologie und zeitgenössischer philosophischer bzw. wissenschaftlicher Weltdeutung. Welch grundlegendes Anliegen die Vermittlung dieser beiden Pole für Schleiermacher war, kann auch späteren Äußerungen entnommen werden. Ausgehend beispielsweise von der in der Hermeneutik dargelegten Definition des Redens als „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, welche der „Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik“ bedarf und sich auch in der grundsätzlichen Beziehung beider zur Dialektik äußert,⁹⁶ muss die Aufgabe der religiösen Rede im Schleiermacherschen Sinne dahingehend bestimmt werden, die allumfassende oder besser allbegleitende Perspektive des Glaubens bzw. der Religion für die bzw. in die „Gemeinschaftlichkeit des Denkens“ hinein zu vermitteln. Dafür ist die Berücksichtigung entsprechender wissenschaftlicher Voraussetzungen, und zwar sowohl die Rhetorik als auch die Hermeneutik betreffender, unerlässlich. Explizit erwähnt aber sind die beiden oben benannten Pole und das Anliegen ihrer bewussten Inbeziehungsetzung in Schleiermachers in das Jahr 1829 datierendem Zweiten Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Dr. Lücke. Dort wird als „Ziel“ der Reformation – implizit dann aber auch als Ziel der Aufgabe einer christlichen Glaubenslehre – formuliert, „einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert, und diese nicht jenen ausschließt“.⁹⁷

 Vgl. Voigt: Vermittlung, S. 5. Schleiermachers Freund Lücke allerdings „bezichtigte die theologischen Hegelianer 1827‚der Eitelkeit willkürlicher Vermittelung‘ und trat demgegenüber für ‚wahre Vermittelungen‘ ein“ (Graf: HWP Bd. 11, Sp. 726 mit Verweis auf: Die Ankündigung der Theologischen Studien und Kritiken, in: Alf Christophersen: Friedrich Lücke [1791– 1855] Teil 2. Dokumente und Briefe [Theologische Bibliothek Töpelmann 94/2], Berlin/New York 1999, S. 421– 424; die Zitate finden sich auf S. 422).  Vgl. KGA II/4, S. 120.  Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben, in: KGA I/10, 350, 30 – 351, 4 und auch Volker Drehsen: Kirchentheologische Vermittlung. Carl Immanuel Nitzsch (1787– 1868), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1 Aufklärung – Idealismus – Vormärz, Gütersloh 1990 [Drehsen: Nitzsch], S. 291. Drehsen charakterisiert das Selbstverständnis und Programm der Herausgeber der 1828 gegründeten „Theologischen Studien und Kritiken“ als eben dieser von Schleiermacher in seinem zweiten Sendschreiben an Lücke benannten Aufgabe verpflichtet. Zur

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I. Einleitung und Vorbemerkungen

Im weitesten Sinne genannt ist das Anliegen der Vermittlung der „Ueberzeugungen und Erfahrungen eines von dem Erlöser ganz ergriffenen Gemüths“⁹⁸ einerseits mit all demjenigen andererseits, „was irgend ein würdiger Gegenstand menschlicher Pflege, Liebe und Begeisterung sein kann“,⁹⁹ in Sydows Vorwort zum Schleiermacherschen Predigtband SW II/7. Gleichsam als Pointe formuliert ist dort zu lesen, dass Schleiermachers „öffentliche[…] Vorträge […] eben immer die frische Gegenwart athmeten“.¹⁰⁰ Hinter dem in der vorliegenden Arbeit verwendeten Begriff der „Vermittlung“ verbirgt sich diesem allen zufolge also primär das Anliegen einer Vermittlung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen christlicher Sittenlehre und Praktischer Philosophie, zwischen Theologie und zeitgenössischer philosophischer bzw. wissenschaftlicher Weltdeutung.¹⁰¹ Nebenbei hat sich allerdings ergeben, dass der Begriff der „Vermittlung“ darüber hinaus auch das in Schleiermachers ersten Predigten festzustellende Verhältnis von Hallescher und Kantischer Praktischer Philosophie treffend zu charakterisieren vermag. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Peter Grove, der dies bereits den gesamten „frühesten Arbeiten“ Schleiermachers attestiert hat.¹⁰² Die Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie führt mit dem oben explizierten Begriff der „Vermittlung“ nun allerdings hinsichtlich der ersten Predigten Schleiermachers noch einen Schritt weiter als diejenigen, die in Hinblick auf Schleiermachers Gesamtwerk dieses Verhältnis als Ergänzungsverhältnis bzw. als „Zusammenstimmung“, wie es Hans-Joachim Birkner formuliert,¹⁰³ oder als der „gemeinsamen Sphäre […] des reflektierten Selbstbewußtseins“ angehörig, wie es Eilert Herms charakterisiert, bezeichnen.¹⁰⁴

Datierung des zweiten Sendschreibens kann auf die Einleitung des Bandherausgebers in KGA I/10, S. LXXI – LXXIV verwiesen werden.  Vgl. Sydows Vorrede in SW II/7, S. VIII.  Vgl. Sydows Vorrede in SW II/7, S. VIII.  Vgl. Sydows Vorrede in SW II/7, S. XI.  Schwerpunktmäßig in Hinblick auf die theologischen Traditionen spricht auch Günter Meckenstock hinsichtlich der Schleiermacherschen „Jugendpredigten“ von dem diesen eignenden Anliegen der „vermittelnde[n] Neugewichtung“ (Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 173 f.; die Zitate befinden sich auf S. 173).  Vgl. Grove: Deutungen, S. 52.  Vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, S. 42 und S. 44, auch in: ders.: SchleiermacherStudien. Mit einer Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners v. Arnulf von Scheliha, eingeleitet u. hg.v. Hermann Fischer (SchlA 16), Berlin/New York 1996, S. 191 und S. 192.  Eilert Herms: Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins, in: ders.: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, S. 400 – 426, ins-

II. Predigtanalysen: Bedeutung von Theologie und Philosophie für Schleiermachers erste Predigten anhand der in diesen Predigten vorliegenden ethischen Konzeption (1789/90 bis zu seiner Ordination am 6. April 1794) II.1 Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie Um Aussagen über die ethische Konzeption der ersten Predigten Schleiermachers und anhand dieser über die Bedeutung von Theologie und Philosophie für diese Predigten treffen zu können, soll zunächst einmal deren Verhältnis zu den praktisch-philosophischen Traditionen untersucht werden, mit denen Schleiermacher sich in der Entstehungszeit dieser ersten Predigten schwerpunktmäßig auseinandersetzte. Dies sind insbesondere die Hallesche Schulphilosophie in Gestalt des von Schleiermachers akademischem Lehrer Johann August Eberhard vertretenen Systems sowie die aufkommende Praktische Philosophie Kants.¹⁰⁵ Vom methodischen Vorgehen her soll das Verhältnis zu diesen beiden praktisch-philosophischen Konzeptionen zunächst anhand der Examenspredigt Schleiermachers vom 15.07.1790 exemplarisch untersucht werden. Das besondere Interesse an Schleiermachers Examenspredigt verdankt sich in dieser Hinsicht dem Umstand, dass ihr in der Beurteilung der Prüfungskommission attestiert wurde, „‚mehr eine philosophische Abhandlung als eine populäre Volksrede‘“¹⁰⁶

besondere S. 400. Keine Entgegensetzung zwischen Theologie und Philosophie in Schleiermachers Gesamtwerk sieht auch Gunter Scholtz, der von „Schleiermachers Brückenschlag zwischen Theologie und Philosophie“ reden kann (vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers [Erträge der Forschung 217], Darmstadt 1984, S. 39).  Hinreichende Belege für die Angemessenheit einer solchen Schwerpunktsetzung ergeben sich aus Schleiermachers Briefwechsel dieser Zeit. Für Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant und Eberhard können als Belegstellen beispielsweise herangezogen werden: ein Brief an seinen Vater vom 14. August 1787 (Brief 80, 35 – 52, in: KGAV/1, S.92), ein Brief an seinen Freund von Brinckmann vom 26. Juni 1789 (Brief 119, 126 – 140, in: KGA V/1, S. 136 und Brief 119, 248– 261, in: KGAV/1, S. 140) sowie weitere Briefe Schleiermachers an von Brinckmann aus den Jahren 1789 und 1790 (vom 8. August 1789 unter Berücksichtigung des Kantianers Reinhold, Brief 121, 53 – 111, in: KGAV/1, S. 145 f.; vom 9. Dezember 1789, Brief 128, 257– 275, in: KGAV/1, S. 176 f. und vom 3. Februar 1790, Brief 134, 22– 113, in: KGA V/1, S. 190 – 193).  Heinrich Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, hg.v. Hermann Mulert, Berlin und Leipzig 1934 [Meisner: Lehrjahre], S. 47 f.

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II. Predigtanalysen

gewesen zu sein. Im Anschluss an die exemplarische Untersuchung der Examenspredigt wird dann die Berücksichtigung der übrigen ersten Predigten Schleiermachers hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie folgen. Die für diese Untersuchungen relevante Textgrundlage bilden auf Seiten der Philosophie insbesondere folgende Werke: – Eberhard, Johann August: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Eine Abhandlung, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1776 ausgesetzten Preis erhalten hat, Berlin 1776 [AThDE]. – Eberhard, Johann August: Sittenlehre der Vernunft. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen, verbesserte Aufl., Berlin 1786 [SdV]. – Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, mit einer Einleitung hg.v. Hans Werner Arndt (Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. u. bearbeitet v. J. École u. a., I. Abteilung. Deutsche Schriften, Bd. 4), Hildesheim/New York 1976 (Nachdruck der Aufl. Franckfurt u. Leipzig 1733) [Wolff: Deutsche Ethik]. – Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, mit einer Einleitung hg.v. Bernd Kraft u. Dieter Schönecker (Philosophische Bibliothek 519), Hamburg 1999 [Kant: Grundlegung]. – Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Mit einer Einleitung, Sachanmerkungen u. einer Bibliographie von Heiner F. Klemme hg.v. Horst D. Brandt u. Heiner F. Klemme (Philosophische Bibliothek 506), Hamburg 2003 [KpV]. – Philosophisches Magazin, hg.v. Johann August Eberhard, Bd. 1– 4, Halle 1788 – 1792. – Allgemeine Literatur-Zeitung, hg.v. Christian Gottfried Schütz, Jena/ Leipzig 1785 – 1803. In theologischer Hinsicht werden insbesondere folgende Schriften Spaldings herangezogen: – Spalding, Johann Joachim: Die Bestimmung des Menschen (11748; 21748; 3 1749; 41752; 51754; 61759; 71763; 81764; 91768; 101774; 111794), hg.v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski u. Dennis Prause unter Mitarbeit v. Verena Look u. Olga Söntgerath (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 1), Tübingen 2006 [SpKA I/1]. – Spalding, Johann Joachim: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), hg.v. Tobias Jersak (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 3), Tübingen 2002 [SpKA I/3].

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie



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Spalding, Johann Joachim: Neue Predigten (11768; 21770; 31777), hg.v. Albrecht Beutel und Olga Söntgerath unter Mitarbeit v. Verena Look u. a. (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 2. Abteilung: Predigten Bd. 2), Tübingen 2008 [SpKA II/2].

II.1.1 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312: „Wie derjenige beschaffen sein müsse, bei dem wahre Sinnesänderung und Besserung möglich sein soll“¹⁰⁷ zum Text Lk 5,29 – 32,¹⁰⁸ „Probepredigt zur Ersten theologischen Prüfung“ bzw. Examenspredigt,¹⁰⁹ gehalten am 15. 07. 1790¹¹⁰ II.1.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt „[W]ohl Ende April“ 1790¹¹¹ reiste Schleiermacher von Drossen nach Berlin, um sich dort „dem Examen pro licentia“ zu „stell[en]“. Vorausgegangen war „ein einsames Jahr“ bei seinem Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch,¹¹² der 1788 von seiner Gymnasialprofessur in Halle auf die reformierte Predigerstelle in Drossen gewechselt hatte.¹¹³ Dieses nicht nur hinsichtlich geselliger und geistiger Anregungen, sondern v. a. auch in ökonomischer Hinsicht äußerst dürftige Jahr hatte Schleiermacher dazu genutzt, seinen in den zwei Jahren zuvor an der  Vgl. SW II/7, 42, 2– 4 (das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben) und KGA III/3, S. 3. Zu beachten ist, dass die Reihenfolge der Worte „Sinnesänderung und Besserung“ in der Formulierung des Themas bzw. des Titels der Predigt auf Sydow zurückgeht, im handschriftlichen Original steht „Beßerung und Sinnesänderung“ (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23).  Vgl. KGA III/3, S. 3 sowie Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 31– 38 und SW II/7, 42, 5 sowie P 312, 15.07.1790, SW II/7, 44, 11.  Vgl. KGA III/3, S. 3 und von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331.  Die Nummerierungen der Predigten unter „Nr.“, gegebenenfalls mit folgender Nennung des Datums „Am […]“, entsprechen der Edition der bis in das Jahr 1808 zu datierenden Predigten Schleiermachers in KGA III/3. Die Nummerierungen der Predigten unter „P“ entsprechen von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331– 342. Die Titel bzw. Themen der Predigten sind SW II/7 entnommen, Sydow hat sie gemäß der Themenformulierung Schleiermachers im jeweiligen Einleitungsteil seiner Predigten formuliert. Die Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 bzw. P 312 findet sich in KGA III/3, S. 3 – 11 bzw. in SW II/7, S. 42– 53. Dass Wolfgang Trillhaas die Schleiermachersche Examenspredigt unter dem Jahr „1791 (1790)“ abdruckt, leuchtet nicht ein (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 212). Die Datierung der Predigt auf den 15.07.1790 steht aufgrund des Zusammenhangs mit Schleiermachers Erster theologischer Prüfung außer Frage.  Vgl. KGA V/1, S. 197, Anm. zu Brief 138, 39 – 47 mit Verweis auf Brief 136, 40 f. (KGA V/1, S. 195).  Vgl. Schleiermachers Selbstbiographie aus dem Jahr 1794, abgedruckt in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg.v. Wilhelm Dilthey, Bd. 1, Berlin 1858 [In Briefen I], S. 3 – 16. Das Zitat findet sich auf S. 13.  Vgl. KGA V/1, S. 114, Anm. zu Brief 108, 19 ff.

32

II. Predigtanalysen

Halleschen Universität erworbenen „fragmentarischen Kenntnissen […] in den theologischen Wissenschaften […] hie und da eine Ergänzung und überhaupt mehr inneren Zusammenhang zu geben.“¹¹⁴ Als ausschlaggebend für den Entschluss, das theologische Examen abzulegen, kann indessen kaum Schleiermachers Vorliebe für die Theologie bzw. für die in Berlin gelehrte Theologie angeführt werden.¹¹⁵ In einem sehr offenen Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann vom 09.12.1789 beklagte er sich: „Von meinem Thun wäre blutwenig zu sagen; ich vegetire mehr als ich lebe und verlerne mehr als ich studire. Studir’ ich ja etwas so ists theologischer Wust mit dem ich mich wieder bekannt mache, weil ich mich geliebts Gott in Berlin examiniren lassen will“.

Dass es im Grunde nichts anderes als die Sorge um seine Zukunft und die blanke materielle Not war, die ihn das Examen anstreben ließ, ist der Fortsetzung dieser Zeilen zu entnehmen: „[…] weil ich mich geliebts Gott in Berlin examiniren lassen will – (eine ekelhafte Bekanntschaft; und doch komt viel darauf an – denn es fehlt nur noch daß dieses Examen unglüklich abläuft, so seh ich mich genöthigt mich – weil es doch nicht erlaubt ist auszugehn – bei dem ersten besten Bärenführer der durch Droßen komt als Dudelsakpfeifer zu engagiren, denn meine Lunge ist noch erträglich. Eine lustige Affaire!)“.¹¹⁶

Die hier zum Ausdruck kommenden Vorbehalte Schleiermachers gegenüber der Theologie, wie sie das Berliner Examen prägen würde, dürfen nicht nur einer vorübergehenden Laune der verzweifelten Ungewissheit über die eigene Zukunft zugeschrieben werden – eine sicher sehnsüchtig erwartete Äußerung des Vaters hinsichtlich der Zukunft des Sohnes lag zum Abfassungszeitpunkt des eben zitierten Briefes noch nicht vor, sie kam kurz darauf, zusammen mit etwas verspäteten Geburtstagswünschen, in einem Brief des Vaters vom 10.12.1789.¹¹⁷ Schleiermachers weiterer Korrespondenz ist vielmehr zu entnehmen, dass er seinem Herrnhuter Freund Johann Baptist von Albertini ebenfalls gegen Ende des Jahres 1789 die differenzierende Frage stellte, „in wie fern [er] Philosoph? und in

 Vgl. Schleiermachers Selbstbiographie, in: In Briefen I, S. 13.  Schleiermacher war allerdings mit dem ausdrücklichen Wunsch, Theologie zu studieren, nach Halle gegangen (vgl. Herms: Herkunft, S. 39 mit Hinweis auf Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 21. Januar 1787 [vgl. Brief 53, 68 – 87, in: KGA V/1, S. 51 f.]).  Brief 128, 298 – 306, in: KGA V/1, S. 178 [Hervorh. i. Orig.]. Mit „ausgehen“ ist der Suizid gemeint, vgl. die in diesem Brief vorangehende Diskussion der diesbezüglichen Überlegungen Mendelssohns (Brief 128, 220 – 235, in: KGA V/1, S. 174 f.).  Brief 129, 59 – 63, in: KGA V/1, S. 181.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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wiefern [er] Bruder“ sei,¹¹⁸ an Carl Gustav von Brinckmann schrieb Schleiermacher am 03.02.1790 im Hinblick auf das bevorstehende Examen: „Ich fürchte nur mein guter Genius wird ominös die Flügel über meinem Haupt schütteln und davon fliehn wenn ich von theologischen Subtilitäten Red’ und Antwort geben soll, die ich im Herzen – verlache. Aber Eberhard hat sich auch einmal mit aller seiner Kezerei vom Consistorio müßen examiniren laßen.“¹¹⁹

Dass sich Schleiermacher trotz all dieser despektierlichen Äußerungen über die Theologie allerdings durchaus als „ein Wesen“ verstand, „das Gefühl für Ordnung, für Sittlichkeit und für Gott hat“,¹²⁰ ist dieser weiteren Korrespondenz ebenfalls zu entnehmen. Schleiermachers Kritik an der Theologie zielte auf Soteriologie und Christologie,¹²¹ das Christentum ohne Dogmatik wäre seiner Meinung nach vermutlich eine „für jedermann brauchbar[e]“ „Sammlung von Sittenregeln“ geblieben.¹²² So lässt sich bei Schleiermacher – anhand seiner brieflichen Äußerungen – für die hier in den Blick genommene Zeit eine Vorliebe für die Philosophie,¹²³ insbesondere für die Praktische Philosophie bzw. für die philosophische Ethik¹²⁴ feststellen. In theologischer Hinsicht dürfte eine gewisse Nähe

 Brief 133, 88 – 91, in: KGAV/1, S. 188 f.Vgl. dazu auch den durch diesen Hinweis erschlossenen Brief 132 (KGA V/1, S. 186).  Brief 134, 109 – 113, in: KGA V/1, S. 193. Mit Eberhard ist der in der Tradition der Halleschen Schulphilosophie stehende Philosophieprofessor Johann August Eberhard gemeint, der für Schleiermachers Studienzeit in Halle und noch einige Zeit darüber hinaus, gerade angesichts Schleiermachers brieflicher Äußerungen und Selbstzeugnisse, als Schleiermachers wichtigster akademischer Lehrer bezeichnet werden kann.  Brief 128, 319 – 334, in: KGA V/1, S. 178 f.  Vgl. dazu Schleiermachers sicher diskussionswürdige Beschreibung seines Onkels in einem Brief an Carl Gustav von Brinckmann vom 22.07.1789: „Der Umgang mit meinem Onkel verschaft mir eine Menge von Annehmlichkeiten […] Dieser Mann zieht sich desto mehr vom eigentlichen Christenthum zurück, je mehr er mit demselben zu thun hat […] Alle die Sächelchen vom Stellvertretenden Tod […] hatte er freilich längst verworfen aber Christus stellte sich ihm imer noch in einem gewißen übernatürlichen Licht dar – auch das gibt sich jezt nach und nach und er sieht die ganze Sache in Rüksicht auf unsre Zeiten nur als ein Mittel an dem Volk seine Pflichten auf eine wirksamere, überredendere Art, vorzustellen.“ (Brief 119, 156 – 168, in: KGA V/1, S. 137).  Brief 123, 71– 83, in: KGA V/1, S. 153.  Im Zusammenhang mit seinem Bericht über die Lektüre von Töllners Vermischten Aufsätzen schreibt er an Brinckmann am 03.02.1790 beispielsweise: „Ich hatte nur gelehrte theologische Abhandlungen erwartet und erstaunte nicht wenig einen Schaz von Metaphysik zu finden“ (Brief 134, 59 – 64, in: KGA V/1, S. 191).  Vgl. Brief 123, 71– 83, in: KGA V/1, S. 153.

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II. Predigtanalysen

zu deistischen Positionen nicht von der Hand zu weisen sein,¹²⁵ auch wenn sich Schleiermacher dem Vater gegenüber verständlicherweise, z. B. in seinem Brief vom 23.12.1789, zurückhaltender äußerte: „[…] aber ich habe von je her geglaubt, daß das Prüfen und Untersuchen, das geduldige Abhören aller Zeugen und aller Partheien, das einzige Mittel sei, endlich zu einem hinlänglichen Gebiet von Gewißheit […] zu gelangen […] So sehe ich den Kampfspielen philosophischer und theologischer Athleten ruhig zu, ohne mich für irgend einen zu erklären, oder meine Freiheit zum Preis einer Wette für irgend einen zu sezen, aber es kann nicht fehlen, daß ich nicht jedesmal von Beiden etwas lernen sollte.“¹²⁶

Seinem Freund Brinckmann gegenüber hatte er sich zuvor, im Oktober 1789, offener geäußert. Angesichts dessen drohender Rückkehr nach Schweden, um aufgrund fehlender Alternativen dort schließlich doch als Prediger sein Auskommen zu finden,¹²⁷ hatte er geschrieben, dass seine, Schleiermachers, „Parthie“ in Religionsangelegenheiten „unwiderruflich genommen“ sei, „und wenn Wizenmann von dem ich keine Silbe gelesen habe und Sokrates selbst zu Vertheidigung des Christenthums aufstehn […] so werden sie mich nicht zurükbringen.“¹²⁸ Gleichzeitig formulierte er in demselben Brief jedoch im Hinblick auf Brinckmanns möglicherweise bevorstehende Predigttätigkeit, was im Grunde auch für seine eigene kurz darauf beginnende Predigttätigkeit nicht ganz ohne Belang gewesen sein dürfte: „Ich tröste mich aber damit, daß Du ganz aufhören müßtest Du zu seyn, wenn Du nicht auch in dieser Lage Deinen Gesinnungen und Grundsäzen treu bleiben und die feine Mittelstraße

 Vgl. den von Dilthey genannten Titel eines der von Schleiermacher im „Frühjahr[…] und Sommer[…] 1789“ noch geplanten „kritischen Briefe“: „3. Br. an Theokles: ob ein Deist mit gutem Gewissen Prediger sein könne“ (in: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers erläutert durch kritische Untersuchungen, abgedruckt in: Dilthey: Leben I1, S. 5). Vgl. zudem die schon in diese Richtung weisenden Äußerungen Schleiermachers in seinem Brief an den Vater vom 14.08. 1787: „[…] da ich ferner auch bei meiner Denkart hinlängliche Bewegungsgründe finde mich Gotte immer wohlgefälliger zu machen; denn die täglichen handgreiflichen Wohlthaten Gottes, auch die mir unbegreifliche der Erlösung abgerechnet, sind so unübersehlich groß, daß ein außerordentlich unempfindliches Herz dazu gehörte nicht von Dankbarkeit und Liebe durchdrungen zu werden.“ (Brief 80, 24– 29, in: KGA V/1, S. 92). Schleiermacher äußerte bereits hier Zweifel an der christlichen Soteriologie, nicht aber an der Existenz eines die Welt durch seine Wohltaten erhaltenden Schöpfergottes.  Brief 131, 36 – 49, in: KGA V/1, S. 183.  Vgl. Brief 122, 11– 30, in: KGA V/1, S. 147 f.  Brief 124, 73 – 81, in: KGA V/1, S. 156.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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die man zwischen Heuchelei und Unbehutsamkeit gehen muß, glüklich wirst zu finden wißen.“¹²⁹

Auf diesem Hintergrund dürfte man dann auch den „berühmten“ Rat zu lesen haben, den Schleiermacher im Mai 1790 noch kurz vor seiner Examenspredigt brieflich von seinem Vater erhielt: „[…] und dann will ich Dir von mir selbst ein Beispiel, ob es Deiner Nachahmung werth ist, zur Untersuchung empfehlen. Ich habe wenigstens 12 Jahr lang als ein würcklicher Ungläubiger gepredigt. Ich war völlig damals überzeugt, daß Jesus in seinen Reden sich den Vorstellungen und selbst den Vorurtheilen der Juden acommodirt hätte, aber diese Meinung leitete mich dahin, daß ich glaubte, ich müste eben so bescheiden gegen Volcks-Lehre seyn; nie hab’ ich mir es können erlauben, den Artikel von der Gottheit Jesu und seiner Versöhnung zu bestreiten, weil ich es aus der Kirchengeschichte und aus eigener Erfahrung an andern Menschen wußte, daß diese Lehre vom Entstehen des Christenthums an Millionen Menschen Trost und Lebens-Besserung gegeben hatte, und pflegte sie auch allemal, wo es das Thema erlaubte, obschon ich selbst nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war, auf Moralität und Liebe gegen Gott und Menschen anzuwenden; ich wünschte, wenn Du auch von der Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens Dich nicht überzeugen kannst, daß Du wenigstens doch jene Lehre nie öffentlich bestreiten möchtest.“¹³⁰

Dafür, dass Schleiermacher seine eigenen Überzeugungen bewusst dem von kirchlicher oder staatlicher Seite aus Geforderten nicht nur angepasst, sondern im Grunde umgedeutet hätte, gibt es keine brieflichen Belege. Naheliegenderweise dürfte er deshalb m. E. für sich vielmehr, wie er es auch seinem Freund Brinckmann geraten hatte, den Vorsatz gefasst haben, den eigenen „Gesinnungen und Grundsäzen treu [zu] bleiben und die feine Mittelstraße die man zwischen Heuchelei und Unbehutsamkeit gehen muß, glüklich […] zu finden“.¹³¹ Eine solch vermittelnde Position dürfte Schleiermacher für sein bevorstehendes theologisches Examen durchaus vonnöten gewesen sein, bedenkt man, dass unter der Regentschaft Friedrich Wilhelms II. gerade einmal zwei Jahre zuvor, am 9. Juli 1788, das königliche Edikt „die Religionsverfassung in den preußischen Staaten betreffend“ bzw. das sogenannte „Wöllnersche Religionsedikt“ erlassen worden war,¹³² das auch in Drossen Spuren hinterlassen hatte. In der Ausgabe vom

 Brief 124, 85 – 88, in: KGA V/1, S. 157 [Hervorh. i. Orig.].  Brief 138, 71– 86, in: KGA V/1, S. 198 f.  Brief 124, 85 – 88, in: KGA V/1, S. 157. Eine Bestätigung dieser These ist den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung zu entnehmen, hinzuweisen wäre auf Abschnitt III dieser Arbeit, S. 377 f.  Vgl. Fritz Valjavec: Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch 72 (1953), S. 386.

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II. Predigtanalysen

Dienstag, den 29. Juli 1788 war in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die Schleiermacher, wenn auch etwas verspätet so doch regelmäßig las, über den Erlass des Edikts berichtet und u. a. der für Theologen und Prediger relevante § 7 im Wortlaut mitgeteilt worden.¹³³ In den beiden folgenden Paragraphen des Edikts, die in der genannten Ausgabe der Allgemeinen Literatur-Zeitung auszugsweise wiedergegeben sind, wurde, wie Wolfgang Gericke zusammenfasst: „Geistlichen und Lehrern […] ‚bei unausbleiblicher Kassation und nach Befinden noch härterer Strafe und Ahndung‘ untersagt, aufklärerische ‚Irrtümer‘ öffentlich zu verbreiten, […] ihrer privaten Überzeugung“ aber „sollte dadurch kein Zwang angetan werden (§ 8).“¹³⁴

In seinem Brief vom 23.12.1789 bereits hatte Schleiermacher dem Vater gegenüber im Hinblick auf das Edikt geäußert: „Schon die Anzeigen von alle dem pro- und contra-Gewäsch über das Religions-Edikt, welches eine geraume Zeit lang alle

 Dort heißt es: „‚[…] Dieser Befehl scheinet uns um so nöthiger zu seyn, weil (§. 7.) Wir bereits einige Jahre vor Unserer Thronbesteigung mit Leidwesen bemerkt haben, daß manche Geistliche der protestantischen Kirche sich ganz zügellose Freyheiten, in Absicht des Lehrbegriffs ihrer Religion, erlauben; verschiedene wesentliche Stücke und Grundwahrheiten der protestantischen Kirche und der christlichen Religion überhaupt wegläugnen, und in ihrer Lehrart einen Modeton annehmen, der dem Geiste des wahren Christenthums völlig zuwider ist, und die Grundsäulen des Glaubens der Christen am Ende wankend machen würden. Man entblödet sich nicht, die elenden, längst widerlegten, Irrthümer der Socinianer, Deisten, Naturalisten und anderer Secten mehr wiederum aufzuwärmen, und solche mit vieler Dreistigkeit und Unverschämtheit durch den äußerst gemißbrauchten Namen: Aufklärung, unter das Volk auszubreiten; das Ansehen der Bibel, als des geoffenbarten Wortes Gottes, immer mehr herabzuwürdigen, und diese göttliche Urkunde, der Wohlfarth des Menschengeschlechtes zu verfälschen, zu verdrehen, oder gar wegzuwerfen, den Glauben an die Geheimnisse der geoffenbarten Religion überhaupt, und vornemlich an das Geheimniß des Versöhnungswerks und der Genugthuung des Welterlösers den Leuten verdächtig oder doch überflüßig, mithin sie darinn irre zu machen, und auf diese Weise dem Christenthum auf dem ganzen Erdboden gleichsam Hohn zu bieten. Diesem Unwesen wollen Wir nun in Unsern Landen schlechterdings um so mehr gesteuert wissen, da Wir es für eine der ersten Pflichten eines christlichen Regenten halten, in seinen Staaten die christliche Religion, deren Vorzug und Vortrefflichkeit längst erwiesen und außer allen Zweifel gesetzt ist, bey ihrer ganzen hohen Würde und in ihrer ursprünglichen Reinigkeit, so wie sie in der Bibel gelehret wird und nach der Ueberzeugung einer jeden Confession der christlichen Kirche in ihren jedesmaligen symbolischen Büchern einmal festgesetzt ist, gegen alle Verfälschung zu schützen und aufrecht zu erhalten, damit die arme Volksmenge nicht den Vorspiegelungen der Modelehrer preiß gegeben und dadurch den Millionen Unserer guten Unterthanen die Ruhe ihres Lebens und ihr Trost auf dem Sterbebette nicht geraubet und sie also unglücklich gemacht werden.‘“ (Allgemeine LiteraturZeitung [Nr. 181/1788], Sp. 271 f.).  Wolfgang Gericke: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur Preussischen Union. 1540 bis 1815 (Unio und Confessio 6), Bielefeld 1977, S. 93 f.

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Pressen gefüllt hat, sind uns zum Ekel gewesen […]“.¹³⁵ Diese Äußerung lässt deutlich werden, dass das Religionsedikt, wenn es auch im Großen und Ganzen wenig konkrete Konsequenzen zeitigte,¹³⁶ in Preußen doch „Aufsehen“ erregte und für eine „vergiftete[…] […] Atmosphäre“ sorgte.¹³⁷ Fritz Valjavec versteht das Edikt denn auch in politischer Hinsicht als „erste entschiedene Kampfansage“ der preußischen Regierung „gegen die Aufklärung und ihre bereits deutlicher zutage tretende politische Ausstrahlung“ „am Vorabend der Französischen Revolution“.¹³⁸ Seine kirchenpolitische Bedeutung liege in der durchaus gelungenen Förderung des Schutzes des protestantischen Lehrbegriffs staatlicherseits.¹³⁹ Auf die Überlegungen Schleiermachers und seines Vaters, wie die eigenen Überzeugungen mit einer Predigttätigkeit zu verbinden sein könnten, dürfte das Religionsedikt jedenfalls Einfluss gehabt, wenn nicht sogar wesentliche Hebammendienste für dieselben geleistet haben. Auf diesem Hintergrund also reiste Schleiermacher im April 1790 nach Berlin „und fand zunächst Aufnahme bei einem Verwandten der Stubenrauchs, dem alten, halberblindeten Prediger Reinhard an der Parochialkirche“.¹⁴⁰ Als Prüfungsleistungen hatte Schleiermacher innerhalb von sechs Wochen zunächst einmal einen lateinischen Aufsatz zur „Erklärung des 5. Kapitels des Galaterbriefes unter besonderer Bezugnahme auf die Lehre von der Freiheit des Christen“ und einen Aufsatz in deutscher Sprache zum Thema „‚Zu welchem Zweck studiert ein künftiger christlicher Lehrer die Polemik, und wie verhütet er den Nachtheil, den dies Studium, wenn es zu weit getrieben wird, haben kann?’“ zu verfassen.¹⁴¹ Im Anschluss daran waren vier Klausuren zu schreiben, die Examenspredigt über Lk 5,29 – 32 schließlich „hielt Schleiermacher im Dom am 15. Juli vor dem Hof- und

 Brief 131, 95 – 97, in: KGA V/1, S. 184.  Ferdinand Christian Baur kommentiert diesbezüglich in seiner Kirchengeschichte der neueren Zeit: „Was auch die Ursache sein mochte, man wagte nicht weiter zu gehen, der Zopfprediger Schulz“ aus Gielsdorf in der Mark, der die vorgeschriebene Perücke beim Predigen nicht trug und 1792 seines Amtes enthoben wurde, „blieb der einzige wegen seiner Neologie abgesetzte Prediger.“ Friedrich Wilhelm III. schließlich untersagte die weitere „Einschärfung des Religionsedikts sehr nachdrücklich“ und setzte es dadurch de facto außer Kraft (Ferdinand Christian Baur: Kirchengeschichte der neueren Zeit, von der Reformation bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, nach des Verfassers Tod hg.v. Ferdinand Friedrich Baur, Tübingen 1863, S. 608 – 610). Vgl. zu Letzterem auch Gericke: Glaubenszeugnisse, S. 95.  Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd. 2 Reformation und Neuzeit, Gütersloh 32005 (11999), S. 628.  Valjavec: Religionsedikt, S. 394 f.  Vgl. Valjavec: Religionsedikt, S. 397– 399.  Meisner: Lehrjahre, S. 45.  Meisner: Lehrjahre, S. 46.

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II. Predigtanalysen

Dom-Ministerium. Sack, Karl Ludwig Conrad und Karl Georg Heinrich Michaelis, die beiden letzteren auch Hofprediger, bildeten das Spruchkollegium“.¹⁴² Über deren Beurteilung der Examenspredigt ist bei Meisner zu lesen: Sie „bestätigten in dem Bericht an den König, daß die Stimme und Deklamation gut und die Ausarbeitung mit großem Fleiß gemacht sei. ‚Wenn wir etwas an derselben zu tadeln gefunden haben,‘ so fährt der Bericht fort, ‚so ist es dies, daß sie mehr eine philosophische Abhandlung als eine populäre Volksrede war, indessen legte sie von seinen Kenntnissen ein sehr vorteilhaftes Zeugnis ab. Da er es auch selbst gefühlt hat, daß er den rechten Kanzelton in dieser Predigt verfehlt, so ist sein ernstlicher Vorsatz, sich bei künftigen Ausarbeitungen vor diesem Fehler viel sorgfältiger zu hüten.‘“¹⁴³

Dieser eher zurückhaltenden Beurteilung der Predigt stand indessen „das Lob des väterlichen Freundes Sack“¹⁴⁴ gegenüber, und auch Schleiermachers Onkel Stubenrauch urteilte nach der Lektüre der „mit Randglossen versehene[n] Predigt“: „Herr Conrad [habe] alles zu seinem Stekkenpferd, dem vermeinten Mangel an Popularität […] hinzwingen wollen“, Schleiermacher aber habe in seiner Antwort an das Prüfungskollegium¹⁴⁵ Conrads „Tadel sehr gut entkräftet“. Über den Eingangsteil der Predigt konnte er seinen Neffen schließlich ebenfalls beruhigen: „Daß Sie aber glauben, der zweite Eingang sei zu lang, däucht mir nicht.“¹⁴⁶

II.1.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation Die Redesituation dieser Predigt erhellt im Grunde vollständig aus dem ihr zugrunde liegenden Anlass des theologischen Examens. Konkrete jahreszeitliche oder (sonstige) kasuale Charakteristika sind nicht festzustellen. Zur liturgischen Verortung kann auf das die Predigt abschließende Gebet hingewiesen werden.

 Meisner: Lehrjahre, S. 47 (das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage gesperrt gedruckt). Mit Sack ist hier „der Sohn August Friedrich Wilhelm Sacks, Friedrich Samuel Gottfried (1738 – 1817)“, gemeint, der „seit 1777 Hof- und Domprediger“ war (vgl. Gericke: Glaubenszeugnisse, S. 94).  Meisner: Lehrjahre, S. 47 f.  Meisner: Lehrjahre, S. 48.  Diese Antwort ist leider nicht überliefert. Der Brief, in dem Schleiermacher sie seinem Onkel mitgeteilt haben muss, ist wie alle seine anderen Briefe an Stubenrauch offensichtlich nicht erhalten.  Brief 147, 2– 13, in: KGA V/1, S. 204.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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II.1.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt In der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt übergeht Schleiermacher das für die folgenden Darlegungen s. E. indiskutable Beispiel derjenigen Menschen, denen bereits „jeder Begrif von Tugend und Religion […], jedes Gefühl für das sittlich gute und schöne“ bzw. „jede[r] ernsthafte[…] Gedanke[…] an höhere Bestimmung“ des Menschen fehlt, um beim negativen Beispiel der Menschen anzusetzen, die trotz der Einsicht in „die Nothwendigkeit der Tugend“ ihre eigenen Mängel bezüglich des „moralischen Zustand[s] ihres Herzens“ nicht wahrnehmen wollen und sich so „in den wichtigsten Angelegenheiten eines vernünftigen Geschöpfs, in ihrem Urtheil über ihren eigenen Werth und über ihr Verhältniß gegen Gott […] täuschen und […] betrügen.“¹⁴⁷ Nach ersten Hinweisen auf mögliche Ursachen dieser Haltung klingen in deren entscheidender Konsequenz bereits Thema und Intention der Predigt an: diese Menschen „legen ihrer eignen Beßerung das größte Hinderniß in den Weg; denn es ist unläugbar, daß dies unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit der erste Schritt zur christlichen Vollkommenheit“ ist.¹⁴⁸ Es folgt der Predigttext: Lk 5,29 – 32.¹⁴⁹ Von der durch den Predigttext vorgegebenen Unterscheidung zwischen „zwei verschiedene[n] Klaßen von Menschen […] nemlich denen […], die sich ausschließend weise und gut zu seyn dünkten“, und der „niedrige[n], besonders in Rüksicht auf Sittlichkeit und Religiosität gering geschäzte[n] Volksklaße“ sowie von der den Predigttext abschließenden Äußerung Jesu: „Ich bin kommen zu rufen den Sündern zur Buße und nicht den gerechten“, führt Schleiermacher nun zum Thema seiner Predigt hin: „wie derjenige beschaffen seyn müße, bei dem die hauptsächliche Wirkung des Christenthums, nemlich wahre Beßerung und Sinnesänderung möglich seyn soll“.¹⁵⁰ Die kurz skizzierte Disposition verweist daran anschließend darauf, dass dieses Thema im Folgenden in einem zweiteiligen Hauptteil bearbeitet wird. Der erste Teil des Hauptteils behandelt die Frage, „worin diese Beschaffenheit eigentlich bestehe“, der zweite Teil des Hauptteils beschäftigt sich mit dem „Grund […], warum sie so unumgänglich nothwendig sei“.¹⁵¹ Um die im Thema genannte Beschaffenheit näher zu qualifizieren, arbeitet Schleiermacher im ersten Teil des Hauptteils mit dem durch den Predigttext vorgegebenen Unterschied zwischen den sogenannten „Gerechten“ und den sogenannten „Sünder[n]“. Die „Gerechten“,¹⁵² seien es die entsprechenden im

     

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 21. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 24– 27. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 31– 38. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 1– 23. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 23 – 26. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 28 – 31.

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II. Predigtanalysen

Predigttext erwähnten Zeitgenossen Jesu, oder aber die „viele[n] Menschen“, die ihnen „in diesem wesentlichen Fehler […] noch immer […] auf mancherlei Weise ähnlich“ sind, bleiben aufgrund ihrer Selbstgerechtigkeit bzw. aufgrund ihrer „grundlose[n] Zufriedenheit mit sich selbst“,¹⁵³ die wiederum auf einem unangemessenen oder unvollständigen Tugendverständnis sowie dem diesem entsprechenden Verhalten beruht, für „alle Wirksamkeit des Unterrichts Jesu“ verschlossen.¹⁵⁴ Die ganz offensichtlich sündig lebenden Menschen dagegen waren und sind für diese Wirksamkeit offen. Grund dafür ist nicht ihre Sündhaftigkeit oder „[d]ie Sünde an und für sich“, „wol aber das lebhafte Bewußtseyn, das traurige Gefühl derselben“. Denn dadurch, dass sie ganz offensichtlich schon die äußeren „Vorschriften des Gesezes übertreten“, steht ihnen „die Nothwendigkeit einer […] gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze“ unmittelbar vor Augen. Sie kommen nicht in die Versuchung, sich über die „richtigere Erkentniß ihres eigentlichen Zustandes“ zu täuschen. Diese Erkenntnis bzw. das „lebhafte[…] Bewußtseyn unsrer Fehler“¹⁵⁵ ist nun aber das entscheidende Merkmal der Beschaffenheit, die „wahre Beßerung und Sinnesänderung“¹⁵⁶ ermöglicht. Diese Beschaffenheit ist nun aber laut Schleiermacher auch für seine Predigthörerinnen und Predigthörer notwendig, zumal sie für diese schon durch den ernsthaften Blick auf das „Beispiel Jesu“ und den „hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“ sowie die „Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ zu erschließen seien.¹⁵⁷ Die Folgen bzw. „Früchte“¹⁵⁸ und damit die Notwendigkeit der besagten Beschaffenheit veranschaulicht Schleiermacher im zweiten Teil des Hauptteils als seelische, geistige oder auch moralische Genesung des Menschen.¹⁵⁹ Er greift dazu auf das im Predigttext vorgegebene Gegensatzpaar der „Gesunden“ und „Kranken“¹⁶⁰ zurück, mit dessen Hilfe er zunächst auf die Analogie zwischen körperlicher und seelischer Krankheit bzw. Genesung verweist. Wie die körperliche Krankheit nur geheilt werden kann, wenn der kranke Mensch sie ernst nimmt, so ist auch die „kranke Seele“¹⁶¹ auf die Einsicht angewiesen, dass die Notwendigkeit zur Heilung besteht. Denn nur, wer „tief das Bedürfniß eines helfenden Arztes

        

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 4– 8. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 4– 7, 2. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 2– 8, 3. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 22. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 35 – 8, 3. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 5. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 25 – 9, 7. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 36 f. Zitiert wird Lk 5,31. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 26.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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empfindet“, wird dessen Anordnungen befolgen und so „durch die Empfindung seiner Schwachheit und Hülfsbedürftigkeit, der Genesung näher kommen“.¹⁶² Die Grenzen dieser Analogie bringen jedoch einen grundsätzlichen Unterschied zum Ausdruck. Bei körperlichen Krankheiten kann es vorkommen, dass sie völlig geheilt werden. Die im Rückgriff auf den Predigttext als Buße interpretierte Genesung der Seele jedoch, „die ganze Aenderung unsrer Grundsäze und Gesinnungen, die Ablegung alles deßen, was darin den richtigen Begriffen von Tugend und Religion nicht gemäß ist“, lässt sich „in diesem Leben“ nicht vollenden, denn immer werden in der Seele noch „Spuren von Schwachheit, von Mangelhaftigkeit“ bzw. „unrichtiges und unvollkomnes genug“, „nicht nur in unsern einzelnen Handlungen, sondern auch in den Gesezen, welche wir dabei befolgen“, zurückbleiben. Kurz gesagt: „Der Kranz der Genesung wird uns also erst jenseits des Grabes zu Theil; hier aber vollenden wir diese Buße niemals“.¹⁶³ Der bis hierher in der Predigt ausschließlich thematisierten rechten menschlichen Selbsterkenntnis bzw. dem „Gefühl unsrer Unvollkommenheit“¹⁶⁴ oder dem „lebhafte[n] Bewußtseyn unsrer Fehler“¹⁶⁵ wird an diesem Punkt nun das bereits ganz zu Beginn als zweite „wichtigste[…] Angelegenheit[…] eines vernünftigen Geschöpfs“ angekündigte rechte bzw. angemessene „Urtheil“ des Menschen über sein „Verhältniß gegen Gott“¹⁶⁶ zur Seite gestellt. Letzteres ergänzt und vertieft das zuerst in den Blick genommene Gefühl noch einmal, denn die mit diesem Urteil verbundenen „Empfindungen […] stehn in Absicht auf ihre Stärke und Richtigkeit“ nicht nur „im genausten Verhältniß mit der Lebhaftigkeit jenes Gefühls“, sie führen im Grunde noch weiter: Während „dies Gefühl“ zwar „ein […] wesentliches Stük […] zu unserer wahren sittlichen Beßerung überhaupt“ darstellt, eröffnet das rechte Urteil über das Verhältnis des Menschen zu Gott „für den, welcher einsieht, daß diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion, […] bewerkstelligt werden kann“, erst den Zugang zu „allen wirklich frommen Empfindungen […] und […] Früchte[n] derselben“. Der Weg dazu aber führt über die Einsicht in die grundlegenden „äußern“, v. a. aber in die „unendlichen Wolthaten, welche Gott unsrer unsterblichen Seele erzeigt“, sowie über die daraus folgende „Empfindung wahrer Dankbarkeit“ gegenüber dem „höchste[n] Wesen“; im Grunde könnte man hier schon formulieren: über die Einsicht und das Gefühl der menschlichen Abhängigkeit von Gott. Zur sittlichen Besserung gehören dementsprechend also sowohl die wahre Selbsterkenntnis als auch das entsprechende Urteil über das Verhältnis

    

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 36 – 9, 7. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 7– 34. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 27. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 1– 3. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 2– 7.

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II. Predigtanalysen

des Menschen zu Gott.¹⁶⁷ Erst im Zusammenspiel beider stellen sich die vollen Folgen bzw. Früchte der zur „wahre[n] Beßerung und Sinnesänderung“ nötigen „Beschaffenheit“ des Menschen ein.¹⁶⁸ Oder wie Schleiermacher in anverwandelnder Interpretation von Lk 7,47 formuliert: Nur „[w]em viel vergeben ist, d. h. wer es erkent, wie groß seine Fehler sind, und wie groß das nachsichtige Mitleiden Gottes mit ihnen seyn muß: der liebt auch viel, deßen Seele steht allen wirklich frommen Empfindungen offen und genießt die Früchte derselben“.¹⁶⁹ Das Ende des zweiten Teiles des Hauptteiles geht daraufhin in den Schluss der Predigt über, dem als Predigtintention die Aufforderungen zu entnehmen sind, „die richtigere Einsicht in unsern Zustand nicht [zu] scheun“, dabei aber auch nicht dem Missverständnis zu verfallen, sich von dieser „Selbstkentniß“ und der damit verbundenen Steigerung der „religiösen Empfindungen“ zu einer grundsätzlichen „Unthätigkeit“ oder Lähmung verleiten zu lassen, sondern „alles was wir erkennen und empfinden, […] zu unserer Besserung“ zu gebrauchen und in entsprechende Handlungen umzusetzen.¹⁷⁰ Das abschließende Gebet expliziert diese Predigtintention noch einmal durch die Bitte um Bewahrung „vor der Gefahr jener stolzen Selbsttäuschung“, um die Erhaltung „jener demüthigern Gemüthsverfassung“, um die stetige Zunahme „in der richtigen Kenntniß deßen, was wir seyn sollten und was wir sind“, und schließlich um die Ausrichtung „unser[es] ganze[n] Bestreben[s]“ nach der „Vollkommenheit […], die wir zwar hier nie erreichen, die […] uns aber dort in einem beßern Leben“,¹⁷¹ zu einem „endlichen Zeitpunkt […] in der Ewigkeit“,¹⁷² um „unsers Erlösers willen“ „beschieden“ sein wird.¹⁷³ Aus dem hier nachgezeichneten Gedankengang ergibt sich folgende Skizze der Predigtdisposition:¹⁷⁴

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 10, 32.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 19 – 26.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 28 – 32.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 33 – 11, 18.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 19 – 31.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 17 f.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 30 f.  Die hier vorgelegten Skizzen der Predigtdispositionen gehen im Grunde von einer vierteiligen Gliederung der Rede aus: exordium bzw. principia, narratio, argumentatio, peroratio bzw. conclusio (vgl. auch Lausberg: Handbuch, § 262, S. 147 und Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 18 f.). In der Durchführung der Skizzierung der Predigtdispositionen wird diese Vierteilung dann allerdings auf drei Teile reduziert. Der Grund dafür ist, dass das exordium der Schleiermacherschen Predigten die narratio meist schon enthält. Die argumentatio bildet den Hauptteil, die peroratio jeweils den Schluss der religiösen Rede. Für den Eingangsteil wird damit die Bezeichnung „exordium“, für den Schlussteil die Bezeichnung „peroratio“ gewählt.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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EXORDIUM: Allgemeine Einleitung:¹⁷⁵ Narratio: Von den verschiedenen Möglichkeiten, Gründen und Folgen des nahezu allgemeinen Sachverhalts, dass sich Menschen „über ihren eigenen Werth und über ihr Verhältniß gegen Gott […] täuschen und betrügen.“¹⁷⁶ Vorweggenommene summa:¹⁷⁷ Das „unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit“ ist Grundlage eines angemessenen Urteils in diesen beiden Fragen und demzufolge auch „der erste Schritt zur christlichen Vollkommenheit“.¹⁷⁸ Text: Lk 5,29 – 32 Einleitung des Themas aus dem Text:¹⁷⁹ Die im Predigttext vorgegebene Unterscheidung zwischen „zwei verschiedene[n] Klaßen von Menschen“ bzw. zwischen Sündern und Gerechten¹⁸⁰ führt zum Thema bzw. zur propositio.

 Für die Unterteilung des Eingangsteils der Predigten wird zunächst auf die Begrifflichkeit zurückgegriffen, die Schleiermachers Praktischer Theologie zu entnehmen ist. Zugrunde gelegt wird dabei insbesondere Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs (Friedrich Schleiermacher‘s literarischer Nachlaß. Zur Theologie, Bd. 8, dieser in: SW I/13), Berlin 1850 [Schleiermacher: PT], Beilage B, S. 808: „Ob die ganze Einleitungsmasse Ein ungetheiltes ist, wenn der Text vorangeht; oder ob die Einleitung des Thema aus dem Text durch ihn von der ‚allgemeinen Einleitung‘ gesondert wird, gilt hier völlig gleich.“ Für den Eingangsteil ergibt sich damit einerseits die Form, die mit dem Text beginnt und dann eine ungeteilte „Einleitung des Thema aus dem Text“ folgen lässt, andererseits die Anordnung, die zuerst eine „allgemeine[…] Einleitung“, dann den Predigttext und schließlich die „Einleitung des Thema aus dem Text“ vorsieht. An Schleiermachers Predigten selbst lässt sich beobachten, dass beide Formen des Einleitungsteils verwendet werden und jeweils mit einer Darlegung der Disposition des Hauptteiles bzw. mit dessen divisio oder partitio enden (vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19 und die Tabelle bei Lausberg: Handbuch, § 262, S. 148 f.). U.a. im Anschluss an diese Beobachtung werden die folgenden Skizzen der Predigtdispositionen auch mit den entsprechenden bzw. jeweils zugrunde liegenden rhetorischen Kategorien arbeiten, um Inhalt und Funktion der jeweiligen Redeteile sowie den Gedankengang der Predigten insgesamt noch präziser darstellen zu können.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 7.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 1244, narratio I) A) 1) c), S. 755.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29.  Schleiermacher selbst hielt diesen „zweiten Eingang“ offensichtlich für zu lang geraten (vgl. Brief 147, 12 f., in: KGA V/1, S. 204).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 1– 23.

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II. Predigtanalysen

Thema bzw. propositio:¹⁸¹ „[W]ie derjenige beschaffen seyn müße, bei dem die hauptsächliche Wirkung des Christenthums, nemlich wahre Beßerung und Sinnesänderung möglich seyn soll.“¹⁸² Divisio bzw. Partitio:¹⁸³ I. „[W]orin diese Beschaffenheit eigentlich bestehe“. II. „[W]arum sie so unumgänglich nothwendig sei“.¹⁸⁴

ARGUMENTATIO: I. Zum Wesen der für wahre Besserung und Sinnesänderung nötigen Beschaffenheit: I.1 Negatio: Diese Beschaffenheit eignet den nur so genannten Gerechten oder Selbstgerechten nicht. I.1.1 Den im Predigttext genannten Schriftgelehrten und Pharisäern eignet sie nicht, denn – sie geben sich nur selbst für gerecht aus, – täuschen sich dabei aber über ihre Fehler durch „selbsterdachte[…] gute[…] Werke[…]“ hinweg, außerdem – führt sie ihre vorgegebene oder rein äußerliche Gesetzestreue zu dem Irrtum, „daß sie keiner Besserung weiter bedürften“.¹⁸⁵ I.1.2 Den gegenwärtigen Menschen, die den zuvor Genannten nun „in diesem wesentlichen Fehler […] noch immer […] auf mancherlei Weise ähnlich“ sind, eignet diese Beschaffenheit entsprechenderweise ebenfalls nicht (enumeratio „solche[r] gerechte[r], welche Christus für ungeschikt erklärt, von ihm zur Buße gerufen und gebeßert zu werden“): – Menschen, die sich scheuen, Tugend und Religion in ihrem vollen Umfang wahr- und ernstzunehmen. – Menschen, die nur den äußeren Schein von „Tugend und Religiosität“ wahren. – Menschen, die sich nur rühren lassen, sich auf eine verstandesmäßige Aneignung von Tugend und Religion beschränken, oder sich mit zufälligen einzelnen guten Eigenschaften oder Handlungen ihrerseits zufrieden geben,

    

Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23. Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 23 – 26. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 28 – 6, 6.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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ohne jedoch eine Sinnesänderung zu vollziehen und den entsprechenden „bleibenden Einfluß“ auf ihr Betragen erkennen zu lassen.¹⁸⁶ I.2 Positio: Diese Beschaffenheit eignet aber den Sündern. I.2.1 Sie eignet den im Predigttext erwähnten Sündern zur Zeit Christi – nicht aufgrund der Sünde an sich, sondern aufgrund des „lebhafte[n] Bewußtseyn[s], d[e]s traurige[n] Gefühl[s] derselben“, das mit ihren „in die Augen fallenden Ausbrüche[n] der innern Untugenden“ verbunden war (contrapositum bzw. antitheton). – Im Gegensatz zu denjenigen, die aufgrund ihres (Miss‐)Verständnisses der Tugend und des „mosaischen Gesez[es]“ nur „auf die äußern Handlungen“ wert legten, war ihnen der „genaue[…] Zusammenhang zwischen Verdorbenheit der Gesinnungen und äußern Schandthaten“ plastisch genug vor Augen, um „die Nothwendigkeit einer solchen gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze ein[zu]sehn, welche Jesus forderte“ (contrarium und exemplum). I.2.2 „Diese richtigere Erkentniß ihres eigentlichen Zustandes“ ist es nun aber, die Christus „noch jezt von einem jeden fordert, der sich durch seine Lehre zur Seligkeit will führen laßen“. Der Zugang zu dieser Erkenntnis ist den Predigthörerinnen und Predigthörern der Gegenwart aber im Unterschied zu den Zeitgenossen Jesu erleichtert. Sie brauchen „nicht erst so tief gesunken zu seyn“, ihnen reicht der Vergleich mit dem „Beispiel Jesu, […] seine[n] Vorschriften“ und „den Geboten unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“, die in Verbindung miteinander „das erhabene Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, als „Ziel dem wir uns bis in Ewigkeit nähern sollen,“ vor Augen stellen (dissimile). I.3 Summa: „[W]enn wir hiemit oft unsern eignen Zustand vergleichen, so werden wir niemals in jene verderbliche Selbstzufriedenheit gerathen, sondern immer ein lebhaftes Bewußtseyn unsrer Fehler behalten.“¹⁸⁷ II. „[W]elches die Früchte desselben sind, und warum es also so nothwendig sei“¹⁸⁸ oder Folgen der bzw. Gründe für die Notwendigkeit der beschriebenen Beschaffenheit:

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 4– 7, 2.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 2– 8, 3.  Dieser Teil der Überschrift entspricht der Formulierung, mit der Schleiermacher vom ersten Teil des Hauptteiles zu dessen zweitem Teil überleitet, vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 3 – 5.

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II. Predigtanalysen

II.1 Die similitudo zwischen körperlicher und seelischer Krankheit bzw. Genesung. – Wie der körperlich kranke Mensch, der seine Krankheit nicht zur Kenntnis nimmt und demzufolge auch keine Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung bzw. Genesung zeigt, auf „eine[n] schleunigen Tod[…]“ zugeht, so nähern sich auch die seelisch kranken Menschen, „die in blinder träger Zufriedenheit kein Bedürfniß nach einem Arzt wie Jesus für ihre kranke Seele ist fühlen“, einem „schleunige[n] […] Tod[…] des Geistes, dem gänzlichen moralischen Verderben“ (simile).¹⁸⁹ – Im Gegensatz dazu wird der Mensch, der um seine körperliche oder seelische Krankheit weiß, die Vorschriften „eines helfenden Arztes“ ernst nehmen und „so […] nach und nach, eben durch die Empfindung seiner Schwachheit und Hülfsbedürftigkeit, der Genesung näher kommen“ (simile, antithetisch zum ersten Vergleichspunkt konzipiert).¹⁹⁰ II.2 Die Grenzen der similitudo bzw. Analogie. – Während der körperlich kranke Mensch „doch einmal gesund“ wird, benötigen wir das „Gefühl unsrer Schwäche und Krankheit“ in seelischer, geistiger oder moralischer Hinsicht lebenslang (dissimile). – Anticipatio: Nichts anderes beinhaltet, recht verstanden, die im Predigttext erwähnte Buße. Sie erläutert und präzisiert, im Grunde als deren Synonym, die seelische Genesung. So gilt in seelischer Hinsicht: „Der Kranz der Genesung wird uns […] erst jenseits des Grabes zu Theil“.¹⁹¹ II.3 Incrementum: „[D]as lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler […], welches zu unserer wahren sittlichen Beßerung überhaupt gehört“, ist „noch in besonderer Rüksicht nothwendig für den, welcher einsieht, daß diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion und vermittelst der Empfindungen, welche sie einflößt, bewerkstelligt werden kann.“ – Die „aus der Erkentniß unsrer Verhältniße gegen Gott und den Stifter der Religion“ kommenden Empfindungen entsprechen hinsichtlich „ihre[r] Stärke und Richtigkeit […] der Lebhaftigkeit jenes Gefühls“ (simile). – Die für diese Erkenntnis und Empfindungen entscheidende, sich auch auf die Handlungen des Menschen auswirkende Dankbarkeit entspringt „meistentheils“ nicht den „äußern“, sondern der „richtige[n] Schäzung der unendlichen Wolthaten, welche Gott unsrer unsterblichen Seele erzeigt, […] womit er

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 6 – 35.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 36 – 9, 7.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 7– 34.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie



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für ihre Erziehung gesorgt hat“, und damit – zumindest auch – einer angemessenen Kenntnis des Zustandes der menschlichen Seele (simile, ein contrapositum bzw. antitheton beinhaltend). Im Gegensatz zu demjenigen, der diese Erkenntnis und Empfindungen „nicht erkennt, oder nicht nöthig zu haben glaubt“, kommt aber erst derjenige, der sowohl „erkent, wie groß seine Fehler sind“, als auch „wie groß das nachsichtige Mitleiden Gottes mit ihnen seyn muß“, aufgrund der Einsicht in die Abhängigkeit seiner Besserung von „ein[em] helfende[n] Wesen“ bzw. von „eine[m] höhern Beistand“, in den Genuss „alle[r] wirklich frommen Empfindungen“ und der „Früchte derselben“ und erst „seine Handlungen“ werden den „Empfindungen der Religion in sich“ „gemäß seyn“. (dissimile, eine comparatio ¹⁹² beinhaltend, beide Glieder derselben mit anaphorischen descriptiones ausgestaltet).¹⁹³

PERORATIO: Recapitulatio: „[L]aßt uns also die richtigere Einsicht in unsern Zustand nicht scheun, […] vielmehr jene schädliche Unbekanntschaft mit uns selbst fliehn“, dabei aber auch nicht dem Missverständnis verfallen, uns von dieser „Selbstkentniß“ und der damit verbundenen Steigerung der „religiösen Empfindungen“ zu einer grundsätzlichen „Unthätigkeit“ oder Lähmung verleiten zu lassen, sondern „alles was wir erkennen und empfinden“ auch „zu unserer Besserung“ nutzen.¹⁹⁴ Gebet: Nochmalige, durch die vier Bitten des Gebets anaphorisch formulierte Ausdifferenzierung der recapitulatio: Bitte um Bewahrung „vor der Gefahr jener stolzen Selbsttäuschung“, um die Erhaltung „jener demüthigern Gemüthsverfassung […], wobei wir allein die Früchte der Sendung deines Sohnes zu unserer Besserung vollkommen genießen können“, um die stetige Zunahme „in der richtigen Kenntniß deßen, was wir seyn sollten und was wir sind“, und schließlich um die Ausrichtung „unser[es] ganze[n] Bestreben[s]“ nach der „Vollkommenheit […], die wir zwar hier nie erreichen, die […] uns aber dort in einem beßern Leben“,¹⁹⁵ zu einem „endlichen Zeitpunkt […] in der Ewigkeit“,¹⁹⁶ um „Deines Sohnes unsers Erlösers willen“ „beschieden“ sein wird.¹⁹⁷ Amen.

     

Vgl. Lausberg: Handbuch, § 799, S. 393 – 395. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 31– 10, 32. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 33 – 11, 18. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 19 – 31. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 16 – 18. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 30 f.

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II. Predigtanalysen

II.1.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt An dieser Stelle ist zunächst einmal auf die sorgfältige rhetorische Komposition der gesamten Predigt hinzuweisen. Dabei ist ein häufiger Gebrauch des Stilmittels der Anapher zu beobachten, das z. B. gleich zu Beginn des Eingangsteils oder auch am Ende des zweiten Teils des Hauptteils und dort gleich mehrfach auftritt. Die eindringliche Wirkung wird dort noch gesteigert, indem die Anapher mit gegensätzlichen Typologien von Menschen bzw. Typen und Antitypen verbunden wird.¹⁹⁸ Das Arbeiten mit Gegensatzpaaren oder Gegensätzen kann im Anschluss daran bzw. darüber hinaus als ein wesentliches Strukturelement der Predigt bezeichnet werden, das z. B. den Aufbau des gesamten ersten Teils des Hauptteils grundsätzlich prägt, dessen positio dabei ihrerseits bereits drei antitheta oder Gegensätze aufweist.¹⁹⁹ Die Funktion der Verwendung solcher antitheta kann dabei beispielsweise anhand des Beginns des zweiten Teils des Hauptteils verdeutlicht werden: Die antithetische Gegenüberstellung der similitudo derer, die ihre körperliche bzw. seelische Krankheit ignorieren einerseits und derer, die sich ihrer körperlichen bzw. seelischen Krankheit bewusst sind und sich helfen lassen andererseits, schafft nicht nur die Basis für die folgende Ausdifferenzierung und Erweiterung der beschriebenen similitudo, sondern beabsichtigt natürlich auch das Hineinnehmen der Zuhörenden in die vorgetragene dialektische Überlegung und darüber letztlich die Hinführung zur Zustimmung zum entwickelten Ergebnis.²⁰⁰ Bemerkt sei an diesem Punkt sodann die dem gesamten zweiten Teil des Hauptteils zugrunde liegende Klimax. Die zu Anfang erwähnte similitudo wird zunächst einmal durch ein dissimile überboten: im Gegensatz zur körperlichen Genesung währt die seelische Genesung bis „jenseits des Grabes“. Gesteigert wird diese Unähnlichkeit nun noch durch einen neuen Gedanken: besonders nötig ist das „Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler“ dem religiösen Menschen, der sich auf die „Hülfe der Religion“ angewiesen weiß.²⁰¹ Aufgenommen wird damit schließlich – am Ende des zweiten Teils des Hauptteils – der zweite Aspekt des in den ersten Sätzen des Eingangsteils der Predigt bereits erwähnten häufig anzutreffenden Selbstbetrugs der Menschen: ihr

 Vgl. z. B. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 7– 21: „Ich will nicht […] Ich will nicht […] sondern auf die weit größere Anzahl derer will ich aufmerksam machen, welche […]“ oder Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 7– 32: „Wer also […], wer sich einbildet […], wer es nicht überlegt […] – o! der […]“. „Derjenige aber, […] deßen Gebet […], deßen kürzester Seufzer […]. „Er wird […] Er ist es […]“.  Verwiesen sei dazu auf die entsprechenden Hinweise in der Skizze der Predigtdisposition.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 6 – 9, 7.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 6 – 10, 32.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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„Urtheil […] über ihr Verhältniß gegen Gott“ betreffend. Durch die Positionierung an letzter Stelle der den zweiten Teil des Hauptteils strukturierenden Klimax und damit zugleich am Ende des gesamten Hauptteils der Predigt kommt diesem Inhalt eine besondere Bedeutung zu. Es ist nun allerdings auch festzustellen, dass der hier verhandelte Sachverhalt im Vergleich zu den vorherigen Ausführungen der Predigt über die Kenntnis des eigenen moralischen Zustandes der Menschen und ihr Fehler- bzw. Sündenbewußtsein, also im Vergleich zu der ersten der beiden „wichtigsten Angelegenheiten eines vernünftigen Geschöpfs“, einen deutlich geringeren Raum einnimmt. Zudem werden die Überlegungen zum Urteil der Menschen „ihr Verhältniß gegen Gott“ betreffend²⁰² im Grunde nicht als eigenständiges Thema, sondern lediglich im Dienst einer Präzisierung und Steigerung des zuvor ausführlichst behandelten Fehler- bzw. Sündenbewußtseins behandelt. Der inhaltliche Schwerpunkt der Predigt liegt damit auf dem Aspekt des „unangenehme[n] Gefühl[s] unsrer Unvollkommenheit“²⁰³ bzw. des „lebhafte[n] Bewußtseyn[s] unsrer Fehler“,²⁰⁴ wie es schon die Kulminationspunkte am Ende der „allgemeinen Einleitung“ sowie am Ende des ersten Teils des Hauptteils hatten erkennen lassen.

II.1.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention Im Schlussteil der Predigt wird das im Eingangsteil benannte Thema: „wie derjenige beschaffen seyn müße, bei dem die hauptsächliche Wirkung des Christenthums, nemlich wahre Beßerung und Sinnesänderung möglich seyn soll“,²⁰⁵ aufgenommen, aber auch modifiziert. Die im Grunde als Aussagesatz zu interpretierende indirekte Frage des Themas wird in der recapitulatio des Schlussteils zu einem ausdifferenzierten Appell bzw. zu einer aus mehreren Teilen bestehenden Aufforderung an die Hörenden und formuliert damit schlussendlich die Predigtintention.²⁰⁶ Diese beginnt zunächst mit der grundlegenden, chiastisch, anaphorisch und antithetisch aufgebauten Aufforderung:

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 7.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 43 – 8, 3.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23.  Das entspricht im Grunde exakt der von Johannes Bauer an Schleiermachers Predigten verifizierten Vinetschen Regel, „daß das Stoff- oder Kausalthema eine Behauptung, das Ziel- oder Finalthema eine Forderung enthalten müßte“ (Bauer: Prediger, S. 275 [Hervorh. i. Orig.]) und bestätigt damit auch Bauers These, dass Vinet „nur ausgesprochen [habe], was bei Schleiermacher tatsächlich vorliegt“ (a. a.O., S. 275).

50

II. Predigtanalysen

„Von diesen guten Folgen überzeugt, laßt uns vielmehr jene schädliche Unbekanntschaft mit uns selbst fliehn,

laßt uns also die richtigere Einsicht in unsern Zustand nicht scheun, hinter welcher allein sich der menschliche Stolz verbergen kann.“²⁰⁷

Es folgt daraufhin die weitere Aufforderung: „Aber laßt uns auch auf der andern Seite eine gefährliche Klippe vermeiden […]“. Gemeint ist die Halbherzigkeit oder „schlaffe Unthätigkeit“, die aus dem zufriedenen Gefühl der bereits für die eigene „Selbstkentniß“ auf sich genommenen Mühen sowie der dadurch „befördert[en]“ „religiösen Empfindungen“ zu resultieren droht. Dem hält Schleiermacher entgegen: „Nein, alles was wir erkennen und empfinden, muß zu unserer Besserung genuzt werden“. Beendet wird der Schlussteil mit drei sich unmittelbar an diese Aufforderungen anschließenden, anaphorisch gebauten spezifizierenden Mahnungen: die „Unvollkomenheit […] abzulegen“, die ärztlichen „Vorschriften [zu] befolgen“ sowie „rastlos[…] […] nach Genesung [zu] streben und mit hofnungsvoller Sehnsucht den endlichen Zeitpunkt derselben in der Ewigkeit ab[zu]warten.“²⁰⁸ Zu beobachten ist anhand des Schlussteils der Predigt, dass dieser ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung der rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt bestätigt. Das Hauptaugenmerk liegt auch hier auf der Notwendigkeit, die rechte Selbsterkenntnis bzw. das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit zu erlangen und sich aufgrund dessen zu bessern. Die „religiösen Empfindungen“ aber werden im Grunde nur nebenbei erwähnt, wenn andererseits auch, mit dem „hofnungsvolle[n]“ Ausblick auf „den endlichen Zeitpunkt [der Genesung] in der Ewigkeit“, an exponierter Stelle ganz am Ende des Schlussteils die Transzendenz noch einmal zur Sprache kommt.²⁰⁹ Nicht von ungefähr dürfte diesem Schlussteil deshalb auch noch ein abschließendes Gebet hinzugefügt sein, das nicht nur im Verlauf seiner vier anaphorisch formulierten Bitten, sondern gleich in der Gebetsanrede „o Gott und Vater aller Menschen, deßen Beistand wir zu allem Guten so nothwendig brauchen“, den Bezug zur rechten Einsicht in das menschliche Verhältnis gegenüber Gott bzw. zur Notwendigkeit der religiösen Dimension der rechten Selbsterkenntnis herstellt. Die Predigtintention schließlich, die die beiden Aspekte der richtigen Selbsterkenntnis und der rechten Beurteilung des menschlichen Verhältnisses Gott gegenüber aufnimmt und in die Umsetzung dieser Erkenntnisse und der  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 34– 37. Die Darstellungsform wurde gewählt, um die zugrunde liegenden rhetorischen Figuren deutlich werden zu lassen.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 33 – 11, 18.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 34– 11, 18.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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daraus resultierenden Gesinnung in das Streben nach Besserung bzw. Vollkommenheit münden lässt, lässt sich in komprimierter Form den letzten beiden Bitten dieses Gebetes entnehmen. Demzufolge geht es darum, „in der richtigen Kenntniß deßen, was wir seyn sollten und was wir sind immer zu[zu]nehmen“ sowie „unser ganzes Bestreben dahin [zu] […]richte[n] […], uns der Vollkommenheit zu nähern, die wir zwar hier nie erreichen, die [Gott] uns aber dort in einem beßern Leben beschieden ha[…]t um [s]eines Sohnes unsers Erlösers willen“.²¹⁰ So kommt im abschließenden Gebet der Predigt neben dem nötigen eigenen Bestreben nach Selbsterkenntnis und Vollkommenheit bzw. neben dem Anliegen, dass die zu erlangende Gesinnung auch in die Tat umgesetzt werden müsse, sowohl der eschatologische Vorbehalt als auch der christologische Bezug dieses Anliegens zum Ausdruck.

II.1.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt II.1.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens Gleich im ersten Satz der Predigt werden die „wichtigsten Angelegenheiten eines vernünftigen Geschöpfs“ als Duplizität des „Urtheil[s]“ der Menschen „über ihren eigenen Werth und über ihr Verhältniß gegen Gott“ bestimmt. In den unmittelbar folgenden Ausführungen wird deutlich, dass beides mit „Tugend und Religion“, mit dem „Gefühl für das sittlich gute und schöne“ sowie mit einer „höhere[n] Bestimmung“ des menschlichen Lebens in engster Verbindung steht.²¹¹ Erste Hinweise zu einem angemessenen Urteil über den eigenen Wert der Menschen können schon der „allgemeinen Einleitung“ entnommen werden: Ein solches Urteil beruht seitens der Menschen zunächst auf einem „aufrichtigen tiefen Blik in den moralischen Zustand ihres Herzens“, der den „Anblik ihrer Fehler“ offenbart, auf dem „Geständniß unserer Unvollkommenheit, unsrer geringen Fortschritte in der Tugend“ sowie der damit verbundenen „unangenehme[n] Empfindung“ bzw. dem damit verbundenen „allerschmerzlichste[n] und peinlichste[n] Gefühl“.²¹² „[D]ies unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit“²¹³, das „lebhafte[…] Bewußtseyn unsrer Fehler“²¹⁴ oder auch „das lebhafte Bewußtseyn, das traurige Gefühl“ der „Sünde“²¹⁵ also ist notwendige Vorausset-

     

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 19 – 31. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 16. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 16 – 4, 5. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 f. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 2 f. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 7– 12.

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II. Predigtanalysen

zung der rechten „Selbstkentniß“²¹⁶ bzw. des angemessenen Urteils der Menschen über ihren eigenen Wert. Dieser Selbsterkenntnis bzw. dem menschlichen Sündenbewusstsein tritt nun das Wissen um die menschliche Angewiesenheit auf die „Hülfe der Religion“ und „der Empfindungen, welche sie einflößt“,²¹⁷ zur Seite. Denn erst die „Empfindung wahrer Dankbarkeit“ „gegen das höchste Wesen“, die „richtige[…] Schäzung der unendlichen Wolthaten, welche Gott unsrer unsterblichen Seele erzeigt“, und das Wissen um das „nachsichtige Mitleiden Gottes“ mit unseren Fehlern²¹⁸ eröffnen den Blick auf die vollständige „Kenntniß deßen, was wir seyn sollten und was wir sind“,²¹⁹ und dadurch wiederum den Zugang der menschlichen „Seele“ zu „allen wirklich frommen Empfindungen“ sowie den diesen entsprechenden „Handlungen“ und „Früchte[n]“.²²⁰ „[W]as wir seyn sollten“²²¹ bzw. das Ziel des menschlichen Lebens besteht dabei in einer „höhere[n] Bestimmung“ des Menschen,²²² in der „christlichen Vollkommenheit“²²³ bzw. in dem „erhabene[n] Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“.²²⁴ Der Weg dorthin wird durch „die hauptsächliche Wirkung des Christenthums, […] wahre Beßerung und Sinnesänderung“²²⁵ bzw. „eine[…] solche[…] gänzliche[…] Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze […], welche Jesus forderte“,²²⁶ oder auch die lebenslange Buße²²⁷ ermöglicht, als deren „erste[r] Schritt“ und notwendige Voraussetzung wiederum „dies unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit“ zu gelten hat.²²⁸

II.1.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen Die Vollkommenheit, die in dieser Predigt als Bestimmung oder Ziel des menschlichen Lebens vor Augen gestellt wird, ist durch zwei Aspekte bestimmt: einerseits geht es darum, „auf wahre Tugend bedacht zu seyn“, andererseits

            

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 2 f. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 37– 39. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 43 – 10, 32. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 26 – 28. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 20 – 32. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 27. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 13 – 16. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 26 f. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 41 f. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 26 – 30. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 11– 34. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 f.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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darum, „wahre Religion zu üben“. Hinsichtlich der wahren Tugend wird ausgeführt, dass es entscheidend sei, „das ganze derselben zu umfassen“ und nicht „nur den äußern Schein derselben, nur eine gewiße Enthaltung von groben Ausbrüchen [der] Leidenschaften [zu] suchen“. Hinsichtlich der wahren Religion wird gesagt, dass es nicht nur um „manche leichte Vorschriften der Religion“ oder lediglich darum gehe, „die äußern Pflichten derselben mit […] Pünktlichkeit [zu] erfüllen“, sondern darum, „sich von ihren Empfindungen zu allen Handlungen der Gottseligkeit und Menschenliebe beseelen zu laßen“. Tugend und Religion liegen dabei nun sehr nahe nebeneinander, teilweise scheinen sie völlig ineinander überzugehen, insbesondere, wenn wie hier den „Vorschriften der Religion“ als Charakteristikum der Religion zentrale Bedeutung zukommt. Dass sich beides dennoch auch unterscheidet, wird z. B. durch die Gegenüberstellung der „Wahrheiten der Religion“ und der „Schönheit der Tugend“ deutlich.²²⁹ Die spezifisch christliche Verfasstheit der hier angesprochenen Vollkommenheit kommt bereits in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt zum Ausdruck, wenn der explizit „christlichen Vollkommenheit“ noch die Parallele des „wolthätigen Einflu[sses] der Lehre Jesu“ auf den „Charakter“ der Menschen zur Seite gestellt wird.²³⁰ Ausgerichtet bleibt diese doppelte bzw. durch zwei Aspekte bestimmte Vollkommenheit auf die „wahre[…] sittliche[…] Beßerung“ des Menschen,²³¹ denn entscheidend für die „Empfindungen“, die durch Tugend und Religion hervorgerufen werden, ist, dass sie auch auf das „Betragen“ bzw. auf die Handlungen der Menschen „einen bleibenden Einfluß“ haben. Ein entscheidendes Charakteristikum dieser Handlungen besteht wiederum darin, dass sie aus „edlen Beweggründen“ bzw. aus einer entsprechenden inneren Gesinnung des Menschen hervorgehen. Anders motivierte Handlungen würden lediglich „den Anschein der Tugend“ hervorrufen.²³² Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die entscheidende Bedeutung, die der Besserung und Sinnesänderung und damit auch der Gesinnung des Menschen an sich in dieser Predigt zukommt. Dass für Schleiermacher dabei auch das „mosaische[…] Gesez“ nicht nur „auf die äußern Handlungen“ zu beziehen ist, sondern, für „deutliche[…] Begriffe von Tugend“ bzw. für ein angemessenes Gesetzesverständnis entscheidend, auch „Stellen“ aufweist, „wo es Reinigkeit der Gesinnungen so dringend empfiehlt“, sollte in diesem Kontext nicht übersehen werden.²³³

    

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 8 – 7, 2. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 39. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 25 – 7, 2. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 12– 17.

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II. Predigtanalysen

„[D]as erhabene Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, das nun einerseits im „ganze[n] Beispiel Jesu, de[m] hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“, andererseits in den „Geboten unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ deutlich wird, unterliegt nun allerdings einem eschatologischen Vorbehalt. Es ist lediglich das „Ziel dem wir uns bis in Ewigkeit nähern sollen“,²³⁴ denn „die ganze Aenderung unsrer Grundsäze und Gesinnungen, die Ablegung alles deßen, was darin den richtigen Begriffen von Tugend und Religion nicht gemäß ist; […] wird ja hier niemals vollkommen; immer bleibt ja nicht nur in unsern einzelnen Handlungen, sondern auch in den Gesezen, welche wir dabei befolgen, unrichtiges und unvollkomnes genug übrig“.

Sinnesänderung, Besserung und Buße bleiben damit als lebenslanger Prozess zu verstehen, metaphorisch gesprochen wird uns „[d]er Kranz der Genesung […] erst jenseits des Grabes zu Theil“,²³⁵ wobei Schleiermacher dann allerdings durchaus einen konkreten bzw. „endlichen Zeitpunkt derselben in der Ewigkeit“ in den Blick nehmen kann.²³⁶ Begründet wird der eschatologische Vorbehalt mit der im diesseitigen Leben nicht völlig zu überwindenden menschlichen Unvollkommenheit oder Schwachheit. Diese kann zwar stufen- oder gradweise abgelegt werden, letztlich aber wird „selbst der, welcher sich zu den erhabensten heldenmüthigsten Thaten emporschwingt, die dem Menschen möglich sind, […] wenn er den Augenblik drauf den ganzen Zustand seiner Seele unpartheiisch untersucht, noch Spuren von Schwachheit, von Mangelhaftigkeit darin finden.“

Deshalb gilt, dass uns, „so lange wir noch auf irgend eine Art Fortschritte“ in unserer sittlichen Besserung „machen wollen, […] auch das lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler unentbehrlich“ ist.²³⁷ Inhaltlich wird die schlimmste Unvollkommenheit oder „das größte Uebel, welches uns treffen kann, […] welches im innern unserer Seele seinen Siz hat“, bereits in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt mit „unsre[n] geringen Fortschritte[n] in der Tugend“ in Verbindung gebracht und damit sittlich qualifiziert.²³⁸ Da nun des Weiteren „die Stimme der

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 11– 34.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 16 – 18.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 20 – 34.  Hier einen Bezug zum Leibnizschen malum morale zu sehen, dürfte nahe liegen (vgl. Gottfried Wilhelm V. Leibnitz:Theodicee das ist,Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen u. Anmerkungen v. Johann Christoph

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Vernunft“ eine maßgebliche Rolle für die angemessene Beurteilung der eigenen Handlungen spielt, beruhen Fehler, Untugenden und Unvollkommenheit des Menschen im Grunde auf bewusster Selbsttäuschung oder Verdrängung des besseren Wissens, was letztlich wiederum v. a. auf Bequemlichkeit, Trägheit, Feigheit oder „eine[…] sehr gewöhnliche[…] Weichlichkeit der Seele“ zurückgeht. Sich über die eigene Unvollkommenheit hinwegzutäuschen aber begründet „jene leichtsinnige Selbstzufriedenheit“,²³⁹ Selbstüberschätzung²⁴⁰ oder auch den „menschliche[n] Stolz“,²⁴¹ durch den bzw. durch die die Menschen für die Belange ihrer eigenen Besserung unempfänglich werden. Explizit genannt werden in diesem Kontext nun auch die „Gefahren der Verführung“ und die „Reizungen der Sinnlichkeit“, die bei entsprechender Überschätzung der eigenen Fähigkeiten der Menschen letztlich dazu führen, dass sie „dem Tode des Geistes, dem gänzlichen moralischen Verderben, welches das schrekliche Ziel ihres betrügerischen Weges ist“, verfallen.²⁴²

II.1.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen Eine zentrale Bedeutung für die Motivation der sittlichen Handlungen der Menschen kommt dieser Predigt gemäß dem „Gefühl“ der Menschen zu. So ist es das auf dem „Geständniß unserer Unvollkommenheit“ beruhende „allerschmerzlichste und peinlichste Gefühl“, welches uns „an[treibt] beständig danach zu streben, daß wir diesem gefühlten Mangel abhelfen mögen“. Andererseits kann die „leichtsinnige Selbstzufriedenheit ein angenehmes behagliches Gefühl des Wolgefallens und Beifalls hervor[bringen]“, das den „trägen Menschen“ dazu verleitet, sich „an den geringen Vollkomenheiten“ zu erfreuen, die er bereits an sich bemerkt, anstatt sich seiner noch ausstehenden weiteren Besserung zu widmen. An dieser Stelle greift nun allerdings laut Schleiermachers Predigt „die Stimme der Vernunft“, die sich letzten Endes von keiner „erkünstelte[n] Beruhigung“ oder „eitle[n] Freude“ „auf immer übertäuben“ lässt. Die menschliche Vernunft wird damit im Grunde zu einem Korrektiv des handlungsmotivierenden Gefühls.²⁴³

Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe hg., kommentiert u. mit einem Anhang versehen v. Hubert Horstmann, Berlin 1996 [Leibnitz: Theodicee], §§ 21– 26, S. 119 – 122).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 4, 30.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 4– 7.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 34– 37.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 29 – 34.  Vgl. dazu auch SdV, § 4, S. 5 [Hervorh. i. Orig.]: „Da es also nicht durch die Empfindung erkannt werden kann, ob ein Vergnügen ein wahres und dauerhaftes sey, so muß es durch die

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II. Predigtanalysen

Letzteres wiederum äußert sich, wie bereits angedeutet, einerseits als „unangenehme[s] Gefühl“, andererseits in den „wahrsten und edelsten Freuden“. Im Grunde lassen sich damit hier schon die für Schleiermachers spätere ethische Theorie konstitutiven Elemente von Unlust und Lust belegen.²⁴⁴ „[D]ies unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit [ist] der erste Schritt zur christlichen Vollkommenheit“; „die wahrsten und edelsten Freuden“ dagegen begleiten oder bestehen dezidiert in „jene[n] seligen Augenblike[n], wo wir uns selbst das Zeugniß geben können beßer, tugendhafter geworden zu seyn.“²⁴⁵ Erwähnt sei in diesem Zusammenhang sodann der Hinweis auf das „Gefühl für das sittlich gute und schöne“, das Schleiermacher dieser Predigt zufolge nicht nur für „eine Wirkung der Einbildungskraft, der Gewohnheit“ oder „der Erziehung“, sondern im Grunde für ursprünglich zur Natur oder zum Wesen des Menschen gehörig hält.²⁴⁶ Die „Schuld“ dafür, dass es Menschen gibt, die Jesus „nicht zur Buße rufen konnte“, liegt all diesem zufolge schließlich „nicht an seinem guten Willen,

Vernunft erkannt werden.“ Die Vernunft wird dadurch letztlich, der Überschrift des Paragraphen entsprechend, zum „Richter über die Wahrheit des Vergnügens“.  Vgl. z. B. Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Teil 1, Nachdruck der 2. Aufl. Berlin 1884, neu hg. u. eingeleitet v. Wolfgang Erich Müller (Theologische Studien-Texte 7.1), Waltrop 1999, S. 39 – 51. Dass das hier im Kontext von Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns zu beobachtende Zusammenspiel zwischen Vernunft und den Empfindungen von Lust und Unlust schon in der Eberhardschen Sittenlehre begegnet, macht z. B. § 34 derselben deutlich (vgl. Eberhard: SdV, § 34, S. 34 f.). Herms: Herkunft, S. 53, fasst diesen Sachverhalt in seiner erhellenden Darstellung der Eberhardschen Philosophie mit Bezug auf den genannten Paragraphen folgendermaßen zusammen: „[…] die aktuell bestimmende Einwirkung des Erkenntnis- auf das Begehrungsvermögen sollte durch eine Empfindung des ‚Vergnügens‘ oder ‚Mißvergnügens‘ vermittelt sein“. Die Beobachtung, dass es „die sittliche Tugend […] mit der Lust und der Unlust zu tun“ hat bzw. mit der „mit den Handlungen verbundene[n] Lust oder Unlust“, ist nun allerdings bereits bei Aristoteles zu finden (vgl. die Ausführungen zur sittlichen Tugend im zweiten Kapitel des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik, Aristoteles: Nikomachische Ethik. Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther Bien [Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 3], Hamburg 1995 [Aristoteles: Nikomachische Ethik], S. 29 [Bekkersche Zählung: 1104b]).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 2– 29.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 7– 12. In differenzierter Weise nimmt Johann August Eberhard das Moment des moralischen Gefühls in seiner „Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens“ auf: man dürfe dem moralischen Gefühl einerseits nicht „alles Daseyn, und allen Nutzen abspr[e]ch[en]“, ebensowenig aber sollte „es zu einem ersten von der Vernunft unabhängigen Principio, zum höchsten Richter in allen sittlichen Angelegenheiten“ gemacht werden. Eberhard wendet sich in diesem Zusammenhang u. a. gegen Hutchesons und „Home[s]“ [sic!] Konzeptionen (vgl. AThDE, S. 186 f.).

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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sondern an ihnen selbst“ bzw. an der Gemütsverfassung oder Beschaffenheit dieser Menschen.²⁴⁷ Kurz erinnert sei hier daran, dass die für die Besserung und Sinnesänderung bzw. Bußfähigkeit des Menschen notwendige Beschaffenheit oder Gemütsverfassung dieser Predigt zufolge auf wahrer Selbsterkenntnis bzw. dem Sündenbewusstsein der Menschen sowie auf der Einsicht in die eigene Angewiesenheit auf göttliche Hilfe beruht. Dass „die leisere Stimme des innern Gefühls“ die Menschen letztlich also zu „einer solchen gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze […], welche Jesus forderte“, veranlasst, ist in der angemessenen Einsicht dieser Menschen v. a. in ihren moralischen Zustand begründet. Diese Einsicht nun kann entweder, sozusagen auf negativem Wege durch die Erkenntnis der eigenen Mangelhaftigkeit bzw. dadurch entstehen, dass die Handlungen der Menschen deutlich sichtbar von den „Begriffe[n] von Tugend“ und von den „Vorschriften des Gesezes“ abweichen, oder aber, sozusagen auf positivem Wege, durch den häufigen oder regelmäßigen Vergleich mit dem „erhabene[n] Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, und der Erkenntnis der (noch) vorhandenen Defizite des „eignen Zustand[s]“ diesem Bild gegenüber gewonnen werden.²⁴⁸ Dass die so, im Grunde durch das Zusammenspiel von innerem Gefühl und Vernunft, evozierte menschliche Sinnesänderung und Gesinnung nun aber auch in Handlungen übergeht, bedarf dieser Predigt zufolge ganz maßgeblich der Hilfe der Religion. Denn erst durch „wahre[…] Dankbarkeit“ oder „aus richtiger Schäzung der unendlichen Wolthaten“ Gottes, aus „inniger Liebe dem Stifter der Religion“ gegenüber oder durch das Wissen darum, „wie groß das nachsichtige Mitleiden Gottes“ mit den menschlichen Fehlern sein muss, entstehen „die fruchtbarsten Empfindungen der Religion“, denen die menschlichen Handlungen dann auch „gemäß“ sein werden, oder auch „alle[…] wirklich frommen Empfindungen“ samt der „Früchte derselben.“²⁴⁹ Der Religion bzw. Frömmigkeit kommt hier demzufolge eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Handlungsmotivation des Menschen zu. Von daher wird dann auch wieder einsichtig, dass der Mensch trotz aller eigenen Verantwortung den „Grad der moralischen Güte, welchen er erreicht hat“, eben nicht „ganz sich selbst, allein seinen Bemühungen zu danken habe“, sondern dass ihm die „Vorsehung“ dazu einiges an „Hülfe […] darbieten“ musste bzw.

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 10 – 26.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 12– 8, 3.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 10, 32.

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II. Predigtanalysen

muss, da „das Gelingen der besten, festesten Vorsäze“ oft genug „nur von einem einzigen in der Hand Gottes ruhenden Umstand abhängt“.²⁵⁰ Die grundlegende Bedeutung, die hier der Gesinnung bzw. den Gesinnungen der Menschen im Zusammenhang mit der Handlungsmotivation zukommt, kann im Kontext der Ausführungen zum Verständnis von „Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten“ in dieser Predigt präzisiert werden.

II.1.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten Von „Pflichten“, im Plural, ist in dieser Predigt nur an einer Stelle die Rede: im Zusammenhang mit der „wahre[n] Religion“. Hier stehen sich die beiden Alternativen gegenüber „wahre Religion zu üben und sich von ihren Empfindungen zu allen Handlungen der Gottseligkeit und Menschenliebe beseelen zu laßen“ oder eben nur „die äußern Pflichten derselben mit einer Pünktlichkeit [zu] erfüllen, die dem strengsten Tadel die Spize bietet“.²⁵¹ Durch die Verbindung der erwähnten Pflichten mit der äußeren Seite der Religion wird dieser Begriff nun allerdings eher negativ qualifiziert, denn die entscheidenden Dinge werden in dieser Predigt dem Bereich des Inneren zugeordnet, seien es die für wahrhaft tugendhafte Handlungen nötigen Gesinnungen,²⁵² der innere bzw. „moralische[…] Zustand“ des menschlichen Herzens²⁵³ oder auch die „unendlichen Wolthaten, welche Gott unsrer unsterblichen Seele erzeigt“, im Gegensatz zu den „meistentheils zu alltäglich[en]“ „äußern Wolthaten Gottes […], welche sich auf Erhaltung unsres Lebens und Regierung unsrer Schiksale beziehn“.²⁵⁴ So bemisst sich die Sittlichkeit einer Handlung eben an ihren „Beweggründen“²⁵⁵ oder an der Gesinnung, aus der sie entspringt, und nicht am „äußern Schein“ ihrer Tugendgemäßheit,²⁵⁶ auch wenn natürlich letztlich keine strikte Trennung zwischen den inneren und äußeren Aspekten einer Handlung möglich ist, sondern z. B. ein „genaue[r] Zusammenhang zwischen Verdorbenheit der Gesinnungen und äußern Schandthaten“ konstatiert wird.²⁵⁷

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 7– 32.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 17– 25.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 37– 7, 19, in diesem Zusammenhang auch die Gegenüberstellung von „äußern Handlungen“ und „Reinigkeit der Gesinnungen“ in Beziehung zum „mosaischen Gesez“.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 18 f.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 43 – 10, 7.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 41– 44.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 18 f.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 24– 28.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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II.1.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes In dieser Predigt gehören „Tugend und wahre Glükseligkeit“²⁵⁸ aufs engste zusammen, denn die „wahrsten und edelsten Freuden“ sind mit „jene[n] seligen Augenblike[n]“ verbunden, „wo wir uns selbst das Zeugniß geben können beßer, tugendhafter geworden zu seyn.“²⁵⁹ Die „leichtsinnige Selbstzufriedenheit“ dagegen, die sich „immer an den geringen Vollkomenheiten zu ergözen weiß“, die sie bereits „zu besizen glaubt“, führt nur „scheinbar“ zu einem „Uebergewicht des Vergnügens“, nur zu „erkünstelte[r] Beruhigung“ und „eitle[r] Freude“, die „die Stimme der Vernunft“ jedenfalls nicht „auf immer [zu] übertäuben“ vermögen.²⁶⁰ Wahre Glückseligkeit bzw. „das wahre Wolseyn einer ganzen Zukunft“²⁶¹ ist damit untrennbar mit dem Prozess der sittlichen Besserung des Menschen verbunden. Dieser Prozess gründet in der Sinnesänderung, die durch die entsprechenden Einsichten in den eigenen mangelhaften moralischen Zustand und in das durch Abhängigkeit geprägte Verhältnis zu Gott in Verbindung mit den dadurch hervorgerufenen Empfindungen und Gefühlen entsteht. Das Ziel dieses Prozesses und damit die dieser Predigt zugrunde liegende Vorstellung des Höchsten Gutes besteht in der menschlichen bzw. „christlichen Vollkommenheit“,²⁶² „die wir zwar hier nie erreichen, die [Gott] uns aber dort in einem beßern Leben beschieden ha[…]t um [s]eines Sohnes unsers Erlösers willen“.²⁶³ Nichts anderes ist in dieser Predigt dann aber auch mit dem Begriff der „Seligkeit“ gemeint.²⁶⁴

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 22 f.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 21– 24.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 10 – 21.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 21– 4, 2.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 26 f.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 29 – 31. Insgesamt rekurriert diese Konzeption des Höchsten Gutes, insbesondere durch das als eine Form der menschlichen Vollkommenheit definierte Ziel des sittlichen Prozesses, in starkem Maß auf die Eberhardsche Sittenlehre der Vernunft (vgl. dazu Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Untersuchung). Gemeinsamkeiten zur Kantischen Konzeption des Höchsten Gutes ergeben sich durch die zur Verwirklichung desselben gehörige Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit, in deren Kontext auch in Schleiermachers Examenspredigt der Gedanke einer nötigen angemessenen Proportionierung anklingt („geringe Vollkomenheiten“ führen nur „scheinbar“ zu einem „Uebergewicht des Vergnügens“, vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 10 – 21 und KpV, S. 149 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 199]). Die Kantische Konzeption des Höchsten Gutes geht (wie auch die Eberhardsche, vgl. Eberhard: SdV, § 49, S. 48) zudem ebenfalls von einem notwendig „ins Unendliche gehenden Progressus“ zur Verwirklichung des Höchsten Gutes aus (vgl. KpV, S. 164 f. [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 219 f.]). Bei Kant liegt dabei allerdings, anders als bei Schleiermacher, die bleibende Kluft, in der sich der Mensch als Teil der intelligiblen Welt einerseits und als Teil der Sinnenwelt andererseits vorfindet, zugrunde. Da

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II. Predigtanalysen

II.1.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion „Tugend und Religion“, das „Urtheil“ der Menschen „über ihren eigenen Werth und über ihr Verhältniß gegen Gott“ stehen in dieser Predigt als die beiden „wichtigsten Angelegenheiten eines vernünftigen Geschöpfs“ zunächst einmal gleichrangig nebeneinander.²⁶⁵ Die Fokussierung der Religion auf den Aspekt der Sittlichkeit wird dabei ebenso schon in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt deutlich²⁶⁶ wie die spezifisch christliche Ausprägung der Tugend bzw. Sittlichkeit.²⁶⁷ So kann „die hauptsächliche Wirkung des Christenthums“ in dieser Predigt in sittlichen bzw. ethischen Kategorien als „wahre Beßerung und Sinnesänderung“ definiert werden,²⁶⁸ „das Ziel dem wir uns bis in Ewigkeit nähern sollen, das erhabene Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, sich im Zusammenspiel des „ganze[n] Beispiel[s] Jesu“, des „hohen Geist[es], den alle seine Vorschriften athmen“ sowie der „Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ zu erkennen geben²⁶⁹ und in Verbindung von Christologie und Sittlichkeit Jesus schließlich als „Arzt“ für die in

„das handelnde vernünftige Wesen in der Welt […] nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur“ ist, gilt bei Kant, dass dieses nicht selbst für die „Übereinstimmung der Natur“ mit seinem „Begehrungsvermögen“, i. e. für die angemessene Proportionierung von Tugend und Glückseligkeit, sorgen kann. Die Verwirklichung des auf dieser Proportionierung basierenden Höchsten Gutes beruht bei Kant daher auf dem Postulat einer „Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enth[ält]“ (vgl. KpV, S. 167 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 224 f.]). In der Konzeption des Höchsten Gutes der Schleiermacherschen Examenspredigt und des diese abschließenden Gebets findet sich an entsprechender Stelle der Verweis auf Gott, den Vater „unsers Erlösers“ (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 28 – 31).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 30 – 42.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 12. Vgl. dazu auch die Formulierung: „die niedrige, besonders in Rüksicht auf Sittlichkeit und Religiosität gering geschäzte Volksklaße“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 7 f.), in der Sittlichkeit und Religiosität als maßgebliche Kriterien der Klassifizierung einer gesellschaftlichen Schicht nebeneinander gestellt werden.  Vgl. die Fortführung der Beispiele nach dem bereits erwähnten parallelen Paar „Tugend und Religion“ durch den Aspekt des „Gefühl[s] für das sittlich gute und schöne“ und schließlich die Konzentration auf die „Nothwendigkeit der Tugend“ und den „aufrichtigen tiefen Blik“ der Menschen „in den moralischen Zustand ihres Herzens“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 9 – 21).  Es geht um die „christliche[…] Vollkommenheit“ der Menschen, die durch den „wolthätigen Einfluß der Lehre Jesu auf [den] Charakter“ der Menschen spezifiziert werden kann (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 42.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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moralischer Hinsicht „kranke Seele“ des Menschen bezeichnet werden,²⁷⁰ dessen „Vorschriften“ als „so ganz der Natur der Krankheit gemäß“ erscheinen.²⁷¹ Beiden, „Tugend und Religiosität“, ist sodann gemeinsam, dass ihre lediglich verstandes- oder vernunftgemäße Aneignung und Ausübung nicht ausreicht. Kenntnisse über Tugend und Religion müssen vielmehr genauso wie die Empfindungen, die von Tugend und Religiosität ausgelöst werden, in entsprechende Handlungen umgesetzt werden und auf das „eigne[…] Betragen einen bleibenden Einfluß“ zeitigen.²⁷² Die Religion leistet in diesem Kontext nun einen spezifischen Beitrag „zu unserer wahren sittlichen Beßerung“:²⁷³ durch die Einsicht in die auf „die Vorsehung“ oder die „Hand Gottes“ zurückzuführenden günstigen Umstände bzw. „Hülfe“, die jedem Menschen zur sittlichen Besserung notwendig sind bzw. ist. Denn erst die mit dieser Einsicht verbundenen Empfindungen der Dankbarkeit gegenüber dem „höchste[n] Wesen“ zeitigen auch die diesen Empfindungen entsprechenden „Handlungen“. So ist dem Menschen zu seiner wahren sittlichen Besserung im Grunde notwendig, „sich zu schwach [zu] fühl[en], um ohne einen höhern Beistand eine merkliche Stufe der Tugend zu ersteigen“,²⁷⁴ andererseits darf diese „Erkentniß der eignen Schwäche“ aber auch nicht „zu einem angenehmen Gefühl“ gemacht und übertrieben werden, „indem man glaubt zu jeder guten Handlung unmittelbar einer höhern Hülfe zu bedürfen“ und dabei dann „in eine schlaffe Unthätigkeit“ versinkt.²⁷⁵ Abschließend bleibt auf diesem Hintergrund festzustellen, dass menschliches Fehler- bzw. Sündenbewusstsein und die Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf „Gott und den Stifter der Religion“²⁷⁶ hinsichtlich der sittlichen Besserung des Menschen zusammen gehören. Die Ausübung der „wahre[n] Religion“ zeitigt dabei einerseits „alle[…] Handlungen der Gottseligkeit und Menschenliebe“,²⁷⁷ andererseits lässt sie den Menschen „mit inniger Liebe dem Stifter der Religion anhangen, bei deren Vorschriften und Verheißungen er sich so wol befindet.“²⁷⁸ Die Sündenvergebung wird als „nachsichtige[s] Mitleiden Gottes“ mit den Fehlern der Menschen interpretiert.²⁷⁹

         

Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 25 – 29. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 8, 40 – 9, 1. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 25 – 37. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 39. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 7– 32. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 1– 11. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 39 – 43. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 17– 25. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 26 – 28. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 28 – 32.

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II. Predigtanalysen

Zu weiteren Beobachtungen hinsichtlich der v. a. unter sittlichem Aspekt verhandelten Religion sowie zu kleineren Differenzierungen zwischen Tugend und Religion sei ansonsten noch einmal auf den obigen Abschnitt zu Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen in dieser Predigt hingewiesen.

II.1.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt Mit der Frage nach der Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt nähern wir uns dem Zielpunkt der Predigtanalyse bzw. der Interpretation. Hier muss nun beurteilt werden, welcher Stellenwert einerseits der Theologie, andererseits der Philosophie in der vorliegenden Predigt zukommt. Ob etwa die Theologie nur eine untergeordnete Rolle spielt, oder umgekehrt der Philosophie nur eine marginale Bedeutung beigemessen wird. Dazu wird es nötig sein, sowohl auf die inhaltliche als auch auf die formale Bedeutung oder Funktion von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt zu achten. Um schließlich eine angemessene Verhältnisbestimmung der beiden Größen vornehmen zu können, sollen drei für Eberhards und für Kants Praktische Philosophie, die für Schleiermacher in dieser Zeit zunächst einmal maßgeblich waren, und auch für Schleiermachers Examenspredigt selbst exemplarische Topoi näher untersucht werden: das Streben nach Vollkommenheit,²⁸⁰ die Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation sowie die Frage der cognitio hominis.

II.1.1.7.1 Das Streben nach Vollkommenheit Ein aufschlussreicher Ansatzpunkt einer Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt ist zuallererst mit dem zentralen Anliegen der Predigtintention gegeben. Denn das Streben nach Vollkommenheit, in dem dort die dem Menschen nötige Besserung und Sinnesänderung kulminieren, erinnert ganz augenfällig an Johann August Eberhards Bestimmung des „erste[n] moralische[n] Grundsatz[es]“ bzw. des „höchste[n] moralische[n] Gesetz[es]“ in seiner Sittenlehre der Vernunft. Im ersten Teil dieser Sittenlehre, „welcher die Einleitung enthält“,²⁸¹ ist in dem der „Quelle aller Verbindlichkeit“ gewidmeten Paragraphen 44 zu lesen:

 Das gilt unbenommen dessen, dass Schleiermacher den Aspekt des Vollkommenheitsstrebens bereits aus seiner Herrnhuter Zeit kennt, wie dem Brief an seinen Vater vom 21. Januar 1787 zu entnehmen ist (vgl. Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50).  Vgl. Eberhard: SdV, S. 1. Der erste, einleitende Teil der Eberhardschen Sittenlehre besteht aus insgesamt zwölf Hauptstücken. Um einen ersten Überblick über den Gedankengang dieses

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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„Wenn wir zu guten Handlungen verbunden sind, so sind wir verbunden, uns vollkommener zu machen. Denn die guten Handlungen machen uns vollkommner, und die bösen machen uns unvollkommner.Wir können daher die ganze natürliche Verbindlichkeit des Menschen in den Satz zusammenfassen: suche durch deine freyen Handlungen dich vollkommner zu machen, und zwar aufs möglichste, das ist, so viel es dir schlechterdings, natürlich und moralisch möglich ist, und suche immer den höchsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen, den du erreichen kannst. Das ist der erste moralische Grundsatz, oder das höchste moralische Gesetz.“²⁸²

Eine weitere, mit dem „höchste[n] und entfernteste[n] Zweck aller […] freyen Handlungen“, argumentierende Formulierung findet sich in § 60 „Höchstes Gesetz“: „Ein Gesetz, das einen entferntern Grund hat, ist ein höheres, dessen Grund ein näherer Grund ist, ist ein niedrigeres. Das höchste moralische Gesetz ist daher das Gesetz: mache dich und deinen Zustand vollkommner: denn der letzte Grund aller moralischen Gesetze, ist die größte Vollkommenheit des Menschen, als der höchste und entfernteste Zweck aller seiner freyen Handlungen.“²⁸³

Deutlich erkennbar sind die aristotelischen Wurzeln dieser Vollkommenheitskonzeption: durch die Ausübung von als gut qualifizierten „freyen Handlungen“ Teils zu geben, seien die Überschriften seiner Hauptstücke hier kurz genannt: „I. Hauptstück. Entwickelung der allgemeinsten Gründe der Sittlichkeit der freyen Handlungen“ (a. a.O., S. 1): §§ 1– 19, „II. Hauptstück.Von der Sittlichkeit der freyen Handlungen selbst“ (a. a.O., S. 22): §§ 20 – 34, „III. Hauptstück. Von der Verbindlichkeit“ (a. a.O., S. 35): §§ 35 – 46, „IV. Hauptstück. Von dem Verhältniß der Religion zu der natürlichen Verbindlichkeit“ (a. a.O., S. 45): §§ 47– 50, „V. Hauptstück. Von dem moralischen Sinne“ (a. a.O., S. 50): §§ 51– 56, „V. [sic!] Hauptstück. Von den moralischen Gesetzen“ (a. a.O., S. 58): §§ 57– 66, „VI. Hauptstück. Von der Zurechnung und dem Gewissen“ (a. a.O., S. 69): §§ 67– 82, „VII. Hauptstück. Von der Pflicht“ (a. a.O., S. 82): §§ 83 – 95, „VIII. Hauptstück. Von der Tugend“ (a. a.O., S. 98): §§ 96 – 98, „VIIII. [sic!] Hauptstück. Von der Sünde“ (a. a.O., S. 102): §§ 99 – 107, „X. Hauptstück. Von den äussern moralischen Zuständen“ (a. a.O., S. 112): §§ 108 – 116, „XI. Hauptstück. Geschichte der moralischen Wissenschaften“ (a. a.O., S. 126): §§ 117– 127.  Eberhard: SdV, § 44, S. 41 f. Später, in Auseinandersetzung mit Kritik von kantischer Seite, hat Eberhard seine Formulierung des höchsten moralischen Gesetzes hinsichtlich seiner sozialen Dimension noch einmal präzisiert. Mit Bezugnahme auf Baumgarten betont er nun explizit, dass das Streben nach Vollkommenheit sich nicht nur auf die eigene Person, sondern auch auf die anderen beziehe: Baumgarten „trägt das erste sittliche Gesetz ausdrücklich mit den Worten vor: Suche Vollkommenheit […]. Der bemerkbare Brennpunkt oder der Bestimmungsgrund dieser Vollkommenheit, die wir zu wirken suchen sollen, ist bald eine Realität in uns, bald eine Realität in Andern. Also liegen in dem höchsten Gesetze, suche Vollkommenheit zu wirken, unmittelbar die Gesetze: Suche Vollkommenheit in dir und in Andern zu wirken.“ (Johann August Eberhard: Ueber den höchsten Grundsatz in der Moral, in: Philosophisches Magazin [vierten Bandes drittes Stück/1791; das entspricht Bd. 4/1792], S. 368 f., Zitat auf S. 369).  Eberhard: SdV, § 60, S. 62.

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II. Predigtanalysen

wird der Mensch vollkommener, der Mensch erwirbt sich die Vollkommenheit sozusagen durch die entsprechende Gewöhnung an gute Handlungen.²⁸⁴ Die freien Handlungen des Menschen aber werden damit zum Mittel, um das als Vollkommenheit des Menschen bestimmte Ziel der Sittlichkeit zu erreichen.²⁸⁵ Der konstitutive Zusammenhang, der dadurch zwischen der Vollkommenheit und dem von Eberhard wie schon von Aristoteles als Glückseligkeit bestimmten Endzweck des sittlichen Handelns²⁸⁶ gegeben ist, findet seinen Ausdruck bereits in § 15 „Höchstes Gut“: „Um den Begriff der menschlichen Glückseligkeit noch näher zu bestimmen, müssen wir die Glückseligkeit eines endlichen Geistes von der Glückseligkeit des höchsten Wesens unterscheiden. Die letztere besteht in dem unveränderlichen Genusse aller möglichen unbegränzten Vollkommenheiten; die Erstere kann nichts anders seyn, als die Empfindung eines ungehinderten Fortgangs zu immer grösserer Vollkommenheit. Diese ersten und hinreichenden Gründe der Glückseligkeit des Menschen nannten die Philosophen des Alterthums das höchste Gut.“²⁸⁷

Dieser „Fortgang[…] zu immer grösserer Vollkommenheit“ ist dabei auf dem Hintergrund der Unterscheidung Eberhards zwischen einer „wesentlichen“ und einer „zufällige[n] Vollkommenheit“ des Menschen zu verstehen, zu vergleichen ist dazu beispielsweise ein Ausschnitt aus § 21 „Rechte Handlungen“:

 Vgl. dazu die aristotelische Konzeption der Tugend bzw. der Tugenden in den ersten beiden Kapiteln des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik: die Tugenden „erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist […] So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. Ebenso werden wir aber auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig […]“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 26 f. [Bekkersche Zählung: 1103a.1103b]). Durch die Gewöhnung an das entsprechende Handeln entsteht, wie im ersten Kapitel des fünften Buches am Beispiel der Gerechtigkeit ausgeführt wird, ein dem Charakter der Handlungen gemäßer Habitus, „vermöge dessen man“ wiederum „fähig und geneigt ist“, weitere diesem Habitus gemäße Handlungen hervorzubringen (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 100 [Bekkersche Zählung: 1129a]).  Vgl. Herms: Herkunft, S. 62 [Hervorh. i. Orig.]: „Nur durch sittliches Handeln selber kann dieses Vergnügen am sittlichen Handeln herbeigeführt werden. Die bloße Analyse des aufgestellten Begriffes des sittlichen Endzweckes als ‚Glückseligkeit‘ führt auf die freien und guten Handlungen des Menschen als den dazu verhelfenden Mitteln“.  Vgl. dazu,was Eberhard gleich in § 1 seiner Sittenlehre festhielt: „die Sittenlehre oder Moral in weiterer Bedeutung“ sei als Wissenschaft der Regeln der „Kunst der Glückseligkeit“ zu verstehen (Eberhard: SdV, § 1, S. 1). Grundlegende Bedeutung für Aristoteles haben in diesem Zusammenhang das zweite und fünfte Kapitel des ersten Buches der Nikomachischen Ethik (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 4 f. [Bekkersche Zählung: 1095a.1095b] und S. 9 – 11 [Bekkersche Zählung: 1097a.1097b]).  Eberhard: SdV, § 15, S. 17 f.

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„Die Vollkommenheit, die der Mensch durch gute freye Handlungen befördert, ist eine zufällige Vollkommenheit. Die zufällige Vollkommenheit eines jeden endlichen Dinges besteht in der Uebereinstimmung mit seiner wesentlichen; also besteht die moralische Vollkommenheit menschlicher freyer Handlungen, in ihrer Uebereinstimmung mit der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen.“²⁸⁸

Die dabei zugrunde liegende Bestimmung der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen kann § 22 „Erkenntnißgrund der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen“ entnommen werden: „Die wesentliche Vollkommenheit des Menschen besteht in der Abzweckung seiner Fähigkeiten und Kräfte zur Glückseligkeit. Diese Einrichtung des Menschen, wodurch er zur Glückseligkeit geschickt wird, kann die menschliche Schwachheit nicht aus Begriffen herleiten, muß sie aus der Erfahrung kennen lernen. Die überzeugt uns dann, daß die Werkzeuge und Kräfte des organischen Körpers so beschaffen sind, wie sie zur Erhaltung und Fortpflanzung des Lebens sich am besten schicken, daß der Mensch durch seine Begehrungskraft zum Guten geneigt wird, und durch seine Erkenntnißkraft solche Fertigkeiten des Verstandes erlangen kann, die schon für sich schätzbar sind, und es dadurch noch mehr werden, daß sie ihn in der Wahl des wahren Guten leiten können.“²⁸⁹

Festzuhalten ist also zunächst, dass die bei Eberhard begegnende wesentliche Vollkommenheit des Menschen auf die Glückseligkeit des Menschen hin ausgerichtet ist. Dies beinhaltet die Einrichtung des „organischen Körpers […] zur Erhaltung und Fortpflanzung des Lebens“, die Hinneigung des Menschen zum Guten durch seine „Begehrungskraft“ und schließlich, durch die menschliche „Erkenntnißkraft“, die Möglichkeit des Erwerbs von „schon für sich schätzbar[en]“ sowie von, in Hinblick auf die „Wahl des wahren Guten“ kenntnis- und dadurch handlungsleitenden,²⁹⁰ „Fertigkeiten des Verstandes“. Der „Erkenntnißgrund“ der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen kann dabei nach

 Eberhard: SdV, § 21, S. 22 f.  Eberhard: SdV, § 22, S. 23 f.  Der konstitutive Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Guten und dem daraus folgenden guten Handeln wird bei Eberhard z. B. in SdV, § 34, S. 34 f. deutlich: „Zu einer guten Handlung gehört also, daß darin nichts von Seiten des Verstandes, des Willens und der Bewegungskraft fehle. Denn dieses ist ihr Entstehen: der Verstand erkennt das Gute oder Böse, diese Vorstellung verursacht Vergnügen oder Unlust, diese Empfindung des Vergnügens oder der Unlust erregt den Willen zu Begehren oder Verabscheuen, und der Wille bewegt den Körper. Wenn etwas von diesen Bestandtheilen abgeht, oder darin fehlerhaft ist, so fehlt der Handlung etwas von ihrer Güte.“ Explizit formuliert wird der Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Guten und der entsprechenden Willensbestimmung in SdV, § 36, S. 36: „Es ist ein Grundgesetz des freyen Willens, daß er dasjenige begehrt, was er sich deutlich als gut, und verabscheut, was er sich deutlich als böse vorstellt.“

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II. Predigtanalysen

Eberhard aufgrund der „menschliche[n] Schwachheit“ nicht in „Begriffe[n]“ liegen. Er ist vielmehr in der „Erfahrung“ zu suchen und zu finden,²⁹¹ was exemplarisch verdeutlicht, welch fundamentale Bedeutung der Erfahrung und infolge dessen dann auch der empirischen Psychologie in der Praktischen Philosophie Eberhards zukommt.²⁹² Die Bestimmung der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen als „Abzweckung seiner Fähigkeiten und Kräfte zur Glückseligkeit“ erweist sich dabei nun allerdings als zirkulär, bedenkt man die bereits § 3 zu entnehmende „Erklärung der Glückseligkeit“: „Unter Glückseligkeit versteht jedermann einen Zustand, worin er wahres Vergnügen ununterbrochen genießt. Jedermann nennt auch die Empfindung wahrer Vollkommenheit wahres, und scheinbarer Vollkommenheit, scheinbares Vergnügen.“²⁹³

Glückseligkeit beruht demzufolge auf dem Genuss wahrer Vollkommenheit, die wesentliche Vollkommenheit des Menschen aber besteht gerade in seiner „Abzweckung zur Glückseligkeit“.²⁹⁴ Trotz all dieser die Konstitution des Eberhardschen Begriffs der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen betreffenden Ungereimtheiten ist Bernd Oberdorfer m. E. jedoch darin zuzustimmen, dass allein die diesem Begriff als regulativer Idee schon unverzichtbar zukommende pragmatische Funktion für die

 Eberhard: SdV, § 22, S. 23 f.  Vgl. dazu auch Oberdorfer: Geselligkeit, S. 116: „Hier zeigt sich […], daß die Bestimmung der ‚wesentliche(n) Vollkommenheit des Menschen‘ (SdV § 22, S. 23) in sehr viel engerer Beziehung auf die Empirie erfolgt, als der Anspruch auf rationale Einsichtigkeit verrät.“ Oberdorfer: Geselligkeit, S. 118 f. stellt im Anschluss daran die Inkonsistenz der Eberhardschen Argumentation dar, die letztlich auf einem deduktiv gewonnenen Vollkommenheitsbegriff basiere. Belegen lässt sich diese Inkonsistenz z. B. durch einen Vergleich des § 22, demzufolge die wesentliche Vollkommenheit des Menschen nicht aus Begriffen, sondern aus Erfahrung zu gewinnen ist, mit den Ausführungen zum Urteilsgrund wahrer Vollkommenheit in § 18 der Sittenlehre der Vernunft: „Ob nun die Vollkommenheit eine wahre sey, das kann, wie wir gesehen, die Empfindung nicht beurtheilen. Es muß also aus dem Begriffe der Vollkommenheit selbst entschieden werden.“ (Eberhard: SdV, § 18, S. 20). Eine scharfsinnige Darlegung der hier zum Ausdruck kommenden „Brüchigkeit der Halleschen Wissenschaftstheorie“ aufgrund der „unreflektierten Zusammenfassung von Induktion und Deduktion zum unlöslichen Ganzen des Erkennens, obwohl sie beide ausdrücklich in prinzipiellem Gegensatz sah“, findet sich bereits bei Herms: Herkunft, S. 58 – 61, das Zitat stammt von S. 60.  Eberhard: SdV, § 3, S. 3.Vgl. dazu auch a. a.O., § 13, S. 15, wo das „lebhafte[…] Vorstellen oder Empfinden von Vollkommenheit, es sey in uns als Subjekt, oder ausser uns in dem Objekt“ als „[a]llgemeine Quelle des Vergnügens“ genannt wird.  Vgl. zum „zirkulären Charakter“ der Eberhardschen „Definition der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen“ auch Oberdorfer: Geselligkeit, S. 117.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Praktische Philosophie Eberhards zu würdigen ist.²⁹⁵ Für prinzipiell erreichbar hält Eberhard die wesentliche Vollkommenheit des Menschen dabei nun allerdings gerade nicht, wie v. a. dem zuvor zitierten § 21 der Sittenlehre der Vernunft zu entnehmen ist: „Die Vollkommenheit, die der Mensch durch gute freye Handlungen befördert, ist eine zufällige Vollkommenheit“, auch wenn die „moralische Vollkommenheit“ dieser „menschlichen freyen Handlungen“ „in ihrer Übereinstimmung mit der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen“ besteht.²⁹⁶ Eine Übereinstimmung mit seiner wesentlichen Vollkommenheit ist für den Menschen also punktuell oder „zufällig“ erreichbar,²⁹⁷ die wesentliche Vollkommenheit des Menschen an sich bleibt dabei aber auf die Funktion einer regulativen Idee beschränkt.²⁹⁸ Die auf der Übereinstimmung mit seiner wesentlichen Vollkommenheit beruhende „zufällige Vollkommenheit des Menschen“ aber „gehört“ laut Eberhard „zu den Absichten Gottes, und heißt, so fern sie aus der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen kann erkannt werden, die Bestimmung des Menschen.“²⁹⁹ Das Verhältnis der Religion zu der soeben dargestellten Idee der Vollkommenheit lässt sich nun zunächst, die in § 44 formulierte Übereinstimmung der „ganze[n] natürliche[n] Verbindlichkeit des Menschen“ mit dem Streben nach

 Vgl. Oberdorfer: Geselligkeit, S. 119.  Eberhard: SdV, § 21, S. 22 f.  Insofern ist Herms: Herkunft, S. 65 [Hervorh. i. Orig.] recht zu geben: „Demgemäß bekommt die Rede von den Handlungen mit ihrer zufälligen Vollkommenheit als Mitteln zur Erreichung der wesentlichen Vollkommenheit der menschlichen Natur den präzisen Sinn, daß sich vermittelst ihrer die wesentliche Vollkommenheit der menschlichen Natur, das Wesen des Menschen selbst, verwirklicht.“  Vgl. dazu auch Oberdorfer: Geselligkeit, S. 140: In der Sittenlehre der Vernunft „hatte Eberhard im Blick auf den Menschen differenziert zwischen einer als erreichbar postulierten, aber de facto als regulative Idee fungierenden Gattungsvollkommenheit und der dem konkreten Einzelnen aufgrund der Beschränktheit seiner angeborenen Anlagen und angesichts kontingenter und nur teilweise vom Einzelnen selbst zu verantwortender Entfaltung dieser Anlagen restringierender Umweltverhältnisse möglichen Vollkommenheit, deren ‚zufällige‘ Realisierung die Bestimmung des Menschen ausmacht“. Dass die wesentliche Vollkommenheit des Menschen allerdings tatsächlich als „erreichbar postuliert[…]“ wäre, ist den Eberhardschen Ausführungen m. E. nicht zu entnehmen. Unterstützt wird diese Beobachtung auch durch die Bestimmung der „menschlichen Glückseligkeit“ bzw. des Höchsten Gutes als „die Empfindung eines ungehinderten Fortgangs zu immer grösserer Vollkommenheit“ in § 15, S. 17. Prinzipielle Unerreichbarkeit kommt konsequenterweise sodann auch der menschlichen Glückseligkeit zu: „Die menschliche Glückseligkeit ist ein Inbegriff von auf einander folgenden Zuständen; sie ist daher in keinem Augenblicke ganz da. Ihre einzelnen Zustände sind abwechselnd angenehme und unangenehme.“ (Eberhard: SdV, § 48, S. 47).  Eberhard: SdV, § 23, S. 24 f.

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II. Predigtanalysen

Vollkommenheit vorausgesetzt,³⁰⁰ anhand des IV. Hauptstücks des Ersten Teils der Sittenlehre der Vernunft näher bestimmen. Dieses Hauptstück ist mit der Überschrift „Von dem Verhältniß der Religion zu der natürlichen Verbindlichkeit“ versehen und führt in § 47 aus, inwiefern sich die im „Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge gegründete innere Sittlichkeit der Handlungen und die natürliche Verbindlichkeit zu denselben“ allen Menschen, selbst den „Gottesleugner[n]“, sozusagen notwendig oder natürlicherweise, eben in der Erkenntnis des Wesens und der Natur von Menschen und Dingen begründet, erschließen muss. § 47.3 fügt hinzu, dass der „vernünftige Gottesverehrer“ zudem „erkennt, daß die natürliche Verbindlichkeit durch die Religion ergänzt, berichtigt und verstärkt werde“.³⁰¹ Auf diese Weise befinde er sich auf der angemessenen „Mittelstraße“ zwischen der das Schwärmertum charakterisierenden Ablehnung „alle[r] natürliche[n] Verbindlichkeit“ einerseits und der der Position der Gottesleugner eignenden Ablehnung jeglichen „Einflu[sses] der Religion“ auf die natürliche Verbindlichkeit andererseits.³⁰² In den §§ 48 – 50 folgt daraufhin eine Begründung der „Mangelhaftigkeit der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners“³⁰³ sowohl hinsichtlich „ihres Umfanges“ als auch hinsichtlich „ihrer Stärke“.³⁰⁴ In Hinblick auf ihren Umfang fehlt zunächst einmal ganz grundlegend „die natürliche Verbindlichkeit zur Verehrung Gottes“ selbst,³⁰⁵ dann aber auch die Erkenntnis derjenigen natürlichen Verbindlichkeit, „die aus jedem entferntern Nutzen seiner freyen Handlungen hergeleitet wird – aus dem nehmlich, daß sie sein ganzes Wesen vollkommner machen. Zu diesem gehören seine freyen Handlungen und seine Leiden, die durch ihre Beziehung a. auf die entferntesten Folgen der Verbesserung seines Verstandes und Herzens, b. auf das gemeine Wohl, wobey er nicht, als Zweck, seinen Vortheil ersieht, ihre Verbindlichkeit erhalten.“³⁰⁶

 Eberhard: SdV, § 44, S. 41 f.  Herms: Herkunft, S. 64 kommentiert diesen Befund: „Indem der Gottesglaube zwar sekundär, aber nicht mehr primär zur Begründung der moralischen Verbindlichkeit beigezogen wird, liegt ein deutlicher Schritt zur Emanzipation der Sittenlehre von der Theologie vor. Gleichzeitig wird die notwendige Einheit von Religion und Sittlichkeit in dem Sinne behauptet, daß Gottesverehrung als Wesenszug der Sittlichkeit erscheint“.  Eberhard: SdV, § 47, S. 45 f.  So die Überschrift des § 48, Eberhard: SdV, § 48, S. 46.  § 48 beschäftigt sich mit der „Mangelhaftigkeit der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners“ unter dem Aspekt des Umfanges, § 49 thematisiert den Grund dieses Aspektes des Mangels, § 50 hat die „Mangelhaftigkeit der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners“ unter dem Gesichtspunkt ihrer Stärke zum Gegenstand (Eberhard: SdV, § 48 – 50, S. 46 – 50).  Eberhard: SdV, § 48, S. 46 f.  Eberhard: SdV, § 48, S. 47.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Als mangelnde inhaltliche Aspekte der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners werden an dieser Stelle also zudem die letztendliche bzw. eschatologische Vollkommenheit des Menschen³⁰⁷ sowie das Gemeinwohl der menschlichen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft angeführt. Hinsichtlich der mangelnden Stärke der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners ist § 50 zunächst zu entnehmen, dass „die Religion alle natürliche Verbindlichkeit“ „verstärkt“, „[d]a die Stärke der Verbindlichkeit aus der Menge und Größe der Bewegungsgründe entsteht“.³⁰⁸ Die Religion impliziert mithin einen bzw. mehrere zusätzliche Bewegungsgründe für die natürliche Verbindlichkeit. Die Bewegungsgründe, die die Religion der natürlichen Verbindlichkeit zur Steigerung der Stärke derselben hinzufügt, sind nun einerseits die bereits im Zusammenhang mit dem Aspekt des mangelnden Umfangs der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners angeführten, „entferntern aus der Verbesserung des ganzen Wesens des Menschen“ abgeleiteten Bewegungsgründe. Sodann aber, „ausser den natürlichen […] auch solche […], die nicht aus dem Wesen der Handlung selbst folgen, sondern durch den Willen Gottes damit verknüpft werden.“ Darunter ist die Einsicht in die die menschliche Erkenntnis übersteigende absichtsvolle göttliche Ordnung des „Reichs der Natur auf das Reich der Gnaden“ hin zu verstehen, aber auch eine durch die Religion noch einmal in ihrer Bedeutung gesteigerte, sozusagen religiös qualifizierte oder auch überhöhte „Beobachtung der Naturgesetze als Verherrlichung und Nachahmung Gottes“, „als ein Mittel zur Vereinigung mit Gott […] vermittelst der Uebereinstimmung des Willens“ oder auch „zum Genuß Gottes“.³⁰⁹ Die weiteren Ausführungen zu Letzterem bringen dabei die konstitutive Verbundenheit der religiösen mit der natürlichen Verbindlichkeit noch einmal anschaulich zum Ausdruck:

 In § 49 wird dieser Mangel hinsichtlich des Umfanges bzw. des Inhaltes der natürlichen Verbindlichkeit damit begründet, dass die Einsicht in eine natürliche Verbindlichkeit zu guten Handlungen, die auf die weitere Vervollkommnung der menschlichen Seele nach dem Tode zielen, nur aufgrund der Annahme einer Fortdauer der Seele „nach dem Tode des Leibes“ erkannt werden könne, damit dann aber eben auch nur, abhängig vom „Beweis der Unsterblichkeit der Seele“ aufgrund der Annahme einer „erwiesen[en]“ „Wirklichkeit Gottes“ und jedenfalls nicht „ohne Religion“. Veranschaulicht wird dieser Sachverhalt im Kleingedruckten am Endes des Paragraphen in einer für heutige Augen etwas zynisch anmutenden Weise durch den Hinweis auf die andernfalls unumgängliche Sinnlosigkeit der Todesstrafe (Eberhard: SdV, § 49, S. 48).  Eberhard: SdV, § 50, S. 48 f. [Hervorh. i. Orig.].  Eberhard: SdV, § 50, S. 49 f.

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II. Predigtanalysen

„Gott aber genießen wir, wenn wir aus der Betrachtung seiner Vollkommenheiten Bewegungsgründe zur Beobachtung der Naturgesetze hernehmen, und uns so der Glükseligkeit theilhaftig machen, die eine Folge der Beobachtung dieser Gesetze ist.“³¹⁰

Mit der Bestimmung des „letzten Zwecke[s]“ des Menschen als „Verherrlichung Gottes“ in § 87 „Eintheilung der Pflichten nach ihrem Gegenstande“ schließlich fallen Religion und natürliche Verbindlichkeit des Menschen im Grunde zusammen. Von hieraus gilt, dass die Menschen sogar „zur Religion verbunden“ sind – wohlgemerkt nicht im eigentlichen Sinne einer Pflicht Gott gegenüber bzw. nicht, „weil wir Gott, sondern weil wir uns dadurch vollkommner machen.“³¹¹ Im zweiten, materialethischen Teil der Eberhardschen Sittenlehre wird diese Verbundenheit dann im ersten Hauptstück „[v]on den Pflichten gegen Gott, oder der Religion“³¹² noch einmal näher erläutert. In § 129 „Begriff der Religion und Verbindlichkeit dazu. 1. Bewegungsgrund.“ heißt es: „Die grössere Erkenntniß der Vollkommenheiten Gottes ist sein Ruhm. Die Verbindung des Ruhms Gottes mit guten Stimmungen des Willens als einem Bewegungsgrunde ist die Verherrlichung Gottes; (Illustratio gloriae divinae) der Gottesdienst (Cultus). Der Ruhm Gottes und seine Verherrlichung ist die Religion. Die vollkommnere Erkenntniß Gottes setzt in uns Vollkomenheit, denn sonst würde sie etwas böses seyn; sie ist uns also gut, und macht uns als Zweck vollkommen, wir sind daher dazu verbunden.“³¹³

Indem die Religion also aus dem Ruhm Gottes und der Verherrlichung Gottes besteht, ist der Mensch sowohl zur Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes als auch zur Verbindung derselben mit einer entsprechenden Bestimmung seines Willens bzw. seiner Bewegungsgründe, mithin zur theoretischen wie zur praktischen Religion verpflichtet.³¹⁴ § 129 gilt dabei insbesondere dem Nachweis der Verbundenheit des Menschen zur Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes, § 87 müsste zum Nachweis der Verbundenheit des Menschen zur praktischen Religion bzw. zur Verherrlichung Gottes mit herangezogen werden. Auf den ersten Bewegungsgrund der Verbindlichkeit zur Religion in § 129, der also letztlich in der

 Eberhard: SdV, § 50.2.c, S. 50.  Eberhard: SdV, § 87, S. 86 f.  Eberhard: SdV, S. 141.  Eberhard: SdV, § 129, S. 142.  Vgl. Eberhard: SdV, §129.2, S. 143. Die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Religion entspricht damit im Grunde der Konzeption der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer wissenschaftlicher Erkenntnis wie Eberhard sie aus der Tradition der Halleschen Schulphilosophie kannte. Die theoretische wissenschaftliche Erkenntnis wurde dort bezogen auf „eine Wahrheit als solche“ gedacht, die praktische wissenschaftliche Erkenntnis auf „eine Wahrheit als Bestimmungsgrund eines Handelns“ (vgl. Herms: Herkunft, S. 46).

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Steigerung der eigenen Vollkommenheit durch die „vollkommnere Erkenntniß Gottes“ besteht,³¹⁵ folgt in § 130 der auf „[u]nsere Glückseligkeit und unser Vergnügen“ zurückgehende „II. Bewegungsgrund“ der Verbindlichkeit zur Religion: „[…] Durch die Religion befördert der Mensch seine Glückseligkeit; denn er vermehret dadurch seine Vollkommenheiten […] und wenn das Anschauen dieser Vollkommenheiten lebhaft wird, sein wahres Vergnügen[.] Die Religion ist also die Quelle der angenehmsten Empfindungen 1. so fern sie die lebhafte Erkenntniß des vollkommensten Gegenstandes ist, 2. unserer eigenen Vollkommenheit, die dadurch befördert wird, und wir sind zur Religion verbunden.“³¹⁶

An angenehmen Empfindungen, die der Religion zu verdanken sind, führt Eberhard unter § 130.2.a als „in dem Gegenstande“ begründete „die Empfindung der Ehrfurcht“ auf, die er u. a. in „Bewunderung“, „Liebe“ und „Dankbarkeit“ ausdifferenziert. Unter § 130.2.b folgen die „in uns selbst, in dem Gefühl unserer eigenen Vollkommenheit, sowohl des Verstandes als des Herzens“ begründeten Aspekte des „würdigste[n] Vergnügen[s]“ der Andacht, wozu schließlich auch „die Glückseligkeit der Tugend“ gehört.³¹⁷ Der in § 131 ausgeführte „III. Bewegungsgrund“ der Verbindlichkeit zur Religion endlich besteht in der mit der Religion gegebenen „Erleichterung der Pflichten“. §131.1 erläutert diesen Gedanken und damit zugleich noch einmal, inwiefern natürliche und die auf Religion gegründete Verbindlichkeit einander ergänzen bzw. inwiefern die Religion die bereits vorauszusetzende natürliche Verbindlichkeit verstärkt: „1. Da es uns die Religion erleichtern soll, daß wir unserer natürlichen Verbindlichkeit gemäß handeln: so setzt die Religion diese Verbindlichkeit voraus, und die Handlungen, die derselben gemäß sind, werden Handlungen der Religion dadurch, daß wir Gott als den Urheber dieser Verbindlichkeit erkennen, der sie zu seiner Verherrlichung will, und daß diese lebendige Erkenntniß als Bewegungsgrund mit den übrigen Bewegungsgründen auf unsern Willen wirkt.“³¹⁸

Zurückführen lässt sich diese Ergänzung bzw. Verstärkung der natürlichen Verbindlichkeit durch die Verbindlichkeit der Religion sowie die Priorität der natürlichen Verbindlichkeit dabei im Grunde auf die bereits in § 25 dargestellte „Innere und äussere Sittlichkeit der Handlungen“:

   

Eberhard: SdV, § 129, S. 142. Eberhard: SdV, § 130, S. 143 f. Eberhard: SdV, § 130.2, S. 145 f. Eberhard: SdV, § 131, S. 146.

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II. Predigtanalysen

„Diejenige Sittlichkeit einer freyen Handlung, die zunächst in ihrer Beschaffenheit selbst und in der Natur desjenigen, der sie verrichtet, zureichend gegründet ist, ist ihre innere oder objektive, die nicht darin, sondern zunächst in dem freyen Willen einer Person zureichend gegründet ist, ihre äussere oder subjektive Sittlichkeit. Da es bey der Moralität der freyen Handlungen auf ihr Zusammenstimmen oder Nichtzusammenstimmen mit dem Wesen, Eigenschaften und der Bestimmung des Menschen ankömmt, zwischen dem es kein drittes giebt: so muß eine jede freye Handlung des Menschen eine innere Moralität haben, keine kann ganz gleichgültig seyn.“

Zur Erläuterung des Textes folgt im Anschluss daran kleingedruckt: „Die äussere Sittlichkeit hängt also von dem Willen eines Gesetzgebers ab, und sie kann nie ohne die innere seyn. Denn niemand kann das Recht haben, einer innerlich bösen Handlung eine äussere Sittlichkeit zu geben, die der innern widerspräche.“³¹⁹

Die innere Sittlichkeit ist der äußeren Sittlichkeit laut Eberhard also eindeutig vorgeordnet. Der sich anschließende § 26 wendet sich demzufolge dann auch explizit gegen die einseitige Position der „Vertheidiger der äussern Sittlichkeit aller menschlichen Handlungen“, also gegen ein einseitiges Zurückführen aller Verbindlichkeit auf den „Willen Gottes“ einerseits oder aber auf den „eines menschlichen Regenten“ andererseits. Zur Diskussion steht hier also im Grunde die Kontroverse: Naturrecht versus positives Recht. Das Kleingedruckte am Ende des Paragraphen formuliert Eberhards grundsätzliche Antwort diesbezüglich schließlich knapp und präzise: „Einige verwerfen die äussere Sittlichkeit ganz, wie der Graf Shaftesbury, in dem Inqu. concern.Virtue. Allein sie [i. e. die innere und die äußere Sittlichkeit, D.G.] müssen beyde mit einander verbunden werden.“³²⁰

In diesem Sinne also ergänzt und verstärkt dann auch die Religion mit ihrem Rückgriff auf den Willen Gottes und damit auf die äußere Sittlichkeit der freien Handlungen die innere Sittlichkeit derselben durch die ihr eigenen Bewegungsgründe und deren Wirken auf den menschlichen Willen. In § 132 „Frömmigkeit. Gottlosigkeit“ kann demzufolge dann schließlich formuliert werden:

 Eberhard: SdV, § 25, S. 26.  Eberhard: SdV, § 26, S. 28.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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„Die Frömmigkeit ist also die Vollendung seiner [i.e. des Menschen, D.G.] sittlichen Vollkommenheit, indem sie ihn am geschicktesten macht, zur Beförderung der Ehre Gottes,wozu er sonst auch als ein Geschöpf Gottes als ein Mensch und als tugendhafter Mensch geschickt ist.“³²¹

Ein Vergleich der Bedeutung des Strebens nach Vollkommenheit für Eberhards Praktische Philosophie mit der Bedeutung desselben für Schleiermachers Examenspredigt ergibt nun zunächst einmal ganz offensichtliche Übereinstimmungen. Die sittliche Vollkommenheit bzw. das Streben nach der sittlichen Vollkommenheit ist in beiden Entwürfen im Grunde Sinn und Ziel menschlichen Lebens. Ebenfalls bei beiden ist im Blick, dass diese Vollkommenheit über das irdische Leben hinausreicht und im Diesseits nicht vollständig erreicht werden kann.³²² Sodann ist die wahre Glückseligkeit des Menschen bei beiden konstitutiv mit dem Streben nach dieser Vollkommenheit bzw. mit der Tugend verbunden. Die Religion schließlich spielt im Hinblick auf die zu erstrebende Vollkommenheit in beiden Entwürfen im Grunde eine unterstützende oder verstärkende Rolle. Bei Eberhard wird das explizit formuliert, in Schleiermachers Examenspredigt kommt das u. a. durch die Rede von der „Hülfe der Religion“³²³ sowie durch die gesamte Disposition der Predigt zum Ausdruck, die den Aspekt des Verhältnisses des Menschen zu Gott sozusagen erst ergänzend am Ende der Predigt explizit und eigenständig thematisiert.³²⁴ Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die ent-

 Eberhard: SdV, § 132.3, S. 149. Die Überschrift des Paragraphen befindet sich bereits auf S. 147.  Vgl. für Schleiermachers Examenspredigt z. B. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 7– 34. Die tiefere Einsicht, dass den Menschen aufgrund ihrer geschöpflichen Verfasstheit irdischerseits nur das Streben nach der Vollkommenheit, nicht aber das Erreichen derselben aufgegeben sein kann, kommt bereits in Schleiermachers vielzitiertem Brief an seinen Vater vom 21. Januar 1787 zum Ausdruck. Unmittelbar im Zusammenhang der Darlegung seiner Glaubenszweifel ist dort zu lesen: „Ich kann nicht glauben, daß der wahrer ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.“ (Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 31– 39. Das „lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler“ gilt als „wesentliches Stük […], welches zu unserer wahren sittlichen Beßerung überhaupt gehört“, und ist – man beachte die Formulierung! – „noch in besonderer Rüksicht nothwendig für den, welcher einsieht, daß diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion, und vermittelst der Empfindungen, welche sie einflößt, bewerkstelligt werden kann.“  Herms: Herkunft, S. 113 bestätigt diese Beobachtung. Im Zusammenhang mit der „Zusammenschau von Religiosität und Sittlichkeit“ beim frühen Schleiermacher (bis 1793) stellt Herms fest: „Wie Eberhard und Spalding war Schleiermacher […] von der Autonomie der Sittlichkeit in

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II. Predigtanalysen

sprechenden Ergebnisse der Predigtanalyse. Beiden Entwürfen gemeinsam ist dann aber auch, dass die Religion bzw. die Frömmigkeit, v. a. durch die mit ihr verbundenen Empfindungen, einen ganz entscheidenden Beitrag zur Bestimmung des menschlichen Willens bzw. zu den den menschlichen Willen bestimmenden Bewegungsgründen leistet. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Bedeutung der Dankbarkeit verwiesen. Ein genauerer Vergleich der Eberhardschen Vollkommenheitskonzeption mit derjenigen der Schleiermacherschen Examenspredigt ergibt nun aber auch kleinere, jedoch nicht unwesentliche Differenzierungen. So ist die Vollkommenheit, die die Schleiermachersche Predigt im Blick hat, zunächst einmal ganz grundsätzlich durch die Vorgaben der wahren Tugend sowie der wahren Religion³²⁵ bzw. durch die „richtigen Begriffe[…] von Tugend und Religion“³²⁶ bestimmt,³²⁷ während Eberhard die „natürlich[e] und moralisch[e]“ Vollkommenheit des Menschen im Blick hat.³²⁸ Während Eberhard also von der Ontologie herkommend die der Natur und Geschöpflichkeit des Menschen entsprechenden natürlichen und sittlichen Bestimmungen bzw. Vollkommenheiten zu entwickeln bestrebt ist, orientiert sich Schleiermachers Vollkommenheitsideal an der Zielvorstellung bzw. dem „Bild“, das durch die Vorschriften der wahren Tugend und der wahren Religion vorgegeben ist. Und dieses Bild weist nun, durchaus der Gattung der Predigt gemäß, im Gegensatz zur Eberhardschen, in theologischer Hinsicht durch die natürliche Theologie geprägten³²⁹ Konzeption eine explizit christliche Prägung

dem Sinne überzeugt, daß eine von Religionswahrheiten unabhängige natürliche Verbindlichkeit bestehe, das erkannte sittliche Wesen handelnd zu verwirklichen“.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 8 – 7, 2.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 21– 23.  Spalding hatte damit in gewisser Weise übereinstimmend seit der dritten Auflage seiner Schrift über die Bestimmung des Menschen in deren Anhang formuliert: „Je höher überhaupt der Begriff, und je lebendiger der Eindruck ist, den ein Mensch von seiner großen Bestimmung, von Tugend und Recht und ewiger Ordnung hat, desto stärker und rührender wird er den Werth der göttlichen Anweisungen empfinden, die ihm dazu so viel Hülfe leisten.“ (SpKA I/1, 209, 21– 211, 2; zitiert wird, wo es sich nicht um Anhänge oder Zugaben handelt, nach der 7. Auflage der „Bestimmung des Menschen“ von 1763, da sich ein Exemplar dieser Auflage in Schleiermachers Besitz befand, vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Register zur I. Abteilung, erstellt v. Lars Emersleben unter Mitwirkung v. Elisabeth Blumrich u. a.; Addenda und Corrigenda zur I. Abteilung; Anhang: Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer [KGA I/15], zweite, erw. u. verbesserte Aufl., Berlin/New York 2005 [Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2], S. 826). Bei Spalding findet sich dann allerdings, im Gegensatz zu Schleiermacher, auch die explizit ontologische Begründung dieser Begriffe (vgl. SpKA I/1, 113, 3 – 8 und SpKA I/1, 193, 21– 25).  Eberhard: SdV, § 44, S. 42.  Vgl. dazu auch Herms: Herkunft, S. 64.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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auf. So ist die Rede von der „christlichen Vollkommenheit“, die zudem dem „wolthätigen Einfluß der Lehre Jesu auf [den] Charakter“ der Menschen parallelisiert wird.³³⁰ Weiter erhält das „Ziel dem wir uns bis in Ewigkeit nähern sollen, das erhabene Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, durch diese Formulierung einen passiven Charakter und verweist damit der christlichen Rechtfertigungs- und Heiligungstradition entsprechend darauf, dass der Mensch zur Erlangung dieser Vollkommenheiten auf etwas bzw. jemanden außerhalb seiner selbst angewiesen ist. V.a. aber wird dieses Bild inhaltlich durch eine Verbindung der „Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ mit dem „ganze[n] Beispiel Jesu“ und „de[m] hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“, qualifiziert.³³¹ Eine weitere Differenz muss sodann dem Stellenwert der „Sinnesänderung“ in beiden Konzeptionen zugeschrieben werden. Während dieser bzw. der „Buße“ in Schleiermachers Predigt eine ganz wesentliche Bedeutung zukommt, ein Verweis auf das Predigtthema dürfte an dieser Stelle genügen,³³² spielt das „sittliche[…] Erwachen und Nüchternwerden“, zu dem freilich „unangenehme Empfindungen die besten Mittel“ sind, in Eberhards Sittenlehre eine eher marginale Rolle und beschränkt sich im Grunde auf den hier zitierten Ort.³³³ Einem Verweis Eberhards auf Johann Joachim Spaldings Neue Predigten nachgehend,³³⁴ begegnet der Topos der „Sinnesänderung“ bei Spalding allerdings an theologisch zentraler Stelle. In Spaldings Predigt „über die unordentliche Begierde nach Zeichen und Wundern“ zu Joh 4,48³³⁵ heißt es z. B.: „Das ganze selige Geschäfte der Sinnesänderung und Heiligung kann eben so gut ohne solche wundersame Besonderheiten statt haben, wenn der Mensch sich nur überhaupt zu einem treuen Gebrauch der göttlichen Wahrheit erwecken lässet, wenn er durch die Ueberzeugung derselben

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3.  „[W]ie derjenige beschaffen seyn müße, bei dem die hauptsächliche Wirkung des Christenthums, nemlich wahre Beßerung und Sinnesänderung möglich seyn soll“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23).  Eberhard: SdV, § 158.1, S. 187.  Vgl. Eberhard: SdV, § 140, S. 163.  SpKA II/2, 191, 1– 4. In Spaldings Predigt „über die merkliche Unterscheidung eines Menschen, der Gott fürchtet, von einem Menschen dieser Welt“ zu Lk 1,57– 80 begegnet der Topos des „heilsame[n] und große[n] Geschäfte[s] der Veränderung des Sinnes“ bereits auf dem Hintergrund seiner biblischen Grundlage: Röm 12,2 (vgl. SpKA II/2, 127, 5 – 8 und 120, 29 – 121, 4). In dieser Predigt kommt dem Topos der Sinnesänderung allerdings eine eher untergeordnete Funktion zu, wenn im Zusammenhang mit den entscheidenden Ausführungen zu dem, „was nach dem Gewissen recht ist“, als der „Richtschnur“ des christlichen Lebens, im zweiten Teil des Hauptteils der Predigt auch die „Veränderung des Sinnes“ thematisiert wird (vgl. SpKA II/2, 118, 17– 127, 13).

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II. Predigtanalysen

zu einem gewissenhaften Nachdenken über sich selbst kömmt,wenn er da in einem hellen Lichte das Elend seines sündlichen Zustandes, die Größe der Barmherzigkeit Gottes in Jesu Christo, und die Glückseligkeit seiner Gemeinschaft einsiehet, wenn er diesen Zügen der Gnade nicht widerstrebet, sondern so darein williget, daß er sich seinem Gott und seinem Erlöser mit Redlichkeit des Herzens ergiebt. Einmal ist es doch unläugbar […], daß Gott durch sein Wort, durch die erkannte Wahrheit, in die menschliche Seele wirkt, und wer es weiß und sich selbst Rechenschaft davon geben kann, wie seine geistlichen Rührungen und Empfindungen durch diese Erkenntniß der göttlichen Wahrheit in ihm veranlasset werden, der ist immer viel besser daran, als derjenige, dem das alles dunkel ist, und der nur darum, weil er in diesen Dunkelheiten nichts zu unterscheiden vermag, darin lauter ausserordentliche Wunder siehet. Die Aenderung des Sinnes und die Gottseligkeit, die durch diese begreifliche Ueberzeugung, durch die dem Gewissen einleuchtende Wahrheit von dem heiligen Geiste gewirket wird, ist wenigstens eben so schätzbar und eben so göttlich, als wenn sich in den dabey vorkommenden Umständen noch so viel sonderbares und geheimnißvolles fände.“³³⁶

Die Parallele zwischen Spaldings Formulierung der „Sinnesänderung und Heiligung“ und Schleiermachers Predigtthema, das der „Besserung und Sinnesänderung“ des Menschen gewidmet ist, ist augenfällig. M.E. lässt sich von daher die Vermutung wagen, dass Schleiermacher an dieser Stelle von Spalding beeinflusst ist, bzw. dass er den Gesichtspunkt der Sinnesänderung in Anlehnung an Spalding an so zentraler Stelle aufgenommen hat. Für Schleiermacher charakteristisch erscheint unter dieser Voraussetzung dann wiederum, dass er den bei Spalding zur Sinnesänderung hinzugehörigen Aspekt der „Heiligung“, in mehr philosophischer als theologischer Terminologie und Attitüde, als „Besserung“ des Menschen aufnimmt.³³⁷ Hinzu kommt, dass die „Aenderung des Sinnes“ bei Spalding letztlich auf das Wirken des göttlichen Wortes und des heiligen Geistes zurückgeführt wird, die eine entsprechende Überzeugung oder Wahrheit in der menschlichen Seele bzw. im menschlichen Gewissen zu begründen vermögen.³³⁸ Bei Schleiermacher dagegen verdankt sich die Sinnesänderung des Menschen der dem „Gefühl unsrer Unvollkommenheit“³³⁹ bzw. dem „Bewußtseyn unsrer Fehler“

 SpKA II/2, 199, 24– 200, 18.  Vgl. z. B. Eberhard: SdV, § 168, S. 202: „[…]; wir bessern uns, wenn wir unsere Unvollkommenheiten heben.“ Den Begriff der „menschlichen Besserung“ kann Spalding selbst allerdings durchaus auch verwenden. In der Vorrede zu seinen Neuen Predigten spricht er beispielsweise von dem „große[n] Geschäfte der Religion und der menschlichen Besserung“ (SpKA II/ 2, 3, 7 f.). Die gegenüber Spalding veränderte Reihenfolge „Beßerung und Sinnesänderung“ bei Schleiermacher (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 20 – 23) dürfte zudem einem Einfluss der aristotelischen Tradition zu verdanken sein (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 56 [Bekkersche Zählung: 1114a] und S. 100 [Bekkersche Zählung: 1129a]).  So bereits in der Predigt „über die merkliche Unterscheidung eines Menschen, der Gott fürchtet, von einem Menschen dieser Welt“ (vgl. SpKA II/2, 126, 32– 127, 12).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 26.

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oder auch Sünden entspringenden Selbsterkenntnis, die wiederum auf bereits erfahrene eigene Mangelhaftigkeit gegenüber den Gesetzen bzw. Vorschriften der wahren Tugend und der wahren Religion zurückgehen, oder aber durch die noch bestehende Differenz zu dem „Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, zustande kommen.³⁴⁰ Richtschnur dieses Gefühls oder Bewusstseins und der damit verbundenen Selbsterkenntnis ist in Schleiermachers Examenspredigt aber letztlich „die Stimme der Vernunft“.³⁴¹ Dazu passt dann schließlich auch, dass Schleiermacher im Zusammenhang mit der Entstehung dieser Selbsterkenntnis nicht den Begriff des Gewissens verwendet.³⁴² Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen der Eberhardschen und der Schleiermacherschen Vollkommenheitskonzeption lässt sich im Anschluss daran hinsichtlich der Bedeutung feststellen, die dem Aspekt der „Gesinnung“ in den beiden Konzeptionen zukommt. Während bei Schleiermacher die Sittlichkeit bzw. die wahre Tugend einer Handlung mit der entsprechenden sittlichen Gesinnung bzw. Handlungsmotivation steht und fällt,³⁴³ wird die den Handlungen der Menschen zugrunde liegende Gesinnung bei Eberhard im Grunde nicht explizit problematisiert, wenn auch im Anschluss an Herms bei Eberhard angesichts der „Stoffverteilung“ des ersten Teils seiner Sittenlehre eine deutliche Priorität der „innere[n] Sittlichkeit als Moralität“ gegenüber der „äußeren Sittlichkeit als Übereinstimmung mit den Gesetzen der Gemeinschaft in äußeren Handlungen“ auszumachen ist.³⁴⁴ Entscheidend ist, dass bei Eberhard der Maßstab dieser inneren – und letztlich auch der äußeren – Sittlichkeit einer Handlung in „ihr[em] Zusammenstimmen oder Nichtzusammenstimmen mit dem Wesen, Eigenschaften und der Bestimmung des Menschen“³⁴⁵ bzw. in „Wesen und Natur des Handelnden und der dazu mitwirkenden übrigen Dinge“ oder kurz gesagt in ihrer Entsprechung zu den Naturgesetzen besteht.³⁴⁶ Gesinnungen versteht Eberhard von daher dann lediglich als „die praktischen Urtheile von der Sittlichkeit der freyen Handlungen“ und insofern, gewissermaßen nachgängig und abhängig von deren

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 19 – 8, 3.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 10 – 21.  Anstelle des Gewissens spricht Schleiermacher in diesem Kontext z. B. von der eher psychologisch oder sittlich als theologisch oder religiös konnotierten „leisere[n] Stimme des innern Gefühls“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 25 f.).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 37– 44; 9, 7– 34. Für Schleiermachers Examenspredigt ist in dieser Frage also durchaus „letzte Klarheit […] zu gewinnen“ (vgl. die Darlegung der Fragestellung bei Meier-Dörken: Theologie, S. 92). Meier-Dörken lässt diese Frage für seine Gesamtsicht der ersten Schleiermacherschen Predigten bis 1793 offen (vgl. a. a.O., S. 92 f.).  Vgl. Herms: Herkunft, S. 56, Anm. 98.  Eberhard: SdV, § 25, S. 26.  Vgl. Eberhard: SdV, § 32, S. 32 und § 32.1, S. 33.

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vorgängig gegebener bzw. nicht gegebener Natur- oder Gesetzmäßigkeit, als „Grund“ der freien Handlungen. Schon die singuläre Verortung der Thematisierung der Gesinnungen unter dem Abschnitt der „Moralische[n] Schönheit“ und damit dort, wo es um die Beurteilung der Sittlichkeit geht,³⁴⁷ macht dabei deutlich, dass den Gesinnungen bei Eberhard im Gefüge der Handlungsmotivation keine letztlich eigenursächliche Funktion zukommt. Der „Begriff“ der Tugend kommt bei Eberhard dementsprechend dann auch völlig ohne den Aspekt der Gesinnung aus und wird lediglich unter dem Gesichtspunkt der Fertigkeit verhandelt: „als Fertigkeit“ bzw. „größeres Vermögen […], den Gesetzen gemäß zu handeln“. „Das Wesen der Tugend besteht“ von daher dann wiederum schlicht „in der Uebereinstimmung mit dem Naturgesetze“.³⁴⁸ Bei Schleiermacher dagegen stehen und fallen Sittlichkeit und Tugend einer Handlung mit deren „Beweggründen“ bzw. mit der der jeweiligen Handlung zugrunde liegenden Gesinnung.³⁴⁹ Wahre Tugend setzt eine entsprechende „Reinigkeit der Gesinnungen“ voraus,³⁵⁰ Tugend und die der Tugend entsprechende Gesinnung gehören für ihn untrennbar zusammen.³⁵¹

 Vgl. dazu § 56 der Eberhardschen Sittenlehre über die „Moralische Schönheit“ (Eberhard: SdV, § 56, S. 56 f. Das Zitierte, die Überschrift des Paragraphen ausgenommen, findet sich auf S. 57 unter § 56.1).  Vgl. Eberhard: SdV, § 96, S. 98 – 101. Die an sich richtige Beobachtung, dass Schleiermacher bis zum Jahr 1793 „die Sittlichkeit nicht so sehr im Blick auf die Handlungen als vielmehr im Blick auf die Einstellung des Willens, die Haltung des Herzens, d. h. eben als ‚Tugend‘ faßte“, undifferenziert sowohl auf Schleiermachers „Aufenthalt in Herrnhut“ als auch auf „die philosophische Sittenlehre in ihrer Halleschen und Kantischen Form“ zurückzuführen, wie Herms das vorschlägt (vgl. Herms: Herkunft, S. 113), erscheint auf diesem Hintergrund nicht ratsam. Beachtet werden sollte vielmehr, dass die Hallesche und die Kantische Praktische Philosophie genau an dieser Stelle wesentliche Unterschiede aufweisen.  Der gesamte erste Teil des Hauptteils der Examenspredigt führt diesen Sachverhalt im Grunde aus (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 31– 7, 30).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 15 – 17.  Schleiermacher wird die Tugend in späteren Überlegungen zur Philosophischen Ethik sowohl unter dem Gesichtspunkt der „Gesinnung“, als auch unter dem der „Fertigkeit“ verhandeln. Denn erst durch beide Aspekte lässt sich die Tugend, im Grunde auf idealistischem Hintergrund, angemessen beschreiben. Zu vergleichen wäre dafür beispielsweise das Inhaltsverzeichnis des „Brouillon zur Ethik“ aus den Jahren 1805/06 (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Brouillon zur Ethik [1805/06], auf der Grundlage der Ausgabe v. Otto Braun hg. u. eingeleitet v. Hans-Joachim Birkner [Philosophische Bibliothek Bd. 334], Hamburg 1981 [Schleiermacher: Brouillon], S. Vf.) oder auch folgende Passage aus der 84. Stunde: „Von der Tugend als Fertigkeit. Wir gehen nun von dem bloß inneren Sein der Tugend, wie sie als Gesinnung allem Handeln zum Grunde liegt, zu ihrem Werden, zu ihrer Aeußerung im Handeln, wobei sie als Fertigkeit, als Quantum erscheint. Die Gesinnung ist die reine Idee, wie sie ist, überall ganz und überall dieselbe. Die Fertigkeit aber läßt ein mehr und ein weniger zu als Erscheinung der Idee.“ (Schleiermacher: Brouillon, S. 144, das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben).

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Damit aber dürfte sich bei Schleiermacher u. a. bereits der Einfluss der Praktischen Philosophie Kants bemerkbar machen.³⁵² Die grundsätzliche Unterscheidung  In der ethischen Konzeption Kants sind im Gegensatz zu Eberhard Sittlichkeit bzw. Tugend und Gesinnung des Menschen untrennbar miteinander verbunden. Exemplarisch seien dafür folgende Abschnitte aus der Kritik der praktischen Vernunft zitiert: „Die sittliche Stufe, worauf der Mensch […] steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht […] zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d.i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens.“ (KpV, S. 114 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 150 f.] [das hier kursiv Gesetzte ist in der Ausgabe von 2003 gesperrt gedruckt]). Mit der Unterscheidung zwischen Tugend und Heiligkeit kommt hier im Zusammenhang mit der Tugend auch bei Kant, wenn nicht die Prozesshaftigkeit, so doch zumindest eine Unabgeschlossenheit der menschlichen Sittlichkeit in den Blick. Am Ende des ersten Teils der Kritik der praktischen Vernunft entwirft Kant das ethische Szenarium, das gegeben wäre, wenn sich das menschliche Erkenntnisvermögen auch auf die Erkenntnis von „Gott und Ewigkeit“ beziehen würde: „[…] statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem, nach einigen Niederlagen, doch allmählig moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen liegen […]; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand, und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst emporarbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln, so würden die mehresten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren.“ (KpV, S. 197 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 264 f.] [das hier kursiv Gesetzte ist in der Ausgabe von 2003 gesperrt gedruckt]). Der im Gegensatz zum ontologisch begründeten Entwurf Eberhards entscheidende Rückbezug der ethischen Konzeption Kants auf die Freiheit des Menschen kommt z. B. in folgendem Abschnitt zum Ausdruck: „[…] das Sinnenleben hat in Ansehung des intelligibelen Bewußtseins seines Daseins (der Freiheit) absolute Einheit eines Phänomens, welches, so fern es bloß Erscheinungen von der Gesinnung, die das moralische Gesetz angeht (von dem Charakter) enthält, nicht nach der Naturnotwendigkeit, die ihm als Erscheinung zukommt, sondern nach der absoluten Spontaneität der Freiheit beurteilt werden muß.“ (KpV, S. 134 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 177] [das hier kursiv Gesetzte ist in der Ausgabe von 2003 gesperrt gedruckt]). Die Rede von den „freiwillig angenommenen […] Grundsätze[n]“ kurz darauf verweist dann im Grunde schon auf die Notwendigkeit des in Kants Religionsschrift als „Revolution in der Gesinnung im Menschen“ benannten Sachverhalts (Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, mit einer Einleitung von Hermann Noack und einer Bibliographie von Heiner Klemme hg.v. Karl Vorländer [Philosophische Bibliothek 45], Hamburg 1990 [Kant: Religion], S. 51 [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 54] [das hier kursiv Gesetzte ist in der Ausgabe von 1990 gesperrt gedruckt]). Hier wird die Revolution in der Gesinnung der Vorstellung einer Reform allerdings klar entgegengesetzt. Die Kantische Revolution in der Gesinnung entspricht damit gerade nicht der bei Schleiermacher als lebenslangem Prozess ausgewiesenen Buße und Sinnesänderung bzw. der „ganze[n] Aenderung unsrer Grundsäze und Gesinnungen“ in Schleiermachers Examenspredigt

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zwischen Handlungen, die zwar dem „Anschein der Tugend“ genügen, und solchen, die auch aus entsprechend „edlen Beweggründen entsprang[en]“, dürfte beispielsweise doch recht deutlich eine Anverwandlung der Kantischen Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität erkennen lassen.³⁵³

(Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 20 – 23). Meier-Dörken: Theologie, S. 93 f. weist in diesem Kontext darauf hin, dass Kant „die ‚Revolution für die Denkungsart‘ der ‚allmähliche[n] Reform für die Sinnesart‘“ voranstellt. Da Schleiermacher allerdings die die Denkungsart bzw. die Grundsätze und Gesinnungen betreffende Sinnesänderung als lebenslange Buße im Blick hat, dürfte hier doch ein deutlicher Unterschied zum Kantischen Modell vorliegen. Die Rede von den „freiwillig angenommenen […] Grundsätze[n]“ findet sich in Kants Kritik der praktischen Vernunft im Zusammenhang mit der Praxis der Schuldzurechnung und Bestrafung auch solcher Menschen, die „man […] für geborne Bösewichter, und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unbesserlich hält“. Kant führt angesichts eines solchen Menschen aus: „Dieses würde nicht geschehen können, wenn wir nicht voraussetzten, daß alles, was aus seiner Willkür entspringt (wie ohne Zweifel jede vorsätzlich verübte Handlung), eine freie Kausalität zum Grunde habe, welche von der frühen Jugend an ihren Charakter in ihren Erscheinungen (den Handlungen) ausdrückt, die wegen der Gleichförmigkeit des Verhaltens einen Naturzusammenhang kenntlich machen, der aber nicht die arge Beschaffenheit des Willens notwendig macht, sondern vielmehr die Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze ist, welche ihn nur noch um desto verwerflicher und strafwürdiger machen.“ (KpV, S. 135 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 178 f.]). Hinsichtlich der Bedeutung der Grundsätze bzw. der Gesinnung für die ethische Konzeption dürfte sich bei Schleiermacher also schon eine Beeinflussung durch Kants Praktische Philosophie bzw. die Kritik der praktischen Vernunft nahe legen, die Schleiermacher zum Zeitpunkt der Entstehung seiner Examenspredigt nachweislich bereits gekannt und studiert hatte (vgl. Schleiermachers Brief an seinen Freund Brinckmann vom 9. Dezember 1789: Brief 128, 266 – 274, in: KGA V/1, S. 177). Dass schon in der antideistischen Kontroversliteratur von der „Reinigkeit des Herzens“ die Rede war, „ohne welche kein äusserlicher Schein den Augen GOttes angenehm seyn kann“ (vgl. John Leland: D. John Lelands Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften, die in dem vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderte in Engeland bekandt geworden sind; nebst Anmerkungen über dieselben und Nachrichten von den gegen sie herausgekommenen Antworten: in verschiedenen Briefen an einen guten Freund, I. Teil aus dem Englischen übersetzt von Henrich Gottlieb Schmid, Hannover 1755 [Leland: Abriß I], S. 578) und dass die entsprechende Bedeutung der Gesinnung(en) für die Handlungsmotivation ebenso bereits bei Spalding in wesentlichen Teilen zu finden ist, Schleiermacher hier mithin also auch von diesen Quellen beeinflusst sein dürfte, insbesondere wenn man die von ihm im Gegensatz zum Kantischen Modell gewählte Formulierung der „Reinigkeit“ betrachtet, sei unbenommen. Den Einwirkungen Kants dürfte an dieser Stelle allerdings m. E. u. a. aufgrund der zeitlichen Nähe zu Schleiermachers Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft sowie aufgrund der von Schleiermacher explizit vorgenommenen Unterscheidung zwischen solchen Handlungen, die lediglich eine Übereinstimmung mit vorgegebenen Gesetzen aufweisen und solchen Handlungen, die dagegen auch aus einer mit diesen Gesetzen übereinstimmenden Gesinnung heraus getan werden, eine doch ganz gewichtige Bedeutung zukommen (vgl. Abschnitt II.2.1.7.3).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 41– 44; für Kant: KpV, S. 97 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 126 f.). Christoph Meier-Dörkens These, dass Schlei-

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Als Ergebnis der Untersuchung des Strebens nach Vollkommenheit in den beiden Entwürfen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass diesem Bestandteil der Eberhardschen Praktischen Philosophie für Schleiermachers Examenspredigt eine fundamentale Bedeutung zukommt. Schleiermacher übernimmt das Streben nach Vollkommenheit inhaltlich als Ziel gelungenen menschlichen Lebens und damit im Grunde als dessen Bestimmung und höchstes Gut. In der Ausführung seiner Vollkommenheitskonzeption weicht Schleiermacher dann allerdings in nicht ganz unerheblicher Weise von der Vorlage der Eberhardschen Sittenlehre ab. Insbesondere (Vor‐)Bild und Lehre Jesu bzw. die Vorschriften der christlichen Religion sowie der vermutlich in Anlehnung an Spalding aufgenommene Aspekt der für die Besserung konstitutiven Sinnesänderung geben der Schleiermacherschen Vollkommenheitskonzeption eine spezifische Prägung. Die Bedeutung, die der Reflexion der Qualität der Gesinnung im Kontext der Sittlichkeit bei Schleiermacher zukommt, dürfte sodann bereits auf Kants Kritik der praktischen Vernunft verweisen. In formaler Hinsicht aber entspricht der Ort, der der religiösen Thematik des Gottesverhältnisses des Menschen in der Disposition der Predigt zugewiesen wird, ganz präzise der Funktion, die der Religion bei Eberhard hinsichtlich der natürlichen Verbindlichkeit bzw. im Gefüge der Bewegungsgründe des Strebens nach Vollkommenheit zukommt: die Religion unterstützt und verstärkt die an erster Stelle rangierende natürliche Verbindlichkeit. Insofern lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Eberhardschen Praktischen Philosophie für Schleiermachers Examenspredigt sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht konstitutive Bedeutung zukommt. Schleiermacher übernimmt die Grundzüge dieser Philosophie, eignet sich bzw. wendet diese aber gleichsam in eigenständiger, christlich-religiös bzw. theologisch pointierter Weise an. Er vermittelt damit sozusagen zwischen der Eberhardschen Praktischen Philosophie und der christlichen Sittenlehre, indem er dem philosophischen Element den Vortritt lässt, dieses aber letztendlich nicht unwesentlich

ermacher sich in seinen Predigten bis 1793 „mit der Legalität menschlicher Handlungen […] zufrieden“ gebe, „weil er ihre eigentliche Moralität (das Gute allein um des Guten willen zu tun) für unmöglich hält“, lässt sich von daher nicht einfach bestätigen (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 96 [Hervorh. i. Orig.]). Dass die Güte bzw. Sittlichkeit der Gesinnungen bei Schleiermacher natürlich nicht einfach auf die Kantische pflichtgemäße Befolgung des moralischen Gesetzes zurückzuführen ist, ist zuzugestehen. Dass Schleiermacher aber sehr wohl zwischen solchen Handlungen, die aus der „Reinigkeit der Gesinnungen“ hervorgehen, und solchen die lediglich zufällig dem „Schein“ der Tugend entsprechen, unterscheidet, ist nicht zu verkennen (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 15 – 17 und 6, 17– 25). Insofern kann also nicht wirklich davon die Rede sein, dass sich Schleiermacher „mit der Legalität menschlicher Handlungen […] zufrieden“ gäbe. Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf die diesbezüglichen Ausführungen in Abschnitt II.2.1.7.3 der vorliegenden Arbeit.

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II. Predigtanalysen

durch das christlich-religiöse bzw. theologische Element inhaltlich bestimmt und geprägt sein lässt.³⁵⁴

II.1.1.7.2 Zur Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation Im Kontext der Untersuchung des Strebens nach Vollkommenheit konnte im vorigen Abschnitt festgestellt werden, dass die der Schleiermacherschen Examenspredigt zugrunde liegende Funktion der Religion der bei Eberhard im Zusammenhang mit der natürlichen Verbindlichkeit bzw. im Gefüge der Handlungsmotivation im Blick auf das Streben nach Vollkommenheit zu erkennenden unterstützenden und verstärkenden Funktion der Religion in wesentlichen Zügen entspricht. Belegen lässt sich das insbesondere durch Schleiermachers Rede von der „Hülfe der Religion“. Dabei setzt Schleiermacher das menschliche Sünden Herms verweist mit Bezug auf die vorliegende Predigt, die er irrtümlich in das Jahr 1791 datiert, auf Schleiermachers „in Auseinandersetzung mit Herrnhut gewonnene Theorie der Sittlichkeit als Bestimmung und Befähigung nicht zur sittlichen Vollkommenheit, sondern zu unendlicher Vervollkommnung“ (Herms: Herkunft, S. 43). Diese Gegenüberstellung von „sittliche[r] Vollkommenheit“ einerseits und „unendlicher Vervollkommnung“ andererseits lässt sich nun allerdings anhand der hier für die Schleiermachersche Examenspredigt erarbeiteten Gestalt der dieser zugrunde liegenden Vollkommenheitskonzeption so nicht verifizieren. Zielt diese Unterscheidung auf einen Unterschied zwischen faktisch erreichter und erst noch zu realisierender Vollkommenheit, so muss natürlich festgestellt werden, dass Schleiermacher Letzteres im Blick hat (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 7– 34,wie schon Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 21.01.1787 [Brief 53, 30 – 33, in: KGAV/1, S. 50]). Dann muss allerdings auch zugestanden werden, dass selbst Eberhards Konzeption von Letzterem ausgeht (vgl. insbesondere Eberhard: SdV, § 21, S. 22 f.), sich insofern also kein Gegensatz zwischen Eberhardscher und Schleiermachers „Theorie der Selbstvervollkommnung“ ergibt (so Herms: Herkunft, S. 43). Zielt diese Unterscheidung aber auf zwei in inhaltlicher Hinsicht alternative Vollkommenheitskonzeptionen, was Schleiermachers von Herms genannten deutlich gegen Herrnhut gerichteten Ausführungen in seinem Brief an Brinckmann vom 9. Dezember 1789 entspräche: „[…] ich fand daß es sehr traurig wäre wenn Du bloßen ReligionsBegriffen ein Amt wieder auftragen wolltest was bisher wirklich sittliche Begriffe verwaltet haben; […] wenn das Bestreben ein Engel zu werden welches immer der Frömmigkeit zum Grunde liegt an die Stelle des Vorsazes träte blos ein guter Mensch seyn zu wollen“ (Brief 128, 195 – 201, in: KGA V/1, S. 174), so muss festgehalten werden, dass aufgrund der Formulierung der strikten Alternative zwischen „ReligionsBegriffen“ einerseits und „wirklich sittliche[n] Begriffen“ als möglichem Fundament des „Gebäude[s] von Tugend und Sittlichkeit“ andererseits (Brief 128, 171– 201, in: KGA V/1, S. 173 f.), hier geradezu ein Gegensatz zu den Ausführungen der Schleiermacherschen Examenspredigt vorliegt, da diese ja gerade die Verbindung der beiden Aspekte Tugend und Religion – in sittlicher Hinsicht – kennzeichnet. Dies ist ein Merkmal, das sich dann wieder mit Herms grundsätzlichen Beobachtungen für den Zeitraum von 1787 bis 1793 deckt: „Schleiermachers Einsichten wären also verkannt, wo die Zusammengehörigkeit seiner Theorie der Sittlichkeit und seiner Theorie der Religiosität im Rahmen einer Theorie der menschlichen Natur übersehen würde“ (Herms: Herkunft, S. 44).

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bewusstsein bzw. „das lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler“ als „wesentliches Stük […] zu unserer wahren sittlichen Beßerung“ als zu dieser „überhaupt gehöri[g]“ voraus und lässt diesem „für den, welcher“ das „einsieht“, die Einsicht zur Seite treten, dass „diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion, und vermittelst der Empfindungen, welche sie einflößt, bewerkstelligt werden kann.“ Dazu kommt der Befund der Analyse der Disposition der Predigt. Diese zeigt, dass der Gedanke der „Hülfe der Religion“ bzw. der Bearbeitung „der Erkentniß unsrer Verhältniße gegen Gott und den Stifter der Religion“³⁵⁵ erst am Ende der Predigt und damit, wenn auch an rhetorisch bedeutsamer Stelle, im Grund ergänzend expliziert und thematisiert wird.³⁵⁶ Die Formulierung, dass das Sündenbewusstsein des Menschen bzw. „das lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler“ sowie das diesem zugehörige „Gefühl“ „noch in besonderer Rüksicht nothwendig [ist] für den, welcher einsieht, daß diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion, und vermittelst der Empfindungen, welche sie einflößt, bewerkstelligt werden kann“,³⁵⁷ lässt dabei eine letztlich additive Konzeption der zur Handlungsmotivation gehörigen Bewegungsgründe bei Schleiermacher erkennen. Auch dies entspricht dem in dieser Hinsicht deutlich von der Halleschen Tradition geprägten Ansatz Eberhards.³⁵⁸ Grundlegend der Halleschen Tradition bzw. dem Eberhardschen Denken entspricht bei Schleiermacher schließlich die handlungsmotivierende Bedeutung der Empfindungen der Religion bzw. das auch in Hinblick auf die helfende Funktion der Religion zu erkennende Zusammenwirken von Gefühl und Vernunft bzw. von Empfindungen und Gedanken zur Handlungsmotivation.³⁵⁹ All diesen Gemeinsamkeiten zur Eberhardschen Konzeption liegt bei Schleiermacher nun allerdings auch ein wesentlicher Unterschied zum Eber-

 Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 30 – 43.  Vgl. die den gesamten ersten Hauptteil sowie gut die Hälfte des zweiten Hauptteils der Predigt einnehmende Thematisierung des Urteils über den eigenen Wert oder des moralischen Zustandes bzw. des Sündenbewusstseins der Menschen (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 27– 9, 34), welcher erst in 9, 34– 10, 32 der Blick auf die „Erkentniß unsrer Verhältniße gegen Gott und den Stifter der Religion“ bzw. auf die „Hülfe der Religion“ folgt.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 39 [Hervorh. D.G.].  In Eberhards Sittenlehre der Vernunft wird beispielsweise die mangelnde Stärke der natürlichen Verbindlichkeit des Gottesleugners damit begründet, dass „die Religion alle natürliche Verbindlichkeit“ „verstärkt“, „[d]a die Stärke der Verbindlichkeit aus der Menge und Größe der Bewegungsgründe entsteht“ (vgl. Eberhard: SdV, § 50, S. 48 f. [Hervorh. i. Orig.]).  Für Schleiermacher wäre in diesem Zusammenhang noch einmal auf die oben genannte Stelle Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 30 – 43 hinzuweisen, die verdeutlicht, wie Einsicht und Empfindungen zur Handlungsmotivation zusammenwirken. Für Eberhard wäre grundlegend auf SdV, § 34, S. 34 f. oder auch AThDE, S. 230 – 233 zu verweisen.

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hardschen Verständnis der unterstützenden oder verstärkenden Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation zugrunde. Denn achtet man auf die materiale Grundlage der Argumentationsstruktur, so wird deutlich, dass diese bei Schleiermacher – im Gegensatz zum Eberhardschen Modell – nicht, zumindest nicht ungebrochen, ontologischer Natur ist. Während bei Eberhard ontologisch begründete natürliche Verbindlichkeit und in unterstützender Funktion die Religion zur Handlungsmotivation zusammenwirken,³⁶⁰ nimmt Schleiermachers Modell der menschlichen Besserung seinen Ausgangspunkt entweder bei den Vorgaben von Tugendbegriffen und „Vorschriften des Gesezes“ oder aber bei dem Vergleichspunkt des „ganze[n] Beispiel[s] Jesu, de[s] hohe[n] Geist[es], den alle seine Vorschriften athmen“, und „de[r] Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ und des sich aus diesen Aspekten ergebenden „Bild[es] aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“. Zu diesen Vorgaben bzw. zu diesem Vergleichspunkt tritt nun bei Schleiermacher die Durchführung der Vergleichung dieser Vorgaben bzw. des sich aus all diesen Aspekten ergebenden „Bild[es] aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, mit dem „eignen Zustand“ hinzu. Diese Vergleichung aber führt laut Schleiermacher „immer“ zu „ein[em] lebhafte[n] Bewußtseyn unsrer Fehler“.³⁶¹ Die Schleiermachersche Argumentation basiert damit letzten Endes grundlegend auf einem menschlichen Sünden- oder Fehlerbewusstsein, das auch der rechten „Erkentniß unsrer Verhältniße gegen Gott und den Stifter der Religion“, insbesondere in innerer, seelischer oder sittlich-moralischer Hinsicht, zugrunde liegt,³⁶² oder anders formuliert: auf dem Bewusstsein der mit dem menschlichen Sünden- oder Fehlerbewusstsein verbundenen, lebenslang bleibenden Kluft zwischen dem Zustand des auf Erden lebenden Menschen einerseits und dem „erhabene[n] Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, andererseits. Die Verwirklichung dieses Bildes aller Vollkommenheiten wird in den Bereich der „Ewigkeit“ verwiesen³⁶³ und bleibt, wie auch der Prozess der Annäherung an dieses Bild zu Lebenszeiten, notwendig auf die Hilfe der „Hand Gottes“ angewiesen.³⁶⁴

 Vgl. Eberhard: SdV, §§ 47– 50, S. 45 – 50.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 12– 8, 3.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 30 – 10, 7.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3 und 11, 11– 18.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 39 – 10, 26, hier ist insbesondere das Diesseits im Blick. Dass die notwendige Angewiesenheit auf die Hilfe Gottes auch für den Bereich der Ewigkeit gilt, ist der passivischen Formulierung in Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 41 f. zu entnehmen.

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Dass Schleiermachers Argumentation damit im Grund auf dem Bewusstsein einer bleibend vorauszusetzenden, vonseiten des Menschen selbst nicht zu überbrückenden Kluft basiert, die erst eschatologisch durch die Hilfe Gottes zu überwinden sein wird, legt indessen einen vergleichenden Blick auf die Kantische Praktische Philosophie nahe. Der Kantischen (Praktischen) Philosophie liegt allerdings eine völlig andere Kluft zugrunde, in der sich der Mensch zeitlebens vorfindet. Diese Kluft besteht in der grundlegenden Unterscheidung zwischen Sinnenwelt und intelligibler Welt bzw. in der Tatsache, dass der Mensch einerseits der Sinnenwelt, andererseits aber auch der intelligiblen Welt zugehört.³⁶⁵ Auch bei Kant ist nun aber mit der Unterscheidung zwischen Sinnenwelt und intelligibler Welt bzw. mit der Erkenntnis derselben letzten Endes die entscheidende Grundlage dafür gegeben, dass der Religion, bei Kant in Form des reinen praktischen Vernunftglaubens, die Funktion eines „Beförderungsmittel[s] dessen, was objektiv (praktisch) notwendig ist,“ zukommen kann. In der Kritik der praktischen Vernunft finden sich dazu am Ende des VIII. Abschnitts des Zweiten Hauptstücks der Dialektik der reinen praktischen Vernunft, das die Überschrift „Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“ trägt, folgende Ausführungen: „Da nun die Beförderung desselben [i. e. des höchsten Guts, D.G.], und also die Voraussetzung seiner Möglichkeit, objektiv (aber nur der praktischen Vernunft zufolge) notwendig ist, zugleich aber die Art, auf welche Weise wir es uns als möglich denken wollen, in unserer Wahl steht, in welcher aber ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers entscheidet: so ist das Prinzip, was unser Urteil hierin bestimmt, zwar subjektiv, als Bedürfnis, aber auch zugleich als Beförderungsmittel dessen, was objektiv (praktisch) notwendig ist, der Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d.i. ein reiner praktischer Vernunftglaube. Dieser ist also nicht geboten, sondern, als freiwillige, zur moralischen (gebotenen) Absicht zuträgliche, überdem noch mit dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunft einstimmige Bestimmung unseres Urteils, jene Existenz anzunehmen und dem Vernunftgebrauch ferner zum Grunde zu legen, selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen; [dieser Glaube] kann also öfters selbst bei Wohlgesinnten bisweilen in Schwanken, niemals aber in Unglauben geraten.“³⁶⁶

Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass Kants reiner praktischer Vernunftglaube letztlich als eine Konsequenz dessen, „was objektiv (praktisch) notwendig ist“, verstanden werden kann. Mit dem objektiv bzw. praktisch Notwendigen aber

 Vgl. zu Kants grundlegender Unterscheidung zwischen Sinnenwelt und Verstandeswelt bzw. intelligibler Welt z. B. Kant: Grundlegung, S. 80 f. [Akademieausgabe Bd. IV, S. 451] und S. 88 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 457 f.] sowie KpV, S. 57 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 72).  KpV, S. 195 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 262 f.).

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ist auf die Beförderung des höchsten Gutes verwiesen.³⁶⁷ Grundlegend für Kants Verständnis des Höchsten Gutes ist dabei, dass es zwei „Bestimmungen“ gibt, die im Begriff desselben „notwendig verbunden[…]“ sind: Tugend bzw. Glückswürdigkeit einerseits und Glückseligkeit andererseits. So kann Kant das höchste Gut beispielsweise folgendermaßen bestimmen: „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit, glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer […] nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“ ³⁶⁸

In der näheren Untersuchung dieser Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit ergibt sich nun allerdings – nach Ausschluss der unzutreffenden analytischen sowie der unmöglichen synthetischen Erkenntnisart dieser Verbindung – eine Antinomie der praktischen Vernunft, die letztlich darin gründet, dass „keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt, durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze erwartet werden kann.“³⁶⁹ Die kritische Aufhebung dieser Antinomie wird erst durch die „Verknüpfung“ der „Sinnenwelt“ mit „einer intelligibelen Welt“ bzw. „Verstandeswelt“ möglich, wie folgender Passage aus dem Zweiten Hauptstück der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zu entnehmen ist: „Mit der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft ist es nun eben so bewandt. Der erste von den zwei Sätzen, daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch; der zweite aber, daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern nur, so fern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, und, mithin, wenn ich das Dasein in derselben für die einzige Art der Existenz des vernünftigen Wesens annehme, also nur bedingterweise falsch. Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmit-

 Vgl. dazu auch KpV, S. 195 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 262): „Das Gebot, das höchste Gut zu befördern, ist objektiv (in der praktischen), die Möglichkeit desselben überhaupt gleichfalls objektiv (in der theoretischen Vernunft, die nichts dawider hat) gegründet.“  Vgl. KpV, S. 149 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 199).  Vgl. KpV, S. 153 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 204 f.).

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telbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang, als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe […]. Also ist, unerachtet dieses scheinbaren Widerstreits einer praktischen Vernunft mit sich selbst, das höchste Gut, der notwendige höchste Zweck eines moralisch bestimmten Willens, ein wahres Objekt derselben; denn es ist praktisch möglich […]“.³⁷⁰

Anders gewendet: „[I]n dem moralischen Gesetze [ist] nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen, und daher von ihr abhängigen,Wesens, welches eben darum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein, und sie, was seine Glückseligkeit betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann. Gleichwohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d.i. der notwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang als notwendig postuliert: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postuliert.“

Durch die weitere Bestimmung dieser „oberste[n] Ursache der Natur“ als „eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität“ folgt schließlich: „Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d.i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“

Das aber heißt letzten Endes: „es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“, wenn diese „moralische Notwendigkeit“ auch lediglich „subjektiv, d.i. Bedürfnis, und nicht objektiv, d.i. selbst Pflicht sei; denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen […].“³⁷¹ Damit aber wären wir vom Gedankengang her wieder bei den oben zitierten Ausführungen zu Kants reinem praktischen Vernunftglauben angelangt.³⁷² Dass die angestrebte Verwirklichung des Höchsten Gutes auch bei Kant in den Bereich der Eschatologie führt, lässt sich beispielsweise anhand des Postulats der

 Vgl. KpV, S. 154 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 206 f.).  Vgl. KpV, S. 167– 169 [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 224– 226).  KpV, S. 195 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 262 f.).

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II. Predigtanalysen

Unsterblichkeit der Seele belegen. Dieses Postulat nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Bestimmung, dass „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts“ ist. Diese völlige Angemessenheit aber „ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.“ Da sie praktisch notwendig ist, „kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden […]“.³⁷³ Anhand dieses Nachvollzugs der Kantischen Konzeption eines reinen praktischen Vernunftglaubens und dessen grundlegender Bedingungen ergibt sich nun, dass Schleiermachers Gedanke der „Hülfe der Religion“ auch mit dieser, mithin nicht nur mit dem Eberhardschen Ansatz einer unterstützenden und verstärkenden Funktion der Religion in einem ontologisch konzipierten Gefüge der Handlungsmotivation, wesentliche Gemeinsamkeiten aufweist. Denn sowohl bei Kant als auch bei Schleiermacher gründet die Theorie der Sittlichkeit in einer menschlicherseits unüberbrückbaren Kluft, die in eschatologischer Perspektive letztlich erst mit Hilfe des Glaubens an ein höchstes Wesen oder einen obersten Urheber der Welt, der dem Menschen das „Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“ (Schleiermacher),³⁷⁴ zugänglich macht, bzw. für den dem höchsten Gut entsprechenden Ausgleich zwischen Sittlichkeit bzw. Glückswürdigkeit und Glückseligkeit sorgt (Kant),³⁷⁵ behoben werden kann. Der Religion bzw. dem reinen praktischen Vernunftglauben kommt damit die Funktion eines im Grunde in sittlicher oder praktischer Absicht nicht nur unterstützenden, sondern notwendigen Beförderungsmittels zu. Keine Gemeinsamkeit zu Schleiermachers Examenspredigt ist m. E. allerdings der folgenden Passage der Kantischen Darstellung der Lehre des Christentums zu entnehmen: „Diesem ungeachtet ist das christliche Prinzip der Moral selbst doch nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst, weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Gelangung zum höchsten Gute, unter der Bedingung der Befolgung derselben macht, und selbst die eigentliche Triebfeder zu Befolgung der ersteren nicht in den gewünschten Folgen derselben, sondern in der Vorstellung der Pflicht allein setzt, als in deren treuer Beobachtung die Würdigkeit des Erwerbs der letztern allein besteht.“³⁷⁶

 KpV, S. 164 [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 219 f.).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 42.  Vgl. KpV, S. 195 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 262 f.).  Vgl. KpV, S. 173 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 232).

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Im Gegensatz zu dieser Beschreibung gründet Schleiermachers Modell der menschlichen Besserung doch deutlich in christlich konnotierten Tugendbegriffen, „Vorschriften des Gesezes“ oder auch in dem Vergleichspunkt des sich durch das „ganze Beispiel Jesu, den hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“, sowie durch die „Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ ergebenden „Bild[es] aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, sowie dem aus der Vergleichung des eigenen Zustandes mit diesen Vorgaben hervorgehenden Fehler- oder Sündenbewusstsein.³⁷⁷ Insofern kann in Hinblick auf Schleiermacher jedenfalls nicht von einem „Prinzip der Moral“ gesprochen werden, dessen „eigentliche Triebfeder […] in der Vorstellung der Pflicht allein“ läge und einer Autonomie der reinen praktischen Vernunft gleichkäme. Durch das maßgebliche, wenn auch christlich definierte und damit von Eberhards Konzeption abweichende, „Bild aller Vollkommenheiten […]“ vorgegeben findet sich hier bei Schleiermacher vielmehr eine prinzipielle Nähe zur Eberhardschen praktischen Philosophie. Eine Gemeinsamkeit zwischen Kants und Schleiermachers Theorie der Sittlichkeit ist dann aber wieder in Hinblick auf die für beide konstitutive Bedeutung der moralischen Gesinnungen, der „Nothwendigkeit einer […] gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze“ (Schleiermacher)³⁷⁸ bzw. der freien Maximenwahl (Kant)³⁷⁹ im Zusammenhang mit der Funktion der Religion bzw. des reinen praktischen Vernunftglaubens im Gefüge der Handlungsmotivation festzustellen. Anhand des Blicks auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Eberhardschen Modell der in sittlicher Hinsicht unterstützenden und verstärkenden Funktion der Religion einerseits sowie des Blicks auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Kants reinem praktischen Vernunftglauben und dessen grundlegender Bedingungen andererseits konnte nun aber dargelegt werden, dass sich Schleiermachers Konzeption der Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation in seiner Examenspredigt zwischen der unterstützenden Funktion der Religion in Eberhards ontologischer Theorie der auf Vollkommenheit zielenden natürlichen Verbindlichkeit und dem Kantischen Modell des praktischen Vernunftglaubens, der zur Beförderung des höchsten Gutes einen weisen Welturheber voraussetzt, der eschatologisch für den gerechten Ausgleich zwischen Tugend und Glückseligkeit sorgt, bewegt und im Grund einer christlich definierten, vermittelnden Verbindung dieser beiden Ansätze miteinander entspricht.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 26 – 30.  Vgl. noch einmal z. B. KpV, S. 195 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 262 f.).

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II. Predigtanalysen

II.1.1.7.3 Cognitio hominis Ein weiterer Aspekt, der sich für eine Untersuchung der Bedeutung von Theologie und Philosophie bzw. für eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Größen in der vorliegenden Predigt eignet, ist mit dem für Schleiermachers Examenspredigt konstitutiven inhaltlichen Gesichtspunkt der menschlichen Selbsterkenntnis, im Grunde also mit dem einen der beiden Teilaspekte der der theologischen Tradition entstammenden Frage nach der cognitio Dei et hominis, gegeben. Bei Eberhard findet sich dieser Aspekt gleich zu Beginn des zweiten „Hauptstück[s]“ „[d]es zweyten Theils“ der Sittenlehre der Vernunft. Dieser zweite, materiale Teil der Eberhardschen Sittenlehre ist einer umfassenden Einteilung der menschlichen Pflichten gemäß in das „I. Hauptstück. Von den Pflichten gegen Gott, oder der Religion“, in das soeben erwähnte „II. Hauptstück. Von den Pflichten gegen sich selbst“ und schließlich in das „III. Hauptstück. Von den Pflichten gegen andere Menschen“ untergliedert.³⁸⁰ Eberhard entwickelt die materiale Sittenlehre also als Pflichtenlehre. Der erste Abschnitt der „Pflichten gegen sich selbst“ handelt nun ganz grundsätzlich „Von der Erkenntniß seiner selbst“,³⁸¹ deren Notwendigkeit wiederum in § 157 unter der Überschrift „Begriff“ ontologisch begründet wird: „Wenn ich verbunden bin, meine Vollkommenheit zu suchen, so muß ich auch wissen, was meine Vollkommenheit ist. Dieses kann ich nicht, wenn ich nicht den Bestimmungsgrund derselben kenne; das bin ich selbst, also muß ich mich selbst kennen. Auch muß ich mich als ein Werk Gottes kennen, zur Ehre Gottes und meinem Vergnüen [sic!].“³⁸²

Der dazu nötige Vorgang der „Selbstprüfung“ wird in § 158 beschrieben: „Wir müssen eine weitläuftige, wahre, klare und deutliche Selbsterkenntniß zu erlangen suchen. Zu dem Ende müssen wir uns oft prüfen, d. i. wir müssen zu gewissen Zeiten unser Gemüth von andern ungleichartigen Gedanken abziehen und auf das Nachdenken über unsern Zustand sammlen.“

Dass hierbei nichts anderes als der „moralische[…] Zustand[…]“ des Menschen im Blick ist, lässt sich anhand des unmittelbar folgenden Spektrums möglicher Zustände erkennen. Dieses Spektrum reicht vom „moralisch Wachende[n]“ über den „moralischen Schwindel“ bis hin zur „moralischen Berauschung“.³⁸³ Letzterer wird in § 158.1 die „sittliche Nüchternheit entgegengesetzt“ und in diesem Zusammenhang geht Eberhard nun auch kurz darauf ein, dass und inwiefern zu dem    

Eberhard: SdV, S. 141.185.225. Eberhard: SdV, S. 185. Eberhard: SdV, § 157, S. 185 f. Eberhard: SdV, § 158, S. 187.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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hierfür konstitutiven „sittlichen Erwachen und Nüchternwerden […] unangenehme Empfindungen die besten Mittel“ sind: „[D]iese erregen a) die Aufmerksamkeit, wegen ihrer Neuheit, b) machen sie Folgen der Handlungen anschauend und befördern das Nachdenken über dieselben, c) gemeiniglich sind sie mit der Unmöglichkeit verbunden, die Zerstreuungen der sinnlichen Vergnügen fortzusetzen. Bisweilen sind diese Mittel unangenehme Empfindungen Anderer, bisweilen unsere eigenen.“³⁸⁴

§ 159 ist dem „Ueberdenken des Lebens gewidmet“,³⁸⁵ § 160 sind schließlich noch einmal präzisierende Ausführungen zur „Beurtheilung seiner selbst“ zu entnehmen: „Durch die Erkenntniß unserer selbst erlangen wir die Erkenntniß unserer Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten; wir beurtheilen uns also selbst. Die Selbstbeurtheilung stellt uns entweder unsere gegenwärtigen, vergangenen oder künftigen Vollkommenheiten vor. […] Die Fertigkeit, seine Vollkommenheiten richtig zu beurtheilen, ist die richtige Selbstschätzung, seine Unvollkommenheiten richtig zu beurtheilen, die Demuth […].“³⁸⁶

Zum Aspekt der Demut wird dabei in den Abschnitten § 160.2 und § 160.3 erläutert: „2. Dieser Grund [i. e. der wahre Grund der Demut, D.G.] ist sowohl die Erkenntniß der Vollkommenheit, die wir noch nicht besitzen, und die wir also zu erlangen streben, als auch der größeren Vollkommenheit Anderer, die wir zu erwerben suchen werden, und die uns hindern wird Andere zu verachten. 3. Die wahre Demuth gründet sich also auf die richtige Selbsterkenntniß. – Die Selbsterkenntniß sowohl als Demuth macht uns daher eifrig in [sic!] Guten, gelehrig, dankbar gegen Unterricht und Zurechtweisung; und das ist die Ursach, warum die Weltweisen so sehr das Erkenne dich selbst, und die christlichen Sittenlehrer die Demuth, als Mittel der Vollkommenheit empfohlen.“³⁸⁷

Das von Schleiermacher neben der Selbsterkenntnis bzw. neben dem „Urtheil über“ den „eigenen Werth“ der Menschen³⁸⁸ als zweite der „wichtigsten Angele-

 Eberhard: SdV, § 158.1, S. 187 f.  Eberhard: SdV, § 159, S. 188.  Eberhard: SdV, § 160, S. 190.  Eberhard: SdV, § 160.2 und § 160.3, S. 191.  An dieser Stelle könnte, auch durch Schleiermachers Formulierung, eine gewisse Nähe zu Spalding zum Ausdruck kommen. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einer angemessenen Kanzelsprache bzw. einer der Predigttätigkeit adäquaten „Art[…] zu reden“ spricht

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II. Predigtanalysen

genheiten eines vernünftigen Geschöpfs“ genannte „Urtheil […] über ihr Verhältniß gegen Gott“,³⁸⁹ im Grunde also der Gesichtspunkt der cognitio Dei, findet sich bei Eberhard dann, wie oben schon erwähnt, unter den „Pflichten gegen Gott, oder der Religion“³⁹⁰ als Verbundenheit zur „Erkenntniß der Vollkommenheiten Gottes“ und der dieser Erkenntnis entsprechenden Willensbestimmung bzw. als Verbundenheit zu Ruhm und Verherrlichung Gottes, wieder.³⁹¹ Die fundamentale Bedeutung des Aspekts der Selbsterkenntnis für die Vervollkommnung des Menschen wird nun sowohl bei Eberhard als auch bei Schleiermacher schon durch die Position dieses Topos im jeweiligen Werk deutlich. Bei Eberhard beginnt immerhin der gesamte Bereich der Pflichten gegen sich selbst mit dem Thema der Selbsterkenntnis bzw. der Beurteilung seiner selbst, bei Schleiermacher durchzieht der Gesichtspunkt der rechten Selbsterkenntnis im Grunde die gesamte Predigt, bis diesem gegen Schluss des zweiten Hauptteils noch der Aspekt der rechten Beurteilung des menschlichen Verhältnisses gegenüber Gott zur Seite gestellt wird.³⁹² Für beide Ansätze lässt sich damit zunächst einmal in formaler Hinsicht eine gewisse fundierende Funktion der Selbsterkenntnis für das Ziel der Vervollkommnung des Menschen feststellen. Sodann fallen aber durchaus auch inhaltliche Gemeinsamkeiten beider Konzeptionen auf. So findet sich die bei Eberhard in § 158 erwähnte Notwendigkeit, „zu gewissen Zeiten unser Gemüth von andern ungleichartigen Gedanken ab[zu]ziehen und auf das Nachdenken über unsern Zustand [zu] sammlen“³⁹³ bei Schleiermacher andeutungsweise als „Stunde ernsthafter Betrachtung, welche doch immer einmal einbricht“, wieder.³⁹⁴ Die in § 158.1 formulierte Einsicht Eberhards, dass „[z]u dem sittlichen Erwachen und Nüchternwerden […] unangenehme Empfindungen die besten Mittel“ seien,³⁹⁵ scheint geradezu den Ausgangspunkt der Argumentation der Schleiermacherschen Predigt angeregt zu haben: „daß dies unangenehme Gefühl unsrer Unvollkommenheit der erste Schritt zur christlichen Vollkommen-

Spalding in der Vorrede seines Bandes „Neuer Predigten“ davon, dass es u. a. Predigtziel sei, „brauchbare Grundregeln unsers Urtheils über uns, unserer Entschliessungen und unsers Verhaltens“ aufzustellen (SpKA II/2, 7, 22– 26).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 7.  Eberhard: SdV, S. 141.  Eberhard: SdV, § 129, S. 142.  Erinnert sei an dieser Stelle an die Ergebnisse der Predigtanalyse.  Eberhard: SdV, § 158, S. 187.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 17– 21. Vgl. dazu auch den Einstieg in Schleiermachers philosophische Studie „Über den Wert des Lebens“ von 1792/93, der dem „gesammelte[n] Nachdenken über das ganze des Lebens“ gewidmet ist (Schleiermacher: WdL, S. 393 f.).  Eberhard: SdV, § 158.1, S. 187.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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heit“ sei.³⁹⁶ Weitere inhaltliche Anklänge lassen sich anhand von Eberhards Ausführungen zur rechten Beurteilung seiner selbst in § 160 ausfindig machen: Auch bei Schleiermacher geht es um eine richtige Einschätzung der eigenen Vollkommen- bzw. Unvollkommenheiten,³⁹⁷ der Blick auf die noch ausstehende Vollkommenheit bewirkt die rechte Selbstbeurteilung des Menschen, die wiederum das weitere Streben nach der noch ausstehenden Vollkommenheit motiviert,³⁹⁸ und im Gebet am Ende seiner Predigt begegnet der bei Eberhard recht ausführlich thematisierte Aspekt der Demut nun auch bei Schleiermacher zur Charakterisierung der rechten Selbsterkenntnis: in der Rede von der „demüthigern Gemüthsverfassung“, „wobei wir allein die Früchte der Sendung Deines Sohnes zu unserer Besserung vollkommen genießen können“.³⁹⁹ Im Gegensatz zu Eberhard stellt Schleiermacher den Aspekt der Selbsterkenntnis in seiner Examenspredigt nun aber von Anfang an in den Kontext der traditionell theologischen, insbesondere für die reformatorische Theologie fundamentalen, weil dort ganz grundsätzlich den Gegenstand der Theologie bezeichnenden,⁴⁰⁰ Figur der cognitio Dei et hominis.⁴⁰¹ Dies geschieht freilich in der

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 24– 29. Schleiermacher macht damit einen Aspekt zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, dem Spalding, im Kontext mit der Problematisierung der Thematisierung der Erbsündenlehre in Predigten, als Predigtgegenstand eher zurückhaltend gegenüber stand. In seiner Schrift „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ beispielsweise äußert sich Spalding zu der Ansicht, dass „[d]ie Erkenntniß des natürlichen Verderbens […] die Demüthigung wirken [soll], ohne welche keine wahre Umkehrung zu Gott, kein Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von seiner Gnade, keine gründliche Besserung des Herzens möglich ist“, dahingehend, dass er die „Nothwendigkeit einer solchen Demüthigung“ zwar anerkennt, im gleichen Atemzug aber auf die in diesem Zusammenhang notwendige Unterscheidung zwischen „Demüthigung wegen Schuld, und Demüthigung wegen unverschuldeter Unvollkommenheit“ verweist. Die Letztere hält Spalding für in sittlicher Hinsicht irrelevant und von daher als Predigtgegenstand ungeeignet (vgl. SpKA I/3, S. 193 f.).  Vgl. z. B. den Hinweis auf den „trägen Menschen“, der „sich immer an den geringen Vollkomenheiten zu ergözen weiß, welche er schon zu besizen glaubt“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 10 – 15) oder die Rede von der „eingebildete[n] Vollkommenheit“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 14– 17).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3. Bei Eberhard findet sich dieser Sachverhalt z. B. in den Erläuterungen zur Demut in § 160.2 (Eberhard: SdV, § 160.2, S. 191).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 23 – 26.  Erinnert sei nur an Luthers grundlegende Formulierung in der Enarratio zu Psalm 51 von 1532: „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator.“ (WA 40, 2; 327, 11– 328, 2).  Vgl. Gerhard Ebeling: Cognitio Dei et hominis, in: ders.: Lutherstudien Bd. 1,Tübingen 1971, S. 221– 272. Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), in: ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte

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II. Predigtanalysen

von ihm gewählten Fassung des „Urtheil[s]“ der Menschen „über ihren eigenen Werth und über ihr Verhältniß gegen Gott“.⁴⁰² Hinsichtlich der Reihenfolge der beiden Pole dieses zwiefältigen Urteils bzw. dieser doppelten Erkenntnis fällt dabei zunächst einmal auf, dass Schleiermachers Anordnung nicht dem traditionellen „ordo recte docendi“ entspricht, demzufolge zuerst die cognitio Dei und von daher dann die cognitio hominis zu entfalten wäre. Dieser ordo bleibt beispielsweise Calvins Institutio, auch bei späterer Ausdifferenzierung, durchgehend als maßgebliches Anordnungsschema zugrunde gelegt.⁴⁰³ Schleiermachers Reihenfolge dagegen erinnert an den bei Luther anzutreffenden „ordo rei“, der auf der „Sachordnung“ der Rechtfertigungslehre basiert: „Die Rechtfertigung setzt den Sünder, das wahre Leben den Tod voraus.“⁴⁰⁴ Wesentliche Grundlage dieses ordo, der die cognitio hominis der cognitio Dei vorordnet, ist dabei die den drei Reformatoren Zwingli, Calvin und Luther gemeinsame Einsicht, dass die cognitio hominis ganz grundsätzlich als cognitio peccati zu begreifen ist.⁴⁰⁵ Eine Anknüpfung an diese grundsätzliche Einsicht lässt sich nun in der Tat auch in Schleiermachers Examenspredigt ausmachen. So reflektiert er beispielsweise darauf, dass zwar nicht „[d]ie Sünde an und für sich […], wol aber das lebhafte Bewußtseyn, das traurige Gefühl derselben“ uns „geschikter zum Reich Gottes mache[…]“. Im Folgenden wird dann deutlich, dass Schleiermacher dieses Sündenbewusstsein mit dem „lebhafte[n] Bewußtseyn unsrer Fehler“ identifiziert.⁴⁰⁶ Das Bewusstsein unserer Fehler oder unserer Mangelhaftigkeit und damit das Gefühl oder Bewusstsein unserer eigenen Unvollkommenheit kann Schleierma-

des Protestantismus, Tübingen 2007, S. 284 f., Anm. 126, weist darauf hin, dass die „Tradition, den Inbegriff der christlichen Lehre als cognitio dei et hominis zu bestimmen“, auch in Spaldings Neuen Predigten begegnet. Literaturhinweise zur Vorgeschichte der Figur in Antike und Mittelalter sowie zur Verwendung derselben in der reformatorischen Theologie finden sich bei Albrecht Beutel: Gespiegelte Wirklichkeit. Religion, Konfession und kirchliches Amt in Grimmelshausens „Simplicissimus“, in: ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, S. 149 f., Anm. 55.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 7.  Vgl. Ebeling: Cognitio, S. 245 – 255. Calvins Institutio handelt im Ersten Buch „Von der Erkenntnis Gottes als des Schöpfers“, im Zweiten Buch „Von der Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christo“. Das Dritte Buch der Institutio trägt schließlich die Überschrift „Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben“, das Vierte Buch handelt „Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält“ (vgl. Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe übersetzt u. bearb. v. Otto Weber, Neukirchen 1955 [Calvin: Institutio], S. V – XXXVI).  Vgl. Ebeling: Cognitio, S. 261 f.  Ebeling: Cognitio, S. 263.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 2– 8, 3.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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cher also bereits hier durchaus auch als Sündenbewusstsein des Menschen fassen. Von daher erhellt dann auch, dass Schleiermacher die durch dieses Gefühl oder Bewusstsein ausgelöste Sinnesänderung als „Buße“ verstehen⁴⁰⁷ und, den Kontext der Sündenvergebung aufnehmend, vom „Mitleiden Gottes“ mit den menschlichen Fehlern sprechen kann.⁴⁰⁸ Die bei Schleiermacher zugrunde gelegte Selbsterkenntnis des Menschen gibt sich damit also einerseits als letztlich durchgängig auf das Verhältnis des Menschen zu Gott hin reflektierte zu erkennen. Dass diese cognitio hominis nun allerdings andererseits zugleich auch ganz grundsätzlich als „von Gott her eröffnete Erkenntnis“ zu verstehen sei, für die drei Reformatoren Zwingli, Calvin und Luther ebenfalls eine Selbstverständlichkeit,⁴⁰⁹ kommt bei Schleiermacher so nicht zum Ausdruck.⁴¹⁰ Schleiermacher setzt in seiner Examenspredigt vielmehr eine religionsunabhängige, natürliche bzw. allen Menschen offenstehende Möglichkeit des Zugangs zur rechten Selbsterkenntnis voraus. Zu entnehmen ist das der Formulierung, mit der der Abschnitt über das Verhältnis des Menschen gegenüber Gott bzw. über die „Hülfe der Religion“ dem Gefühl oder dem Bewusstsein der eigenen Fehler zur Seite gestellt wird: „Wenn aber dies Gefühl [i.e. „das lebhafte Bewußtseyn unsrer noch übrigen Fehler“] ein so wesentliches Stük ist, welches zu unserer wahren sittlichen Beßerung überhaupt gehört, so ist es noch in besonderer Rüksicht nothwendig für den, welcher einsieht, daß diese Besserung bei ihm allein durch Hülfe der Religion, und vermittelst der Empfindungen, welche sie einflößt, bewerkstelligt werden kann. Denn diese Empfindungen entspringen aus der Erkentniß unsrer Verhältniße gegen Gott und den Stifter der Religion, und beide stehn in Absicht auf ihre Stärke und Richtigkeit im genausten Verhältniß mit der Lebhaftigkeit jenes Gefühls.“⁴¹¹

Das Gefühl bzw. Bewusstsein unserer noch übrigen Fehler kommt also zunächst einmal auch ohne Beteiligung der Religion zustande. Die Religion übernimmt in diesem Kontext, wie bereits erwähnt, lediglich „für den, welcher einsieht“, dass er zu seiner Besserung in entscheidender Weise auf die Hilfe der Religion angewiesen ist, eine unterstützende und verstärkende Funktion.⁴¹² In dieses Bild passt dann auch die Beobachtung, dass dem der cognitio Dei gewidmeten Abschnitt der  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 11– 34.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 28 – 32.  Vgl. Ebeling: Cognitio, S. 263.  Einen Hinweis darauf könnte man allerdings darin sehen, dass bei Schleiermacher neben den Vorschriften der wahren Tugend auch die Vorschriften der wahren Religion, das mosaische Gesetz sowie das Beispiel Jesu und seine Vorschriften eine Rolle bei der Selbstbeurteilung spielen und zur rechten Selbsterkenntnis zu führen vermögen (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 12– 8, 3).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 33 – 43.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 10, 32.

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II. Predigtanalysen

Predigt gegenüber der zuvor behandelten cognitio hominis ein deutlich geringerer Raum und von daher dann doch auch Stellenwert zukommt. Der in wesentlichen formalen wie inhaltlichen Aspekten, wie z. B. der grundsätzlichen Möglichkeit der natürlichen Selbsterkenntnis, also durchaus mit Eberhard übereinstimmenden Konzeption steht nun bei Schleiermacher allerdings noch einmal eine dezidierte Abweichung im Bereich der cognitio Dei zur Seite. Denn während Eberhard beispielsweise ohne Scheu von der Verbindlichkeit zur Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes sprechen kann,⁴¹³ thematisiert Schleiermacher die cognitio Dei lediglich unter der Gestalt der Verhältnisbestimmung. Nicht um die Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes geht es ihm, sondern um die Einsicht in das grundlegende Verhältnis des Menschen coram Deo. Das aber führt letztlich auf die grundsätzliche Angewiesenheit und Dankbarkeit dem höchsten Wesen gegenüber sowie auf das dieser zugrunde liegende Fehler- oder Sündenbewusstsein des Menschen.⁴¹⁴ Damit aber erweisen sich sowohl rechte Selbsterkenntnis als auch die angemessene Beurteilung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch bei Schleiermacher letzten Endes als auf menschliche Unvollkommenheit und menschliches Sündenbewusstsein gegründet. Dies wiederum bringt die letztlich spezifisch theologisch bzw. christlich-religiös ausgerichtete Argumentation Schleiermachers hinsichtlich der cognitio hominis (et Dei) trotz aller Übereinstimmungen mit der Eberhardschen Konzeption noch einmal unübersehbar zum Ausdruck.

II.1.1.7.4 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung Der der Schleiermacherschen Examenspredigt durch die Beurteilung des Spruchkollegiums attestierte Tadel, sie sei „mehr eine philosophische Abhandlung als eine populäre Volksrede“ gewesen,⁴¹⁵ scheint im Anschluss an die detaillierte Analyse und Interpretation dieser Predigt nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein. Allein angesichts der beiden Aspekte des Strebens nach Vollkommenheit und der cognitio hominis konnte festgestellt werden, dass der Philosophie in dieser Predigt sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht eine wesentliche und fundamentale Bedeutung zukommt. Dass die Theologie deshalb in der vorliegenden Predigt nur eine marginale Rolle spielen sollte, lässt sich allerdings nicht behaupten. Bei der Untersuchung der drei Aspekte des

 Vgl. Eberhard: SdV, § 129, S. 142.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 7– 32.  Vgl. Meisner: Lehrjahre, S. 47 f.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Strebens nach Vollkommenheit, der Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation und der cognitio hominis kam vielmehr zum Vorschein, dass die Durchführung aller dieser Aspekte in wesentlichen Punkten eine christlichtheologische bzw. christlich-religiöse Prägung aufweist. So ist die in der Predigt vor Augen gestellte sittliche Vollkommenheit im Grunde durchgängig christlich qualifiziert,⁴¹⁶ die Funktion der Religion sowohl gegenüber der Eberhardschen als auch der Kantischen Praktischen Philosophie durch ihre dezidiert christliche Ausprägung profiliert,⁴¹⁷ die cognitio hominis schießlich wird von Anfang an in den Kontext der cognitio Dei gestellt⁴¹⁸ und durch die Identifikation ihres wesentlichen Inhaltes, des Bewusstseins der eigenen Unvollkommenheit bzw. „unsrer Fehler“ mit dem Sündenbewusstsein⁴¹⁹ nicht nur marginal, sondern ganz grundsätzlich christlich-theologisch qualifiziert. Weitere theologische Gewichtungen stellen die sich durch die dezidierte Entwicklung des Predigtthemas aus dem vorgegebenen Predigttext ergebende Textbindung der gesamten Predigt sowie das die Predigt abschließende Gebet dar. Soll deshalb nun im Anschluss an diese Beobachtungen eine Verhältnisbestimmung der beiden Größen der Theologie und der Philosophie für Schleiermachers Examenspredigt vorgenommen werden, so wird es sich im Grunde als unmöglich erweisen, Bedeutung und Funktion beider für die vorliegende Predigt sozusagen miteinander zu „verrechnen“. Es ergibt sich vielmehr die Beobachtung, dass beiden hier sowohl inhaltlich als auch formal eine wesentliche und fundamentale Bedeutung zukommt. Indem theologische und philosophische Perspektive sozusagen ineinander greifen und sich miteinander verbinden, wird man im Grunde zu dem Schluss kommen müssen, dass Schleiermacher in seiner Examenspredigt zwischen theologischen und philosophischen Inhalten und Formen, zwischen Theologie und Philosophie vermittelt.

 Vgl. z. B. die explizite Rede von der „christlichen Vollkommenheit“ und von dem „Einfluß der Lehre Jesu“ in Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 26 – 29; das neben den „Geboten unsrer eignen […] Vernunft“ durch „das ganze Beispiel Jesu“ und „den hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“, geprägte „Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“ (a. a.O., 7, 37– 8, 3); die Explikation des Bewusstseins der eigenen Unvollkommenheit durch das „Bedürfniß nach einem Arzt wie Jesus für [die] kranke Seele ist“ (a. a.O., 8, 25 – 27); die Orientierung der Sinnesänderung an den Vorgaben der von Christus intendierten Buße bzw. „ganze[n] Aenderung unsrer Grundsäze und Gesinnungen“ (a. a.O., 9, 7– 34) bis hin zur christologischen Verankerung der Konsequenzen „jener demüthigern Gemüthsverfassung“ in dem die Predigt abschließenden Gebet (a. a.O., 11, 23 – 31).  Hinzuweisen ist in diesem Kontext insbesondere auf Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 8, 3 und Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 10, 32.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 3, 1– 7.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 7– 8, 3.

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II. Predigtanalysen

Die Figur der Vermittlung aber dürfte sich darüber hinaus nicht nur für die gerade bearbeitete Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Philosophie als angemessen erweisen, sondern sich auch sozusagen eine Ebene tiefer oder fundamentaler, um den folgenden Diskussionsgegenstand nicht als minder bedeutend erscheinen zu lassen, bewähren, wenn die in der vorliegenden Predigt aufgenommenen philosophischen Traditionen selbst, wie der Befund der bisherigen Untersuchung nahe legt, nun noch einmal genauer in den Blick genommen werden sollen. Zu beobachten ist in diesem Zusammenhang, wie bereits dargelegt, zunächst einmal eine große Nähe der Schleiermacherschen Examenspredigt zur Sittenlehre Johann August Eberhards. Genannt sei an dieser Stelle nur noch einmal das Stichwort des Strebens nach Vollkommenheit oder auch die grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Tugend und Glückseligkeit, die in Schleiermachers Examenspredigt vorausgesetzt sein dürfte.⁴²⁰ Auch an diesem Punkt dürfte damit eine grundsätzliche Abhängigkeit Schleiermachers von der Praktischen Philosophie Eberhards⁴²¹ zugrunde liegen.⁴²² In dieses Bild passen dann auch die kleineren Anlehnungen an Leibnizsche Topoi,⁴²³ die die Kenntnis und den Umgang

 Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 21– 24, auch wenn der Terminus der „Glückseligkeit“ hier nicht explizit verwendet wird.  Vgl. Eberhard: SdV, § 3, S. 3 und § 15, S. 17 f.  Nebenbei bemerkt sei, dass diese Zusammengehörigkeit auch in Spaldings Bestimmung des Menschen ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird. Zu vergleichen sind dazu z. B. folgende Formulierungen: „In der ganzen Natur führet mich alles darauf, daß Rechtschaffenheit und Glückseligkeit zusammen gehöret“ (SpKA I/1, 173, 2– 4); oder auch ganz pointiert am Schluss des Werkes: „Ich will also mein ganzes Gemüth immer mehr mit der trostvollen […] Vorstellung erfüllen, daß ich noch in einem andern Zustande zu leben habe […], und also das große Ziel – desto mehr erreichen werde, dazu […] ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet […] bin, nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn.“ (SpKA I/1, 193, 12– 25).  Vgl. die Bezugnahme auf das malum morale in Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 2– 10 oder die mit der Diskussion um die „Sünde an und für sich“ bzw. das „Bewußtseyn […] derselben“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 7– 12) aufgenommene Thematik. Schleiermacher dürfte sich hier gegen die im Anschluss an Leibniz vertretene These verwehren, „daß die Sünde an sich zur grössern Volkommenheit [sic!] der Welt nüzlich sey“. Johann Gottlieb Töllner referiert und widerlegt diese These in seinem Aufsatz „Die Lehre von der besten Welt“ (vgl. Johann Gottlieb Töllner: Die Lehre von der besten Welt, in: ders.: Kurze vermischte Aufsätze, Bd. 1, Frankfurt a. d. Oder 1767, S. 154– 192) mit folgender Argumentation: „Nicht durch das Böse an sich, sondern durch die göttliche Zulassung des Bösen erhält die Welt eine grössere Volkommenheit.“ Zugrunde liegt die Überlegung, dass die Zulassung des Bösen „auch vieles und grösseres Gute zugleich“ in der Welt hervorbringt (a. a.O., S. 183 f.). Schleiermacher, der Töllners vermischte Aufsätze kannte (vgl. seinen Brief vom 3. Februar 1790 an Brinckmann, Brief 134, 59 – 95, in: KGA V/1, S. 191 f.), schließt sich dieser Überlegung allerdings nicht an, sondern argumentiert mit einer bewusstseinstheo-

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mit der Halleschen Schulphilosophie erkennen lassen. Nicht von der Hand zu weisen sind nun m. E. aber auch die Einflüsse der Kantischen Praktischen Philosophie auf Schleiermachers Examenspredigt. Denn die hier zutage tretende Bedeutung der „Gesinnung“ bzw. der „Gesinnungen“ im Gefüge der Handlungsmotivation lässt sich im Grunde nur auf eine Art der Verbindung von Eberhardscher und Kantischer Praktischer Philosophie zurückführen und von daher erklären. Zu erkennen wären demnach im Zusammenhang mit der Handlungsmotivation zunächst einmal wesentliche Aspekte der der Eberhardschen Sittenlehre zugrunde liegenden Psychologie: in Verbindung mit dem vom Verstand geleiteten Erkennen entsteht ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl, ein Gefühl der Lust oder der Unlust in Bezug auf die möglichen menschlichen Handlungen und wirkt sich entsprechend auf Willen und Begehrungsvermögen bzw. auf die Handlungsmotivation des Menschen aus.⁴²⁴ Für Schleiermacher sind nun allerdings nicht nur Erkennen und Gefühl für die Bestimmung des menschlichen Willens bzw. Begehrungsvermögens und somit für die Handlungsmotivation verantwortlich, sondern ganz wesentlich auch die zugrunde liegenden Gesinnungen des Menschen.⁴²⁵ In den Blick kommt damit die Notwendigkeit, die

retischen Wendung des Sachverhalts. Zu diesen Beobachtungen ließe sich über den unmittelbaren Kontext der vorliegenden Predigt hinausgehend, die Nähe zu Leibniz betreffend, ergänzen, dass Trillhaas im Zusammenhang mit der für Schleiermachers homiletische Konzeption grundlegend auszumachenden „Analogie des Wortes mit dem natürlichen Leben“ den vergleichenden Hinweis auf „die praestabilierte Harmonie von Natur und Evangelium“, die in diesem Kontext in Schleiermachers Predigten letztlich „überall“ anzutreffen sei, verwendet (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 197).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 2– 29 und Eberhard: SdV, § 34, S. 34 f. Eine vergleichbare Beurteilung des Sachverhalts, allerdings im Kontext der Untersuchung des Einflusses der Kantischen Philosophie auf die Schleiermachersche Theorie des Erkennens, findet sich bei Herms: Herkunft, S. 96: „So ersetzte die Kantisch-Reinholdsche Psychologie keineswegs die Hallesche, sondern brachte nur Modifikationen innerhalb ihres Rahmens. Ihre Annahme einer Grundkraft der Seele als Streben nach Vorstellungen, welche die parallelen Vermögen des Erkennens und Begehrens hervorbringt, blieb erhalten […]; ebenso die Motivation des letzteren durch Einsichten des ersteren vermöge des Gefühls“. Vgl. auch a. a.O., S. 107, insbesondere Anm. 63.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 26 – 30: „[…] sie konnten leichter den genauen Zusammenhang zwischen Verdorbenheit der Gesinnungen und äußern Schandthaten finden, leichter […] die Nothwendigkeit einer solchen gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze einsehn, welche Jesus forderte.“ Herms: Herkunft, S. 113 verzeichnet diesen Aspekt für Schleiermachers frühe Theorie der Sittlichkeit, mit Verweis auf Schleiermachers Examenspredigt, im Grunde ebenfalls, wenn er davon spricht, „daß Schleiermacher die Sittlichkeit nicht so sehr im Blick auf die Handlungen als vielmehr im Blick auf die Einstellung des Willens, die Haltung des Herzens, d. h. eben als ‚Tugend‘ faßte“. M.E. muss diese Beobachtung schon dezidiert als Anlehnung an Kants Praktische Philosophie interpretiert werden.

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eigene „Denkungsart“, die eigenen „Grundsäze“ oder eben „Gesinnungen“ gemäß dem „Ziel“ des „Bild[es] aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“, bzw. gemäß der „wahre[n] Tugend“ und der „wahre[n] Religion“⁴²⁶ oder auch den „richtigen Begriffen von Tugend und Religion […] gemäß“⁴²⁷ zu bestimmen: durch eine „ganze Aenderung“ von Grundsätzen oder Gesinnungen bzw. durch die lebenslange Buße.⁴²⁸ In das Gefüge von vernunftgeleitetem Erkennen und entsprechendem Gefühl wird auf diese Weise die Bedeutung der Gesinnung bzw. Gesinnungen aufgenommen, die nun aber wesentlich in der Verantwortung,⁴²⁹ damit dann aber letztlich auch in der Freiheit des Menschen steht bzw. stehen.⁴³⁰ Die Sittlichkeit einer Handlung entscheidet sich für Schleiermacher daher dann, wie auch für Kant, ganz maßgeblich an den „Beweggründen“ bzw. an der Denkungsart oder Gesinnung, aus denen diese Handlung hervorgeht.⁴³¹ Andererseits ist allerdings mit Herms wiederum festzustellen, dass die der Schleiermacherschen Examenspredigt zugrunde liegende Konzeption des Sittengesetzes nicht wie bei Kant rein formal gefasst und „mit dem des Vernunftgebotes identisch“ gesetzt ist.⁴³² Schleiermacher verbindet in diesem Zusammenhang die Gebote der Vernunft vielmehr nicht nur mit den Vorgaben der „ein[em] menschliche[n] Wesen“ empfänglichen Vollkommenheiten, wie es der Halleschen Tradition aufgrund der hier implizit vorliegenden Argumentation mit dem Wesen der menschlichen Natur in etwa entsprechen würde, sieht man einmal von dem hier zum Ausdruck kommenden Spezifikum ab, dass die diesem Wesen entsprechenden Vollkommenheiten nicht sozusagen vorgängig ontologisch begründet, sondern durch die Formulierung „empfänglich“ als auf dem Menschen selbst zunächst einmal externe Vorgänge angewiesen gekennzeichnet werden. Schleiermacher verbindet die Gebote der Vernunft hier also nicht nur mit den Vorgaben der „ein[em] menschliche[n] Wesen“ empfänglichen Vollkommenhei-

 Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 26 – 42 und 6, 17– 25.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 21– 23.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 19 – 8, 3; 9, 14– 34.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 14– 23: „Ich bin kommen zu rufen den Sündern zur Buße und nicht den gerechten. Es versteht sich wol von selbst, daß wenn Christus diese Menschen nicht zur Buße rufen konnte die Schuld davon nicht an seinem guten Willen, sondern an ihnen selbst lag, […] so liegt in diesen Worten ein noch immer gültiges Kennzeichen, wie derjenige beschaffen seyn müße, bei dem […] wahre Beßerung und Sinnesänderung möglich seyn soll.“  Zu vergleichen wäre hier für Kant z. B. noch einmal die Rede von den „freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze[n]“ in KpV, S. 135 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 179).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 37– 44.  Herms: Herkunft, S. 103 f.

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ten, sondern darüber hinaus auch noch mit den Vorgaben der Begriffe der wahren Tugend und der wahren Religion, in christlicher Adaption dann mit dem Beispiel Jesu und seinen Vorschriften, und entwickelt so seine Form eines auch material konstituierten Sittengesetzes.⁴³³ Die Interpretation der Schleiermacherschen Examenspredigt bestätigt damit, was Eilert Herms, Günter Meckenstock und Peter Grove für die frühen philosophischen Schriften Schleiermachers bzw. für Schleiermachers frühe literarische Werke hinsichtlich deren Verhältnis zur Eberhardschen bzw. Kantischen Praktischen Philosophie zunächst einmal von ihrem jeweiligen Standpunkt aus formulieren: Herms spricht von einer „intensiven Erörterung der zwischen beiden Theorien der Sittlichkeit schwebenden Fragen“,⁴³⁴ Meckenstock konstatiert den Zielpunkt einer „Vereinigung Eberhardscher und Kantischer Anliegen“,⁴³⁵ Grove schließlich vertritt die grundsätzliche These, „[d]ass es in Schleiermachers frühesten Arbeiten um bewußte Vermittlung von Schulphilosophie und Kantianismus geht“.⁴³⁶ Schleiermachers Examenspredigt lässt in der Tat beides deutlich werden: eine grundsätzliche Abhängigkeit von der Eberhardschen Sittenlehre ebenso wie die nicht zu übersehende Beeinflussung durch Kants Praktische Philosophie. Eine Vorordnung der Bedeutung der einen vor die der anderen ist dabei nun allerdings ebensowenig festzustellen wie eine grundsätzliche Ablösung der einen durch die andere. Zu beobachten ist vielmehr, dass wesentliche Aspekte beider praktisch-philosophischer Ansätze aufgenommen und für den Argumentationsgang der Predigt miteinder verbunden werden.Von daher liegt hier m. E. in der Tat der anfängliche Versuch einer Vermittlung zwischen den beiden unterschiedlichen Theorien der Sittlichkeit vor, wodurch dann für und durch die Schleiermachersche Examenspredigt letztlich insbesondere die Verhältnisbestimmung Meckenstocks und Groves als zutreffend bestätigt wäre. Nimmt man nun im Anschluss daran auch noch das Verhältnis der Schleiermacherschen Examenspredigt zur theologischen Tradition näher in den Blick, so fällt zunächst einmal die nicht von der Hand zu weisende Nähe zu Spalding auf.  Vgl. dazu die entscheidende Passage aus Schleiermachers Examenspredigt: „Wir haben das ganze Beispiel Jesu, den hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen vor Augen, und in diesen und den Geboten unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft, erbliken wir deutlich das Ziel dem wir uns bis in Ewigkeit nähern sollen, das erhabene Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist.“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 35 – 42).  Herms: Herkunft, S. 98.  Günter Meckenstock spricht im Zusammenhang mit „Schleiermachers Freiheitskonzeption in seinem ‚Freiheitsgespräch‘“ von einer „markante[n] Vermittlungsleistung“. Schleiermacher „ziel[e] auf eine Vereinigung Eberhardscher und Kantischer Anliegen“ (Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 50).  Grove: Deutungen, S. 52.

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Erinnert sei nur an die Aufnahme des Topos der „Sinnesänderung und Heiligung“ durch die Kombination der „Besserung und Sinnesänderung“.⁴³⁷ Einen exemplarischen Ausdruck findet diese geistige bzw. geistliche Verwandtschaft, neben für den Gedankengang weniger wesentlichen Anklängen,⁴³⁸ in einer Formulierung Schleiermachers, die im Grunde mit Spaldings Frage nach der Bestimmung des Menschen korreliert. So bittet Schleiermacher im abschließenden Gebet seiner Examenspredigt: „Hilf uns! daß wir in der richtigen Kenntniß deßen, was wir seyn sollten und was wir sind immer zunehmen“.⁴³⁹ Die entsprechenden Formulierungen in Spaldings „Bestimmung des Menschen“ lauten z. B.: „Ich thue das, was ich thun soll; ich bin das, was ich seyn soll.“⁴⁴⁰ Oder auch: „Es ist doch einmal der Mühe werth, zu wissen, warum […] ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll?“⁴⁴¹ Sie entsprechen letztlich der von Spalding ganz grundlegend der gesamten Schrift vorangestellten, von Persius übernommenen Leitfrage: „Quid sumus? Et quidnam victuri gignimur?“⁴⁴² Eine Anlehnung Schleiermachers an bzw. die Abhängigkeit Schleiermachers von Spalding ist hier also mit Händen zu greifen. Es überrascht deshalb im Grunde, dass bei Schleiermacher nicht auch,wie bei Spalding, auf eine klar formulierte ontologische Begründung dieser Bestimmung des Menschen zurückgegriffen wird.⁴⁴³ Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Schleiermacher damit auf die Vorwürfe reagiert bzw. den Vor Die Analogie zwischen dieser Formulierung Spaldings und Schleiermachers „Besserung und Sinnesänderung“ könnte die Schleiermachersche „Sinnesänderung“ im Kontext der Rechtfertigungslehre erscheinen lassen. Inhaltlich muss allerdings festgestellt werden, dass sich die „Sinnesänderung“ in Schleiermachers Examenspredigt auf den rein sittlichen Kontext beschränkt und in theologischer Hinsicht von daher eher dem Gesichtspunkt der Heiligung zuzuordnen ist.  Deutlich z. B. auch beim Vergleich von Spaldings Grenzziehung „[s]o lange der Mensch nicht bis zu einer gänzlichen Unempfindlichkeit verwildert ist, und darin gleichsam seine Natur selbst verläugnet hat“ (SpKA I/1, 253, 13 – 15) mit der Formulierung der Schleiermacherschen Examenspredigt: „bei diesen erwachte dafür auch desto leichter, wenn sie noch nicht ganz unter die Menschheit hinabgesunken waren, die leisere Stimme des innern Gefühls […]“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 24– 26).  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 26 – 28.  SpKA I/1, 127, 1 f.  SpKA I/1, 45, 2– 4.  SpKA I/1, 43, 2 f.  Vgl. zur ontologischen Begründung bei Spalding z. B. die Aussage: „[…] daß die reine Empfindung dessen, was sich schickt, meine eigentliche höchste Verbindlichkeit ausmache; und daß ich also überhaupt in einem jeden Augenblicke meines Lebens das seyn möge, wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestimmen“ (SpKA I/1, 113, 3 – 8), die Rede vom „große[n] Ziel […], dazu […] ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet […] bin“, am Schluss der Schrift (SpKA I/1, 193, 21– 23) oder auch die Passage in der Zugabe „Das glückliche Alter“, die in eschatologischer Perspektive von der „Zukunft“ spricht, die „die Anlagen unserer vernünftigen Natur zur Vollkommenheit bringet“ (SpKA I/1, 265, 19 – 23).

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würfen auszuweichen sucht, denen Spalding aufgrund seiner auf der Basis von natürlicher Theologie und Ontologie verbleibenden Bestimmung des Menschen ausgesetzt war. Spalding selbst referiert das diesen Vorwürfen zugrunde liegende Missverständnis bzw. den Missbrauch seiner Überlegungen im Anhang zu seiner Schrift ab der dritten Auflage folgendermaßen: „Die Natur heißt es bey ihnen, zeiget dem Menschen seinen Zweck und die Wege dahin; die Natur führet uns auf eine allgemeine und sichere Richtschnur des Lebens […]; folglich hat man nichts von einer Offenbarung zu halten.“⁴⁴⁴ Gegen eine solche Missinterpretation seiner Darlegungen verwehrt sich Spalding ausdrücklich. Eine Möglichkeit wäre nun also, dass Schleiermacher mit dem Verzicht auf eine ontologische Argumentation sozusagen aus taktischen Gründen, erinnert sei nur an die politische Brisanz solcher Vorwürfe angesichts des Wöllnerschen Religionsedikts, entsprechenden Konfrontationen von Anfang an aus dem Weg gehen wollte. Andererseits aber ist aufgrund der Ergebnisse der detaillierten Untersuchung der Schleiermacherschen Examenspredigt festzustellen, dass Schleiermacher das Bild der Vollkommenheiten, das in seiner Predigt Bestimmung und Ziel des menschlichen Lebens vorgibt, wie oben schon dargelegt wurde, tatsächlich inhaltlich anders begründet, indem er es maßgeblich an den Begriffen der wahren Tugend und der wahren Religion und in christlicher Adaption dann am Beispiel Jesu und seinen Vorschriften orientiert.⁴⁴⁵ Auf diese Weise trägt Schleiermacher christologische Gesichtspunkte in seine Vollkommenheitskonzeption ein, das „Bild aller Vollkommenheiten, deren ein menschliches Wesen empfänglich ist“,⁴⁴⁶ trägt Züge einer auf die Lehre und Vorschriften Jesu wertlegenden Vorbild-Christologie, während Spaldings Konzeption in der „Bestimmung des Menschen“ bewusst in den Kategorien der natürlichen Theologie verbleibt und von daher dann von einem höchsten Wesen bzw. „eine[m] unendlichen Geist […], der zugleich mein Urheber ist“, bzw. von Gott als „Ursprung der Wesen und der Vollkommenheiten“,⁴⁴⁷ „Urbild[…] der Vollkommenheiten“⁴⁴⁸ oder auch „Quelle der Vollkommenheit“⁴⁴⁹

 SpKA I/1, 199, 11– 18.  Vorausgesetzt wird dabei, dass die in der Natur des Menschen begründete wesentliche menschliche Vollkommenheit, das an den Geboten der Vernunft orientierte sowie das an den Begriffen von wahrer Tugend und wahrer Religion bzw. in christlicher Adaption am Geist der Vorschriften Jesu und seinem Beispiel orientierte Bild aller Vollkommenheiten miteinander vereinbar sind und keine gegenseitigen Widersprüche aufweisen (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 35 – 42). Eine einfache Identifikation dieser doch immerhin unterschiedlich begründeten Vollkommenheitskonzeptionen sollte m. E. aber nicht vorgenommen werden.  Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 42.  SpKA I/1, 137, 4– 15.  SpKA I/1, 135, 13 f.  Vgl. die Zugabe „Der […] vernünftige […] Werth der Andacht“ (Zitat: SpKA I/1, 233, 9).

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II. Predigtanalysen

sprechen kann. Auf diesem Hintergrund ist also noch einmal festzuhalten, dass Schleiermacher in seiner Examenspredigt die in der Halleschen Schulphilosophie selbstverständliche ontologische Begründung der Vollkommenheit des Menschen nur in sehr modifizierter Weise übernimmt und die Verwirklichung des vorgängig gegebenen menschlichen Wesens jedenfalls nicht mehr zum Ausgangspunkt oder zum Schwerpunkt seiner Argumentation macht.Wichtiger als die oben erwähnten taktischen Überlegungen dürfte für dieses Vorgehen m. E. nun aber, neben Schleiermachers gegenüber der Halleschen Tradition inhaltlich differenter Begründung des Bildes oder Zieles der menschlichen Vollkommenheit, v. a. Schleiermachers grundsätzliche Schwerpunktsetzung bei der Einsicht in die lebenslange menschliche Unvollkommenheit bzw. in das in diesem Leben nicht gänzlich abzulegende menschliche Fehler- oder Sündenbewusstsein sein. Bemerkbar machen dürfte sich damit nicht zuletzt die herrnhutische Frömmigkeitstradition, die die religiöse und theologische Entwicklung des jungen Schleiermacher ganz offensichtlich trotz aller Auseinandersetzungen auch nachdrücklich zu prägen vermochte.⁴⁵⁰ Mit der homiletischen Schwerpunktsetzung bei der Einsicht in die lebenslange menschliche Unvollkommenheit dürfte sie – neben aller theologischen Anlehnung an Spalding – schließlich auch zu Schleiermacherschen Differenzierungen gegenüber dessen Vorgaben geführt haben.

II.1.2 Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum, das Verhältnis zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie betreffend Das für Schleiermachers Examenspredigt hinsichtlich deren Vermittlungsabsicht zwischen Eberhardscher und damit Hallescher sowie Kantischer Praktischer Philosophie gewonnene Ergebnis ist nun in dem weiteren Kontext der gesamten ersten Predigten Schleiermachers zu betrachten. Die Untersuchung dieses weiteren Kontextes bestätigt einerseits, dass die ersten Schleiermacherschen Predigten durchgängig grundlegende Anklänge an die Hallesche Tradition aufweisen. Zu nennen wäre hier nicht nur die über die Examenspredigt hinaus reichende maßgebliche Bedeutung der Orientierung am Streben nach Vollkommenheit bzw. dem Ziel der menschlichen Vollkommenheit in praktisch-philosophischer oder

 Auch Herms: Herkunft, S. 116, führt den Topos des Strebens nach Vollkommenheit beim frühen Schleiermacher bereits auf die Herrnhuter Zeit zurück. Dass Schleiermacher allerdings die Überzeugung übernommen hätte, dass damit „keine“ die menschlichen „Fähigkeiten übersteigende Forderung“ auf dem Menschen lastete, „da jenes Streben nur auf zunehmende Realisierung des eigenen Wesens geh[e]“, lässt sich angesichts Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 21.01.1787 gerade nicht bestätigen (vgl. Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50).

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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sittlich-religiöser Hinsicht,⁴⁵¹ sondern auch Übereinstimmungen wie die der Aufnahme einer durch Begriff und Erfahrung geprägten erkenntnistheoretischen Argumentationsstruktur,⁴⁵² das Zusammenwirken von Gedanken und Empfindungen bei der Handlungsmotivation, wie es Eberhards „Allgemeiner Theorie des

 Wie in der Examenspredigt wird dieses Streben als Streben nach dezidiert „christlicher Vollkommenheit“ aufgenommen in Predigt Nr. 18, KGA III/3, 181, 20 – 22. In Predigt Nr. 14, KGA III/ 3, 144, 29 – 31 wird die „wahre[…] sittliche[…] Vollkommenheit“ als „unser[…] große[r] Zwek“ definiert, in Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 26, 4– 11 wird von den „höchsten Stufen der Vollkomenheit“ gesprochen, etwas später in Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 28 – 36 davon, dass Christus „auch als Mensch“ über die Vollkommenheit verfügt, „die uns vorgezeichnet ist“, und den Menschen zeigen konnte und kann, „wie weit der Mensch mit dem Beistand Gottes auf dem Weg der Vollkomenheit kommen könne“; im Kontext der Bearbeitung des zweiten Predigthauptteiles der Besserung wird in Predigt Nr. 4 Am 1. Januar wohl im Jahr 1791, KGA III/3, 36, 32– 34 davon gesprochen, dass das allmähliche sittliche Reifen des Menschen auf Erden nicht zur Vollkommenheit führen kann, da die „Vollkommenheit […] nur das Ziel der Ewigkeit ist“; in der Osterpredigt Nr. 12, KGA III/3, 123, 3 – 15 schließlich wird der Prozess der Vervollkommnung des Menschen „von den Fortschritten“, die der Mensch darin im irdischen Leben macht, bis hin zu seinem bzw. ihrem „schnelle[n] Steigen in der Vollkommenheit“ im Jenseits in den Blick genommen. Sodann ist in Predigt Nr. 16, KGA III/3, 165, 29 – 31 von der „wahre[n] sittliche[n] Vollkommenheit“ die Rede, „nach der der Mensch streben soll“.  Zu vergleichen wäre dazu beispielsweise die Disposition der Schleiermacherschen Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zu Joh 16,23 (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135– 145; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 27 zu vergleichen). Ausführungen zur Halleschen, insbesondere Eberhardschen, auf Begriff und Erfahrung bzw. auf der „Einheit von Beobachtung und Abstraktion umfassender Induktion einerseits, Deduktion andererseits“ beruhenden wissenschaftlichen Erkenntnislehre finden sich u. a. bei Herms: Herkunft, S. 50 – 61 (Zitat auf S. 58) und bei Oberdorfer: Geselligkeit, S. 116 – 119. Noch einmal erinnert sei in diesem Kontext an die bei Eberhard zu beobachtenden Unstimmigkeiten hinsichtlich des Zusammendenkens von deduktiver und induktiver Vorgehensweise, die beispielsweise durch das Postulat der einerseits primär auf den Begriff, andererseits primär auf die Erfahrung zu gründenden Bestimmung der wahren bzw. wesentlichen Vollkommenheit des Menschen zum Ausdruck kommen (vgl. Eberhard: SdV, § 18, S. 20 f. mit § 22, S. 23 f.). Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang, dass die Disposition der Schleiermacherschen Gebetspredigt die Untersuchung des Begriffs des Gebets vor der Thematisierung der Erfahrung des Nutzens des Gebets vorsieht, dass den Predigthauptteil also zunächst einmal keine „Vorordnung der Wirklichkeit vor der Möglichkeit“ kennzeichnet (vgl. Herms: Herkunft, S. 60). Dass Schleiermachers Aufstellung des Begriffs des Gebets im ersten Teil seines Hauptteiles allerdings durchaus das Postulat der empirischen Sachhaltigkeit zu erfüllen vermag, ist beispielsweise aufgrund der Passage in Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33 offensichtlich. Als weiteres Exempel einer entsprechenden Predigtdisposition kann auf die Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu Ps 90,10 hingewiesen werden. In dieser Predigt folgt der Erarbeitung der Beurteilung bzw. des Begriffs des menschlichen Lebens „überhaupt“ im ersten Teil des Hauptteils im zweiten Teil des Hauptteils die Untersuchung der dieser Beurteilung bzw. diesem Begriff entsprechenden „Empfindungen“ (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 10 – 14; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 135 zu vergleichen).

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II. Predigtanalysen

Denkens und Empfindens“ entspricht,⁴⁵³ das Verständnis der Tugend als Fertigkeit, die der Übung bedarf,⁴⁵⁴ oder ganz spezifisch auch die Aufforderung, der  Als Zusammengehörigkeit von „Vernunft“ und dem „ihr unzertrennliche[n] Gefühl“ hinsichtlich des „gute[n] und edle[n]“ beispielsweise in Predigt Nr. 12, KGA III/3, 118, 32– 35. Des Weiteren könnte auf Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 42, 9 – 13 verwiesen werden. Bei Eberhard müssen die dem Gang der Entwicklung des menschlichen Geistes entsprechend aus den zuerst vorhandenen Empfindungen entwickelten Gedanken zu bzw. vor deren Übergang in „Entschließungen“ bzw. in Handlungsmotivation noch einmal in Empfindungen zurück überführt werden (vgl. Eberhard: AThDE, S. 226 f. oder S. 230 – 233). Für Schleiermacher kann in diesem Zusammenhang auf den diesen Überlegungen geradezu mustergültig entsprechenden zweiten Teil des Hauptteils der Weihnachtspredigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ verwiesen werden. Dort wird als Voraussetzung der Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe das Zusammenwirken einer grundlegenden Empfindung des Wohlwollens mit dem „richtige[n] Urtheil über das, was den Menschen allgemein gut ist“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 46, 25 f.; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 117 zu vergleichen), sowie wiederum das nötige Übergehen des solchermaßen verstandesmäßig Erkannten in das „Herz“ des Menschen (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 47, 14– 19) ausgeführt. Sodann könnte bereits auf die Reflexion des in sittlicher Hinsicht notwendigen Zusammenwirkens von Gefühl und Verstand, Empfindungen und Vernunft in Schleiermachers Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ verwiesen werden, auch wenn sich dieses Zusammenwirken hier gerade dadurch auszeichnet, dass es letztlich auf das orientierende Beispiel und Vorbild Christi angewiesen bleibt (Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 14, 3 – 15, 24; die hier aufgeführte Datierung der Predigt entspricht der Datierung in KGA III/3; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 3 zu vergleichen). Ein Anklang an die Eberhardsche Rücküberführung der Gedanken in Empfindungen vor bzw. zu deren praktischem Wirksamwerden findet sich in Schleiermachers Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“, einerseits insofern dort von der „gewiße[n] Kälte“ oder „Gemächlichkeit“ gesprochen wird, die „unsere Gesinnungen“ bzw. „unsere Wünsche für unser sittliches Wohl“ auszeichnet, solange sie „bloße Vorsäze bleiben“ und nicht „zum Gebet um[gestimmt]“ werden (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 27 zu vergleichen), andererseits im Zusammenhang mit der Legitimierung der Gebete, die aus Gewohnheit gesprochen werden. Denn hier wird reflektiert, dass die zum rechten Gebet nötigen Empfindungen sich auch durch die aus den „Worte[n]“ „nach und nach“ hervorgehenden „dazu gehörigen Vorstellungen“ entwickeln lassen (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 17– 33). Schließlich lässt sich sogar ein Anklang an die Unterscheidung zwischen klaren, in den Bereich der Empfindungen gehörigen, und deutlichen, in den Bereich der Gedanken gehörigen, Vorstellungen, wie sie Eberhards Theorie entspricht (vgl. Eberhard: AThDE, S. 32– 36.45.174 f.180 f.), in der Weihnachtspredigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ belegen. Die entsprechende Formulierung lautet dort: „Ist aber diese Kenntniß in dem Herzen so lebendig wie sie in dem Verstande deutlich ist […]“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 47, 28 – 36; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 117 zu vergleichen). Kant lehnt die Einbeziehung der Empfindung in die sittliche Handlungsmotivation, d. h. auch die Einbeziehung eines Gefühls der Lust oder Unlust, wie es die Hallesche Tradition lehrt, grundsätzlich ab (vgl. KpV, S. 31 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788 S. 44 f.] und KpV, S. 98 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788 S. 128 f.]; an letzterer Stelle führt Kant aus, dass die Befolgung der Pflicht geradezu Schmerz implizieren kann, was das Gefühl der Lust

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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„Verbindlichkeit“ zur Erkenntnis der Wahrheit in Angelegenheiten der Religion nachzukommen, in der Predigt „Worin die Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntnisse bestehn“ zu 1. Thess 5,21.⁴⁵⁵ Andererseits aber ist das für die Funktion der Gesinnung bzw. Gesinnungen im Gefüge der Handlungsmotivation ermittelte Ergebnis der Schleiermacherschen Examenspredigt,⁴⁵⁶ das sich auch an anderer Stelle in den ersten Predigten feststellen lässt,⁴⁵⁷ im Kontext weiterer Anklänge der ersten Schleiermacherschen Predigten an die Praktische Philosophie Kants zu sehen. bzw. Unlust als angemessene handlungsmotivierende Größe im sittlichen Bereich natürlich ad absurdum führt).  Vgl. exemplarisch Predigt Nr. 12, KGA III/3, 118, 36 – 119, 1 und 123, 31– 34.  Vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 167, 7– 169, 8; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 104 zu vergleichen. In Eberhards „Sittenlehre der Vernunft“ finden sich die entsprechenden Gedanken einerseits in den Ausführungen zur „Dritte[n] Art“ des Vergnügens, das Eberhard als „Vergnügen des Verstandes“ bezeichnet (Eberhard: SdV, § 11, S. 11 f.), andererseits in dem die Pflichtenlehre darlegenden zweiten Teil der „Sittenlehre“, in § 133 unter der Überschrift „Wahrheit der Erkenntniß Gottes“ sowie in dem folgenden § 134, der sich mit den „Irrthümer[n] in der Religion“ beschäftigt (Eberhard: SdV, §§ 133 f., S. 149 – 152). Als Zitat kann hier beispielsweise der erste Satz des § 133 angeführt werden: „Um das erste Stück der innern Religion nemlich den Ruhm Gottes zu befördern, müssen wir unserer Erkenntniß Gottes alle Vollkommenheiten verschaffen, deren die menschliche Erkenntniß fähig ist.“ (Eberhard: SdV, § 133, S. 149 f. [Hervorh. i. Orig.]). An Unterschied zum Kantischen Denken kommt hinzu, dass sich Schleiermacher in Predigt Nr. 17 in Hinblick auf die Motivation zu „unabläßige[n] Bemühungen“ um die Wahrheit auch auf die „Neigung“ bezieht, die uns zur „Wahrheit“ „eingepflanzt ist“ (Predigt Nr. 17, KGA III/3, 174, 19 – 25).  Noch einmal hingewiesen sei exemplarisch auf die Schleiermachersche Rede von der „Nothwendigkeit einer solchen gänzlichen Aenderung der Denkungsart und der Grundsäze […], welche Jesus forderte“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 28 – 30, vgl. auch 8, 27– 29 und 9, 20 – 26) und den gesamten Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Untersuchung. Hinzuzufügen ist der Hinweis auf den weiter unten folgenden Abschnitt II.2.1.7.3. Neben den insbesondere auf Kant, auf Spalding und auf die antideistische Kontroversliteratur verweisenden Bezügen des Schleiermacherschen Gesinnungsbegriffes sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass hier auch eine gewisse Nähe zur stoischen Tradition festgestellt werden kann. Dort wird zwischen einer Handlung, die den Vorgaben der „gemeine[n] Pflicht“ folgt („‚kathekon‘“), und einer solchen, die den Vorgaben der „vollkommenen Pflicht“ folgt („‚kathorthomata‘“), unterschieden. Die der vollkommenen Pflicht entsprechende Handlung ist nicht nur pflichtgemäß, sondern erfordert „auch die richtige Gesinnung“ (vgl. Jan Rohls: Geschichte der Ethik, 2., umgearbeitete u. erg. Aufl., Tübingen 1999 [11991] [Rohls: Geschichte der Ethik], S. 77).  Vgl. beispielsweise die Aussage, dass „unreine[…] Absichten nur den Schein der Tugend“ hervorbringen, „wahre Tugend“ aber wie bei Christus nur „aus unerschütterlich festen Grundsäzen“ hervorgeht, in Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 15, 24– 16, 16; die Charakteristik der „Heuchler,welche den äußern Schein der Tugend annehmen“ und „jene Strenge gegen sich selbst nach[ahmen], welche andern von Herzen geht und aus Grundsäzen herrührt, welche tief in ihre ganze Denkungsart verwebt sind“, in Predigt Nr. 15, KGA III/3, 148, 33 – 149, 3; die Rede vom „rein[en]“ Herzen und der „lauter[en]“ Absicht in Predigt Nr. 15, KGA III/3, 153, 28 – 32

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II. Predigtanalysen

Zu nennen wäre an dieser Stelle u. a. die Predigt „Was für Gefühle dem Menschen zu seiner christlichen Besserung am förderlichsten sind“ über Phil 2,12.⁴⁵⁸ In dieser Predigt argumentiert Schleiermacher im Zusammenhang mit der Befolgung der menschlichen Pflichten explizit mit dem „gute[n] Wille[n]“.⁴⁵⁹ Ein Berührungspunkt zur kantischen praktisch-philosophischen Verabsolutierung der Pflicht bzw. der Pflichten findet sich im Schlussteil der Predigt. Dort ist der Gedanke formuliert, dass das Gefühl „für das rechte und unrechte“ „ursprünglich aus der Ueberzeugung entspringt, daß es im Grunde nothwendig sei alle seine Pflichten auf jede Bedingung zu erfüllen“.⁴⁶⁰ Im Grunde nicht schöner könnte nun aber deutlich werden, wie Schleiermacher trotz und in diesen Anklängen an Kant dennoch der Halleschen Praktischen Philosophie verhaftet bleibt. Denn geht schon die Rede vom „Gefühl für das rechte und unrechte“ über Kant und dessen Achtung für das moralische Gesetz hinaus, so gilt das ebenso für die unmittelbar dem gerade zitierten Abschnitt nachfolgende Bemerkung: „Der Mensch der einen Werth auf seine Geschäftigkeit sezt hängt immer sein Herz an das, was ihm Mühe und Fleiß gekostet hat, wenn ihn nun diese Empfindung zu so mancher Aufopferung um seiner Pflichten willen bewogen hat […]“.⁴⁶¹ Nicht schöner könnte auch hier deutlich werden, wie die Kantische Befolgung der Pflicht um ihrer selbst bzw. um des moralischen Gesetzes willen durch die Einbeziehung der Halleschen „Empfindung“ als eines die Handlung motivierenden Bewegungsgrundes konterkariert wird,⁴⁶² Schleiermacher also zwischen der Kantischen und der Halleschen Praktischen Philosophie vermittelt.⁴⁶³ Ein weiterer Anklang an Kant findet

oder auch das Aufgreifen der paulinischen Definition der Sünde aus Röm 14,23 in Predigt Nr. 15, KGA III/3, 154, 22– 26.  Vgl. Predigt Nr. 16, KGA III/3, S. 157– 166; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 91 zu vergleichen.  Vgl. Predigt Nr. 16, KGA III/3, 162, 28 – 35: „So ist die menschliche Seele, daß sie durch Kleinigkeiten am meisten verführt wird, wenn sich etwas als groß […] darstellt, so nimmt sie wol ihre Besinnung zusammen, und sammelt Stärke ihren Pflichten nachzukommen, aber in Kleinigkeiten ist es ihr gewöhnlich eine Pflicht dem Vergnügen oder der Trägheit aufzuopfern; ohne zu bemerken, wie oft das geschieht[,] geht am Ende der gute Wille und die Kraft ihn durchzusezen verloren, und Wollen und Vollbringen wird geschwächt.“ Dass der gute Wille prozesshaft und durch Gewöhnung verloren gehen kann, entspricht dabei allerdings schon wieder eher der Eberhardschen und Aristotelischen Tradition.  Vgl. Predigt Nr. 16, KGA III/3, 165, 31– 166, 7.  Vgl. Predigt Nr. 16, KGA III/3, 165, 33 f. und 166, 7– 11 [Hervorh. D.G.].  Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang bereits auf die „allgemeine Einleitung“ der Predigt, in der Schleiermacher in Hallescher Manier von einer für die Handlungsmotivation notwendigen „Empfindung“ spricht, „die mit allen unsern Pflichten genau zusammenhängt“ (vgl. Predigt Nr. 16, KGA III/3, 157, 1– 158, 26).  Ein ähnliches Beispiel bietet die Predigt „Was für Pflichten uns obliegen gegen ängstliche Christen“ (Predigt Nr. 15, KGA III/3, S. 146 – 156; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 13 zu ver-

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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sich in der Predigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32, die sehr nahe an den Gedanken des kategorischen Imperativs in Form der sogenannten Selbstzweckformel heranreicht.⁴⁶⁴ An Kantisches Denken erinnert in dieser Predigt zudem, dass Schleiermacher „unsere[…] Neigungen“ und „die Beförderung unserer eigenen Glükseligkeit“ als unangemessene Handlungsmotivationen im Zusammenhang mit der Gesinnung der allgemeinen bzw. wahren Menschenliebe explizit zurückweist.⁴⁶⁵ Zu beobachten ist allerdings, dass mit diesen Kantischen Anklängen erneut eine deutliche Orientierung an Halleschem Gedankengut einhergeht. So bleibt die allgemeine Menschenliebe auf die „Bestimmung“ des Menschen⁴⁶⁶ oder auf den Prozess der „Besserung“⁴⁶⁷ bzw. der „wahren Geistigen Verbeßerung der Menschen“⁴⁶⁸ be-

gleichen). Hier wird wiederholt die Bedeutung des Charakters der Absicht, des Herzens oder der Überzeugung des Menschen für die wahre Tugend betont (vgl. Predigt Nr. 15, KGA III/3, 148, 33 – 149, 3; 153, 28 – 32 und 154, 22– 26), was eine Nähe zu Kant erkennen lässt. Gleichzeitig wird in dieser Predigt aber die Einsicht wiedergegeben, dass sich untugendhaftes Verhalten durch einen langsamen Prozess der Gewöhnung und daraus entstehenden Veränderungen in der „Kraft des Geistes“ entwickeln kann (vgl. Predigt Nr. 15, KGA III/3, 150, 32– 151, 8). Dies entspricht eher der Eberhardschen Bestimmung der Tugend als „Fertigkeit“, die wiederum ihre Anlehnung an die Aristotelische Tradition erkennen lässt (vgl. Eberhard: SdV, § 96, S. 98).  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 41, 33 – 39 (zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 117 zu vergleichen). Relevant ist hier insbesondere auch die Charakterisierung des Menschenfreundes in 49, 19 – 24: „es ist nicht nöthig daß jemand mit ihm verbunden sei um alle Pflichten des Menschen und des Christen gegen ihn zu erfüllen, er eilt ihm zu dienen weil er ein Mensch ist, und denkt bei jeder Gelegenheit wie gut würde es um die Menschheit stehn wenn ich immer wenn jedermann immer so handelt“. Für Kant wäre auf die entsprechenden Abschnitte in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zu verweisen (Kant: Grundlegung, S. 54 f. [Akademieausgabe Bd. IV, S. 429] und S. 57 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 431]). Zitiert sei die sogenannte Selbstzweckformel aus Kant: Grundlegung, S. 54 f. [Hervorh. i. Orig.] (Akademieausgabe Bd. IV, S. 429): „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Insbesondere der Aspekt der Allgemeinheit, also dass sich die zur Diskussion stehende Menschenliebe auf alle Menschen qua „menschliche[r] Natur“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 21– 24 und 41, 37– 39), bei Kant entsprechend der kategorische Imperativ auf alle Menschen qua „vernünftige[r] Natur“ (Kant: Grundlegung, S. 54 f. [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 429]) oder qua „vernünftige[m] Wesen“ (Kant: Grundlegung, S. 57 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 431]) bezieht, stimmt miteinander überein. Schleiermachers Formulierung greift zudem ohne Zweifel die Kantische Vorgabe einer allgemeingültigen praktischen Gesetzgebung auf, wie sie bereits die grundlegende Form des kategorischen Imperativs enthält: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant: Grundlegung, S. 45 [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 421]).  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 41, 33 – 39.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 41, 33 – 39.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 42, 27– 30 und 43, 20 f.

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II. Predigtanalysen

zogen. Die Bedeutung der Religion tritt deutlich hervor, wenn die Bestimmung der Menschen sich nach den „erhabenen Wahrheiten die sich auf Religion und Tugend beziehn“⁴⁶⁹ richtet oder hinsichtlich der Tugend die Rede auf die unterstützende Funktion der Religion kommt.⁴⁷⁰ Dass der Verlauf des zweiten Teils des Hauptteils der Predigt geradezu vorbildhaft die Eberhardsche Theorie des Zusammenwirkens von Gedanken und Empfindungen bei der Handlungsmotivation abbildet, wurde oben bereits angemerkt.⁴⁷¹ Exemplarisch deutlich wird die Verbindung von Kantischem und Halleschem Denken in einem Abschnitt des ersten Teils des Hauptteils dieser Predigt, in dem einerseits die Bedeutung der „Art zu denken“, der „GrundSäze[…]“ und der „Denkungsart“ des Menschen hervorgehoben wird,⁴⁷² andererseits aber mit Aspekten wie dem Prozess der Besserung,⁴⁷³ den Größen der „Tugend und Frömmigkeit“⁴⁷⁴ oder auch der Wertschätzung der Menschen, „die wenigstens ihrem bessern natürlichen Gefühl folgten“,⁴⁷⁵ die Nähe zum Halleschen Denken zum Ausdruck kommt.⁴⁷⁶ Ein deutlich Kantisches Motiv stellt in den ersten Schleiermacherschen Predigten die Vorstellung vom lebenslangen Tugend-„Kampf“ dar, den es in sittlicher

 Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 44, 19 – 21.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 41, 33 – 42, 6.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 43, 15 – 44, 5.  Die Voraussetzungen der Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe sind diesem zweiten Teil des Hauptteiles der Predigt zufolge: erstens „ein überhaupt wolwollendes Herz“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 46, 4), d. h. ein „Gefühl“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 46, 15), zweitens „ein richtiges Urtheil über das,was den Menschen allgemein gut ist“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 46, 25 f.), drittens muss dann „die Erkenntniß dessen was das wesentliche und wahre Wohl der Menschen betrift, nicht nur im Kopf bestehn, sie muß vielmehr in das Herz übergegangen seyn, tüchtig in demselben gewirkt und ihm eine gewiße Ruhe mitgetheilt haben“ (Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 47, 14– 19). Für Eberhard seien als relevante Passagen noch einmal angegeben: AThDE, S. 226 f. und S. 230 – 233.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 43, 15 – 44, 5.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 43, 20 f.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 44, 2 f.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 44, 5 – 10.  Eberhard legt Wert darauf, dass das moralische Gefühl des Menschen einerseits nicht zu hoch geachtet werden dürfe, dessen Vorhandensein und Nutzen andererseits aber auch nicht geleugnet werden könne: „Auf diesem Wege vermeidet man beyde Auswege, auf der einen Seite einer übertriebenen Achtung des moralischen Gefühles, wonach man es zu einem ersten von der Vernunft unabhängigen Principio, zum höchsten Richter in allen sittlichen Angelegenheiten macht, und auf der andern Seite, einer eben so übertriebenen Verachtung, wodurch man ihm alles Daseyn, und allen Nutzen abspricht.“ (Eberhard: AThDE, S. 186 f.). Voraussetzung der hier aufgenommenen Analogie ist, dass die bei Schleiermacher als „besser[es] natürliche[s] Gefühl“ begegnende Größe m. E. mit dem bei Eberhard genannten „moralischen Gefühl[…]“ vergleichbar ist.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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Hinsicht durchzufechten und zu bestehen gilt. Diese Vorstellung begegnet bei Schleiermacher exemplarisch in der Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu Ps 90,10.⁴⁷⁷ Aufgrund der Betonung der Bedeutung des guten Willens für die Handlungsmotivation,⁴⁷⁸ der Ablehnung der Orientierung des Sittlichen an irgendwelchen Neigungen des Menschen sowie aufgrund der Bestimmung des Bösen als den Vorgang, dass der Mensch „irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“,⁴⁷⁹ zeichnet diese Predigt eine besondere Nähe zum Kantischen Denken aus. Dass aber auch hier letztlich eine Verbindung von Kantischem und Halleschem Denken zugrunde liegt, ist sowohl der eben zitierten Bestimmung des Bösen zu entnehmen, die sich im Gegensatz zum Kantischen Modell auch an der Nicht-Übereinstimmung mit dem Willen Gottes orientiert,⁴⁸⁰ als beispielsweise auch einer Passage am Ende des zweiten Teiles des Hauptteiles der Predigt. Dort

 Verwiesen werden kann an dieser Stelle auch auf Schleiermachers Examenspredigt und deren Rede vom „[E]rsteigen“ der „Stufe[n] der Tugend“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 10, 20 f., vgl. auch 11, 1– 6 und sinngemäß, allerdings auf die „Besserung“ bezogen: 11, 11– 18). In der Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu Ps 90,10 formuliert Schleiermacher geradezu beispielhaft, dass der Mensch die Tugend „durch beständigen Streit und Kampf […] erringt“, er äußert kurz darauf in Abgrenzung zur Gegenseite seiner Argumentation: „Sie möchten Tugend haben ohne Kampf, was keine Tugend wäre“, um schließlich zu bedenken zu geben: „Keiner steht am Ziel! Jeder hat noch viele Kronen vor sich die er im […] irrdischen Kampf erreichen kan. Wer noch athmet hat in der Schule des Lebens noch nicht ausgelernt.“ (Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 35; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 135 zu vergleichen). Für Kant wäre noch einmal auf das folgende Zitat aus der Kritik der Praktischen Vernunft zu verweisen: „Die sittliche Stufe, worauf der Mensch […] steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht […] zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d.i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens.“ (KpV, S. 114 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 150 f.]). Die Übereinstimmung der Schleiermacherschen mit der Kantischen Konzeption hinsichtlich einer Näherbestimmung der Tugend durch den Aspekt eines lebenslang andauernden Kampfes tritt hier ganz offensichtlich zutage. Das Motiv des „Kampf[es]“ begegnet u. a. auch bei Spalding im Kontext von Überlegungen zur Tugend bzw. dazu, wie der Mensch „zu der durchgängig herrschenden Richtigkeit des Herzens und des Lebens“ kommen kann. Hier wird der Fokus allerdings nicht explizit auf die lebenslange Dauer dieses Kampfes gelegt (vgl. Spaldings Anhang „Die Entschlossenheit“ zu seiner „Bestimmung des Menschen“, SpKA I/1, S. 297– 305, insbesondere S. 302 f., wo sich das obige Zitat findet).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 26 und 64, 15 – 36.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37. Eine detaillierte Untersuchung dieser Bestimmung des Bösen ist der weiter unten durchgeführten Analyse der Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu entnehmen, zu vergleichen wären die Abschnitte II.3.1.6.2 und II.3.1.6.3 der vorliegenden Untersuchung.

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II. Predigtanalysen

setzt sich das Gefüge der Handlungsmotivation in geradezu beispielhaft Hallescher bzw. Eberhardscher Manier als Zusammenspiel von „Nachdenken“, dem Gefühl des „Mißvergnügen[s]“ bzw. Vergnügens und der „Anhänglichkeit an die Religion“ zusammen.⁴⁸¹ Die sowohl der Schleiermacherschen Anordnung als auch der Sydowschen Reihenfolge entsprechend unmittelbar auf die Predigt Nr. 6 mit Sydows Titel „Die wahre Schäzung des Lebens“⁴⁸² folgende Predigt Nr. 7 mit Sydows Titel „Ueber die vornehmsten Ursachen, aus denen die Menschen troz der Erkenntniß des guten doch von demselben fern bleiben“ zu Lk 8,4– 15⁴⁸³ setzt sich mit der Problematik auseinander, dass die „Erkenntniß des Guten“ der Erfahrung gemäß noch nicht zum guten Handeln hinreichend ist.⁴⁸⁴ Die gerade erwähnte, an Kantisches Denken erinnernde Definition des Bösen aus Predigt Nr. 6 mit Sydows Titel „Die wahre Schäzung des Lebens“, dass es „nur ein Böses“ gebe, „wozu der Mensch versucht wird, nemlich daß er irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“,⁴⁸⁵ wird dabei erneut aufgenommen. Eine wörtliche Reminiszenz an die inhaltliche Bestimmung dieser Definition des Bösen findet sich gegen Endes des zweiten Teiles des Hauptteiles der Predigt Nr. 7, wo die „Erfüllung der Gebote Gottes und das Fortschreiten im Guten“ als „das einzige Ziel“ genannt werden, „worauf sie [i. e. implizit alle Menschen, D.G.] alle ihre Schritte hinrichten woll[…]en“ sollten.⁴⁸⁶ Die bereits im Predigtthema bzw. in der Überschrift angekündigte Untersuchung der zutage liegenden Erfahrung dessen, dass die bloße Erkenntnis des Guten und der Gebote Gottes nicht ausreicht, um Menschen immer auch zu entsprechendem Handeln zu veranlassen,⁴⁸⁷ führt in dieser Predigt nun allerdings ohne Umschweife zur Halleschen Empirie zurück. Die Annäherung an Kant in Predigt Nr. 6 wird insofern wieder ein Stück zurückgenommen bzw. im Halleschen Kontext interpretiert und ausdifferenziert. Zudem wird die aus Predigt Nr. 6 bekannte Konzentration des Bösen auf die einzige Form: „irgend etwas das

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 6 – 10.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, S. 52– 65 (zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 135 zu vergleichen).  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, S. 66 – 77 (zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 153 zu vergleichen). Zur Anordnung ist auf SW II/7, S. XXI und die im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Predigtsammlung zu verweisen, des Weiteren auf S. 13 f., insbesondere S. 14, Anm. 51 und Abschnitt II.2.1.1 der vorliegenden Arbeit.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 68, 7 und z. B. 67, 15 – 17.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 74, 23 – 26.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 68, 3 – 7 und SW II/7, S. 153.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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seiner Neigung schmeichelt demjenigen vor[zu]ziehn […], was […] als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt“ wurde,⁴⁸⁸ zwar auch in der „allgemeinen Einleitung“ von Predigt Nr. 7 insofern wieder aufgenommen, als sowohl schwerwiegende Laster als auch kleinere Fehler letztlich auf das Unvermögen, seinen Neigungen widerstehen zu können, zurückgeführt werden.⁴⁸⁹ Ursächlich geht dieses Unvermögen in Predigt Nr. 7 nun aber nicht auf eine falsche Gesinnung oder Maximenwahl, also auf den menschlichen Willen,⁴⁹⁰ zurück, sondern ganz explizit auf entsprechende „Anlagen der menschlichen Seele“.⁴⁹¹ Eindeutig schulmäßig ist zudem die Beschreibung der Erfahrung dieses menschlichen Unvermögens als „Erfahrung von der öfteren Unfruchtbarkeit des lebhaft erkannten und gefühlten Guten“,⁴⁹² die die beispielsweise für Eberhards Praktische Philosophie typische Verbindung von Denken und Empfinden erkennen lässt.⁴⁹³ In entsprechender Weise wird das Kantische Motiv des (Tugend‐)Kampfes mit dem aus der Aristotelischen und Halleschen Praktischen Philosophie bekannten Aspekt der „Fertigkeit“⁴⁹⁴ bzw. der „Übung“ und „Ausübung“⁴⁹⁵ verbunden. Hallesche Tradition lässt sodann die Vorstellung einer additiven Vollkommenheit der menschlichen Seele erkennen, wie sie bereits dem Wolffschen Denken entspricht.⁴⁹⁶ Hinzugefügt werden könnte der Hinweis auf die grundsätzlich positive  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 66, 21– 67, 5.  Dass das Gute und Böse sich in Kants Praktischer Philosophie immer nur in Bezug auf den menschlichen bzw. vernünftigen Willen definieren lassen, nie aber an einem Objekt oder einer Sache festzumachen sind, ist bereits KpV, S. 82 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 105 f.) zu entnehmen.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 66, 11– 21. In der unmittelbar folgenden Predigt Nr. 18 mit Sydows Titel „Von der rechten Art über die Unterstüzungen und Hülfsmittel zur Besserung nachzudenken, die Gott einem jeden zu Theil werden läßt“ zu Lk 11,28 ist dann von dem „in uns verborgene[n] Böse[n]“ die Rede (Predigt Nr. 18, KGA III/3, 178, 17 f. und 180, 16 – 19; zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 170 zu vergleichen). In Kants Religionsschrift findet sich die explizite Ablehnung der Vorstellung der Verortung des Bösen in menschlichen „Anlagen“. Das Böse wird dort stattdessen einem menschlichen „Hang“ zugeordnet (vgl. Kant: Religion, S. 25 [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 15] und Kant: Religion, S. 29 [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 21]).  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 67, 15 f.  Hierzu wäre auch Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 68, 5 – 7 zu vergleichen.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 73, 19 – 21; der Begriff „Kampf“ fällt in Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 74, 33 – 36.  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 76, 4– 15. Charakteristisch sind in dieser Hinsicht auch Stichworte wie „Aufmerksamkeit und […] Anstrengung“, die in der Predigt mehrfach begegnen (vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 77, 13 – 15; 69, 1– 5 sowie 71, 6 – 11).  Vgl. Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 75, 39 – 76, 1. Für Wolff ist in dieser Hinsicht beispielhaft Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des

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II. Predigtanalysen

Aufnahme der bleibenden Bedeutung der leiblichen bzw. sinnlichen Verfasstheit des Menschen und damit verbunden von durch „Erfahrung und Beobachtung“ gewonnenen Einsichten.⁴⁹⁷ Das Zurückweisen der Orientierung des Sittlichen an Neigungen begegnet nicht nur in dieser Predigt, in der unmittelbar zuvor überlieferten Predigt Nr. 6 mit Sydows Titel „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu Ps 90,10 sowie in Predigt Nr. 5 mit Sydows Titel „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32. Es ist bereits in Predigt Nr. 17 mit Sydows Titel „Worin die Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntnisse bestehn“ zu 1. Thess 5,21 festzustellen. Dort sollen der Wahrheit und der wahren Bestimmung des Menschen alle seine Neigungen geopfert werden.⁴⁹⁸ Der Kantische Anklang dieser Forderung wird allerdings bereits hier sofort wieder relativiert, indem unmittelbar anschließend der „Reiz den die Vermehrung erhabner Kenntniße hat“, und damit wieder eine Empfindung, als Motivation zur Beförderung der Herrschaft der Vernunft über die anderen „Kräfte“ der Seele herangezogen wird.⁴⁹⁹ In Predigt Nr. 9 mit Sydows Titel „Daß Jesu Lehre und Betragen uns jeden Vorwand abschneide, unter dem wir uns seinen Forderungen entziehn könnten“ zu Mt 12,19 f. wird die sich zwischen Halle und Kant bewegende Haltung Schleiermachers hinsichtlich des Umgangs mit den menschlichen Neigungen im Kontext des Sittlichen exemplarisch anschaulich. Denn im Interessenkonflikt zwischen Sittlichkeit und menschlichen Neigungen befürwortet diese Predigt lediglich das Überwinden eines unangemessenen Zuviel an Neigungen

Menschen, auch allen Dingen überhaupt, mit einer Einleitung u. einem kritischen Apparat hg.v. Charles A. Corr (Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. u. bearbeitet v. J. École u. a., I. Abteilung. Deutsche Schriften, Bd. 2), Hildesheim/Zürich/New York 1983 (Nachdruck der Aufl. Halle 1751) [Wolff: Deutsche Metaphysik], § 152, S. 78. Die Vorstellung einer additiven Vollkommenheit begegnet auch in den beiden unmittelbar folgenden Predigten, Predigt Nr. 18 mit Sydows Titel „Von der rechten Art über die Unterstüzungen und Hülfsmittel zur Besserung nachzudenken, die Gott einem jeden zu Theil werden läßt“ und Predigt Nr. 9 mit Sydows Titel „Daß Jesu Lehre und Betragen uns jeden Vorwand abschneide, unter dem wir uns seinen Forderungen entziehn könnten“. Hier ist von den „Tugenden“ die Rede, „die uns noch fehlen“ (Predigt Nr. 18, KGA III/3, 178, 18 – 20; entsprechend Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 82, 8). Damit ist die Tugend implizit als Größe dargestellt, deren Vollkommenheit sich aus einer Summe von Teilen zusammensetzt.  Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 76, 33 – 77, 3.  Vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 176, 28 – 36 (zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 104 zu vergleichen).  Vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 176, 36 – 177, 6. Durch Thema und Inhalt dieser Predigt: „worin die […] Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntniße bestehn“ (vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 169, 1– 3), folgt die Predigt schwerpunktmäßig natürlich sowieso Halleschen bzw. Eberhardschen Vorgaben. Zu verweisen wäre, wie bereits oben geschehen, auf Eberhard: SdV, § 11, S. 11 f. und Eberhard: SdV, §§ 133 f., S. 149 – 152.

II.1 Verhältnis der ersten Predigten Schleiermachers zur Praktischen Philosophie

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bzw. derjenigen Neigungen, die der Sittlichkeit tatsächlich abträglich sind.⁵⁰⁰ Eine solche, vergleichsweise moderate Haltung gegenüber den menschlichen Neigungen widerspricht der grundsätzlichen Ablehnung aller auf Neigungen zurückgehenden Bewegungsgründe einer sittlichen Handlung bei Kant.⁵⁰¹ Andererseits nimmt Schleiermacher im fraglichen Kontext aber auch in dieser Predigt wieder Kantische Gedanken auf. So ist an der gerade genannten Stelle vom nötigen „Streit“ mit den menschlichen Neigungen die Rede,⁵⁰² etwas später, ebenfalls im sittlichen Kontext, vom „Kampf“⁵⁰³ oder dem „Sieg über gewohnte Neigungen“.⁵⁰⁴ Ebenfalls Kantisch mutet die geforderte Reinheit der Handlungsmotivation an. Diese wird durch die „Liebe zum Guten“, den „Gehorsam gegen die Gebote Gottes“ und das Durchdrungensein „von der Kraft der Religion“ charakterisiert. Eine unangemessene oder unreine Handlungsmotivation liegt dieser Passage gemäß dort vor, „wo doch nur eine Neigung die andere besiegte“.⁵⁰⁵ Durchweg bleibt dabei allerdings die Hallesche Prägung auch dieser an Kant erinnernden Gedanken unverkennbar, wie es die durchgängige Bezugnahme auf die Gebote oder den Willen Gottes exemplarisch zum Ausdruck bringt. Insgesamt zielt die Predigt, diesem Befund entsprechend, in Hinblick auf die sittliche Handlungsmotivation auf eine Verbindung des „Gefühl[s] für unsere Pflicht“ einerseits mit der „Liebe zu Gott und Jesum“ andererseits.⁵⁰⁶ Als Fazit der Untersuchung der ersten Predigten Schleiermachers aus dem Zeitraum von 1789 bis zu seiner Ordination im April 1794 in praktisch-philosophischer Hinsicht lässt sich festhalten, dass die Kant-Lektüre und das Studium der praktisch-philosophischen Schriften Kants in Schleiermachers Denken und homiletischer Gedankenproduktion unübersehbare Spuren hinterlassen haben. Zugleich bleiben Schleiermachers Predigten in praktisch-philosophischer Hinsicht jedoch grundlegend der Halleschen Schulphilosophie verbunden. Eine Übernahme der Orientierung der gesamten Praktischen Philosophie an einem moralischen Gesetz Kantischer Provenienz beispielsweise lässt sich beim Schleiermacher der ersten Predigten angesichts der Bedeutung, die dort in sitt Exemplarisch verwiesen sei auf Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 84, 1– 7 (zum Titel der Predigt ist SW II/7, S. 182 zu vergleichen).  Vgl. z. B. KpV, S. 197 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 264 f.).  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 84, 1– 7.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 86, 3 – 14.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 86, 25 – 30.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 87, 2– 7. In Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 87, 19 f. gilt als Maßstab des Sittlichen „um des Guten Selbst willen recht gethan zu haben“.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 89, 2– 7. Hinzuzuziehen wäre bereits 88, 24– 89, 2.

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II. Predigtanalysen

licher Hinsicht den Geboten und dem Willen Gottes oder auch der Lehre Jesu zukommen, nicht belegen.Was Peter Grove für die ersten philosophischen Studien und Abhandlungen Schleiermachers konstatiert, kann daher, was deren praktisch-philosophischen Gehalt angeht, auch für die ersten Predigten Schleiermachers formuliert werden: sie „sind Versuche der Vermittlung“ der altbewährten Halleschen Schultradition mit der neu aufkommenden Kantischen Praktischen Philosophie.⁵⁰⁷

II.2 Das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Theologie der Aufklärung Die Untersuchung des Verhältnisses der ersten Predigten Schleiermachers zur Halleschen und Kantischen Praktischen Philosophie hat ergeben, dass der ethische bzw. sittliche Gehalt dieser Predigten nicht nur in praktisch-philosophischen Kategorien erfasst werden kann, sondern auf eine eminent theologische bzw. sittlich-religiöse Konzeption dieser Predigten verweist.⁵⁰⁸ Die Unterstützung oder Hilfe der Religion, die Gebote und der Wille Gottes begegnen in Schleiermachers ersten Predigten durchweg, in beispielhaften Predigten kommen dabei der Lehre und dem Vorbild Jesu wesentliche Bedeutung zu. Um die theologische Tradition näher in den Blick zu nehmen, auf die Schleiermacher hier rekurriert, werden insbesondere die Bezüge der ersten Schleiermacherschen Predigten zu der der Neologie zuzuordnenden Religionstheologie Johann Joachim Spaldings näher zu untersuchen sein.⁵⁰⁹ Dies wird exemplarisch anhand der Predigt über das Gebet erfolgen, die in der Sammlung der ersten Schleiermacherschen Predigten zu finden ist. Zu dieser Predigt existiert ein vergleichbares Pendant Spaldings, ebenfalls eine Predigt über das Gebet, die sich der Schleiermacherschen Predigt und Bearbeitung des Gebetsthemas aufschlussreich gegenüberstellen lässt. Zudem eignet sich die genannte Predigt für die Untersuchung der Schleiermacherschen Stellung zur Theologie der Aufklärung deshalb in besonderem Maße, weil das Thema des Gebets für den Kontext der Theologie der Aufklärung eminent

 Vgl. Grove: Deutungen, S. 32.  Hinzuweisen wäre diesbezüglich beispielhaft auf das über das Verhältnis von Tugend und Religion in den Abschnitten II.1.1.6.6 und II.2.1.6.6 für die jeweiligen Schleiermacherschen Predigten Erarbeitete.  Die grundlegende Bedeutung Spaldings für den frühen Schleiermacher hinsichtlich des Religionsthemas kommt beispielhaft in einer Passage eines Briefes an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann zum Ausdruck (Brief 116, 64– 73, in: KGA V/1, S. 122). Näheres zur Spaldingschen Religionstheologie findet sich weiter unten im Abschnitt II.2.1.7 der vorliegenden Arbeit.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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relevante Fragestellungen aufnimmt und bearbeitet. Im Laufe der Untersuchung der theologischen Bearbeitung des Gebetsthemas wird denn auch ein Blick auf die antideistische Kontroversliteratur zu werfen sein, auf die Schleiermacher vielfach rekurriert. Ein Ausblick auf weitere Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings theologischem und homiletischem Werk wird das Kapitel beschließen. Die für diese Untersuchungen relevante Textgrundlage bilden auf Seiten Johann Joachim Spaldings folgende Werke: – Spalding, Johann Joachim: Die Bestimmung des Menschen (11748; 21748; 3 1749; 41752; 51754; 61759; 71763; 81764; 91768; 101774; 111794), hg.v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski u. Dennis Prause unter Mitarbeit v. Verena Look u. Olga Söntgerath (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 1), Tübingen 2006 [SpKA I/1]. – Spalding, Johann Joachim: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), hg.v. Tobias Jersak (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 3), Tübingen 2002 [SpKA I/3]. – Spalding, Johann Joachim: Vertraute Briefe, die Religion betreffend (11784; 2 1785; 31788), hg.v. Albrecht Beutel u. Dennis Prause unter Mitarbeit v. Tobias Jersak u. a. (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 4), Tübingen 2004 [SpKA I/4]. – Spalding, Johann Joachim: Neue Predigten (11768; 21770; 31777), hg.v. Albrecht Beutel und Olga Söntgerath unter Mitarbeit v. Verena Look u. a. (Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 2. Abteilung: Predigten Bd. 2), Tübingen 2008 [SpKA II/2]. – Spalding, Johann Joachim: Über das wahre Lob Jesu [1768], in: Beutel, Albrecht/Drehsen,Volker (Hg.): Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen (FS Hans Martin Müller zum 70. Geburtstag), Tübingen 1999, S. 49 – 59. – Nipkow, Karl Ernst: Fromme Selbstaufklärung und Selbstvergewisserung. Zu einer Predigt Johann Joachim Spaldings, in: Beutel, Albrecht/Drehsen, Volker (Hg.): Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen (FS Hans Martin Müller zum 70. Geburtstag), Tübingen 1999, S. 60 – 70. – Für die antideistische Kontroversliteratur sind insbesondere folgende Titel zu nennen: – Benson, George: D. George Bensons Abhandlungen und Betrachtungen über einige wichtige Warheiten der Religion. Aus dem Englischen übersezt von Johann Peter Bamberger, Halle 1763 [Benson: Abhandlungen].

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II. Predigtanalysen

Fosters, Jacob: Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Erster bis fünfter Theil, Erster Theil nebst einer Vorrede August Friedrich Wilhelm Sacks, von dem Nutzen moralischer Predigten, Frankfurt und Leipzig 1750 – 1752 [Fosters: Reden I – V]. Leland, John: D. John Lelands Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften, die in dem vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderte in Engeland bekandt geworden sind; nebst Anmerkungen über dieselben und Nachrichten von den gegen sie herausgekommenen Antworten: in verschiedenen Briefen an einen guten Freund, I. Teil aus dem Englischen übersetzt von Henrich Gottlieb Schmid, Hannover 1755 [Leland: Abriß I].

II.2.1 Predigt Nr. 14 bzw. P 311: Die Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“⁵¹⁰ zum Text Joh 16,23,⁵¹¹ vermutlich auf Sonntag Rogate, 09. 05. 1790 zu datieren⁵¹² II.2.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt Die Datierung dieser Predigt erscheint zunächst einmal ungewiss. Wichmann von Meding nennt den Sonntag Rogate des Jahres 1791, das wäre der 29.05.1791 gewesen.⁵¹³ Bei Günter Meckenstock findet sich die Überlegung, dass diese Predigt eventuell wie die – sowohl in der erhaltenen Anordnung der Schleiermacherschen ersten Predigten als auch in der Reihenfolge der Sydowschen Ausgabe unmittelbar vorangehende – Predigt „Was für Pflichten uns obliegen gegen ängstliche

 Vgl. SW II/7, 27, 2 f. (das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben) und KGA III/3, S. 135.  Vgl. KGA III/3, S. 135 sowie Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 31 und SW II/7, 27, 4 sowie P 311, SW II/ 7, 29, 16.  Die Nummerierungen der Predigten unter „Nr.“, gegebenenfalls mit folgender Nennung des Datums „Am […]“, entsprechen der Edition der bis in das Jahr 1808 zu datierenden Predigten Schleiermachers in KGA III/3. Die Nummerierungen der Predigten unter „P“ entsprechen von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331– 342. Die Titel bzw. Themen der Predigten sind SW II/7 entnommen, Sydow hat sie gemäß der Themenformulierung Schleiermachers im jeweiligen Einleitungsteil der Predigten formuliert. Die Predigt Nr. 14 bzw. P 311 findet sich in KGA III/3, S. 135 – 145 bzw. in SW II/7, S. 27– 41. In Hinblick auf die oben vorgeschlagene Datierung sowie die in KGA III/3, S. 135: „Vor dem 26. Juli 1794“ und bei von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331: am Sonntag Rogate 1791, i. e. der 29.05.1791, genannten Datierungen ist auf den folgenden Abschnitt zum historisch-biographischen Ort dieser Predigt zu verweisen.  Von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 295 und S. 331.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Christen“ zu 1. Kor 8,9 – 12⁵¹⁴ „[v]ielleicht […] auch […] in Drossen gehalten [wurde]“.⁵¹⁵ Für eine Frühdatierung dieser Predigt, also noch vor dem durch von Meding eingebrachten Datum des 29.05.1791, sprechen m. E. zunächst einmal inhaltliche und stilistische Anhaltspunkte. Hier wäre etwa die Art und Weise der Aufnahme der Wunderthematik im Zusammenhang mit der Gebetserhörung,⁵¹⁶ die offensichtliche Auseinandersetzung mit deistischem Gedankengut⁵¹⁷ sowie die Orientierung der Gliederung an den für die Hallesche Schulphilosophie gängigen Größen von Begriff und Erfahrung und die in dieser Hinsicht ganz offensichtlich zutage tretende Übereinstimmung mit bzw. Anlehnung an Spaldingsche Predigtmodelle⁵¹⁸ zu nennen. Insbesondere aber entspricht eine frühere Datierung dieser Predigt der erhaltenen und m. E. von Schleiermacher selbst vorgenommenen Anordnung seiner ersten Predigtsammlung, die auch Sydow übernommen hat und die er für die chronologische hielt.⁵¹⁹  Vgl. Predigt Nr. 15, KGA III/3, S. 146 – 156 bzw. SW II/7, S. 13 – 26. Bei Wichmann von Meding trägt diese Predigt die Kennzeichnung „P 310“ und wird unter der Rubrik „Ungenügend datierbare Predigten“ dem Jahr 1791 zugeordnet (Von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 342). In KGA III/3 wird der Termin dieser Predigt mit „[v]or dem 26. Juli 1796“ angegeben (vgl. KGA IIII/3, S. 146).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. XXVIII, Anm. 35. Vier Jahre später vertritt Meckenstock dann allerdings, dass Schleiermacher „[w]ährend seiner Drossener Zeit 1789/90 […] vermutlich überhaupt nicht“ gepredigt habe (vgl. Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 168).  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 136, 4 oder 141, 37– 142, 8.  Näheres hierzu findet sich im weiter unten folgenden Abschnitt zum „Vergleich der Schleiermacherschen mit der Spaldingschen Predigt über das Gebet“.  Nach eigenen Angaben hat Sydow die gesamte erste Predigtsammlung in der ihm vorliegenden Reihenfolge für die Veröffentlichung übernommen und mit dem Titel „Erste Sammlung. Aus Schleiermachers Candidatenjahren 1789 bis 1794“ versehen (vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Umschlagblatt, das diesen Titel in der Handschrift Sydows trägt, und SW II/7, S. 1). In seinem Vorwort zu SW II/7 weist Sydow darauf hin, dass davon ausgegangen werden kann, dass die auf Schleiermacher selbst zurückgehende Reihenfolge seiner beiden ersten Predigtsammlungen naheliegenderweise die chronologische war (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XV). Meckenstocks Einwand, dass die erhaltene Anordnung der Predigten Sydow zuzuschreiben sei, weil die Blätter keine Spuren einer Heftung zeigen (Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA III/3, S. XI), wurde bereits oben S. 15, Anm. 51 als nicht zwingend ausgeräumt. Sydow könnte beispielsweise vorhandene Umschlagblätter durch neue ersetzt haben. Der vorfindlichen Schleiermacherschen und der Sydowschen Version entspricht auch die chronologische Reihenfolge der ersten Predigtsammlung bei Wolfgang Trillhaas, bei der, die beiden ersten genannten Jahre betreffend, dann allerdings die in Klammern angegebenen früheren Jahreszahlen zu berücksichtigen wären (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 212). Terrence Tice dagegen vermutet, dass Schleiermacher seine ersten Predigten in der Reihenfolge ihrer Überarbeitung anordnete, nicht in der Reihenfolge, in der sie eigentlich gehalten wurden

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II. Predigtanalysen

Folgt man dieser Reihenfolge, so ist die Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3,⁵²⁰ der handschriftlichen Notiz Sydows entsprechend, in die Adventszeit 1789 zu datieren⁵²¹ und damit die erste erhaltene Predigt Schleiermachers.⁵²² Als zweite Predigt folgt die bereits erwähnte Predigt „Was für Pflichten uns obliegen gegen ängstliche Christen“ zu 1. Kor 8,9 – 12,⁵²³ die von Sydow allerdings mit dem hand-

(vgl. Tice: Sermons, S. 8). In das Jahr 1790 datiert Tice deshalb in folgender Reihenfolge: Predigt Nr. 1, Predigt Nr. 2, Predigt Nr. 3; in das Jahr 1791: Predigt Nr. 4, Predigt Nr. 15, Predigt Nr. 16, Predigt Nr. 14, Predigt Nr. 5 und Predigt Nr. 6 (vgl. Tice: Sermons, S. 8 – 10; um der leichteren Orientierung willen wird die Ticesche Reihenfolge hier mit den Predigtnummern der KGA III/3 angegeben). Eine detaillierte Begründung für die einzelnen Datierungen gibt Tice leider nicht.  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, S. 12– 19 bzw. P 309, SW II/7, S. 3 – 12. Der Titel der Predigt wird hier wie im Folgenden nach dem Sydowschen Wortlaut in SW II/7, S. 3 zitiert. Der von Sydow handschriftlich vermerkte Titel dieser Predigt auf dem im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindlichen Umschlagblatt dieser Predigt lautet dagegen: „Daß Christus allein unser Seligmacher sei und wir keines andern zu warten haben“ [Hervorh. D.G.].  Vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche, dieser Predigt vorangestellte bzw. vorangelegte Blatt, das in Sydows Handschrift die römische Ziffer I, den Titel und die Angabe des Predigttextes sowie diese Datierung trägt, sowie das in seinem Vorwort zu SW II/7 vertretene Argument, dass die Adventspredigt „durch die Ueberschrift des ganzen Convoluts als dem Jahr 1789 angehörig“ beurteilt werden muss (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XIII).  Von Meding und Meckenstock datieren diese Predigt allerdings auf den 12.12.1790 (vgl. Von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 295 und S. 331 sowie Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. XXVIII, Anm. 35 und KGA III/3, S. 12). Sicher ist, dass die Predigt am 3. Advent 1790 von Schleiermacher in Schlobitten gehalten wurde (vgl. Stubenrauchs Brief an Schleiermacher vom 03.02.1791, Brief 154, 2– 5, in: KGA V/1, S. 214). Denkbar wäre angesichts dessen allerdings auch, dass Schleiermacher die bereits 1789 verfasste Adventspredigt im Jahr 1790 in Schlobitten zum ersten Mal oder auch noch einmal hielt. Für spätere Jahre ist die Praxis des Wiederaufnehmens alter Predigten bzw. Predigtvorlagen jedenfalls durchaus für Schleiermacher belegt (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 11, insbesondere Anm. 28 und S. 12, Anm. 29). Dass die brieflichen Äußerungen Schleiermachers an seinen Freund von Brinckmann, denen zufolge Schleiermacher bis zum 09.12.1789 noch nicht gepredigt hatte (vgl. Brief 126, 87 f., in: KGA V/1, S. 162 und den Brief vom 09.12.1789, Brief 128, 43 – 46, in: KGAV/1, S. 169), zwingend als Beleg gegen eine Frühdatierung dieser Predigt gewertet werden müssen, kann m. E. bezweifelt werden. Da das Datum dieses Briefes noch zwei Wochen vor dem Heiligen Abend liegt, schließt dieser Brief die Möglichkeit, dass Schleiermacher noch im Advent 1789 seine erste Predigt verfasste, nicht aus. Im Gegenteil könnte aus diesen Äußerungen Schleiermachers, auch wenn sie eine ablehnende oder jedenfalls distanzierte Haltung des Verfassers zum Predigen und zur Theologie zum Ausdruck bringen, ebenso gut geschlossen werden, dass die Beschäftigung mit dem eigenen Predigen, wahrscheinlich gerade auch angesichts des anstehenden Examens, für ihn in unmittelbare Nähe gerückt war und das Verfassen der ersten eigenen Predigt unmittelbar bevorstand.  Vgl. Predigt Nr. 15, KGA III/3, S. 146 – 156 bzw. P 310, SW II/7, S. 13 – 26.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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schriftlichen Zusatz „1790 oder 1791“ versehen wurde.⁵²⁴ Bei der dritten Predigt dieser Reihenfolge handelt es sich dann um die hier zu untersuchende Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zu Joh 16,23,⁵²⁵ der als vierte Predigt Schleiermachers Examenspredigt, erwiesenermaßen vom 15.07.1790, folgt.⁵²⁶ Die fünfte Predigt wäre, immer noch völlig der Schleiermacherschen und Sydowschen Reihenfolge entsprechend, die Weihnachtspredigt „Welches Interesse alle Umstände der Geburt Jesu für uns haben“,⁵²⁷ die von Meding auf den 25. 12.1790 und KGA III/3 auf den „25. Dezember wohl im Jahr 1790“ datieren.⁵²⁸ Bei dieser Predigt würde es sich dann um die von Schleiermacher bereits in einem Brief an seinen Freund Heinrich Catel vom 17.12.1790 erwähnte, von der „Herrschaft“ erbetene Predigt „für den ersten Feiertag“ 1790 handeln.⁵²⁹ Die Thematik der Schleiermacherschen Predigt über das Gebet macht den Sonntag Rogate als in Frage kommenden Predigttermin, wie das bereits seitens von Medings vorgeschlagen wurde, sehr wahrscheinlich. Der m. E. erhalten gebliebenen Schleiermacherschen und der Sydowschen Anordnung gemäß kommt diese Predigt allerdings noch vor Schleiermachers Examenspredigt zu stehen, wobei der Sonntag Rogate 1789 als Termin zu früh angesetzt wäre, wenn man die entsprechenden brieflichen Äußerungen Schleiermachers an von Brinckmann zur Kenntnis nimmt, denen zufolge Schleiermacher bis zum 09.12.1789 noch nicht gepredigt hatte und auch noch keine „Lust“ dazu verspürt hatte.⁵³⁰ Aus diesen Überlegungen folgt m. E., dass diese Predigt in Hinblick auf den Sonntag Rogate 1790, das war der 09.05.1790, entstanden sein muss und damit in Schleiermachers Berliner Zeit der Vorbereitung auf das Examen fällt.⁵³¹ Dass Schleiermacher sich in dieser Zeit, sozusagen zu Übungszwecken, u. a. mit dem Verfassen einer Predigt beschäftigte, erscheint mir angesichts der auch in dieser Disziplin geforderten Prüfungsleistung durchaus nahe zu liegen. Schleiermachers Anordnung dieser Predigt unmittelbar vor seiner Examenspredigt jedenfalls wäre mit dieser Datie-

 Vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche, dieser Predigt von Sydow vorangestellte bzw. vorangelegte Blatt.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, S. 135– 145 bzw. P 311, SW II/7, S. 27– 41.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, S. 3 – 11 bzw. P 312, SW II/7, S. 42– 53.  Vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, S. 20 – 28 bzw. P 313, SW II/7, S. 54– 64.  Vgl. Von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 295 und S. 331 und KGA III/3, S. 20.  Vgl. Brief 149, 201– 203, in: KGA V/1, S. 211.  Vgl. Brief 126, 87 f., in: KGA V/1, S. 162 und den Brief vom 09.12.1789, Brief 128, 43 – 46, in: KGA V/1, S. 169.  Schleiermacher war, wie im Abschnitt zum historisch-biographischen Ort seiner Examenspredigt bereits dargelegt, im April 1790 nach Berlin gereist.

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II. Predigtanalysen

rung erklärt und auch der erste handschriftliche Hinweis Sydows auf das Jahr 1790, der von diesem selbst später jedoch wieder durchgestrichen wurde,⁵³² wäre damit im Nachhinein bestätigt. Ob bzw. wo Schleiermacher diese Predigt gehalten hat, ist m.W. allerdings leider nicht zu rekonstruieren.

II.2.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation der Predigt sei auf den vorangegangenen Abschnitt zum historisch-biographischen Ort der Predigt, insbesondere auf die Überlegungen zur thematischen Nähe dieser Predigt zum Sonntag Rogate verwiesen.Weitere Hinweise, beispielsweise zum Adressatenkreis der Predigt, können dem weiter unten folgenden Abschnitt „Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext deistischen Gedankengutes“ entnommen werden.

II.2.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt Die „allgemeine Einleitung“ der Predigt beginnt mit dem Zitat der Klage, dass sich die „Religion Jesu“ in den gegenwärtigen Zeiten für „so viele Menschen“ erübrigt zu haben scheint. Schleiermacher führt diese Beobachtung „hauptsächlich[…]“ darauf zurück, dass „selbst diejenigen, welche sich zum Christenthum bekennen, die Vorzüge desselben entweder unerkant laßen, oder sie mißbrauchen und durch ihre Aufführung herabwürdigen.“ Konkretisiert wird diese These sodann am Beispiel des Gebets als einem der „größten Vortheile“ des Christentums.⁵³³ Auch das Gebet wird demnach von „so viele[n], die übrigens richtige Begriffe vom höchsten Wesen zu haben scheinen“, für überflüssig gehalten. Die Ursache dieses Fehlurteils besteht nun einerseits in „[f]alsche[n] Begriffe[n] von der Absicht des Gebets“, andererseits in der „Erfahrung von seinem wenigen Nuzen“. Ausgehend von ersten Schilderungen einer einerseits auf falsche Begriffe, andererseits auf enttäuschte Erfahrung zurückgehenden verfehlten Gebetspraxis leitet Schleiermacher sodann mit der bereits das Predigtthema ankündigenden Bemerkung: „Alles dies würde nicht geschehn, wenn man allezeit die Vorschriften im Auge hätte, die uns Christus selbst in Absicht auf das Gebet gegeben hat“, zum Predigttext, Joh 16,23,⁵³⁴ über. Es folgt, in nur einem Satz, die unmittelbar mit der

 Vgl. das im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche, dieser Predigt von Sydow vorangegebene Blatt.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 16.  Der von Sydow im Wortlaut eingefügte Predigttext gibt nur Joh 16,23b wieder (P 311, SW II/7, 29, 17– 19). Der inhaltliche Duktus der Predigt stimmt mit dieser Präzisierung des Predigttextes

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Disposition verbundene Formulierung des Themas der Predigt: Das „rechte[…] Gebet eines Christen im Namen Jesu“ soll in einem ersten Hauptteil unter dem Gesichtspunkt, „worin es bestehe“, in einem zweiten Hauptteil hinsichtlich der „Vortheile […] die uns dasselbe gewährt“, behandelt werden.⁵³⁵ Im ersten Teil des Hauptteils entwickelt Schleiermacher die formalen und inhaltlichen Kriterien des „rechten Gebet[s] eines Christen im Namen Jesu“. Abzuleiten sind diese Kriterien zunächst einmal von der damit schon genannten, aus dem Predigttext stammenden Vorgabe, dass das rechte Gebet der Jünger „im Namen Jesu“ geschehen müsse. Aus der Untersuchung der Bedeutung dieser Wendung in anderen biblischen Zusammenhängen ergibt sich für das rechte Gebet eines Christen „im Namen Jesu“ einerseits, dass es in formaler Hinsicht an der „Art“, wie Jesus selbst zu beten pflegte, orientiert sein sollte, andererseits, dass die Wahl der Gebetsgegenstände bzw. dass es in inhaltlicher Hinsicht den „Absichten“ Jesu gemäß sein sollte. Dem grundsätzlichen Einwand, dass das im Predigttext formulierte Gebets-Gebot Jesu „nur seine damaligen Jünger betroffen habe[n]“ könne, „für uns aber gar nicht gegeben sei“, begegnet Schleiermacher mit dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit der „Anwendung“ des Gebets-Gebotes. „[A]ndre Zeiten“ und die gegenüber „der Lage der Apostel ganz verschiedne[…] Lage“ der durch Schleiermachers Predigt Angeredeten bringen es demnach mit sich, „daß wir dies Gebot Jesu auf unsere Umstände anwenden müßen“. Das impliziert dann aber beispielsweise die Einsicht, dass die Umstände zu Lebzeiten der Apostel, als die Kirche Jesu nur im gefährdeten „ersten Keim“ vorhanden war, wunderhafte Gebetserhörungen erforderlich machten, während solche angesichts der inzwischen „zu einem großen Baum herangewachsen[en]“ christlichen Kirche nicht mehr für den Fortbestand derselben bzw. der Absichten Jesu notwendig sind. Damit aber ist dargelegt, dass aus gegenüber der Zeit der ersten Christenheit veränderten Wirkungen des Gebets keineswegs auf das prinzipielle Überholtsein desselben geschlossen werden kann. Diesen Überlegungen folgen nun zunächst die formalen Bestimmungen des rechten Gebets im Namen Jesu.⁵³⁶ Ein erstes Kriterium in diesem Zusammenhang ist darin zu finden, dass ein solches Gebet, überein. Dass der Wortlaut des Predigttextes anlässlich der Herausgabe dieser Predigtsammlung in SW II/7 von Sydow eingefügt wurde, ist dem handschriftlichen Original der Predigt ohne Mühe zu entnehmen. Sydow hat den Text dort mit rotbrauner Tinte am Seitenrand ergänzt (vgl. die im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Predigt Nr. III, S. 11v [Foliierung nach hArndt/Virmond]). KGA III/3 verzeichnet demzufolge an dieser Stelle nur „Text. Joh. 16, 23.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 31; das hier kursiv Gesetzte ist in der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 136, 35.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 32– 138, 10. Der erste Teil des Hauptteils beginnt in Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 36.

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II. Predigtanalysen

dem Vorbild Jesu entsprechend, eine gewisse „Einsamkeit“ bzw. völlige Konzentration der „Gedanken“ und der „Absicht“ der Betenden auf das Gebet selbst bzw. auf die Unterhaltung „mit dem höchsten Wesen“ erforderlich macht.⁵³⁷ Als zweites Kriterium in formaler Hinsicht führt Schleiermacher daraufhin aus, dass das rechte Gebet von Christinnen und Christen „aus dem Herzen kommen“ muss, dass die im Gebet gesprochenen „Worte“ also kein „bloß[es]“ Lippenbekenntnis bleiben dürfen, sondern „von den Gedanken und Empfindungen begleitet“ sein müssen, „welche sie ausdrüken sollen“. Das rechte Gebet im Namen Jesu muss einem echten „Bedürfniß entspringen, sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“ bzw. „sich mit Gott zu unterhalten“. Dass „unsre Seele […] von Natur keinen Hang zu so starken Empfindungen dieser Art“ hat, rechtfertigt dann letztendlich allerdings auch die Gebete, die wir nur „zu gewißen Stunden, bei gewißen Gelegenheiten, auszusprechen gewohnt sind“. Sie stellen sozusagen Gelegenheiten dar, „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ sekundär, durch die Gebetspraxis selbst, bei den Betenden zu „veranlaß[en] und herbei[zu]führ[en]“.⁵³⁸ Diesen formalen Kriterien des rechten Gebets folgen daraufhin die die angemessenen „Gegenstände des Gebets“ betreffenden Bestimmungen. Die gegenüber der bedrängten Situation der Apostel veränderte Lage der Schleiermacherschen Predigtgemeinde hat zur Folge, dass die „Sache des Christenthums“ bzw. die „gute Sache der Tugend“ oder die „Absicht Jesu“ weder mit „[u]nsre[n] eignen äußern Angelegenheiten“ noch mit dem „Gute[n] was wir andern zu erweisen […] willens sind“, steht oder fällt. „[A]ls der erste ungezweifelte Gegenstand unsers christlichen Gebets“ bleiben deshalb schlicht: „Wir selbst,

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 34– 139, 7. Die hier wiedergegebene Reihenfolge der formalen Kriterien entspricht der ersten Version des handschriftlichen Originals Schleiermachers (vgl. die im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Depositum 42a. Schleiermacher-Archiv, I.3.2, Mappe 9 befindliche Predigt Nr. III, S. 12v und S. 13 [Foliierung nach hArndt/ Virmond]). Der in dieser ersten Version vorangehende Abschnitt über die zum rechten Gebet nötige Einsamkeit entspricht Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 34– 139, 7 bzw. P 311, SW II/7, 32, 11– 25 und kommt sowohl in KGA III/3 als auch in SW II/7 – der von Schleiermacher selbst bereits im handschriftlichen Original vorgenommenen Umstellung folgend – erst nach dem Abschnitt über die angemessene Gebetsmotivation bzw. über die dem rechten Gebet notwendigerweise zugrunde liegenden Gesinnungen (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33 bzw. P 311, SW II/7, 31, 18 – 32, 10) zu stehen. In der vorliegenden Untersuchung wird die erste Version Schleiermachers beibehalten, da sich durch eine Umstellung dieses Abschnitts eine Inkonsistenz des Gedankengangs ergibt. Z. B. geht der Verweis auf den betenden Christus bzw. auf „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 28) in der Version, die KGA III/3 und Sydow in SW II/7 übernommen haben, mehr oder weniger ins Leere. In Schleiermachers ursprünglich erster Reihenfolge liegt der Rückbezug auf den unmittelbar im vorhergehenden Abschnitt zur Einsamkeit als Exempel angeführten betenden Christus auf der Hand.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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unser eigentliches Ich, unser wahres ewiges Wohl. Daß wir immer beßer, immer mehr von unsern Fehlern befreit werden, dem Ideal des wahren Christen immer näher kommen, die Gebote Jesu immer pünktlicher […] befolgen“. Dass dieser „erste ungezweifelte Gegenstand“ des „christlichen Gebets“ der „Absicht Jesu“ gemäß ist, wird schließlich auch mit dem Verweis auf die diesem Gegenstand entsprechenden Bitten des Vaterunser belegt, mit denen Christus selbst die Jünger gelehrt habe, „nur um solche geistliche Gaben zu bitten“. Nachdem die Priorität dieses Gebetsanliegens unterstrichen wurde, kommt Schleiermacher noch einmal auf „[u]nsere übrigen Angelegenheiten, unsere Verhältniße in der Welt“, etc. zu sprechen. All dies darf und muss ebenfalls Gegenstand unserer Gebete werden, allerdings erst in zweiter Linie. All diese Gegenstände bilden sozusagen eine zweite Klasse von Gebetsgegenständen. Die beiden verschiedenen Klassen von Gebetsgegenständen aber führen zu zwei unterschiedlichen „Art[en] des Gebets“: „Das sittlich gute“ darf im Gebet gefordert und dessen Erfüllung gewiss erwartet werden, die Bitte um „irrdisches Gut“ oder die Abwendung des „zeitliche[n] Uebel[s]“ dagegen darf nur sozusagen als „Frucht von der heftigen Bewegung“ des „Gemüth[s]“ der Betenden vor Gott gebracht werden, die dem Vorbild Jesu in Mk 14,36 parr. entsprechend in der Ergebung in den Willen Gottes und „Seine[…] Leitung“ endet. Mit der abschließenden Feststellung: „Wenn wir so beten, so beten wir auch hier in Jesu Namen“ und „wir können uns aller der guten Folgen getrösten, die ein solches Gebet haben muß“, leitet Schleiermacher zum zweiten Teil seines Hauptteils über, in dem nun die „guten Folgen“ des rechten Gebets „in Jesu Namen“ bedacht werden sollen.⁵³⁹ In einer knappen Zusammenfassung der Ergebnisse des ersten Teils des Hauptteils wiederholt Schleiermacher zunächst noch einmal, inwiefern ein Gebet, das „nicht nach diesen Vorschriften der Schrift eingerichtet ist“, „entweder gar keine oder nur schädliche Folgen“ hat, statt zur „Befolgung“ der Gebote Gottes zu ermuntern, diesen „überhoben“ zu sein vorgibt, „statt Ergebung in den Willen Gottes“ nur das Murren darüber hervorbringt, „daß sich Gott nicht in ihren [i. e. der Betenden eigenen, D.G.] Willen ergeben habe“. Dem rechten Gebet im Namen Jesu dagegen sei als Frucht die „Erhörung“ verheißen, wie Schleiermacher unter Aufnahme des Predigttextes feststellt. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass, wie bei den ersten Jüngern Christi, die Verwirklichung der „Absichten“ und „Befehle“ Jesu „nicht nur der Gegenstand ihrer Wünsche“ bleibe, sondern auch alle Handlungen der Betenden auf dieses „einzige Ziel“ ausgerichtet seien. Um sein Verständnis der Gebetserhörung unter dieser Voraussetzung zu präzisieren, nimmt Schleiermacher im Folgenden zwei mögliche Einwände gegen ein

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 140, 33.

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II. Predigtanalysen

solches Gebetsverständnis auf. Dabei handelt es sich zum einen um den Einwand, dass die Gebetserhörung hinsichtlich der sittlichen „Besserung“ der Betenden unter dieser Voraussetzung letztlich doch nur „die Wirkung unserer eignen Bemühungen“ sei, zum anderen, dass, solange die Herzenswünsche der Betenden nur Gegenstand des Gebets werden dürften, wenn sie „mit den übrigen Einrichtungen Gottes“ übereinstimmten, das rechte Gebet offensichtlich nichts bewirke „als was ohnehin auch erfolgt wäre“.⁵⁴⁰ Beiden Einwürfen begegnet Schleiermacher nun zunächst einmal mit der Feststellung, dass ihnen ein falsches Gebetsverständnis zugrunde liegt: sie „gründen sich auf Begriffe vom Gebet welche es nicht zu einem Mittel machen uns im Guten zu stärken, sondern uns aller Bemühung um dasselbe zu überheben.“ Dem ersten Einwand, das Gebet um die sittliche Besserung der Betenden betreffend, setzt Schleiermacher des Weiteren entgegen, dass dieses Gebet keine die sittlichen Ordnungen außer Kraft setzende „übernatürliche Wirkung“ haben dürfe, die etwa zur Folge hätte, dass der „Bösewicht“ allein aufgrund eines „aufrichtigen Seufzer[s] für sein Heil“ dem „Fromme[n]“ gleichgestellt würde. Die „Kraft“ bzw. der „Beistand“, die bzw. den dieses Gebet dennoch mit sich bringt, besteht laut Schleiermacher vielmehr darin, den Betenden Empfindungen und Einsichten zu erschließen, die „unsre Kenntniß deßen was uns noch fehlt, und unsern Eifer im Guten [zu] vermehren“ vermögen. So bedarf dieses Gebet auch keiner „fremde[n] Kraft von außen“, die Erfahrung bzw. „Probe“ auf’s Exempel zeigt vielmehr, dass „es seine eigne Belohnung bei sich führt, in der Wirkung welche es unmittelbar in dem Herzen des betenden hervorbringt.“⁵⁴¹ Den zweiten Einwand, „äußere Angelegenheiten“ bzw. „unsre irdische Glükseligkeit und Ruhe“ als Gebetsgegenstände betreffend, weist Schleiermacher zunächst einmal schlicht zurück. Die Erfüllung der „kurzsichtigen, thörigten Wünsche“ der Menschen könne, wenn sie der Vorsehung und dem Willen des „allweise[n], de[s] allgütige[n]“ und „Allmächtigen“ entgegen stehe, gar nicht zum ernsthaften Gebetsanliegen des „nachdenkende[n]“ Menschen werden. Der Sinn und Zweck des Gebets in solchen Angelegenheiten besteht vielmehr in der Läuterung und Reinigung der eigenen „oft so verderblichen Wünsche“, die letztlich in deren Unterordnung unter „unser[en] ersten einzigen Zwek“: „unsere wahre höhere überirdische Bestimmung“ oder auch unsere „wahre[…] sittliche[…] Vollkommenheit“ münden. Die solcherweise vollzogene Ergebung des eigenen Willens in den Willen Gottes entspricht dann aber wieder dem Gebet im Namen Jesu und stellt sozusagen den „natürliche[n] Gang“ dar, „den unsre Seele bei einem aufrichtigen Gebet nimmt“. Als Folgen des rechten

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 34– 142, 8.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 143, 12.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Gebets im Namen Jesu ergeben sich somit als „schönste Erhörung“ desselben die Überwindung der „unordentliche[n] Obermacht unserer Begierden“, eine in der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes gründende „Selbstzufriedenheit“ der Betenden, der darin wurzelnde Zustand von „Glük und Ruhe“ sowie eine „Glükseligkeit“, die nicht „auf dem Eindruk“ äußerer Gegebenheiten, sondern „auf der GemüthsVerfaßung“ der Betenden selbst beruht, kurz gesagt also: ein „Zustand von Ergebung und Gelassenheit“, der jedes Leid und Glück in angemessener Weise ertragen und annehmen lässt.⁵⁴² Die beiden entscheidenden Folgen des rechten Gebets im Namen Jesu bestehen also darin, dass es „so viel beiträgt uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“. Auf dem Hintergrund dieser Zusammenfassung seines Gedankenganges beendet Schleiermacher seine Predigt mit einer Reihe von Aufforderungen, das Gebet recht zu achten, es zu nutzen und „dankbar im Namen Jesu also zu ihm [zu] beten“.⁵⁴³ Aus dem hier nachgezeichneten Gedankengang ergibt sich folgende Skizze der Predigtdisposition:

EXORDIUM: Allgemeine Einleitung: Narratio: Die Ursachen einer „zu unsern Zeiten“ weit verbreiteten Ablehnung des Gebets sind „[f]alsche Begriffe von der Absicht“ desselben und „eine traurige Erfahrung von seinem wenigen Nuzen“: – Ratiocinatio/syllogismus, erster Teilgedanke: Die „zu unsern Zeiten“ zu beklagende „Gleichgültigkeit“ gegenüber der „Religion Jesu“ gründet im Verkennen oder im Missbrauch der Vorzüge derselben. – Ratiocinatio/syllogismus, zweiter Teilgedanke: Einer der größten Vorzüge der Religion Jesu ist das Gebet. Erster Schritt der Abfolge des status qualitatis ⁵⁴⁴ der quaestio, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte: Darlegung der Meinung: Es sollte nicht gebetet werden (in der Form der subiectio ⁵⁴⁵ bzw. sermocinatio).

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 12– 145, 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 24.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 233, S. 126 f.: Im genus deliberativum, dem diese Predigt bzw. religiöse Rede zuzurechnen ist (vgl. unten Abschnitt II.2.1.4), ist die „judiciale[…] Aussage-Abfolge Fecisti – Feci, sed iure – An iure fecerit“ des status qualitatis, also der Frage nach der Qualität des verhandelten dubium oder der zur Diskussion stehenden quaestio, sinngemäß übertragen bzw. umgewandelt in die Aussage-Abfolge „Non faciendum – Faciendum respectu utilitatis – An respectu utilitatis faciendum“. In der vorliegenden Predigt erfolgt der erste Schritt dieser Abfolge, „Non

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II. Predigtanalysen



Ratiocinatio/syllogismus, Schlussfolgerung: Die Ursachen der Ablehnung des Gebets bestehen in „[f]alsche[n] Begriffe[n] von der Absicht“ desselben und „eine[r] traurige[n] Erfahrung von seinem wenigen Nuzen“. Descriptiones: Verschiedene Beispiele einer aus den beiden genannten Ursachen folgenden falschen Gebetspraxis. Vorweggenommene summa: „Alles dies würde nicht geschehn,“ bzw. der „rechte […] Gebrauch“ des Gebets wäre gewährleistet, „wenn man allezeit die Vorschriften im Auge hätte, die uns Christus selbst in Absicht auf das Gebet gegeben hat“.⁵⁴⁶ Text: Joh 16,23⁵⁴⁷ Einleitung des Themas aus dem Text: „Wir wollen nach Anleitung dieser Worte […]“. Thema bzw. propositio ⁵⁴⁸: „[V]on dem rechten Gebet eines Christen im Namen Jesu reden“. Divisio bzw. partitio⁵⁴⁹: I. „[W]orin es bestehe“. II. Über „die Vortheile […] die uns dasselbe gewährt“.

ARGUMENTATIO: I. Worin das „rechte[…] Gebet eines Christen im Namen Jesu“ besteht⁵⁵⁰ (zweiter Schritt der Abfolge des status qualitatis ⁵⁵¹ der quaestio, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte):

faciendum“, in der sermocinatio der Gegenpartei: Es sollte nicht gebetet werden. Der zweite Schritt, hier sinngemäß am besten als „Faciendum [recte]“ (vgl. Lausberg: Handbuch, § 55, S. 52 und § 89. b), S. 66) zu fassen, bildet den Gegenstand des ersten Teils des Hauptteils der Predigt: Was es bedeutet, recte, also den Vorschriften Christi gemäß bzw. im Namen Jesu, zu beten. Der dritte Schritt dieser Abfolge, „An [recte] faciendum“ bzw. die letztendliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob recte, d. h. den Vorschriften Christi gemäß bzw. im Namen Jesu, gebetet werden sollte oder nicht, wird schließlich im zweiten Teil des Hauptteils und im Schlussteil der Predigt verhandelt (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 34– 145, 24).  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 771, S. 381.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 136, 30.  Zu vergleichen ist S. 123, Anm. 534 der vorliegenden Untersuchung.  Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19.  Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 31– 35.  Im genus deliberativum führt der zweite Schritt des status qualitatis das „Faciendum respectu utilitatis“ bzw. das „Faciendum [recte]“ aus (vgl. Lausberg: Handbuch, § 233, S. 126 f.; § 55, S. 52; § 89. b), S. 66). Inhaltlich setzt sich der erste Teil des Hauptteils der vorliegenden Predigt von daher

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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I.1 Definitio: „Was mag er wol unter dem Ausdruk verstanden haben, daß sie in Seinem Namen beten sollen?“ (Interpretation der voluntas legumlatoris ⁵⁵²): – Scriptum/vox ⁵⁵³ der gegebenen Norm bzw. Vorschrift: „[U]nser Erlöser“ hat „seinen Jüngern das Gebet überhaupt […] empf[o]hlen“ sowie „die besondre Vorschrift die den Inhalt unseres Textes ausmacht“: „in Seinem Namen“ zu beten. – Similitudines: Die von Christus gebrauchte Wendung „in meinem Namen“ im Kontext der Sendung der Jünger und der Beauftragung der Jünger zur Lehre (zwei „Rechtsanalogie[n]“⁵⁵⁴) sowie als Fazit dieser beiden similitudines die entsprechende similitudo auf der Ebene der gegenwärtigen, allgemein menschlichen Erfahrung (diese similitudo enthält bereits beide Teilaspekte der definitorischen Periphrase). – Definitorische Periphrase ⁵⁵⁵ der Vorschrift, im Namen Jesu zu beten: Wir sollen erstens „auf eben die Art beten, wie Er immer“ gebetet hat; wir sollen zweitens „um das bitten wovon wir wißen, daß es seinen Absichten gemäß sei, daß wir es erlangen.“⁵⁵⁶ I.2 Anticipatio: Die gegenüber den Zeiten Jesu und der Apostel veränderten Früchte bzw. Wirkungen des Gebets bedeuten nicht, dass das Gebot, im Namen Jesu zu beten, „nur seine damaligen Jünger betroffen habe“, sondern „daß andre Zeiten eine andre Anwendung desselben erheischen“.⁵⁵⁷ I.3 Ausführung der definitorischen Periphrase der Vorschrift, im Namen Jesu zu beten: I.3.1 Was es in formaler Hinsicht bedeutet, „in dem Geist, auf die Art [zu] beten, wie er es zu thun gewohnt war“. – Erster Aspekt: „[I]n dem Geist, auf die Art [zu] beten,wie er es zu thun gewohnt war“, erfordert Einsamkeit bzw. nicht unbedingt den Rückzug aus, aber doch

mit der Erörterung der Frage auseinander, wie recte, d. h. im Namen Jesu bzw. den Vorschriften Christi entsprechend, zu beten sei.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 110, S. 75 f.; § 138. 2), S. 85; §§ 200 – 202, S. 109 f. In der hier durchgeführten definitio werden die ursprünglich dem genus iudicale zugehörigen Kategorien der verhandelten quaestio entsprechend adaptiert.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 201, S. 109.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 425, S. 234. Basis der Analogien ist in der vorliegenden Predigt natürlich die Heilige Schrift bzw. das Neue Testament, insofern handelt es sich nur im übertragenen Sinne um „Rechtsanalogien“.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 110, S. 75 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 36 – 137, 16.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7.

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II. Predigtanalysen

die Unabhängigkeit von den Einflüssen der menschlichen Gesellschaft sowie von allen irdischen Absichten in der ausschließlichen Konzentration auf das Gebet selbst bzw. auf die Unterhaltung „mit dem höchsten Wesen“. – Zweiter Aspekt: Ein Gebet mit bloßen Worten, die „nicht von den Gedanken und Empfindungen begleitet sind, welche sie ausdrüken sollen“, ist kein Gebet „im Geist und im Namen Jesu“. „Das Gebet eines Christen“ muss vielmehr „aus dem Herzen kommen, aus der […] Empfindung von der Nothwendigkeit sich mit Gott zu unterhalten“ bzw. „aus dem Bedürfniß […], sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“ (contrapositum bzw. antitheton). – Gebete, die wir, ohne die entsprechenden „Gedanken und Empfindungen“ zu haben, lediglich aus Gewohnheit bzw. zu festgelegten Zeiten und Anlässen beten, sind aber nicht grundsätzlich abzulehnen, da ihre Bedeutung darin besteht, dass „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ durch sie „veranlaßt und herbeigeführt werden“ können (correctio).⁵⁵⁸ I.3.2 Was es in inhaltlicher Hinsicht bedeutet, im Namen Jesu zu beten: Von den „Gegenstände[n] des Gebets“, deren Übereinstimmung mit den Absichten Jesu und deren „Nothwendigkeit zur Erreichung derselben“ wir „mit voller Gewißheit denken können“. – Weder „[u]nsre eignen äußern Angelegenheiten“ noch „das Gute was wir andern zu erweisen […] willens sind“ bzw. „das Gelingen unsrer Unternehmungen“ ist für die „Sache des Christenthums“ bzw. „die gute Sache der Tugend“ „unausbleiblich nothwendig[…]“. Beide Arten von Gebetsanliegen entsprechen also nicht notwendig der „Absicht Jesu“ (negatio). – Als „erste[r] ungezweifelte[r] Gegenstand unsers christlichen Gebets“ bleiben von daher „[w]ir selbst, unser eigentliches Ich, unser wahres ewiges Wohl“ bzw. die christlich-sittliche Besserung und Vervollkommnung des Menschen oder auch schlicht: „[d]as sittlich gute“ (positio). Diese Gebetsanliegen entsprechen der auctoritas der von Jesus selbst überlieferten Bitten des Vaterunser „um solche geistliche[n] Gaben“. – In zweiter Linie dürfen dann auch „[u]nsere übrigen Angelegenheiten“ zu Gegenständen des christlichen Gebets werden (correctio). – Summa: Die beiden unterschiedlichen Kategorien von Gebetsgegenständen ergeben zwei verschiedene Formen des Gebets: das Gebet um das „sittlich gute“ darf eine „Forderung“ sein, das Gebet, „irrdisches Gut“ oder „zeitliches Uebel“ betreffend, „muß die Frucht von der heftigen Bewegung seyn in welcher sich unser Gemüth befindet“, und im und durch den Verlauf des

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 8 – 139, 7.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Gebets dem Willen Gottes unterworfen werden. Diese Bewegung oder dieser Vorgang entspricht der auctoritas bzw. dem Vorbild des Gebets Jesu in Gethsemane.⁵⁵⁹ I.4 Transitus zu den „guten Folgen“ des rechten Gebets im Namen Jesu.⁵⁶⁰ II. Über die Früchte bzw.Vorteile, die das „rechte[…] Gebet eines Christen im Namen Jesu“ hervorbringt⁵⁶¹ (dritter Schritt der Abfolge des status qualitatis ⁵⁶² der quaestio, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte): II.1 Negatio: „Ein Gebet, welches nicht nach diesen Vorschriften der Schrift eingerichtet ist, hat entweder gar keine oder nur schädliche Folgen“: falsche Begriffe des Gebets führen dazu, dass man es für „gleichgültig“ hält oder „sich ein Verdienst daraus“ macht und „der etwas schwereren Befolgung“ der göttlichen „Gebote überhoben zu seyn“ meint. Falsche Vorstellungen vom Nutzen des Gebets führen zur Verkennung der „wahre[n] Absicht des Gebets“: „statt Ergebung in den Willen Gottes hervorzubringen murrt man […] daß sich Gott nicht in ihren [i. e. der Betenden eigenen, D.G.] Willen ergeben habe“. II.2 Positio: „Das Gebet im Namen Jesu hingegen bringt“ als Frucht bzw. „Verheißung“ die „Erhörung unsers Gebets“ hervor.⁵⁶³ II.3 Praeparatio: Einwände gegen diese Verheißung „gründen sich auf Begriffe vom Gebet welche es nicht zu einem Mittel machen uns im Guten zu stärken, sondern uns aller Bemühung um dasselbe zu überheben“. – Einschränkendes Zugeständnis: „Wenn wir das einärndten wollen was Christus seinen Jüngern für ihr Gebet versprach, so müßen wir nicht nur auf das sehn was er ihnen ausdrüklich gebot, sondern auch auf das, was er bei ihnen voraussezte“: „Seine Absichten zu erreichen“ war „nicht nur der Gegenstand ihrer Wünsche“, sondern „das einzige Ziel, welches sie unverrükt  Vgl. Mk 14,32– 42; Mt 26,36 – 46; Lk 22,39 – 46.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 140, 33.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 32– 35.  Im genus deliberativum verhandelt der dritte Schritt der Abfolge des status qualitatis die Frage „An respectu utilitatis faciendum“ bzw. „An [recte] faciendum“ (vgl. Lausberg: Handbuch, § 233, S. 126 f.; § 55, S. 52; § 89. b), S. 66). Für den zweiten Teil des Hauptteils und den Schlussteil der vorliegenden Predigt ergibt sich als Gegenstand von daher, dass und warum recte, d. h. im Namen Jesu bzw. den Vorschriften Christi entsprechend, gebetet werden sollte und dies nicht zu unterlassen ist.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 34– 141, 13.

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bei allen ihren Handlungen im Auge behielten, zu welchem alle ihre Schritte hinleiteten“ (concessio mit contrarium: es gibt Menschen, die „sich bloß mit Empfindungen begnügen, ohne daß ihre Handlungen denselben entsprechen“). Erster Einwand gegen dieses Zugeständnis, auf das Gebet „um unsere Besserung“ bezogen: unter solchen Voraussetzungen „ist diese Besserung die Wirkung unserer eignen Bemühungen, und das Gebet hat gar keinen Theil daran“ (sermocinatio). Zweiter Einwand gegen dieses Zugeständnis, auf das Gebet um „Gewährung“ von irdischen Gütern bzw. Herzenswünschen bezogen: wenn um diese nur gebeten werden darf, „in so fern […] sie mit den übrigen Einrichtungen Gottes bestehn können“, so bringt das Gebet „nichts zuwege, als was ohnehin auch erfolgt wäre“ (sermocinatio).

II.4 Genauere Betrachtung dieser beiden Einwände, um zu „sehn was es eigentlich mit der Erhörung unsres Gebets für eine Bewandniß habe“.⁵⁶⁴ II.4.1 Widerlegung des ersten Einwands: Das Gebet um unsere Besserung und „unser sittliches Wohl“ hat „nicht erst nöthig daß ihm eine fremde Kraft von außen beigelegt werde; eben so wenig ist es unnüz“, „die Probe“ bzw. Erfahrung lehrt vielmehr, dass es seine „Wirkung […] unmittelbar in dem Herzen des betenden hervorbringt“. – „Sollte das Gebet allein“, also sozusagen als „übernatürliche Wirkung“, „uns tugendhafter und beßer machen, so würde das die größte Unordnung in der sittlichen Welt anrichten“ (concessio mit comparatio: der „Bösewicht“ – „der Fromme“). – Dennoch ist das Gebet nicht „ohne Kraft“, sondern „muß seiner Natur nach unsre Kenntniß deßen was uns noch fehlt, und unsern Eifer im Guten vermehren“, indem es einerseits unsere „bloße[n] Vorsäze“ zu der Bereitschaft umstimmt, „im Vertraun auf die höhere Kraft, deren Beistand wir uns erflehen“, alle eigenen Neigungen aufzudecken und diese den göttlichen Geboten aufzuopfern (mit zwei rhetorischen Fragen bzw. interrogationes) und indem es andererseits aufgrund der mit dem Gebet verbundenen, über die menschliche Sphäre erhebenden Perspektive sowie der aus dieser resultierenden Einsicht in „unser[…] Verhältniß[…] gegen Gott“ notwendig dazu ermuntert, „alle Kräfte anzuwenden um“ die göttliche „Güte mehr zu verdienen“.⁵⁶⁵

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 13 – 142, 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 143, 12.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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II.4.2 Widerlegung des zweiten Einwands: Das „Gebet um Befriedigung unsers Herzens und deßen was es begehrt ist freilich keine Schuzwehr für unsre oft so eitlen oft so verderblichen Wünsche“, aber es vermag zur Ergebung in den Willen Gottes und der damit verbundenen Gelassenheit zu führen, indem den Betenden ihre „wahre höhere überirdische Bestimmung“ zum Maß und Ziel aller übrigen Wünsche wird. – Der Einwand, dass „das Gebet keine Aenderung in den Rathschlüßen des Höchsten machen könne“, ist grundsätzlich zurückzuweisen, da kein „nachdenkende[r]“ Mensch „etwas andres wollen“ kann, „als was uns der allweise, der allgütige von Ewigkeit zugedacht hat“ (anticipatio). – „Ein Gebet um Befriedigung unsers Herzens und deßen was es begehrt“ aber ist sinnvoll, weil es die Gedanken der Betenden zu „läutern und reinigen“ und der „Thätigkeit“ der Betenden „die rechte Richtung anzuweisen“ vermag (mit contrapositum bzw. antitheton). – „Die lebhafte Vorstellung Gottes“ bringt zudem die entscheidende Einsicht in die Vorläufigkeit und Fehlbarkeit menschlicher Wünsche mit sich: „Allmählich kommen wir zu uns selbst, unsere wahre höhere überirdische Bestimmung stellt sich uns dar“, wird zum Maßstab aller anderen Wünsche und führt zur Ergebung in den Willen Gottes und der dieser Ergebung entsprechenden Gelassenheit der Betenden.⁵⁶⁶ II.4.3 Summa: „[W]as es eigentlich mit der Erhörung unsres Gebets für eine Bewandniß habe“⁵⁶⁷: – Der „natürliche Gang, den unsre Seele bei einem aufrichtigen Gebet nimmt“, ist also, dass wir „damit anfangen daß wir Gott unsre eignen Absichten unabhängig von den seinigen vortragen“ und dabei „enden […], daß der Wille Gottes unbedingt der unsrige wird“. – Als Gewinn dieses im Grunde innerpsychischen Prozesses ergibt sich, dass die „unordentliche Obermacht unserer Begierden […] unserm großen Zwek, nemlich der wahren sittlichen Vollkommenheit untergeordnet“ wird, sowie – in Verbindung damit – der hohe bzw. für „ein eingeschränktes Wesen“ höchstmögliche Grad an „Selbstzufriedenheit“ erreicht wird, der daraus resultiert, dass die Betenden sich im Einklang mit den Absichten Gottes hinsichtlich ihres „Zwek[es]“ in der Welt befinden. – Die „Erhörung unseres Gebets“ besteht von daher darin, dass „[u]nsre Bitte um Glük und Ruhe […] uns glüklich und zufrieden mach[t], auch wenn uns“ der konkrete Gegenstand unserer Bitte „nicht zu Theil wird“. Begründet liegt

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 12– 144, 22.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 13 f.

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II. Predigtanalysen

dies darin, dass „[u]nsere Glükseligkeit“ letztlich nicht auf den äußeren Gegenständen selbst beruht, sondern „auf der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegensezen können“.⁵⁶⁸

PERORATIO: Recapitulatio: Aufforderung zum gemeinsamen Gebet: „Wenn also das Gebet im Namen Jesu […] so viel beiträgt uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen, o so laßt uns […] froh und dankbar im Namen Jesu also zu ihm beten“ (zwei anaphorische Konditionalsätze, vier anaphorische Aufforderungen zur Wertschätzung und Anwendung der Vorzüge des Gebets).⁵⁶⁹ Amen.

II.2.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt Zu bemerken ist an dieser Stelle zunächst einmal, dass sich die hier vorliegende Predigt durch ihren konsequent durchgeführten argumentativen Stil auszeichnet. Im Grunde wird hier die quaestio bzw. das dubium, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte, geradezu auf vorbildliche Weise den drei Schritten der Abfolge des status qualitatis gemäß einer Antwort zugeführt. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass selbst der erste Schritt dieser Abfolge, also die grundsätzliche Ablehnung des zur Disposition stehenden Handelns („Non faciendum“),⁵⁷⁰ in der Einleitung als sermocinatio der Gegenpartei aufgenommen und ausgeführt wird. Zudem unterstützen die in den beiden Teilen des Hauptteils an sich entsprechender Stelle verwendeten Stilmittel der anticipatio und der praeparatio oder auch die in beiden Teilen des Hauptteils mehrfach auftretenden concessiones und correctiones diesen Eindruck noch einmal auf ihre Weise: wie in der politischen Rede geht es hier darum, das Für und Wider einer zur Disposition stehenden Handlung argumentativ auszuloten und schließlich zur rechtmäßigen Ausführung dieser Handlung, hier also zur rechten Gebetspraxis, zu raten. Die Zugehörigkeit der hier untersuchten Predigt zum genus deliberativum steht damit außer Frage. Auffällig ist in diesem Kontext dann aber die große Nähe bzw. Entsprechung von Passagen der Predigt zum genus iudicale: Die Frage nach der Rechtmäßigkeit  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 145, 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 24.  Zu den Schritten der Abfolge des status qualitatis ist hier wie im Folgenden zu vergleichen: Lausberg: Handbuch, § 233, S. 126 f.; § 55, S. 52; § 89. b), S. 66.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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bzw. angemessenen Praxis des Betens im Namen Jesu bzw. den Vorschriften Christi gemäß wird im ersten Teil des Hauptteils der Predigt im Grunde wie ein Normeninterpretationskonflikt⁵⁷¹ aufgearbeitet, dessen Ziel es ist, das der voluntas legumlatoris gemäße Handeln – hier also das Beten im Namen Jesu bzw. den Vorschriften Christi gemäß – angemessen definieren zu können. Die sich unmittelbar daran anschließende anticipatio stellt sodann im Grunde die Bearbeitung eines Normenanwendungskonfliktes⁵⁷² dar. Nicht verwunderlich ist es von daher, dass die Berufung auf die auctoritas Jesu im Grunde die gesamte Predigt durchzieht.⁵⁷³ Eine unverkennbar logische Konnotation erhält die Argumentation der Predigt bereits durch die gleich zu Beginn der Einleitung verwendete Figur der ratiocinatio bzw. des syllogismus. In inhaltlicher Hinsicht impliziert die Schlussfolgerung dieser ratiocinatio bzw. dieses syllogismus, die durch die subiectio und die gleich zweifache anaphorische Aufnahme der Ausgangsfrage derselben, „woher […]?“, vorbereitet und nicht zuletzt dadurch als erster Kulminationspunkt der Predigt zu erkennen gegeben ist, bereits die beiden wesentlichen Aspekte der vorliegenden Predigt: es wird einerseits um die „Begriffe von der Absicht des Gebets“ gehen, andererseits um die „Erfahrung von seinem […] Nuzen“.⁵⁷⁴ Deutlich zu erkennen ist die Schulmäßigkeit dieser Herangehensweise:⁵⁷⁵ Begriff und Erfahrung werden gleichermaßen herangezogen, um den zu verhandelnden Gegenstand näher zu bestimmen. Nur noch einmal ergänzt werden soll der Hinweis, dass mit diesen beiden Aspekten – Begriff der Absicht und Erfahrung des Nutzens des Gebets – gleichzeitig die Inhalte der beiden Teile des Hauptteils der vorliegenden Predigt eingeführt werden. Während der erste Teil des Hauptteils also den Begriff der Absicht bzw. die definitio des Gebets im Namen Jesu in formaler wie inhaltlicher Hinsicht erarbeitet und so zugleich den zweiten Schritt der Abfolge des status qualitatis abhandelt („Faciendum [recte]“), hat der zweite Teil des Hauptteils der Predigt die Erfahrung des Nutzens des Gebets zum Thema und führt damit zugleich den dritten Schritt  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 138. 2), S. 85.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 138. 1), S. 85.  Verwiesen sei für den ersten Teil des Hauptteils auf Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 31 f.; 138, 34 f.; 139, 31– 39; 140, 26 – 32. Für den zweiten Teil des Hauptteils auf Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 14– 21; 144, 16 f.; 144, 22– 24.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 4– 8.  Zur Halleschen, insbesondere Eberhardschen, auf Begriff und Erfahrung bzw. auf der „Einheit von Beobachtung und Abstraktion umfassender Induktion einerseits, Deduktion andererseits“ beruhenden wissenschaftlichen Erkenntnislehre ist u. a. zu vergleichen Herms: Herkunft, S. 50 – 61 (Zitat auf S. 58) und Oberdorfer: Geselligkeit, S. 116 – 119.

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II. Predigtanalysen

der Abfolge des status qualitatis der quaestio, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte, aus („An [recte] faciendum“). Bemerkenswert ist dabei, dass die negatio zu Anfang des zweiten Teils des Hauptteils beide Aspekte, Begriff und Erfahrung des Nutzens des Gebets, aufnimmt und diese und zugleich damit dann auch die beiden Teile des Hauptteils dadurch sozusagen wie eine Klammer miteinander verbindet. Dadurch wird zudem deutlich, dass die beiden Aspekte, Begriff und Erfahrung, hier nicht grundsätzlich voneinander getrennt dargestellt werden. So wird die entscheidende Erfahrung vom Nutzen des Gebets (Ergebung in den Willen Gottes) dann auch bereits am Schluss des ersten Teils des Hauptteils vorweggenommen,⁵⁷⁶ andererseits wird der Begriff der Absicht des Gebets, der ja eigentlich Thema des ersten Teils des Hauptteils war, im zweiten Teil des Hauptteils durch die Definition des Gebets als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“ noch einmal entscheidend präzisiert.⁵⁷⁷ Das zum Begriff der Absicht des Gebets bzw. zu der Frage, worin das rechte Gebet des Christen im Namen Jesu bestehe, im ersten Teil des Hauptteils in inhaltlicher Hinsicht Ausgeführte hatte zur Bestimmung zweier unterschiedlicher Formen des Gebets geführt (einerseits die das sittlich Gute, andererseits die die äußeren oder irdischen Angelegenheiten des Menschen betreffende Form des Gebets), deren gemeinsames Kriterium letztlich die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes bzw. mit den Absichten Jesu war. Mit der Definition des Gebets als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“ wird im zweiten Teil des Hauptteils nun zwar kein neuer Begriff der Absicht beider Formen des Gebets eingeführt, da das sittlich Gute in jedem Fall mit dem Willen Gottes bzw. mit den Absichten Jesu übereinstimmt bzw. „uns nothwendig“ ist,⁵⁷⁸ aber es fällt doch auf, dass der Begriff der Absicht des Gebets hier in inhaltlicher Hinsicht auf das sittlich Gute hin präzisiert bzw. fokussiert wird. Und in dieser Form wird der Begriff der Absicht des Gebets dann im weiteren Verlauf des zweiten Teils des Hauptteils auch den Überlegungen hinsichtlich der Erfahrung des Nutzens bzw. der Erhörung des Gebets zugrunde gelegt. Der Schwerpunkt der Argumentation der Predigt liegt damit deutlich auf dem Aspekt des sittlich Guten. Denn auf diesen Punkt zielt nicht nur der eben zitierte Begriff der Absicht des rechten Gebets im Namen Jesu als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“,⁵⁷⁹ dieser Aspekt bildet auch das maßgebliche Kriterium der Erfahrung des Nutzens des Gebets, indem selbst der Nutzen des die äußeren oder irdischen Angelegenheiten des Menschen betreffenden Gebets (Ergebung in den Willen Gottes und die dieser Ergebung entsprechende Gelassenheit) letztlich auf    

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 7– 29. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 12. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 8 – 11. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 12.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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der Einsicht beruht, dass alles andere „unserm großen Zwek, nemlich der wahren sittlichen Vollkommenheit untergeordnet“ werden muss.⁵⁸⁰ Festzustellen ist daneben allerdings auch, dass der Nutzen gerade des die äußeren oder irdischen Angelegenheiten betreffenden Gebets hier nicht restlos im Sittlichen aufgeht. Denn in dem durch die Gebetserhörung hervorgerufenen „Zustand von Ergebung und Gelassenheit“ ist, dem sittlichen Aspekt freilich untergeordnet, auch noch der „wahre[…] gemäßigte[…] Werth“ „des äußern Glüks“ im Blick. „Unsere Glükseligkeit beruht“ eben nicht nur auf der Freude an sittlicher Vervollkommnung o. ä., sondern, in gewisser Weise auf noch grundsätzlicherer Ebene, auf „der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegen[zu]sezen“ vermögen.⁵⁸¹ Im Schlussteil der Predigt wird der Nutzen des rechten Gebets im Namen Jesu konsequenterweise zweifach ausdifferenziert. Denn in dem Konditionalgefüge, das den vier abschließenden anaphorischen Aufforderungen („laßt uns“) vorangeht, heißt es zusammenfassend, dass das rechte Gebet im Namen Jesu „uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“ vermag. Die darauf folgenden, gerade erwähnten, abschließenden Aufforderungen des Schlussteils der Predigt, das rechte Gebet im Namen Jesu wertzuschätzen und zu praktizieren, laufen dann allerdings wieder, dem Schwerpunkt der Argumentation der Predigt entsprechend, auf den Aspekt des Sittlichen, bzw. auf die Aufforderung zur Bitte um den göttlichen „Beistand zur Tugend zur Förderung im Guten“ zu.⁵⁸²

II.2.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention Das Thema „von dem rechten Gebet eines Christen im Namen Jesu“⁵⁸³ wird in der vorliegenden Predigt, wie dargelegt, anhand der konsequenten Durchführung des status qualitatis der quaestio, ob ein Christ bzw. eine Christin beten sollte, seinem Ziel zugeführt. Während die Formulierung des Themas noch sowohl den zweiten wie auch dritten Schritt der Abfolge des status qualitatis dieser quaestio und damit beide Teile des Hauptteils umfasst (Begriff der Absicht sowie Erfahrung des Nutzens des rechten Gebets im Namen Jesu), formuliert die Predigtintention den Zielpunkt dieser Abfolge: im Predigtschluss wird ausgehend von der zweifachen Ausdifferenzierung des Nutzens des Gebets („uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“) sowie hinsichtlich des    

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 38. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 1– 14. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 24. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 32 f.

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II. Predigtanalysen

im zweiten Teil des Hauptteils präzisierten Begriffs der Absicht des Gebets („dieses Mittel zu unserer Beßerung“) anhand von vier anaphorischen Aufforderungen zur Wertschätzung und zum rechtmäßigen Praktizieren des zur Disposition stehenden Gebets im Namen Jesu geraten.⁵⁸⁴ Als Predigtthema und -intention unmittelbar miteinander verbindendes Element ist dabei die Verheißung der Erhörung des Gebets zu erkennen. Denn sowohl Predigtthema als auch Predigtintention beruhen auf dieser: Das Predigtthema ausgehend vom Predigttext Joh 16,23, die Predigtintention, ausgehend von den diesbezüglich v. a. im zweiten Teil des Hauptteils der Predigt zu findenden grundsätzlichen Überlegungen.

II.2.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt II.2.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens Gleich in der Einleitung der vorliegenden Predigt wird das Gebet als ein „Vorzug[…]“ der christlichen Religion bezeichnet, „wobei sich die menschliche Würde in ihrer ganzen Größe zeigt“.⁵⁸⁵ Die Grundlage dieser Würde ist nun aber in einem spezifischen Verhältnis des Menschen zum „höchsten Wesen“ angelegt: indem „wir zu Gott unserm Schöpfer beten“, versichern wir uns „des trostreichen Verhältnißes […][,] in welchem wir gegen ihn, als Kinder gegen einen liebreichen und gütigen Vater stehn.“ Es ist also zunächst einmal die Metapher des „vertrauungsvoll[en]“ Verhältnisses zwischen Vater und Kindern, die hier das Interpretament für das Verständnis der „menschliche[n] Würde in ihrer ganzen Größe“ liefert.⁵⁸⁶ Dem höchsten Wesen, das als „liebreiche[r] und gütige[r] Vater“ charakterisiert wird, stehen die Menschen als Bittende und Abhängige, aber eben auch – der Vaterbeziehung entsprechend – als in begründeter Weise Vertrauende

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 24.  Auf dem Hintergrund der späteren Bemerkungen zur Kunst bzw. zum Spiel, deren bzw. dessen Charakteristikum es gegenüber der organisierenden und der erkennenden Tätigkeit ist, in spezifischer Weise die menschliche Freiheit sowie die menschliche Würde zum Ausdruck zu bringen, kann an dieser Stelle, mit Blick auf Schleiermachers Werk sozusagen antizipatorisch, der Verweis auf eine Entsprechung zwischen religiöser Gebetspraxis und künstlerischer Tätigkeit festgestellt werden (vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen Schleiermachers im Grundheft seiner Ästhetikvorlesung von 1819, nachzulesen z. B. bei: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik [1819/25]. Über den Begriff der Kunst [1831/32], hg.v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984 [Schleiermacher: Ästhetik], S. 26 f.).  Auf die Ästhetik bezugnehmend kommt damit natürlich zugleich mit der Übereinstimmung ein qualitativ bestimmter Unterschied zu Kunst und Spiel zum Ausdruck.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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gegenüber.⁵⁸⁷ Die Grundlage dieser Verhältnisbestimmung wiederum bilden letztlich die beiden auch in Schleiermachers Examenspredigt begegnenden Elemente der cognitio hominis bzw. der menschlichen Selbsterkenntnis sowie der cognitio Dei bzw. der Erkenntnis des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Der vorliegenden Predigt ist nun zu entnehmen, dass sich dem Menschen beides im Grunde erst im Gebetsvorgang, d. h. in der spezifischen Situation des Menschen coram Deo, in angemessener Weise erschließt. In komprimierter Form findet sich diese Einsicht an einer Stelle im zweiten Teil des Hauptteils der Predigt, die die Wirkung des Gebets wie folgt beschreibt: „Indem wir uns ferner im Gebet über uns selbst erheben, weit über die gewöhnliche menschliche Sphäre hinaussehn so bekommen wir nothwendig den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott. Auf einmal stellt sich uns dar die allumfassende Güte seiner Vorsehung, die Weisheit aller Veranstaltungen die er zu unserm Wohl in der Welt getroffen hat, die unendliche Langmuth, die er bei allen unsern Fehlern und Schwachheiten beweist. Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen, um sie mit weniger schlagendem Gewißen anschaun zu können.“⁵⁸⁸

Das Gebet eröffnet dem Menschen also sozusagen eine die eigene Person sowie die gesamte „menschliche Sphäre“ transzendierende Perspektive, aus der heraus sich einerseits die Einsicht in die wahre Qualität des Verhaltens Gottes gegenüber den Menschen, andererseits aber auch die Einsicht in die Fehlerhaftigkeit und Schwachheit sowie die Angewiesenheit der Menschen auf Gott und dessen Langmut erschließen. Die „menschliche Würde in ihrer ganzen Größe“⁵⁸⁹ besteht damit geradezu in der auf der rechten Selbst- bzw. Sündenerkenntnis des Menschen basierenden Einsicht in die notwendige Bezogenheit des Menschen auf den gütigen bzw. väterlichen Gott.⁵⁹⁰ Die grundlegend christologische Verwurzelung dieser Bezogenheit bzw. der Metapher des „vertrauungsvoll[en]“ Verhältnisses zwischen Vater und Kindern für

 Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 8 – 19. Im oben zuletzt ausgeführten Zusammenhang ist der Einschätzung Christoph Meier-Dörkens zu folgen: „Mit Recht sieht Zumpe (Die Gottesanschauung Schleiermachers und die Pantheismusfrage, S. 65 f.) im Vaterglauben das ‚eigentümlich Christliche‘ am Gottesgedanken der frühen Predigten Schleiermachers“ (Meier-Dörken: Theologie, S. 80, Anm. 70).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 6.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 18 f.  Die Notwendigkeit dieser Bezogenheit kommt dabei bereits in der Formulierung zum Ausdruck, dass das „Gebet eines Christen […] aus dem Herzen kommen“ muss, „aus der stärksten Empfindung von der Nothwendigkeit sich mit Gott zu unterhalten, […] aus dem Bedürfniß […], sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“ (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 17).

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II. Predigtanalysen

die Relation zwischen Gott und Mensch lässt nun darüber hinaus einen christologischen Aspekt der sich im Gebet manifestierenden „menschliche[n] Würde in ihrer ganzen Größe“ anklingen. Indem die Menschen im rechten christlichen Gebet „eben so“ wie Christus sowie „seinen Absichten gemäß“ bzw. stellvertretend für Christus handeln, partizipieren sie letztlich implizit auch an der Würde Christi selbst.⁵⁹¹ Angesichts der das Gebet begleitenden „lebhafte[n] Vorstellung Gottes“ stellt sich nun zudem nicht nur die rechte Einsicht in den eigenen Gemüts- oder Seelenzustand⁵⁹² und im Zusammenhang damit die Erkenntnis der menschlichen Schwachheit oder das menschliche Sündenbewusstsein ein,⁵⁹³ sondern, darüber hinausgehend, auch die Einsicht in das Ziel und den Zweck des menschlichen Daseins überhaupt: „Allmählich kommen wir zu uns selbst, unsere wahre höhere überirdische Bestimmung stellt sich uns dar, das Bild derselben erhebt sich über die übrigen und bald wird sie der einzige Gegenstand, worauf wir alle übrigen beziehn“.⁵⁹⁴

Angesichts der Unterhaltung mit dem höchsten Wesen treten also alle „irrdische[n]“ Gedanken oder Absichten des Menschen zurück,⁵⁹⁵ während sich die Einsicht in die wahre Bestimmung oder den „großen Zwek“ des Menschen erschließt, die bzw. der letztlich in unserer „wahren sittlichen Vollkommenheit“ besteht.⁵⁹⁶ Damit ist dann aber auch die wesentliche Bezogenheit von Würde und Wert des menschlichen Lebens auf dessen letztlich sittliche Bestimmung zum Ausdruck gebracht. In und durch bzw. in gewisser Weise noch über diese inhaltlichen Einsichten der Verankerung der mit dem christlichen Gebet verbundenen menschlichen Würde in dem „vertrauungsvoll[en]“ Verhältnis zwischen Vater und Kindern,⁵⁹⁷ in dessen christologischen Wurzeln sowie in der sittlich qualifizierten, „wahre[n] höhere[n] überirdische[n] Bestimmung“ des Menschen hinaus, vermag das rechte

 Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 8 – 19 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 3 – 16.  Vgl. dazu Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 17: „Das Gebet eines Christen muß […] aus dem Bedürfniß entspringen, sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln.“  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 8 – 11.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 7– 16.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 4– 7.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 28 – 38. Oder auch, wie es zuvor in der Predigt heißt, darin besteht, „[d]aß wir immer beßer, immer mehr von unsern Fehlern befreit werden, dem Ideal des wahren Christen immer näher kommen, die Gebote Jesu immer pünktlicher, in immer größerm Maaß befolgen“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 26 – 29).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 8 – 19.

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christliche Gebet die Menschen nun aber zu der Stufe des höchsten „Grad[es] der Selbstzufriedenheit“ zu führen, die „ein eingeschränktes Wesen erreichen“ kann. Das rechte Gebet eines Christen bzw. einer Christin evoziert damit einen Zustand oder eine „Stuffe“ des menschlichen Seins,⁵⁹⁸ in der die Übereinstimmung des Menschen mit dem höchsten Wesen und dessen Willen bzw. die Gemeinschaft des Menschen mit Gott im Grunde zum Selbstzweck wird,⁵⁹⁹ aus dem heraus dann freilich wiederum die „Ermunterung“ bzw. der Impuls zum sittlichen Handeln hervorgeht.⁶⁰⁰ Hinsichtlich des Zustandes der Übereinstimmung des bzw. der Betenden mit dem höchsten Wesen und dessen Absichten bzw. Willen erscheint das rechte Gebet eines Christen bzw. einer Christin dann aber im Grunde bereits als eine antizipierende Verwirklichung der eigentlichen, überirdischen Bestimmung des Menschen und verdient von daher zu Recht das Urteil, es vermöge „die menschliche Würde in ihrer ganzen Größe“ zu zeigen und zum Ausdruck zu bringen.⁶⁰¹

II.2.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen In der „wahren sittlichen Vollkommenheit“ des Menschen ist gemäß der vorliegenden Predigt, wie im Grunde bereits in Schleiermachers Examenspredigt, nicht nur der „große[…] Zwek“ des irdischen Menschenlebens zu sehen,⁶⁰² sondern, noch darüber hinaus: „unser[…] erste[r] einzige[r] Zwek“, die „wahre höhere überirdische Bestimmung“ des Menschen.⁶⁰³ Dabei lässt die Entsprechung zwischen dem „erste[n] ungezweifelte[n] Gegenstand unsers christlichen Gebets“ – zu verstehen als: „Wir selbst, unser eigentliches Ich, unser wahres ewiges Wohl. Daß  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – 38.  Zu vergleichen ist dazu auch noch einmal die Passage über die Einsamkeit als wesentlicher Voraussetzung des rechten Gebets im Namen Jesu: „[…] unser Gebet beschäftige uns ganz allein […].Wer zu der Zeit, da er sich mit dem höchsten Wesen unterhält[,] nicht ganz einsam ist, sondern neben diesen Gedanken noch andre irrdische, neben dieser Absicht noch andre haben kann, der betet nicht, wenigstens nicht so wie Christus zu thun befohlen hat.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 34– 139, 7). Die hier gewählte Kategorie des „Selbstzweckes“ verweist natürlich wiederum auf eine gewisse Parallelität oder Entsprechung zwischen religiöser Gebetspraxis und künstlerischer Tätigkeit (vgl. dazu z. B. die Ausführungen zur „Zwecklosigkeit“ der Kunst bei Schleiermacher: Ästhetik, S. 20).  Vgl. dazu die bereits oben zitierte Passage der Predigt zur Wirkung des Gebets (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 6), insbesondere 143, 4– 6: „Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen, um sie mit weniger schlagendem Gewißen anschaun zu können.“  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 18 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 28 – 31.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – 19.

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II. Predigtanalysen

wir immer beßer, immer mehr von unsern Fehlern befreit werden, dem Ideal des wahren Christen immer näher kommen, die Gebote Jesu immer pünktlicher, in immer größerm Maaß befolgen“⁶⁰⁴ – und dem „sittlich gute[n]“,⁶⁰⁵ das letztlich wiederum als die „wahre[…] sittliche[…] Vollkommenheit“ der Menschen interpretiert werden muss,⁶⁰⁶ auch in der vorliegenden Predigt die christliche Akzentuierung dieser Vollkommenheit bzw. des sittlich Guten deutlich werden, bis hin zur Identifizierung der christlich verstandenen Vollkommenheit bzw. „Besserung“ des Menschen mit den „Absichten“ Christi selbst.⁶⁰⁷ Indem diese Vollkommenheit nun zum „erste[n] ungezweifelte[n] Gegenstand“ des christlichen Gebets wird⁶⁰⁸ sowie das Gebet seinerseits dezidiert als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“⁶⁰⁹ bzw. als „Mittel zu unserer Beßerung“⁶¹⁰ verstanden wird, tritt die konstitutive Bezogenheit, letztlich die Fokussierung des Gebets auf das sittlich Gute bzw. die menschliche Vollkommenheit deutlich zutage. Die Ausführungen der vorliegenden Predigt wird man von daher dahingehend zu interpretieren haben, dass das sittlich Gute bzw. die christlich konnotierte, menschliche Vollkommenheit hier zum Maßstab und Kriterium des christlichen Gebets – beider in der Predigt erarbeiteten Formen oder Arten – erhoben wird. Diesem großen Zweck oder der in dieser Vollkommenheit bestehenden Bestimmung des menschlichen Lebens korrespondiert auf der Ebene der menschlichen Verfasstheit der Aspekt der menschlichen Schwachheit. So ist das „eingeschränkte[…] Wesen“ Mensch,⁶¹¹ das sein dem göttlichen Willen widersprechender Eigenwille,⁶¹² seine Irrtumsfähigkeit,⁶¹³ seine Fehler und seine Schwachheit kennzeichnen, nicht nur auf die Langmut des gütigen Vatergottes,⁶¹⁴ sondern in besonderer Weise auch auf den göttlichen Beistand zum Guten angewiesen.⁶¹⁵ Genau dieser Beistand aber wird dem Christenmenschen laut der vorliegenden Predigt im bzw. durch das Gebet zuteil.⁶¹⁶ Denn das Gebet vermag

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 24– 29. Dieses Ziel erinnert grundlegend auch an Calvins Institutio, vgl. Calvin: Institutio III, 6, 4 und III, 6, 5, S. 444 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 8 – 11.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – 31.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 14– 37; vgl. auch 139, 24– 29.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 24 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 12.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 19.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 32.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 3 – 8; 144, 24– 38.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 6 – 10; 140, 35 – 141, 8; 142, 8 – 12 u. ö.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 1– 4.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38 und 145, 20 – 23.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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durch die „lebhafte Vorstellung Gottes“ nicht nur „das Gefühl unserer Abhängigkeit und Schwachheit von der Unzulänglichkeit unserer Einsichten herbei[zu] führen“⁶¹⁷ und so die „oft so verderblichen Wünsche“ des menschlichen Herzens zu „läutern und [zu] reinigen“,⁶¹⁸ es vermag nicht nur zu veranlassen, dass wir „unser ganzes Herz“ mit allen „Neigung[en]“ und „Leidenschaft[en]“ vor uns selbst und vor Gott „aufzudeken“ „wagen“,⁶¹⁹ sodass dadurch letztlich „[d]ie unordentliche Obermacht unserer Begierden“ in Schranken gewiesen wird,⁶²⁰ es führt uns nicht nur zu der „Kenntniß deßen was uns noch fehlt“,⁶²¹ sondern es vermag eben auch das „Vertraun auf die höhere Kraft, deren Beistand wir uns erflehen“,⁶²² einzuflößen und dadurch „unsern Eifer im Guten“ selbst anzuspornen und zu „vermehren“.⁶²³ Ohne das eigene Zutun des Menschen geht das allerdings nicht: „Sollte das Gebet allein uns tugendhafter und beßer machen, so würde das die größte Unordnung in der sittlichen Welt anrichten. Der Bösewicht, der nur bisweilen wünscht das Glük der Tugend zu schmeken (und keiner ist wol so verhärtet, daß dies nicht der Fall seyn sollte) […], dieser müßte dann den Beistand der göttlichen Gnade eben so genießen, als der Fromme der sein ganzes Leben den aufrichtigsten Bemühungen für seine Besserung widmet.“⁶²⁴

Die sittliche Wirkung bzw. die Erhörung des Gebets um das sittlich Gute oder die eigene Besserung wird von daher nur denjenigen Betenden zuteil, deren Gebete eben nicht nur „aus überhingehenden Gefühlen“, sondern aus einer Haltung oder einem „Zustand“ des von den Absichten Christi bzw. von „Tugend und Frömmigkeit“ „ganz durchdrungenen Herzens“ hervorgehen, die bzw. der dann letztlich dazu führt, dass die Handlungen der Betenden auch tatsächlich ihren Gefühlen „entsprechen“.⁶²⁵ Da die Menschen nun aber „von Natur keinen Hang“ zur Entwicklung der dieser Gebetshaltung zuallererst zugrunde liegenden „aus dem Herzen kommen[den]“ „Empfindung von der Nothwendigkeit sich mit Gott zu unterhalten“ bzw. des entsprechenden „Bedürfni[sses] […], sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“, haben, „müßen wir suchen“, diesen Zu-

        

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 8 – 12. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 30 – 36. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 29 – 31. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 25 f. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 32– 34. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 25 f. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 22. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 23 – 37.

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II. Predigtanalysen

stand oder diese „Stimmung der Seele“ allererst „hervorzubringen“. Das aber wiederum kann das Praktizieren des Gebets selbst mit sich bringen und sei es auch nur eines solchen, das wir lediglich „zu gewißen Stunden“ oder „bei gewißen Gelegenheiten, auszusprechen gewohnt sind“. So haben wir es im Grunde nötig – und können das auch –, uns dadurch, dass wir sozusagen in meditativer Manier „alle übrigen sinnlichen Gedanken entfernen“ und uns der „Betrachtung Gottes und göttlicher Gegenstände“ widmen, „eines wahren innigen Gebets“,⁶²⁶ dadurch letztlich aber des „Genußes“ der „Wolthaten“ der Religion Jesu und damit natürlich insbesondere wiederum des göttlichen Beistandes zum Guten, „fähig zu machen“.⁶²⁷

II.2.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen Grundsätzlich basieren Schleiermachers Überlegungen in dieser Predigt auf einer am Kriterium der „Absichten Jesu“, der „Kirche Christi“⁶²⁸ oder auch der „Sache des Christenthums“ – die wiederum ohne Weiteres in einem Zuge mit der „gute[n] Sache der Tugend“ genannt werden kann⁶²⁹ – bzw. ganz einfach am Willen Gottes und der göttlichen Vorsehung ausgerichteten deterministischen Weltsicht.⁶³⁰ Wunder sind dabei grundsätzlich möglich und zu den Zeiten auch geschehen, in denen es die Absichten Jesu oder der Fortbestand der Kirche Christi bzw. der Sache des Christentums erforderten, also zur Zeit des Auftretens Christi selbst und der Apostel bzw. in der Periode des Urchristentums oder der Anfänge des Bestehens der christlichen Kirche. In Zeiten der Konsolidierung der christlichen Kirche aber

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 33.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 4.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 27– 138, 7.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 24.  Vgl. u. a. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 12– 30. Die hier festzustellende deterministische Weltsicht könnte auf eine Beeinflussung durch stoisches Gedankengut zurückzuführen sein. Die „durchgängige kausale Bestimmtheit des natürlichen und menschlichen Geschehens“ wird dabei nun natürlich nicht, wie in der Stoa üblich, „dem Willen des Zeus“ zugeschrieben, sondern dem Willen des christlichen Vatergottes oder auch der mit diesem identischen Absicht Jesu (vgl. zur Stoa Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprachund Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981 [Forschner: Stoische Ethik], S. 98.104– 107, die Zitate befinden sich auf S. 105). Durchaus vereinbar erscheint diese deterministische Weltsicht aber auch mit der Form des Determinismus, die Martin Luther vertritt (vgl. Friedrich Hermanni: Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens, in: ders. u. Peter Koslowski [Hg.]: Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, München 2004, S. 175 f. und 180 f.).

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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erübrigt sich solche „außerordentliche Hülfe“. Die „Umstände“ oder Zeiten, denen die Menschen und damit die christliche Kirche unterworfen sind, haben sich verändert, die Absichten Jesu bzw. das „Gebot Jesu“ aber bleiben in Geltung, „nur“ eben, „daß andre Zeiten eine andre Anwendung desselben erheischen“.⁶³¹ Dem Problem der Erfahrung des Ausbleibens wunderhafter Gebetserhörungen wird so eine die biblische Überlieferung mit der gegenwärtigen Erfahrung vermittelnde, in hermeneutischer Hinsicht im Grunde recht schlichte, doch in der protestantischen Tradition des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts durchaus übliche,⁶³² Antwort beschieden. Die Freiheit des Menschen wird dabei, in deutlichem Anklang an die stoische Tradition, in der auf einer entsprechenden „GemüthsVerfaßung“ beruhenden Unabhängigkeit von äußeren Dingen und Umständen gesehen,⁶³³ die es dem Menschen letztlich ermöglicht, dem Willen Gottes besser zu entsprechen bzw. sich

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7; vgl. auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 24.  Vgl. dazu den Abschnitt II.2.1.7.2 der vorliegenden Arbeit zu „Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext deistischen Gedankengutes“ sowie Ernst Troeltsch: Der Deismus, in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg.v. Hans Baron (Neudruck der im Verlag J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] 1925 erschienenen Ausgabe) (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Bd.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie), Aalen 1966 [Troeltsch: Deismus], S. 460. Die entsprechende Passage entstammt der Einfügung einer späteren Randbemerkung Troeltschs in den Textbestand durch den Herausgeber, vgl. den Vorbericht des Herausgebers in: Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg.v. Hans Baron, Aalen 1966 (Neudruck der im Verlag J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] 1925 erschienen Ausgabe) (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Bd.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie), S. VIf.  Heranzuziehen wäre dafür folgende Passage der Predigt: „Unsere Glükseligkeit beruht, Gott sei Dank nicht auf den Gegenständen die uns umgeben, nicht auf den Umständen, worin wir uns befinden, sondern auf dem Eindruk, den diese Gegenstände auf unsere Seele machen, auf der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegensezen können […]“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 3 – 7). Maximilian Forschner beschreibt den „primär in Termini der Innerlichkeit formuliert[en]“ stoischen Freiheitsbegriff folgendermaßen: „Freiheit ist ein Zustand des Gemüts und nicht primär ein objektiver Rechstzustand oder eine Qualität des Handelns in der Welt. Dieses mag nach Zwangsgesetzen verlaufen, Freiheit als Qualität der inneren Haltung, die das Handeln begleitet und in jedem Fall eine Identität von Wille und Handlung möglich macht, bleibt bestehen. Von entscheidender Bedeutung für den stoischen Weisen ist seine Disposition, wie er innerlich ist und sich fühlt. Wenn er auch den äußeren Fluß der Ereignisse nicht zu beeinflussen vermag, so kann er doch seine eigene Stellung zu den Ereignissen bestimmen und ein Bewußtsein der Freiheit jenen Widerfahrnissen, Handlungen und Handlungswirkungen gegenüber gewinnen, die er erfährt, ausführt und intendiert oder die er auszuführen gezwungen ist“. (Vgl. Forschner: Stoische Ethik, S. 110 f.).

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II. Predigtanalysen

diesem ohne Widerstände zu ergeben.⁶³⁴ Zugrunde liegt dabei die Einsicht, dass der Mensch entweder von den eigenen Wünschen bzw. seiner „Neigung“, oder aber von der „lebhafte[n] Vorstellung Gottes“ und den dieser entsprechenden Gefühlen und Einsichten bestimmt wird.⁶³⁵ Die Auswirkungen der Ergebung in den göttlichen Willen wiederum bestehen einerseits im Vorankommen in der eigenen sittlichen Besserung, andererseits im Zustand der Ruhe und Gelassenheit gegenüber allen anderen, diesem „ersten einzigen Zwek“ der Menschen bzw. „unsere[r] wahre[n] höhere[n] überirdische[n] Bestimmung“ widersprechenden oder unterzuordnenden, menschlichen Wünschen und Zielen⁶³⁶ oder auch „Begierden“,⁶³⁷ Neigungen und Leidenschaften.⁶³⁸ Auf diesem Hintergrund kann die Übereinstimmung mit oder die Ergebung in den göttlichen Willen menschlicherseits dann auch als „Zu-sich-selbst-Kommen“ bezeichnet werden,⁶³⁹ das, basierend auf der grundsätzlichen Akzeptanz des „Zwek[es] Gottes mit uns und de[s] Ort[s] den Seine Weisheit uns in der Welt angewiesen“ hat, den höchsten „Grad der Selbstzufriedenheit“ mit sich bringt, den das „eingeschränkte[…] Wesen“ Mensch erreichen kann.⁶⁴⁰ Zutage treten können diese Auswirkungen der Ergebung in den göttlichen Willen nun allerdings weder ohne das eigene Zutun der Menschen, denn das „würde […] die größte Unordnung in der sittlichen Welt anrichten“, noch ohne maßgebliche Unterstützung und Hilfe durch die Religion bzw. durch „den Beistand der göttlichen Gnade“.⁶⁴¹ Wie beides, eigenes menschliches Zutun und Hilfe

 Unter Verweis auf Aussagen von Kleanthes und Seneca formuliert Forschner: „Von der Telosformel her gesehen bestimmt die Stoa die dem Menschen mögliche Freiheit primär als Alternative des Sichfügens oder Sichverweigerns, wobei letztere nichts an dem vom Fatum beschlossenen Gang der Ereignisse zu ändern vermag.“ (Vgl. Forschner: Stoische Ethik, S. 110). Inhaltlich geben die in der stoischen Tradition dem göttlichen Willen entsprechenden Telosformeln vor, „in Harmonie […] mit der Natur“ zu leben, im Streben nach Übereinstimmung mit dem göttlichen Logos und dem tätigen Mitvollziehen der Ordnung des Weltgeschehens in systematischer Einheit aller eigenen Tätigkeiten bzw. „zusammenstimmend zu leben“ (vgl. Forschner: Stoische Ethik, S. 164 f.), oder auch schlicht „gemäß der Tugend“ zu leben. Ziel dieser Telosformeln ist dabei letzten Endes „das geglückte Leben im Sinne von Praxis, die um ihrer selbst willen vollzogen und um deretwillen alles andere getan“ wird (vgl. Forschner: Stoische Ethik, S. 212).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 30 – 144, 22.  Vgl. u. a. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 8 – 22.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 27– 31.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 32– 38.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – 16: „Allmählich kommen wir zu uns selbst, unsere wahre höhere überirdische Bestimmung stellt sich uns dar, das Bild derselben erhebt sich über die übrigen und bald wird sie der einzige Gegenstand, worauf wir alle übrigen beziehn.“  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 31– 38.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 24.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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durch die Religion, im Grunde konstitutiv miteinander verbunden sind, wird deutlich, wenn man den in dieser Predigt gegebenen Hinweisen zur Handlungsmotivation nachgeht. Dass das hier untersuchte und zur Diskussion stehende Handeln, i. e. das Gebet, sozusagen auf grundsätzlicherer Ebene selbst ein Mittel des göttlichen Beistandes oder der Hilfe der Religion darstellt, hindert diese Untersuchung nicht, es bringt die Verbundenheit beider Aspekte vielmehr in exponentieller Weise zum Ausdruck. Geht man den in dieser Predigt gegebenen Hinweisen zur Handlungsmotivation am Beispiel des Gebets nach, so sind zunächst einmal zwei grundsätzlich zu unterscheidende Arten des Handelns zu vermerken. Einerseits ist die Rede von (Gebets‐)Handlungen, die lediglich aus Gewohnheit, sozusagen „mechanisch ohne Bewußtseyn“ oder weil man „von Kindheit an dazu abgerichtet worden“ ist, geschehen.⁶⁴² Diesen bloßen Gewohnheiten stehen nun die bewusst, mit Herz und Verstand bzw. mit den angemessenen Empfindungen und Gedanken verrichteten (Gebets‐)Handlungen gegenüber.⁶⁴³ Letztere interessieren im Zusammenhang mit einer Untersuchung der für die Handlungsmotivation relevanten Faktoren in erster Linie. In besonderer Weise aufschlussreich sind auf diesem Hintergrund drei Abschnitte der vorliegenden Predigt: In dem ersten dieser Abschnitte⁶⁴⁴ werden zunächst einmal die für das rechte (Gebets‐)Handeln maßgeblichen und notwendigen Empfindungen in den Blick genommen: „Das Gebet eines Christen muß aus dem Herzen kommen, aus der stärksten Empfindung von der Nothwendigkeit sich mit Gott zu unterhalten, es muß aus dem Bedürfniß entspringen, sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“.⁶⁴⁵

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 10 – 21. Dabei handelt es sich streng genommen um Gewohnheiten, Tun oder Verhalten, die bzw. das auf dem Hintergrund beispielsweise der Hermsschen Handlungsdefinition noch nicht als „Handlung“ einzustufen ist. Zu vergleichen wäre dazu Eilert Herms: Was heißt „theologische Kompetenz“?, in: Beutel, Albrecht/Drehsen,Volker/Müller, Hans Martin (Hg.): Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1989, S. 190: „Nicht alles Verhalten ist Handeln, sondern nur dasjenige, in dem wir ‚bewußt‘, ‚absichtlich‘, ‚planmäßig‘ auf unsere Umwelt einwirken. Handeln ist der Inbegriff von intentionalem Verhalten; also von solchem Verhalten, das wir an ganz bestimmten Vorstellungen ausrichten.“  Vgl. z. B. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 17.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 17. Im Einleitungsteil der Predigt wird dieser Aspekt im Grunde mit der Formulierung „inbrünstig und mit Gefühl des Herzens“ beten auf den Punkt gebracht (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 21 f.).

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II. Predigtanalysen

Im weiteren Verlauf dieses ersten Abschnitts charakterisiert Schleiermacher dieses Aus-dem-Herzen-Kommen bzw. diese Empfindungen oder Gefühle sodann als „Stimmung der Seele“, im Zusammenhang mit der möglichen Einübung oder sozusagen meditativen Hervorbringung dieser Seelenstimmung sogar als „Gesinnungen“.⁶⁴⁶ Die mögliche – und im Grunde nötige – Einübung oder meditative Hervorbringung dieser zum Gebet notwendigen Empfindungen, Seelenstimmung oder Gesinnungen⁶⁴⁷ legitimiert dabei nun nicht nur die Praxis der zunächst lediglich aus Gewohnheit und ohne Bewusstsein verrichteten Gebete,⁶⁴⁸ sie verweist im Grunde auch darauf, dass zur Handlungsmotivation – sozusagen in einem weiteren Schritt – eine gewisse Beständigkeit und Intensität der Gefühle gehören und damit kommt der zweite der hier in besonderer Weise relevanten Abschnitte der vorliegenden Predigt in den Blick:⁶⁴⁹ „Ein Gebet[,] welches auf Erhörung Anspruch machen will, muß nicht nur aus überhingehenden Gefühlen entsprungen seyn, es muß die Aeußerung eines von seinem Zustand ganz durchdrungenen Herzens seyn, welches nicht nur in diesem Augenblik, sondern in jedem andern, keinen anderen Wunsch, keine andere Begierde kennt, als das zu erlangen,worum es gebeten hat.“⁶⁵⁰

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 17– 29.  „[D]enn unsre Seele hat von Natur keinen Hang zu so starken Empfindungen dieser Art, und nur selten wird sie durch die Umstände darein versezt; allein eben weil diese Empfindungen so fruchtbar sind, so müßen wir suchen sie hervorzubringen […]“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 20 – 24).  „[J]ene hohen Gesinnungen des betenden Christus […] können durch dieselben veranlaßt und herbeigeführt werden. Die Worte erregen nach und nach die dazu gehörigen Vorstellungen, je mehr wir alle übrigen sinnlichen Gedanken entfernen, desto leichter wird unser Herz dadurch zur Betrachtung Gottes und göttlicher Gegenstände erwekt und so eines wahren innigen Gebets fähig gemacht.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 28 – 33).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 11– 37.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 31– 37. Vgl. dazu auch die kurz zuvor ausgeführten Überlegungen: „Wenn wir das einärndten wollen was Christus seinen Jüngern für ihr Gebet versprach, so müßen wir nicht nur auf das sehn was er ihnen ausdrüklich gebot, sondern auch auf das, was er bei ihnen voraussezte. Er wußte[,] daß Seine Absichten zu erreichen, Seine Befehle auszurichten, daß dies nicht nur der Gegenstand ihrer Wünsche sei, es war das einzige Ziel, welches sie unverrükt bei allen ihren Handlungen im Auge behielten, zu welchem alle ihre Schritte hinleiteten. Und dies muß auch bei uns der Fall seyn, wenn wir der Erhörung unsres Gebets uns versichert halten wollen.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 14– 23). Bei Spalding erfolgt die Ablehnung der sich nur auf „eine vorüber rauschende Aufwallung“ begründenden Empfindung unter Verweis auf die zusätzlich zur Empfindung nötige „klare gegründete Einsicht“. S.E. haben erst „Erkenntniß und Empfindung“ gemeinsam „die Eigenschaft, das Herz in eine thätige Bewegung zu setzen, und den Menschen zu einem wirklichen guten Verhalten zu bringen“ (vgl. Johann Joachim Spalding: Über das wahre Lob Jesu [1768], in: Beutel/Drehsen [Hg.]: Wegmarken, S. 56).

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Das entsprechende handlungsmotivierende „Gefühl“ bzw. das Gefühl der Menschen für „die Schönheit der Tugend und Frömmigkeit und ihre Entfernung von derselben“ muss die Menschen also „bis zu den Augenbliken […] begleiten wo ihre Leidenschaften gereizt werden, wo es seine Wirksamkeit zeigen sollte“, sodass sich eine tatsächliche Entsprechung zwischen den Empfindungen und den Handlungen der Menschen ergibt.⁶⁵¹ An dieser Stelle des Gedankengangs wird damit aber auch das eigene Zutun, die eigene Beteiligung der Menschen hinsichtlich des rechten (Gebets‐)Handelns in der (Zutage‐)Förderung und Pflege der handlungsleitenden Gefühle und Zustände bzw. Seelenstimmung greifbar. Dass die Empfindungen allein nun allerdings nicht zur rechten Handlungsmotivation ausreichen, wird schon in der ersten der gerade zitierten Predigtpassagen deutlich.⁶⁵² Denn indem dieser zufolge ein Gebet „im Geist und im Namen Jesu“ erfordert, dass „die Worte die wir aussprechen […] von den Gedanken und Empfindungen begleitet sind, welche sie ausdrüken sollen“,⁶⁵³ werden den zum rechten christlichen Gebet nötigen Empfindungen in einem Atemzug die entsprechenden Gedanken zur Seite gestellt.⁶⁵⁴ Idealerweise verhält es sich also so, dass bei der Ausführung eines rechten christlichen Gebets zu den entsprechenden Empfindungen auch die entsprechenden Gedanken und damit das angemessene Gebetsverständnis hinzutreten.⁶⁵⁵ Dem dritten der hier in besonderer Weise interessierenden Predigtabschnitte⁶⁵⁶ ist dabei nun – sozusagen in einem weiteren Schritt – zu entnehmen, dass die das Gebet veranlassenden „Gesinnungen“ zur letztendlichen bzw. rechten Handlungsmotivation noch einmal einer „Umstimmung“ oder Intensivierung bedürfen:

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 26 – 31.  Vgl. dazu auch die entsprechende Passage des Einleitungsteils der Predigt, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem für das rechte Gebet notwendigen Gefühl des Herzens den möglichen „Mißverstand“, damit dann im Grunde aber nichts anderes als den nötigen Verstand, des zur Diskussion stehenden (Gebets‐)Handelns thematisiert (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 21– 23).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 14.  Der Rekurs auf die Eberhardsche Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, die Gedanken und Empfindungen bzw. die den Gedanken korrespondierenden „deutlichen“ Vorstellungen mit den den Empfindungen entsprechenden „klaren“ Vorstellungen im Urteilen und in der Konsequenz dessen dann auch in der Handlungsmotivation miteinander verbindet, dürfte an dieser Stelle nahe liegen (Eberhard: AThDE, S. 180 – 194 und 230 – 233).  Vgl. zur Bedeutung der Gedanken für die Ausübung des rechten (Gebets‐)Handelns auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 3 – 16. Das rechte Gebetsverständnis bzw. der rechte Begriff des Gebets äußert sich in den dem rechten Gebet angemessenen Erwartungen und Hoffnungen (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 21– 26; 141, 3 – 8).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 143, 12.

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II. Predigtanalysen

„So lange unsere Gesinnungen, unsere Wünsche für unser sittliches Wohl bloße Vorsäze bleiben, so haben sie eine gewiße Kälte, eine gewiße Gemächlichkeit die nicht selten ihrem guten Erfolg schädlich ist. […] [S]timmen wir aber diese Gesinnungen zum Gebet um, so wagen wir es im Vertraun auf die höhere Kraft, deren Beistand wir uns erflehen unser ganzes Herz aufzudeken, wir zittern bei dem Gedanken, daß wir uns ihm dem allheiligen darstellen wollen, und daß es noch in irgend einem Winkel unserer Seele eine Neigung eine Leidenschaft gebe die wir kennen, aber seinen Geboten nicht aufzuopfern bereit wären.“⁶⁵⁷

„Gesinnungen“, „Wünsche für unser sittliches Wohl“ oder „bloße Vorsäze“ des Menschen müssen also noch einmal von ihrer „gewiße[n] Kälte“ weg in handlungsleitende Impulse umgesetzt werden. Die Bedeutung, die der „höhere[n] Kraft, deren Beistand wir uns erflehen“ bzw. dem Gebet an sich bei dieser „Umstimmung“ zukommt, bringt die Notwendigkeit der Hilfe durch die Religion für das angemessene (Gebets‐)Handeln an dieser Stelle explizit zum Ausdruck.⁶⁵⁸ Verstärkt wird dieser Aspekt unmittelbar im Anschluss an die gerade zitierte – sozusagen negative – Argumentation von der „Kenntniß deßen was uns noch fehlt“ bzw. unserer „Neigung[en]“ und „Leidenschaft[en] […] die wir […] seinen Geboten nicht aufzuopfern bereit wären“, her,⁶⁵⁹ noch einmal durch die folgende positive Schilderung der Auswirkungen des Gebets: „Indem wir uns […] im Gebet über uns selbst erheben,weit über die gewöhnliche menschliche Sphäre hinaussehn so bekommen wir nothwendig den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott. […] Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen […].“⁶⁶⁰

Auf die dem rechten (Gebets‐)Handeln notwendige Hilfe durch die Religion wird damit also sowohl auf negativem als auch auf positivem Wege verwiesen. Das Gebet „muß seiner Natur nach“ sowohl „unsre Kenntniß deßen was uns noch fehlt“, als auch „unsern Eifer im Guten vermehren“,⁶⁶¹ damit aber kommen hier  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38.  In der gesamten hier nachvollzogenen, für die Untersuchung der Handlungsmotivation relevanten Argumentation der drei genannten Abschnitte der Predigt ist eine auffällige Nähe zu Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens festzustellen. So gehören auch in Schleiermachers Predigt, wie dargelegt, Denken und Empfinden hinsichtlich der Handlungsmotivation ganz wesentlich zusammen, die letztlich zur Handlungsmotivation unumgängliche (Rück‐)Überführung von Gedanken in Empfindungen aber (vgl. Eberhard: AThDE, S. 226 f. und 230 – 233), wird bei Schleiermacher in Bezug auf die sich im Gebet entwickelnden religiösen Gefühle oder Empfindungen im Grunde in ganz spezifischer, die sittliche Unterstützungsfunktion der Religion deutlich zum Ausdruck bringender Weise aufgenommen.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 22– 38.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 6.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 22– 26.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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letztendlich wieder die beiden Größen der wahren Selbsterkenntnis sowie der wahren Erkenntnis des Verhältnisses zwischen Gott und Menschen ins Spiel.⁶⁶² Die „Gesinnungen“ schließlich nehmen in dieser Predigt eine zwischen Empfindungen und Gedanken vermittelnde bzw. beides miteinander verbindende Funktion ein. Denn in der ersten der hier angeführten Predigtpassagen beziehen sich „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ sowohl auf die zuvor verhandelte Seite der Empfindungen zurück,⁶⁶³ als sie auch auf die unmittelbar folgende Thematisierung der mit dem Gebet verbundenen Gedanken verweisen. Dem Duktus dieser Passage folgend, muss zunächst einmal festgehalten werden: „Das Gebet eines Christen muß aus dem Herzen kommen“. Da „unsre Seele“ allerdings „von Natur keinen Hang zu so starken Empfindungen dieser Art“ hat, „müßen wir suchen sie“, z. B. durch regelmäßige Gebete, „hervorzubringen“. Diese Gebete werden nun zwar „selten unmittelbare Ausbrüche unsers Herzens“ oder „jene[r]“ vorbildlichen „hohen Gesinnungen des betendenden Christus“ sein. Aber „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus […] können durch dieselben veranlaßt und herbeigeführt werden. Die Worte erregen nach und nach die dazu gehörigen Vorstellungen, je mehr wir alle übrigen sinnlichen Gedanken entfernen, desto leichter wird unser Herz dadurch zur Betrachtung Gottes und göttlicher Gegenstände erwekt und so eines wahren innigen Gebets fähig gemacht.“⁶⁶⁴

„Jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ sollten zunächst einmal also den das Gebet grundsätzlich motivierenden Empfindungen entsprechen, können allerdings auch durch mit Worten (und Gedanken) verbundene Vorstellungen hervorgerufen werden. In letzterem Fall wären die entstandenen Gesinnungen dann im Grunde nicht in erster Linie auf Seiten der Empfindungen, sondern primär auf der Seite der Worte und Gedanken zu verorten. Die solchermaßen – sei es nun auf der reinen Empfindungsebene oder aber durch ein Zusammenspiel der Empfindungsebene mit Worten bzw. Gedanken und daraus hervorgehenden Vorstellungen – erlangten Gesinnungen müssen zur Handlungsmotivation schließlich, der dritten der hier zitierten Predigtpassagen gemäß, noch einmal „zum Gebet um[gestimmt]“ und sozusagen religiös qualifiziert bzw. intensiviert werden. Durch die Parallelisierung „unsere[r] Gesinnungen“ mit „unsere[n] Wünsche[n] für unser sittliches Wohl“, insbesondere aber durch

 Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 32– 143, 6.  Vgl. dazu schon die sprechende Formulierung: „[…] wir werden selten wenn wir sie beginnen jene hohen Gesinnungen des betenden Christus bei uns fühlen“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 27 f. [Hervorh. D.G.]).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33.

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II. Predigtanalysen

die mögliche Klassifizierung dieser beiden Größen als „bloße Vorsäze“, kommen die „Gesinnungen“ an dieser Stelle wieder deutlich auf Seiten der Gedanken zu stehen, die zur Handlungsmotivation also sozusagen noch einmal der Überführung in (religiöse) Empfindungen bedürfen.⁶⁶⁵ Die Rede von den Gesinnungen nimmt in dieser Predigt eine Empfindungen und Denken miteinander verbindende Funktion ein. Im Grunde könnte man die Gesinnungen hier geradezu als Resultate der Verbindung von menschlichem Empfinden und Denken verstehen. Zu der Beobachtung, dass in dieser Predigt gerade auch im Begriff der Gesinnungen die enge Zusammengehörigkeit von Tugend bzw. Sittlichkeit und Religion greifbar wird,⁶⁶⁶ sei schließlich noch auf den Abschnitt zum Verhältnis von Tugend und Religion für die vorliegende Predigt verwiesen.

II.2.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten Der Begriff der „Pflicht“ begegnet in dieser Predigt zunächst einmal im Zusammenhang mit dem Gebet, das den „Christen“ „als Gott wohlgefällig und uns selbst äußerst zuträglich und nothwendig geboten ist“.⁶⁶⁷ Das den Christenmenschen gebotene Gebet ist nun allerdings nicht als bloße Pflichtübung zu verstehen, sondern muss mit Bewusstsein, mit Herz und Verstand bzw. begleitet von den angemessenen Empfindungen und Gedanken ausgeführt werden.⁶⁶⁸ Nur in diesem Sinne und aufgrund seiner Wirkungen – „uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“ – kann das Gebet schlussendlich dann als „unsere süßeste Pflicht“ bezeichnet werden.⁶⁶⁹ Das Gebet steht damit aber nicht in Konkurrenz zu der „etwas schwereren Befolgung seiner Gebote“, sondern verhilft sozusagen dazu, dass diese Befolgung in pflichtgemäßer bzw. gebotener Weise wahrgenommen werden kann.⁶⁷⁰ Als Thema, das in dieser Predigt mit größter Selbstverständlichkeit dem Bereich der menschlichen Pflichten zugeordnet wird, erscheint sodann „das Gute was wir andern zu erweisen, in andern hervorzubringen willens sind“. Hierfür gilt:

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38. Auffällig ist an dieser Stelle, wie oben dargelegt, die Nähe zur Eberhardschen Theorie der Handlungsmotivation (vgl. Eberhard: AThDE, S. 226 f. oder S. 230 – 233).  Dass bzw. inwiefern dies in charakteristischer Weise nicht nur für Schleiermacher, sondern auch für Spalding gilt, kann unten dem Abschnitt II.2.1.7.3 entnommen werden.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 8 – 16. Vgl. auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 27– 29; 138, 4– 7.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 10 – 26 oder 138, 10 – 17.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 23.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 36 – 141, 3.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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„wir müßen das unsrige dabei thun, weil es unsre Pflicht ist, aber den Ausgang müßen wir Gott überlaßen; vielleicht soll dieses Gute nicht durch uns, vielleicht soll es jezt noch gar nicht geschehn,wir können also das Gelingen unsrer Unternehmungen nicht als etwas für die gute Sache der Tugend unausbleiblich nothwendiges von Gott erheischen.“⁶⁷¹

Es gehört also unumstritten zu den Pflichten des Menschen, sich um das Wohl seiner Mitmenschen zu kümmern.⁶⁷² Als Kriterium dieses pflichtgemäßen Handelns darf nun allerdings nicht der dadurch erzielte oder zu erzielende Erfolg gelten, das entscheidende Kriterium dieses pflichtgemäßen Handelns – und damit aller menschlichen Pflichten – ist laut dieser Predigt vielmehr in dessen bzw. deren Übereinstimmung mit der Absicht Jesu bzw. mit den Vorgaben des göttlichen Willens oder der göttlichen Vorsehung zu finden.

II.2.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes Hinsichtlich des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit ist im Kontext der vorliegenden Predigt zunächst einmal festzuhalten, dass auch hier auf die mit der Tugend verbundene bzw. in der Tugend gesetzte Glückseligkeit rekurriert wird: Selbst der „Bösewicht“ möchte „bisweilen […] das Glük der Tugend […] schmeken (und keiner ist wol so verhärtet, daß dies nicht der Fall seyn sollte) […]“.⁶⁷³ Die nicht zu unterschätzende Bedeutung dieses „Glük[s] der Tugend“ wird dabei dadurch deutlich, dass zwei Zeilen später das „Heil“ des Menschen als Synonym dieser Wendung begegnen kann.⁶⁷⁴ Nicht zu verkennen ist sodann der Gedanke der Glückswürdigkeit, der hier mit dem „Glük der Tugend“ aufs Engste verbunden ist: der für das „Glük der Tugend“ notwendige „Beistand der göttlichen Gnade“ kommt gerechterweise nur dem „[f]romme[n]“ Menschen zu, „der sein ganzes Leben den aufrichtigsten Bemühungen für seine Besserung widmet“. Der bloß gelegentlich verspürte Wunsch, „das Glük der Tugend zu schmeken“, reicht dagegen nicht aus, um diesen Beistand

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 16 – 24.  So auch schon Eberhard: SdV, § 128, S. 141 f. und §§ 183 – 189, S. 225 – 236.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 16 – 22.  „Der Bösewicht, der nur bisweilen wünscht das Glük der Tugend zu schmeken (und keiner ist wol so verhärtet, daß dies nicht der Fall seyn sollte) der nur einmal in der Angst seines Herzens einen aufrichtigen Seufzer für sein Heil zum Himmel schikte, dieser müßte dann den Beistand der göttlichen Gnade eben so genießen, als der Fromme der sein ganzes Leben den aufrichtigsten Bemühungen für seine Besserung widmet.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 16 – 22).

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II. Predigtanalysen

zu erlangen.Würden sich die Dinge anders verhalten, wäre aus Sicht des Predigers schlicht eine „Unordnung in der sittlichen Welt an[ge]richte[t]“.⁶⁷⁵ Neben diesem Glück der Tugend kennt die vorliegende Predigt nun aber auch eine mit den äußeren Dingen oder Angelegenheiten des Menschen verbundene bzw. sich auf irdische Dinge beziehende Glückseligkeit. Diese äußeren Angelegenheiten oder das irdische Leben und Wohl der Menschen bleiben dabei allerdings durchgehend Wichtigerem untergeordnet: „den Absichten Jesu“ oder der „Kirche Christi“,⁶⁷⁶ der „Sache des Christenthums“ oder der „gute[n] Sache der Tugend“,⁶⁷⁷ etc. Sozusagen durchexerziert wird dieser Sachverhalt in der vorliegenden Predigt naheliegenderweise am Beispiel des Gebets. So gilt in formaler Hinsicht, dass beim rechten Gebet in Jesu Namen alle „irrdische[n]“ Absichten bzw. „sinnlichen Gedanken“ der Konzentration auf das Gebet selbst bzw. der „Betrachtung Gottes und göttlicher Gegenstände“ zu weichen haben.⁶⁷⁸ In inhaltlicher Hinsicht werden diese Themenbereiche unverkennbar den qualitativ in jeder Hinsicht übergeordnet zu bewertenden Kriterien der eigenen sittlichen Besserung oder auch schlicht des „sittlich gute[n]“ bzw. „unser[es] wahren Wohl[es]“ und damit letzten Endes wieder der Absicht Jesu bzw. des göttlichen Willens untergeordnet,⁶⁷⁹ gleichzeitig aber auch ausdrücklich als legitime Gebetsgegenstände genannt.⁶⁸⁰ Maßstab allen Glücks bleibt auf diese Weise die Sittlichkeit bzw. Tugend; wären die diese betreffenden Sachverhalte allerdings „die einzigen Gegenstände auf welche sich unser Gebet einschränken soll“, blieben wir dennoch „unglüklich genug“. Damit aber werden – in relativiertem Maße – auch „[u]nsere übrigen Angelegenheiten, unsere Verhältniße in der Welt, in der bürgerlichen Gesellschaft, das was wir als Menschen, die dem Wechsel der Zeit und des Glüks unterworfen sind[,] zu hoffen oder zu fürchten haben“,⁶⁸¹ zu den für die Glückseligkeit des Menschen relevanten Dingen gerechnet.⁶⁸²

Neben der ersten „Verheißung[…]“, „uns zum Guten zu ermuntern“, steht dem Gebet deshalb diese zweite: uns „in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 22. Vgl. dazu auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 4– 6. Im Aspekt der Glückswürdigkeit begegnet dabei ein Bezug zur Kantischen Konzeption des Höchsten Gutes (vgl. KpV, S. 149 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 198 f.]).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 11– 24.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 30 – 139, 7.  Zu vergleichen ist dazu exemplarisch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 7– 26 oder auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 11– 31.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 39 – 140, 8.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 24– 140, 8.  Vgl. dazu auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – 22.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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zu machen“ zur Seite.⁶⁸³ Verbindungen wie dieses „ruhig und gelaßen“, Formulierungen wie „Glük und Ruhe“, „glüklich und zufrieden“⁶⁸⁴ oder schlicht die Rede von der Gelassenheit des Menschen⁶⁸⁵ sind es von daher, die in der vorliegenden Predigt immer wieder auf diese, neben der mit der Tugend verbundenen Glückseligkeit gleichermaßen unumgänglich zum menschlichen Leben gehörige, zweite Dimension der „irdische[n] Glükseligkeit und Ruhe“ verweisen.⁶⁸⁶ Die Unterordnung dieser zweiten Form unter die mit der Tugend verbundene Glückseligkeit steht dabei wie bereits dargelegt außer Frage. Es kommt für den Menschen darauf an, den „wahren gemäßigten Werth“ des „äußern Glüks“ schätzen zu lernen, um dieses Glücks schließlich „würdiger“ werden zu können.⁶⁸⁷ Damit kehrt dann aber im Zusammenhang mit dieser zweiten Form der Glückseligkeit auch der Gedanke einer im Grunde erforderlichen Glückswürdigkeit des Menschen wieder. Eine prägnante Definition dieser irdischen bzw. mit der „äußern Lage“ der Menschen verbundenen Glückseligkeit findet sich kurz vor dem Schluss der vorliegenden Predigt und lautet folgendermaßen: „Unsere Glükseligkeit beruht, Gott sei Dank nicht auf den Gegenständen die uns umgeben, nicht auf den Umständen, worin wir uns befinden, sondern auf dem Eindruk, den diese Gegenstände auf unsere Seele machen, auf der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegensezen können […]“.⁶⁸⁸

Sozusagen als Schlüssel dieser zweiten Form der Glückseligkeit erweist sich damit die entsprechende „GemüthsVerfaßung“ des Menschen, der innere Zustand oder die seelische Verfassung, mit dem bzw. mit der die Menschen den außerhalb ihrer selbst befindlichen Dingen oder Ereignissen begegnen können. Nicht vergessen werden darf dabei allerdings, dass die den äußeren Umständen überlegene Gemütsverfassung, von der hier die Rede ist, erst als spezifisch qualifizierte zu ihrem Ziel kommt: Es ist der „Zustand von Ergebung und Gelassenheit“ oder der Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen, der z. B. „durch ein öfteres christliches Gebet“ hervorgerufen werden kann, der letztlich dazu führt, dass „[u]nsre Bitte um Glük und Ruhe […] uns glüklich und zufrieden machen“ kann, „auch wenn uns das nicht zu Theil wird, was der eigentliche bestimmte Gegenstand  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 17.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 1– 3.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 17.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 12– 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 8 – 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 3 – 7. Hinsichtlich der Nähe zu stoischem Gedankengut wäre auf S. 144– 146 der vorliegenden Untersuchung zu verweisen sowie auf Rohls: Geschichte der Ethik, S. 48 und S. 76.

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II. Predigtanalysen

derselben war.“⁶⁸⁹ Die der Gemütsverfassung verdankte Freiheit gegenüber den jeweiligen äußeren Umständen bleibt in dieser Predigt also an der grundlegenden Einsicht und Akzeptanz dessen orientiert, dass „unser wahres ewiges Wohl“⁶⁹⁰ bzw. das, „was uns zuträglich sei“⁶⁹¹ letzten Endes unter der Leitung und in der Verantwortung der göttlichen Vorsehung steht. Gleichzeitig aber bleibt damit genau dieses sittlich qualifizierte⁶⁹² „wahre[…] ewige[…] Wohl“ der Menschen – im Grunde als Höchstes Gut – Maßstab und Kriterium auch der irdischen bzw. auf äußere Angelegenheiten und Wünsche bezogenen Dimension der Glückseligkeit. Eine futurisch eschatologische oder jenseitige Glückseligkeit bzw. Seligkeit kommt in der vorliegenden Predigt in der Verwendung von Formulierungen wie „unser[em] wahre[n] ewige[n] Wohl“⁶⁹³ oder „unsere[r] wahre[n] höhere[n] überirdische[n] Bestimmung“⁶⁹⁴ zum Ausdruck. Eine Form präsentischer Eschatologie lässt sich in den in gewisser Weise antizipatorischen Schilderungen der Gebetserhörung bzw. der Wirkungen des Gebets ausmachen, die das Gebet letztlich schon als Ziel und Zweck seiner selbst, nämlich der Gemeinschaft oder Verbundenheit mit Gott und göttlichen Gegenständen⁶⁹⁵ bzw. der Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen,⁶⁹⁶ erkennen lassen.⁶⁹⁷

II.2.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion Für das Verhältnis von Tugend bzw. Sittlichkeit und Religion in der vorliegenden Predigt ist zunächst einmal festzuhalten, dass beide Größen hier so eng miteinander verbunden sind, dass sie im Grunde ineinander aufzugehen scheinen: so kann die „Sache des Christenthums“ ohne Weiteres mit der „gute[n] Sache der Tugend“ parallelisiert werden,⁶⁹⁸ das „Ideal des wahren Christen“ wird in sittlichen Kategorien entfaltet,⁶⁹⁹ im Zusammenhang mit dem handlungsleitenden

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 38 – 145, 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 25 – 31.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 22– 26.  Vgl. zur sittlich qualifizierten Vollkommenheit oder Bestimmung bzw. zum sittlich qualifizierten „wahren ewigen Wohl“ der Menschen den Abschnitt II.2.1.6.2 der vorliegenden Arbeit.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 25 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 31– 33.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 38.  Vgl. insbesondere Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 12 oder auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 31– 39.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 11– 24.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 25 – 31: „Daß wir immer beßer, immer mehr von unsern Fehlern befreit werden, […] die Gebote Jesu immer pünktlicher […] befolgen“.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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bzw. -mitleitenden Gefühl des Menschen ist in einem Atemzug von der „Schönheit der Tugend und Frömmigkeit“ die Rede,⁷⁰⁰ dem „Glük der Tugend“ entspricht das „Heil“ der Menschen, „der Fromme“ schließlich wird schlicht als derjenige qualifiziert, „der sein ganzes Leben den aufrichtigsten Bemühungen für seine Besserung widmet.“⁷⁰¹ In besonderer Weise greifbar wird diese enge Zusammengehörigkeit auch im hier verwendeten Begriff der „Gesinnungen“, verweisen doch einerseits „jene hohen Gesinnungen des betenden Christus“ primär auf den Bereich der Religion bzw. des Gemüts,⁷⁰² die Nebeneinanderstellung „unsere[r] Gesinnungen“ und „unsere[r] Wünsche für unser sittliches Wohl“ dagegen doch ganz deutlich auf den Bereich der Sittlichkeit bzw. Tugend.⁷⁰³ Der Religion kommt in diesem Gefüge nun eine spezifische, präziser: die Sittlichkeit unterstützende Funktion zu, lässt man – was die Einleitung der Predigt wie gezeigt bereits intendiert – das Gebet, als einen der „größten Vortheile, die wir als Christen genießen“, als pars pro toto für die „Religion Jesu“ bzw. das „Christenthum“ insgesamt gelten.⁷⁰⁴ Die die Sittlichkeit unterstützende Funktion der Religion besteht dann in der zweifachen Wirkung, die auch das Gebet mit sich bringt: einerseits in der direkt auf die sittliche Besserung des Menschen zielenden Ermunterung zum Guten, andererseits in der über den Zustand von Ruhe, Ergebung und Gelassenheit führenden Unterordnung aller äußeren bzw. irdischen Angelegenheiten und Wünsche unter den „ersten einzigen Zwek“ „der wahren sittlichen Vollkommenheit“ des Menschen.⁷⁰⁵ Wie schon für das Gebet herausgearbeitet, bleibt das oberste Kriterium dieser zweifachen Wirkung bzw. der Funktion der Religion überhaupt damit letztlich die Sittlichkeit bzw. das sittlich Gute oder die sittliche Vollkommenheit des Menschen.⁷⁰⁶ Daneben lassen sich nun allerdings, wie ebenso schon gezeigt, auch Ansätze eines Eigenwertes oder Selbstzweckes des Gebets ausmachen, was wiederum die entsprechenden Konsequenzen für die Religion als dem Gebet übergeordneter Bezugsgröße mit sich bringt. Zu nennen wären an dieser Stelle zunächst einmal der für „ein eingeschränktes Wesen“ höchstmögliche „Grad der Selbstzufriedenheit“, zu dessen „Stuffe“ das Gebet durch das Erleben der Übereinstimmung

      31. 

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 26 – 31. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 16 – 22. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 33. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 16. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 17; die Zitate stammen aus Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 13 – Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 8 – 11 und 144, 29 – 31.

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II. Predigtanalysen

mit dem Willen Gottes „erhebt“,⁷⁰⁷ oder auch die Schilderung des Erhobenseins „über die gewöhnliche menschliche Sphäre“ hinaus, das „den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott“ eröffnet.⁷⁰⁸ Sodann wäre an dieser Stelle auf die Rede von der „menschliche[n] Würde in ihrer ganzen Größe“ zu verweisen, die sich dem der zitierten Wendung vorangehenden Kontext gemäß insbesondere der „trostreichen“ Vater-Kind-Beziehung zwischen Gott und Mensch verdankt, die sich dem Menschen im Gebet zu erschließen vermag.⁷⁰⁹ Festzuhalten bleibt dabei nun allerdings noch einmal, dass auch alle diese Aspekte oder Ansätze eines Eigenwertes oder Selbstzweckes des Gebets durch den Kontext der Predigt letztendlich wiederum sittlich qualifiziert sind,⁷¹⁰ eine Konkurrenz oder ausschließende Alternative zu der „etwas schwereren Befolgung“ der göttlichen Gebote kann und soll das rechte Gebet der Christinnen und Christen ausdrücklich nicht sein.⁷¹¹ Das eigene Zutun der Menschen im sittlichen Prozess ihrer Besserung bleibt damit relevant, alles andere würde im Grunde der Definition des Gebets als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“ und uns eben nicht „aller Bemühung um dasselbe zu überheben“, widersprechen.⁷¹² In der Konsequenz dessen kann dann den Ausführungen dieser Predigt gemäß aber wiederum auch die Religion als dem Gebet übergeordnete Bezugsgröße letztendlich keine ausschließende Alternative zu Sittlichkeit und Tugend darstellen. Es kann nur davon gesprochen werden, dass der Aspekt eines Eigenwertes oder Selbstzweckes der Religion ansatzweise zum Ausdruck kommt, insgesamt gesehen aber bleibt die Religion hier durchgängig in konstitutiver Weise auf Sittlichkeit und Tugend bezogen.

II.2.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt oder „‚ob ein Deist […] Prediger sein könne‘“⁷¹³ Dass eine der ersten Predigten Schleiermachers das Gebet thematisiert, verwundert auf dem Hintergrund seines ernsthaften Studiums der Eberhardschen Sit-

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 31– 38.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 6.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 8 – 19.  Der zuerst genannte Gesichtspunkt über die Entsprechung zum Willen Gottes, der zweite Aspekt, indem die genannte Schilderung wieder in die Ermunterung zum Guten mündet, Letzteres schließlich, indem das die Würde des Menschen bergende Gebet insgesamt ja dem Kriterium des sittlich Guten bzw. der sittlichen Vollkommenheit des Menschen unterstellt bleibt.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 36 – 141, 3.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 12.  Diese etwas provokative Zuspitzung verdankt sich einem Brieftitel, den Schleiermacher offensichtlich im Zusammenhang mit dem „lebhafte[n] Planmachen und Ausarbeiten“ des „Frühjahrs und Sommers 1789“ für einen im „Entwurf“ seiner „kritischen Briefe“ vorgesehenen Brief

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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tenlehre in Verbindung mit seiner deutlich zum Ausdruck gebrachten Hochachtung gegenüber der Spaldingschen Religionstheorie bzw. Religionstheologie⁷¹⁴ nicht weiter.⁷¹⁵ Insbesondere die Spaldingsche Predigt „Die Verbindlichkeit und

gewählt hatte: „‚3. Br. an Theokles: ob ein Deist mit gutem Gewissen Prediger sein könne.‘“ (Vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 5 [Hervorh. i. Orig.]).  Eine Passage aus Schleiermachers Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann vom 10.06.1789 bringt diese Hochachtung und, sozusagen in einem Atemzug mit dieser auch diejenige für Eberhards Praktische Philosophie und Lucians Satiren ganz grundlegend zum Ausdruck: „Dennoch wird wol die Welt immer bleiben wie sie ist und weder Moral noch Religion noch Satyre werden im ganzen etwas ausrichten; inzwischen wird doch jedes hie und da einen einzelnen finden bei dem es haftet, und jeder der es über sich nimmt auf die eine oder andre Weise an der menschlichen Seele zu quaksalbern wird wenigstens die Beruhigung haben, daß er das seinige gethan und seine Neigung zur Glükseligkeit der Welt etwas beizutragen gestillt hat. Dank der Natur die auch hier in so weit mitwirkt daß ein jeder das Mittel für das beste hält, welches er am meisten in seiner Gewalt hat: Spalding die Religion, Eberhard die Moral und Lucian die Satyre.“ (Brief 116, 64– 73, in: KGAV/1, S. 122). Zu der innerhalb der deutschen Aufklärungstheologie vollzogenen und auch für Spalding charakteristischen „Umbildung der protestantischen Theologie in Religionstheologie“ vgl. Ulrich Dreesman: Aufklärung der Religion. Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings (PThK 20), Stuttgart 2008 [Dreesman: Aufklärung der Religion], S. 22– 25, das Zitat befindet sich auf S. 25. Dreesman spricht in Hinblick auf Spaldings Religionstheologie von einer dieser zugrunde liegenden „Funktionsidentität von natürlicher Religion und Christentum“, die allerdings die gleichzeitige Anerkennung der Eigentümlichkeit des Christentums impliziere (vgl. Dreesman: Aufklärung der Religion, S. 120 f.).  Christoph Meier-Dörken leitet aus dem Sachverhalt, „[d]aß Schleiermacher überhaupt eine Predigt über den Sinn des christlichen Gebets hält“, den Hinweis auf die „Beistandsfunktion“ der Religion ab, die er als die für das frühe Schleiermachersche Religionsverständnis charakteristische zweite Funktion der Religion, neben der die „moralische[…] Selbstvervollkommnung“ fordernden ersten Funktion, herausarbeitet. Das entscheidende Moment dieser Beistandsfunktion sieht Meier-Dörken dabei darin, dass hier mit der „Bitte an Gott um moralische Vervollkommnung“ noch „eine wesentlich andere Instanz in Anspruch genommen [wird] als die der eigenen Verantwortung“ (Vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 73 f. [Hervorh. i. Orig.]). Der Beobachtung, dass Schleiermachers Predigt über das Gebet eine solche Beistandsfunktion der Religion zur moralischen Vervollkommnung zum Ausdruck bringt, ist selbstverständlich zuzustimmen (vgl. dazu das bereits in II.2.1.6.6 Gesagte), ebenso dem Hinweis auf die dadurch gegebene Nähe zum Spaldingschen Religionsverständnis (vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 74, Anm. 45, mit Verweis auf Herms: Herkunft, S. 113 f.), hinzugefügt werden kann der Verweis auf die dadurch ebenfalls gegebene Nähe zur Eberhardschen Religionsphilosophie (vgl. für die Beistandsfunktion der Religion bei Eberhard insbesondere Eberhard: SdV, § 131, S. 146 f.) sowie zur Kantischen Praktischen Philosophie (vgl. die Bestimmung des reinen praktischen Vernunftglaubens als eines „Beförderungsmittel[s] dessen, was objektiv [praktisch] notwendig ist,“ in KpV, S. 196 [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 263]). Noch nicht reflektiert ist bei MeierDörken damit allerdings die mit der Gebetsthematik zweifellos in Angriff genommene religi-

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II. Predigtanalysen

Annehmlichkeit des Gebets“,⁷¹⁶ auf die Eberhard in seiner Sittenlehre der Vernunft explizit verweist,⁷¹⁷ hat denn auch in Schleiermachers Predigt deutliche Spuren hinterlassen. Um diesen Spuren nachgehen zu können bzw. um die theologische Bezugnahme des jungen Schleiermacher auf Spalding kenntlich und auf diesem Hintergrund die eigene Positionierung Schleiermachers innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Religionstheologie und Religionsphilosophie deutlich machen zu können, wird sich zunächst einmal ein genauerer Blick auf Spaldings Predigt über das Gebet empfehlen.Von da aus sollen dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Spaldingschen und dem Schleiermacherschen Gebetsverständnis untersucht sowie der Stellung der beiden Gebetskonzeptionen im Kontext deistischen Gedankengutes nachgegangen werden. Denn in religionsphilosophischer Hinsicht wird, nicht nur aufgrund des hier in der Überschrift zitierten Schleiermacherschen, im Übrigen offensichtlich nicht verwirklichten, Briefvorhabens, sondern zunächst einmal schlicht der Zeit und dem geistesgeschichtlichen Kontext der beiden Predigten entsprechend, insbesondere die Frage nach der Stellungnahme zu deistischen Positionen von Interesse sein.⁷¹⁸ Es sei nur kurz daran erinnert, dass Troeltsch den Deismus als „die Religionsphilosophie der Aufklärung“ bezeichnete.⁷¹⁹ Zudem verweist nun aber die Gebetsthematik, die im onsphilosophische bzw. religionstheologische Auseinandersetzung mit geläufigen deistischen Fragestellungen seitens Schleiermachers.  Veröffentlicht im Band der „Neuen Predigten“, dessen erste Auflage 1768 erschien: SpKA II/2, S. 67– 87.  Eberhard: SdV, § 144.1, S. 168.  Der Sprachgebrauch bzw. die Verwendung des Terminus „Deismus“ folgt der Entscheidung Lechlers, der in seinen „Schlussbemerkungen“ noch einmal die den Deisten beigelegten Bezeichnungen, wie „Atheisten, Naturalisten, Freidenker“ oder „Rationalisten“ mustert, um auf diesem Hintergrund seine Beibehaltung der Bezeichnung „Deisten“ bzw. „Deismus“ für diejenige religionsphilosophische bzw. religionstheologische Strömung, die im Wesentlichen dadurch zu charakterisieren sei, dass sie den „vernünftige[n] und reine[n] Gottesglaube[n] im Gegensatz zum Atheismus einerseits und zum Aberglauben andrerseits“ vertrete, abschließend zu begründen (vgl. Gotthard Victor Lechler: Geschichte des englischen Deismus, mit einem Vorwort und bibliographischen Hinweisen hg.v. Günter Gawlick, Hildesheim 1965 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart – Tübingen 1841] [Lechler: Deismus], S. 453 – 460, Zitate auf S. 453 und 459).  Vgl.Troeltsch: Deismus, S. 429. Daran anknüpfend bezeichnet Günter Gawlick den Deismus als „den Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung“ (vgl. Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung, in: Hermann Samuel Reimarus [1694– 1768]: ein „bekannter Unbekannter“ der Aufklärung in Deutschland [Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 1972], Göttingen 1973 [Gawlick: Deismus als Grundzug], S. 25 und S. 36). Christopher Voigt dagegen kommt bei seiner Untersuchung von deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, dass „[d]ie Entwicklung der evangelischen Religion und Theologie in Deutschland […] im 18. Jahrhundert nur

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Grunde ja die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit einer besonderen Vorsehung und des Eingreifens Gottes in den Lauf der Geschichte bzw. in den Gang der natürlichen Welt geradezu repräsentiert, schon per se auf die Auseinandersetzung mit deistischem Gedankengut, auch wenn nach Troeltsch die „Verwendung des Wortes Deismus für ein bestimmtes metaphysisches System, das der mechanistischen Transzendenz, […] erst ein Erzeugnis der späteren Philosophie“ ist, die eigentliche „Haupttendenz“ des Deismus aber „in der Selbstbezeichnung als ‚Freethinkers‘“ zu erkennen sei.⁷²⁰ In entsprechender Weise bestimmt dann

ganz mittelbar mit der Entstehung und Entfaltung der englischen Religionsphilosophie in Verbindung gestanden [hat]. Soviel Präsenz die englische religionsphilosophische Literatur in zentralen Diskussionen der deutschen protestantischen Aufklärungskultur entwickelt“ habe, „sowenig [habe] man sie sich angeeignet.“ (Vgl. Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhundert [Beiträge zur historischen Theologie 121], Tübingen 2003 [Voigt: Deismus], S. 221). Dass sich diese Beobachtung nicht einfach auf die protestantische Predigtkultur des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts übertragen lässt, bzw. dass die hier untersuchten Predigten Spaldings und Schleiermachers über das Gebet zu einem von dem Voigtschen abweichenden Ergebnis führen, wird im Folgenden deutlich werden.  Vgl. Troeltsch: Deismus, S. 436. Beispielhaft ist dieses System der „mechanistischen Transzendenz“ in der hier in besonderer Weise interessierenden Literatur bei George Benson geschildert: „Geschichte, Vernunft und tägliche Erfarungen […] beweisen offenbar, daß, in verschiedenen Fällen, es sich wirklich so verhalte: nämlich, die Vorfallenheiten in der natürlichen Welt, die entweder Strafgerichte oder Wohlthaten über die Menschen bringen, sind von der unendlichen Weisheit und Macht des Schöpfers und Regierers der ganzen Welt so eingerichtet, daß sie nur als Folgen anzusehen sind, die aus seiner ersten Bildung und Einrichtung des Himmels und der Erde fliessen, und auch aus seiner Erhaltung des Wesens und der Bewegungen derselben in demjenigen Zustande und Ordnung, zu welchen sie, ihrer ersten Einrichtung nach, natürlicher Weise abzielten.“ (George Benson: D. George Bensons Abhandlungen und Betrachtungen über einige wichtige Warheiten der Religion. Aus dem Englischen übersezt von Johann Peter Bamberger, Halle 1763 [Benson: Abhandlungen], S. 339). Orientiert man sich an neueren Lexikonartikeln, so ist z. B. bei Gottfried Hornig, nachdem er zunächst einmal grundlegend vermerkt, dass der Deismus als „philosophische Bewegung“, nicht aber als „einheitliche Richtung oder Schule“ zu verstehen sei und von daher ein recht differenziertes Erscheinungsbild biete, das als kennzeichnende Merkmale v. a. die Überzeugung, „daß die natürliche Rel. mit ihrem Gottesglauben und ihrer Verpflichtung zum sittlichen Lebenswandel alles enthält, was zum ewigen Heil des Menschen notwendig ist“, sowie die Ablehnung „alle[r]“ zur Gotteserkenntnis nötigen „‚nähere[n] Offenbarung‘“ aufweise, folgende Charakterisierung dieses Systems aus Sicht der neueren protestantischen Dogmatik zu finden: „Die prot. Dogmatik und neuere Glaubenslehre hat nicht selten hervorgehoben, daß der D. eine höchst anfechtbare Art des Schöpfungsglaubens vertrete, weil er den Schöpfergott in die von ihm geschaffene Welt nicht mehr oder nur ausnahmsweise eingreifen lasse. Die Welt existiere hier aus den ihr eingestifteten Natur- und Bewegungsgesetzen.“ (Gottfried Hornig: Deismus. II. Dogmatisch, RGG4 Bd. 2, Sp. 616). Christof Gestrich schließlich nimmt dieses System als „Bild vom Deismus […], dem zufolge der Gott der Deisten einem Uhrmacher

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II. Predigtanalysen

auch Lechler den Deismus als eine „seinem Begriff nach […] auf den Grund freier Prüfung durch das Denken gestützte Erhebung der natürlichen Religion zur Norm und Regel aller positiven Religion“.⁷²¹ Die Frage, ob gebetet werden sollte oder nicht, bzw. die Frage nach Sinn, Nutzen und Verbindlichkeit des Gebets wurde von deistischen Schriftstellern und deren Kontrahenten jedenfalls intensiv diskutiert, exemplarisch sei eine Passage aus Bensons Abhandlung vom Gebet zitiert, die den entsprechenden Einwand der „Freidenker“ folgendermaßen aufnimmt: „Unter den vielen Einwendungen, die von Zweifelsüchtigen aufgeworfen worden, ist diejenige, die das Gebeth betrift, keine der geringsten. Sie lautet also: ‚Wozu dient es, daß ein Gott von unendlicher Weisheit, Güte und Macht gebethen werden soll, etwas zu thun, wovon er ohnedies schon siehet und weiß, daß es einem jeden seiner Geschöpfe nüzlich und ersprieslich ist? und wie ungereimt muß es sein, wenn man sich einbildet, daß solche unvollkommene Wesen, als wir sind, durch unsre Gebethe, oder durch sonst irgend etwas, ein allweises und unveränderliches Wesen bewegen oder überreden können?‘“⁷²²

Im Anschluss an die Untersuchung der beiden Gebetskonzeptionen Schleiermachers und Spaldings auf dem Hintergrund ihres Verhältnisses zu deistischem Gedankengut wird der gesamte Befund zum Vergleich der beiden Gebetskonzeptionen noch einmal durch einen Blick auf weitere Bezüge zwischen Schleiermachers ersten Predigten und Spaldings Religionstheologie sowie homiletischen Äußerungen ergänzt und präzisiert werden müssen. Abschließend folgen dann zusammenfassende Überlegungen zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die hier zu untersuchende Schleiermachersche Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“.

II.2.1.7.1 Bezüge Schleiermachers zum Spaldingschen Gebetsverständnis Anhand einer Predigtskizze der Spaldingschen Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets soll nun zunächst einmal ein einführender Überblick über Inhalt und Gliederung der Predigt Spaldings gewonnen werden,

vergleichbar wäre, der, nachdem er die ‚Weltenuhr‘ einmal gemacht und angestoßen hat, nie mehr in sein von nun an selbstlaufendes Produkt eingreift“, auf. Auch Gestrich verweist darauf, dass dieses Bild „keineswegs den in der Geschichte des Deismus hervorgetretenen Kerngedanken“ vermittelt, um im Anschluss daran in differenzierter Weise „16 immer wiederkehrende[…], wesentliche[…] Merkmale[…] des Deismus“ zusammenzustellen. (Christof Gestrich: Deismus, TRE Bd. 8, S. 394). Ansonsten verwendet er die Bezeichnung „deistisch“ allerdings recht großzügig,vgl. a. a.O., S. 392.  Vgl. Lechler: Deismus, S. 460.  Benson: Abhandlungen, S. 331, die Bezeichnung „Freidenker“ findet sich bereits auf S. 330.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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um auf diesem Hintergrund dann weiterführende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Spaldingschen und dem Schleiermacherschen Gebetsverständnis erarbeiten zu können.⁷²³

II.2.1.7.1.1 Johann Joachim Spaldings „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zum Predigttext Joh 16,23 – 30⁷²⁴ EXORDIUM: Predigttext: Joh 16,23 – 30 Einleitung: Propositio: Der kurzen Klage darüber, „daß es Menschen giebt, die in Ansehung des Gebets so viel Abneigung und […] Trägheit beweisen können“, wird gleich im ersten Satz die bereits Thema und Disposition der Predigt beinhaltende Überzeugung gegenübergestellt, „daß nicht allein die stärksten Gründe uns dazu [i. e. zum Gebet, D.G.] verpflichten, sondern auch ungemein viel innerliche Annehmlichkeit und Freude damit verknüpft ist“ (negatio und positio). Praeparatio: Hinderungsgründe dieser Überzeugung beruhen darauf, dass auf den „Umgang[…] mit Gott“ gar kein oder nicht genug Wert gelegt wird, was letztlich auf ein falsches Gebetsverständnis zurückzuführen ist: das Gebet wird für „etwas unnöthiges“ oder aber für eine „beschwerliche Pflicht“ gehalten. Voluntas concionatoris: Absicht des Predigers ist es angesichts dessen, die Zuhörenden vom „Wahn“ dieser Hinderungsgründe zu „befreyen“, um sie vor der damit verbundenen „Verschuldung“ zu bewahren und ihnen anstelle dessen „die Freude und den Trost der Seele“ zu erschließen, die mit dem Umgang mit Gott verbunden sind. Berufung auf die auctoritas des Predigttextes: „Jesus ermuntert“ im Predigttext „seine Jünger zum Gebet“. Anticipatio: Die damit verbundene Verheißung der Gebetserhörung „galt freylich in einem eigentlichen Verstande nur bey den Aposteln und den ersten Boten des Evangelii“, insofern sie das Erbetene bzw. den „wunderthätigen Beystand Gottes“ „zur Bestätigung und Ausbreitung der Lehre Jesu nöthig haben würden“. „[I]n

 Dem Schleiermacherschen Gebetsverständnis liegt im Folgenden die zuvor ausführlich bearbeitete Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zu Joh 16,23 zugrunde (Predigt Nr. 14, KGA III/3, S. 135 – 145).  Vgl. SpKA II/2, S. 67– 87, die erste Auflage der „Neuen Predigten“ erschien 1768, die Predigt ist also vor diesem Zeitpunkt zu datieren.

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II. Predigtanalysen

einem andern Sinne“ aber „kömmt es auch den Christen überhaupt zu, in dem Namen Jesu zu Gott zu beten.“ Dann nämlich, „wenn wir,“ – „in der Empfindung, daß wir Bekenner und Erlösete dieses unsers göttlichen Heilands sind,“ – „[…] in der Ergebung an ihn“ und „gegen seinen Befehl“ – und „in der gläubigen Erwartung, daß er seine Verheißungen[…] an uns erfüllen werde“, „mit unsern Anrufungen vor Gott kommen“. Summa bzw. Wiederaufnahme der propositio: Diese Übertragung der Ermunterung zum Gebet auf die gegenwärtige Christenheit setzt allerdings „die allgemeine Verbindlichkeit dieser gottseligen Uebung[…]“ sowie die im „Herzen“ gegründete „Ueberzeugung“ des Menschen, dass diese „gottselige[…] Uebung[…]“ „an sich recht und auch für ihn selber gut sey“, voraus. Einleitung des Themas, gleichzeitig der divisio bzw. partitio ⁷²⁵ durch erneute Formulierung der voluntas concionatoris: „Um nun diese Ueberzeugung, auf welche so viel ankömmt, auch bey uns mehr zu erwecken, so will ich itzo […]“ Thema bzw. propositio ⁷²⁶, gleichzeitig divisio bzw. partitio der Predigt: I. „[D]ie Verbindlichkeit so wohl, als“ II. „[D]ie Annehmlichkeit des Gebets in das gehörige Licht zu setzen suchen.“⁷²⁷

ARGUMENTATIO: I. Die Verbindlichkeit des Gebets: I.1 Berufung auf die auctoritas der Heiligen Schrift: Der erste Grund der Verbindlichkeit des Gebets besteht in dessen Schriftgemäßheit. Zahlreiche „ausdrückliche Befehle und Ermahnungen“ zum Gebet sind dem „Wort Gottes in der heiligen Schrift“ zu entnehmen, demzufolge können Christinnen und Christen bzw. „wir“ auch „wissen, daß der Herr es von uns fodert, und daß es sein Wille ist“.⁷²⁸ I.2 Praeparatio: Die „Einwürfe und scheinbaren Zweifel“ derer, die – ihrem Selbstverständnis gemäß – „nach der Vernunft Gott erkenn[…]en und ver   

Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. SpKA II/2, 67, 1– 70, 3 [Hervorh. i. Orig.]. SpKA II/2, 70, 4– 20.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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ehr[…]en“, dabei aber „die Pflicht des Gebets […] läugnen und […] für unnöthig […] erklären“, machen die Argumentation mit auch von diesen Menschen zugestandenen bzw. mit vernunftgemäßen Gründen erforderlich.⁷²⁹ I.3 Die natürlichen oder vernunftgemäßen Gründe der Verbindlichkeit des Gebets: I.3.1 Definitio: Die den Ausgangspunkt der folgenden Darlegung von Gründen bildende Definition des Gebets besagt, „daß das eigentliche Gebet nicht in der Hersagung einer bloßen[…] Formel mit dem Munde, ohne Gedanken und ohne Theilnehmung des Herzens, bestehe, sondern vielmehr in der lebhaften Richtung unsers Gemüths zu Gott, und in der wahren herschenden[…] Empfindung, daß wir alles Gute von ihm haben, und auch für das künftige lediglich von ihm erwarten müssen.“⁷³⁰ I.3.2 Als erster natürlicher oder vernunftgemäßer Grund der Verbindlichkeit des Gebets wird die allein schon durch den Glauben an die Existenz eines „unendlich weisen, mächtigen und gütigen“ „Gott[es], […] Schöpfer[s], Erhalter[s] und Regierer[s] aller Dinge“ billiger- und natürlicherweise bei den Menschen hervorgerufene Empfindung der Anbetungs- und Lobenswürdigkeit dieses höchsten Wesens genannt.⁷³¹ I.3.3 Ein zweiter natürlicher oder vernunftgemäßer Grund der Verbindlichkeit des Gebets besteht, in engstem Zusammenhang damit, in der im Menschen im Blick auf die bereits von Gott empfangenen „leibliche[n] und geistliche[n]“ Wohltaten als „allernatürlichste[…] und billigste[…] Regung[…]“ hervorgehenden Empfindung der Dankbarkeit.⁷³² I.3.4 Ein dritter natürlicher oder vernunftgemäßer Grund der Verbindlichkeit des Gebets schließt sich diesem zweiten im Blick auf die Zukunft des Menschen an: auch, „was mir noch auf die Folge zu meinem Glücke nöthig ist“, „muß ich […] mir von dem wünschen, der es geben kann; und das heißt Beten[…].“ Als Gebetsgegenstände werden dabei zunächst einmal die Bitte um „seinen Segen, seinen Schutz, seinen Beystand“ oder die Dinge, „die ich gerne hätte“, also äußerliche Angelegenheiten oder Gaben genannt. In einem weiteren Schritt kommt dann aber auch „die Verbindlichkeit des Gebets um geistliche Güter, um dasjenige, was zur Besserung und zum Troste unserer Seele gehöret“, hinzu. Auch alle diese Güter unterliegen den „Fügungen seiner Fürsehung“, sodass „das ganze Geschäfte meines Glaubens und meiner Heiligung ihm zu[gehöret]“. Das Gebet, das dieses    

SpKA II/2, 70, 20 – 30. SpKA II/2, 70, 31– 71, 11. SpKA II/2, 71, 12– 31. SpKA II/2, 71, 31– 72, 21.

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II. Predigtanalysen

zum Gegenstand hat, ist denn sogar „etwas so billiges und der Sache selbst gemässes, daß ich mich ohne muthwillige Verletzung meiner Vernunft und meines Gewissens nicht davon enthalten kann.“ I.3.5 Die sowohl den Bitten um äußerliche Gaben als auch dem Gebet um geistliche Güter zugrunde liegende Einsicht bzw. Erinnerung „meine[r] so gänzliche[n] und allgemeine[n] Abhängigkeit von Gott“ bzw. „daß ich nichts gutes haben kann, ohne ihn“, stellt dabei im Grunde eine eigene, wenn auch auf die Empfindung der Dankbarkeit zurückverweisende, Verbindlichkeit dar. I.3.6 Das Gebet „um Heiligung und Gnade“ bzw. um geistliche Güter schließlich impliziert zusätzlich neben der seiner Sachgemäßheit entspringenden Verbindlichkeit auch noch diejenige, die sich dem Sachverhalt verdankt, „daß ein menschliches Gemüth niemal besser aufgelegt und fähig ist, den Eindruck der göttlichen Wahrheit zu seiner wirklichen Besserung und zum Wachsthum seiner Gottseligkeit recht kräftig und mit Nutzen zu erfahren, als wenn es in dem Umgange mit Gott sich ganz vor demselben öffnet[…]“.⁷³³

I.3.7 Summa: Wer „[d]iese bisher angezeigten Erkenntnisse und die daraus so natürlich entspringenden Empfindungen“ zu Herzen nimmt und so das „lebendige Gefühl von dem, was er an Gott hat, und was er gegen Gott ist“, zulässt und pflegt, aus dessen Seele „wird das Gebet“ – in seinen drei Ausdifferenzierungen als „Anbetung und Dank und inbrünstige[m] Verlangen nach fernerer Güte“ – „von selbst […] hervorströmen“.⁷³⁴ I.4 Aufnahme und Widerlegung der scheinbar vernunftgemäßen „Einwendungen“ derer, die „diese so wahren und wichtigen Erkenntnisse nicht an sich kommen, noch daraus lebhafte Empfindungen werden lassen“: I.4.1 Der sich auf das als Anbetung und Dank verstandene Gebet beziehende Einwand, dass dieses Gott „keinen Nutzen“ bringe, vermag die aus den genannten Gründen hervorgehende Verbindlichkeit des Gebets nicht zu widerlegen. (Mit similitudines: die „Ehrerbietung“ des „Unterthan[s]“ gegenüber dem „Regent[en]“ und der „Dank“ und die „Werthschätzung“, die man einem „freundschaftlichen Wohlthäter“ entgegenbringt, nützen diesen ebenfalls nicht unmittelbar, sind aber billigerweise zu fordern).⁷³⁵ I.4.2 Dem schwerwiegenderen, sich „gegen das eigentliche Bitten um göttliche Wohlthaten“ richtenden Einwand, „daß wir mit unserm Gebet […] nichts ändern

 SpKA II/2, 72, 22– 74, 30.  SpKA II/2, 75, 1– 19.  SpKA II/2, 75, 19 – 76, 26.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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können“, da Gott in seiner Allwissenheit „alles nach seiner Absicht schon lange vorher bestimmt […] habe“, und „daß es uns folglich zu nichts helfe, ihn um etwas zu bitten“, wird begegnet:⁷³⁶ – mit dem Hinweis darauf, dass eine auf eine „richtige Erkenntniß der Wahrheit“ zurückgehende Notwendigkeit ihren Pflichtcharakter nicht dadurch verliert, dass sie uns keinen „unmittelbar[en] Nutzen bringet“. Die der Verpflichtung zum Gebet zugrunde liegende Wahrheitserkenntnis besteht in der Einsicht „unsere[r] offenbare[n] Abhängigkeit von Gott“ bzw. darin, dass „wir Gott und uns recht kennen“.⁷³⁷ – Zudem bringt das Gebet durchaus Vorteile und Nutzen mit sich, denn durch das Gebet „werden bey ihm [i. e. dem betenden Menschen, D.G.] die Gesinnungen mehr erwecket und unterhalten, die er Gott schuldig ist, und die ihn […] zum Guten lenken“. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang in Verbindung mit dem „Gebet um Wohlthaten“ auf: „Demuth“, „Gelassenheit“, die „Losreißung vom fleischlichen Vertrauen auf irdische Dinge“ sowie die „Liebe und Verehrung Gottes“.⁷³⁸ – Als weiteres Argument wird angeführt, dass Gott in seiner Allwissenheit auch „die Verfassung und Gesinnung des Gemüths, worinn die Menschen stehen, denen seine Wohlthaten wiederfahren sollen“, voraussehe. Da „[n]ach dieser […] Beschaffenheit“ nun „die menschlichen Verhängnisse ausgetheilet“ würden, sei auch „die Bezeugung unsers gottesfürchtigen Sinnes im Gebet“, die uns in eben die „Beschaffenheit“ versetze, „worinn wir […] seiner Wohlthaten mehr fähig sind“, für uns „heilsam zur Erlangung seiner Wohlthaten“.⁷³⁹ I.4.3 Summa: „So wenig hat es also mit allen den Bedenklichkeiten auf sich, die man gegen die Verbindlichkeit des Gebets einwendet“, dass alle überlegenden Menschen dieselbe und zwar „nicht allein“ die sich auf „Anbetungen und Danksagungen“, sondern auch die sich auf „Wünsche und […] Bitten“ beziehende Verbindlichkeit, als „höchst vernunftmäßig und billig“ anerkennen müssten.⁷⁴⁰

 SpKA II/2, 76, 27– 77, 8.  SpKA II/2, 77, 8 – 21.  SpKA II/2, 77, 21– 78, 3.  SpKA II/2, 78, 3 – 31. Kurz gefasst hieße das im Grund: Weil Gott unser Gebet voraussieht, haben wir es auch auszuführen. Die Logik dieses Arguments besticht natürlich nicht gerade, es erweckt vielmehr den Anschein, als ob das von Gott Vorhergesehene, hier die Gemütsverfassung oder -beschaffenheit des betenden Menschen, nicht nur von der Vorsehung Gottes, sondern eben auch von der Handlung bzw. der Realisierung dieses Vorhergesehenen durch den Menschen abhinge.  SpKA II/2, 79, 1– 23.

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II. Predigtanalysen

I.5 Transitus: „[W]enn wir unsere Pflichten als unangenehme Lasten ansehen“ und „noch kein Vergnügen darin finden, das zu thun, was wir selbst als recht erkennen“, ist das „kläglich genug und ein sehr sicheres Zeichen eines noch ungebesserten und von Gott entfernten Herzens“. In besonderer Weise zu bedauern ist es aber, wenn es das Gebet ist, das nur als lästige Pflicht verstanden wird, weil es außer dem Vergnügen der Pflichterfüllung bereits „an sich selbst so viel angenehmes bey sich führet“.⁷⁴¹ II. Die Annehmlichkeit des Gebets II.1 Berufung auf die auctoritas des Predigttextes: Die mit ihren Gebetsbitten verbundene „Freude“, die Jesus den Jüngern im Predigttext verheißt, beruht „bey den Christen überhaupt und ordentlicher Weise“ nicht auf der Erfüllung aller im Gebet geäußerten Wünsche, sondern darauf, dass „ein recht beschaffenes Gebet“ „allemal“ „eine[…] überaus grosse[…] Ermunterung des Geistes und […] eine[…] innige[…] Annehmlichkeit“ mit sich bringt. II.2 Anticipatio: „Davon werden freylich diejenigen nichts wissen“, die aufgrund eines falschen Gebetsverständnisses das Gebet als „aus Zwang[…] und aus Furcht der Strafe“ zu leistenden „Knechtesdienst[…]“ verstehen und ohne „Herz“ oder „innerliche[n] Trieb zu Gott“ lediglich „zu gewissen Zeiten ihre Formeln herlesen oder hersagen“. „Wer hergegen darum betet, weil er mit überzeugter Empfindung Gott als den Ursprung alles Guten […] ansieht, dem wird“ sein Gebet „gewiß […] eine wahre Freude seyn“ (comparatio).⁷⁴² II.3 Die Quellen oder Ursachen der Annehmlichkeit des Gebets: II.3.1 Die erste Quelle oder Ursache der Annehmlichkeit des Gebets besteht in dem Gedanken an bzw. in dem Umgang mit Gott selbst. – Aufgrund der Vollkommenheit Gottes, „in welchem lauter Gutes, lauter vollkommenes, und dabey die reineste[…] wohlthätigste Liebe gegen uns ist“, gibt es keine „angenehmer[e] Betrachtung“ für den Menschen als die, seine Gedanken „auf Gott hin[zu]lenk[en]“. – Durch das freundschaftliche Verhältnis Gottes zu den Menschen entspringt das dem Umgang „mit einem großmüthigen liebreichen Freunde“ eigene Vergnügen auch dem Gebet.⁷⁴³

 SpKA II/2, 79, 23 – 80, 6.  SpKA II/2, 80, 7– 34 [Hervorh. i. Orig.].  SpKA II/2, 81, 1– 26.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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„Freudigkeit“ bringt der Umgang mit Gott sodann durch „Jesum und sein theures Evangelium“ mit sich, insofern darin bzw. durch ihn sowohl die Vaterbeziehung Gottes zu den Menschen, als auch die Rechtfertigung der Menschen vor Gott begründet ist.⁷⁴⁴ II.3.2 Die zweite Quelle oder Ursache der Annehmlichkeit des Gebets besteht in dem durch das Gebet zugänglichen Trost im „zeitliche[n] Leiden“. – „[W]enn wir vielleicht keinen Freund auf Erden haben, der unser Elend bemerkt“, ist Gott als „der mächtigste und zugleich der gütigste Freund in der Nähe“. – Das Gebet erhebt „die Seele […] aus den trüben Wolken des Kummers […] zu Gott hinauf“, „in eine freyere, heitere Gegend“ und lässt das menschliche „Herz“ im Umgang mit Gott „Erleichterung“ erfahren: „Man vergißt denn[…] gleichsam das, was auf der Erde und unter unseren Füssen ist; und in dem göttlichen Lichte der Weisheit, Allmacht und Güte, deren lebhafte Betrachtung alsdann die Seele aufkläret und durchdringet, siehet man sein ganzes zeitliches Leiden bey weitem[…] nicht mehr in der finstern und schreckenden Gestalt, worin man es sonst zu seiner Quaal erblicken mußte.“⁷⁴⁵





Unterstützend erfolgt die Berufung auf die auctoritas des Kirchenliedes „‚Ein Trostgebet, damit ein betrübtes Herz in allerlei Kreuz und Anfechtung dieser letzten mühseligen Zeit sich ganz lieblich trösten und an dem süßen Namen Jesu Christi sehnlich ergötzen kann. Aus dem alten Hymnus Jesu dulcis memoria‘ von Martin Moller“.⁷⁴⁶ Diejenigen, die hierüber spotten, vermögen, weil „ihre Seele zu niedrig, zu vereitelt und zu verderbt ist“, „die Wahrheit und Größe dieses Gedanken“ nicht „an sich selbst zu erfahren“. Die Erfahrung derer aber, „die mit einer richtigen Erkenntnis Gottes auch zugleich ein redliches und empfindungs-

 SpKA II/2, 81, 26 – 82, 13. Hier liegt eine der seltenen Stellen in Spaldings Predigten vor, an denen der Topos der Rechtfertigung thematisiert wird (vgl. Albrecht Beutel: „Gebessert und zum Himmel tüchtig gemacht“. Die Theologie der Predigt nach Johann Joachim Spalding, in: Wilfried Engemann [Hg.]: Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen [Arbeiten zur Praktischen Theologie Bd. 21], Leipzig 2001 [Beutel: Gebessert], S. 176 f., in SpKA I/3 wäre dazu insbesondere S. 175, 7– 180, 8 zu vergleichen). Formuliert wird Rechtfertigung hier, im Kontext der Spaldingschen Predigt über das Gebet, als Gottes „Bereitwilligkeit, uns zu begnadigen und glücklich zu machen, […] da wir ihm durch den geliebten, durch unsern barmherzigen Mittler, angenehm gemacht sind“ und so „einer liebreichen Aufnahme von ihm versichert seyn“ dürfen (SpKA II/2, 81, 26 – 82, 8 [Hervorh. i. Orig.]).  SpKA II/2, 82, 14– 83, 8.  SpKA II/2, 83, 8 – 12; das Zitat des Titels des Kirchenliedes stammt aus den am Schluss des Bandes beigegebenen Erläuterungen (SpKA II/2, S. 310 f.).

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II. Predigtanalysen

volles Herz verbinden“, kann die „ermuntern[de] und trösten[de]“ Wirkung eines Gebets, das „unter der Last von Elend und Sorge“ vor Gott gebracht wird, bestätigen (comparatio). II.4 Summa: Das Gebet ist keine „beschwerliche[…] Pflicht“, sondern „unser Glück“, „die Ehre unserer vernünftigen menschlichen Natur, und die Freude eines jeden guten Herzens, […] der edelste und würdigste Umgang, den wir jemal haben können.“⁷⁴⁷

PERORATIO: Recapitulatio: „O, suchet dieses Glück, meine geliebte Zuhörer“. Indignatio ⁷⁴⁸: Den „unglückseligen Ursachen“ der Abneigung gegen die Verbindlichkeit des Gebets ist auf den Grund zu gehen. – Sie können in „heimliche[m] Unglaube[n]“ bestehen. – „Verstattet also dieser so trostvollen Wahrheit, daß ihr unter Gott stehet, einen Eingang in euer Herz […]“. – Daneben „kann [es] auch unordentliche Weltliebe und vereitelte irdische Gesinnung seyn“, die vom Gebet abhält, also dass „die Seele noch unter der Herrschaft des Lasters stehet, und ihre Lust am Bösen findet“ oder „noch so an die Erde gefesselt […] ist, daß die niedrigen Ueppigkeiten und Thorheiten der Welt“ des Menschen „größte Freude, seinen ganzen Himmel ausmachen“.⁷⁴⁹ Conquestio⁷⁵⁰: „Beraubet euch nicht länger mit Muthwillen des reinen unschätzbaren Vergnügens, welches eine aufgeklärte und empfindungsvolle Andacht giebt“ (insgesamt sechs Aufforderungen, das Gebet zu praktizieren, darunter): – Die Warnung, Gott „bey Zeiten“ zu suchen, bevor es „zu spät und umsonst“ ist. – „Nehmet euch die Zeit, über euch selbst vor dem Angesichte[…] und in der Gegenwart Gottes einmal recht nachzudenken“ und „das Elend und die Gefahr eures Zustandes in eine ernsthafte Betrachtung zu ziehen“. – „Werdet wirklich Christen, damit ihr die Freude erfahren lernet“, die das Gebet mit sich bringt und lasst euch dann von „diese[r] heilsame[n] Gesinnung“ bzw. vom „Geist der Gnade und des Gebets“ „bey aller Gelegenheit“ leiten.

   

SpKA II/2, 83, 28 – 84, 3. Vgl. Lausberg: Handbuch, § 438, S. 239. SpKA II/2, 84, 4– 85, 28. Vgl. Lausberg: Handbuch, § 439, S. 239 f.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Summa: Äußerung des Unverständnisses und der Ablehnung gegenüber „der Religion desjenigen“, dem das Gebet „noch ganz etwas ungewohntes ist“. Mahnung, den guten Rat zum Gebet anzunehmen. Kurze abschließende Gebetsbitte.⁷⁵¹ Amen.

II.2.1.7.1.2 Vergleich der Schleiermacherschen mit der Spaldingschen Gebetspredigt Ein Vergleich von Schleiermachers Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ mit der Spaldingschen „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ ergibt zunächst einmal signifikante Gemeinsamkeiten. Beide Predigten handeln vom Gebet, beiden Predigten liegt Joh 16,23 bzw. Joh 16,23 – 30 zugrunde, beide Predigten beginnen mit dem Einstieg der Klage über die weit verbreitete Vernachlässigung des Gebets seitens der Zeitgenossen.⁷⁵² Damit aber wird im Grunde schon der Adressatenkreis bzw. die Gegenpartei der Argumentation in den Blick genommen, die wiederum für beide Predigten weitgehend deckungsgleich sind: Spalding argumentiert etwas stärker abgrenzend gegen diejenigen, „die den Glauben des Christenthums von sich stoßen[…], und doch das Ansehen haben wollen, als wenn sie nach der Vernunft Gott erkenneten und verehreten“, „[b]ey denen […] es“ jedoch „etwas sehr gewöhnliches [ist], die Pflicht des Gebets zu läugnen und solches für unnöthig zu erklären.“⁷⁵³ Schleiermacher spricht im Vergleich dazu etwas konzilianter im Hinblick auf diejenigen, die sich des „Vorzugs“ des Gebets „muthwillig berauben“, obgleich sie „übrigens richtige Begriffe vom höchsten Wesen zu haben scheinen“.⁷⁵⁴ Nicht weiter verwunderlich ist von daher dann auch, dass in beiden Predigten ein zentraler Einwand dieser Menschen gegen das Gebet verhandelt wird, demzufolge das Gebet nichts im Lauf der Dinge verändern könne, da Gott von Anfang an alles vorherbestimmt habe.⁷⁵⁵ Festzustellen sind im Verlauf der beiden Predigten sodann weitere inhaltliche Übereinstimmungen, die an einzelnen Stellen bis in die wörtliche Formulierung hineinreichen. So ist bei Spalding zu lesen, „daß das eigentliche Gebet nicht in der Hersagung einer bloßen[…] Formel mit dem Munde, ohne Gedanken und ohne Theilnehmung des Herzens bestehe“⁷⁵⁶ und auch nicht als „Knechtesdienst[…]“ zu

     

SpKA II/2, 85, 29 – 87, 5. Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 19 und SpKA II/2, 67, 23 – 68, 4. SpKA II/2, 70, 20 – 27. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 19. Vgl. SpKA II/2, 76, 31– 78, 31 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 3 – 8; 143, 12– 145, 14. SpKA II/2, 70, 31– 71, 2.

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II. Predigtanalysen

verstehen sei, der darin bestehe, dass die Menschen „zu gewissen Zeiten ihre Formeln herlesen oder hersagen“. Kurz: „das muß man auch nicht Beten nennen, da das Herz gar nicht dabey ist, da gar kein innerlicher Trieb zu Gott sie zu diesem Umgange mit ihm erweckt.“⁷⁵⁷ Schleiermacher greift den Topos des verfehlten Gebetsverständnisses in deutlichem Anklang dazu mit den folgenden Formulierungen auf: „Viele denken daß dies [i. e. das Gebet, D.G.] ein Theil des Dienstes sei, den Gott gleichsam für sich von uns fordere, ihr Gebet besteht also blos in Worten, ihr Herz hat keinen Theil daran“.⁷⁵⁸ Etwas später spricht er von der „einzige[n] Entschuldigung für jene Gebete, die wir zu gewißen Stunden, bei gewißen Gelegenheiten, auszusprechen gewohnt sind“,⁷⁵⁹ an einer weiteren Stelle heißt es: „Das Gebet eines Christen muß aus dem Herzen kommen, aus der stärksten Empfindung von der Nothwendigkeit sich mit Gott zu unterhalten, es muß aus dem Bedürfniß entspringen, sein innerstes sich selbst vor den Augen des allsehenden zu entwikeln“.⁷⁶⁰ Bei Spalding schließlich begegnet die Aufforderung zum Gebet bzw. dazu, Gott sein Innerstes mitzuteilen, gegen Ende der Predigt unter anderem mit folgenden Worten: „Nehmet euch die Zeit, über euch selbst vor dem Angesichte[…] und in der Gegenwart Gottes einmal recht nachzudenken, das Elend und die Gefahr eures Zustandes in eine ernsthafte Betrachtung zu ziehen […]“ und „ihm, eurem mächtigen und gütigen Vater, die innersten Empfindungen eurer Seele zu sagen“.⁷⁶¹ Offensichtliche Anklänge finden sich sodann, wenn es um das Thema der Anwendbarkeit des dem Predigttext zu entnehmenden Gebetsgebotes Jesu und der damit verheißenen Gebetserhörung auf die Gegenwart geht,⁷⁶² aber

 SpKA II/2, 80, 19 – 29.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 8 – 21.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 17– 26.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 17.  SpKA II/2, 86, 10 – 24. Zu vergleichen wäre in diesem Kontext bei Schleiermacher auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 32– 38: „stimmen wir aber diese Gesinnungen zum Gebet um, so wagen wir es im Vertraun auf die höhere Kraft, deren Beistand wir uns erflehen unser ganzes Herz aufzudeken, wir zittern bei dem Gedanken, daß wir uns ihm dem allheiligen darstellen wollen, und daß es noch in irgend einem Winkel unserer Seele eine Neigung eine Leidenschaft gebe die wir kennen, aber seinen Geboten nicht aufzuopfern bereit wären.“  Bei Spalding heißt es dazu, dass die an seine Jünger gerichtete „Ermunterung“ Jesu zum Gebet, „in einem gewissen Verstande allerdings auch einen jeden Christen an[gehet]“. Die damit verbundene Verheißung der Gebetserhörung „galt freylich in einem eigentlichen Verstande nur bey den Aposteln und den ersten Boten des Evangelii.“ Maßstab der gewährten Gebetserhörungen bzw. des „wunderthätigen Beystand[es] Gottes“ sei dabei die Notwendigkeit des Erbetenen zur „Bestätigung und Ausbreitung der Lehre Jesu“, zum „Dienste seines Evangelii“ oder zur „Beförderung seiner Absicht auf die Erleuchtung und Seligkeit der Menschen“ (SpKA II/2, 68, 27– 69, 22). Schleiermacher argumentiert in analoger Weise, dass zu Zeiten der „damaligen Jünger“ bzw. „Apostel“ „so manche wundervolle Aeußerung seiner [i. e. Gottes, D.G.] Allmacht“ „den Absichten

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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auch Gedanken wie die sich aus der Natur des Gebets ergebende Sachgemäßheit des Gebets um sittliche Besserung bzw. Heiligung,⁷⁶³ die sich durch das Gebet erschließende Erhebung über die menschliche Sphäre und Perspektive hinaus,⁷⁶⁴ die mit dem Gebet verbundene Würde des Menschen⁷⁶⁵ oder die im und durch das Gebet selbst erzeugte Stärkung zum Guten⁷⁶⁶ finden sich in beiden Predigten. Beiden Predigten gemeinsam ist sodann auch die Unterteilung der Gebetsbitten in solche, die im Grund äußere Angelegenheiten oder Herzenswünsche der Menschen betreffen und solche Bitten, die die (eigene) sittliche Besserung oder Heiligung bzw. „geistliche Güter“⁷⁶⁷ zum Gegenstand haben.⁷⁶⁸ Genau an dieser Stelle lässt sich nun allerdings auch ein nicht ganz unwesentlicher Unterschied zwischen den beiden Predigten festmachen. Denn indem Schleiermacher den Predigttext streng genommen auf Joh 16,23b einschränkt, konzentriert er das Thema Gebet und damit den Gegenstand der Predigtüberlegungen auf das sich in der Bitte äußernde Gebet im Namen Jesu.Während Spalding das Phänomen des Gebets also von seinem vernunftgemäßen und natürlichen Wesen her in ganzer Breite angeht und auf diese Weise in formaler Hinsicht zur Unterscheidung der Gebetsformen der Anbetung, des Dankes und der Bitte kommt,⁷⁶⁹ begibt sich Schleiermacher sozusagen medias in res und konzentriert sich auf die in Hinblick auf die Gegenpartei eigentlich relevante Problematik, indem er sich auf die dezidiert christliche Ausprägung der letzten der drei von Spalding genannten Gebetsformen beschränkt. Diese, die Kategorie der Gebetsbitten, unterteilt er dann, jetzt im Grunde wieder in Anlehnung an Spalding,⁷⁷⁰ ganz konse-

Jesu gemäß und nothwendig“ gewesen sei, da erst der „erste[…] Keim“ der „ganze[n] künftige[n] Kirche Christi“ vorhanden war und die Fortdauer und das Wachstum derselben auf solche „außerordentliche[n] Handlungen“ angewiesen war. Dass solche Gebetserhörungen in der Gegenwart nicht mehr zu erwarten seien, ließe aber nicht den Schluss zu, dass das Gebetsgebot Jesu überholt sei, sondern nur „daß wir in einer von der Lage der Apostel ganz verschiednen Lage sind, und daß wir dies Gebot Jesu auf unsere Umstände anwenden müßen“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7).  Vgl. SpKA II/2, 74, 5 – 15 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 8 – 11.  Vgl. SpKA II/2, 82, 26 – 83, 8 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 12.  Vgl. SpKA II/2, 83, 30 – 84, 3; 85, 24– 28 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 19.  Vgl. SpKA II/2, 77, 21– 78, 3 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 22– 143, 12.  SpKA II/2, 73, 23 – 25.  Vgl. SpKA II/2, 72, 22– 74, 30 dazu auch 80, 12– 19 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 140, 29.  Vgl. SpKA II/2, 75, 16 – 18: „[…] und sein ganzer Geist, wird sich in Anbetung und Dank und inbrünstiges Verlangen nach fernerer Güte vor ihm ergießen[…]“. In SpKA II/2, 76, 27– 77, 1 wird der „Anbetung der Vollkommenheiten Gottes und de[m] Dank für seine Wohlthaten“ das „eigentliche Bitten um göttliche Wohlthaten“ gegenüber gestellt. Ausführlich entwickelt werden diese drei Formen des Gebets im Grunde bereits in SpKA II/2, 71, 12– 74, 30.  Vgl. SpKA II/2, 72, 22– 74, 30.

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II. Predigtanalysen

quent in zwei unterschiedliche „Art[en] des Gebets“⁷⁷¹: einmal in die Bitte um „geistliche Gaben“,⁷⁷² um das „sittlich gute“, unsere eigene sittliche Besserung bzw. „unser wahres ewiges Wohl“. Diese Bitte darf, da all dies „uns nothwendig“ ist sowie „gewiß“ der „Absicht Jesu“ entspricht, eine „Forderung“ sein. „[W]ünschen wir“ sodann aber „entweder ein irrdisches Gut zu erlangen oder ein zeitliches Uebel von uns abzuwenden“,⁷⁷³ so muss dieser Wunsch bzw. dieses Gebet, „welches äußere Angelegenheiten die unsre irdische Glükseligkeit und Ruhe betreffen, zum Gegenstand hat“,⁷⁷⁴ „die Frucht von der heftigen Bewegung seyn in welcher sich unser Gemüth“ beim Gebet „befindet“,⁷⁷⁵ und damit das Resultat des „natürliche[n] Gang[es], den unsre Seele bei einem aufrichtigen Gebet nimmt“. Das aber heißt, die Äußerung dieses Wunsches bzw. dieses Gebet muss letztlich mit der Ergebung in den Willen Gottes enden.⁷⁷⁶ Der diesen beiden unterschiedlichen Formen oder Arten des Gebets nun entsprechende zweifach ausdifferenzierte Zweck oder Nutzen des Gebets, „uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“,⁷⁷⁷ bleibt damit allerdings, wie im Abschnitt zu den rhetorischhomiletischen Eigenheiten dieser Predigt bereits erarbeitet, in beiderlei Hinsicht dem obersten Kriterium der Sittlichkeit, des sittlich Guten bzw. der Besserung unterstellt, da dem Willen Gottes gemäß der „erste[…] einzige[…] Zwek“ bzw. der „große[…] Zwek“ des Menschen in „der wahren sittlichen Vollkommenheit“ zu finden ist, der alle anderen Gebetsanliegen des Menschen oder Zweckmäßigkeiten des Gebets letztlich unterzuordnen sind.⁷⁷⁸ Von daher kann Schleiermacher den Zweck des Gebets nun aber ganz dezidiert von dessen (sittlichem) Nutzen⁷⁷⁹ her

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 7 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 24– 32. An dieser Stelle fällt auf, dass sich die Klassifizierung der Bitten des Vaterunser als Bitten „um solche geistliche Gaben“ vom sonstigen Sprachgebrauch der Schleiermacherschen Predigt abhebt. Lediglich der Hinweis auf „unser wahres ewiges Wohl“ könnte in gewisser Hinsicht noch in dieselbe Richtung weisen, ansonsten bleibt Schleiermacher im Zusammenhang mit der Beschreibung der ersten Art des Gebets aber konsequent bei sittlichen Kategorien. Eine wörtliche Anlehnung an Spalding, der die Kategorie der Bitten „um dasjenige, was zur Besserung und zum Troste unserer Seele gehöret“, als das „Gebet[…] um geistliche Güter“ bezeichnet (SpKA II/2, 73, 23 – 25), dürfte von daher auf der Hand liegen.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 140, 29.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 12– 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 20 – 22.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 28.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 17.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 16 – 31.  Vgl. zur Terminologie bei Schleiermacher insbesondere die die Predigtdisposition in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt vorwegnehmende Formulierung: „Falsche Begriffe von der Absicht des Gebets und eine traurige Erfahrung von seinem wenigen Nuzen sind die Ursachen

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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bestimmen: Das Gebet ist „Mittel […] uns im Guten zu stärken“⁷⁸⁰ bzw. „dieses Mittel zu unserer Beßerung“,⁷⁸¹ denn sowohl für das Gebet um sittliche Vollkommenheit und Besserung als auch für das Gebet, das äußere Angelegenheiten und Wünsche zum Gegenstand hat, ergibt sich als Zweck und Nutzen letztlich der innerpsychische Vorgang oder die – dem Willen Gottes ergebene und zum Guten gestärkte – „GemüthsVerfaßung“,⁷⁸² die bzw. der sich als Resultat eines wahren Gebets im Namen Jesu einstellt. Bei Spalding, dem großen neologischen Verfechter des Nützlichen,⁷⁸³ spielt die Rede vom „Nutzen“ des Gebets dagegen nur eine marginale Rolle. Ausschlaggebend hierfür dürfte seine grundlegende Einsicht oder auch sein Zugeständnis an die Gegenpartei sein, dass weder „das allerhöchste und seligste Wesen“ einen direkten „Nutzen“ vom Lob- oder Dankgebet, noch die betenden Menschen „unmittelbar Nutzen“ von ihren Gebetsbitten haben könnten, da Gott ja „alles nach seiner Absicht schon lange vorher bestimmt und festgesetzet habe“. Den „Vortheil“ des Gebets nimmt Spalding infolge dessen dann erst sekundär in den Blick,⁷⁸⁴ sein grundlegender Argumentationsgang aber orientiert sich, wie bereits aus dem Titel und der Disposition der Predigt ersichtlich, an der Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets. Das bringt es nun aber mit sich, dass der Zweck des Gebets bei Spalding im Vergleich zu Schleiermachers Konzeption breiter und facettenreicher entwickelt wird. Auch bei ihm ist die sittliche Stärkung des Menschen zwar als ein Produkt des Gebets im Blick,⁷⁸⁵ auch bei ihm wird die „gebesserte Gesinnung, eine unbefleckte Tugend und ein ruhiges Gewissen“ im Zusammenhang mit den Gebetsbitten als „größte[s] und beste[s] Gut“ benannt,⁷⁸⁶ als diesem vorgeordneter, grundlegender Zweck des Gebets muss für Spalding nun

davon“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 6 – 8) oder auch die Bemerkung, dass ein „wahres aufrichtiges Gebet um Besserung“ nicht „unnüz“ sei (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 7– 9).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 8 – 12.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 16 – 19.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 22– 143, 12 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 145, 14 (das oben Zitierte entstammt 145, 6 f.).  Erinnert sei nur an den Titel seiner Schrift „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ (vgl. SpKA I/3) oder auch an einschlägige Predigttitel wie: „Der Nutzen der Todesgedanken, Ps. XC, 12“ oder „Der Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum, Joh. VI, 15“ (SpKA II/2, S. IX), etc.  Vgl. SpKA II/2, 76, 1– 78, 3.  Zu vergleichen wäre dazu SpKA II/2, 74, 15 – 25, insbesondere aber auch die Passage, die den „Vortheil“ des Gebets darin gegeben sieht, dass bei dem betenden Menschen „die Gesinnungen mehr erwecket und unterhalten [werden], die er Gott schuldig ist, und die ihn[…] zum Guten lenken.“  SpKA II/2, 74, 21– 25.

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II. Predigtanalysen

aber zunächst einmal schlicht der immer wieder erwähnte „Umgang mit Gott“ selbst festgehalten werden.⁷⁸⁷ Denn Lob und Anbetung sind an sich schon nichts anderes als ein ganz unmittelbarer Ausdruck dieses Umganges: „[e]ine solche Empfindung ist schon Gebet“; und auch das „lebhafte Gefühl“ der „allernatürlichsten und billigsten“ Dankbarkeit für bereits erfahrene Wohltaten Gottes führt, indem es im Grunde von selber dazu drängt, „diese Empfindungen vor Gott [zu] bringe[n], und sie ihm [zu] bekenne[n]“, in ganz vergleichbarer Weise zum unmittelbaren „Umgang“ des Menschen mit Gott.⁷⁸⁸ Die Einsicht schließlich, dass auch das zukünftige Gute, das ich mir wünsche, in Gottes Macht steht, führt im Bittgebet zu dem Umgang mit Gott, in dem „ich meine so gänzliche und allgemeine Abhängigkeit von Gott bey mir in einer lebhaften Erinnerung erhalte“: „Mein Gebet zu ihm, womit ich seinen Segen, seinen Schutz, seinen Beystand begehre, führet also die beständige lebhafte Erkenntniß und Ueberzeugung bey sich, daß ich ihm gänzlich unterworfen bin, daß ich alles von ihm erwarten muß; und jemehr dieser Gedanke mein Gemüth einnimmt und darin herschend[…] wird, […] desto mehr sind meine Gesinnungen in der Ordnung, in welcher sie seyn sollen. Wenn ich also mit Vorsatz das Beten, das Verlangen zu Gott um seine Wohlthaten unterließe, so wäre das gerade so viel, als wenn ich nicht wissen wollte, daß er mein Herr und mein Wohlthäter sey.“⁷⁸⁹

Der sich für den vernünftigen Menschen angesichts solcher Überlegungen und Einsichten im Grunde also „von selbst“ ergebende Umgang mit Gott⁷⁹⁰ oder auch die „Richtung unsers Gemüths zu Gott“, verbunden mit dem Gefühl und der Einsicht in die gänzliche Abhängigkeit des Menschen von Gott,⁷⁹¹ wird bei Spalding somit allen übrigen Zweckmäßigkeiten oder auch Wirkungen des Gebets vorgeordnet und dadurch zum ersten Zweck des Gebets, im Grunde also zum Selbstzweck des Gebets, aus dem dann alle übrigen, aus der Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets resultierenden Zweckmäßigkeiten desselben erst entstehen oder hervorgehen. So ist es der Umgang mit Gott selbst, der es dem „menschliche[n] Gemüth“ ermöglicht, „fähig“ zu werden, „den Eindruck der göttlichen Wahrheit zu seiner wirklichen Besserung und zum Wachsthum seiner Gottseligkeit recht kräftig und mit Nutzen zu erfahren“⁷⁹² bzw. der dazu führt, dass beim Menschen „die Gesinnungen mehr erwecket und unterhalten [werden], die er

     

Vgl. SpKA II/2, 68, 4– 12.23 – 27; 69, 24– 29; 74, 15 – 25; 80, 26 – 29; oder auch 85, 24– 28. SpKA II/2, 71, 20 – 72, 21. SpKA II/2, 72, 22– 73, 22. SpKA II/2, 79, 1– 16. SpKA II/2, 70, 31– 71, 6. SpKA II/2, 74, 15 – 25.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Gott schuldig ist, und die ihn[…] zum Guten lenken“.⁷⁹³ In und durch diesen Umgang mit Gott selbst entsteht die „Beschaffenheit“, „Verfassung und Gesinnung des Gemüths“, „worinn wir dieser seiner Wohlthaten mehr fähig sind, und worinn sich dieselben besser für uns schicken“,⁷⁹⁴ wessen Herz durch „innerliche[n] Trieb zu Gott […] zu diesem Umgange mit ihm erweckt wird“, dem bzw. der stehen schließlich auch die Freuden und Annehmlichkeiten, die das Gebet mit sich bringt – das Vergnügen an diesem „Umgange“ mit Gott selbst und der Trost angesichts des zeitlichen Leidens – offen.⁷⁹⁵ Während das Gebet bei Schleiermacher also primär auf einen innerpsychischen Vorgang im Menschen oder auf eine Veränderung der menschlichen Gemütsverfassung zielt, zielt das Gebet Spaldings Gebetsverständnis zufolge zunächst einmal auf den im Gebet stattfindenden Umgang mit Gott selbst, wobei dann erst in zweiter Linie auch der innere Vorgang im „menschliche[n] Gemüth“ in den Blick kommt,⁷⁹⁶ auf dem der Grundton des Schleiermacherschen Gebetsverständnisses liegt. Damit ergibt sich im Vergleich der beiden Predigten bzw. Gebetskonzeptionen, dass trotz der deutlichen Anlehnung Schleiermachers an Spalding – neben den oben genannten inhaltlichen Anklängen und Übereinstimmungen seien auch noch formale, gliederungs- oder argumentationstechnische Berührungen erwähnt: so ist z. B. festzustellen, dass beiden Entwürfen, nach oder in Verbindung mit der Berufung auf für den Gedankengang jeweils relevante biblische Belegstellen, die Figur des Beginnens bzw. Ausgehens der Argumentation von der grundlegenden Begriffsbestimmung her gemeinsam ist⁷⁹⁷ oder dass sich Schlei-

 SpKA II/2, 77, 21– 78, 3.  SpKA II/2, 78, 9 – 25.  Vgl. SpKA II/2, 81, 1– 83, 28.  Vgl. dazu insbesondere die Passage: „Dazu kömmt[…] auch noch, daß ein menschliches Gemüth niemal besser aufgelegt und fähig ist, den Eindruck der göttlichen Wahrheit zu seiner wirklichen Besserung und zum Wachsthum seiner Gottseligkeit recht kräftig und mit Nutzen zu erfahren, als wenn es in dem Umgange mit Gott sich ganz vor demselben öffnet[…], wenn es, in seiner Gegenwart und in einer inbrünstigen Richtung seiner Gedanken zu ihm, dieß größte und beste[…] Gut, nämlich eine gebesserte Gesinnung, eine unbefleckte Tugend und ein ruhiges Gewissen verlangt“ (SpKA II/2, 74, 15 – 25) oder auch SpKA II/2, 77, 21– 78, 3.  Vgl. für Schleiermacher ganz grundlegend die Abfolge der beiden Teile des Hauptteiles der Predigt, die im ersten Teil des Hauptteils die Bestimmung oder Klärung des Begriffs des „rechten Gebet[s] eines Christen im Namen Jesu“, ausgehend eben von der Vorgabe des Predigttextes, dass das rechte christliche Gebet „im Namen Jesu“ zu geschehen habe, vorsieht und darauf dann im zweiten Teil die „Vortheile“ in den Blick nimmt, „die uns dasselbe gewährt“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 32– 35). Spalding thematisiert das rechte Gebetsverständnis unmittelbar nach oder in Verbindung mit der jeweiligen Bezugnahme auf die Heilige Schrift zu Beginn beider Hauptteile, also sowohl zu Beginn seiner Ausführungen zur Verbindlichkeit des Gebets (SpKA II/2, 70, 31– 71, 11) als auch am Anfang seines Abschnittes zur Annehmlichkeit des Gebets (SpKA II/2, 80, 7– 34). Es

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II. Predigtanalysen

ermachers Gliederungsprinzip, nach der im ersten Teil des Hauptteils erfolgenden Begriffsklärung des verhandelten Predigtgegenstandes im zweiten Teil des Hauptteils dessen gute Folgen oder Vorteile darzulegen, bereits bei Spalding wiederholt finden lässt⁷⁹⁸ – dass also trotz solch wiederholter, offensichtlicher Bezugnahmen auf Spalding eine eigene Schwerpunktsetzung Schleiermachers nicht übersehen werden kann. Bemerkbar macht sich diese eigene Schwerpunktsetzung zunächst einmal an kleineren Verschiebungen. Zu nennen wäre hier eine so formale Beobachtung wie die, dass Schleiermacher im Vergleich zu Spalding noch stärker dazu tendiert, seine Gedanken – auch in logischer Hinsicht – durchzukonzipieren und zu systematisieren, erinnert sei an die gleich zu Beginn der Schleiermacherschen Predigt zum Syllogismus ausdifferenzierte Klage über die Vernachlässigung der Religion bzw. des Gebets seitens der Zeitgenossen⁷⁹⁹ oder auch an die bei ihm beide Teile des Hauptteils strukturierende Unterteilung des Bittgebets in zwei von den Gebetsgegenständen her grundsätzlich zu unterscheidende Gebetsarten.⁸⁰⁰ In inhaltlicher Hinsicht wäre sodann hinzuzufügen, dass Schleiermacher dazu neigt, bei Spalding nur kurz erwähnte Phänomene des menschlichen Lebens psychologisch auszudifferenzieren. Hier sei hingewiesen auf die anschauliche Beschreibung der Gründe und Folgen eines falschen Ge-

ist davon auszugehen, dass sich an dieser Stelle bei beiden das Erbe der Halleschen Schulphilosophie bzw. eine zumindest ansatzweise Nachwirkung der „methodo mathematica“ bemerkbar machen dürfte, die „‚als wissenschaftliche Methode‘ schlechthin für das ganze Wolffsche System bestimmend“ war (vgl. Hans Poser: Wolff, Christian Freiherr von [1679 – 1754], TRE 36, S. 278 [Hervorh. i. Orig.]).  Vgl. z. B. die Hinführung zur Disposition der Spaldingschen Predigt „über die Vergnügungen eines gottesfürchtigen Menschen“ zu Lk 1,39 – 56, derzufolge „die Einbildung, daß der Stand des Christenthums ein beständiger Stand der Traurigkeit und der ängstlichen Schwermuth sey, […] lediglich daher [kömmt], daß man nicht recht weiß, worin eine christliche gottesfürchtige Gemüthsverfassung bestehet, und was sie an und für sich selbst für angenehme Folgen hervorbringet“ (SpKA II/ 2, 130, 20 – 28), die Disposition der Predigt „Über das wahre Lob Jesu“ aus dem Jahr 1768, derzufolge „[e]in solches wahres Lob […] auf richtige Erkenntnisse“ zu gründen sei und sich sodann „in rechtmäßigen Wirkungen zu erkennen“ gebe (Johann Joachim Spalding: Über das wahre Lob Jesu [1768], in: Beutel/Drehsen [Hg.]: Wegmarken, S. 49 f.) oder, zumindest für den ersten Teil dieses Gliederungsprinzips, auch die ganz grundsätzlichen Überlegungen Spaldings in seiner Vorrede zum Band der „Neuen Predigten“, „daß gewisse irrige Begriffe und Meinungen in Absicht auf die besondere Anwendung der christlichen Vorschriften“ für „mannichfaltige[…] Vorurtheile und Ausflüchte gegen die Verbindlichkeiten der Religion, auch bey den Christen, welche gegen die Theorie derselben überhaupt nichts einzuwenden haben,“ verantwortlich seien (SpKA II/2, 9, 22– 10, 11). An dieser Stelle wird noch einmal eine besondere Nähe zur Argumentation der Schleiermacherschen Predigt über das Gebet deutlich (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 4– 8).  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 1– 19.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 – 140, 26 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 144, 22.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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betsverständnisses,⁸⁰¹ auf die subtile Schilderung der Auswirkungen des Gebets auf die (sittlichen) Gesinnungen des Menschen⁸⁰² oder auch auf die bei Spalding nicht zu findende Würdigung der aus Gewohnheit praktizierten Gebete, deren psychologische Wirkung für Schleiermacher letztlich eben nicht zu unterschätzen ist.⁸⁰³ Insbesondere ist bei Schleiermacher nun aber eine immer wieder zu beobachtende sittliche Wendung von Aspekten festzustellen, die bei Spalding unter anderen Vorzeichen oder auch als eigenständige Größen bzw. Argumente begegnen. So wird z. B. der Trost im und angesichts des zeitlichen Leidens bei Spalding mit der Perspektive und der Erhebung über die Sphäre des beschränkten menschlichen Lebens hinaus verbunden und als eine der beiden wichtigsten Annehmlichkeiten des Gebets, die letztlich darin besteht, dass man „zu dem großen und guten Gott […] hingehet, und seine ganze innerste Empfindung gleichsam mit ihm theilet“, ausführlich und an für den Gedankengang prominenter Stelle verhandelt.⁸⁰⁴ Bei Schleiermacher wird die tröstliche Wirkung des Gebets dagegen im Grunde lediglich als eine der Konsequenzen des im Gebet stattfindenden innerpsychischen Vorgangs bzw. sich einstellenden „Zustand[es] von Ergebung und Gelassenheit“ verstanden, der letztlich auf der Unterordnung aller „anderen Absichten“ des Menschen unter den „großen Zwek […] der wahren sittlichen Vollkommenheit“ beruht: „Unsere Glükseligkeit beruht […] auf der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegensezen können, und wenn dies in dem Zustand von Ergebung und Gelassenheit ist worin es durch ein öfteres christliches Gebet versezt wird, so werden wir nicht nur den wichtigen, obgleich traurigen Vortheil haben, daß wir manchen Unfall ohne Verzweiflung ohne Murren mit einem ruhigen sanfteren Schmerz ertragen können, sondern wir werden auch des äußern Glüks würdiger, da wir seinen wahren gemäßigten Werth fühlen und fähig werden es recht anzuwenden.“⁸⁰⁵

Den Gedanken sodann, dass „wir uns […] im Gebet über uns selbst erheben, weit über die gewöhnliche menschliche Sphäre hinaussehn“ und dadurch „nothwendig den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott“ gewinnen, nimmt Schleiermacher im Kontext seiner Ausführungen zu den guten Folgen eines Gebets um sittliche Besserung auf und lässt ihn dort konsequenterweise in dem sittlich gewendeten Fazit enden: „Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen, um sie mit weniger schlagendem Gewißen

    

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 8 – 26 oder auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 23 – 37. Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 14– 33. Vgl. SpKA II/2, 82, 14– 83, 28. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 29 – 145, 14.

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II. Predigtanalysen

anschaun zu können.“⁸⁰⁶ Entsprechendes lässt sich an der gerade zitierten Passage dann hinsichtlich des Aspektes der Dankbarkeit gegenüber Gott festmachen. Auch diese, die Spalding ja eine eigene Gebetskategorie wert ist, wird hier bei Schleiermacher im Grunde nur am Rande der Argumentation aufgenommen und eben sittlich gewendet: „[…] so bekommen wir nothwendig den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott. Auf einmal stellt sich uns dar die allumfassende Güte seiner Vorsehung, die Weisheit aller Veranstaltungen die er zu unserm Wohl in der Welt getroffen hat, die unendliche Langmuth, die er bei allen unsern Fehlern und Schwachheiten beweist.Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen, um sie mit weniger schlagendem Gewißen anschaun zu können.“⁸⁰⁷

Inhaltlich sind wir damit dann aber wieder bei der entscheidenden Differenz der beiden Gebetskonzeptionen angelangt: Denn während Zweck oder Absicht des rechten Gebets im Namen Jesu bei Schleiermacher letztlich in dessen sittlichem Nutzen als Mittel zur Besserung bzw. zur Stärkung im Guten besteht, liegt der Spaldingschen Gebetskonzeption als Zweck oder Absicht des Gebets in erster Linie der Umgang mit Gott selbst zugrunde, der sich aus den richtigen Erkenntnissen und Überzeugungen vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch vernünftiger- und billigerweise von selbst ergibt und der Verbindlichkeit aller drei von Spalding in den Blick genommenen Gebetsformen zugrunde liegt.⁸⁰⁸ Bei Spalding rückt damit im Grunde aber das unmittelbar erlebte Gottesverhältnis des Menschen in den Mittelpunkt des Gebetsverständnisses. Die Verehrung Gottes selbst, das Vergnügen an seiner „Wahrheit, Heiligkeit und göttliche[n] Größe“⁸⁰⁹ oder am freundschaftlichen Umgang mit Gott,⁸¹⁰ einschließlich des christologischen bzw. rechtfertigungstheologischen Fundamentes dieses Gottesverhältnisses,⁸¹¹ die „lebhafte[…] Richtung unsers Gemüths zu Gott“⁸¹² oder auch ganz einfach „[d]as lebendige Gefühl von dem, was“ der Mensch „an Gott hat, und was er gegen Gott ist“,⁸¹³ und das heißt dann aber auch die unmittelbar mit all diesem verbundene „Empfindung“,⁸¹⁴ „Erkenntniß und Ueberzeugung“ „meine[r] so gänzliche[n] und

        

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 12. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 6. Vgl. SpKA II/2, 71, 12– 74, 15. SpKA II/2, 85, 24– 28. SpKA II/2, 81, 24– 26. SpKA II/2, 81, 26 – 82, 8. SpKA II/2, 70, 31– 71, 6. SpKA II/2, 75, 12– 19. SpKA II/2, 70, 31– 71, 6.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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allgemeine[n] Abhängigkeit von Gott“,⁸¹⁵ spielen in Spaldings Gebetskonzeption die vorgeordnete, entscheidende Rolle. Von daher könnte man schließlich pointiert formulieren, dass Spaldings Gebetskonzeption ein – auf den Umgang mit Gott bezogener – eigenständig religiöser, derjenigen Schleiermachers aber ein sittlichreligiöser Schwerpunkt eignet. Von dieser Beobachtung her lässt sich dann aber auch noch einmal besser verstehen, dass Spalding sich in seiner Predigt ganz entschieden von den Anhängern einer in seinen Augen lediglich vermeintlich vernünftigen, natürlichen Religion, die sich gegen das Praktizieren des Gebets wendet, bzw. deutlich von den offensichtlich deistisch beeinflussten Gegnern seines Gebetsverständnisses abgrenzt,⁸¹⁶ während Schleiermacher sich mit seinem offensichtlich ebenfalls deistisch beeinflussten Adressatenkreis im Grunde ernsthaft und fast sympathisierend auseinandersetzt,⁸¹⁷ indem er die Überlegungen und Einwände dieser Menschen und damit im Grunde diese Menschen selbst von Anfang bis Ende seiner Predigt argumentativ mit auf den Weg nimmt. Als Ausdruck dessen kann schließlich nicht zuletzt die die Schleiermachersche religiöse Rede über das Gebet kennzeichnende konsequente Ausrichtung am genus deliberativum gewertet werden,⁸¹⁸ während Spaldings Predigt ganz offensichtlich dem genus demonstrativum zuzuordnen ist: gleich der erste Satz der Predigt formuliert Spaldings Ausgangsthese oder propositio, die bereits die Disposition der Predigt vorgibt und im Verlauf der Predigt demzufolge dann auch ohne weitere Infragestellung bis zum Schlussteil⁸¹⁹ entfaltet und begründet wird. Während nun aber beim genus deliberativum, wie übrigens auch beim genus iudicale, letzten Endes „das Publikum […] zur Entscheidungsfällung über eine Sache aufgefordert“ wird,⁸²⁰ wird „[i]m genus demonstrativum […] die Existenz des Gegenstandes“ der Rede, „der ein certum ist“, letztlich „nicht in Zweifel gezogen“.⁸²¹ Ergänzt sei nun aber, um Schleiermachers Gebetsverständnis insgesamt in gebührend differenziertem Licht darzustellen und auch um die Übereinstimmungen

 SpKA II/2, 73, 3 – 12.  Vgl. SpKA II/2, 70, 20 – 27; 86, 25 – 87, 1.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 19 und 141, 37– 144, 22.  Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch einmal an den Abschnitt zu den rhetorischhomiletischen Eigenheiten der Schleiermacherschen Predigt über das Gebet.  Höchstens die peroratio der Spaldingschen Predigt über das Gebet könnte aufgrund ihres die Affekte ansprechenden Appellcharakters auch in die Nähe des genus deliberativum gerückt werden, vgl. Lausberg: Handbuch, §§ 436 – 439, S. 238 – 240.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 239, S. 129.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 249, S. 136, hier dem Zusammenhang der Begründung des Fehlens des status coniecturae bzw. dessen nur eingeschränkter Anwendbarkeit im genus demonstrativum entnommen. Zu vergleichen wäre aber auch die grundlegende Einführung der „drei aristotelischen genera“ nach Lausberg: Handbuch, §§ 59 – 65, S. 52– 61.

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II. Predigtanalysen

der beiden Gebetskonzeptionen abschließend noch einmal in Erscheinung treten zu lassen, dass sich beide Predigten auch z. B. dadurch auszeichnen, dass sich im Gebet, letztlich also aufgrund des durch die rechte Einsicht in das Verhältnis zwischen Gott und Mensch erschlossenen bzw. des diese Einsicht erschließenden Umgangs des Menschen mit Gott, in besonderer Weise auch die Würde des Menschen manifestiert.⁸²² Dass genau dieser Aspekt des Gebetes nun aber auch bei Schleiermacher begegnet, lässt zumindest andeutungsweise deutlich werden, dass so etwas wie ein über den Nutzen der Sittlichkeit hinaus reichender Selbstzweck des Gebets auch seiner Gebetskonzeption nicht ganz fremd ist.⁸²³

II.2.1.7.2 Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext deistischen Gedankengutes Als ein nicht ganz unwesentlicher Unterschied zwischen der Spaldingschen und der Schleiermacherschen Gebetskonzeption hat sich, neben bzw. in Verbindung mit der verschiedenen inhaltlichen Schwerpunktsetzung der beiden Entwürfe, der unterschiedliche Umgang mit deistischen Infragestellungen eines in kirchlichchristlicher Hinsicht orthodoxen Gebetsverständnisses ergeben, die letztlich darauf hinauslaufen,Verbindlichkeit oder Nutzen des Gebets bzw. das Praktizieren desselben an sich in Abrede zu stellen. Spalding begegnet diesen Anfragen, wie oben deutlich wurde, schwerpunktmäßig durch die konsequente Orientierung an der für ihn sowohl aufgrund der Heiligen Schrift gegebenen als auch mit Vernunft und Natur des Menschen übereinstimmenden Verbindlichkeit des Gebets. Diese Verbindlichkeit geht zwar mit manchen deistischen Positionen zunächst einmal noch konform, sie wäre z. B. durchaus auch in den bereits von Edward Lord Herbert von Cherbury (1581– 1648)⁸²⁴ in seinen Hauptwerken „De veritate“ und „De religione gentilium“ aufgestellten und meist noch für die späteren Deisten

 Vgl. für Spalding SpKA II/2, 75, 12– 19 und 83, 30 – 84, 3, für Schleiermacher Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 19 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 4.  Hinzuweisen ist an dieser Stelle noch einmal auf das im Abschnitt zu „Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens“ für Schleiermachers Predigt Erarbeitete.  Herbert galt seit John Lelands „Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften“ als „Vater des Deismus“, zu vergleichen ist dazu Leland: Abriß I, S. 5 f., das Zitat entstammt Troeltsch: Deismus, S. 438. Von Pailin wurde die Zugehörigkeit Lord Herberts zu den Deisten neuerdings bestritten (vgl. David A. Pailin: Should Herbert of Cherbury be regarded as a ‚Deist‘?, in: Journal of Theological Studies NS 51 [2000], S. 113 – 149), eine These, die selbst wiederum allerdings nicht unwidersprochen blieb (vgl. Ulrich Barth: Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004 [Barth: Mündige Religion], S. 205, Anm. 14).

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

183

maßgeblichen fünf Grundsätzen der natürlichen Religion enthalten.⁸²⁵ Spaldings Entfaltung der Verbindlichkeit zum Gebet lässt dann aber zügig die nicht zu übersehenden Gegensätze zum Freidenkertum deutlich werden. Die durchgängige Bezugnahme auf die auctoritas der Heiligen Schrift, die ganze Gebetskonzeption, die ja auf den Umgang des Menschen mit Gott selbst zielt, insbesondere aber auch die Ausführungen zu den Annehmlichkeiten des Gebets, die laut Spalding nicht zuletzt einer christologisch bzw. rechtfertigungstheologisch begründeten freundschaftlichen Verbundenheit mit Gott entspringen, lassen die konsequente Positionierung Spaldings auf Seiten der christlichen Offenbarungsreligion deutlich erkennen. Nur noch einmal hingewiesen sei zudem auf Spaldings im Grunde polemische Formulierungen gegen die Grundsätze einer nur scheinbar vernünftigen oder natürlichen Religion⁸²⁶ sowie den Gesamtduktus seiner Predigt oder die Zugehörigkeit derselben zu dem, seinen Redegegenstand eben gerade nicht zur Disposition stellenden, genus demonstrativum. ⁸²⁷

 Die „fünf Wahrheiten“, die nach Lechler: Deismus, S. 42 für Herbert „den Kern aller Religion, auch der heidnischen, bilden“, bzw. mit Herberts eigenen Worten: seine „Notitiae communes circa Religionem“ bestehen in folgenden Punkten: 1. „Esse Supremum aliquod Numen.“ 2. „SUPREMUM ISTUD NUMEN DEBERE COLI.“ 3. „Virtutem cum pietate conjunctam […] praecipuam partem Cultus Divini habitam esse & semper fuisse.“ 4. „[…] Vitia & scelera quaecunq; [sic!] expiari debere ex poenitentia.“ 5. „Esse praemium, vel poenam post hanc vitam.“ Dieser Wortlaut folgt der Ausgabe Edward Lord Herbert of Cherbury: De Veritate. Editio Tertia. De Causis Errorum; De Religione Laici; Parerga, Faksimile-Neudruck der Ausgaben London 1645 hg. u. eingeleitet v. Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966 [Herbert of Cherbury: De Veritate], S. 208–226. Leland: Abriß I, S. 18 fasst diese fünf Religionsartikel – im Zusammenhang mit der Klage darüber, dass „nicht viel Wahrscheinlichkeit [ist], daß die Deisten in der Erklärung derselben jemals übereinstimmen werden“ und „daß viele, die unter den neuern kein geringes Ansehen bekommen haben, einige von unsers Lords fünf Artikeln, leugnen, wenigstens in dem Umfange genommen, worin sie Herbert will angenommen wissen“ – folgendermaßen zusammen: „GOttes moralische Regierung und besondere Vorsehung; sein Dienst, in soferne er Gebet und Danksagung in sich schließt; des Menschen willkührliche Freyheit in Handlungen; die Unsterblichkeit der Seele, und der künftige Zustand von Belohnungen und Strafen“. Insbesondere die Erwähnung des Gebets als zur Gottesverehrung gehörig ist in unserem Zusammenhang von Interesse. Sie entspricht Herberts Ausführungen in „De veritate“ (vgl. Herbert of Cherbury: De Veritate, S. 210 – 213) und natürlich auch seiner biographischen Schilderung der zeichen- bzw. fast wunderhaft erlebten Gebetserhörung, auf die er die Legitimation der Veröffentlichung seiner Schrift „De veritate“ zurückführte (vgl. Lechler: Deismus, S. 36 f. oder Leland: Abriß I, S. 609 – 632).  Vgl. SpKA II/2, 70, 20 – 27; insbesondere auch 86, 25 – 87, 1.  Dieser Befund deckt sich im Grunde mit den von Beutel angeführten ausgeprägten Vorbehalten Spaldings gegenüber den religionskritischen Implikationen der Aufklärung, insofern diese,

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II. Predigtanalysen

Sieht man sich nun Schleiermachers Predigt über das rechte Gebet des Christen im Namen Jesu auf diesem Hintergrund noch einmal genauer an, muss man zunächst einmal feststellen, dass sich auch Schleiermachers Predigt durchgängig auf die auctoritas der Heiligen Schrift bezieht sowie am Vorbild des betenden und lehrenden Christus orientiert.⁸²⁸ Insbesondere aber die Voraussetzung, dass dessen „Absichten“ genauestens dem Willen Gottes entsprechen,⁸²⁹ lässt zudem das Verständnis Christi als Mittler des göttlichen Willens und damit letzten Endes wiederum ebenfalls die Positionierung auf Seiten der christlichen Offenbarungsreligion erkennen.⁸³⁰ Der Umgang mit dem ganz offensichtlich deistisch geprägten Adressatenkreis derer, die Verbindlichkeit, Sinn und Nutzen des Gebets in Abrede stellen, fällt bei Schleiermacher jedoch,wie oben schon erwähnt wurde, etwas anders aus als bei Spalding. Zu verweisen wäre in diesem Zusammenhang noch einmal auf die ganze Konzeption der Schleiermacherschen Predigt, die sich im Grunde durchgängig auf die argumentative Bearbeitung der quaestio, ob zu beten sei, unter Orientierung an den Gesichtspunkten des Begriffs und des Nutzens des Gebets, einlässt⁸³¹ und, wie es ihrer Zugehörigkeit zum genus deliberativum entspricht, damit ihren Adressatenkreis letztlich vor eine eigene Entscheidung stellt.⁸³² Hingewiesen werden könnte aber schlicht auch auf die konzilianteren Formulierungen Schleiermachers.⁸³³ Aus all dem wird deutlich, dass Schleiermacher sich durchaus die Mühe macht, sich in die Position der Gegenpartei

mit Spaldings Formulierungen: „auf ein bloßes Nichtglauben und Bestreiten hinauslaufe“ (vgl. Johann Joachim Spalding: Vertraute Briefe, die Religion betreffend [11784; 21785; 31788], hg.v. Albrecht Beutel u. Dennis Prause unter Mitarbeit v. Tobias Jersak u. a. [Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, 1. Abteilung: Schriften Bd. 4], Tübingen 2004 [SpKA I/4], S. XXXIIIf., das Zitat findet sich in SpKA I/4, 74, 10 – 16).  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 5 – 16; 137, 20 – 138, 7. In Verbindung mit dem Vorbild des betenden bzw. lehrenden Christus: Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 26 – 29 und 34 f.; 139, 31– 39; 140, 26 – 29; 144, 22– 24.  Vgl. den Gedankenfortgang in Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 25– 39; 140, 20 – 26 und 144, 22–31.  Durch die Figur eines Mittlers des göttlichen Willens ist natürlich die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer außerordentlichen göttlichen Offenbarung, wie sie die Sendung Christi als Mittler des göttlichen Willens bedeutet, aufgenommen und positiv beantwortet. (Vgl. dazu z. B. Lelands Ausführungen in seinem ersten Brief zu Herbert von Cherburies Schriften, Leland: Abriß I, S. 21– 25.29 – 32).  Hier findet sich im Übrigen, was die grundsätzliche Herangehensweise betrifft, nicht nur ein deutlicher Unterschied zur Spaldingschen Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets, sondern auch zu der von Begriff und Verbindlichkeit des Gebets ausgehenden Gebetskonzeption der Eberhardschen Sittenlehre der Vernunft (vgl. Eberhard: SdV, §§ 143 – 145, S. 165 – 170, insbesondere §§ 143 f., S. 165 – 168).  Vgl. den Abschnitt zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Schleiermacherschen Predigt über das Gebet.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 136, 4.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

185

hineinzuversetzen, deren Anfragen und Einwände ernsthaft aufzunehmen und sich mit diesen im Grunde in sympathisierender Weise auseinanderzusetzen.⁸³⁴ Die Vermutung, dass diese Beobachtungen auf eine ausführlichere und grundlegendere Beschäftigung Schleiermachers mit deistischem Gedankengut während der Enstehungszeit seiner Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ verweisen könnten, lässt sich zunächst einmal durch einen Blick in Schleiermachers Bibliothek bestätigen. Hier finden sich einige Werke, die der v. a. kontroversen Auseinandersetzung mit deistischen Positionen gewidmet sind und schon in dem für die Enstehungszeit der Predigt relevanten Zeitraum veröffentlicht und damit zugänglich waren.⁸³⁵ Im Hinblick auf die Thematisierung der Gebetsfrage ist von diesen nun der bereits erwähnte Lelandsche „Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften“ von 1755 als relevant zu betrachten, daneben aber auch „Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion“ von 1750 – 1752 sowie der ebenfalls schon erwähnte Band „D. George Bensons Abhandlungen und Betrachtungen über einige wichtige Warheiten der Religion“ aus dem Jahre 1763.⁸³⁶ Eine erste Übereinstimmung der Schleiermacherschen Predigt mit den genannten Werken lässt sich im Vergleich mit dem zwölften Brief des Lelandschen „Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften“ feststellen. Dieser Brief setzt sich mit den Schriften Thomas Chubb’s⁸³⁷ und dabei explizit auch mit dessen These, dass „das  Charakteristisch dafür ist die unmittelbar zuvor genannte Stelle Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 136, 4. Zu vergleichen wäre aber z. B. auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 38 oder 143, 12– 36.  Da Schleiermachers Bibliothek nach seinem Tod aus finanziellen Gründen nicht gesammelt von der Theologischen Fakultät der Berliner Universität erworben und der Universitätsbibliothek eingegliedert werden konnte, kam der gesamte Bestand zur freien Versteigerung. Diesem Umstand bzw. der im Zusammenhang damit vorgenommenen Verzeichnung der Titel der Schleiermacherschen Bibliothek im Rauchschen Auktionskatalog „Tabulae librorum e bibliotheca defuncti Schleiermacher“ ist es zu verdanken, dass das Wissen um den Bestand der Schleiermacherschen Bibliothek erhalten werden konnte (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 641 f.).  Vgl. Leland: Abriß I, Fosters: Reden I – V sowie Benson: Abhandlungen. Als zum Bestand der Schleiermacherschen Bibliothek gehörig ausgewiesen sind diese drei Bände bei Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 757 (Leland), S. 716 (Fosters) und S. 666 (Benson).  Thomas Chubb (1679 – 1747) war ein einfacher Handwerker, Handschuhmacher und Lichtzieher, der sich selbst als den „illeterate persons“ zugehörig betrachtete (vgl. Lechler: Deismus, S. 343 – 358, Zitat auf S. 344 [Hervorh. i. Orig.]). Lechler sieht in ihm „das Eindringen des Deismus in den Stand der Handwerker“ repräsentiert und hält ihn „als Repräsentant[en] dieses Standes“ und dessen aufkeimenden Bewusstseins eines „ebenbürtigen Rechts in der Religion“ für „höchst respektabel“. Das Christentum besteht für Chubb nicht in der Lehre, sondern dezidiert in sittlichem Handeln, die Lehre der Jünger Jesu unterscheidet er als deren „Privatmeinung“ von den eigentlich relevanten „Lehren Jesu“ (vgl. Lechler: Deismus, S. 356– 358). Als in besonderer Weise kennzeichnend für Chubbs Religionsanschauung könnte außerdem auf seine Ablehnung der Trinität sowie der Kindertaufe, die dem sittlichen Charakter des Christentums zuwider laufe, hingewiesen werden (vgl. Lechler: Deismus, S. XLIII).

186

II. Predigtanalysen

Gebet zu GOtt […] keine Pflicht“ sei,⁸³⁸ auseinander, wobei sich Lelands Darstellung und Kritik in erster Linie auf den in „Chubb’s Posthumous Works. In two Volumes. London 1748“ veröffentlichten Text: „Des Verfassers Abschied von seinen Lesern, der eine Mannigfaltigkeit von Abhandlungen über die wichtigsten Stücke der Religion in sich enthält“,⁸³⁹ bezieht. In diesem recht umfänglichen Text begegnen zwei Vorbehalte Chubb’s gegenüber der (christlich) geoffenbarten Religion, die letztlich nicht nur für die Frage nach Verbindlichkeit, Sinn und Nutzen des Gebets, sondern, was Chubb betrifft, sogar für diejenige nach der Schicklichkeit des Gebets relevant sind, und von Leland innerhalb von zwei Seiten unmittelbar aufeinander folgend dargestellt werden. Den ersten dieser Vorbehalte gibt Leland’s Hinweis wieder, dass Chubb „nach seinem System […] alle Hofnung eines göttlichen Beystandes, in der Ausübung des Guten“ „verwirft“. „Sein Hauptgrund“ aber, „die Wahrheit eines göttlichen Beystandes umzuwerfen, schein[e]“ dabei „daher genommen zu seyn,“ Zitat der Chubbschen Textgrundlage: „‚daß wir kein Mittel hätten, diesen göttlichen Einfluß von den Würkungen unserer eigenen Seele zu unterscheiden.‘“⁸⁴⁰ Der zweite dieser Vorbehalte steht sodann in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ablehnung einer „besondere[n] göttlichen Vorsehung in menschlichen Geschäften“ durch Chubb und formuliert, nun auch die Grundlagen der natürlichen Religion ins Visier nehmend, dessen Überzeugung, dass „‚das Gebet zu GOtt […] kein[…] Theil der natürlichen Religion‘“ sei. Die dabei zugrunde liegende Argumentation Chubb’s gibt Leland folgendermaßen wieder: „Er nimmt für gewiß an, ‚GOtt erfülle unsere Bitten nicht; weil alle Dinge ihren natürlichen Lauf fortgehen, wir mögen beten oder nicht.‘ Er räumt zwar ein, ‚wenn man das Gebet als eine befohlene Einrichtung ansehe, so könne es von gutem Nutzen seyn. Es könne gute Gedanken und dadurch gute Neigungen und Handlungen hervor bringen. Und wenn man das Gebet in dieser Absicht gebrauche, ohne von GOtt dadurch etwas zu erwarten; so könne man wol freylich nicht sagen, es sey ein Gespött mit GOtt. Allein er besorgt doch, daß sich selbst in diesem Falle eine Unschicklichkeit bey dem Gebete befinde; und wirft die Frage auf, ob diese Unschicklichkeit das Gebet nicht aufheben müsse, und ob es Gott nicht misfalle? Er erklärt sich ganz deutlich: Seine Meinung sey, es misfalle GOtte […].‘“⁸⁴¹

Vergegenwärtigt man sich auf diesem Hintergrund den Gedankengang der Schleiermacherschen Predigt, so fällt auf, dass sich die beiden Einwände gegen das rechte Gebet im Namen Jesu, die Schleiermacher im zweiten Teil seines Hauptteils aufnimmt

   

Vgl. Leland: Abriß I, Inhaltsverzeichnis und S. 392. Leland: Abriß I, S. 393. Leland: Abriß I, S. 398. Leland: Abriß I, S. 399 [Hervorh. i. Orig.].

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

187

und widerlegt, inhaltlich weitgehend mit diesen beiden Chubbschen Vorbehalten decken. Bei Schleiermacher liest sich das folgendermaßen: „Allein[,] sagt man, auf diese Art ist ja die Erhörung unsres Gebets so gut als gar nichts.Wenn unsere Bitten zu Gott um unsere Besserung nur in dem Fall wirksam sind, daß alle unsre Handlungen damit übereinstimmen, nun so ist diese Besserung die Wirkung unserer eignen Bemühungen, und das Gebet hat gar keinen Theil daran. Eben so, wenn ich die Gewährung der Wünsche meines Herzens mir nur in so fern erbitten darf, als sie mit den übrigen Einrichtungen Gottes bestehn können, und ein solches Gebet wird erhört, so ist daran nichts außerordentliches; es geschieht nichts in der Welt, als was zum Besten eines jeden gereicht und mein Gebet bringt also nichts zuwege, als was ohnehin auch erfolgt wäre.“⁸⁴²

Der erste Einwand, den Schleiermacher in seiner Argumentation aufnimmt, ist also die insbesondere gegen die Kategorie des Gebets um sittliche Besserung gerichtete Bestreitung dessen, dass das Gebet etwas zur Besserung des Menschen beitragen könne, mithin die Bestreitung der Beistandsfunktion des Gebets, nimmt man das Gebet wiederum als pars pro toto, gleichzeitig die Bestreitung der Beistandsfunktion der Religion. Die von Schleiermacher referierte Begründung dieser Bestreitung aber ist letztlich nichts anderes als die konsequente Anwendung und Weiterentwicklung des Chubbschen Arguments gegen den Gedanken der „Wahrheit“ eines göttlichen Beistandes zum Guten: „‚daß wir kein Mittel hätten, diesen göttlichen Einfluß von den Würkungen unserer eigenen Seele zu unterscheiden.‘“⁸⁴³ Im Kontext der Schleiermacherschen Predigt über das rechte Gebet im Namen Jesu heißt das dann: „Wenn unsere Bitten zu Gott um unsere Besserung nur in dem Fall wirksam sind, daß alle unsre Handlungen damit übereinstimmen, nun so ist diese Besserung die Wirkung unserer eignen Bemühungen, und das Gebet hat gar keinen Theil daran.“⁸⁴⁴

Begegnen wird Schleiermacher diesem Einwand einerseits mit dem Zugeständnis, dass „das Gebet allein“ zwar nicht „tugendhafter und beßer machen“ könne, da das „die größte Unordnung in der sittlichen Welt anrichten“ würde, dass das Gebet aber andererseits „schon an und für sich“ und „seiner Natur nach“ die doppelte Wirkung mit sich bringe: „unsre Kenntniß deßen was uns noch fehlt, und unsern Eifer im Guten [zu] vermehren.“ Beides führt Schleiermacher dann wiederum auf subtil geschilderte innerpsychische Vorgänge zurück, die bei ihm für das Gebet kennzeichnend sind:

 Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 37– 142, 8.  Leland: Abriß I, S. 398.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 38 – 142, 3.

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II. Predigtanalysen

„[…] stimmen wir aber diese Gesinnungen zum Gebet um, so wagen wir es im Vertraun auf die höhere Kraft, deren Beistand wir uns erflehen unser ganzes Herz aufzudeken, wir zittern bei dem Gedanken, daß wir uns ihm dem allheiligen darstellen wollen, und daß es noch in irgend einem Winkel unserer Seele eine Neigung eine Leidenschaft gebe die wir kennen, aber seinen Geboten nicht aufzuopfern bereit wären […].“⁸⁴⁵

Neben diese Schilderung der Erschließung „deßen was uns noch fehlt“ durch und im Verlauf des Gebets tritt die Beschreibung der Stärkung des menschlichen „Eifer[s] im Guten“, wiederum als innerpsychischer Vorgang bzw. „Wirkung“, die „ein wahres aufrichtiges Gebet um Besserung“ „unmittelbar in dem Herzen des betenden hervorbringt“: „Indem wir uns ferner im Gebet über uns selbst erheben, weit über die gewöhnliche menschliche Sphäre hinaussehn so bekommen wir nothwendig den stärksten Eindruk von unserm Verhältniße gegen Gott. Auf einmal stellt sich uns dar die allumfassende Güte seiner Vorsehung, die Weisheit aller Veranstaltungen die er zu unserm Wohl in der Welt getroffen hat, die unendliche Langmuth, die er bei allen unsern Fehlern und Schwachheiten beweist. Welche Ermunterung alle Kräfte anzuwenden um diese Güte mehr zu verdienen, um sie mit weniger schlagendem Gewißen anschaun zu können.“⁸⁴⁶

Der zweite der den Chubbschen Vorbehalten entsprechenden Einwände, auf den Schleiermacher eingeht, ist sodann derjenige, der sich auf die Kategorie des Gebets um äußere Angelegenheiten bezieht und der sich sinngemäß auch bei Spalding findet.⁸⁴⁷ Dieser Einwand bestreitet Sinn und Nutzen des Gebets, insofern die Bitten der Betenden nichts „mit den übrigen Einrichtungen Gottes“ nicht Übereinstimmendes und demzufolge „nichts in der Welt, als was zum Besten eines jeden gereicht und […] was ohnehin auch erfolgt wäre“, bewirken könnten, solange die Gebetserhörung eben am Kriterium der Übereinstimmung des im Gebet Erbetenen „mit den übrigen Einrichtungen Gottes“ hänge.⁸⁴⁸ Auch hier ist der offensichtliche Bezug zum Chubbschen Argument, „‚GOtt erfülle unsere Bitten nicht; weil alle Dinge ihren natürlichen Lauf fortgehen, wir mögen beten oder nicht‘“,⁸⁴⁹ deutlich. Und auch diesem Einwand, der letztlich auf die Infragestellung der Einrichtung einer besonderen Vorsehung zielt, wie sie bei Chubb explizit

    

Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 38. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 38 – 143, 12. Vgl. SpKA II/2, 76, 27– 77, 21. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 3 – 8. Leland: Abriß I, S. 399.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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zu finden ist,⁸⁵⁰ begegnet Schleiermacher mit dem Hinweis auf den Nutzen von gebetsspezifischen innerpsychischen Vorgängen: „Dies ist der natürliche Gang, den unsre Seele bei einem aufrichtigen Gebet nimmt […]; wenn wir auch damit anfangen daß wir Gott unsre eignen Absichten unabhängig von den seinigen vortragen, vielleicht gar mit dem Gedanken unsern Willen zu dem seinigen zu machen, so enden wir doch immer damit, daß der Wille Gottes unbedingt der unsrige wird. Und was gewinnen wir nicht dabei! Die unordentliche Obermacht unserer Begierden wird gedämpft, alles unserm großen Zwek, nemlich der wahren sittlichen Vollkommenheit untergeordnet. Und welchen höhern Grad der Selbstzufriedenheit kann wol ein eingeschränktes Wesen erreichen, als wenn wir uns bewust sind, daß unser Wille mit dem Willen Gottes übereinstimmt […]“.⁸⁵¹

Mit dieser Legitimierung auch des Nutzens des Gebets um äußere Angelegenheiten aufgrund von gebetsspezifischen innerpsychischen Vorgängen bezieht sich Schleiermacher im Grunde nun aber sowohl auf Spalding als auch auf den Kontext der Chubbschen Argumentation. Denn in Spaldings Predigt wird der „Vortheil“ des Gebets für die Betenden, unmittelbar nach der Zurückweisung der Bestreitung der Verbindlichkeit des Gebets aufgrund des gerade verhandelten Einwandes, folgendermaßen ausgeführt: „Aber dieser Vortheil ist […]auch doch[…] noch auf mehr als eine Art groß genug bey demjenigen, der mit dem rechten Herzen betet. Nämlich dadurch werden bey ihm die Gesinnungen mehr erwecket und unterhalten, die er Gott schuldig ist, und die ihn[…] zum Guten lenken. Durch das Gebet um Wohlthaten wird sein Gemüth mehr in der Demuth, in der Gelassenheit, in der Losreißung vom fleischlichen Vertrauen auf irdische Dinge, in der Liebe und Verehrung Gottes, geübet; und das ist ein so grosser Gewinn, daß derjenige sehr unrecht und zu seinem eigenen Schaden handelt, der dieses Stück der Religion mit leichtsinnigem Muthwillen unterläßt.“⁸⁵²

Pointiert könnte man von daher folgern, dass Schleiermacher den hier zitierten Gesichtspunkt der Spaldingschen Argumentation aufgenommen und zum Kernstück seiner Gebetskonzeption ausgebaut habe. Indessen findet sich dieser Gesichtspunkt des innerpsychischen Nutzens des Gebets, wie bereits festgestellt, in Anklängen auch bei Chubb. Zu vergleichen wäre hier die folgende Passage der Lelandschen Darstellung: Chubb „räumt zwar ein, ‚wenn man das Gebet als eine befohlene Einrichtung ansehe, so könne es von gutem Nutzen seyn. Es könne gute Gedanken und dadurch gute Neigungen und

 Vgl. Leland’s Darstellung in Leland: Abriß I, S. 396 – 398 und auch S. 496.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 37.  SpKA II/2, 77, 21– 78, 3.

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II. Predigtanalysen

Handlungen hervor bringen. Und wenn man das Gebet in dieser Absicht gebrauche, ohne von GOtt dadurch etwas zu erwarten; so könne man wol freylich nicht sagen, es sey ein Gespött mit GOtt […].‘“⁸⁵³

Auch bei Chubb findet sich also das Zugeständnis, dass das Gebet im Menschen „gute Gedanken und dadurch gute Neigungen und Handlungen hervor bringen“ kann.⁸⁵⁴ Eine noch größere Nähe zu dem für Schleiermachers Gebetskonzeption so zentralen Gedanken des innerpsychischen Nutzens des Gebets findet sich nun aber, mit den Worten der Lelandschen Anmerkung: in „Bensons schöne[r] Abhandlung von dem Endzwecke des Gebets“,⁸⁵⁵ auf die u. a. Leland seine Leser zur weiteren Vertiefung der Wiederlegung der Einwände gegen die Pflicht des Gebets verweist⁸⁵⁶ und die wiederum einem 1763 erschienenen Band entstammt, der sich auch in Schleiermachers Bibliothek befand.⁸⁵⁷ In Bensons Verteidigung des Zweckes und der Absicht des Gebets finden sich nun nicht nur Aussagen wie diese: „Wenn demnach bewiesen werden kann, daß das Gebeth dazu dienet, in dem Menschen solche Gesinnungen und Gemüthsfassung zu erwecken und zu unterhalten, die GOtt liebt, und für welche er in dem Entwurf seiner Vorsehung Seegen und Wohlthaten bestimmt hat […]“,⁸⁵⁸

 Leland: Abriß I, S. 399 [Hervorh. i. Orig.].  Anzufragen wäre an dieser Stelle natürlich, ob das nicht konsequenterweise dann auch auf eine gewisse Beistandsfunktion des Gebets bei Chubb hindeuten müsste.  Vgl. D. George Benson: „XV. Von dem Zweck und Absicht des Gebeths“, in: Benson: Abhandlungen, S. 329 – 375. Im Verlauf dieser Abhandlung ist leider die Paginierung durcheinander geraten. Seite 329 – 352 sind korrekt ausgewiesen, die Seite, die eigentlich die Ziffer 353 tragen müsste, setzt dann aber wieder mit 337 ein, sodass sich die Seiten 337– 352 doppelt finden lassen. Um eindeutig auszuweisen, auf welche der in Frage kommenden Seiten sich meine Angaben jeweils beziehen, werde ich die Seitenzahlen ab der zweiten Folge 337– 352 jeweils mit einem „[sic!]“ versehen.  Leland: Abriß I, S. 400, Anm. (p).  Vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 666.  Benson: Abhandlungen, S. 345 [Hervorh. i. Orig.]. Der an dieser Stelle zugrunde liegende Gedankengang Bensons deckt sich interessanterweise mit dem in Spaldings Predigt begegnenden, von Schleiermacher aber nicht aufgenommenen zirkulären Argument der Begründung der Verbindlichkeit des Gebets, wonach das Gebet diejenige Gemütsverfassung hervorrufe, für die Gott „in dem Entwurf seiner Vorsehung Seegen und Wohlthaten bestimmt ha[be]“ und das Gebet von daher eine sich nicht mit der Vorsehung Gottes im Widerspruch befindende Pflicht des Menschen darstelle (Benson: Abhandlungen, S. 345 [Hervorh. i. Orig.]; bei Spalding wäre zu vergleichen: SpKA II/2, 78, 3 – 31).

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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oder „ein andächtiges Gebeth dient auch offenbar dazu, die Liebe zur Sünde auszurotten, und an deren Statt gute Gesinnungen und tugendhafte Neigungen einzupflanzen“.⁸⁵⁹ Bei Benson begegnet auch schon der für Schleiermachers Auflösung der Problematik des Gebets um äußere Angelegenheiten grundlegende Gedanke, dass das Gebet „auch unser Herz zu einer völligen Ergebung in den göttlichen Willen und zu einem aufrichtigen Gehorsam, so daß wir geneigt sind, für alle Gebothe GOttes die größte Achtung zu haben“, zu „beweg[en]“ vermöge.⁸⁶⁰ Kurz und präzise: die mit dem Gebet verbundene „Veränderung gehet“ laut Benson „in uns, und nicht in GOtt, vor“.⁸⁶¹ All dies zielt nun aber, bis hin zu der implizierten sittlichen Ausrichtung oder Orientierung des Menschen, genauestens auf Schleiermachers Gedanken des „natürliche[n] Gang[es]“ eines „aufrichtigen Gebet[s]“ bzw. der durch das Gebet hervorgerufenen veränderten Gemütsverfassung des Menschen.⁸⁶² Was Bensons Gebetskonzeption für den Vergleich mit derjenigen Schleiermachers zudem interessant macht, ist die Beobachtung, dass der Aspekt der mit dem Gebet verbundenen innerpsychischen Veränderung des Menschen auch bei Benson mit der grundlegenden Bestimmung des Gebets als „Mittel[…] […] zur Tugend und Gottseeligkeit“,⁸⁶³ als „Mittel“ „GOtt immer ähnlicher zu werden, und seinem Willen immer gemässer zu leben“⁸⁶⁴ bzw. als „eines von den besten Beförderungsmitteln der Tugend“⁸⁶⁵ verbunden ist. Auch bei Benson ist das Gebet also von seinem „practischen Einflus“ her konzipiert,⁸⁶⁶ und das übrigens bei ihm in so konse-

 Benson: Abhandlungen, S. 350 [Hervorh. i. Orig.].  Benson: Abhandlungen, S. 350.Vgl. dazu auch folgende Passage aus dem dritten Anhang zu Bensons Abhandlung, welcher „Anmerkungen“ zu der unmittelbar davor angehängten „Abhandlung des Maximus Tyrius, über die Frage: Ob wir zu GOtt bethen sollen, oder nicht?“, enthält (vgl. Benson: Abhandlungen, S. 353 [sic!] – 363 [sic!] und S. 364 [sic!] – 375 [sic!]): „Ein Hauptzweck des Gebeths ist, unsre Herzen in eine unterwürfige Fassung zu sezzen, solche Begierden, die unvernünftig sind, einzuschränken, und uns dahin zu bringen, daß wir mit allen Umständen, darin die Vorsehung uns sezt, zufrieden sind.“ (Benson: Abhandlungen, S. 374 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]). Nur erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass der Topos der Ergebung in den Willen Gottes in Verbindung mit dem Gebet auch in Eberhards Sittenlehre begegnet, dort allerdings gerade nicht als Ziel einer inneren Entwicklung, sondern als Voraussetzung bzw. Haltung, mit der gebetet werden sollte, im Blick ist (vgl. Eberhard: SdV, § 144, S. 167).  Benson: Abhandlungen, S. 339 [sic!], Anm. (**) [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 22– 145, 14.  Benson: Abhandlungen, S. 340 [sic!] [Hervorh. i. Orig.].  Benson: Abhandlungen, S. 345 [sic!].  Benson: Abhandlungen, S. 368 [sic!] [Hervorh. i. Orig.].  Benson: Abhandlungen, S. 347 und S. 348 [sic!] (S. 348 [sic!] – 353 [sic!] bilden den ersten Anhang zu Bensons Abhandlung: „Nachschrift zum vorhergehenden Schreiben vom Gebeth, darin untersucht wird, Was für Absichten wir beim Gebeth haben sollen, – wie die Gebethsformeln

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II. Predigtanalysen

quenter Weise, dass sogar der Inhalt des öffentlichen Gebets bzw. die „Formulare, die zum öffentlichen Gebrauch in einer oder mehreren Kirchen bestimmt sind, so abgefaßt“ sein sollten, „daß sie so viele christliche Pflichten, als nur möglich, in sich begriffen, und durch und durch nach dieser practischen Absicht eingerichtet“ sein sollten.⁸⁶⁷ Bensons Formulierungen wiederum, „daß ein Mensch ohne Gebeth“ nicht „eben so tugendhaft und würdig“⁸⁶⁸ bzw. „tugendhaft und GOtt angenehm sein“ könne, „als wenn er bethet“,⁸⁶⁹ erinnern an Schleiermachers Zugeständnis, dass „das Gebet allein uns“ zwar nicht „tugendhafter und beßer machen“ könne, dass dies allerdings gerade in Verbindung mit bzw. als Beistand zu den entsprechenden menschlichen Bemühungen „schon an und für sich“ bzw. aufgrund seiner „Natur“ durch das Gebet bewerkstelligt werde.⁸⁷⁰ Die doppelte Zielrichtung des Bensonschen Gebetsverständnisses schließlich, nach der „das Gebeth so vieles vermag, das moralische Ebenbild GOttes in uns herzustellen […], und unsere Seele in eine solche Verfassung zu sezzen und zu erhalten, die er nach dem weisen Entwurf seiner Vorsehung mit Wohlthaten zu seegnen bereit ist“,⁸⁷¹

gehört ebenfalls zu den sittlichen Aspekten seines Gebetsverständnisses, die sich nur wenig verändert bei Schleiermacher wiederfinden: Man denke an die Formulierung des doppelten Nutzens des Gebets am Schluss der Schleiermacherschen Predigt: „uns zum Guten zu ermuntern und in allen Zuständen des Lebens ruhig und gelaßen zu machen“,⁸⁷² nicht zuletzt aber etwa auch an das zuvor im Kontext der Widerlegung des Einwandes gegen das Gebet um äußere Angelegenheiten angeführte, im Gebet entstehende und den betenden Menschen ganz wesentlich prägende „Bild“ „unsere[r] wahre[n] höhere[n] überirdische[n] Bestimmung“,⁸⁷³ das bei Schleiermacher nun zwar nicht dem „moralische[n] Ebenbild GOttes in uns“,⁸⁷⁴ dafür aber „unserm großen Zwek, nemlich der wahren sittlichen Vollkommenheit“ entspricht.⁸⁷⁵

einzurichten sind, – wie man sich der biblischen Ausdrücke bedienen müsse, – daß wir nur solche Sünden bekennen sollen, von denen wir uns bewußt sind, daß wir sie begangen haben“, S. 348 [sic!]).  Benson: Abhandlungen, S. 349 [sic!] [Hervorh. i. Orig.].  Benson: Abhandlungen, S. 367 [sic!].  Benson: Abhandlungen, S. 368 [sic!].  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 38.  Benson: Abhandlungen, S. 339 [sic!] [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 15 – 17.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 8 – 31.  Benson: Abhandlungen, S. 339 [sic!] [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 144, 8 – 31.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Im Vergleich zum Spaldingschen Entwurf ist von daher zunächst einmal festzuhalten, dass sich hinsichtlich der für Schleiermachers Gebetsverständnis so entscheidenden sittlichen Aspekte eine noch deutlichere Anlehnung Schleiermachers an die Bensonsche Gebetskonzeption ergibt. Denn mit der Ausrichtung der Argumentation auf die Bestimmung des Gebets als Mittel zur Beförderung der Tugend ist die Frage nach der Beistandsfunktion des Gebets zum Guten bzw. zur sittlichen Besserung bei beiden im Grunde inhaltlich identisch aufgenommen⁸⁷⁶ und nicht nur positiv beantwortet, sondern zur zentralen Grundlage der Verteidigung des Gebets geworden. Den letzten Endes durch die Infragestellung des Gedankens einer besonderen Vorsehung ausgelösten Einwand gegen das Gebet um äußere Angelegenheiten aber beantworten beide durch den Hinweis auf die innerpsychischen Wirkungen des Gebets, implizit damit dann aber wieder mit dessen Bestimmung als Mittel zur Beförderung der Tugend. Mithin führen also sowohl Schleiermacher als auch Benson diesen zweiten, gegen das Gebet um äußere Angelegenheiten gerichteten Einwand in erster Linie auf die sittliche Beistandsfunktion des Gebets zurück. Ein in diesem Kontext relevanter Unterschied zwischen der Bensonschen und der Schleiermacherschen Konzeption ist nun allerdings ebenfalls auszumachen. Denn während Bensons Argumentation letzten Endes durchgängig auf der Überzeugung beruht, dass Gott „den Entwurf der moralischen oder vernünftigen Welt, in einer merklichen und harmonischen Uebereinstimmung mit der natürlichen Welt gemacht“ habe,⁸⁷⁷ dass er „die natürliche und moralische Welt“ von daher also „so übereinstimmig eingerichtet habe, daß sie gleichsam sich eine der andern die Hand geben, und in ihren grösten Veränderungen und merkwürdigern Vorfallenheiten übereinkommen“, und diese präzise Entsprechung zwischen moralischer und natürlicher Welt für ihn dann beispielsweise zur Folge hat, dass „[g]ottlose und liederliche Leute, welche gemeiniglich auch Verächter des Gebeths und alles Gottesdienstes sind, […] mit verschiedenen Krankheiten und Unglücksfällen heimgesuchet

 Dass auch die „Gottseeligkeit“, die bei Benson an einer Stelle in der Zweckbestimmung des Gebets neben die Tugend tritt, v. a. sittlich konnotiert ist, ist dem Duktus der „Dritte[n] Folge“ des Gebets zu entnehmen, in deren Kontext die Rede vom Gebet als „Mittel[…] […] uns in der Liebe zur Tugend und Gottseeligkeit zu befestigen“ begegnet. Denn die Bestreitung der hier verhandelten These bzw. dieser dritten Folge: „Das Gebeth ist eine Pflicht sowohl der natürlichen, als der geoffenbahrten Religion“ wird abschließend mit dem Hinweis abgewehrt, dass „diejenigen, die das Gebeth versäumen, […] entweder die Sache nicht gnugsam überlegt, oder […] nicht so viel Achtung für die Tugend, als sie haben solten“, hätten. (Vgl. Benson: Abhandlungen, S. 340 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]).  Benson: Abhandlungen, S. 339 [Hervorh. i. Orig.].

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II. Predigtanalysen

[werden], welchen diejenigen, so ein frommes und mäßiges Leben führen, nicht ausgesezt sind“,⁸⁷⁸

während Benson also von einer der ursprünglichen Schöpfung und Einrichtung Gottes gemäßen Entsprechung zwischen moralischer und natürlicher Welt bzw. zwischen moralischem und natürlichem Weltverlauf ausgeht, damit dann aber auch das Ergehen der Menschen unmittelbar von ihrem moralischen Verhalten bzw. ihrer sittlichen Verfassung ableiten kann, konzentriert sich Schleiermacher mit dem Ergehen der Menschen auf den Bereich der Ordnung bzw. „Unordnung in der sittlichen Welt“, ohne das Verhalten bzw. die sittliche Verfassung von Menschen unmittelbar mit dem Ergehen dieser Menschen nach den Maßstäben der natürlichen Welt in Verbindung zu bringen. Denn innerhalb der sittlichen Welt muss auch für ihn Ordnung herrschen, d. h. „[d]er Bösewicht, der nur bisweilen wünscht das Glük der Tugend zu schmeken“ darf z. B. „den Beistand der göttlichen Gnade“ nicht „eben so genießen, als der Fromme der sein ganzes Leben den aufrichtigsten Bemühungen für seine Besserung widmet.“⁸⁷⁹ Eine Überschreitung der Grenzen des sittlichen Bereichs in Richtung Ergehen in der natürlichen Welt kommt bei Schleiermacher nun aber gerade nicht in den Blick.⁸⁸⁰ Der Schlüssel dieses Verzichts dürfte im Grunde in seiner – im Grundsatz auch bei Spalding zu findenden⁸⁸¹ – Einsicht bestehen, dass „[u]nsere Glükseligkeit […] nicht auf den

 Benson: Abhandlungen, S. 341 [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 26. Die Nähe dieser Passage zur Kantischen Definition der Tugend als Glückswürdigkeit bzw. „als die Würdigkeit, glücklich zu sein“, im Kontext seiner Konzeption des Höchsten Gutes ist offensichtlich (vgl. z. B. KpV, S. 149 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 198 f.], das Zitat ist auf S. 149 zu finden [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 198]).  Diese Wahrung der Grenzen zwischen moralischer und natürlicher Welt entspricht der Kantischen Konzeption des Höchsten Gutes, insofern auch Kant von einer bleibenden Kluft, in der sich der Mensch als Teil der intelligiblen Welt einerseits und als Teil der Sinnenwelt andererseits vorfindet, ausgeht. Da „das handelnde vernünftige Wesen in der Welt […] nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur“ ist, gilt grundsätzlich, dass es nicht selbst für die „Übereinstimmung der Natur“ mit seinem „Begehrungsvermögen“, i. e. für die angemessene Proportionierung von Tugend und Glückseligkeit, sorgen kann. Die Verwirklichung des auf dieser Proportionierung basierenden Höchsten Gutes beruht bei Kant daher auf dem Postulat einer „Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enth[ält]“ (vgl. KpV, S. 167 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 224 f.]).  Zu vergleichen wäre eine Passage aus Spaldings „Predigt über Die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hi 28,28: „Indessen ist dies freylich noch immer das wenigste, weil es bloß das[…] äusserliche Leben betrifft, und weil die eigentliche Glückseligkeit nur in der Seele selbst und in ihren[…] innersten Empfindungen wohnen kann. Eben diese aber findet und geniesset der Christ am si-

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Gegenständen die uns umgeben, nicht auf den Umständen, worin wir uns befinden [beruht], sondern auf […] der GemüthsVerfaßung die wir unsrer äußern Lage entgegensezen können“. Von daher kann dann schließlich Unglück leichter, „äußer[es] Glük[…]“ aber „würdiger“ getragen werden.⁸⁸² Eine weitergehende Entsprechung bzw. Angleichung zwischen dem moralischen Verhalten oder der sittlichen Verfassung des Menschen einerseits und dem natürlichen Weltverlauf andererseits sieht Schleiermachers Konzeption im Gegensatz zur Bensonschen daher nicht vor. Mit der Erhörung des Gebets in Verbindung stehende Veränderungen gehen bei Schleiermacher deshalb wirklich ganz konsequent im Menschen vor, nicht, worin er mit Benson ja grundsätzlich übereinstimmt: in Gott, aber eben auch nicht in der den Menschen umgebenden, äußeren oder natürlichen Welt, wie es Bensons Ansatz, natürlich strikt in Verbindung mit der göttlichen Vorsehung, im Grunde durchaus im Blick hat. Was sich auf diesem Hintergrund bei Schleiermacher nun allerdings dennoch wieder in Entsprechung zu Benson findet, ist die dezidierte Überzeugung, dass auch „die menschlichen Angelegenheiten von der göttlichen Vorsehung nicht ausgeschloßen“ seien, da „Ihm […] auch der kleinste Theil Seines unendlichen Ganzen nicht zu klein“ sein könne.⁸⁸³ Diese Überzeugung aber bringt nichts anderes zum Ausdruck als das Festhalten am Bestehen einer besonderen, den einzelnen Menschen betreffenden göttlichen Vorsehung, neben und in Verbindung mit der, das Gesamte der ganzen Schöpfung umfassenden, allgemeinen göttlichen Vorsehung. Was Benson betrifft, wäre in diesem Zusammenhang auf seine Auseinandersetzung mit Maximus Tyrius Abhandlung über das Gebet hinzuweisen, im Verlauf deren er sich im Anschluss an die von Tyrius aufgestellte Alternative: „[d]enn wenn es eine göttliche Vorsehung giebt, so siehet GOtt entweder nur auf das Ganze, und bekümmert sich nicht um die besondern Theile desselben, (so wie Könige ganze Städte regieren, ohne daß ihre Sorgfalt sich auf einen jeden Menschen insbesondre erstreckt) oder seine Vorsehung bekümmert sich auch um alle und jede besondre Theile“,⁸⁸⁴

dezidiert dem Letzteren anschließt.⁸⁸⁵

chersten, dadurch, daß er Gott fürchtet, und aus einem lebendigen Gefühl der Religion sein Herz in der gehörigen Ordnung hält.“ (SpKA II/2, 20, 25 – 21, 1).  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 3 – 14.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 16 – 136, 4.  Benson: Abhandlungen, S. 358 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]. Maximus Tyrius kommt dabei in seiner Abhandlung über das Gebet natürlich hinsichtlich beider Alternativen zu dem übereinstimmenden Urteil: „Solche Dinge demnach, die von der Vorsehung geschehen, müssen weder gefordert, noch darum gebethen werden.“ (Benson: Abhandlungen, S. 359 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]).

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II. Predigtanalysen

Auf weitere, teilweise doch recht deutliche Übereinstimmungen sei zum Abschluss des Vergleiches der Schleiermacherschen Gebetskonzeption mit D. George Benson’s Abhandlung über Zweck und Absicht des Gebets nur noch in aller Kürze hingewiesen: So ähnelt sich die Argumentation in Beziehung auf die Wundertheorie, die Wunder in der Entstehungszeit des Christentums für nötig hielt, inzwischen aber als verzichtbar und von daher ausbleibend verstehen kann,⁸⁸⁶ die

 Vgl. Benson: Abhandlungen, S. 371 f. [sic!] [Hervorh. i. Orig.]: „kan es aber wohl eine allgemeine Vorsehung geben, ohne daß sie über alle und jede Dinge insbesondre die Aufsicht hat? Bestehet das Ganze nicht aus verschiedenen Theilen? Und wie kan jemand das Ganze übersehen, der nicht auch auf die besondern Theile desselben sein Augenmerk richtet? […]“, im Vergleich zu Schleiermachers Passage dann auch die Formulierung: „ein so unbeträchtlicher Theil der Welt ich auch bin […]“ (Benson: Abhandlungen, S. 372 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]). Nur erwähnt sei zudem die – zugegebenermaßen natürlich nicht sicher zu belegende, aber möglicherweise doch im Hintergrund stehende – Anspielung Schleiermachers mit der Rede vom „kleinste[n] Theil Seines unendlichen Ganzen“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 135, 21 f.) auf die sich auf die Philosophie beziehende Passage am Ende der Tyriusschen Abhandlung: „Denn was in der menschlichen Natur vortreflich ist, ist nur sehr klein, und doch wird durch dies kleine das Ganze erhalten.Wenn du die Philosophie aus dem menschlichen Leben wegnimst, so nimst du das weg, was dasselbe erleuchtet, belebt und erhält, und was alleine dir zum Bethen Anleitung geben kan.“ (Benson: Abhandlungen, S. 363 [sic!] [Hervorh. i. Orig.]).  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 137, 16 – 138, 7 und Benson: Abhandlungen, S. 351 [sic!], eventuell auch in Verbindung mit einer entsprechenden Übertragung der hermeneutischen Bemerkung, dass „die Schriftstellen […] nach ihrem ersten wahren Verstande gebraucht, und in diesem Verstande auf unsern Zustand richtig und schicklich zugeeignet werden“ sollten, in den Kontext der Wunderthematik durch Schleiermacher (vgl. Benson: Abhandlungen, S. 352 [sic!]). Eine vergleichbare Argumentation hinsichtlich der Wunderthematik findet sich aber beispielsweise auch in Lelands Argumentation gegen die Chubbsche Bestreitung der neutestamentlichen Wunder, wenn Leland von denjenigen spricht, „die in dem ersten Alter des Christenthums mit der Macht Wunder zu thun ausgerüstet waren“, oder den „eigentliche[n] Nutzen und Endzweck der Wunder“ darin gegeben sieht, dass diese „das Zeugniß der Apostel von unserm Erlöser und seiner Auferstehung, ingleichen die Wahrheit der Lehren, die sie von ihm empfangen hatten, […] bestätigen“ sollten (vgl. Leland: Abriß I, S. 468 f.; zu vergleichen wäre hier zudem die entsprechende, etwas ausführlichere Argumentation in Lelands den Summarischen Vorstellungen der Beweise des Christenthums gewidmetem 15. Brief, derzufolge u. a. die außerordentlichen Situationen der „Aufrichtung der Jüdischen und Christlichen Kirche“ auch der außerordentlichen göttlichen Bestätigung durch Wunder bedurften, was aber nicht heißen könne, dass jederzeit bzw. auch gegenwärtig noch Wunder geschehen müssten, vgl. Leland: Abriß I, S. 552– 558). Ein Befund, der die von Troeltsch im Kontext seiner Darstellung Middletons formulierte Beobachtung, dass der „“, als die englische Kontroversliteratur gegen den Deismus bis weit in die Mitte des 18. Jahrhunderts kennzeichnend ausweist (vgl. Troeltsch: Deismus, S. 460, das Zitat entstammt der Einfügung einer späteren Randbemerkung Troeltschs in den Textbestand durch den Herausgeber, vgl. den Vorbericht des Herausgebers in: Ernst Troeltsch: Aufsätze zur

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Zurückweisung einer am menschlichen Willen orientierten Gebetserhörung erfolgt bei beiden durch den Hinweis darauf, dass „uns […] kein grösseres Unglück wiederfahren“ könnte,⁸⁸⁷ in Hinsicht auf das Praktizieren des Gebets sind es hier wie da „nicht die Worte, sondern die Gedanken, worauf es bei unserm Gebeth ankommt“,⁸⁸⁸ zudem dann aber auch noch eine diesen Gedanken bzw. Gebetsinhalten entsprechende beständige Haltung bzw. ein diesen entsprechender „habituelle[r] Hang und Neigung der Seele“ des bzw. der Betenden.⁸⁸⁹ Als eine wieder in den sittlichen Bereich gehörende Übereinstimmung wären abschließend noch einmal die sich in beiden Konzeptionen findenden synergistischen Tendenzen zu erwähnen,⁸⁹⁰ die angesichts der grundlegenden Bestimmung des Gebets als Mittel zur Beförderung der Tugend natürlich wiederum bei beiden nicht weiter verwundern. Geht man nun des Weiteren einem Hinweis Bensons auf die Reden des mennonitischen Londoner Predigers Fosters nach,⁸⁹¹ die sich wiederum ebenfalls in der Bibliothek Schleiermachers befanden,⁸⁹² so zeigt sich, dass auch Fosters in seiner Rede bzw. Predigt „Eine allgemeine Abhandlung von der Natur und dem Nutzen des Gebets über Matth. VI, 6“⁸⁹³ in Auseinandersetzung mit deistischen Infragestellungen des Gebets dasselbe als „ein natürliches Mittel […], unsern Fortgang in der Tugend zu erleichtern und zu befördern“⁸⁹⁴ bzw. „als natürliches Mittel, alle diese vortreflichen Empfindungen und Gesinnungen in uns zu erregen und zu verstärken, die uns so kräftig zur Religion und Tugend antreiben“,⁸⁹⁵ definiert. Die Verteidigung des Gebets aufgrund der Bestimmung desselben als Mittel zur Beförderung der Tugend (und Religion) scheint also im englischen Kontext

Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg.v. Hans Baron, Aalen 1966 [Neudruck der im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925 erschienenen Ausgabe] [Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Bd.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie], S. VIf.).  Benson: Abhandlungen, S. 338 [sic!], vgl. dazu Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 21– 29.  Benson: Abhandlungen, S. 340 f. [sic!] [Hervorh. i. Orig.], bei Schleiermacher beispielsweise: Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 10 – 21.  Benson: Abhandlungen, S. 341 [sic!], bei Schleiermacher wäre dazu Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 31– 37 zu vergleichen.  Vgl. insbesondere Benson: Abhandlungen, S. 370 f. [sic!] und S. 344 f., Anm. (*), für Schleiermacher: Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 143, 6.  Vgl. Benson: Abhandlungen, S. 348 f., Anm. (*), zu Person und Werk Fosters beispielsweise die Vorrede August Friedrich Wilhelm Sacks im ersten Theil der Fostersschen Reden (Fosters: Reden I, o.p.).  Vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 716.  Fosters: Reden IV, S. 262– 285.  Fosters: Reden IV, S. 272 [Hervorh. i. Orig.].  Fosters: Reden IV, S. 274 [Hervorh. i. Orig.].

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II. Predigtanalysen

durchaus geläufig gewesen zu sein. Dass sich nun aber nicht nur Benson,⁸⁹⁶ sondern auch Schleiermacher durch Fosters anregen ließ, wird deutlich, wenn man sich den Titel der Fostersschen Rede: „Eine allgemeine Abhandlung von der Natur und dem Nutzen des Gebets“ in Verbindung mit seiner Aussage ansieht, „daß die Vorurtheile, welche die Menschen darwider [i. e. gegen das Gebet, D.G.] mogen gehabt haben, wo nicht einem gottlosen Gemüthe und einem verderbten Herzen, doch gewiß einem Mißverständnisse wegen seiner Natur und Absicht zuzuschreiben sind.“⁸⁹⁷ Denn hier finden sich nicht nur die in der Schleiermacherschen Einleitung gegebene Antwort auf die Frage „Woher alle diese verkehrten Urtheile […]?“ – „Falsche Begriffe von der Absicht des Gebets und eine traurige Erfahrung von seinem wenigen Nuzen sind die Ursachen davon“, sondern auch die Disposition seiner Predigt und damit die die ganze Herangehensweise und Argumentationsstruktur leitenden Ausgangspunkte, Absicht bzw. Begriff und Nutzen des Gebets, im Grunde mit deutlichen wörtlichen Anklängen, wieder.⁸⁹⁸ Weitere Übereinstimmungen lassen sich z. B. in der Definition dessen, was zurecht „Gebet“ genannt werden könne, ausmachen: „Also ist ein gedankenloses, schläfriges Beten, nach Formeln bey denen man nichts denket, kein Gebet, eigentlich zu reden, sondern die verwegenste Unbedachtsamkeit.“⁸⁹⁹ Nicht zuletzt aber lässt sich die Beobachtung, dass Schleiermacher auch die Gebete, die aus Gewohnheit praktiziert werden, gut heißen kann,⁹⁰⁰ auf dem Hintergrund des Fostersschen Hinweises verstehen, dass das Gebet wie „alle andere Angewohnheiten“ der „ordentliche[n] und regelmäßige[n] Uebungen“ bedürfe, und wir uns gemäß der paulinischen Anweisung in 1.Thess 5,17⁹⁰¹ dazu mahnen lassen sollten, uns „um solche gesetzte und ernsthafte Gemüthsverfassung zu bemühen, bey der

 Benson zitiert in einer Anmerkung seiner Abhandlung über Zweck und Absicht des Gebets z. B. die gesamte Passage Fosters über die Unterschiede und Vorteile bzw. den Mehrwert des Gebets gegenüber bloßen Betrachtungen gleichen Inhalts (vgl. Fosters: Reden IV, S. 276 – 278 und Benson: Abhandlungen, S. 348 f., Anm. [*]).  Fosters: Reden IV, S. 269 f. [Hervorh. i. Orig.].  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 4– 8, für die Disposition der Predigt: Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 32– 35. Dass die Schleiermachersche Disposition damit auch der Herangehensweise der Halleschen Schultradition (Argumentation ausgehend von Begriff und Erfahrung) sowie dem Vorbild Spaldingscher Predigtmodelle entspricht, sei dabei unbenommen.  Fosters: Reden IV, S. 279 [Hervorh. i. Orig.]. Zu vergleichen wäre bei Schleiermacher Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 10 – 21 und Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 17.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 17– 33.  „[B]etet ohne Unterlaß“, vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung von 1984, hg.v. der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1985.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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wir beständig zum Gebete bereitet sind, als auch die Pflicht selbst bey gehörigen Gelegenheiten, und zu geschickten Zeiten wirklich auszuüben“.⁹⁰² Zusammenfassend lässt sich nun aufgrund all dieser Lelandschen, Bensonschen und Fosterschen Anklänge, Analogien und Übereinstimmungen feststellen, dass Schleiermachers Gebetskonzeption, insbesondere aufgrund seiner sittlichen Schwerpunktsetzung und der Bestimmung des Gebets als „Mittel […] uns im Guten zu stärken“⁹⁰³ bzw. als „Mittel zu unserer Beßerung“,⁹⁰⁴ stärker an den Entwürfen der englischen Kontroversliteratur gegen den Deismus orientiert ist als am Spaldingschen Gebetsverständnis. Beide Predigten jedoch, die Schleiermachersche und die Spaldingsche, sind nur auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit deistischen Infragestellungen des Gebets angemessen zu verstehen. Wiederum beiden Predigten eignet dabei nun aber neben allen Abgrenzungen gegen deistische Einwände auch ein Merkmal, das ganz eindeutig auf eine gewisse Annäherung an bzw. eine sich konstruktiv auswirkende Beeinflussung durch die Herausforderungen des Deismus schließen lässt. Denn indem die grundlegenden deistischen Einwände gegen das Gebet bei beiden aufgenommen und argumentativ widerlegt werden,⁹⁰⁵ sei es nun im genus deliberativum oder im genus demonstrativum, in eher sympathisierender und konzilianter oder in eher abgrenzender Weise, nehmen auch Schleiermacher und Spalding das im Grunde deistische Desiderat des eigenen Denkens und der eigenen Vernunftanwendung in konstruktiver Weise auf und üben sozusagen sich selbst sowie die Adressatinnen und Adressaten ihrer Predigten in dieser Disziplin. In Aufnahme einer Formulierung Ulrich Barths könnte von daher gefolgert werden, dass in der Auseinandersetzung mit dem Deismus beide, sowohl Schleiermacher als auch Spalding, letzten Endes zu Vertretern einer „[m]ündige[n] Religion und [eines] selbstdenkende[n] Christentum[s]“ werden.⁹⁰⁶ Ausdruck dessen dürfte dann

 Fosters: Reden IV, S. 280 f. [Hervorh. i. Orig.]. Die Bezüge der Schleiermacherschen Predigt (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 17– 33) zu diesem Abschnitt der Fostersschen Rede sind nicht zu übersehen.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 10 f.  Predigt Nr. 14, KGA III/3, 145, 19.  Vgl. für Spalding SpKA II/2, 76, 1– 78, 31, für Schleiermacher Predigt Nr. 14, KGA III/3, 141, 37– 145, 14.  Vgl. z. B. Barth: Mündige Religion, S. 224. Dass eine „deistische[…] Komponente“ bei Spalding eindeutig vorauszusetzen ist, verdeutlicht Barth zudem an einer Passage aus der 3. Auflage der Nutzbarkeit des Predigtamtes von 1791, die neben der für den Deismus typischen Kritik an undurchsichtigen und unverständlichen „Lehrsätze[n] und Meinungen“, an dem fortgesetzten Wachstum solcher Lehrbestände in der kirchlichen Tradition und an der letztlich darauf beruhenden geistlichen Herrschaft bzw. Unterdrückung der „Layenwelt“ insbesondere das Desiderat „ein[es] durchgängige[n] freye[n] Gebrauch[s] der Vernunft im Untersuchen und Prüfen“ formuliert (vgl. Barth: Mündige Religion, S. 220 und SpKA I/3, 104, 36 – 105, 37). Für die Dis-

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II. Predigtanalysen

schließlich auch die in Schleiermachers Predigt zu erkennende Positionierung auf Seiten der „[N]achdenkende[n]“ sein,⁹⁰⁷ die einerseits eine gewisse Distanz zu den Freidenkern, andererseits aber eben auch eine gewisse Sympathie für den Topos bzw. das grundsätzliche Einbeziehen des selbständigen Denkens in die eigene Herangehensweise signalisiert.⁹⁰⁸ Zieht man nun wiederum in Betracht, dass sich bei Spalding ebenfalls, wenn auch in anderem Kontext, ganz deutliche Solidaritätsbekundungen mit den „Nachdenkenden“ nachweisen lassen,⁹⁰⁹ so wird man letztlich Albrecht Beutels Beobachtung bestätigt finden, nach der z. B. in Spaldings „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“, eine gewisse „Ambivalenz“ in der Haltung Spaldings gegenüber der Aufklärung und der Philosophie der Aufklärung zum Ausdruck kommt.⁹¹⁰ Insofern wird man nun aber hinsichtlich des Anfangs dieses Abschnittes schlussendlich festzuhalten haben, dass die auf den ersten Blick festzustellenden Unterschiede im Umgang mit deistischen Infragestellungen eines in kirchlichchristlicher Hinsicht orthodoxen Gebetsverständnisses bei Spalding und Schleiermacher letztlich nicht von völlig grundsätzlicher Art sind.

II.2.1.7.3 Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings Religionstheologie Das bisherige, auf dem Vergleich des Gebetsverständnisses beruhende Ergebnis zu den Bezügen zwischen dem Schleiermacher der ersten Predigten und der Spaldingschen Religionstheologie muss in einen größeren Kontext gestellt und dadurch sowohl in inhaltlicher Hinsicht erweitert als auch durch nötige Differenzierungen präzisiert werden.

kussion der im Zusammenhang seiner Untersuchung zum englischen Deismus in Deutschland deutlich zurückhaltender ausfallenden Einschätzung Christoper Voigts (vgl. z. B.Voigt: Deismus, S. 221) ist auf den Abschnitt zur „Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung“ zu verweisen.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 21– 29.  Die Abgrenzung von den Positionen der „Freidenker“ mittels der (Selbst‐)Bezeichnung der „Nachdenkenden“ scheint durchaus üblich gewesen zu sein. So stellt Benson in seiner Abhandlung vom Gebet den „Freidenker[n]“ die „Tugendhaften und Nachdenkenden“ gegenüber (vgl. Benson: Abhandlungen, S. 330), August Friedrich Wilhelm Sack in seinem „Verteidigten Glauben der Christen“ in entsprechender Weise den „Freygeistern“ die „Nachdenkende[n]“ (vgl. die entsprechende Passage aus der Einleitung im ersten Stück in August Friedrich Wilhelm Sack: August Friedrich Wilhelm Sacks vertheidigter Glaube der Christen. Erstes bis achtes und letztes Stück, Berlin 1751, S. 4 f.).  Vgl. SpKA I/3, S. 180, 18 – 21, wo Spalding sich beispielsweise auf die „Untersuchung eines jeden nachdenkenden Lesers“ beruft, u. ö.  Vgl. SpKA I/4, S. XXXIIIf.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

201

Zu beginnen ist mit dem zentralen Topos des jeweils zutage tretenden Verhältnisses zwischen Religion und Sittlichkeit bzw.Tugend. Für Spalding hatte sich hier im Kontext des Gebetsverständnisses eine neben die Sittlichkeit bzw. Tugend tretende, ausgeprägte „eigenständig“-religiöse Dimension ergeben, die insbesondere dadurch zum Ausdruck kam, dass die gesamte Gebetskonzeption vor allen anderen Zweckmäßigkeiten auf den Umgang mit Gott selbst, als wichtigstem oder erstem Zweck des Gebets, zielte. Sieht man sich auf diesem Hintergrund nun das weitere Werk Spaldings an, so ist zunächst einmal festzustellen, dass diese eigenständig-religiöse Dimension bei Spalding auch in anderen Kontexten begegnet. Zu nennen wäre hier an erster Stelle ganz schlicht die Bestimmung des Zwecks des menschlichen Lebens als „Glückseligkeit und […] Gemeinschaft mit Gott“, wie sie beispielsweise in Spaldings „Predigt über die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hiob 28,28 als wesentlicher Bestandteil der Lehre des „Evangelium[s] Jesu“ begegnet: „Die Lehre selbst, […] daß die Menschen durch einen göttlichen Mittler zu dem grossen[…] Zweck ihrer Glückseligkeit und ihrer Gemeinschaft mit Gott geführet werden sollen, daß dieß gegenwärtige Leben nur zu einer Erziehung und Vorbereitung auf die Ewigkeit dienen soll, daß wir uns einer beständigen Fürsorge unsers Gottes und des stets gegenwärtigen Beystandes seiner Gnade bey einem treuen Gewissen zu getrösten haben, nebst allem dem übrigen, was weiter damit zusammen hängt, dieser ganze Inbegriff der christlichen Lehre […] ist an sich dem höchsten Wesen so anständig, […] für die besten Einsichten und Empfindungen der menschlichen Natur so wünschenswerth, aber […] auch zugleich durch die Art ihres Ursprungs und ihrer Ausbreitung mit […] Glaubwürdigkeit bestätiget […]“.⁹¹¹

Dieser Bestimmung des Zwecks des menschlichen Lebens entsprechend ist uns dann laut derselben Predigt auch die Gabe der „Fähigkeit unsers Verstandes und unserer Vernunft“ zu dem „letzten und grösten Zweck“ gegeben, „in Gott glücklich zu werden“.⁹¹² Die Einleitung der „Predigt über das wahre Lob Jesu“ zu Mt 21,1– 9 spricht von der „heilsame[n] Lehre, die wir von Jesu dem Sohne Gottes haben, und durch welche wir so sicher und gerade zu unsrer höchsten Glückseligkeit in der Vereinigung mit Gott geleitet werden“.⁹¹³ In der „Predigt über die Strenge des Christenthums“ zu Mt 18,1– 11 schließlich wird das „wahre[…] Ziel“ der Menschen im Zusammenhang mit der Warnung vor den „fleischlichen Lüsten“ ganz einfach mit „Gott“ identifiziert.⁹¹⁴ In der Konsequenz dessen ist dann aber auch noch einmal von der „lebhaften Richtung unsers Gemüths zu Gott“ Kenntnis zu nehmen, die eben nicht nur das „eigentliche

 Vgl. SpKA II/2, 18, 30 – 19, 19.  Vgl. SpKA II/2, 30, 4– 21.  Vgl. Johann Joachim Spalding: Über das wahre Lob Jesu (1768), in: Beutel/Drehsen (Hg.): Wegmarken, S. 49.  Vgl. SpKA II/2, 59, 11: „Sie ziehen uns von Gott, als unserm wahren Ziele, ab“.

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II. Predigtanalysen

Gebet“ auszeichnet,⁹¹⁵ sondern in Spaldings Überlegungen immer wieder begegnet,⁹¹⁶ letzten Endes im Grunde als die „allgemeine[…] Richtung des Gemüths zu Gott“, die den Maßstab des beständigen Gottesdienstes des ganzen Menschenlebens bilden⁹¹⁷ bzw. das ganze Menschenleben mit all seinen Tätigkeiten begleiten sollte.⁹¹⁸

 Vgl. Spaldings „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zu Joh 16,23 – 30: SpKA II/2, 70, 31– 71, 6.  Vgl. z. B. bereits die Vorrede zu den Neuen Predigten: SpKA II/2, 13, 9 – 15.  Vgl. Spaldings „Predigt über den beständigen Gottesdienst eines Christen“ zu Lk 2,33 – 40: SpKA II/2, 220, 10 – 22.  Vgl. Spaldings „Predigt über den beständigen Gottesdienst eines Christen“ zu Lk 2,33 – 40: SpKA II/2, 216, 25 – 219, 13. Insbesondere der Verweis darauf, dass „es mit einem solchen beständigen Gottesdienste in dem Leben eines Christen darauf an[kömt], daß in dem Grunde des Herzens ein für allemal die Empfindung von Gott und von dem, was wir ihm schuldig sind, herschend“ sein sollte und dass diese Empfindung dann nicht nur zur „erste[n] große[n] Triebfeder […] unserer Gesinnungen und unsers Verhaltens werde[n]“ sollte, sondern dass „diese[…] Gedanken […] wirklich unser Thun und Lassen leite[n]“ sollten, in Verbindung mit deutlichen Vorbehalten dagegen, „in einem scheinheiligen Müßiggange […] seine Zeit mit beständigen eigentlichen Andachtsübungen zuzubringen“ (SpKA II/2, 217, 21– 218, 4), erinnert in gewisser Weise an oder besser: weist in gewisser Weise voraus auf Schleiermachersche Formulierungen in den Reden über die Religion: „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion.“ (Vgl. Schleiermacher: Über die Religion, 219, 21– 24). Zu beachten ist bei diesen Anklängen allerdings, dass Spalding in seinen Überlegungen ganz deutlich die Zusammengehörigkeit von Religion und Sittlichkeit im Blick hat, was sich z. B. aus der Zusammenstellung „unserer Gesinnungen und unsers Verhaltens“ erkennen lässt, während Schleiermacher in seiner zweiten Rede über die Religion die Religion natürlich gerade, wie von der Metaphysik, so auch von der Moral unterscheidet. „Alle[m] eigentliche[n] Handeln“ sollte hier also die Moral als Charakteristikum bzw. als Beweggrund zukommen, die Religion aber sollte ganz umfassend „alles Thun des Menschen begleiten“, keines aber gezielt verursachen (vgl. Schleiermacher: Über die Religion, 219, 21– 24 [Hervorh. D.G.]). Zu beobachten ist hier, dass Schleiermacher damit ganz offensichtlich schon einen spezifisch auf die Moral hin konzipierten Handlungsbegriff im Blick hat, der sich vom Tun oder sonstigen Tätigkeiten oder Gewohnheiten der Menschen unterscheidet. Exemplarisch für die strikte Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral sei ergänzend auf folgende Passage der Schleiermacherschen zweiten Rede über die Religion hingewiesen: „Darum ist es Zeit die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen, und mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet. […] Sie entsagt hiermit, um den Besiz ihres Eigenthums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen angehört, und giebt alles zurük, was man ihr aufgedrungen hat. […] Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ (Vgl. Schleiermacher: Über die Religion, 211, 22– 33). Der Unterschied dieser Religionskonzeption zum Spaldingschen Verständnis des Glaubens wird an einer Passage aus Spaldings „Nutzbarkeit des Predigtamtes“ überdeutlich. Dort heißt es: Ich denke nicht, daß man mir, statt eines dritten, welches von bloß theoretischen Erkenntnissen und moralischen Regungen ganz unterschieden wäre, den Glauben einwerfen werde. Wenn der Glaube in dem wahren biblischen

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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An dieser Stelle ist nun aber zugleich auf den für Spaldings Religionstheologie so charakteristischen Gesichtspunkt der menschlichen Abhängigkeit von Gott hinzuweisen.⁹¹⁹ Denn z. B. im Rekurs auf Paulus kann Spalding den beständigen Gottes-

Sinne für die ganze herzliche Annehmung der Lehre Jesu Christi genommen wird, so ist es[…] Erkenntniß und Gesinnung zugleich, oder lebendig wirkende Erkenntniß; und wenn man Zuversicht und Vertrauen darunter versteht, […] so ist es[…] eine moralische Regung des Willens aus vorausgesetzter fruchtbarer Erkenntniß.“ (Vgl. SpKA I/3, 138, 27– 139, 6 [Hervorh. i. Orig.]). Die Schleiermachersche Religionskonzeption der Reden, die die Religion bewusst als ein Drittes neben Metaphysik und Moral stellt, erschiene, die Abhängigkeit vom Spaldingschen Religionsbzw. Glaubensverständnis vorausgesetzt, jedenfalls geradezu als im Gegensatz zu Spalding entwickelt. Hinsichtlich der auf der Zusammengehörigkeit von bzw. auf der Unterscheidung zwischen Moralität und Religion beruhenden Differenz zwischen der Religionskonzeption Spaldings und derjenigen der Schleiermacherschen Reden wäre schließlich zudem auf das diese Differenz ebenfalls benennende Ergebnis des Beutelschen Vergleiches der beiden Religionsschriften Spaldings („Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797) und Schleiermachers („Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799) zu verweisen (vgl. Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher [1799] und Spalding [1797], in: ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, S. 281).  Hier ist der Anklang an die spätere Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit als „dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind“, in Schleiermachers Glaubenslehre natürlich mit Händen zu greifen (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage [1830/31], Teilband 1 u. Teilband 2, hg.v. Rolf Schäfer [KGA I/13,1 u. KGA I/13,2], Berlin/New York 2003 [KGA I/13,1] u. [KGA I/13,2], hier KGA I/13,1, § 4, 32, 10 – 15). Eine Beeinflussung dieser späteren dogmatischen Konzeption Schleiermachers durch Spalding bzw. eine gewisse Abhängigkeit Schleiermachers von Spaldings Religionstheologie ist an dieser Stelle also nicht auszuschließen. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang nun allerdings auch auf den Sachverhalt, dass das Dependenzmotiv nicht nur „zum Kernbestand der abendländischen Metaphysik, von Aristoteles[…] bis hin zu Descartes, Leibniz,Voltaire und dem vorkritischen Kant“ gehört (vgl. Albrecht Beutel: Frömmigkeit als ‚die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott‘. Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II.von Preußen, in: ZThK 106 [2009] [Beutel: Frömmigkeit], S. 193), sondern im 18. Jahrhundert, gerade in der gegen den Deismus gerichteten Kontroversliteratur, auch vielfach außerhalb der Spaldingschen Religionstheologie begegnet. So findet sich in Lelands Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften von 1755 beispielsweise im 12. Brief über Thomas Chubbs Werke, dessen Auswirkungen auf Schleiermachers Predigt über das Gebet oben schon dargelegt wurden, die Rede von der „beständige[n] fromme[n] Abhänglichkeit [sic!] von seiner [i. e. Gottes, D.G.] weisen und gnädigen Vorsehung“ (vgl. Leland: Abriß I, S. 400), im 13. Brief, ebenfalls zu Chubbs Werken, die Formulierung der „Abhänglichkeit [sic!] von der Vorsehung“ (Leland: Abriß I, S. 496) oder im Anhang bzw. in der „Betrachtung über einen merkwüdigen Vorfall, der sich mit dem Lord Herbert zugetragen“, die Passage: „Er [i. e. Lord Herbert, D.G.] zeigt in derselben [i. e. die bereits erwähnte autobiographische Schilderung seiner Gebetserhörung, D.G.] eine große Ehrerbietung gegen das höchste Wesen, und eine tiefe Emp-

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II. Predigtanalysen

dienst dieser „allgemeinen Richtung des Gemüths zu Gott“ beispielhaft auch folgendermaßen beschreiben: „[…] thut es alles zu Gottes Ehre; nämlich mit einer solchen Gesinnung, die sich im Grunde beständig auf Gott, auf eure Abhängigkeit von ihm, auf eure Uebereinstimmung mit seinen heiligen Absichten bezieht, und so das ganze Leben unverrückt auf diesen einen Hauptzweck lenket, ihm zu gefallen und in ihm glücklich zu werden.“⁹²⁰

In der hier für den beständigen Gottesdienst des ganzen menschlichen Lebens geforderten Gesinnung sind also die Ausrichtung auf Gott und die Erkenntnis oder

findung seiner Abhänglichkeit [sic!] von ihm als dem Urheber des Lichts und dem Geber aller innern Erleuchtung“ (vgl. Leland: Abriß I, S. 618). Entsprechende Inhalte und Formulierungen begegnen in Bensons „Abhandlungen und Betrachtungen über einige wichtige Warheiten [sic!] der Religion“ von 1763: „‚GOtt ist die erste Ursach von mir und allen Dingen, von dem ich mein Dasein und alle meine Kräfte und Vermögen empfangen, und von dem ich in jedem Augenblicke meines Lebens abhänge‘“ (Benson: Abhandlungen, S. 347 [Hervorh. i. Orig.]), „[d]ie Bitten um Gnade und Barmherzigkeit belehren uns von unserm Unvermögen und Abhänglichkeit [sic!]; sie können uns […] bewegen, […] uns als solche zu betragen, die einem höhern Wesen verbunden und abhängliche [sic!] Geschöpfe sind“ (Benson: Abhandlungen, S. 352 [Hervorh. i. Orig.]) oder auch „[u]nd welche Thorheit kan es sein, wenn wir uns täglich vor GOtt niederwerfen, unsre Abhänglichkeit [sic!] von ihm erkennen […]“ (Benson: Abhandlungen, S. 368 [sic!]). Schleiermacher ist dem Dependenzmotiv also auch außerhalb der Spaldingschen Religionstheologie begegnet, die Beobachtung allerdings bzw. der Hinweis darauf, dass es erst durch Spalding zur „Wesensbestimmung der Religion aus[ge]formt[…]“ wurde, überzeugt (vgl. Beutel: Frömmigkeit, S. 198 und insbesondere S. 196 f.). Das Lexem „Abhänglichkeit“ findet sich nun aber nachgewiesenermaßen bereits vor der von Beutel erwähnten, 1758 erschienenen Hoadlyschen Übersetzung, beispielsweise, wie hier mehrfach belegt, in Schmids Übersetzung des Lelandschen Abrisses der vornehmsten Deistischen Schriften von 1755, aber auch schon in der von Gottsched im Jahre 1744 herausgegebenen Version der Leibnizschen „Theodicee“ (vgl. das Zitat Baylescher Äußerungen zur Freiheit im dritten Teil des „Versuchs von der Güte Gottes, von der Freiheit des Menschen und vom Ursprunge des Bösen“ in Leibnitz: Theodicee, § 298, S. 282). Ein Exemplar dieser Ausgabe der Theodicee befand sich in Schleiermachers Besitz (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 218). Die These also, dass Spalding in dieser Hinsicht inhaltlich oder terminologisch von seiner „Hoadly-Lektüre“ beeinflusst worden wäre, muss ungewiss bleiben (vgl. dazu Beutel: Frömmigkeit, S. 198 f.). Eine Abhängigkeit der Schleiermacherschen Frömmigkeitskonzeption der Glaubenslehre von der Spaldingschen Ausformung des Dependenzmotivs zur Wesensbestimmung der Religion ist damit nun aber, wie gesagt, nicht auszuschließen, deren Bedeutung für die Schleiermachersche Frömmigkeits- bzw. Religionskonzeption dürfte aber u. a. angesichts der oben schon festgestellten Differenzen zwischen dem Religionsverständnis schon der Reden über die Religion und Spaldings durchgängig der Verbundenheit von Sittlichkeit und Religion verhaftet bleibender Religionskonzeption, insgesamt eher gering zu veranschlagen sein.  Vgl. SpKA II/2, 220, 2– 22.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Empfindung der menschlichen Abhängigkeit von Gott⁹²¹ konstitutiv miteinander verbunden. Ein weiterer, ganz entscheidender Punkt, auf den im Zusammenhang mit der zitierten Passage hinzuweisen ist, ist darin zu sehen, dass die Gesinnung, von der hier die Rede ist, auch die „Uebereinstimmung mit seinen [i. e. Gottes, D.G.] heiligen Absichten“ erkennen lassen sollte. Das aber heißt letztlich nichts anderes, als dass die Gesinnung der Ausrichtung auf Gott und auf die damit verbundene Erkenntnis oder Empfindung der Abhängigkeit des Menschen von Gott zugleich auch eine unverkennbar sittliche Dimension aufweisen sollte. Bei dieser Beobachtung handelt es sich um kein Einzelphänomen, denn immer wieder, wenn man der zunächst einmal eigenständig-religiösen Dimension in Spaldings Schriften und Predigten auf den Grund geht, trifft man letzten Endes auch auf die engste Verbundenheit von Religion und Sittlichkeit bzw. Tugend in seinem religionstheologischen Denken.⁹²² „Religion und Rechtschaffenheit“⁹²³ oder auch „Glauben und Rechtschaffenheit“⁹²⁴ gehören für Spalding daher letzten Endes untrennbar zusammen. Die „Gottseligkeit“ beispielsweise besteht für ihn entsprechenderweise aus den beiden Aspekten: „nach dem Christenthum Gott [zu]

 Albrecht Beutel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, „dass Spalding […] zwischen Erkenntnis und Gefühl[…] bzw. Empfindung[…] der gänzlichen Dependenz keineswegs kategorial unterscheidet“, sein „religiöser Gefühlsbegriff“ sei vielmehr „von einem kognitiven Element durchgängig begleitet“ (vgl. Beutel: Frömmigkeit, S. 195 [Hervorh. i. Orig.]).  So wird in der oben zitierten „Predigt über die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hiob 28,28 kurz nach der Passage, in der Spalding dazu mahnt, das Gut der „Fähigkeit unsers Verstandes und unserer Vernunft“ zu gebrauchen, um „dadurch den letzten und grösten Zweck [zu] suchen, wozu es uns gegeben ist, nämlich in Gott glücklich zu werden“ (SpKA II/2, 30, 4– 15), die „wahre und einzige“ Glückseligkeit bestimmt als „in der Rechtschaffenheit und in einem guten Gewissen Gott zum Freunde zu haben“ (SpKA II/2, 31, 7– 19), in Spaldings „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zu Joh 16,23 – 30 ist neben dem Umgang mit Gott u. a. natürlich auch der Vorteil des Gebets im Blick, der darin besteht, dass bei dem betenden Menschen „die Gesinnungen mehr erwecket und unterhalten [werden], die er Gott schuldig ist, und die ihn[…] zum Guten lenken“ (SpKA II/2, 77, 21– 30), etc. Eine untrennbare Zusammengehörigkeit von Religion und Sittlichkeit ergibt sich sodann, wenn man dem Begriff der Religion bei Spalding nachspürt. So bedeutet in der „Predigt über den Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum“ zu Joh 6,15 „aus der Religion Ernst mach[en]“ z. B., „daß ihr die Wichtigkeit der göttlichen Gnade und eines guten Gewissens erkennet“ (SpKA II/2, 243, 25 – 29), in Spaldings „Predigt über die Bereitwilligkeit zu helfen“ zu Mt 8,1– 13 wird die „christliche Gesinnung“ auf „das Gefühl der Religion und der Menschenliebe“ zurückgeführt (SpKA II/2, 251, 8 – 11), in der „Predigt über die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hi 28,28 wird „[d]asjenige, was die Religion zu glauben lehret,“ mit demjenigen identifiziert, „was sich der Fromme sowohl zur Richtschnur seines Verhaltens, als zur Grundfeste seines Trostes macht“ (SpKA II/2, 17, 28 – 18, 3), usw.  Vgl. SpKA II/2, 16, 18.  Vgl. SpKA II/2, 139, 15 – 17.

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fürchte[n]“ und „recht [zu] thu[n]“⁹²⁵ und kann in der Nutzbarkeit des Predigtamtes schließlich im Zusammenhang mit der Darlegung, dass sich laut Spalding – auch nach paulinischem Verständnis – „keine Entgegensetzung zwischen Glauben und Gottseligkeit gedenken“ lasse, sogar als Repräsentantin der „Werke“ fungieren.⁹²⁶ In nuce aber kommt die enge Zusammengehörigkeit von Religion und Sittlichkeit bzw. Tugend bei Spalding in folgender Definition der Religion aus der Nutzbarkeit des Predigtamtes zum Ausdruck: „Die Lehre der Religion ist zugleich Lehre der Tugend. Religion ist Tugend und Freude um Gottes Willen; aber jene [i. e. die Tugend, D.G.] die unumgängliche Bedingung von dieser [i. e. die Freude, D.G.], und also in der Ordnung der Natur, ihr vorgehend. Zu dem eigentlichen Wesen der Religion gehören also: rechtschaffene Gesinnung und rechtschaffenes Verhalten aus der Erkenntniß unserer Abhängigkeit von Gott, seiner Regierung, seines Beyfalls seiner Wohlthaten und seiner Vergeltung.“⁹²⁷

Um einen abschließenden Eindruck davon zu vermitteln, was für ein breites Fundament der Zusammengehörigkeit von Religion und Sittlichkeit bzw. Tugend in Spaldings Werk gelegt ist, wäre hier schließlich noch der Hinweis auf den Schluss von Spaldings weit verbreiteter Frühschrift „Die Bestimmung des Menschen“ hinzuzufügen: „Ich will also mein ganzes Gemüth immer mehr mit der trostvollen alles versüßenden Vorstellung erfüllen, daß ich noch in einem andern Zustande zu leben habe, […] daß ich also einmal, nach einer völligen Befreyung von den Thorheiten so wohl als den Plagen dieses

 Vgl. SpKA II/2, 131, 3 – 6.  Vgl. SpKA I/3, 179, 15 – 180, 27. Albrecht Beutel spricht in diesem Zusammenhang von einer „zweifache[n] Historisierung der kirchlichen Rechtfertigungslehre“ bei Spalding (vgl. Beutel: Gebessert, S. 176), derzufolge es sowohl Paulus als auch den Reformatoren nicht um eine generelle Abgrenzung des Glaubens von Werken, sondern lediglich um die Ablehnung spezifischer zeitbedingter Formen von Werken oder von Werkgerechtigkeit gegangen sei. Paulus habe sich lediglich gegen die „von den jüdischen Christen behauptete Nothwendigkeit“ der „[…]Beybehaltung der[…] mosaischen Anordnungen“ ausgesprochen, die „Kirchenverbesserer des sechszehnten Jahrhunderts“ dann aber in entsprechender Weise lediglich gegen den „verkehrten Wahn […], daß gottesdienstliche Gebräuche, Allmosen[…], Gelübde […]u.d.gl.[…] die Menschen bey Gott wohlgefällig machen“ sollten (vgl. SpKA I/3, 179, 15 – 184, 20).  Vgl. SpKA I/3, 70, 22– 26 [Hervorh. i. Orig.], der Textlaut entspricht der 3. Auflage von 1791, die sich in Schleiermachers Besitz befand (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 827). Die von mir vorgenommene Zuordnung der „Tugend“ bzw. der „Freude“ ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass erst die dritte Auflage neben der Tugend auch die Freude erwähnt sowie den gesamten Nachsatz „aber jene […] ihr vorgehend“ im Zusammenhang mit diesem Zusatz ergänzt. In anderen Auflagen fehlen also sowohl die „Freude“ als auch der von der Priorität der einen gegenüber der anderen handelnde Nachsatz, womit die zunächst einmal auch denkbare Alternative der Aufteilung von „jener“ und „dieser“ auf Religion und Tugend unwahrscheinlich wird.

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Lebens, mich auf ewig mit der Quelle der Vollkommenheiten vereinigen, die ganze […]Wollust richtiger[…] Gesinnungen unvermischt und ungestört genießen, und also das große Ziel desto mehr erreichen werde, dazu[…] ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet […] bin, nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn.“⁹²⁸

Auch die in der Unsterblichkeit wartende ewige Vereinigung „mit der Quelle der Vollkommenheiten“ also bleibt für Spalding zu guter Letzt auf das Ziel der Bestimmung des Menschen zur Rechtschaffenheit und der in dieser erschlossenen Glückseligkeit hin ausgerichtet.⁹²⁹ Stellt man diesen Befund nun aber dem Ergebnis der Untersuchung des Gebetsverständnisses bei Spalding zur Seite, so muss festgehalten werden, dass auch die „eigenständig“-religiöse Dimension, die bei Spalding in verschiedenen Kontexten zum Vorschein kommt, sei es als Umgang mit Gott im Zusammenhang des Gebetsverständnisses oder als Gemeinschaft bzw. Vereinigung mit Gott, wenn es um den Zweck des menschlichen Lebens geht, etc., letzten Endes auf einer religionstheologischen Konzeption beruht, die die Religion ganz grundsätzlich von ihrer Zusammengehörigkeit mit der Sittlichkeit her versteht. Nimmt man das zur Kenntnis, dann relativiert sich aber auch der Gegensatz zwischen Spaldings und Schleiermachers frühester Religionstheologie wieder, der sich durch die unterschiedlichen Gebetskonzeptionen ergeben hatte. Indem Schleiermacher das Gebet von seiner Bestimmung als Mittel zur Besserung her versteht, liegt der Schwerpunkt seines Gebetsverständnisses selbstverständlich auf dem Bereich der Sittlichkeit, der Spielraum für eine mit dem Gebet verbundene eigenständig-religiöse Dimension reduziert sich damit, verschwindet aber, wie zu sehen war, nicht völlig. Für Spalding aber gilt, dass auch die eigenständig-religiöse Dimension seines Gebetsverständnisses letzten Endes auf dem Hintergrund seines grundsätzlich sittlich qualifizierten Religionsverständnisses zu interpretieren ist. Dass Religion und Sittlichkeit bzw. Tugend damit nun einerseits unterscheidbar, letztlich aber

 Vgl. SpKA I/1, 193, 12– 25, der zitierte Text folgt der 7. Auflage von 1763, die sich in Schleiermachers Besitz befand (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 826).  Konsequenterweise fasst Spalding die mit der Rechtschaffenheit bzw. Tugend verbundene Glückseligkeit, wodurch wiederum die für Spalding ebenfalls konstitutive Zusammengehörigkeit wahrer Glückseligkeit mit der Religiosität zum Ausdruck kommt, in seiner „Predigt über den Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum“ zu Joh 6,15 als „Empfindung von einer Glückseligkeit […],welche sich auf Gott, auf das Gewissen und auf die Ewigkeit bezieht“ (vgl. SpKA II/2, 230, 18 – 24), und die Spalding auch als „geistliche[…] Glückseligkeit“ bezeichnen kann (vgl. SpKA II/2, 233, 6 – 12). Dieser wahren oder auch ewigen Glückseligkeit stehen bei Spalding dann die lediglich am Sinnlichen orientierten irdischen oder „zeitlichen Glückseligkeiten“ gegenüber (vgl. beispielsweise Spaldings „Predigt über den Nutzen der Todesgedanken“ zu Ps 90,12, SpKA II/ 2, 174, 7– 32).

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II. Predigtanalysen

untrennbar zusammengehören, steht also weder für Schleiermachers erste Predigten noch für Spaldings Religionstheologie grundsätzlich in Frage.⁹³⁰ Dass man andererseits aufgrund dieses Ergebnisses nun aber auch gerade Spalding legitimerweise nicht den Vorwurf „eine[r] funktionale[n] Reduktion der Religion auf Moral“ machen kann, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein.⁹³¹ Die vorhandene Nähe zwischen der Religionstheologie Spaldings und derjenigen der ersten Predigten Schleiermachers, wie sie aufgrund der bei beiden festzustellenden, grundsätzlichen Zusammengehörigkeit von Religion bzw. Religiosität und Sittlichkeit, der „Art“ dieser Zusammengehörigkeit,⁹³² oder auch

 Für Schleiermachers erste Predigten wäre dazu auch auf die unten folgenden Beispiele für die in den menschlichen Gesinnungen zu findende exemplarische Verbundenheit von Religion und Sittlichkeit bzw. Tugend zu verweisen.  Vgl. zur ausführlicheren Widerlegung dieses Vorwurfes Albrecht Beutels Einleitung zu SpKA I/4, S. XXXI – XXXIII. In diesem Zusammenhang dürfte u. a. auch bei Christoph Meier-Dörken eine etwas zu einseitige Interpretation Spaldings vorliegen, insofern Meier-Dörken es unternimmt, Spalding als „Typus des aufgeklärten Predigers“ aufzuzeigen, den eine „charakteristische[…] Einschränkung der Thematisierung von Religion unter d[ie], aus der empirisch-psychologischen Analyse gewonnenen, anthropologischen Leitbegriffe[…] Tugend und Glückseligkeit“ auszeichne (Meier-Dörken: Theologie, S. 29) bzw. für dessen „funktionellen Religionsbegriff“ die „Rechtschaffenheit […] als notwendige und hinreichende Ursache der Glückseligkeit“ charakteristisch sei (Meier-Dörken: Theologie, S. 34 [Hervorh. i. Orig.]). Die bei Spalding ebenfalls zu findende, zunächst einmal eigenständige Dimension der Freude an dem freundschaftlichen Gott selbst, an dem Umgang mit Gott bzw. an der Gemeinschaft mit Gott, wie sie beispielsweise in der „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zum Ausdruck kommt (vgl. SpKA II/2, 80, 29 – 81, 26), wird dadurch als Quelle der Glückseligkeit, als die aber auch sie zu gelten hat, ausgeblendet.  Vgl. Herms: Herkunft, S. 112 f. Die Übereinstimmung „in der Art der Zusammenschau von Religiosität und Sittlichkeit“ bei Spalding und Schleiermacher beruht laut Herms letztendlich darauf, dass beide die vorgängig gegebene Natur bzw. das vorgängig erkennbare Wesen des Menschen zum Ausgangs- und Zielpunkt der religiös-sittlichen Bestimmung des menschlichen Lebens nehmen (vgl. Herms: Herkunft, S. 113). Dass Spalding in diesem Kontext stärker von der Ontologie her argumentiert, wurde bereits im Zusammenhang mit der Untersuchung der Schleiermacherschen Examenspredigt dargelegt (vgl. Abschnitt II.1.1.7.4). Die Schleiermachersche Vorgehensweise charakterisiert Herms dahingehend, dass Schleiermacher „in dem durch Beobachtung und Theorie erkennbaren Wesen[…] des Menschen zugleich dessen Bestimmung [sah]“ (vgl. Herms: Herkunft, S. 113). Diesem Aspekt der Übereinstimmung ist nun m. E. eine weitere, für die Art der Zusammenschau von Religiosität und Sittlichkeit konstitutive Gemeinsamkeit zwischen Spalding und Schleiermacher hinzuzufügen, denn bei beiden ist neben dieser bei Herms genannten grundsätzlich anthropologischen Übereinstimmung zudem die Orientierung der sittlich-religiösen Bestimmung des menschlichen Lebens am Streben nach der am göttlichen Vorbild ausgerichteten Vollkommenheit zu beobachten. Bei Spalding kommt in dieser Hinsicht Gott als „Ursprung und Innbegriff[…] aller Vollkommenheit“ in den Blick (vgl. Spaldings „Predigt über die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hi 28,28, SpKA II/2, 30, 14– 21), bei Schleiermacher wäre diesbe-

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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angesichts der bei beiden zu beobachtenden Unterstützungsfunktion der Religion⁹³³ zutage getreten ist, muss nun aber in der nötigen Differenziertheit wahrgenommen werden, denn diese Gemeinsamkeiten finden sich nicht nur bei Spalding und Schleiermacher, sondern wie zu beobachten war, in vergleichbarer Weise bzw. weitestgehend auch in der Tradition der Halleschen Schulphilosophie sowie in der antideistischen Kontroversliteratur.⁹³⁴

züglich auf das einerseits durch die „Gebote[…] unsrer eignen […] Vernunft“, andererseits durch das „ganze Beispiel Jesu“ und den „hohen Geist, den alle seine Vorschriften athmen“, geprägte „Bild aller Vollkommenheiten“ hinzuweisen (vgl. Schleiermachers Examenspredigt „Wie derjenige beschaffen sein müsse, bei dem wahre Sinnesänderung und Besserung möglich sein soll“ zu Lk 5,29 – 32, Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 42).  Für Spalding wäre in diesem Zusammenhang an die „Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets“ zu Joh 16,23 – 30 zu erinnern (vgl. SpKA II/2, 77, 21– 78, 3 und 85, 29 – 86, 4), zu vergleichen wäre aber auch z. B. SpKA II/2, 18, 30 – 19, 7; SpKA II/2, 66, 5 – 12; SpKA II/2, 99, 4– 27; etc. Für Schleiermacher wäre im Grunde auf die gesamte Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3 hinzuweisen (insbesondere Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 12, 11– 13, 11); zu vergleichen wäre aber u. a. auch Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 14– 38; Predigt Nr. 16, KGA III/3, 164, 17– 165, 12 oder auch die Ausführungen zur Vollkommenheitskonzeption der Schleiermacherschen Examenspredigt (vgl. Abschnitt II.1.1.7.1 bzw. beispielsweise Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 34– 39); etc.  Für Eberhard ist in diesem Zusammenhang auf SdV, § 131, S. 146 zu verweisen, wo ausgeführt wird, dass „wir zur Religion verbunden“ sind, weil „die Religion die Bewegungsgründe zu unsern Pflichten [vermehrt]“ bzw. „[d]a es uns die Religion erleichtern soll, daß wir unserer natürlichen Verbindlichkeit gemäß handeln“. Für Christian Wolff wäre, insbesondere in Hinblick auf Spalding auch die frühere Hallesche Tradition in den Blick nehmend, beispielsweise hinzuweisen auf die von Wolff 1733 verfasste Schrift „Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit“ [Wolff: Deutsche Ethik]. Hier legt Wolff dar, dass „die natürliche Verbindlichkeit zugleich eine göttliche Verbindlichkeit, und das Gesetze der Natur zugleich ein göttliches Gesetze“ sei (Wolff: Deutsche Ethik, § 29, S. 21), es darüber hinaus aber auch noch Lohn und Strafe bzw. „Glücks-Fälle“ und „Unglücks-Fälle“ als von Gott veranlasste „gantz besondere göttliche Verbindlichkeit“ oder Bewegungsgründe gebe, „wodurch das Gesetze der Natur zu Gottes Gesetze wird“ (Wolff: Deutsche Ethik, § 30, S. 21 f.). Die aus der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten entspringende Unterstützungsfunktion der Religion zum Guten kommt im ersten Kapitel des III. Teils „Von den Pflichten des Menschen gegen GOTT“ zum Ausdruck: „Da nun die göttlichen Vollkommenheiten in allen Handlungen der Menschen Bewegungs-Gründe abgeben können […]; so stärcken sie die Bewegungs-Gründe zum Guten und wieder das Böse […] und helffen mit zur Herrschaft über Sinnen, Einbildungs-Krafft und Affecten […], folgends erleichtern sie die Ausübung der Tugend und Unterlassung der Laster“ (vgl.Wolff: Deutsche Ethik, § 656, S. 454, die Überschrift des III. Teils findet sich auf S. 451). Für die antideistische Kontroversliteratur kann hier auf den gesamten vorigen Abschnitt über „Spaldings und Schleiermachers Gebetskonzeption im Kontext deistischen Gedankengutes“ hingewiesen werden. Zu ergänzen ist, dass sich der Gedanke der Unterstützungsfunktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation in spezifischer Weise auch bei Kant findet, insofern dem reinen praktischen Vernunft-

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II. Predigtanalysen

Zu verweisen ist deshalb darauf, dass es in praktisch-philosophischer bzw. sittlich-religiöser Hinsicht durchaus Aspekte gibt, anhand derer noch deutlich größere Übereinstimmungen zwischen Spaldings und Schleiermachers sittlichreligiösen Konzeptionen auszumachen sind. Zu denken wäre hier z. B. an die sich in praktisch-philosophischer Hinsicht im Grunde bei beiden entsprechende Bedeutung der „Gesinnung“ bzw. „Gesinnungen“. Denn bei beiden, in Schleiermachers ersten Predigten und in Spaldings Religionstheologie, kommt der Gesinnung bzw. den Gesinnungen eine wesentliche Rolle bei der Handlungsmotivation zu, im Gegensatz beispielsweise zur Halleschen Tradition.⁹³⁵ Insbesondere ist dabei bei beiden die Übereinstimmung zu beobachten, dass die Gesinnung, aus der heraus eine Handlung geschieht, letztendlich über die Güte bzw. Sündlichoder Unsündlichkeit dieser Handlung entscheidet.⁹³⁶ Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang nun aber wiederum daran, dass sich exakt dieser funk-

glauben die Bestimmung eines „Beförderungsmittel[s] dessen, was objektiv (praktisch) notwendig ist,“ zukommt (vgl. KpV, S. 196 [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 263]).  Für Eberhard ist an dieser Stelle auf den Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Arbeit zu verweisen, für Wolff wäre auf den Sachverhalt hinzuweisen, dass bei ihm „die freyen Handlungen der Menschen durch ihren Erfolg, das ist, dasjenige, was dadurch veränderliches in dem inneren und äusseren Zustande der Menschen erfolget, gut oder böse werden“, im Blick ist dabei natürlich die zunehmende Vollkommenheit bzw. im Falle der bösen Handlungen die zunehmende Unvollkommenheit der inneren oder äußeren Zustände der Menschen (vgl. Wolff: Deutsche Ethik, § 5, S. 6 und § 3, S. 6). Die „[z]u einem ordentlichen Wandel“ erforderlichen „Absichten“ der einzelnen Handlungen werden dabei bei Wolff zu Mitteln zum Zweck der „letze[n] [sic!] Absicht aller freyen Handlungen“, der dann wieder in nichts anderem als „unsere[m] und unseres Zustandes Vollkommenheit“ zu finden ist (vgl.Wolff: Deutsche Ethik, §§ 139 f., S. 78 f. und § 151, S. 84 f.). Über die Sittlichkeit oder Güte der freien menschlichen Handlungen entscheidet damit letzten Endes nicht die diesen Handlungen vorausgehende Absicht oder Gesinnung der Menschen, sondern, ob diese Handlungen und die ihnen entsprechenden Absichten zu der vorgängig feststehenden Vollkommenheit der Menschen und ihres Zustandes passen und insofern dann auch zu dieser hinführen.  Für Schleiermacher sei dazu noch einmal auf den Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Arbeit verwiesen, in Spaldings Predigten findet sich diese Beobachtung u. a. in SpKA II/2, 112, 21– 113, 1, wo davon die Rede ist, dass das Verhalten oder die Tätigkeiten eines Menschen „nur dadurch sündlich oder unsündlich werden, nachdem das Herz dabey eitel oder gewissenhaft gesinnet ist“, und kurz darauf die „innere Lauterkeit seiner Gesinnungen“ erwähnt wird, die darüber entscheidet, ob jemand zur „Zahl der Weltmenschen, der Unbekehrten und Gottlosen gehöre“, oder nicht; in SpKA II/2, 119, 24– 120, 2 ist von „so manchen bloß äusserlichen Dingen“ die Rede, die „im Grunde nur durch die Beschaffenheit des Herzens, womit man es thut, gut oder böse“ werden; in SpKA II/2, 134, 30 – 135, 3 wird formuliert, dass „der eigentliche höchste Werth des Menschen in der Reinigkeit und Ordnung seiner Gesinnungen, woraus an sich ein gutes Verhalten fliesset, bestehen soll“; etc.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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tionelle Aspekt der Gesinnung bzw. Gesinnungen andeutungsweise auch schon in der antideistischen Kontroversliteratur,⁹³⁷ insbesondere aber bei Kant findet, insofern er der bloßen „Legalität der Handlungen“ die „Moralität der Gesinnungen“ entgegensetzen kann, die sich nur ergibt, wenn als „Bestimmungsgründe des Willens“ bzw. als „Triebfedern der Handlungen“ nichts anderes als „die unmittelbare Vorstellung des Gesetzes und die objektiv-notwendige Befolgung desselben als Pflicht“ zugrunde liegen. Auch hier entscheidet die die Handlung motivierende Gesinnung also über die sittliche Güte bzw. über Legalität oder Moralität einer Handlung.⁹³⁸ Da sich Schleiermacher nun aber, wie bereits im Kontext der Untersuchung seiner Examenspredigt festgestellt, bereits im Jahr 1789 nachweislich intensiv mit Kants Schriften, insbesondere auch mit der Kritik der praktischen Vernunft beschäftigt hatte und die Ausführungen in Schleiermachers Examenspredigt über von „wahre[r] Tugend“ und von „wahre[r] Religion“ zu unterscheidende, lediglich „den Anschein der Tugend“ erweckende Handlungen diese Kantische Unterscheidung von Legalität und Moralität einer Handlung, zwar in anverwandelnder Weise, aber letztlich doch recht deutlich abbilden,⁹³⁹ muss

 Vgl. Lelands 15. Brief über die „Summarische Vorstellung der Beweise des Christentums“, in dem das Christentum „nach einer würklichen Reinigkeit des Herzens, nach der Einfalt und Aufrichtigkeit zu streben [lehret], ohne welche kein äusserlicher Schein den Augen GOttes angenehm seyn kann.“ (Leland: Abriß I, S. 577 f.).  Vgl. u. a. KpV, S. 201 [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 269 f.).  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 8 – 7, 2. Ganz deutlich erkennbar ist die anverwandelnde Adaption der Unterscheidung zwischen Handlungen, die aus Legalität und solchen, die aus Moralität geschehen, und damit die diesbezügliche Anlehnung an Kant auch in Schleiermachers Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3. Dort wird die bei Christus festzustellende vorbildliche „Tugend“, die eben „nicht aus Heuchelei, nicht aus Temperament sondern aus unerschütterlich festen Grundsäzen“ hervorgeht (vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 16, 14– 16), dem negativen Beispiel entgegen gesetzt, dass „jemand nur darum tugendhaft scheint, weil die Handlungen, die bei ihm aus andern Bewegungsgründen geschehn[,] zufälliger Weise mit den Gesezen der Rechtschaffenheit übereinkommen“ (vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/ 3, 15, 31– 34). Festzuhalten bleibt dabei nun aber auch, dass die „Geseze[…] der Rechtschaffenheit“, auf die Schleiermacher hier rekurriert, man beachte z. B. die pluralische Formulierung, ganz offensichtlich nicht einfach mit dem Kantischen moralischen Gesetz zu identifizieren sind (vgl. u. a. Kant: Religion, S. 23 [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 13]: „[…] weil das moralische Gesetz der Befolgung der Pflicht überhaupt nur ein einziges und allgemein ist“). Hermann Bleek ist insofern, was die Feststellung des gewichtigen Einflusses Kants in den ersten Predigten Schleiermachers betrifft, zwar zunächst einmal zuzustimmen. Mit „dem überall spürbaren starken Eindruck von der Erhabenheit des Sittengesetzes“ überzeichnet er diesen Einfluss dann allerdings (vgl. Hermann Bleek: Die Grundlagen der Christologie Schleiermachers. Die Entwicklung der Anschauungsweise Schleiermachers bis zur Glaubenslehre mit besonderer Rücksicht auf seine

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II. Predigtanalysen

m. E., wie bereits erwähnt, davon ausgegangen werden, dass hier zunächst einmal nicht allein eine Einwirkung Spaldings, sondern ein gewichtiger Einfluss Kants auf Schleiermacher zugrunde liegt.⁹⁴⁰ In der materialen Bestimmung der metaethischen Fragestellung allerdings, was denn die Güte der Gesinnung bzw. Gesinnungen ausmache, lässt sich eine deutlich größere Nähe Schleiermachers zu Spalding feststellen. Denn die Orientierung allein am moralischen bzw. sittlichen Gesetz in uns und dessen pflichtgemäßer Befolgung sucht man in Schleiermachers ersten Predigten vergeblich.⁹⁴¹

Christologie dargestellt, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1898 [Bleek: Christologie], S. 54 f.). Festzuhalten ist in diesem Kontext vielmehr, dass die Gesetze der Rechtschaffenheit in Schleiermachers ersten Predigten durchgehend nicht nur an den Vorgaben der moralischen Vernunft, sondern immer auch am Willen oder den Geboten Gottes orientiert bleiben. Moralische Vernunft und Wille bzw. Gebote Gottes sollten nun aber bei Schleiermacher nicht einfach miteinander identifiziert werden, was z. B. schon an der Nebeneinanderstellung einerseits „d[e]s ganze[n] Beispiel[s] Jesu“ und des „hohen Geist[es], den alle seine Vorschriften athmen“, sowie andererseits der „Gebote[…] unsrer eignen aufs neue belebten und erwekten Vernunft“ in Schleiermachers Examenspredigt zu erkennen war (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 42), verwiesen werden könnte in dieser Hinsicht m. E. u. a. aber auch auf Schleiermachers Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ zu Ps 90,10, in der explizit von einer doppelt ausgerichteten Bestimmung der sittlich-religiösen Gesetze als der „Geseze[…] der Religion und Tugend“ die Rede ist (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 4– 13).  Zu verweisen wäre zu diesen Beobachtungen zu der Bedeutung der Gesinnung bzw. Gesinnungen für die Handlungsmotivation noch einmal auf den Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Arbeit.  So findet sich in Schleiermachers Examenspredigt beispielsweise der explizite Hinweis auf die im Diesseits bleibende Unvollkommenheit der Gesetze, die den menschlichen Handlungen zugrunde liegen: „und diese Aenderung wird ja hier niemals vollkommen; immer bleibt ja nicht nur in unsern einzelnen Handlungen, sondern auch in den Gesezen, welche wir dabei befolgen, unrichtiges und unvollkomnes genug übrig“ (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 9, 23 – 26). Der Unterschied zum im Singular formulierten moralischen Gesetz oder auch kategorischen Imperativ Kantischer Provenienz liegt auf der Hand. Ebensowenig aber kann das in der Predigt „Von der rechten Art über die Unterstüzungen und Hülfsmittel zur Besserung nachzudenken, die Gott einem jeden zu Theil werden läßt“ zu Lk 11,28 erwähnte uns „zu unserm besten gegebene[…] Gesez“ Gottes, das dieser uns laut Schleiermacher „offenbart“ (vgl. Predigt Nr. 18, KGA III/3, 183, 18 – 22), mit dem a priori in der menschlichen Vernunft vorfindlichen moralischen Gesetz Kants identifiziert werden. Ein inhaltlicher Anklang an Letzteres, insbesondere in Form der sogenannten Selbstzweckformel: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (vgl. Kant: Grundlegung, S. 54 f. [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 429]), findet sich allerdings in Schleiermachers Predigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32. Dort wird über denjenigen, „deßen Herz mit Menschenliebe erfüllt ist“, ausgesagt: „es ist nicht nöthig daß jemand mit ihm verbunden sei um alle Pflichten des Menschen und des Christen gegen ihn zu

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Bei ihm sind es vielmehr,wie bei Spalding, die nur im Verbund miteinander bzw. in untrennbarer Zusammengehörigkeit begegnenden Wahrheiten der Religion und der Tugend, die letztlich über die Güte der handlungsmotivierenden Gesinnung bzw. Gesinnungen entscheiden. In der Konsequenz dessen verwundert auch nicht weiter, dass sowohl bei Schleiermacher als auch bei Spalding zu beobachten ist, dass die Gesinnung bzw. die Gesinnungen selbst diese, den beiden ethischen Konzeptionen zugrunde liegende, engste Verbundenheit von Religion und Tugend geradezu exemplarisch repräsentieren. Für Schleiermacher kann in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die Predigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32 vom 25.12.1791 verwiesen werden.⁹⁴² In dieser Predigt werden die vorbildhaften Gesinnungen Christi zunächst einmal definiert als „Gefühl der […] allgemeinsten Menschenliebe“,⁹⁴³ als „die Empfindung des allgemeinsten und unbegränzten Wolwollens gegen die Menschen“⁹⁴⁴ bzw. Titel und Thema der Predigt entsprechend als die „Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“.⁹⁴⁵ Diese Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe differenziert sich nun aber einerseits in das „Verlangen nach der wahren Geistigen Verbeßerung der Menschen“, andererseits in die Wünsche für die allgemeine Glückseligkeit oder das allgemeine „Wolseyn unter den Menschen“ aus, wobei wiederum festzustellen ist, dass jedem dieser beiden Bereiche eine konstitutive Verbundenheit von Religion und Tugend zugrunde liegt. Denn das „Verlangen nach der wahren Geistigen Verbeßerung der Menschen“⁹⁴⁶ unterliegt letztlich keinem anderen Kriterium als der „Bestimmung“ des Menschen, die wiederum darin zu finden ist, „daß doch das Reich der Leidenschaften und der schädlichen Irrthümer unter den Menschen vermindert, daß das Gute ihnen leichter und gewöhnlicher und die Erkenntniß der erha-

erfüllen, er eilt ihm zu dienen weil er ein Mensch ist, und denkt bei jeder Gelegenheit wie gut würde es um die Menschheit stehn wenn ich immer wenn jedermann immer so handelt.“ (Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 49, 15 – 24). Charakteristisch ist allerdings auch hier wiederum die Ergänzung der Pflichten des Menschen durch diejenigen „des Christen“, „das Beste der Menschheit“ bleibt in dieser Predigt eben, im Gegensatz zum Kantischen Modell, auf beides, „Religion und Tugend“ bezogen (vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 47, 28 – 36).  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, S. 38 – 51. Die Datierung entspricht sowohl der Zuordnung Wichmann von Medings (vgl. von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331) als auch derjenigen in KGA III/3 (vgl. KGA III/3, S. 38).  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 21– 24.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 39, 23 – 26.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 40, 20 – 22 (das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben).  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 44, 19 – 45, 15.

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II. Predigtanalysen

benen Wahrheiten die sich auf Religion und Tugend beziehn unter ihnen ausgebreiteter werden möchte.“⁹⁴⁷

Das „Wolseyn unter den Menschen“⁹⁴⁸ aber beruht letztlich auf der konstitutiven Verbundenheit von Religion und Sittlichkeit, insofern die „zufriedne Ruhe d[er] Seele“, die das menschliche Wohlsein oder Glück mit sich bringt, sowohl „die schönen Gefühle des thätigen Danks gegen Gott lebendig erhält“, als auch „das Herz erheitert und mit frohem Muth erfüllt“ und so „zu allem Guten geschmeidig und emsig macht“.⁹⁴⁹ Ganz dieser Zusammengehörigkeit bzw. Zusammenschau von Religion und Tugend entsprechend, sei diesen Beobachtungen abschließend noch hinzugefügt, dass eine maßgebliche Voraussetzung der Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe laut dieser Predigt letztendlich darin gesehen wird, dass die Erkenntnis von bzw. „das Interesse für Tugend und Religion“ bei einem Menschen sowohl „in dem Verstande deutlich“ als auch „in dem Herzen […] lebendig“ ist, da als Maßstab des Handelns, der allgemeinen Menschenliebe entsprechend, letztlich nichts anderes als „das Beste der Menschheit welches sich auf Religion und Tugend bezieht“ zu gelten hat.⁹⁵⁰ Eine ähnliche, konstitutive Verbundenheit von Religion und Tugend, insbesondere im Zusammenhang mit der Gesinnung bzw. den Gesinnungen des Menschen, lässt sich in Schleiermachers ersten Predigten wiederholt feststellen. Zu verweisen wäre noch einmal auf den entsprechenden Abschnitt in Schleiermachers Examenspredigt, der von „wahre[r] Tugend“ und von „wahre[r] Religion“ geprägte „Beweggründe[…]“ des Menschen als Voraussetzung „seiner Beßerung“ verlangt.⁹⁵¹ In der Predigt „Daß Jesu Lehre und Betragen uns jeden Vorwand abschneide, unter dem wir uns seinen Forderungen entziehn könnten“ zu Mt 12,19 f. vom 29.12.1793⁹⁵² werden als „Bewegungsgründe“, die eine Handlung als „gute“ qualifizieren, neben der „Liebe zum Guten“ der „Gehorsam gegen die Gebote Gottes“ und das „[D]urchdrungen“-Sein „von der Kraft der Religion“ genannt,⁹⁵³ womit implizit dann natürlich die für eine sittliche Handlung nötige Gesinnung bzw. Gesinnungen charakterisiert ist bzw. sind. In seiner Ordinationspredigt „Die heilsame Unterweisung, die wir der Sen-

 Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 41, 33 – 42, 6.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 45, 7– 9.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 44, 28 – 35.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 47, 28 – 36.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 6, 8 – 44.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, S. 82– 89. Die Datierung entspricht sowohl der Zuordnung Wichmann von Medings (vgl. von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331) als auch derjenigen in KGA III/3 (vgl. KGA III/3, S. 82).  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 86, 38 – 87, 7.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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dung Jesu verdanken“, zu Tit 2,11– 15 vom 06.04.1794⁹⁵⁴ kann die Religion schließlich sogar den klassischen Zuständigkeitsbereich der Tugend einnehmen und als Quelle sowohl der „besseren Gesinnungen“ als auch der „Fertigkeit im Guten“ fungieren, mithin also eine Funktion übernehmen, die selbst in der späteren Philosophischen Ethik Schleiermachers eindeutig der Tugend zukommt. Denn in dieser Predigt ist explizit von „[a]lle[r] Fertigkeit im Guten alle[r] Herrschaft der Bewegungsgründe, welche uns die Religion an die Hand giebt,“⁹⁵⁵ oder auch von den „besseren Gesinnungen und Fertigkeiten, welche Früchte der Religion sind,“ zu lesen bzw. zu hören.⁹⁵⁶ Bei Spalding lässt sich die konstitutive Verbundenheit der beiden Aspekte der Tugend bzw. Sittlichkeit und der Religion in der Gesinnung bzw. in den Gesinnungen bereits an Formulierungen wie der „guten und gottesfürchtigen Gesinnung“, die bei ihm im Grunde zum Hendiadyoin wird,⁹⁵⁷ oder auch an der doppelten Ausrichtung der Gesinnung der Rechtschaffenheit als „wahre[r] Rechtschaffenheit im Gemüth und im Verhalten“⁹⁵⁸ bzw. als „Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens“⁹⁵⁹ erkennen. „Verhalten“ und „Leben“ stehen in solchen Verbindungen für die Seite der Sittlichkeit bzw. Tugend; „Gemüt“ oder „Herz“ repräsentieren den entsprechenden Part der Religion. Ein im Grunde automatisches Übergehen der religiösen Gesinnungen in solche der Sittlichkeit oder Tugend ist beispielsweise in der „Predigt über die Vergnügungen eines gottesfürchtigen Menschen“ zu Lk 1,39 – 56 festgehalten, denn dort ist exemplarisch zu sehen, wie die zunächst einmal religiösen Gesinnungen bzw. die „lautern und aufrichtigen Gesinnungen der Gottesfurcht“ im Grunde von selbst auch zu „lauter […] Gesinnungen und Werken der Tugend“ werden, die religiösen Gesinnungen also ohne sittliche Transformation und Applikation schlicht nicht denkbar wären.⁹⁶⁰ Andererseits kommt die religiöse Ausrichtung auch der zunächst einmal

 Vgl. Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, S. 90 – 97. Die Datierung entspricht sowohl der Zuordnung Wichmann von Medings (vgl. von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331) als auch derjenigen in KGA III/3 (vgl. KGA III/3, S. 90).  Vgl. Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 95, 15 – 18.  Vgl. Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 95, 34– 36.  Vgl. SpKA II/2, 25, 19 – 22.  Vgl. SpKA II/2, 22, 28 f. oder auch Duktus und Titel der Predigt „Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens ist auf Seiten des Menschen die Hauptsache in der Religion“ zu Mt 7,21 (SpKA II/2, S. 259 – 281), hier insbesondere SpKA II/2, 264, 25 – 30: „Nichts ist sonst wahre Rechtschaffenheit, als was aus der wirklichen herschenden[…] Gesinnung der Seele kömmt; innerliche Neigung und Lust zum Guten, Liebe zu Gott und dem[…] Nächsten, und die daraus fließende aufrichtige Geschäftigkeit, nach dem Gewissen recht zu thun.“  Vgl. SpKA II/2, 166, 18 – 24.  Vgl. SpKA II/2, 132, 7– 133, 31.

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II. Predigtanalysen

sittlichen oder tugendhaften Gesinnungen zum Ausdruck, wenn beispielsweise von „dem großen und wesentlichen Zweck […], gut gesinnt und in aller Absicht gegen Gott rechtschaffen zu werden“,⁹⁶¹ die Rede ist oder auch, wenn „die wahre und einzige“ Glückseligkeit definiert wird als „in der Rechtschaffenheit und in einem guten Gewissen Gott zum Freunde zu haben“.⁹⁶² Dass der Religion bei Spalding zudem auch eine wesentliche Rolle bei der Begründung der sittlichen Gesinnungen zukommt, ergibt sich aus Passagen wie der folgenden: „Wie viel muß es also nicht dem Frommen werth seyn, mit dem Apostel den Trost und den Ruhm eines unverletzten Gewissens zu haben, mit Zufriedenheit seine eigenen Gesinnungen anzusehen, und voll demüthigen Danks den Gott zu preisen, der ein reines Herz […]in ihm[…] geschafft[…] und ihn auf den Weg der Wahrheit geleitet hat.“⁹⁶³

Die nicht unbeträchtliche Übereinstimmung von Schleiermachers ersten Predigten mit der Spaldingschen Religionstheologie hinsichtlich der handlungsmotivierenden und -qualifizierenden Bedeutung der, an den untrennbar zusammengehörenden Wahrheiten von Religion und Tugend orientierten, Gesinnung bzw. Gesinnungen dürfte damit nachgewiesen sein. In praktisch-philosophischer Hinsicht hat sich dabei für beide einerseits ein entscheidender Unterschied zur Tradition der Halleschen Schulphilosophie ergeben, man denke an die Funktion der Gesinnung bzw. Gesinnungen, die ganz offensichtliche Berührungen mit der Kantischen Praktischen Philosophie aufweist. Andererseits ist in dieser Hinsicht daneben aber auch noch eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung beider, sowohl der ersten Predigten Schleiermachers als auch der den Spaldingschen Predigten zu entnehmenden Religionstheologie, mit der Halleschen Tradition erkennbar. Denn bei beiden, Schleiermacher und Spalding, beruhen Sittlichkeit und Tugend in entscheidender Weise auf dem aus Halle bekannten Streben nach sittlicher Vollkommenheit. Für Schleiermacher sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Ausführungen zu seiner Examenspredigt hingewiesen,⁹⁶⁴ für Spalding sei exemplarisch zunächst einmal eine Passage aus der „Predigt über die Weisheit der Gottesfurcht“ zu Hi 28,28 zitiert, die ihren Ausgangspunkt bei der Formulierung des kosmologischen Gottesbeweises nimmt: „Wie kann wohl etwas mehr Wahrheit, mehr gegründete und sichere Ueberzeugung für sich haben, als daß eine zufällige und veränderliche Welt von einem ewigen allmächtigen Urheber herrühren müsse; daß die augenscheinliche Ordnung, Verbindung, Schönheit und

   

Vgl. SpKA II/2, 199, 12– 15. Vgl. SpKA II/2, 31, 16 – 19. Vgl. SpKA II/2, 21, 29 – 22, 3 [Hervorh. i. Orig.]. Vgl. insbesondere Abschnitt II.1.1.7.1 der vorliegenden Arbeit.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

217

Nutzbarkeit der Geschöpfe das Werk einer höchsten Weisheit und einer wohlthätigen Güte sey; daß die Absicht des Schöpfers der Welt auch auf das allgemeine Beste dieser seiner Welt gehe; daß deswegen von uns vernünftigen Wesen, durch richtige gute Gesinnungen des Herzens und durch wahre Tugend, die Vollkommenheit des Ganzen sowohl, als unsere eigene, gesucht werden soll; und daß folglich nicht allein unsere Pflicht, sondern auch unsere Beruhigung darin bestehe, uns […]beide[…] seinen Vorschriften und seinen Schickungen, mit einer gänzlichen Ergebung an ihn, zu unterwerfen?“⁹⁶⁵

Dass dieses Vollkommenheitsstreben auch bei Spalding als noch im Jenseits fortdauernd vorgestellt wird, ist einem Abschnitt aus der „Predigt über den Nutzen der Todesgedanken“ zu Ps 90,12⁹⁶⁶ zu entnehmen: „Wenn auch hie so manchmal der aufrichtige Christ die ihm vorkommenden Reizungen der Sünde und die Schwäche seiner Tugend mit Betrübnis fühlet, so kann er mit getrostem Muthe seine Hoffnung auf den Tag richten, der ihn gänzlich erlöset von dem Leibe dieses Todes, der ihm, nach dem vollführten guten Kampf, die Früchte des Sieges darbietet, und ihn eines ungehinderten[…] freudigen Fortganges zur Vollkommenheit fähig macht.“⁹⁶⁷

Die Übereinstimmungen hinsichtlich der praktisch-philosophischen Ursprünge oder Bezugsgrößen der beiden ethischen Konzeptionen der Schleiermacherschen ersten Predigten und der Religionstheologie Spaldings liegen damit auf der Hand. Neben dem Einfluss der Halleschen Schulphilosophie war dabei insbesondere eine, anhand der Funktion der Gesinnung bzw. der Gesinnungen für das Gefüge der Handlungsmotivation auszumachende, subjektivitätstheoretische Akzentuierung,⁹⁶⁸ zugleich mit dieser nun aber auch eine Berührung mit der Kantischen

 Vgl. SpKA II/2, 18, 9 – 24.  Vgl. SpKA II/2, S. 171– 190.  Vgl. SpKA II/2, 181, 27– 182, 4, der Textlaut folgt wieder der 3. Auflage von 1791.  Insbesondere bei Schleiermachers Gebetspredigt ist zudem aufgrund der durchgängig reflektierten innerpsychischen Vorgänge eine zunehmende Individualisierung bzw. Entwicklung der religiösen Subjektivität zu beobachten (vgl. dazu Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Mit 5 Tafeln, aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht hg.v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1985 [Sparn: Vernünftiges Christentum], S. 38). Eine maßgebliche Orientierung der menschlichen Pflichten an den individuellen Verhältnissen oder Fähigkeiten der Menschen findet sich in der Predigt „Worin die Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntnisse bestehn“ (vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 169, 27– 29; 170, 18 – 22 und 174, 29 – 31). Schon in Richtung einer Ethik der Individualität, wie sie in den späteren Monologen begegnet, weist dabei eine Formulierung gegen Ende der Predigt, in der die „wahre Bestimmung des Menschen“ mit dem „höhere[n] Glük mit sich selbst übereinzustimmen“ in Verbindung gebracht wird: „Wer die wahre Bestimmung des Menschen hinlänglich kennt, das höhere Glük mit sich selbst übereinzustimmen jeder noch so angenehmen Täuschung des Gefühls vorzuziehn […]“ (Predigt Nr. 17, KGA III/3, 176, 17– 19).

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II. Predigtanalysen

Praktischen Philosophie festzustellen;⁹⁶⁹ bei beiden, Spalding und Schleiermacher, jedoch ohne nun beispielsweise der Kantischen Metaphysik, bzw. dem Verweisen der Frage nach der Existenz Gottes allein in den Bereich der praktischen Vernunft, zu folgen. Mit diesem Gesichtspunkt ist schon zur Frage nach den neben den praktischphilosophischen Ursprüngen oder Bezugsgrößen der Wahrheiten von Religion und Tugend interessierenden, das jeweilige Religionsverständnis prägenden inhaltlichen bzw. materialen Grundlagen Schleiermachers und Spaldings übergeleitet. An dieser Stelle ergeben sich für Schleiermacher und Spalding neben den wieder vorhandenen wesentlichen Übereinstimmungen auch offensichtliche Unterschiede. Diese Beobachtung kann am Beispiel der Christologie, die den Predigten der beiden jeweils zu entnehmen ist, in exemplarischer Weise deutlich werden. Denn während die christologischen Inhalte bei Schleiermacher nahezu auf die Aspekte der Vorbildhaftigkeit Jesu,⁹⁷⁰ der Wohltaten seiner Lehre oder seines Unterrichts⁹⁷¹

 Insbesondere die Anklänge Spaldings an Kant werden in späten Jahren immer deutlicher, so ist in der letzten Auflage der „Bestimmung des Menschen“ von 1794 beispielsweise eine Bezugnahme auf das Kantische moralische Gesetz zu vermuten, vgl. den Text dieser Auflage in SpKA I/1, 185, 34– 187, 3: „Und diese, überall entscheidende Richtschnur, diese einzige Empfänglichkeit zum Glücklichwerden, habe ich in dem großen Gesetze der Moralität und in dessen treuer Befolgung erkannt.“ Kurt Beckmann geht soweit, Spalding „als ein[en] Typus der Entwicklung spez. in der Theologie und Religionsphilosophie von Leibniz-Wolff zu Kant“ zu bezeichnen (vgl. Kurt Beckmann: Berührungen Joachim Spaldings mit Immanuel Kant in der Fassung des Religionsbegriffes, Göttingen 1913, S. 58 [Hervorh. i. Orig.]).  Vgl. z. B. die Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3, deren gesamter erster Teil des Hauptteils dem in Christus gegebenen „durchgängig sichere[n] Vorbild im Guten“ gewidmet ist (vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 14, 3 – 16, 18, das Zitat findet sich 14, 7.) oder auch die Rede vom „ganze[n] Beispiel Jesu“ in Schleiermachers Examenspredigt (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 7, 37– 39). Weitere Belege für das Verständnis Christi als „Vorbild“ finden sich u. a. in Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 20 – 39, 7; Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 84, 40 – 85, 4; Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 85, 32– 36 oder Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 94, 31– 33.  Zu vergleichen wäre dazu insbesondere Schleiermachers Examenspredigt, die von dem „wolthätigen Einfluß der Lehre Jesu“ spricht (Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 4, 25 – 29, in Zusammenhang damit dann auch 6, 4– 6) oder auch die Rede von der „göttliche[n] Lehre“ und dem „Lehrer […], den Gott zu unser aller ewigem Wohl auf diese Welt gesandt hat“, in der Predigt „Daß Jesu Lehre und Betragen uns jeden Vorwand abschneide, unter dem wir uns seinen Forderungen entziehn könnten“ zu Mt 12,19 f. (vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 83, 1– 7). Im Übrigen ist ganz grundsätzlich festzuhalten, dass der Verweis auf die Lehre Jesu nicht nur an einzelnen Stellen der ersten Predigten Schleiermachers begegnet, sondern im Grunde ein durchgängiges Fundament – nicht nur der christologischen – Argumentation dieser Predigten

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

219

sowie der Bedeutung seiner v. a. auf die Besserung der Menschen bzw. auf die Sittlichkeit der Menschen ausgerichteten göttlichen Sendung⁹⁷² im Grunde reduziert wird, ist Spaldings Christologie doch merklich dogmatischer bzw. näher an der traditionellen kirchlichen Lehre zu verorten. Zunächst einmal fällt in diesem Zusammenhang auf, dass die Göttlichkeit Jesu Christi bei Spalding viel unbefangener zur Sprache kommt. Denn das „Bekenntniß“ von Christi „göttliche[r] Hoheit und Größe“⁹⁷³ findet sich in Spaldings Predigten z. B. in der durchgängigen Verwendung der entsprechenden Würdetitel wieder. Christus wird bezeichnet als „Sohn Gottes“,⁹⁷⁴ unser „göttliche[r] Heiland […]“,⁹⁷⁵ „dieser göttliche Menschenfreund“⁹⁷⁶ oder auch als „göttliche[r] Mittler“.⁹⁷⁷ Es ist explizit von seiner „eigenthümlichen göttlichen Würde“⁹⁷⁸ oder auch von „seiner göttlichen Herrlichkeit und Ehre“⁹⁷⁹ die Rede.⁹⁸⁰ An klassischen Topoi der christologischen Tradition begegnet sodann beispielsweise, im Grunde in dogmatischer Reinform, die durch seine Auferstehung begründete Königsherrschaft Jesu Christi:

bildet (vgl. z. B. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 12, 8 f.; Predigt Nr. 14, KGA III/3, 139, 8 und 139, 31– 39; Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 5, 1– 3; Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 23, 27– 30; Predigt Nr. 4 Am 1. Januar wohl im Jahr 1791, KGA III/3, 31, 20 – 27; Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792, KGA III/3, 67, 22– 27; Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 91, 9 – 15). Dass die „Lehre Jesu“ nun allerdings schwerpunktmäßig dann ins Spiel kommt, wenn ein Predigttext aus den Evangelien zugrunde liegt (Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790 zu Mt 11,3; Predigt Nr. 14 zu Joh 16,23; Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790 zu Lk 5,29 – 32; Predigt Nr. 4 Am 1. Januar wohl im Jahr 1791 zu Mt 7,11; Predigt Nr. 7 Am 12. Februar 1792 zu Lk 8,4– 15), muss m. E. als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass Schleiermacher in seinen ersten Predigten durchaus zwischen der Verwendung der Formulierung der „Lehre Jesu“ und – v. a. im Zusammenhang mit der neutestamentlichen Briefliteratur – der Verwendung der „Grundsätze der Religion“ oder auch der „christlichen Lehre“, etc. differenzierte.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 12, 7– 9 und 14, 3 f.; Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 24– 26; Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 39, 30 – 38, wobei u. a. 38, 9 – 39, 7 verdeutlicht, dass Jesu Sendung hier letztlich auf die Verbreitung der Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe unter den Menschen abzielt, oder auch Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 92, 27– 35.  SpKA II/2, 300, 1.  Vgl. SpKA II/2, 170, 14– 16; 194, 18; 248, 23 – 26.  SpKA II/2, 121, 20 f.  SpKA II/2, 249, 5 – 7.  SpKA II/2, 18, 30 – 19, 3.  SpKA II/2, 283, 10 – 13.  SpKA II/2, 284, 3 – 7.  Zu vergleichen wäre auch der dieser Beobachtung entsprechende Befund bei Joseph Schollmeier: Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967 [Schollmeier: Spalding], S. 85 f.

220

II. Predigtanalysen

„Er ward aber auch durch diese seine Auferstehung nicht weniger in der Absicht verherrlichet, daß dieß gewissermassen die neue Einsetzung in seine Obergewalt und Herrschaft war, nach welcher ihm das ganze Reich der verständigen Geschöpfe unterworfen seyn sollte. […] In dieser vollen Majestät eines allgemeinen von Gott verordneten Oberherrn regieret er nun im Himmel und auf Erden; und in derselben wird er auch einmal die Welt richten, wenn die Zeit der letzten Offenbarung da ist, wo ein jeder empfahen soll, was seine Thaten werth sind.“⁹⁸¹

Insbesondere aber ist zu vermerken, dass Spalding auch den Tod Jesu Christi bzw. die durch ihn geschehene Erlösung der Menschheit als „Opfer“ charakterisieren und vom „Blut der Versöhnung“ reden kann: „Sie alle, ohne Unterscheid, sind durch ein großes Opfer erlöset, und das Blut der Versöhnung ist für die ganze Welt vergossen, ohne daß irgend ein äusserlicher Umstand dem einen mehr Anspruch an dasselbe geben sollte, als dem andern.“⁹⁸²

Dabei kann dann auch die Sündenvergebung explizit mit dem Opfertod Jesu verbunden werden: „Wenn einmal sündliche Verschuldungen da sind,wenn wirkliche Uebertretungen des göttlichen Gesetzes geschehen sind, wie es einem jeden Menschen sein eigenes Gewissen sagen wird; so kann kein nachfolgendes beßeres Verhalten das eigentlich wieder gut machen; sondern dazu gehöret eine wirkliche Erlassung und Vergebung. Dieser bedürfen wir also auch schlechterdings bey Gott, und die hat er nach seiner Weisheit und Gnade auf das Opfer Jesu gegründet.“⁹⁸³

Neben dieser auf dem Opfertod Jesu basierenden deutlichen Absage an ein Verständnis von Sündenvergebung, das auf nachfolgende gute Werke gegründet wäre,⁹⁸⁴ findet sich bei Spalding nun allerdings auch die Auffassung, dass die „göttliche[…] Begnadigung in Christo […] in einer wirklichen Umkehrung des Sinnes und in einer aufrichtigen Ergebung an Gott gesucht werden muß“⁹⁸⁵ bzw.  Vgl. die „Predigt über die Verherrlichung Jesu durch seine Auferstehung“ zu Mk 16,1– 8, SpKA II/2, 288, 14– 289, 13.  Vgl. Spaldings „Predigt über die gemeinschaftliche Verbindung der Menschen untereinander“ zu Lk 10, 23 – 37, SpKA II/2, 157, 9 – 14.  Vgl. die Predigt „Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens ist auf Seiten der Menschen die Hauptsache in der Religion“ zu Mt 7,21, SpKA II/2, 270, 2– 10. Joseph Schollmeier erarbeitet zudem, dass „die Erlösung der Menschen von der Sündenstrafe durch seinen [i. e. Christi, D.G.] Tod“ bei Spalding ganz umfassend für alle Menschen notwendig ist, selbst für den „Tugendhafte[n]“, da „kein Tugendhaft-Werden […] die Strafe abwenden und von ihr befreien [kann]“ (vgl. Schollmeier: Spalding, S. 94 f.).  Auffällig ist in diesem Kontext andererseits das deutlich auf Tatsünden rekurrierende Sündenverständnis, dem Spaldings auch andernorts geäußerte Zurückhaltung gegenüber der Lehre von der Erbsünde korrespondiert (vgl. SpKA I/3, 191, 4– 202, 7).  Vgl. Spaldings „Predigt über den Nutzen der Todesgedanken“ zu Ps 90,12, SpKA II/2, 179, 23–30.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

221

dass die spezifische „Ordnung“ oder Aufteilung der Verkündigung Jesu bezüglich der Sündenvergebung folgendes Procedere vorsehe: „In dieser Ordnung lässet[…] Jesus predigen Busse[…] und Vergebung der Sünden; Busse[…], wirkliche Veränderung des Sinnes vom[…] Bösen zum Guten; und damit wird die Vergebung der Sünden verknüpft, die lediglich aus Gnade und um Christi willen geschiehet. Das eine gehöret für den Menschen; das andere für Gott.“⁹⁸⁶

Die Ausgestaltung dieser Aufteilung bzw. die mit der Sündenvergebung konstitutiv verbundene menschliche Sinnesänderung lässt nun allerdings fraglich erscheinen, ob die Sündenvergebung bei Spalding auf diese Weise letztlich tatsächlich „lediglich aus Gnade und um Christi willen geschiehet“, oder ob – dem sittlichen Charakter seiner Religionstheologie gemäß – hier nicht vielmehr gerade auch im Zusammenhang mit der Sündenvergebung und Rechtfertigung bzw. „Begnadigung“ des Menschen „bey Gott“⁹⁸⁷ ein notwendiges eigenes Zutun des Menschen mit im Blick ist,⁹⁸⁸ wie es auch in der folgenden Passage deutlich zum Ausdruck kommt:  Vgl. die Predigt „Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens ist auf Seiten der Menschen die Hauptsache in der Religion“ zu Mt 7,21, SpKA II/2, 270, 27– 271, 2.  Vgl. SpKA II/2, 271, 21 f. Aus dem gesamten Zusammenhang SpKA II/2, 269, 18 – 271, 27 wird deutlich, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre bei Spalding die Gestalt der Lehre „unserer Begnadigung bey Gott“ annimmt. Insofern erscheint es wenig hilfreich, zwischen der Rechtfertigungslehre und der Lehre von der Begnadigung in Spaldings Werk grundsätzlich zu unterscheiden, wie es bei Joseph Schollmeier zu finden ist (vgl. Schollmeier: Spalding, S. 80 mit ebd., S. 96 – 107). Die Predigtpassage SpKA II/2, 269, 18 – 271, 27 verdeutlicht vielmehr, dass die Lehre von „unserer Begnadigung bey Gott“ keineswegs nur in eschatologischen Verweisungszusammenhängen begegnet, zudem identifiziert Schollmeier selbst an anderer Stelle die „schriftgemäße Belehrung über die Begnadigung“ bei Spalding mit der „Rechtfertigung“ (vgl. Schollmeier: Spalding, S. 136).  Auffällig ist, wie sehr Spaldings Ausführungen zur Rechtfertigung in dieser Predigt, die natürlich weder bloßer Verdienstlichkeit noch Werkgerechtigkeit das Wort reden, aber eben doch Sündenvergebung und menschliche Umkehr und auf diese Weise Glaube und Gottseligkeit bzw. Religion und Tugend als konstitutiv miteinander verbunden ausweisen, den entsprechenden Überlegungen Spaldings in seiner Schrift „Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ entsprechen (vgl. SpKA II/2, 266, 13 – 272, 27 und SpKA I/3, 178, 29 – 202, 7). Ein Unterschied ist m. E. allerdings hinsichtlich der Aufnahme der Erbsündenlehre festzustellen. Denn in der „Nutzbarkeit des Predigtamtes“ äußert sich Spalding kritisch zu der Ansicht, dass die „Erkenntniß des natürlichen Verderbens […] die Demüthigung wirken“ müsse, „ohne welche keine wahre Umkehrung zu Gott, kein Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von seiner Gnade, keine gründliche Besserung des Herzens möglich“ sei, und lässt in diesem Zusammenhang allein eine „Demüthigung wegen Schuld“, nicht aber „wegen unverschuldeter Unvollkommenheit“ gelten (vgl. SpKA I/3, 193, 24– 194, 5, der Textlaut folgt der 3. Auflage von 1791). In der genannten Predigt aber begründet er die Überzeugung, dass in der „wahren christlichen Frömmigkeit“ niemand ernsthaft auf eine „eingebildete[…] Verdienstlichkeit“ vor Gott verfallen könne, neben der „be-

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II. Predigtanalysen

„Das ist das Bild unserer Begnadigung bey Gott; und diese wird uns immer anbetungswürdig genug bleiben, wenn gleich an unserer Seite[…] und in unserem Verhalten eine aufrichtige Umkehrung zur Gottseligkeit die nothwendige Hauptsache ist, ohne welche die unglückseligen Folgen unserer Verschuldungen[…] nicht von uns genommen werden können.“⁹⁸⁹

Alle diese, wenn auch, wie am Beispiel von Sündenvergebung und Rechtfertigungslehre deutlich werden konnte, von Spalding mit einer seinem geistes- und religionstheologiegeschichtlichen Hintergrund entsprechenden spezifisch sittlichen Akzentuierung aufgenommenen, klassischen christologischen Topoi sind nun aber bei Schleiermacher kaum zu finden oder treten bei ihm zumindest merklich in den Hintergrund. So äußert sich Schleiermacher über die Göttlichkeit oder Gottessohnschaft Christi beispielsweise sehr zurückhaltend. In der Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3 ist er zwar als „Gesandter Gottes“ im Blick⁹⁹⁰ und im Kontext dessen von seinem „Werth […] und seiner Lehre […], seine[m] hohen Beruf und seine[r] göttliche[n] Absicht“ die Rede.⁹⁹¹ Sozusagen in einem Atemzug damit aber kündigt Schleiermacher an, davon, „[o]b in Ihm das Heil zu finden sei, oder ob sie noch auf etwas andres warten müßten“, „ganz menschlich reden“ zu wollen, ohne sich „auf die Weissagungen der Vorwelt“, „das Zusammentreffen so vieler merkwürdigen Umstände“ oder „so manche wundervolle That [zu] berufen, die Christus ausführte“.⁹⁹² Ebenso wird die Menschlichkeit Christi in der Weihnachtspredigt „Welches Interesse alle Umstände der Geburt Jesu für uns haben“ zu Gal 4,4 f. in den Vordergrund gerückt, indem beispielsweise betont wird, dass „Christus ein wahrer Mensch seyn mußte um uns zu erlösen“ und „seine Seele eben so [zu] denken [sei], als die unsrige“, sodass auch er trotz der „treflichen Anlagen seines Geistes […] die höchsten Stufen der Vollkomenheit nur durch Anhänglichkeit und Liebe zur Gottheit und ihren Geboten ersteigen sollte“,⁹⁹³ oder ständige[n] Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott, d[er] Empfindung, daß alles Gute an uns seine Wohlthat und Gnade ist“, gerade mit dem „Gefühl unserer Unvollkommenheit und d[er] daraus entspringende[n] Demuth“, die in der „wahren christlichen Frömmigkeit“ bereits „mit enthalten“ seien und „etwas sehr wesentliches derselben ausmacht[en]“ (vgl. SpKA II/2, 268, 20 – 269, 2).  Vgl. SpKA II/2, 271, 21– 27. Emanuel Hirsch attestiert Spalding von daher denn auch „den Rückgriff“ auf ein „semipelagianische[s]“ Gnadenverständnis (vgl. Hirsch: Geschichte IV, S. 27 [Hervorh. i. Orig.]).  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 14, 3.  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 12, 23 – 13, 1.  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 13, 27– 36.  Vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 25, 36 – 26, 11. Die antijudaistische Tendenz dieser Predigt, die sich beispielsweise in dem Schema der vollständigen Ablösung der ersten göttlichen Offenbarung, des Alten Testaments, durch das Neue Testament als

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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dass „er […] die Bahn eines jeden Menschen in Entwiklung und Wachsthum der Kräfte [durchläuft]“, auch wenn er uns „sein Beispiel als den höchsten Triumph der menschlichen Natur dar[stellt]“⁹⁹⁴ und eben „auch als Mensch“ über die Vollkommenheit verfügt, „die uns vorgezeichnet ist“.⁹⁹⁵ Seine eigentliche Göttlichkeit aber besteht laut dieser Predigt im Grunde lediglich darin, dass „sich die Gottheit“ mit ihm „auf eine so wundervolle Weise vereinigt hat“.⁹⁹⁶ So ist in Schleiermachers ersten Predigten zwar von der „göttliche[n] Absicht“ Christi⁹⁹⁷ oder der „göttliche[n] Wahrheit“⁹⁹⁸ bzw. der „göttliche[n] Lehre“,⁹⁹⁹ die er zu verkündigen hat, die Rede, er wird als „unser göttlicher Lehrer“¹⁰⁰⁰ etc. bezeichnet, seine Gottessohnschaft aber kommt in diesem Zeitraum im Grunde nur in Schleiermachers Examens- und Ordinationspredigt explizit zur Sprache.¹⁰⁰¹ Recht unbefangen kann Schleiermacher Christus nun aber nichtsdestoweniger durchgängig als unseren „Erlöser“ bezeichnen,¹⁰⁰² wobei allerdings ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dem „Werk der Erlösung“ und der göttlichen

der zweiten göttlichen Offenbarung (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/ 3, 23, 30 – 24, 15), in der Zurückweisung der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 23, 11 f.; auch 24, 31– 37), in dem Verweisen auf angebliche Verfallserscheinungen der Moralität etc. des jüdischen Volkes (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 24, 15 – 23) oder auch ganz offensichtlich formuliert findet (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 23, 3 – 7), ist auf das Äußerste zu bedauern. Die diesen Äußerungen zugrunde liegende Geschichtsdeutung bedeutet eine unangemessene Abwertung der im Alten Testament überlieferten göttlichen Offenbarung und Zusagen, insgesamt aber sind diese Äußerungen schlicht als unbegründet und anhaltlos zu bewerten.  Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 32– 36.  Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 28 – 32.  Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 21, 30 – 34. Günter Meckenstock formuliert hinsichtlich der Thematisierung der Gottessohnschaft Jesu in Schleiermachers Jugendpredigten zutreffend: „[d]ie Gottessohnschaft wird nicht im Hinblick auf die Substanzkategorie gedacht; alle ontologischen Substanz- und Vermittlungsspekulationen sind ihm fremd.“ (Vgl. Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 174).  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 12, 23 – 13, 1.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 12 f.  Vgl. Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 83, 3 – 5.  Predigt Nr. 9 Am 29. Dezember 1793, KGA III/3, 84, 39 f.  Vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 31 und Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/ 3, 92, 27 f.  Vgl. u. a. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 136, 37; Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 31; Predigt Nr. 12, KGA III/3, 117, 36 – 118, 3; in Predigt Nr. 16, KGA III/3, 163, 16 – 164, 12 werden „alle die besondern Veranstaltungen Gottes zu unserer Erlösung und Beßerung“ letztlich auf die „Nothwendigkeit der Sendung Jesu“ zurückgeführt; Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 2– 4 und 40, 4 f.; Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 93, 35 f.

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II. Predigtanalysen

Sendung Christi besteht, die Erlösung damit aber ebenso wie die Sendung Christi ein auf Sittlichkeit und Lehre ausgerichteter Schwerpunkt kennzeichnet.¹⁰⁰³ Dass sich Erlösung und Sendung Christi bzw. Heil und Wohl der Menschen allerdings nicht völlig in diesem sittlichen Schwerpunkt erschöpfen, wird z. B. durch den Gesichtspunkt des insbesondere mit den von Christus gelehrten bzw.verkündigten Wahrheiten verbundenen „Trost[es]“ deutlich;¹⁰⁰⁴ dass diese Aspekte: „Trost und Hofnung und Ruhe für unsre Seele“¹⁰⁰⁵ bei Schleiermacher nun allerdings letztlich wiederum dem sittlichen Aspekt unterzuordnen sind, war bereits der besprochenen Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ zu Joh 16,23 zu entnehmen.¹⁰⁰⁶ Die Königsherrschaft Christi begegnet in Schleiermachers ersten Predigten kurz, allerdings aus der Perspektive des Paulus.¹⁰⁰⁷ Vom „Opfer“ des Todes Christi „zum Heil der Menschheit“ ist in der Einleitung der Osterpredigt „Von dem Siege, den Christus durch seine Auferstehung über den Tod davon getragen“ zu 1. Kor 15,26 am Rande die Rede. Die Sündenvergebung wird in diesem Kontext allerdings nicht direkt auf den Tod Christi, sondern auf die Auferstehung als den „festen geoffenbarten Grund der Vergebung unsrer Sünden“ bzw. als Bestätigung der Sendung Christi bezogen¹⁰⁰⁸ und weist wie die Thematisierung der Sündenvergebung in der Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3, derzufolge „die Folgsamkeit gegen den Willen des Vaters und der Glaube an den, den Er gesandt hat, Verzeihung für unsere Fehler bewirkt“,¹⁰⁰⁹ eine deutlich sittliche Akzentuierung auf. Der geforderte Glaube an den von Gott Gesandten jedenfalls gründet sich in Schlei-

 Vgl. z. B. Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 90, 20 – 91, 3; Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 2– 4 in Verbindung mit 39, 33 – 38; Predigt Nr. 16, KGA III/3, 163, 38 – 164, 12; Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 24– 26: „wobei wir allein die Früchte der Sendung Deines Sohnes zu unserer Besserung vollkommen genießen können“ oder auch die gesamte Predigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“ zu Mt 11,3, Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, S. 12– 19.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 17, 32– 18, 24.  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 18, 21– 24.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, S. 135– 145.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 117, 33 – 118, 5.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 116, 23 – 117, 7: „Wenn Christus nicht auferstanden wäre, und wir wollten doch seinen Tod als einen Tod zum Heil der Menschheit ansehn, so hätten wir keine ausdrükliche Versicherung von Gott, die uns dessen gewiß machte, so wüßten wir nicht ob der Himmel sein großes Opfer so theuer geachtet als wir, ob Gott es so gern und gültig angenommen als er es willig und vollständig gebracht hat, so würden noch weit mehr Zweifel über die Sendung Jesu in den Herzen der Menschen entstehn, als jezt, und da wir keinen festen geoffenbarten Grund der Vergebung unsrer Sünden erkennen würden, so würde es um einen so ungewißen Preis unzählig vielen zu sauer werden sich ihrer zu entledigen.“  Vgl. Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 17, 36 – 18, 1.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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ermachers ersten Predigten nicht auf ein eigentliches Sühne-, Versöhnungs- oder Rechtfertigungsgeschehen, das konstitutiv bzw. primär mit dem Kreuzestod Jesu Christi verbunden wäre, sondern auf die das ganze Leben, Sterben und Auferstehen Christi umfassende göttliche Sendung desselben, wie u. a. an folgenden Formulierungen zu erkennen ist: „Die Erleuchtung unseres Verstandes die Beruhigung unseres Herzens, das war das große Werk welches ihm aufgetragen war, und unter dessen Vollbringung er liebreich sein Leben für uns gelaßen hat“¹⁰¹⁰ oder auch „[w]ir wollen an das Ende Jesu nicht denken, ohne zugleich auf den Zwek seiner ganzen Erscheinung unter den Menschen zurükzubliken“,¹⁰¹¹ wobei diesem Ende dann allerdings durchaus ein besonderer Stellenwert im Zusammenhang mit der Sendung Christi zugestanden werden kann, wenn von der „heiligen Ehrfurcht“ die Rede ist, mit der wir „die lezten rührenden Begebenheiten des Lebens Jesu, wodurch er das Werk der Erlösung vollbringen mußte, betrachten“.¹⁰¹² Diese sich nun insgesamt aber dennoch deutlich von der traditio-

 Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 94, 10 – 13.  Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 90, 11– 13.  Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 90, 20 – 23. Diese Beobachtungen decken sich weitgehend mit Kurt Gerhard Jungs Ergebnissen, denenzufolge Schleiermacher „das ganze geschichtliche Leben Jesu, von der Krippe bis zum Kreuz, als Grund der Erlösung“ auffasste (vgl. Kurt Gerhard Jung: Der Erlösungsbegriff in den frühen Predigten Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, Berlin 1971, S. 198) und in denen festgehalten wird, dass das in Schleiermachers Predigten bis 1812 zutage tretende Versöhnungsverständnis „nichts mit dem Kreuz zu tun“ hatte (Jung: Erlösungsbegriff, S. 191). Hinzuzufügen wäre für die ersten Predigten angesichts der Osterpredigt „Von dem Siege, den Christus durch seine Auferstehung über den Tod davon getragen“ zu 1. Kor 15,26 (vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, S. 116 – 126, u. a. 117, 7– 10) hinsichtlich des Erlösungs- bzw. Sendungsverständnisses allerdings die Auferstehung bzw. Auferweckung (verwendet werden in Predigt Nr. 12 beide Begriffe, vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 116, 8 – 117, 10), sodass m. E. aufgrund dieser Predigten Leben, Sterben und Auferstehen Christi als Grund der Erlösung oder auch der Sendung Christi festzuhalten sind. Gründlich widersprochen werden muss Jung, wenn er die gesamten Predigten Schleiermachers bis ins Jahr 1800 „von Herrnhut aus und nicht von der Aufklärung her verstanden“ wissen will (vgl. Jung: Erlösungsbegriff, S. 79). Angesichts der Ergebnisse der Untersuchung der Examenspredigt sowie der Predigt über das Gebet kann eindeutig festgestellt werden, dass die Bezüge dieser Predigten zur Philosophie und Religionstheologie der Aufklärung deutlich ins Gewicht fallen und sie insofern auch nur auf dem Hintergrund dieser Bezüge angemessen verstanden werden können. Jung gewichtet in diesem Zusammenhang m. E. die sittliche Schwerpunktsetzung zumindest der ersten Predigten Schleiermachers deutlich zu gering (vgl. z. B. Jung: Erlösungsbegriff, S. 126 oder auch S. 89: „Zwar hat die Moral – wie oben dargestellt – ursächlich nichts mit der Erlösung als solcher zu tun.“ Allerdings wäre in diesem Kontext zunächst einmal Jungs Moralbegriff zu hinterfragen, da er die Moral eher, wie heute vielfach üblich, v. a. in den engeren Bereich des Moralischen und jedenfalls nicht eindeutig in den des Ethischen bzw. Sittlichen verweist). Wieder bestätigt werden kann Jungs Urteil, dass Schleiermacher trotz seiner „Ablehnung der Zweinaturenlehre“, die „Sendung Jesu

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II. Predigtanalysen

nellen kirchlichen Christologie unterscheidenden Ausführungen, v. a. die Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi oder auch seine Göttlichkeit betreffend, verwundern angesichts der bereits in Barby aufgebrochenen christologischen und soteriologischen Glaubenszweifel Schleiermachers nicht weiter.¹⁰¹³ Festzuhalten ist in

oder sein Erlösungswerk“ nicht in Abrede stellt. Der Gebrauch des Würdetitels „Sohn Gottes“ ist nun allerdings, wie oben zu sehen war, zumindest für die ersten Predigten Schleiermachers etwas weniger selbstverständlich, als Jung das vorauszusetzen scheint (vgl. Jung: Erlösungsbegriff, S. 107 f.).  Noch einmal erinnert sei an den berühmten Brief Schleiermachers an seinen Vater, in dem er im Januar 1787 die Glaubenszweifel, die ihn zum Bruch mit Herrnhut und zu dem Wunsch, Theologie zu studieren, veranlassten, mit den folgenden Worten darlegte: „Ich kann nicht glauben, daß der wahrer ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.“ (Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50). Eine gewisse Nähe zu Gedanken der sozinianischen Tradition, insbesondere die Vorbehalte gegen die Gottheit Christi und den Stellvertretungsgedanken bzw. die Satisfaktionslehre betreffend, lässt sich dabei im Grunde nicht leugnen (vgl. dazu beispielsweise die Darstellung bei Gunther Wenz: Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1 [Münchener Universitätsschriften Fachbereich Evangelische Theologie/Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie Bd. 9.1], München 1984 [Wenz: Versöhnungslehre], S. 100 – 127). Zugleich mit dem Konstatieren einer solchen Nähe ist allerdings einschränkend auf die nicht unwesentlichen Unterschiede zum sozinianischen Gedankengut hinzuweisen, die sich in Schleiermachers Ausführungen deutlich erkennen lassen. So argumentiert Schleiermacher hier nicht in erster Linie von Vernunftgründen bzw. von den Prämissen der menschlichen ratio her, er beruft sich vielmehr hinsichtlich der Problematisierung der Gottheit Christi auf die dieser nicht entsprechenden Äußerungen Christi selbst in der Schrift, hinsichtlich der Ablehnung des stellvertretenden Versöhnungstodes aber auf die Unvereinbarkeit der Notwendigkeit desselben mit der nicht nur praktisch-philosophischen, sondern im Grunde eminent theologischen Einsicht, dass Gott die Menschen nicht vollkommen, sondern eben nur als zur Vollkommenheit strebende Wesen geschaffen habe. Schleiermacher argumentiert damit aber zunächst einmal nicht primär von Gründen der Logik der Vernunft, wie etwa der Unvereinbarkeit des Satzes vom auszuschließenden Widerspruch mit der Zweinaturenlehre her (vgl. Wenz: Versöhnungslehre, S. 110), sondern aus theologischen Gründen und von seinen Glaubenszweifeln herkommend. Dies könnte in der brieflichen Äußerung natürlich der Tatsache geschuldet sein, dass er sich hier bemüht, seinem von herrnhutischer Frömmigkeit geprägten Vater argumentativ entgegenzukommen und sich an dessen Denkweise sozusagen zu akkommodieren. Abgesehen davon sind nun aber auch in Schleiermachers ersten Predigten offensichtliche inhaltliche Unterschiede zum Gedankengut des Sozinianismus festzustellen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Christus zukommende Vollkommenheit bei Schleiermacher das Möglichwerden der Vollendung sonstiger menschlicher Vollkommenheit im Diesseits qualitativ und bleibend übertrifft (vgl. dazu z. B. die Formulierung, derzufolge Christus „auch als Mensch“ über die Vollkommenheit verfügt, „die uns vorgezeichnet ist“ in Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3,

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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27, 28 – 36). Für Schleiermachers theologisches Denken trifft also keinesfalls zu, dass, „[w]o sich menschliche Moralität vollendet, […] sie von Christus nicht mehr zu unterscheiden [ist]“ (vgl. Wenz: Versöhnungslehre, S. 118 f.), bei Schleiermacher bleibt vielmehr ein qualitativer Unterschied zwischen Christus und den Menschen erhalten. In eschatologischer Hinsicht wäre sodann zu vermerken, dass der sich im Jenseits fortsetzende Vervollkommnungsprozess bei Schleiermacher nicht wie im Sozinianismus als „progressus in infinitum“ begegnet (vgl. Wenz: Versöhnungslehre, S. 119), sondern sein Ziel in dem „endlichen Zeitpunkt de[s]selben in der Ewigkeit“ hat (vgl. Predigt Nr. 1 Am 15. Juli 1790, KGA III/3, 11, 12– 18). Insbesondere aber sind nun in ethischer Hinsicht zwei erhebliche Unterschiede zum Sozinianismus festzustellen. Das ist zum einen das für Schleiermachers Konzeption unverzichtbare Element der Beistandsfunktion der Religion zum Guten, eine alleinige Zuschreibung der Verantwortung für die Tugend und Besserung des Menschen an den Menschen selbst findet sich bei ihm nicht. Andererseits ist das die Feststellung, dass Schleiermacher ganz offensichtlich nicht von der „radikalen Vereinzelung des Menschen“ bzw. von einem „extremen ethischen Individualismus“ ausgeht, wie Pannenberg ihn ausgehend vom Sozinianismus als „für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen bis in die Mitte“ des 20. Jahrhunderts hinein „charakteristisch“ bezeichnet (vgl. Wolfhart Pannenberg: Grundzüge der Christologie, Gütersloh, 6. Aufl. 1982 [11964], S. 272), sondern den Menschen bereits in seinen ersten Predigten als ein auf menschliche Gesellschaft hin angelegtes Wesen begreift (vgl. z. B. Predigt Nr. 10 Am 6. April 1794, KGA III/3, 95, 7– 10; Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 21, 18 – 25 oder auch die gesamte Predigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32, Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/ 3, S. 38 – 51). Zu vergleichen sind zu Schleiermachers früher Ablehnung der Versöhnungs- und Zweinaturenlehre auch die Ausführungen Hermann Bleeks (vgl. Bleek: Christologie, S. 27– 32). Hermann Bleek freilich erkennt in der Argumentation Schleiermachers gegen die Deutung des Todes Christi als stellvertretender Versöhnung in dem Brief an seinen Vater vom 21. Januar 1787 (Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50) „bereits jenes Zurücktreten des sittlichen Faktors, das m. E. den Hauptfehler der Schleiermacher’schen Theologie bildet.“ Denn Schleiermachers „Betrachtung richte[…] sich nicht so sehr darauf, was auf Grund der verpflichtenden Macht des Sittengesetzes sein soll[e], als vielmehr was die empirische Beobachtung als ‚möglich‘ erweis[e].“ Das aber „bedeute[…] den Uebergang aus dem Gebiet des Sittlichen in das der Natur, der für Schleiermachers ganzes System bezeichnend (sei)“. Bleeks Urteil beruht dabei einerseits auf der im Grunde theologischen Prämisse, dass „die Forderung unseres Gewissens […] uns jedes Zurückbleiben auf der Bahn der Vollkommenheit als unsere Schuld zum Bewusstsein bring[e]“, andererseits bringt er mit der Erwähnung der „verpflichtenden Macht des Sittengesetzes“ auch Kantisches Gedankengut ins Spiel (vgl. Bleek: Christologie, S. 28 [Hervorh. i. Orig.]). Dass sich die primäre Orientierung des Sittlichen am moralischen Gesetz Kantischer Provenienz und dessen pflichtgemäßer Befolgung in Schleiermachers ersten Predigten nicht belegen lässt, ist weiter oben in diesem Abschnitt bereits dargelegt worden. Von daher legt sich nun aber auch eine strikte Trennung zwischen dem Gebiet des Sittlichen und dem der Natur als Deutungsmuster für Schleiermachers erste Predigten nicht nahe. Die Predigten machen vielmehr deutlich, dass Schleiermacher beiden Gebieten – und damit eben sowohl dem natürlichen bzw. empirisch-psychologischen als auch dem vernünftig-moralischen Bereich – verhaftet bleibt, auch wenn, wie zu sehen war, die Kongruenz des Verlaufs der moralischen Welt mit demjenigen der natürlichen Welt bei Schleiermacher nicht ganz so weit geht wie beispielsweise bei Benson (vgl. Abschnitt II.2.1.7.2).

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II. Predigtanalysen

diesem Zusammenhang nun aber, dass Schleiermacher sich hinsichtlich dieser grundlegenden theologischen bzw. christologischen und soteriologischen Inhalte in seinen ersten Predigten keineswegs verstellte, sondern ganz offensichtlich in Hinblick auf Person und Werk Christi Formulierungen wählte, die mit seiner religiösen Überzeugung vereinbar waren.¹⁰¹⁴ Neben all diesen bei Spalding deutlich stärker der kirchlichen Lehre entsprechenden christologischen bzw. soteriologischen Topoi, wie insbesondere der Göttlichkeit oder Gottessohnschaft Jesu und dem Verständnis des Kreuzestodes, der Sündenvergebung und sogar der Rechtfertigungslehre, lassen sich nun aber auch ganz offensichtliche Übereinstimmungen zwischen der christologischen Konzeption Spaldings und derjenigen der ersten Predigten Schleiermachers ausmachen. So steht die Vorbildfunktion Christi bei Spalding zwar nicht gleichermaßen im Vordergrund wie bei Schleiermacher, wie bei diesem bildet sie aber auch bei Spalding einen Bestandteil des ganz grundlegenden christologischen

 Es ist festzustellen, dass diese Formulierungen bzw. christologischen und soteriologischen Inhalte insgesamt weitgehend mit dem von Bleek gezeichneten Typos der Christologie der Aufklärungszeit übereinstimmen: „Christus ist nach dieser Anschauung wesentlich der ‚grossmütige Menschenfreund‘ […], der gekommen ist, die Menschen durch Lehre und Vorbild auf die Bahn der Tugend zu lenken und ihnen die süsse Verheissung der Unsterblichkeit und des jenseitigen Lohnes zu bringen […]. Seine Gottessohnschaft, seine Wunder und Auferstehung werden nicht bestritten. Aber das Wunderbare seiner Geschichte hatte nur den Zweck, seiner Lehre gewissen Nachdruck […] zu geben“, usw. (vgl. Bleek: Christologie, S. 36). Festzuhalten ist nun m. E. aber auch, dass Schleiermacher in seinen ersten Predigten sicher schwerpunktmäßig, aber nicht allein vom Werk oder Amt bzw. von den Wirkungen Christi her argumentiert, sondern, indem er an einem qualitativen Unterschied zwischen Christus und den Menschen festhält, doch auch Würde und Person Christi zum Tragen bringt. Dass bei ihm „an die Stelle der Reflexion auf Gott, die Reflexion auf den Menschen, auf die menschliche Erfahrung getreten“ sei (vgl. Bleek: Christologie, S. 50 [Hervorh. i. Orig.]), kann insofern nur mit Einschränkungen vermerkt werden, auch wenn Schleiermachers Ausformung der Auferstehungsthematik, wie es weiter unten beim Vergleich der Spaldingschen mit der Schleiermacherschen Osterpredigt festzustellen sein wird, dieser Typisierung recht genau entspricht. Schleiermachers Weihnachtspredigt „Welches Interesse alle Umstände der Geburt Jesu für uns haben“ zu Gal 4,4 f. hält m. E. jedenfalls in der im Schlussteil der Predigt verwendeten Formulierung, dass „Christus […] auch als Mensch“ über die Vollkommenheit verfügt, „die uns vorgezeichnet ist“, einen nicht wegzuinterpretierenden qualitativen Unterschied zwischen Christus und den Menschen fest (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 28 – 36) und auch die unmittelbar auf diese Formulierung folgenden Ausführungen, „wie völlig er uns gleich ist“, enden eben mit der Feststellung, dass er „uns sein Beispiel als den höchsten Triumph der menschlichen Natur dar[stellt]“ (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 32– 36 [Hervorh. D.G.]). Als ungebrochen „wesentliche Gleichheit mit uns“ lässt sich das m. E. nicht interpretieren (gegen Bleek: Christologie, S. 57).

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Repertoires,¹⁰¹⁵ das Gleiche gilt für das Verständnis und die Charakterisierung Christi als göttlichen „Lehrers“.¹⁰¹⁶ Die bei beiden damit verbundene grundsätzlich sittliche Akzentuierung von Christologie und Soteriologie ist nicht zu übersehen.¹⁰¹⁷ Insbesondere aber sind es beispielsweise in diesem Kontext begegnende wörtliche Anlehnungen an Spaldingsche Formulierungen in der Predigt, die Schleiermacher als seine erste Predigt hinterlassen hat, wie z. B. bei Schleiermacher: „[s]ein ganzer Wandel war nichts andres, als eine ununterbrochene Reihe von Handlungen zum Besten der Menschheit“¹⁰¹⁸ und bei Spalding: dass Christi „beständiges Geschäfte […] darin [bestand], für das Beßte der Menschen zu sorgen“,¹⁰¹⁹ oder auch die Charakterisierung seines Vorbildes durch seine „durchgehends sich so gleiche Tugend“ bei Spalding,¹⁰²⁰ bei Schleiermacher: dass „seine Tugend sich immer gleich [blieb]“,¹⁰²¹ die ganz deutlich ein christologisches Abhängigkeitsverhältnis Schleiermachers von Spalding erkennen lassen. Dass dieses Abhängigkeitsverhältnis allerdings keiner gänzlichen oder schlechthinnigen Natur ist, wird an der schon herausgearbeiteten durchaus unterschiedlichen christologischen bzw. soteriologischen Ausprägung der Spaldingschen und der Schleiermacherschen Religionstheologie deutlich. Dieses Abhängigkeitsverhältnis dürfte daher schlicht in den Kontext der Art und Weise zu stellen sein, in der Schleiermacher auch sonst an Spaldings Konzeptionen anzuknüpfen pflegte. So ist nicht nur im Hinblick auf die oben untersuchten Predigten über das Gebet, sondern auch im Kontext anderer Predigten oder zu Predigten ausgebauter Aspekte festzustellen, dass Schleiermacher an Spalding anknüpft und sich von seinen Predigten anregen lässt, in der Ausgestaltung seiner Predigten dann aber durchaus eigenen Ideen folgt und neue Entwürfe oder An-

 Implizit wird die Vorbildfunktion Christi beispielsweise in der „Predigt über den Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum“ zu Joh 6,15 aufgenommen (vgl. SpKA II/2, 229, 12– 26), explizit begegnet Christus beispielsweise in der „Predigt über die Bereitwilligkeit zu helfen“ zu Mt 8,1– 13 als „Vorbild“ eines spezifisch „liebreichen wohlthätigen Sinn[es]“ (vgl. SpKA II/2, 249, 19 – 29).  Vgl. die „Predigt über die Bereitwilligkeit zu helfen“ zu Mt 8,1– 13, SpKA II/2, 248, 26 – 249, 2.  Dass sich die Erlösung bzw. Soteriologie in den ersten Predigten Schleiermachers aber auch nicht in rein sittlichen Kategorien erschöpft, wird z. B. in der Weihnachtspredigt „Welches Interesse alle Umstände der Geburt Jesu für uns haben“ zu Gal 4,4 f. deutlich, wenn u. a. davon die Rede ist, dass Christus dem „unglükliche[n] Mensch[en] […] seinen Zusamenhang mit Gott“ „wiederbringt“ (vgl. Predigt Nr. 3 Am 25. Dezember wohl im Jahr 1790, KGA III/3, 27, 36 – 28, 4).  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 14, 24– 26.  Vgl. die „Predigt über die Bereitwilligkeit zu helfen“ zu Mt 8,1– 13, SpKA II/2, 249, 12– 17.  Vgl. Spaldings „Predigt über die Verherrlichung Jesu durch seine Auferstehung“ zu Mk 16,1– 8, SpKA II/2, 292, 31– 293, 9.  Vgl. Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 14, 30 – 32.

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II. Predigtanalysen

sätze entwickelt. So ist z. B. auch in Hinblick auf Spaldings „Predigt über die Verherrlichung Jesu durch seine Auferstehung“ zu Mk 16,1– 8¹⁰²² und Schleiermachers Predigt „Von dem Siege, den Christus durch seine Auferstehung über den Tod davon getragen“ zu 1. Kor 15,26¹⁰²³ zu beobachten, dass Schleiermacher einen Aspekt der Spaldingschen Predigt aufgreift, hier ist das der Gedanke, dass die Auferstehung Christi „auch bey dem letzten entscheidenden Schritte, den der Gläubige zu thun hat, wenn er aus der Zeit in die Ewigkeit tritt,“ zu „seine[r] Stärke und seine[r] Stütze“ wird, sowie dass Christus „durch seine Auferstehung uns auch unsere Auferstehung und unsere Einführung in eine bessere Welt versichert“,¹⁰²⁴ und diesen Aspekt dann zum zentralen Gegenstand seiner Predigt ausbaut. Schleiermachers Osterpredigt zu 1. Kor 15,26 behandelt demzufolge den „Sieg […], den Christus über den Tod davon getragen hat“ unter den Gesichtspunkten „was der Tod ohne seine Auferstehung für uns gewesen sei“ sowie der Frage nach der Art und Weise, „wie ihn Christus dadurch besiegt hat“,¹⁰²⁵ interessanterweise übrigens ohne Vorbehalt die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung voraussetzend.¹⁰²⁶ Der bei Spalding zentrale und den gesamten Gedankengang seiner Predigt bestimmende Aspekt der Verherrlichung Christi aber tritt dabei, wie auch der Gedanke der durch die Auferstehung Christi gegebenen Bestätigung seiner Sendung, in den Hintergrund v. a. des einleitenden Rahmens der Schleiermacherschen Predigt zurück,¹⁰²⁷ womit allerdings zugleich festgehalten ist, dass Schleiermacher diese beiden für Spalding so wichtigen Aspekte zur grundsätzlichen Voraussetzung auch seiner Argumentation erhebt. Dass sich hier insgesamt betrachtet aber dennoch eine Schwerpunktverschiebung von dem bei Spalding zu erkennenden christologischen Schwerpunkt der Verherrlichung Christi hin zu der im Grund theologischen Bearbeitung der psychologischen Frage nach der Überwindung der menschlichen Todesfurcht bei Schleiermacher ergibt, muss zur Kenntnis genommen werden, ebenso wie die Beobachtung, dass die Spalding noch ausführlich beschäftigende Frage der Verteidigung der Glaubwürdigkeit des Wunders der Auferstehung Christi in Schleiermachers möglicherweise Schlobittener Osterpredigt¹⁰²⁸ im Grunde keine größere Rolle spielt.¹⁰²⁹  Vgl. SpKA II/2, S. 282– 305.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, S. 116 – 126.  Vgl. SpKA II/2, 303, 3 – 16.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 118, 5 – 9.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 125, 4– 126, 20.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 117, 7– 14 und 117, 32– 118, 5.  Von Meding datiert diese Predigt auf den 24.04.1791, vgl. Von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331. In KGA III/3 wird zur Datierung dieser Predigt lediglich „[v]or dem 26. Juli 1794, Ostern“ angemerkt (vgl. KGA III/3, S. 116).  Vgl. beispielsweise SpKA II/2, 284, 24– 288, 13 und Predigt Nr. 12, KGA III/3, 116, 10 – 117, 14.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Die Frage, ob das daran liegen könnte, dass das Thema der Auferstehung für den Schleiermacher der ersten Predigten nie ein ernsthaftes Problem war, worauf insbesondere die unbefangenen Ausführungen zur leiblichen Auferstehung hinweisen könnten bzw. die Beobachtung, dass Schleiermacher ganz offensichtlich mit der fortdauernden Tätigkeit der Seele der verstorbenen Menschen auch die dazu notwendigerweise wie auch immer geartete leibliche Verfasstheit derselben ohne jeden Zweifel vorauszusetzen schien,¹⁰³⁰ oder dass sich ein solches Problem für Schleiermacher eventuell in der Entstehungszeit der Predigt gelöst haben könnte oder auch, dass er es seinen Zuhörerinnen und Zuhörern nicht zumuten konnte oder wollte, ist m. E. allerdings nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten. Die Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings Religionstheologie betreffend kann abschließend festgehalten werden, dass einerseits große Gemeinsamkeiten der Schleiermacherschen Predigten mit Spaldings Religionstheologie sowie ganz offensichtliche Anlehnungen bzw. Anknüpfungen bis hin zu Abhängigkeiten von Spaldings Predigten seitens Schleiermachers festzustellen sind.¹⁰³¹ Andererseits aber kommen bei einem Vergleich der Schleiermacherschen mit den Spaldingschen Konzeptionen regelmäßig auch nicht gerade unwesentliche Unterschiede zum Vorschein. Schleiermacher übernimmt nicht einfach von Spalding, sondern durchdenkt selbst und eignet sich in eigener Weise an, was zu seiner Herangehensweise und zu seinen Überzeugungen passt. Oft

 Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 125, 24– 126, 8.  Ein weiteres Beispiel, das hier noch kurz erwähnt werden soll, ist der Topos der „allgemeine[n] Menschenliebe“, den Schleiermacher aus Spaldings „Predigt über die gemeinschaftliche Verbindung der Menschen untereinander“ zu Lk 10,23 – 37 übernommen haben könnte (vgl. SpKA II/2, S. 150 – 170). Dort begegnet die allgemeine Menschenliebe als die der aus „[e]inlerley Natur, einerley Ursprung, einerley Schwachheiten, einerley Bedürfnisse[n]“ sowie „einerley Antheil an der Gnade Gottes und an der Erlösung Christi“ hervorgehenden Gleichheit aller Menschen angemessene Gesinnung (vgl. SpKA II/2, 158, 10 – 24). Schleiermacher macht diese Gesinnung der „allgemeinsten Menschenliebe“ zum Thema seiner Weihnachtspredigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ zu Lk 2,25 – 32 (vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, S. 38 – 51, das Zitat entstammt 38, 22). Dabei ist die „Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ als mit der „allgemeinsten Menschenliebe, de[m] ausgebreitetsten Wohlwollen[…] gegen alle die der menschlichen Natur theilhaftig sind“ identisch zu verstehen und wird unter den Gesichtspunkten „I. Worin diese Gesinnung besteht. II. Was sie in der Seele voraussezt, und III. Was für Gutes sie in derselben hervorbringt“ untersucht und dargelegt (vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, 38, 20 – 24 und 40, 20 – 24 [Hervorh. i. Orig.]). Einschränkend ist nun aber hinzuzufügen, dass sich der Topos der allgemeinen Menschenliebe im zeitlichen Kontext natürlich nicht nur bei Spalding findet, erwähnt sei exemplarisch Johann Friedrich Wilhem Jerusalem: Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Erster Theil, Frankfurt und Leipzig 41772, S. 323: „Dieß ist unsre Religion; die Liebe Gottes, die sich in einer allgemeinen Wohlthätigkeit und Menschenliebe thätig macht.“

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II. Predigtanalysen

genug entstehen dabei völlig neue Gedankengänge und theologische bzw. homiletische Entwürfe. Zudem ist anzumerken, dass an vielen Stellen nicht eindeutig festgestellt werden kann, welche Einflüsse exakt den Schleiermacherschen Ausführungen zugrunde liegen. Das war beispielsweise ganz grundsätzlich hinsichtlich der Funktion der Gesinnung bzw. Gesinnungen im Handlungsgefüge zu beobachten, wo zwar die klare Abgrenzung von der Halleschen Tradition deutlich wurde, neben der insbesondere in materialer bzw. metaethischer Hinsicht auffälligen Beeinflussung durch Spalding aber eben auch eine gewisse Einwirkung Lelands sowie aufgrund der zeitnahen Beschäftigung mit Kants Praktischer Philosophie insbesondere diejenige Kants zu postulieren war. Ebenso gilt diese Beobachtung nun aber beispielsweise auch für eine Frage wie die nach der sittlich notwendigen Unterordnung der Neigungen und Leidenschaften unter die Vernunft,¹⁰³² die Schleiermacher wieder nicht nur bei Spalding und später bei Kant,¹⁰³³ sondern ebenso in der antideistischen Kontroversliteratur und schon bei Eberhard begegnet war.¹⁰³⁴ Daher lässt sich die Frage nach der präzisen Herkunft dieses in

 Für Schleiermacher wäre in diesem Zusammenhang z. B. auf die Predigt „Worin die Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntnisse bestehn“ zu 1. Thess 5,21 hinzuweisen, in deren Schlussteil zu lesen ist: „es ist wol nichts richtiger als dieses, daß es nur dann gut um den Menschen steht wenn seine Vernunft die Herrschaft über die andern Kräfte seiner Seele hat“, kurz zuvor war davon die Rede, dass „[d]er Mensch welcher zum Genuß himmlischer Güter bestimmt ist“, der „Wahrheit“ „alle Neigungen seiner Seele zum Opfer zu bringen“ hat (vgl. Predigt Nr. 17, KGA III/3, 176, 28 – 177, 6).  Vgl. Meier-Dörken: Theologie, S. 30 – 34. Für Spalding wäre ganz grundlegend auf die gesamte „Predigt über Die[…] Strenge des Christenthums“ zu Mt 18,1– 11 hinzuweisen (vgl. SpKA II/2, S. 48 – 66), in der ausführlich von der nötigen Unterordnung der „gewohnte[n] unordentliche[n] Neigung“ des alten Menschen (vgl. SpKA II/2, 51, 31 f.) bzw. „alle[r] sinnlichen Begierden“ unter „[d]as Gewissen und die durch göttliche Ueberzeugungen aufgeklärte Vernunft“ die Rede ist (vgl. SpKA II/2, 56, 3 – 9). Für Kant wäre u. a. auf Kant: Religion, S. 30 (in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 23) hinzuweisen.  Vgl. für die antideistische Kontroversliteratur z. B. den der „Summarischen Vorstellung der Beweise des Christentums“ gewidmeten 15. Brief in Lelands Abriß, in dem zu lesen ist, dass das Christentum „die Wurzel unserer Unordnungen […] dadurch aus[räutet], daß es uns lehrt, unsere sinnlichen Begierden und Neigungen zu mässigen.“ Und weiter: „[d]as Christenthum gewöhnt uns, die Herrschaft der vernünftigen und moralischen Kräfte über den schlechtern Theil unsers Wesens, des Geistes über das Fleisch, zu behaupten.“ (Vgl. Leland: Abriß I, S. 578). Zu verweisen wäre aber etwa auch auf Bensons Ausführungen zum Lob- und Dankgebet, denen zufolge das Gebet des Menschen „vergeblich und sein Hoffen eitel“ ist, „wenn er nicht die Seele dem Leibe, die vernünftigen Vergnügungen den sinnlichen, und die Ewigkeit der gegenwärtigen Zeit vorziehet“ (vgl. Benson: Abhandlungen, S. 352). Für Eberhard wäre beispielsweise Eberhard: AThDE, S. 165 f. oder auch Eberhard: AThDE, S. 233 f. zu nennen: „Ordnung und Regelmäßigkeit in den Begehrungsvermögen macht einen tugendhaften, das Gegentheil einen lasterhaften Charakter.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Schleiermachers ersten Predigten auszumachenden ethischen bzw. religionstheologischen Gedankens nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Spaldings Religionstheologie kommt damit insgesamt nichtsdestoweniger die Bedeutung eines für die (religions‐)theologische Entwicklung Schleiermachers wesentlichen und maßgeblichen Faktors zu, der allerdings im Kontext einer ganzen Reihe von auf Schleiermachers Entwicklung mehr oder weniger einwirkenden religionsphilosophischen und religionstheologischen Einflüssen zu sehen und zu verstehen ist.

II.2.1.7.4 Die Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt – eine Verhältnisbestimmung Festzustellen war in Schleiermachers Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ in philosophischer Hinsicht zunächst einmal eine deutliche Anlehnung an Johann August Eberhards „Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens“. So findet sich der Eberhardsche Übergang von Gefühlen bzw. Empfindungen in Gedanken und, letztlich für die Handlungsmotivation entscheidend, von Gedanken wiederum in Empfindungen bei Schleiermacher zwar nicht in theoretischer Reinform wieder, dass Schleiermacher dennoch unverkennbar auf der Grundlage der von Eberhard entwickelten Theorie des Denkens und Empfindens argumentiert, wird an mehreren Stellen deutlich.¹⁰³⁵ Insbesondere zu verweisen ist dabei auf die spezifisch religiöse Ausprägung der zur Handlungsmotivation notwendigen (Rück‐)Überführung von Gedanken in Empfindungen bei Schleiermacher.¹⁰³⁶ Die hier hinsichtlich der Handlungsmotivation zugrunde liegende Zusammengehörigkeit von Denken und Empfinden verweist zudem auf eine Gemeinsamkeit zwischen Schleiermachers und Johann Joachim Spaldings praktisch-philosophischem Denken.¹⁰³⁷ Eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem theologischen bzw. religionstheologischen Denken beider war bereits bei der vergleichenden Untersuchung der Schleiermacherschen Gebetspredigt mit Spaldings Predigt über das Gebet zu beobachten. Letztere bzw. Spaldings religionstheologisches Denken insge-

Diese Ordnung und Regelmäßigkeit kann durch nichts festgesetzt und erhalten werden, als durch Befolgung der Vernunft. Starke Leidenschaften ohne Aufklärung des Verstandes zur Lenkung derselben machen den großen Bösewicht […]“ [Hervorh. i. Orig.].  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 10 – 33 und 142, 26 – 38. Grundlegende Ausführungen hierzu finden sich oben in Abschnitt II.2.1.6.3.  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38, wo die sittliche Unterstützungsfunktion der Religion deutlich zum Ausdruck kommt.  Vgl. z. B. Spaldings Predigt „Über das wahre Lob Jesu“ aus dem Jahr 1768 (Johann Joachim Spalding: Über das wahre Lob Jesu [1768], in: Beutel/Drehsen [Hg.]: Wegmarken, S. 49).

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II. Predigtanalysen

samt hatte sich in diesem Kontext, bei allen Unterschieden, doch als ein wesentlich auf Entstehung sowie Konzeption der Schleiermacherschen Predigt „Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu“ einwirkender Faktor erwiesen. Erinnert sei diesbezüglich an die im Abschnitt zum Vergleich mit der Spaldingschen Gebetskonzeption genannten Gemeinsamkeiten der Schleiermacherschen und der Spaldingschen Gebetspredigt¹⁰³⁸ sowie an die im weiteren Verlauf der Untersuchung der beiden Predigten erwähnten Aspekte, die u. a. einen Ausbau Spaldingschen Gedankengutes bei Schleiermacher vermuten lassen.¹⁰³⁹ Neben dieser Relevanz der Spaldingschen Religionstheologie für Schleiermachers Gebetspredigt war nun aber des Weiteren eine Beeinflussung der Schleiermacherschen Gebetspredigt durch die der Bestreitung des Deismus gewidmete, antideistische Kontroversliteratur sowie durch das dieser zugrunde liegende deistische Gedankengut selbst zu beobachten. Die Einwirkung der antideistischen Kontroversliteratur war dabei in Schleiermachers Predigt, v. a. aufgrund der sittlichen Akzentuierung seines Gebetsverständnisses, noch deutlicher auszumachen als etwa in der Spaldingschen Predigt über das Gebet. Diese ließ eine solche Einwirkung ebenfalls erkennen, erwies sich aber aufgrund der Argumentation von der Verbindlichkeit bzw. Sachgemäßheit und Annehmlichkeit des Gebets her als noch stärker von der Halleschen Tradition abhängig. Insgesamt festzuhalten bleibt in diesem Kontext, dass beide Entwürfe, die Spaldingsche und die Schleiermachersche Predigt über das Gebet, sich ganz offensichtlich auf Einwürfe der Religionsphilosophie des Deismus sowie auf diesen Einwürfen entgegengebrachte Argumente der antideistischen Kontroversliteratur beziehen und sich insofern an einem auf dem Hintergrund des Deismus geführten Diskurs über Verbindlichkeit, Nutzen und Wesen des Gebets beteiligen. Davon auszugehen ist deshalb, dass man bei Schleiermacher und Spalding insofern exemplarisch erkennen kann, inwiefern eine Aufnahme deistischen Gedankengutes sowie desjenigen der antideistischen Kontroversliteratur in der zweiten Hälfte bzw. im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in protestantischen Predigten und damit in evangelisch-theologischer Hinsicht stattgefunden hat.¹⁰⁴⁰ Christopher Voigts

 Vgl. oben Abschnitt II.2.1.7.1.  In diesem Zusammenhang ist bei aller Zurückhaltung, da die grundlegende Thematisierung dieses Gesichtspunktes in Schleiermachers Gebetspredigt sicher nicht einseitig und nur auf Spalding zurückgeführt werden kann, u. a. die Schilderung des sittlichen Vorteils bzw. der sittlichen Wirkungen des Gebets in SpKA II/2, 77, 21– 78, 3 zu nennen.  Wünschenswert und m. E. sicher weiterführend wäre in diesem Zusammenhang eine breitere Untersuchung protestantischer Predigten aus dem fraglichen Zeitraum auf ihre Berührungen mit deistischem Gedankengut sowie mit demjenigen der antideistischen Kontroversliteratur hin.

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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anhand der Untersuchung von deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts gewonnenes Ergebnis, dass sich „die Diskussionen mit den Widerlegungsschriften“ gegen den englischen Deismus als „für die Entstehung der deutschen philosophischen und theologischen Aufklärungskultur“ „produktiv erwiesen“ haben, kann insofern ohne Weiteres bestätigt werden. Ein über Voigts Ergebnisse hinausweisender Befund ergibt sich allerdings, wenn man die Positionierung von Schleiermacher und Spalding auf Seiten der „Nachdenkenden“ sowie die gesamte argumentative Bearbeitung der Gebetsfrage in den beiden Predigten als eine konstruktive Aufnahme des deistischen Postulats des „freethinking“ versteht, was m. E., wie oben zu sehen war, nahe liegt. Denn eine solch konstruktive Aneignung ursprünglich offensichtlich deistisch geprägten Gedankenguts verweist entgegen den Schlussfolgerungen Voigts darauf, dass die englisch-deistische Literatur selbst – und nicht nur die Widerlegungsschriften gegen diese Literatur – in der Diskussionslage, in die hinein sowohl Spalding als auch Schleiermacher predigten, nicht nur „präsent“ war, sondern durchaus auch bereits eine gewisse Wirkung gezeitigt hatte.¹⁰⁴¹ Für die vorliegende Predigt lässt sich damit festhalten, dass hier eine Diskussion zwischen relevanten zeitgenössischen praktisch-philosophischen und religionsphilosophischen Positionen, wie sie insbesondere in den literarischen Äußerungen des unter dem Namen „Deismus“ gefassten religionsphilosophischen Phänomens begegnen, einerseits und relevanten zeitgenössischen religionstheologischen Überzeugungen, wie sie insbesondere Spalding und die antideistische Kontroversliteratur repräsentieren, andererseits geführt wird, die in gewisser Weise auf eine Vermittlung beider Seiten zielt. Dass der Schwerpunkt  Voigt: Deismus, S. 212 kommt zu folgendem Ergebnis: „In Diskussionen, die für die Entstehung der deutschen philosophischen und theologischen Aufklärungskultur zentral waren, war die englisch-deistische Literatur präsent. Und sie war in diesen Diskussionen wirkungslos. Soweit Begründungsleistungen überhaupt in den Blick kamen, hat man sie sich nicht angeeignet. Als produktiv erwiesen sich dagegen die Diskussionen mit den Widerlegungsschriften.“ Anders als Voigt votieren in diesem Zusammenhang auch Günter Gawlick und Ulrich Dreesman. Gawlick geht davon aus, dass der Deismus in England „so stark [war], daß er das geistige Klima in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmen konnte“, und in der Konsequenz dessen dann auch davon, dass „[v]on England […] daher starke Impulse ausgegangen [sind], die in Frankreich und Deutschland aufgenommen und verarbeitet worden sind“ (vgl. Gawlick: Deismus als Grundzug, S. 18). Ulrich Dreesman verweist darauf, dass „[b]ereits F.A.G. Tholuck und G.V. Lechler […] die These vertreten [haben], daß der um 1750 greifbare Neuansatz in der deutschen evangelischen Theologie“, also die Neologie, der auch Spalding zuzurechnen war, „auf eine intensive Auseinandersetzung mit der westlichen Aufklärung, genauer: dem angelsächsischen Deismus und Antideismus zurückzuführen sei.“ (Vgl. Dreesman: Aufklärung der Religion, S. 21). Ulrich Barth schließlich kann, wie oben bereits dargelegt wurde, eine „deistische[…] Komponente“ in Spaldings Werk nachweisen (vgl. Barth: Mündige Religion, S. 220 und SpKA I/3, 104, 36 – 105, 37).

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II. Predigtanalysen

dieser Vermittlung religionstheologischer Überzeugungen mit Fragen der zeitgenössischen Religionsphilosophie deutlich auf Seiten der Religionstheologie zu stehen kommt, bzw. dass die Diskussion von Schleiermacher zwar in sympathisierender Weise, nichtsdestotrotz aber eindeutig von seiner christlichen Religiosität und Religionstheologie her geführt wird, konnte in den vorangehenden Darlegungen des hier zum Abschluss kommenden Abschnittes zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt oder „‚ob ein Deist […] Prediger sein könne‘“ gezeigt werden.¹⁰⁴² Geht man nun mit Emanuel Hirsch davon aus, dass es das Ziel der zur „Neologie“ zu rechnenden Theologen des 18. Jahrhunderts in Deutschland war, „mit der wissenschaftlichen Bildung ihres Volkes und ihrer Zeit mitgehend, die theologische Lehrart aufzubessern“,¹⁰⁴³ bzw. dass es geradezu deren „Programm“ war, „christlichen und kirchlichen Sinn mit menschlich weitem Bildungshorizont zu verbinden und von ganz einfachen Grundsätzen her die christliche Lehre neu zu ordnen“,¹⁰⁴⁴ und vollzieht man in Verbindung damit Walter Sparns Charakterisierung der für die theologische Aufklärung insbesondere ab „Mitte“ des 18. Jahrhunderts in Deutschland sowie für deren erschließenden Zentralaspekt einer „Ausarbeitung der aufgeklärt-frommen Subjektivität“ typischen theologischen Kennzeichen nach,¹⁰⁴⁵ so wird man auf diesem Hintergrund auch noch den Schleiermacher der ersten Predigten, bei aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich dieser Klassifizierung,¹⁰⁴⁶ als Vertreter der „Neologie“ bezeichnen können. Denn,

 Zu vergleichen wäre der gesamte Abschnitt II.2.1.7 der vorliegenden Untersuchung. Verwiesen sei an dieser Stelle ganz grundlegend nur noch einmal auf die Implikationen der Schleiermacherschen Sendungs- und Vorbildchristologie oder auch auf die ganz grundsätzlich am Gebet im Namen Jesu orientierte, den sittlichen bzw. innerpsychischen Nutzen hervorhebende und damit deutlich gegen die Einwürfe von deistischer Seite votierende, Verteidigung der Gebetspraxis in Schleiermachers Predigt über das Gebet.  Vgl. Hirsch: Geschichte IV, S. 8.  Vgl. Hirsch: Geschichte IV, S. 18 [Hervorh. i. Orig.]. Zu vergleichen wäre dazu auch Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 41: „Zur Verknüpfung von Religion und Leben, an der die theologische Aufklärung arbeitet, gehört nicht zuletzt die Verflechtung der Theologen selbst mit der gebildeten Umwelt.“  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 38 – 50, die Zitate befinden sich auf S. 38.  Albrecht Beutel weist darauf hin, dass der Begriff der „Neologie“ zeitgenössisch eher als „abschätzig[e]“ Fremdbezeichnung verwendet wurde und erst ab dem 20. Jahrhundert „als wertneutrale Bezeichnung für die reife Gestalt der Aufklärungstheologie“ galt. Zudem ist laut Beutel einschränkend darauf hinzuweisen, dass dieser „Ausdruck kein epochenspezifisches Notat mit sich führt“, also für eine gewisse Spannbreite von theologischen Positionen und Überzeugungen steht, und von daher im Grunde lediglich „aus pragmatischen Gründen“ beibehalten werden sollte (vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium [UTB 3180], Göttingen 2009 [Beutel: Kirchengeschichte der Aufklärung], S. 112 f.; zu

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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die theologischen Kennzeichen beispielsweise, auf die Sparn als für die Neologie bzw. als für die hier in Betracht kommende Phase der theologischen Aufklärung typisch verweist, begegnen weitestgehend auch in Schleiermachers ersten Predigten. An nicht zu übersehenden theologischen Gemeinsamkeiten wären in diesem Zusammenhang zu nennen: zunächst einmal der bei Sparn den Charakter der theologischen Aufklärung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland erschließende Zentralaspekt der verstärkten Wahrnehmung der „aufgeklärtfrommen Subjektivität“ selbst,¹⁰⁴⁷ der insbesondere im Vergleich des Schleiermacherschen Gebetsverständnisses mit den von Leland referierten Chubbschen Einwänden gegen das Gebet sowie mit der Bensonschen Gebetskonzeption aufgrund von Schleiermachers strikter Ausrichtung seiner Argumentation auf die beim Gebet stattfindenden, den sittlichen Nutzen des Gebets zum Ausdruck bringenden, innerpsychischen Vorgänge festzustellen war. Weitere Anklänge der Schleiermacherschen ersten Predigten an die bei Sparn als für die Neologie typisch bezeichneten theologischen Kennzeichen sind: der „praktische[…] Charakter“ der Religion, der „‚auf Besserung und Gottseligkeit, als auf den hauptsächlichen Zweck der Religion‘“¹⁰⁴⁸ bzw. auf eine Religion, „die sich in einer allgemeinen Wohlthätigkeit und Menschenliebe thätig macht“,¹⁰⁴⁹ hinzielt, die in charakteristischer Weise auf die „Beförderung moralischer Vollkommenheit und innerer Glückseligkeit“ abzielende¹⁰⁵⁰ „‚optimistische[n]‘ Anthropologie“,¹⁰⁵¹ die sich sowohl auf die Sittlichkeit als auch auf die Religion beziehende „Erfahrungsforderung“,¹⁰⁵² die grundsätzliche pädagogische Ausrichtung¹⁰⁵³ sowie zumindest ansatzweise die Reduzierung der „überlieferten“ religiösen „Inhalte auf vergleichen wäre dazu auch ders.: Aufklärung II. Theologisch-kirchlich 4. Deutschland c), RGG4 Bd. 1, Sp. 945).  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 38.  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 39, mit Bezugnahme auf Spaldings „Nutzbarkeit des Predigtamtes“ (SpKA I/3, 144, 8 – 11).  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 39, mit Bezugnahme auf Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Erster Theil, Frankfurt und Leipzig 41772, S. 323: „Dieß ist unsre Religion; die Liebe Gottes, die sich in einer allgemeinen Wohlthätigkeit und Menschenliebe thätig macht.“  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 48.  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 45.  Diese wird bei Schleiermacher beispielsweise im Zusammenhang mit einem Argumentationsgang für den Nutzen des Gebets deutlich: „So hat ein wahres aufrichtiges Gebet um Besserung nicht erst nöthig daß ihm eine fremde Kraft von außen beigelegt werde; eben so wenig ist es unnüz; man braucht nur die Probe davon gemacht zu haben, um zu wissen, wie es seine eigne Belohnung bei sich führt, in der Wirkung welche es unmittelbar in dem Herzen des betenden hervorbringt.“ (Predigt Nr. 14, KGA III/3, 143, 7– 12).  Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 39.

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II. Predigtanalysen

ihre Eignung dafür, im Gemüt der Zuhörer deren eigene Vorstellungen und Betrachtungen lebendig zu machen“,¹⁰⁵⁴ was zusammengenommen mit der praktisch-sittlichen Ausrichtung u. a. zur Zurückhaltung gegenüber der Satisfaktionslehre, der reformatorischen Rechtfertigungslehre sowie der Trinitätslehre führt, in christologischer Hinsicht schließlich die Ausbildung einer „‚Philosophie über Christus‘, die ihn als den einzigartigen Gesandten des einen Gottes zur Erlösung seiner Brüder, als Erzieher und Aufklärer beschrieb“. Die Übereinstimmungen dieser theologischen Kennzeichen mit Schleiermachers ersten Predigten sind angesichts der Ergebnisse der Untersuchungen der Schleiermacherschen Examens- und Gebetspredigt nicht von der Hand zu weisen, eine Zuordnung des Schleiermacher der ersten Predigten zur Neologie erscheint daher nicht nur vertretbar, sondern im Grunde als angemessen. Abschließend wäre mit dieser Zuordnung zur Neologie noch einmal eine deutliche Gemeinsamkeit des Schleiermacher der ersten Predigten mit Johann Joachim Spalding, den Hirsch als die „bedeutendste und wirksamste“ und zugleich „eine der ehrwürdigsten und liebenswertesten Gestalten der gesamten deutschen Neologie“¹⁰⁵⁵ oder auch schlicht als „das Haupt der praktisch-kirchlich gerichteten Neologie“¹⁰⁵⁶ bezeichnet, festgehalten und zum Ausdruck gebracht.

II.2.2 Die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum Dass neben der Predigt über das Gebet auch andere der ersten Predigten Schleiermachers Anklänge an Spaldings Predigten erkennen lassen, wurde bereits in Abschnitt II.2.1.7.3 „Bezüge der ersten Predigten Schleiermachers zu Spaldings Religionstheologie“ deutlich. Exemplarisch seien im Folgenden einige inhaltliche Übereinstimmungen benannt, um die Relevanz der Spaldingschen Schriften und Predigten für Schleiermachers erste Predigten abschließend noch einmal Gestalt gewinnen zu lassen. Genannt werden könnte hier zunächst einmal die enge Verbindung zwischen „Vernunft und Schrift“, die bei Schleiermacher als Mittel zur Prüfung der Religionswahrheiten begegnet.¹⁰⁵⁷ Bei Spalding findet sich beispielsweise in seiner Vorrede zu den Neuen Predigten die konstitutive Bedeutung des Verstandes für

 Vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 40.  Hirsch: Geschichte IV, S. 15.  Hirsch: Geschichte IV, S. 30.  Vgl. Schleiermachers Predigt „Worin die Pflichten des Christen in Absicht auf die Berichtigung seiner Religionserkenntnisse bestehn“ (Predigt Nr. 17, KGA III/3, 169, 27– 35 in Verbindung mit 170, 23 – 25; das Zitat entstammt 170, 24 f. [Hervorh. i. Orig.]).

II.2 Das Verhältnis zur Theologie der Aufklärung

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Hermeneutik und Schriftverständnis.¹⁰⁵⁸ In seiner Predigt „Über das wahre Lob Jesu“ aus dem Jahr 1768 thematisiert er den „vernünftigste[n] Verstand“ der heiligen Schrift.¹⁰⁵⁹ Das Thema der „allgemeinen Menschenliebe“, auf dem der Fokus der Schleiermacherschen Weihnachtspredigt „Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit“ liegt,¹⁰⁶⁰ begegnet auch in Spaldings Predigten mehrfach.¹⁰⁶¹ In Spaldings „Bestimmung des Menschen“ lassen sich schließlich weitere inhaltliche Bezüge zu den ersten Predigten Schleiermachers feststellen. Neben der auch in Schleiermachers Gebetspredigt begegnenden Einübung in die bzw. Pflege der Andacht sowie dem Gedanken, dass das Gebet, wie Schleiermacher formuliert, den Blick „weit über die gewöhnliche menschliche Sphäre“ hinaus eröffnet,¹⁰⁶² wäre da beispielsweise der Gedanke zu nennen, dass „eine Zeit seyn [muß], da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt“.¹⁰⁶³ Insbesondere auffällig aber ist die in der „Bestimmung des Menschen“ zu findende Überlegung, dass der Gedanke des Fortbestehens der menschlichen Seele in der Ewigkeit die Furcht vor dem Tod nimmt.¹⁰⁶⁴ Bei Schleiermacher ist diese Überlegung konstitutiver Bestandteil der Osterpredigt „Von dem Siege, den Christus durch seine Auferstehung über den Tod davon getragen“.¹⁰⁶⁵ Weitere Anklänge sind dem Abschnitt II.2.1.7.3 der vorliegenden Untersuchung zu entnehmen.

 Vgl. Spaldings Vorrede in SpKA II/2, S. 4 f.  Vgl. Johann Joachim Spalding: Über das wahre Lob Jesu [1768], in: Beutel/Drehsen [Hg.]: Wegmarken, S. 51 f.  Vgl. Predigt Nr. 5 Am 25. Dezember 1791, KGA III/3, S. 38 – 51.  Vgl. beispielsweise die Spaldingschen Predigten „Die gemeinschaftliche Verbindung der Menschen untereinander“ (SpKA II/2, 158, 19 – 24) und „Die Bereitwilligkeit zu helfen“, in der „das Gefühl der Religion und der Menschenliebe“ als zusammengehörig betrachtet werden (SpKA II/2, 251, 8 – 11).  Vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 138, 22– 33; das Zitat findet sich an späterer Stelle: 142, 38 – 143, 1. Für Spalding wäre auf den Anhang „Der […]vernünftige[…] Werth der Andacht“ zu seiner „Bestimmung des Menschen“ zu verweisen (vgl. SpKA I/1, S. 224– 245, insbesondere S. 231, wo die Andacht „als die würdigste und edelste Erhebung der menschlichen Seele“ bezeichnet wird).  Vgl. SpKA I/1, 169 und folgende Formulierung in Schleiermachers Adventspredigt „Daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben“: „Wenn wir unsern Verstand mit dem Gedanken beruhigen können, daß eine Zeit bevorsteht, wo die Ungleichheiten dieser Welt sollen ausgeglichen werden,wo jeder empfahen wird nach seinen Werken,wo auch das in Anschlag kommt, was in dem Herzen eines jeden verschloßen gewesen […]“ (Predigt Nr. 2 Am 12. Dezember 1790, KGA III/3, 18, 1– 7).  Vgl. SpKA I/1, S. 189 u. S. 191.  Vgl. Predigt Nr. 12, KGA III/3, 122, 21– 34 und 125, 24– 126, 8.

240

II. Predigtanalysen

II.3 Schleiermachers erste Predigten im Kontext seiner frühen philosophischen Studien und literarischen Unternehmungen In einem dritten Schritt soll nun eine vergleichende Untersuchung innerhalb des Schleiermacherschen frühen homiletischen und philosophischen Werkes selbst stattfinden. Diese vergleichende Untersuchung zwischen ersten Predigten und frühen philosophischen Studien sowie literarischen Unternehmungen wird jedoch angesichts der Fülle des Materials nur exemplarisch durchgeführt werden können. Einer überblicksweise arbeitenden methodischen Vorgehensweise wird damit die detaillierte Analyse zweier einzelner Texte vorgezogen, die sich auf besondere Weise dazu anbieten, das Verhältnis von Theologie und Philosophie in den ersten Predigten in Hinblick auf die frühen philosophischen Schriften Schleiermachers zu beurteilen. Denn als Textgrundlage ausgewählt wurden die Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ aus dem Jahr 1792 und das überlieferte Fragment der philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“, die Briefzeugnissen zufolge eine enge, im Grunde literarische Abhängigkeit, miteinander verbindet.¹⁰⁶⁶ Ergänzt werden wird das Ergebnis dieser vergleichenden Untersuchung durch den Blick auf zwei weitere der ersten Schleiermacherschen Predigten, die Thema und Inhalte betreffend eine große Nähe zu den beiden detailliert untersuchten Texten aufweisen.

II.3.1 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319: Die Predigt „Die wahre Schäzung des Lebens“¹⁰⁶⁷ zum alttestamentlichen Predigttext Ps 90,10,¹⁰⁶⁸ Neujahrspredigt, gehalten am 01. 01. 1792¹⁰⁶⁹ II.3.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt Die Datierung dieser Neujahrspredigt kann anhand einiger überlieferter Anhaltspunkte eindeutig vorgenommen werden. Bereits Dilthey bemerkte, dass diese

 Belege hierfür können dem folgenden Abschnitt II.3.1.1 Zum historisch-biographischen Ort der Predigt entnommen werden.  Vgl. SW II/7, 135, 1– 4 (das kursiv Gesetzte ist in der Vorlage als Überschrift hervorgehoben) und KGA III/3, S. 52.  Vgl. KGA III/3, S. 52 sowie Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 37 und SW II/7, 135, 3 sowie P 319, 01.01.1792, SW II/7, 137, 16 – 20.  Die Nummerierungen der Predigten unter „Nr.“, gegebenenfalls mit folgender Nennung des Datums „Am […]“, entsprechen der Edition der bis in das Jahr 1808 zu datierenden Predigten

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

241

Predigt in Schleiermachers Briefwechsel erwähnt wird.¹⁰⁷⁰ Es handelt sich dabei um einen Brief an seinen Studienfreund Heinrich Catel vom 24.05.1792¹⁰⁷¹ sowie um das Fragment eines Briefes von Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch vom 26.06.1792, in dem dieser die erbetene Beurteilung zweier Predigten Schleiermachers vornimmt. Eine dieser beurteilten Predigten ist die Neujahrspredigt, zu der Schleiermacher offensichtlich bereits den „Vorsaz“ geäußert hatte, sie „zu erweitern“ und „die Ideen noch mehr zu entwikkeln“.¹⁰⁷² Der im Mai 1792 an Catel geschriebene Brief nennt als einen wesentlichen Inhalt der „lezten Neujahrspredigt“ Schleiermachers, dass „niemand ein elysisches Leben führen kann, als wer es sich macht“,¹⁰⁷³ und verweist damit inhaltlich auf die Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“. Der Brief von Stubenrauch vom Juni 1792 spricht von derselben Neujahrspredigt, da Schleiermacher, wie u. a. ebenfalls seinem Briefwechsel zu entnehmen ist, eben diese Neujahrspredigt mit dem Titel „Die wahre Schäzung des Lebens“ kurz darauf zu einer philosophischen Studie ausgestaltete, die den Titel „Über den Wert des Lebens“ trägt.¹⁰⁷⁴ Eine Datierung der Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ auf das Jahr 1793, wie sie die Sydowsche Veröffentlichung der Predigt in der Predigtsammlung SW II/7 vornimmt,¹⁰⁷⁵ erweist sich damit als schlicht ein Jahr zu spät angesetzt.¹⁰⁷⁶ Die Nähe Schleiermachers in KGA III/3. Die Nummerierungen der Predigten unter „P“ entsprechen von Meding (Bearb.): Bibliographie, S. 331– 342. Die Titel bzw. Themen der Predigten sind SW II/7 entnommen, Sydow hat sie gemäß der Themenformulierung Schleiermachers im jeweiligen Einleitungsteil der Predigten formuliert. Die Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319 findet sich in KGA III/3, S. 52– 65 bzw. in SW II/7, S. 135 – 152. Zur Datierung der Predigt ist auf KGA III/3, S. 52, auf Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXIV, Anm. 175, auf die Anmerkung zu Brief 179, 20, in: KGAV/1, S. 247, auf von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331 und auf die in der vorliegenden Arbeit unmittelbar folgenden Ausführungen zum historisch-biographischen Ort der Predigt zu verweisen.  Vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 46 f. und Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg.v. Wilhelm Dilthey, Bd. 3, Berlin 1861 [In Briefen III], S. 43 – 47.  Vgl. Brief 179, 17– 20 sowie die Anmerkung zu Brief 179, 20, in: KGA V/1, S. 247.  Vgl. Brief 183, 16 – 27, in: KGA V/1, S. 252.  Vgl. Brief 179, 17– 20, in: KGA V/1, S. 247.  Für den Nachweis der Zusammengehörigkeit der beiden Texte „Die wahre Schäzung des Lebens“ und „Über den Wert des Lebens“ sowie für die die philosophische Studie betreffenden Datierungsfragen ist auf den Abschnitt II.3.1.7„Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt“ zu verweisen.  Vgl. SW II/7, 135, 4 und dazu Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 46. Sydows Beobachtung, dass die Predigten X – XII, in KGA III/3 die Predigten Nr. 5 – Nr. 7 und nach von Meding die Nummern P 318 – P 320, aufgrund der verwendeten Schreibmaterialien eine zusammenhängende Gruppe bilden müssen, an die sich ein zugehöriges Predigtfragment mit der der

242

II. Predigtanalysen

der in dieser Predigt gegebenen Definition des Bösen¹⁰⁷⁷ zu Kants Religionsschrift bzw. zu deren erstem, im April 1792 in der „‚Berlinischen Monatsschrift‘“ veröffentlichten Teil,¹⁰⁷⁸ kann daher nicht mit dem Text der Religionsschrift zusammenhängen, sie wird vielmehr in Verbindung mit der schon vor dem Neujahrstag 1792 erschienenen Kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bzw. der Kritik der praktischen Vernunft zu verstehen sein.¹⁰⁷⁹ Die Datierung auf Neujahr 1792 verweist die Entstehung der Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ in Schleiermachers Schlobittener Zeit.¹⁰⁸⁰ In Schlobitten war Schleiermacher vom 22. Oktober 1790 bis zum Mai 1793 als Hauslehrer bei der gräflichen Familie zu Dohna beschäftigt.¹⁰⁸¹ Schleiermacher erlebte hier glückliche Zeiten,¹⁰⁸² bevor ein „Zerwürfnis mit dem Schlobittener

Überschrift zu entnehmenden Datierung des 29.03.1793 anschließt (vgl. das Vorwort des Herausgebers in SW II/7, S. XIIIf.), erfordert nicht zwingend, dass Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792 bzw. P 319 aus dem Jahr 1793 stammen muss. Genausogut kann die Predigt aufgrund dieses Befundes auch auf das Jahr 1792 zu datieren sein. Denn durch die Überschrift des sich anschließenden zugehörigen Predigtfragments ergibt sich nur ein terminus ante quem der zusammengehörigen Predigtgruppe, von einem terminus a quo ist hier nicht die Rede. Die ganze Predigtgruppe kann also gut auch diesem Befund entsprechend ein Jahr vor Sydows Datierung anzusetzen sein, wovon die vorliegende Untersuchung ebenso wie KGA III/3 und Wichmann von Meding ausgeht (vgl. KGA III/3, S. 52 und Von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 331).  Gleiches gilt für die Datierung der Predigt bei Wolfgang Trillhaas (vgl. Trillhaas: Schleiermachers Predigt, S. 212).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Zu den Fragen der Veröffentlichung ist auf Kant: Religion, S. XXXIf. zu verweisen. Relevante inhaltliche Passagen finden sich beispielsweise in Kant: Religion, S. 19 (in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 7), S. 23 (in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 12) und S. 29 f. (in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 20 – 24).  Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ erschien 1785 (vgl. Bernd Krafts und Dieter Schöneckers Einleitung in Kant: Grundlegung, S. XI), Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ erschien mit dem Druckjahr 1788 im Dezember 1787 (vgl. Heiner F. Klemmes Einleitung in KpV, S. IX). Ein Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann aus dem Dezember 1789 beweist, dass Schleiermacher die „Kritik der praktischen Vernunft“ zu diesem Zeitpunkt bereits kannte (vgl. Brief 128, 266 – 274, in: KGA V/1, S. 177), die Kenntnis der „Grundlegung“ belegt m. E. ebenfalls ein Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann, dieser vom Februar 1790 datierend (vgl. Brief 134, 29 – 2, in: KGA V/1, S. 190 f.).  Von Meding datiert diese Predigt ebenfalls, u. a. mit dem Hinweis auf Sydows eigene Beobachtung, dass die Predigten P 318 – P 320 eine Einheit bildeten, auf den 1. Januar 1792 (vgl.Von Meding [Bearb.]: Bibliographie, S. 296 und S. 331).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. XXV – XXVIII.  Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang auf Schleiermachers Schilderung seiner Zöglinge und seines Tagesablaufes für seinen Freund Heinrich Catel in einem Brief vom Dezember 1790 (vgl. Brief 149 vom 17.12.1790, in: KGA V/1, S. 204– 211), aber auch auf einen Brief an seinen Vater, der vom 5. Mai bis zum 16. August 1791 datiert. Dort beschreibt er sein Leben in Schlobitten

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

243

Hausherrn Alexander zu Dohna“,¹⁰⁸³ das sowohl die pädagogischen Ansichten betreffende als auch in Schleiermachers Sympathie für die Französische Revolution wurzelnde politische Gründe gehabt haben dürfte,¹⁰⁸⁴ zu Schleiermachers Weggang aus Schlobitten führte.

II.3.1.2 Zur liturgischen, jahreszeitlichen oder kasualen Redesituation Die liturgische, jahreszeitliche oder kasuale Redesituation dieser Predigt erhellt, wie der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt¹⁰⁸⁵ in Verbindung mit der gerade dargestellten Datierung entnommen werden kann, aus dem Anlass des Begehens des Neujahrstages des Jahres 1792.

II.3.1.3 Zu Inhalt und Struktur der Predigt Die „allgemeine Einleitung“ der Predigt nimmt den „Uebergang in ein neues Jahr des Lebens“ zum Ausgangspunkt, um das aus diesem Anlass übliche menschliche Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft zu thematisieren: Der Gehalt beider wird dabei gemeinhin einerseits hinsichtlich ihrer Freuden und Leiden, andererseits hinsichtlich ihres Potentials an guten Handlungen bzw. Schwächen des Bilanz ziehenden und in die Zukunft blickenden Menschen beurteilt.¹⁰⁸⁶ Das scheinbar alle Menschen hierbei verbindende „ruhige[…] Gefühl der Dankbarkeit über das vergangene“ und die mit diesem einhergehende „frohe Hofnung über die Zukunft“ erweist sich bei näherem Hinsehen nun allerdings als keineswegs allgemein voraussetzbar, mit typisierenden Beispielen belegt Schleiermacher vielmehr die verschiedenen Möglichkeiten, wie sich die meisten Menschen über das Verhältnis der von ihnen erlebten Freuden und Leiden sowie über die Güte ihrer Handlungen zu täuschen pflegen.¹⁰⁸⁷ Dass nun aber so „wenige […] der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren“ lassen und „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[gehn]“, führt Schleiermacher darauf zurück, dass „das menschliche Leben“ im Allgemeinen nicht „von allen Seiten“ betrachtet und u. a. folgendermaßen: „Es sind alles so gute Menschen und es ist eine so lehrreiche und zugleich eine so liebe Schule. Mein Herz wird hier ordentlich gepflegt und braucht nicht unter dem Unkraut kalter Gelehrsamkeit zu welken, und meine religiösen Empfindungen sterben nicht unter theologischen Grübeleien. Hier genieße ich das häusliche Leben, zu dem doch der Mensch bestimmt ist, und das wärmt meine Gefühle.“ (Vgl. Brief 160, 162– 168, in: KGA V/1, S. 221).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. XXVIII.  Vgl. Nowak: Schleiermacher, S. 57 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 53, 36.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 11.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 11– 53, 26.

244

II. Predigtanalysen

„sein[…] Werth und Einfluß“ in der Konsequenz dessen dann nicht richtig beurteilt bzw. geschätzt wird.¹⁰⁸⁸ Auf dieses erste Anklingen des Themas sowie der Grundlagen sowohl der Disposition als auch der Intention der Predigt folgt der Predigttext, Ps 90,10. Unter Abweisung zweier gängiger Missinterpretationen dieses Textes, die sich der Einstellung, das irdische Leben entweder zu gering oder aber zu hoch zu schätzen, verdanken, ergibt sich laut Schleiermacher in der konsequenten Orientierung an der Erforschung des „Sinn[s]“ des Predigttextes die Disposition der vorliegenden Predigt: im ersten Teil des Hauptteils soll untersucht werden, „wie überhaupt das menschliche Leben zu beurtheilen sei“, der zweite Teil des Hauptteils wird sich dann damit beschäftigen, „was das Ende dieser Untersuchung unsern Empfindungen am heutigen Tag für eine Richtung gibt“.¹⁰⁸⁹ Den ersten Teil des Hauptteils der Predigt beginnt Schleiermacher daraufhin mit einer Präzisierung der zu behandelnden Fragestellung „was das menschliche Leben zu schäzen sei“: Nicht der „Werth der menschlichen Seele, und des menschlichen Daseins überhaupt“ stehe hier zur Debatte, sondern die Frage, „wie die Verfassung, in welche wir auf dieser Erde gesezt sind[,] der Natur unserer Seele angemessen, in wie fern sie im Stande sei unsern natürlichen Trieb nach Wolseyn und Glük zu befriedigen und uns unsrer großen Bestimmung zu nähern“.¹⁰⁹⁰ Hinsichtlich der Frage nach „Wolseyn und Glük“ bzw. nach der irdischen Glückseligkeit des Menschen wird nun in einem ersten Schritt festgestellt, dass das Leben, sowohl aus dem Inneren des Menschen selbst als auch aus den äußeren Umständen entspringende, „wahre Freuden und Glükseligkeit für uns […] in der Ordnung der Dinge“ bereithält, dass es diesen Freuden entsprechend nun aber natürlicherweise auch, in der Vergänglichkeit oder Unvollkommenheit der Dinge begründete, „wahre Leiden“ zu erdulden gibt.¹⁰⁹¹ Die gängige Annahme der ungleichen Verteilung dieser wahren Freuden und Leiden unter den Menschen wird nun allerdings in einem zweiten Schritt als unbegründet dargelegt. U.a. anhand der Beispiele von „Reichthum und Ansehn“, „Macht und Gewalt“ sowie „ausgebreitete[n] Kenntniße[n]“ wird entwickelt, dass sich „alle[…] Verhältniße[…] des Lebens […] in Absicht des Glüks das sie möglich machen, und des Leidens, das sie herbeiführen[,] so ziemlich das Gleichgewicht halten.“ Lediglich „die Gestalt der Freuden und Leiden“ sei unterschiedlich, „das Verhältniß derselben“ zueinander aber „findet sich überall als das nemliche“. Alle diesbezüglich dennoch festgestellten Ungleichheiten sind von daher letztendlich auf die „Stimmung der Seele“ des Menschen bzw. auf dessen „größer[e] oder geringer[e] Fertigkeit das Gute zu    

Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 26 – 36. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 37– 54, 14. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 – 24. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 55, 12 [Hervorh. i. Orig.].

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

245

finden und zu erhöhn, und das Uebel zu vermeiden oder sich zu erleichtern“, zurückzuführen.¹⁰⁹² Die abschließende Frage, ob das Leben letzten Endes mehr „Früchte“ oder mehr „Disteln“ trage, stellt Schleiermacher in einem dritten Schritt dann allerdings als nicht allgemein beantwortbar zurück. Fest stehe allein – womit die im Thema der Predigt gestellte Frage zum ersten Mal mit einer inhaltlichen Bestimmung beantwortet wäre – dass das Leben im Rückblick betrachtet „Mühe und Arbeit“ gewesen ist, „beständiges Streben und Widerstreben, Niederschlagen und aufrichten der Seele“. Das „Uebergewicht des einen über das andere“ betreffend aber gelte, dass es „so gar groß nicht seyn [mag] weil die Schäzung desselben so allein von der Art abhängt wie wir es ansehn“. Mit der Feststellung, dass dieser Sachverhalt belege, dass die dargebotenen Möglichkeiten des Lebens, „unser[n] Trieb nach Glükseligkeit“ zu stillen, nicht den „ganzen Werth“ des menschlichen Lebens „ausmache[n]“ können, leitet Schleiermacher daraufhin zu der entscheidenden zweiten, auf den Bereich der Sittlichkeit zielenden Fragestellung über, „wie fern die Einrichtung“ des Lebens „der Erreichung unserer Bestimmung förderlich ist“.¹⁰⁹³ Auch hier stellt er in einem ersten Schritt dar, dass „die Einrichtung dieses Lebens“ zunächst einmal so beschaffen ist, dass sie „voll von Gelegenheiten unsere Kräfte zu äußern und zu üben, zu erhöhen und zu veredeln“ ist. Die Ansicht aber, „dieses Leben sei für den menschlichen Geist ein Zustand der Verbannung […], wo es ihm nicht möglich sei einen Grad der Vollkomenheit zu erlangen“, beruht laut Schleiermacher auf der irrigen Annahme, „Tugend haben“ zu können „ohne Kampf, was keine Tugend wäre“. Auch hinsichtlich der sittlichen Bestimmung des Menschen gilt von daher, dass die „Schule des Lebens“ in nichts anderem als lebenslangem, „beständigen Streit und Kampf“ besteht, den der Mensch mit der „Kraft“, die in ihm liegt „und den[…] ihm zugegebnen Hülfsmitteln“ zu führen hat – laut Schleiermacher aber auch durchaus mit Erfolg führen kann.¹⁰⁹⁴ In einem zweiten Schritt erfolgt die Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Ungleichheit der Möglichkeiten, die die verschiedenen Verhältnisse des Lebens den Menschen, dieses Mal in sittlicher Hinsicht, zu bieten scheinen. Hier führt Schleiermacher zunächst aus, dass die Größe des Wirkungskreises, die dem Menschen beschieden ist, keinerlei Einfluss auf die Möglichkeiten seiner sittlichen Vervollkommnung hat. „[W]ahrer Maaßstab für die menschlichen Handlungen“ sind eben nicht „der Glanz und die Größe der äußern Folgen“ dieser Handlungen, sondern „das was in der Seele“ des handelnden Menschen „vorgeht und die Kraft die sie anwendet“. Das bzw. die aber kann sich in

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 12– 56, 11.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 12– 36 [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 36 – 57, 35.

246

II. Predigtanalysen

der Pflichterfüllung „jedes denkbare[n] Verhältni[sses] des menschlichen Lebens“ zeigen und üben. Die scheinbare Ungleichheit in Hinblick auf „die Beförderungen und Hinderungen der Besserung des Menschen“, die das Leben zuteile, wird sodann damit widerlegt, dass es „nur ein Böses“ gebe, „wozu der Mensch versucht wird, nemlich daß er irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat.“ „[D]iese Versuchung“ aber wohne „allen Verhältnißen des Lebens in gleichem Maaß bei […]“.¹⁰⁹⁵ Zusammenfassend ergibt sich als Bestimmung des menschlichen Lebens damit, dass es zunächst einmal ein Zustand ist, der jedem Menschen „Freuden genug“ bietet, „um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“, in sittlicher Hinsicht aber als „ein Uebungsplaz, wo bei allen scheinbaren Verschiedenheiten jeder mit gleichen Vortheilen und Nachtheilen auftritt“, zu gelten hat. Im Anschluss an den Predigttext lautet diese Bestimmung des menschlichen Lebens dann schließlich: „Mühe und Arbeit ist es und soll es seyn durch und durch“.¹⁰⁹⁶ Im zweiten Teil des Hauptteils untersucht Schleiermacher, „[w]as diese Schäzung“ des menschlichen Lebens „unsrer heutigen Empfindung für eine Richtung gibt“. In den Blick genommen wird dafür zunächst einmal die „Rükerinnerung“ an die Vergangenheit. In Hinblick auf die Bewertung der erlebten Freuden und Leiden ist hierfür angesichts der Bestimmung des Lebens als „Mühe und Arbeit“ zunächst einmal festzuhalten, dass das vergangene Jahr jedem Menschen ohne Unterschied genug „Annehmlichkeiten“ geboten hat, um dankbar und ohne Neid zurückzuschauen. „Wir sind im voraus überzeugt daß bei andern eine ähnliche Mischung von Freuden und Leiden stattgefunden habe“ und dass wir, auch wenn wir den Eindruck haben, dass die Zeit „so schnell verfloßen ist“, so viel Vergnügen genießen konnten, „als uns bestimmt war“.¹⁰⁹⁷ Hinzu kommt nun die Einsicht, dass der Wert eines vergangenen Lebensjahres nicht vom „Ueberschuß“ des erlebten Vergnügens, nicht von dem, „was wir empfunden haben“, abhängt, sondern „vornemlich nach dem was wir gethan haben“, zu bemessen ist.¹⁰⁹⁸ In den Blick zu nehmen sind deshalb insbesondere die in der Vergangenheit liegenden Handlungen des Menschen. Hinsichtlich dieser gilt zunächst einmal, dass weder aus deren „Summe“ noch der „Art dieser Thätigkeit[en]“ Täuschung oder Missvergnügen entstehen sollte. Das Wissen um die in jedem Verhältnis des Lebens gleichen Möglichkeiten, sittlich bzw. gut zu handeln, sollte vielmehr zu

   

Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 35 – 59, 3 [Hervorh. i. Orig.]. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 22. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 22– 60, 19 [Hervorh. i. Orig.]. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 19 – 29.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

247

„Dankbarkeit und Zufriedenheit“ angesichts dieser Möglichkeiten führen.¹⁰⁹⁹ Die „Güte unserer Handlungen“ betreffend sollte sodann die Kenntnis der Einrichtung bzw. Bestimmung des menschlichen Lebens einerseits zum Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit und Schuld für „unrecht[e]“ Handlungen führen: es gibt „kein Verhältniß des Lebens […], wo man zum Bösen gezwungen es nicht vermeiden könnte.“ Auf der anderen Seite sollte dieser Kenntnis gleichermaßen die Bescheidenheit „bei der Freude über das Gute was wir in der vergangenen Zeit von uns gethan finden“, entsprechen: wir verdanken diese guten Handlungen letztlich den „größeren und kleineren Hülfsleistungen die uns von außen gekomen sind“ bzw. von demjenigen, „der so viele Beförderungsmittel des Guten in das irrdische Leben überhaupt legte, und der den besondern Gang eines jeden mit der liebevollsten Weisheit leitet“. Als Fazit für den Rückblick auf die Vergangenheit ergibt sich von daher die Empfindung eines „ruhigen Wolgefallen[s]“: „Seine Führung hat uns […] an Gelegenheit zur Freude und zum Guten unsern Brüdern gleich und sehr weise bedacht“.¹¹⁰⁰ Dieselbe Empfindung und dieselben Einsichten sollten nun aber auch „unsre Aussicht in die Zukunft“ leiten, denn „es geschieht nichts neues unter der Sonne“ und „die Zukunft wächst aus dem Keim der Vergangenheit hervor und ist ihr ähnlich“.¹¹⁰¹ Auf dem Hintergrund der für alle Menschen gleichermaßen geltenden Bestimmung des Lebens als „Mühe und Arbeit“ ist dem neuen Lebensjahr von daher ohne Neid auf andere, mit froher Erwartung hinsichtlich der kommenden „Menschenfreuden“ und mit gefasster Kampfbereitschaft hinsichtlich der bevorstehenden Leiden entgegenzugehen. In Hinblick auf „uns selbst“, „unsere[…] Besserung“ bzw. „unsere[…] Veredlung“ aber sollten wir unverzagt, „voll eines heiligen Eifers gegen die Schwäche, deren wir uns bewust sind“ und voller „Begierde nach dem Guten was wir bis jezt noch verfehlten“, in die Zukunft sehen. Obwohl wir uns natürlich nicht „[a]uf einmal […] von nun an zu Mustern alles Guten erheben und alle Schwachheiten hinter uns laßen“ werden, können wir uns „dessen […] getrösten“, dass wir „alle unsre Wünsche von der Art in so fern erreichen [werden] als wir sie immer recht ernstlich wollen werden.“¹¹⁰² Der Predigtschluss bündelt daraufhin die beiden Ziele des menschlichen Lebens einerseits in der Aufforderung, „getrost in unser Leben hinaus[zu]sehn“: „überall wird es reich seyn an Aufforderungen Gutes zu thun“, andererseits in der Ermunterung, „[l]aßt uns Freude haben: fühlen wir einen guten Willen und ein demüthiges Herz so werden wir wirklich manche davon besizen“. Den Hinderungen der „irrdische[n] Unvollkommenheit“ aber sollte mit der Gewissheit be   

Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 29 – 61, 13. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 13 – 62, 27. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 27– 63, 10 [Hervorh. i. Orig.]. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 10 – 64, 25 [Hervorh. i. Orig.].

248

II. Predigtanalysen

gegnet werden: „wir müßen nicht unterliegen“. Es folgen zwei weitere Aufforderungen, mit denen Schleiermacher noch einmal auf die Bestimmung des Lebens als „Mühe und Arbeit […], kämpfen und ringen, steigen und fallen“ hinführt. Nach zwei weiteren Mahnungen, dieses Mal: unser Schicksal klaglos anzunehmen, endet die Predigt mit der letztendlichen Aufforderung, im Vertrauen auf den Beistand Gottes, „der auch uns geben wird das Wollen und das Vollbringen“, „von nun an jeden Augenblik anzulegen“.¹¹⁰³ Aus dem hier nachgezeichneten Gedankengang ergibt sich folgende Skizze der Predigtdisposition:

EXORDIUM: Allgemeine Einleitung: Narratio: – Am „Uebergang in ein neues Jahr des Lebens“ zieht „der Mensch gemeiniglich“ Bilanz hinsichtlich „der Vergangenheit […] und macht sich auch schon wieder seine Vorstellungen von der Zukunft“. Maßgeblich für diese Überlegungen sind einerseits die erlebten „Freuden und Genüße[…], Leiden und Widerwärtigkeiten“ der vergangenen Zeit, andererseits die „guten Handlungen“ sowie „Beweise[…] menschlicher Schwachheit“, die der Mensch in dieser Zeit „hervorbrachte“. – Das scheinbar allen Menschen, mit Ausnahme derjenigen, denen „der Stachel des eben jezt quälenden Leidens nicht Ruhe und Unpartheilichkeit läßt“, dabei eignende „ruhige[…] Gefühl der Dankbarkeit über das vergangene“ und die „frohe Hofnung über die Zukunft“ pflegt sich jedoch in einseitigen Fehleinschätzungen der Menschen sowohl hinsichtlich der erlebten Freuden bzw. Leiden als auch hinsichtlich der hervorgebrachten Handlungen zu äußern (drei typisierende descriptiones der Fehleinschätzung von Freuden und Leiden und zwei typisierende descriptiones der Fehleinschätzung der „Thaten“). Vorweggenommene summa, der sowohl Predigtintention als auch Predigtthema zu entnehmen sind: Um „der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren“ zu lassen und „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[zugehn]“ (Predigtintention), ist es nötig,

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 25 – 65, 14.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

249

Thema bzw. propositio ¹¹⁰⁴: „das menschliche Leben […] von allen Seiten zu betrachten und seinen Werth und Einfluß richtig zu schäzen“.¹¹⁰⁵ Text: Ps 90,10 Vom Text ausgehende Hinführung zur Disposition bzw. divisio oder partitio ¹¹⁰⁶: Anticipatio: Abweisung zweier gängiger Missinterpretationen des Predigttextes, diesen einerseits als Ausdruck „allgemeine[r] Geringschäzung“ des Lebens, andererseits als Unmut derer zu verstehen, die die Freuden des Lebens „vielleicht zu hoch schä[tzt]en“ und nun nicht mehr genießen können, voluntas concionatoris: um „[v]on beiden vorgefaßten Meinungen frei“ den „Sinn“ des Predigttextes „zu erforschen“. Daraus ergibt sich als divisio bzw. partitio: I. „[W]ie überhaupt das menschliche Leben zu beurtheilen sei“. II. „[W]as das Ende dieser Untersuchung unsern Empfindungen am heutigen Tag für eine Richtung gibt“.¹¹⁰⁷

ARGUMENTATIO: I. „[W]as das menschliche Leben zu schäzen sei“: I.1 Praeteritio und Präzisierung der quaestio: Nicht zu hinterfragen ist und bleibt der „Werth der menschlichen Seele, und des menschlichen Daseins überhaupt“. Stattdessen geht es darum, zu beurteilen, „wie die Verfassung, in welche wir auf dieser Erde gesezt sind[,] der Natur unserer Seele angemessen“ ist und das heißt „in wie fern sie im Stande sei unsern natürlichen Trieb nach Wolseyn und Glük zu befriedigen und uns unsrer großen Bestimmung zu nähern“.¹¹⁰⁸ I.2 Die Einrichtung der Lebensverhältnisse in Hinblick auf das menschlichen Streben nach Glückseligkeit: I.2.1 Zur Existenz wahrer Freuden und Leiden: – Positio, 1. Teil: Es gibt „wahre Freuden und Glükseligkeit für uns […] in der Ordnung der Dinge“, diese entspringen einerseits „unserm innern“, ande-

    

Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 53, 36. Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 19. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 37– 54, 14. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 – 24.

250

II. Predigtanalysen

rerseits den „Einrichtungen der irrdischen Welt“, wie der „Art des geselligen Lebens“, der „leblose[n] Welt um uns her“ oder „unsre[r] Verbindung mit einem irdischen Körper“. – Negatio: Die „finstere Empfindungsart“, „unsern irdischen Wohnplaz nur als ein Jammerthal zu beschreiben das gar keinen Genuß […] gewähre“, ist eine „Undankbarkeit“ und entspricht nicht dem Predigttext. – Positio, 2. Teil: Es gibt allerdings dessen ungeachtet auch „wahre Leiden“ im menschlichen Leben: „alles was Quelle von Freuden ist“, ist für den Menschen aufgrund von „Vergänglichkeit“ oder „natürliche[n] Unvollkomenheiten auch Ursach mancher entgegengesezten […] wirklichen Leiden“.¹¹⁰⁹ I.2.2 Zur Verteilung der Freuden und Leiden unter den Menschen: – Die scheinbare Ungleichheit der Verteilung von Freuden und Leiden unter den Menschen beruht zum wesentlichen Teil auf „der Stimmung der Seele“ der einzelnen Menschen bzw. auf deren „größern oder geringern Fertigkeit das Gute zu finden […] und das Uebel zu vermeiden“, nicht aber auf den „verschiednen Verhältniße[n]“, in denen die Menschen leben. – Exemplum (vom Predigttext vorgegeben)¹¹¹⁰: Mose hat im Laufe seines Lebens in zahlreichen verschiedenen Verhältnissen gelebt, er spricht in Ps 90,10 aber nicht vom „Leben des Hirten“ oder vom „Leben des Königs“, sondern vom „Leben des Menschen überhaupt“. – Summa mit antithetischen descriptiones: „Nur die Gestalt der Freuden und Leiden die uns die verschiednen Verhältniße des Lebens gewähren ist verschieden, aber das Verhältniß derselben findet sich überall als das nemliche.“ Dem „Reichthum und Ansehn“ beispielsweise entsprechen „manche[r] drükende[…] Zwang“ und die „Zudringlichkeit eigennüziger Menschen“, der „Macht und Gewalt über andre“ entsprechen „Sorgen und Unruhen“, „ausgebreitete Kenntniße“ erfordern „viele mühsam und freudenlos vollbrachte Zeit“. „[A]lle[…] Verhältniße[…] des Lebens“ halten sich daher „in Absicht des Glüks das sie möglich machen, und des Leidens, das sie herbeiführen[,] so ziemlich das Gleichgewicht“.¹¹¹¹

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 55, 12 [Hervorh. i. Orig.].  Die unmittelbare Verbindung der exemplarischen Person des Mose mit dem Predigttext in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 22– 29 lässt darauf schließen, dass Schleiermacher den 90. Psalm noch auf die Verfasserschaft, zumindest aber auf die Lebenserfahrung des Mose zurückführte. In entsprechender Weise erfolgt die Zuordnung dieses Abschnitts zur rhetorischen Kategorie des „exemplum“ in Hinblick darauf, dass Mose hier offensichtlich als Beispiel einer historischen Person angeführt wird.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 12– 56, 11.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

251

I.2.3 Zur Qualität des menschlichen Lebens bzw. zur Frage nach dessen Überschuss an Freuden oder aber an Leiden: – Die Frage, ob im menschlichen Leben die „Früchte oder […] Disteln“, „das gute oder das üble überwiegen[…]“, ist schwer zu beantworten, denn zum Vergleich der aufeinander folgenden Eindrücke fehlt der „rechte[…] Maaßstab“: „Das was auf einander folgt ist zu verschieden um sich vergleichen zu laßen“, zudem wird die Erinnerung durch die Empfindung der jeweiligen Gegenwart beeinflusst. – Metaphora: „So fährt unser Leben dahin, wie ein Strom: so wenig wir an seiner Mündung noch jeden Tropfen erkennen können den wir in seinem Lauf fließen sahn, so wenig können wir jeden Theil unseres Lebens genau unterscheiden, wenn er vorbei ist“. – Summa: Im Rückblick ist lediglich „gewiß“, dass das Leben „Mühe und Arbeit gewesen [ist], beständiges Streben und Widerstreben, Niederschlagen und aufrichten der Seele“. Davon auszugehen ist, dass „das Uebergewicht des einen über das andere“ nicht „so gar groß“ ist, „weil die Schäzung desselben so allein von der Art abhängt wie wir es ansehn“. I.2.4 Transitus: Dieser Befund belegt, dass der „Werth“ des menschlichen Lebens nicht in erster Linie von dessen Potential an Glückseligkeit abhängen kann, sondern „vornemlich“ daran zu bemessen ist, „wie fern die Einrichtung desselben der Erreichung unserer Bestimmung förderlich ist.“¹¹¹² I.3 Die Einrichtung der Lebensverhältnisse in Hinblick auf die Förderung der menschlichen Vervollkommnung bzw. „Erreichung unserer Bestimmung“: I.3.1 Zur Existenz förderlicher Einrichtungen des menschlichen Lebens in Hinblick auf die „Erreichung unserer Bestimmung“: – Negatio: „[F]alsch“ ist es, zu „glauben dieses Leben sei für den menschlichen Geist ein Zustand der Verbannung […], wo es ihm nicht möglich sei einen Grad der Vollkomenheit zur erlangen.“ – Positio: „[D]ie Einrichtung dieses Lebens ist“ vielmehr „voll von Gelegenheiten unsere Kräfte zu äußern und zu üben, zu erhöhen und zu veredeln“. Jeder kann „in seiner Sphäre nach den Gesezen der Religion und Tugend […] zunehmen“ und „seine Fehler […] durch Achtsamkeit und Widerstand […] besiegen“: „Wie hoch kan sich nicht der Mensch emporschwingen!“ (Zwei interrogationes, denen der zitierte Ausruf folgt, der noch einmal durch fünf Anaphern ausdifferenziert wird. Deren Themen sind: die „Leichtigkeit das

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 12– 36 [Hervorh. i. Orig.].

252

II. Predigtanalysen

Gute zu üben“, die „Freiheit von Leidenschaft“, die „Ruhe der Seele“, die „Liebe zu Gott“ und die „Erkentniß heiliger Wahrheiten“). – Praeparatio: Was ist der Grund für die Klage, „das Leben zöge uns zu sehr zur Erde zurük?“ Die Einrichtung des Lebens jedenfalls macht uns keine Tugend „unmöglich“, alle können „durch beständigen Streit und Kampf“ erreicht werden. Die Einrichtung des Lebens „[z]wingt“ uns auch nicht „zum Bösen“, die „Kraft in dem Menschen und den[…] ihm zugegebnen Hülfsmitteln“ reicht, jede Versuchung zu überwinden (zwei anticipationes, jeweils durch eine interrogatio eingeleitet). Die Klage in dieser Hinsicht geht letzten Endes darauf zurück, dass die Klagenden „die Schranken der menschlichen Natur nicht übersteigen […] können“: „Sie möchten Tugend haben ohne Kampf, was keine Tugend wäre“ (insgesamt vier anaphorische descriptiones der über die Gegebenheiten des menschlichen Lebens hinauszielenden „eiteln Wünsche“ dieser Menschen). – Summa: In Hinsicht auf Tugend und Weisheit gilt: „Keiner steht am Ziel! […] Wer noch athmet hat in der Schule des Lebens noch nicht ausgelernt.“¹¹¹³ I.3.2 Zur Verteilung der „Möglichkeit des Guten theilhaftig zu werden“ unter den Menschen: – Die Klage über einen zu geringen „Wirkungskreis“ manches Menschen, um „durch Thätigkeit seine Bestimmung [zu] erreichen“, geht auf Ausreden zurück, denn „Maaßstab für die menschlichen Handlungen“ ist nicht „der Glanz und die Größe der äußern Folgen“ derselben, sondern „das was in der Seele vorgeht und die Kraft die sie anwendet“. „Ein jedes denkbares Verhältniß des menschlichen Lebens“ aber „legt uns Pflichten auf“, durch deren treue Erfüllung wir in dieser Hinsicht „im Guten weiter[…]“ zu kommen vermögen. – „Eben so ungegründet ist die Beschwerde, daß das Leben gar zu partheiisch die Beförderungen und Hinderungen der Besserung des Menschen austheile.“ Denn „[e]s giebt nur ein Böses wozu der Mensch versucht wird, nemlich daß er irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat.“ „[D]iese Versuchung“ aber wohnt „allen Verhältnißen des Lebens in gleichem Maaß bei[…]“. Dass nun aber auch „ein jedes […] Mittel an die Hand“ gibt, „uns herauszuziehn“, lässt das Plädoyer für einen Überschuss der Möglichkeiten zum Guten erkennen.¹¹¹⁴

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 57, 35.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 35 – 59, 3.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

253

I.3.3 Transitus: – Zusammenfassend ist zu sagen, dass der „Zwek“ des Lebens „nicht der Genuß der Annehmlichkeiten ist die e[s] darbietet“, dass es aber genug Freuden bietet, „um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“. In Hinblick auf die Erreichung der menschlichen Bestimmung ist es „ein Uebungsplaz, wo bei allen scheinbaren Verschiedenheiten jeder mit gleichen Vortheilen und Nachtheilen auftritt“. – Summa: Dem Predigttext entsprechend muss das menschliche Leben demzufolge als „Mühe und Arbeit […] durch und durch“ beurteilt werden (mit enumeratio: zwei anaphorische Ausdifferenzierungen der „Mühe“ hinsichtlich von Freuden und Leiden, drei anaphorische Ausdifferenzierungen der „Arbeit“ hinsichtlich der „Fortschritte[…] zum Guten“). – Von hier aus kann nun zu der Frage übergegangen werden,¹¹¹⁵ II. „[w]as diese Schäzung“ des menschlichen Lebens „unsrer heutigen Empfindung für eine Richtung gibt“: II.1 In Hinblick auf die Vergangenheit: II.1.1 Die erlebten Freuden und Leiden betreffend: – An alle Freuden „laßt uns zurükdenken […] als an süße Erquikungen die uns Gott auf unserm Wege geschenkt hat“, voller Dankbarkeit und „ohne neidische Seitenblike“: „Wir sind im voraus überzeugt daß bei andern eine ähnliche Mischung von Freuden und Leiden stattgefunden habe“. – Aus dem Vergleich der vergangenen Zeit mit der „Bestimmung des Lebens“ als „Mühe und Arbeit“ ergibt sich Zufriedenheit: „auf reine unvermischte Glükseligkeit“ haben wir keinen Anspruch, „Annehmlichkeiten“ aber haben wir immer „genug genoßen […] um unsre Seele in Thätigkeit zu erhalten und […] aufs neue zu beleben“. – „Stellt sich uns auf diese Weise der […] angenehme Theil des vergangenen Jahres vornemlich dar, so laßt uns dennoch nicht zu sehr klagen, daß es so schnell verfloßen ist“: ebenso schnell wie die Freuden eilen auch die Leiden vorüber und „[v]on jedem Genuß […] ist uns aller Schnelligkeit ohngeachtet dennoch so viel geworden als uns bestimmt war“. – Transitus: Der Maßstab für die Bestimmung des Lebens ist zudem nicht dessen Überschuss an Vergnügen im Vergleich zu den Leiden, sondern „vornemlich“ das, „was wir gethan haben“, die „Thätigkeit der Seele“ bzw. der „Fleiß im

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 24.

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II. Predigtanalysen

Guten“. Die Bedeutung der erlebten bzw. nicht erlebten Glückseligkeiten ist von daher grundsätzlich zu relativieren.¹¹¹⁶ II.1.2 Die Handlungen bzw. die menschliche Vervollkommnung betreffend: – Hinsichtlich der „Summe“ unserer „guten Thaten“ des vergangenen Jahres unterliegen wir angesichts der vorangegangenen Überlegungen keiner Täuschung, wenn wir uns mit anderen vergleichen: niemand hat „weniger Gelegenheit […] im Guten thätig zu seyn“ als andere Menschen. Der Eindruck einer zu kleinen Summe getaner guter Taten beruht auf eigener „Nachläßigkeit“ oder „Trägheit“, die getanen guten Taten aber dürfen mit „Dankbarkeit und Zufriedenheit“ erinnert werden. – Hinsichtlich der „Art dieser Thätigkeit“ wissen wir und sollen es uns genügen lassen, dass „unser[…] Beruf […], wenn er auch still und unbemerkt ist“, letztlich ebensolche Möglichkeiten bietet sich zu betätigen wie Handlungen, die von „Glanz und […] Größe“ „äußer[er] Folgen“ begleitet werden. – Hinsichtlich der „Güte unserer Handlungen“ wissen wir, dass wir die Schuld an denjenigen, die uns „als unrecht und fehlerhaft“ gelten, bzw. „die Schuld des Bösen“ auf uns selbst zu nehmen und nicht „auf unsere Zustände zu schieben“ haben: Es gibt „kein Verhältniß des Lebens […], wo man zum Bösen gezwungen es nicht vermeiden könnte“. Denn zu jeder Zeit liegen in den Menschen „Kräfte genug“, zudem steht ihnen „die immer bereite Hülfe der Religion“ offen, um dem Bösen zu widerstehen, alle Menschen aber werden „in gleichem Maaß versucht“ und „keiner […] über sein Vermögen“ (in der Form der subiectio: insgesamt drei interrogationes mit zugehörigen Erläuterungen). Bei der „Freude über das Gute was wir in der vergangenen Zeit von uns gethan finden“, macht uns „diese Ueberlegung“ nun aber „bescheiden“: dankbar erinnern wir uns der verschiedenen Gelegenheiten der Besserung, die wir „der liebevollen Führung Gottes“ verdanken, sind uns aber auch dessen bewusst, „daß zu alle diesem Guten […] die Kräfte“ nicht „unbedingt […] immer in unserer Gewalt stehn“. Wir verdanken sie vielmehr den uns „von außen“ zukommenden „Hülfsleistungen“ Gottes und zwar sowohl den „in das irrdische Leben überhaupt“ gelegten zahlreichen „Beförderungsmittel[n] des Guten“ als auch der „den besondern Gang eines jeden“ leitenden Vorsehung Gottes (mit zwei aufeinanderfolgenden interrogationes).

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 23 – 60, 29 [Hervorh. i. Orig.].

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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II.1.3 Summa: „So können wir mit einem ruhigen Wolgefallen in die Vergangenheit bliken. Seine Führung hat uns […] an Gelegenheit zur Freude und zum Guten unsern Brüdern gleich und sehr weise bedacht“.¹¹¹⁷ II.2 In Hinblick auf die Zukunft: II.2.1 „Wer der Vergangenheit hat Gerechtigkeit widerfahren laßen“, der weiß auch die Zukunft richtig einzuschätzen: „die Zukunft wächst aus dem Keim der Vergangenheit hervor und ist ihr ähnlich“, wird also nichts grundlegend Neues,weder an Schlechtem noch an Gutem, mit sich bringen (mit exsuscitatio,¹¹¹⁸ die fünf aufeinander folgende interrogationes aufweist). II.2.2 Den kommenden Freuden ist von daher wie gewohnt froh, den kommenden Leiden mit gefasster Kampfbereitschaft entgegenzugehen. So wird auch das kommende Jahr „Mühe und Arbeit seyn“ und für alle Menschen das „nemliche[…] Joch“ bedeuten, „und nur der ist am besten dran, der es am besten zu tragen weiß“. II.2.3 Hinsichtlich „unserer Besserung“ bzw. „Veredlung“ aber „können wir uns getrösten“, dass wir „alle unsre Wünsche von der Art in so fern erreichen [werden] als wir sie immer recht ernstlich wollen werden.“ Gegen die vergangene „Schwäche“ ist mit „heilige[m] Eifer[…]“ vorzugehen, aus den vergangenen Fehlern ist zu lernen, für die Zukunft sind neue „Maaßregeln […] festzusezen“ und das Gute ist mit „heiße[r] Begierde“ anzustreben, auch wenn wir uns nicht „[a]uf einmal […] von nun an zu Mustern alles Guten erheben und alle Schwachheiten hinter uns laßen“ werden (mit exsuscitatio, die fünf aufeinander folgende interrogationes aufweist, die ersten vier thematisieren in chiastischer Anordnung die jeweils der Vergangenheit und der Zukunft entsprechenden Gedanken und Empfindungen).¹¹¹⁹

PERORATIO: Recapitulatio, Teil 1: – „Laßt uns getrost in unser Leben hinaussehn“: Es wird einerseits „reich seyn an Aufforderungen Gutes zu thun“ und „keine Gewalt da seyn, die uns zurükzwingt“, andererseits werden wir, „fühlen wir einen guten Willen und ein demüthiges Herz […] manche“ Freude erleben.

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 29 – 62, 27.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 841, S. 418.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 27– 64, 25.

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II. Predigtanalysen

Recapitulatio, Teil 2: – Der Versuchung des Bösen müssen wir nicht unterliegen: „laßt uns wachen und beten daß wir nicht in der Anfechtung fallen“ (mit interrogatio und zwei anaphorischen Aufforderungen). Summa: „So sehn wir auch hier Mühe und Arbeit voraus, kämpfen und ringen, steigen und fallen.“ – „Laßt uns nicht klagen!“ „Es ist das Loos aller“ (zwei anaphorische Aufforderungen, diese Bestimmung des Lebens und damit sein Schicksal anzunehmen, mit einer weiteren interrogatio). Abschließende Mahnung, „jeden Augenblik anzulegen“, da auch dieses Jahr „schnell […] wie ein Strom“ vergehen wird: „immer“ seien wir auf den hin ausgerichtet, „der auch uns geben wird das Wollen und das Vollbringen“ (drei anaphorische Aufforderungen, der Führung Gottes zu vertrauen). Amen.¹¹²⁰

II.3.1.4 Zu den rhetorisch-homiletischen Eigenheiten der Predigt Zu bemerken ist hier zunächst einmal, dass die „allgemeine Einleitung“ bereits auf eine Formulierung des Predigtthemas hinführt, welchem dann unmittelbar der Predigttext folgt. Aus dem Predigttext wird sodann die Disposition der Predigt entwickelt, die in ihrem ersten Teil das Predigtthema und in ihrem zweiten Teil die Predigtintention bezeichnet.¹¹²¹ Diese Verfahrensweise, das Predigtthema kommt bereits vor dem Zitieren des Predigttextes am Ende der „allgemeinen Einleitung“ zu stehen, dürfte darauf hinweisen, dass Schleiermacher hier keinen Zwischenschritt zwischen dem Predigttext und der Entwicklung des Predigtthemas für nötig erachtete, da er die Themenstellung der Predigt im Grunde als konsequente Auslegung des Predigttextes verstand.¹¹²² Nicht verwunderlich ist von daher, dass die Berufung auf die auctoritas des Predigttextes die ganze Predigt durchzieht und an entscheidenden Stellen der Argumentation auftaucht.¹¹²³ In besonderer Weise bemerkenswert ist diese verhältnismäßig häufige Aufnahme des Predigttextes, da es sich hier um

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 25 – 65, 14.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 54, 14.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 9 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 9 f.; 54, 35 – 55, 3; 55, 22 f.; in inhaltlicher Hinsicht: 56, 27 f.; 59, 13 – 15; 59, 20 – 22; 60, 2– 4; 65, 1 f.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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einen der für Schleiermachers Predigten selteneren, alttestamentlichen Predigttexte handelt.¹¹²⁴ Mit der vorweggenommenen summa gegen Ende der „allgemeinen Einleitung“ wird nicht nur das Predigtthema, sondern zuvor auch schon der wesentliche Gehalt der Predigtintention, nämlich „der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren“ zu lassen und „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[zugehn]“, genannt. Aufgrund dieses Zielpunktes der Predigt lässt sich deren Argumentationsgang auch folgendermaßen strukturieren: den Ausgangspunkt des Gedankenganges der Predigt bildet das in der „allgemeinen Einleitung“ aufgenommene „ruhige[…] Gefühl der Dankbarkeit über das vergangene und eine frohe Hofnung über die Zukunft“, die laut Schleiermacher mit der für den „Uebergang in ein neues Jahr des Lebens“ üblichen Bilanzierung der vergangenen und zukünftigen Lebenszeit scheinbar gemeinhin verbunden sind. Dieses Gefühl und diese Hoffnung bzw. diese Empfindungen erweisen sich bei näherem Hinsehen in Hinblick auf eine Beurteilung des menschlichen Lebens insgesamt allerdings als noch zu unbestimmt.¹¹²⁵ Sie müssen von daher über die gedankliche Bestimmung des zugrunde liegenden Begriffs des menschlichen Lebens allererst in die durch diese gedankliche bzw. begriffliche Durchdringung geprägten Empfindungen überführt werden, um aufgrund dieser dann „der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren“ lassen zu können und „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[gehn]“ zu können. Die gedankliche Bestimmung des Begriffs des menschlichen Lebens erfolgt im ersten Teil des Hauptteils der Predigt, dem Schritt hin zu den durch diese gedankliche bzw. begriffliche Durchdringung geprägten Empfindungen ist der zweite Teil des Hauptteils der Predigt gewidmet.¹¹²⁶ In der hier vorliegenden Abfolge, die im Grunde von einem noch unbestimmten Gefühl oder noch unbestimmten Empfindungen über die gedankliche Begriffsbestimmung hin zu den durch diese gedankliche bzw. begriffliche Durchdringung geprägten Empfindungen voran-

 Von den fünfzehn ersten, ausformulierten Predigten Schleiermachers samt Predigtfragmenten, wie sie in dem Konvolut aus den Jahren 1789/90 bis zu seiner Ordinationspredigt am 6. April 1794 erhalten sind, ist dies die einzige Predigt, der ein alttestamentlicher Predigttext zugrunde liegt. KGA III/3 weist als nächste Predigten zu einem alttestamentlichen Predigttext dann aber die Predigt Nr. 35 Am 28. Dezember 1794 zu Ps 26,8; die Predigt Nr. 36 Am 11. Januar 1795 zu Dtn 30,11– 14 und die Predigt Nr. 38 Am 17. Mai 1795 zu Ps 100,4– 5 aus (vgl. Predigt Nr. 35 Am 28. Dezember 1794, KGA III/3, S. 287– 295; Predigt Nr. 36 Am 11. Januar 1795, KGA III/3, S. 296 – 302 und Predigt Nr. 38 Am 17. Mai 1795, KGA III/3, S. 306 – 316).  Man beachte die in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 16 – 53, 27 ausgeführten typisierenden descriptiones einer dennoch verbreiteten, zu einseitigen Fehleinschätzung dessen, was das Leben geboten hat und bietet.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 54, 14.

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II. Predigtanalysen

schreitet, lässt sich eine treue Orientierung an den Grundlagen der Eberhardschen „Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens“ erkennen.¹¹²⁷ Damit ist die Schulmäßigkeit der Predigtdisposition und des grundlegenden Gedankenganges der Predigt festzustellen. Die gleich zu Beginn in der „allgemeinen Einleitung“ vorausgesetzte Ausgangssituation des Jahreswechsels mit ihrer Bilanzierung von Vergangenheit und Zukunft hinsichtlich von „Freuden und Genüßen, Leiden und Widerwärtigkeiten“ einerseits, „guten Handlungen“ und „Beweisen menschlicher Schwachheit“ andererseits,¹¹²⁸ gibt dabei bereits die beiden für die gesamte Ausführung der Predigt maßgeblichen Gegensatzpaare vor: Der erste Teil des Hauptteils erarbeitet die Bestimmung der Frage, „was das menschliche Leben zu schäzen sei“, anhand der grundlegenden Kriterien der Freuden und Leiden, die das menschliche Leben bietet, bzw. der Glückseligkeit einerseits sowie der guten Handlungen bzw. gegebenen Möglichkeiten zur „Erreichung unserer Bestimmung“ andererseits.¹¹²⁹ Die Erarbeitung der dieser Bestimmung des menschlichen Lebens entsprechenden Empfindungen im zweiten Teil des Hauptteils gliedert sich zunächst einmal in den

 Um „zu einer vernünftigen Ueberzeugung“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 182) oder zur „Erkenntniß der Wahrheit“ zu gelangen, genügt laut Eberhard „ein gewisses Gefühl“ allein nicht (vgl. Eberhard: AThDE, S. 184). Die Empfindungen bzw. die „Vorstellungen der Sinne müssen“ zwar „den Begriffen des Verstandes, der Zeit nach vorgehen“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 61) und die „Entwickelung des menschlichen Geistes, fängt sich“ laut Eberhard „von den Empfindungen an, und geht von da zu den Gedanken fort“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 230); „[w]ahr“ aber ist nur, „was man begreiffen“, und das heißt, „durch stufenweises Zurükkehren auf unleugbare Grundsätze versichern“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 184) oder auch „abgesondert und deutlich denk[en]“ kann (vgl. Eberhard: AThDE, S. 231). „[E]in gewisses Gefühl“ kann demnach also noch „kein untrügliches Kennzeichen der Wahrheit seyn“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 184). „[U]nsere Empfindung“ muss vielmehr „durch richtige Erkenntniß“ gelenkt werden (vgl. Eberhard: AThDE, S. 18). Der erste Teil des Hauptteils der Schleiermacherschen Predigt erarbeitet deshalb konsequenterweise zunächst einmal die „richtige Erkenntniß“ bzw. Bestimmung des dem anfangs genannten unbestimmten Gefühl zugrunde liegenden Begriffs des menschlichen Lebens. Dieser Begriffsbestimmung folgt dann im zweiten Teil des Hauptteiles, wieder in konsequenter Entsprechung zur Eberhardschen Theorie, die Rückführung zu Empfindungen hin. Denn, wenn die „Gedanken sollen Entschließungen werden“, so müssen „sie wieder in Empfindungen zurück gebracht werden“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 232 f.) bzw.: „Soll nun aber das Gedachte in eigene Uebung übergehen, oder zur Belebung und Lenkung anderer gebraucht werden: so muß es Triebfeder werden und also klare Vorstellung,“ d. h. „in Empfindung gesammlet werden“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 226).  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 2– 9.  Vgl. die Bearbeitung der Kategorie der Freuden und Leiden in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 – 56, 33 und die entsprechende Bearbeitung der Kategorie der guten Handlungen bzw. des Prozesses der Erlangung der menschlichen Bestimmung in 56, 33 – 59, 22. Die Zitate finden sich in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 f. und 56, 34– 36 [Hervorh. i. Orig.].

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Blick Richtung Vergangenheit und in den entsprechenden Blick Richtung Zukunft.¹¹³⁰ Die beiden Unterabschnitte zu Vergangenheit und Zukunft unterteilt Schleiermacher dann aber jeweils erneut in die Kategorie der Freuden und Leiden bzw. Glückseligkeit einerseits sowie in die Kategorie der guten Handlungen bzw. der Besserung oder des Prozesses der Erlangung der menschlichen Bestimmung andererseits.¹¹³¹ Mit den beiden Gegensatzpaaren Vergangenheit / Zukunft und Glückseligkeit / Besserung bzw. Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung lässt sich damit im zweiten Teil des Hauptteils dieser Predigt bereits ein „durch die Überkreuzung zweier Grundgegensätze“ entstandenes Vierfelderschema erkennen, wie es auch für Schleiermachers spätere Denk- und Darstellungsweise typisch ist.¹¹³² Die Bedeutung der Unterscheidung des ersten Gegensatzpaares, Vergangenheit / Zukunft, wird nun allerdings aufgrund der These relativiert, dass „die Zukunft […] aus dem Keim der Vergangenheit hervor[wächst] und […] ihr ähnlich [ist]“: „es geschieht nichts neues unter der Sonne, und wird auch nichts geschehn“.¹¹³³ Dies macht den geringeren Umfang des Abschnittes zur Zukunft im Vergleich zu dem die Vergangenheit betreffenden Abschnitt¹¹³⁴ verständlich: Was die Zukunft bringen wird, kann letztlich der angemessenen bzw. gerechten Be Vgl. die Bearbeitung der „Rükerinnerung an das Vergangene“ in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 24– 62, 27, das Zitat findet sich in 59, 25 [Hervorh. i. Orig.], und die darauf folgende, entsprechende Bearbeitung der „Aussicht in die Zukunft“ in 62, 27– 64, 25, das Zitat findet sich in 62, 27 f. [Hervorh. i. Orig.].  Im Unterabschnitt zur Vergangenheit wird die Kategorie der Freuden und Leiden in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 24– 60, 29 behandelt, die guten Handlungen unmittelbar im Anschluss daran in 60, 29 – 62, 24. Im Unterabschnitt zur Zukunft findet sich die Bearbeitung der Kategorie der Freuden und Leiden in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 30 – 63, 33, die Bearbeitung „unserer Besserung“ unmittelbar darauf folgend in 63, 34– 64, 25, das Zitat sich in 63, 35.  Vgl. Christian Albrecht: Schleiermachers Predigtlehre. Eine Skizze vor dem Hintergrund seines philosophisch-theologischen Gesamtsystems, in: Albrecht, Christian/Weeber, Martin (Hg.): Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange, Tübingen 2002 [Albrecht: Schleiermachers Predigtlehre], S. 104. Als Beispiele finden sich hier die Darstellung des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems anhand der beiden Grundgegensätze Natur / Vernunft und Spekulation / Empirie (a. a.O., S. 99) sowie die Darstellung der für Schleiermachers philosophische Ethik und christliche Sittenlehre charakteristischen „vier grundlegenden Handlungssphären“, die sich auf die beiden Gegensatzpaare organisierendes bzw. wirksames Handeln / symbolisierendes bzw. darstellendes Handeln sowie identisches Handeln / individuelles Handeln zurückführen lassen (a. a.O., S. 105).  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 6 – 10.  Der Abschnitt zur Vergangenheit erstreckt sich über gute drei Seiten (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 24– 62, 27), der Abschnitt zur Zukunft kommt mit knapp zwei Seiten aus (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 27– 64, 25).

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II. Predigtanalysen

urteilung des vergangenen Lebens entnommen werden. In inhaltlicher Hinsicht ist die Konsequenz dieser Voraussetzung allerdings eine eher konservative, den status quo der Vergangenheit in den Blick nehmende und von der Zukunft keine wesentlichen Veränderungen erhoffende Tendenz der Predigt, die auch in der stoisch anmutenden Formulierung der Predigtintention zum Ausdruck kommen dürfte, „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[zugehn]“.¹¹³⁵ Eine gewisse Emphase kommt dem Abschnitt zur Zukunft allerdings dennoch zu, denn sowohl die auf der angemessenen Einschätzung der Vergangenheit beruhende Einsicht, dass die Zukunft nichts grundlegend Neues bringen wird, als auch die Versicherung der Gemeinde, der Zukunft mit Eifer und Stärke im Streben nach dem Guten entgegenzugehen, wird mit dem rhetorischen Stilmittel der exsuscitatio ausgestaltet,¹¹³⁶ wobei beide der verwendeten exsuscitationes nicht weniger als fünf aufeinander folgende interrogationes aufweisen.¹¹³⁷ Diese Intensivierung der Verwendung des Stilmittels der interrogatio, das übrigens im gesamten Verlauf der Predigt wiederholt zum Einsatz kommt und so im Grunde der gesamten Predigt einen eindringlichen Ton verleiht,¹¹³⁸ dürfte der in und mit dem Abschnitt zur Zukunft beginnenden Ausgestaltung der Predigtintention geschuldet sein, in deren Kontext eine gezielte Beeinflussung der Affekte der Zuhörenden natürlich nicht weiter verwundert. Welcher Seite bei dem zweiten Gegensatzpaar, Glückseligkeit / Besserung bzw. Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung, die Priorität zukommt, wird ebenfalls durch ein, allerdings kleines, Ungleichgewicht des Umfangs deutlich,¹¹³⁹ ist dem Wortlaut der Predigt aber zudem, insbesondere durch das Wörtchen „vornemlich“, explizit zu entnehmen. Denn im ersten Teil des

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 28 f. Die Nähe zur Stoa lässt sich beispielsweise anhand von Forschner: Stoische Ethik, S. 110 f. belegen.  Vgl. Lausberg: Handbuch, § 841, S. 418.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 37– 63, 6 und Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 10 – 17.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 5 – 9; 57, 13 – 18; 57, 31 f.; 58, 8 – 16; 58, 37– 39; 60, 6 – 11; 61, 23 – 27; 61, 29 – 32; 61, 36 – 39; 62, 13 f.; 62, 27 f.; 63, 30 f.; 64, 25 – 27; 64, 38 f.  Im ersten Teil des Hauptteils kommen der Glückseligkeit wie der Besserung bzw. dem Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung gute zwei Seiten zu (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 56, 33 mit Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 59, 3). Im zweiten Teil des Hauptteils nimmt die Glückseligkeit beim Blick in die Vergangenheit eine gute Seite ein, die Besserung bzw. der Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung aber knapp zwei Seiten (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 25 – 60, 29 mit Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 29 – 62, 24), beim Blick in die Zukunft halten sich die beiden Abschnitte zu Glückseligkeit und Besserung bzw. Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung in etwa die Waage.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

261

Hauptteils lautet der Übergang von der Betrachtung der Kategorie der Freuden und Leiden hin zur Betrachtung der Kategorie der guten Handlungen bzw. der Besserung: „Vielmehr komt es bei unserer Schäzung“ des Lebens „vornemlich darauf an: wie fern die Einrichtung desselben der Erreichung unserer Bestimmung förderlich ist.“¹¹⁴⁰ Eine entsprechende Formulierung leitet dann auch im zweiten Teil des Hauptteils von der Kategorie der Freuden und Leiden zur Kategorie der guten Handlungen bzw. der Besserung über: „wir kennen ja eine andere Bestimmung“ des menschlichen Lebens als die „Maaßgabe des Vergnügens“, „laßt uns doch nicht nur nach dem sehn, was wir empfunden haben, […] sondern vornemlich nach dem was wir gethan haben“.¹¹⁴¹ Damit aber ist in dieser Predigt erneut festzustellen, dass dem Bereich der irdischen Glückseligkeit zwar eine eigene Bedeutung zukommt, dass die Glückseligkeit letztendlich aber der Kategorie der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der menschlichen Bestimmung untergeordnet wird. Auch der inhaltliche Schwerpunkt dieser Predigt liegt konsequenterweise auf der Kategorie der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der menschlichen Bestimmung. Zu ergänzen wäre, dass sich der erste Teil des Hauptteils durch eine beide Bereiche umfassende weitere Strukturierung auszeichnet: in einem Dreischritt wird jeweils zunächst die Existenz wahrer Freuden und Leiden bzw. der Möglichkeiten zum Guten festgestellt, sodann die gerechte und gleiche Verteilung der Möglichkeiten zur Glückseligkeit sowie der des Guten teilhaftig zu werden dargestellt, abschließend wird die Frage thematisiert, welche Qualität das Leben letztendlich aufweist, bzw. ob es letztendlich einen Überschuss des Guten zu verzeichnen gibt. Diese Frage wird für den Bereich der Glückseligkeit als menschlicherseits unbeantwortbar und für die Beurteilung des menschlichen Lebens nicht von entscheidender Relevanz zurückgewiesen, in sittlicher Hinsicht allerdings positiv beantwortet, da davon ausgegangen wird, dass es in jeder Versuchung zum Bösen auch die entsprechenden „Mittel“ gibt, seien es die inneren Kräfte des Menschen oder die Hilfe der Religion, sich „herauszuziehn“.¹¹⁴² Der erste Teil der recapitulatio des Predigtschlusses kehrt schließlich die bisher gewählte Reihenfolge, Freuden und Leiden an erster Stelle und Besserung

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 36 [Hervorh. i. Orig.].  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 19 – 29. Zu vergleichen wäre zudem die die beiden Bereiche in ein wertendes Verhältnis setzende Zusammenfassung des Ergebnisses des ersten Teils des Hauptteils im transitus zum zweiten Teil des Hauptteils: Das menschliche Leben „ist ein Zustand deßen Zwek nicht der Genuß der Annehmlichkeiten ist die er darbietet“, es ist vielmehr „ein Uebungsplaz“ bzw. „Mühe und Arbeit […] durch und durch“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 20).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 59, 3.

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II. Predigtanalysen

bzw. Prozess der Erlangung der menschlichen Bestimmung an zweiter Stelle zu verhandeln, in chiastischer Art und Weise um: Einer zusammenfassenden Bemerkung zum inhaltlichen Schwerpunkt der Gelegenheiten bzw. „Aufforderungen Gutes zu thun“ folgt hier eine zusammenfassende Bemerkung zu „manche[r]“ Freude, die das kommende Jahr bieten wird. Bemerkenswert ist bei diesem, sich aus einer angemessenen Beurteilung der Vergangenheit für die Zukunft ergebenden Fazit, dass der Bereich der Glückseligkeit hier nun auch in den Bereich der Besserung übergeht, denn die Voraussetzungen der mancherlei zu erlebenden Freuden sind „ein[…] gute[r] Wille[…]“ und „ein demüthiges Herz“. Zudem kommt in diesem Zusammenhang auch noch die Zusammengehörigkeit von Religion und Tugend in den Blick, denn es sind „Frömmigkeit und Tugend“, die uns hier „selige segensreiche Augenblike bereiten [werden]“.¹¹⁴³ Damit wäre in dieser Predigt schlussendlich auch noch eine mit dem Bereich der Sittlichkeit und Religion verbundene Form der Glückseligkeit festzustellen. Im zweiten Teil der recapitulatio des Predigtschlusses findet sich sodann eine auf den Mittelpunkt der summa, „[s]o sehn wir auch hier Mühe und Arbeit“, hin fokussierte, spiegelbildlich gebaute Gruppierung: einer auf eine gefasste Kampfbereitschaft für das Gute zielenden Aussage mit interrogatio und zwei anaphorischen Aufforderungen, „laßt uns […]“, folgt die summa, der dann in spiegelverkehrter Reihenfolge zunächst zwei auf Gleichmütigkeit und Anerkennung des gerechten bzw. gleich stellenden Schicksals zielende anaphorische Mahnungen, „[l]aßt uns nicht“, dann eine wieder mit einer interrogatio verbundene Aussage folgen.¹¹⁴⁴ Die Predigt schließt nach dieser kunstvollen Gruppierung mit der Mahnung, angesichts der schnell dahinfließenden Lebenszeit „von nun an jeden Augenblik anzulegen“, und führt diese Mahnung noch einmal mit drei, den religiösen Bereich in den Blick nehmenden, Anaphern aus, u. a.: „immer“ sei „unser Geist demüthig mit Flehen zu dem gerichtet […] der auch uns geben wird das Wollen und das Vollbringen.“¹¹⁴⁵

II.3.1.5 Zum Verhältnis von Thema bzw. „Einheit“ der Predigt und Predigtintention Beim Vergleich des Predigtthemas, sei es die dem Titel entnommene Variante „Die wahre Schäzung des Lebens“,¹¹⁴⁶ die am Ende der „allgemeinen Einleitung“ begegnende Formulierung „das menschliche Leben so gut als möglich von allen    

Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 25 – 36. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 36 – 65, 8. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 8 – 14. Vgl. SW II/7, 135, 2 [im Orig. als Überschrift hervorgehoben].

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

263

Seiten zu betrachten und seinen Werth und Einfluß richtig zu schäzen“¹¹⁴⁷ oder die in der Disposition genannte Überschrift des ersten Teils des Hauptteils der Predigt „wie überhaupt das menschliche Leben zu beurtheilen sei“¹¹⁴⁸ mit der Predigtintention, die sich in allgemeinerer Gestalt in der von der Disposition ausgewiesenen Überschrift des zweiten Teils des Hauptteils der Predigt findet und dort lautet: „was das Ende dieser Untersuchung unsern Empfindungen am heutigen Tag für eine Richtung gibt“,¹¹⁴⁹ konkreter aber bereits gegen Ende der „allgemeinen Einleitung“ ausformuliert wurde: „der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren“ zu lassen und „der Zukunft mit Gleichmüthigkeit und gefaßtem Geist entgegen[zugehn]“,¹¹⁵⁰ beim Vergleich dieses Predigtthemas mit der Predigtintention also lässt sich als Deutungsmuster für die Zuordnung beider zueinander zunächst einmal die oben ausgeführte schulmäßige Strukturierung des Gedankenganges der Predigt heranziehen: über die gedankliche Begriffsbestimmung wird hier zu den durch diese gedankliche bzw. begriffliche Durchdringung geprägten Empfindungen hin vorangeschritten. Während das Predigtthema also für die gedankliche Begriffsbestimmung des menschlichen Lebens steht, geht es in der Predigtintention um die Entwicklung und Ermutigung zu den dieser Begriffsbestimmung entsprechenden Empfindungen in Hinblick auf die Zukunft. Damit ist aber wiederum festzustellen, dass Predigtthema und Predigtintention im Grunde auch in dieser Predigt die von Johannes Bauer für Schleiermachers Predigten als charakteristisch bezeichnete Vinetsche Abfolge, von der „Behauptung“ des Predigtthemas bzw. des „Stoff- oder Kausalthema[s]“ hin zur „Forderung“ der Predigtintention bzw. des „Ziel- oder Finalthema[s]“ der Predigt, aufweisen.¹¹⁵¹ Im Predigtschluss wird diese Predigtintention allerdings noch einmal erweitert bzw. zugespitzt. Denn der sich aus der angemessenen Beurteilung der Vergangenheit für die Zukunft ergebenden Aufforderung im ersten Teil der recapitulatio, sowohl in Hinsicht auf die Gelegenheiten „Gutes zu thun“ als auch in Hinblick auf die zu erhoffende „Freude“ „getrost in unser Leben hinaus[zu]sehn“,¹¹⁵² folgt im zweiten Teil der recapitulatio nicht nur die kunstvolle Umsetzung der beiden entsprechenden Forderungen, mit gefasstem, zum Kampf um das Gute gerüsteten Geist¹¹⁵³ sowie mit schicksalsergebener Gleichmütigkeit¹¹⁵⁴ in die Zukunft zu gehen.

       

Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 34– 36. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 11 f. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 12– 14. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 27– 29. Vgl. Bauer: Prediger, S. 275 [Hervorh. i. Orig.]. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 25 – 36. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 36 – 65, 1. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 2– 8.

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II. Predigtanalysen

Im Anschluss an diese Aufforderungen wird vielmehr noch diejenige hinzugefügt, angesichts der schnell verfließenden Zeit „von nun an jeden Augenblik anzulegen“. Aufgrund des unmittelbaren Kontextes dieser Zuspitzung der Predigtintention ist diese Mahnung, den Augenblick zu nutzen, nun aber vom Mittelpunkt der unmittelbar vorangehenden kunstvollen Gruppierung her zu verstehen, d. h.: auch die Nutzung des Augenblicks ist hier letztlich auf das dem Menschen bevorstehende „kämpfen und ringen, steigen und fallen“ bzw. auf die „Mühe und Arbeit“ des menschlichen Lebens hin fokussiert, sei es nun Mühe hinsichtlich von Freuden und Leiden oder aber Arbeit hinsichtlich der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der menschlichen Bestimmung.¹¹⁵⁵ Durch ihre Zuspitzung bleibt die Predigtintention damit auf geradezu vorbildliche Weise an die inhaltliche Bestimmung des Predigtthemas als „Mühe und Arbeit“ zurückgebunden. Des Weiteren bemerkenswert ist, dass die auf die Mühe und Arbeit des menschlichen Lebens hin ausgerichtete Zuspitzung der Predigtintention bzw. die Mahnung zur Nutzung des Augenblicks zu guter Letzt noch mittels dreier Anaphern (beginnend mit „immer“) auf die göttliche Hilfe und Führung bzw. auf die göttliche Gabe des Wollens und Vollbringens nach Phil 2,13 bezogen wird. Die im Verlauf der Predigt durchgängig begegnende Dimension des Religiösen behält so das letzte Wort vor dem „Amen“.¹¹⁵⁶

II.3.1.6 Zur ethischen Konzeption der vorliegenden Predigt II.3.1.6.1 Würde, Wert und Bestimmung des menschlichen Lebens Dass die hier zu erarbeitende Begriffsbestimmung oder Schätzung des menschlichen Lebens nicht auf eine Diskussion des Wertes des menschlichen Lebens oder des menschlichen Lebens an sich ziele, da der „Werth der menschlichen Seele, und des menschlichen Daseins überhaupt […] niemand unter uns zweifelhaft seyn“ könne, macht Schleiermacher gleich zu Beginn des ersten Teiles des Hauptteiles der Predigt deutlich.¹¹⁵⁷ Schleiermacher gesteht der menschlichen Seele sowie dem vorfindlichen menschlichen Dasein damit einen eigenständigen und unhinterfragbaren Wert zu, dessen Ausdruck sich auch in anderen Zusammenhängen der Predigt erkennen lässt.¹¹⁵⁸

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 36 – 65, 10.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 10 – 14.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 – 19.  Hinzuweisen wäre in diesem Kontext etwa auf die Aussage, dass es nicht „zu billigen“ sei, „unsern irdischen Wohnplaz nur als ein Jammerthal zu beschreiben […] unterdeß man doch immerfort durch den Einfluß desselben gewinnt“ (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 33 – 55, 3), auf die Zurückweisung der Ansicht, dass „dieses Leben […] für den menschlichen Geist

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

265

Während der Wert des menschlichen Daseins überhaupt hier also nicht zur Debatte steht, lässt sich der Wert des menschlichen Lebens in einer anderen Hinsicht durchaus diskutieren: wenn es nämlich darum geht, zu schätzen oder zu beurteilen, „wie die Verfassung, in welche wir auf dieser Erde gesezt sind[,] der Natur unserer Seele angemessen, in wie fern sie im Stande sei unsern natürlichen Trieb nach Wolseyn und Glük zu befriedigen und uns unsrer großen Bestimmung zu nähern“.¹¹⁵⁹ Damit macht Schleiermacher die Beurteilung des Wertes des menschlichen Lebens davon abhängig, inwiefern die Einrichtung dieses Lebens, die schöpfungsmäßige „Verfassung“ oder auch die Rahmenbedingungen, die dem menschlichen Leben jeweils vorgegeben sind, der Natur der menschlichen Seele und insofern dann auch der naturgemäßen Ausrichtung des Menschen entsprechen. Die naturgemäße Ausrichtung des Menschen wiederum weist laut dieser Predigt eine bereits bekannte Duplizität auf. Denn einerseits gehört zu dieser naturgemäßen Ausrichtung des Menschen die Befriedigung des „natürlichen Trieb[es] nach Wolseyn und Glük“ bzw. des menschlichen Strebens nach Glückseligkeit, andererseits gehört zu dieser naturgemäßen Ausrichtung die Ermöglichung der Annäherung an „unsre[…] große[…] Bestimmung“,¹¹⁶⁰ d. h. die „Besserung“,¹¹⁶¹ Vervollkommnung¹¹⁶² oder „Veredlung“¹¹⁶³ des Menschen.¹¹⁶⁴ Um den Wert des menschlichen Lebens in der hier zur Diskussion stehenden Hinsicht beurteilen zu können, müssen also einerseits die mit der Einrichtung des menschlichen Lebens jeweils gegebenen Möglichkeiten zur Befriedigung des menschlichen Strebens nach Glückseligkeit, andererseits die mit der Einrichtung des menschlichen Lebens jeweils gegebenen Möglichkeiten, sich der „großen Bestimmung“ bzw. Besserung des Menschen anzunähern,¹¹⁶⁵ in den Blick genommen werden.

ein Zustand der Verbannung [sei] nach dessen Ende er immer schmachte, wo es ihm nicht möglich sei einen Grad der Vollkomenheit zu erlangen“ (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 36 – 57, 3) sowie auf die sich im zusammenfassenden Transitus vom ersten zum zweiten Teil des Hauptteils findende Bemerkung, dass das menschliche Leben zwar ein „Zustand [ist] deßen Zwek nicht der Genuß der Annehmlichkeiten ist die er darbietet […], aber doch genug“ Freuden mit sich bringe „um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“ (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 9).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 15 – 24.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 – 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 26 [Hervorh. i. Orig.].  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 36 – 57, 3.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 36.  Diese Duplizität liegt bereits den zwei in der Predigt über das Gebet begegnenden unterschiedlichen Arten des Gebetes zugrunde (vgl. z. B. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 140, 7– 26).  Das Zitat findet sich Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 22 f.

266

II. Predigtanalysen

Die Untersuchung der Einrichtung des menschlichen Lebens auf deren Ermöglichung der Befriedigung des menschlichen Strebens nach Glückseligkeit ergibt im ersten Teil des Hauptteiles der Predigt zunächst einmal, dass Freuden und Leiden unter den Menschen zwar hinsichtlich ihrer „Gestalt“ jeweils verschieden verteilt sind, dass sich „das Verhältniß“ beider aber in jeder menschlichen Biographie als das gleiche findet. Fazit: „So werden wir von allen Verhältnißen des Lebens finden, daß sie sich […] in Absicht des Glüks das sie möglich machen, und des Leidens, das sie herbeiführen[,] so ziemlich das Gleichgewicht halten.“¹¹⁶⁶ Die Möglichkeit, das menschliche Streben nach Glückseligkeit zu befriedigen, bringen prinzipiell also alle menschlichen Lebensverhältnisse gleichermaßen mit sich. Diesbezüglich dennoch festzustellende Unterschiede unter den Menschen gehen letztlich darauf zurück, dass die einen eine optimistischere „Stimmung der Seele“ aufweisen als die anderen. Das muss, insbesondere da die Verantwortung für diese Stimmung letzten Endes bei den Menschen selbst liegt, dahingehend interpretiert werden, dass diese Menschen in der „Fertigkeit das Gute zu finden und zu erhöhn, und das Uebel zu vermeiden oder sich zu erleichtern“ geübter sind.¹¹⁶⁷ Damit wäre nun aber zunächst einmal festgestellt, dass die Möglichkeiten zur Befriedigung des menschlichen Strebens nach Glückseligkeit an alle Menschen grundsätzlich gleich bzw. gerecht verteilt sind. In Hinblick auf die angesichts dessen entscheidende Frage nach der Qualität der Verteilung von Freuden und Leiden ist festzuhalten, dass das Leben zwar niemandem „reine unvermischte Glükseligkeit“¹¹⁶⁸ bietet, dass das Leben jedoch für alle Menschen genug Freuden birgt, „um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“.¹¹⁶⁹ Indem allen Menschen auf diese Weise gleichermaßen ihr vorherbestimmtes Maß an Freuden und Leiden zuteil wird,¹¹⁷⁰ ist aber auch allen Menschen glei-

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 30 – 32 und 56, 7– 11.  „Rechnen wir aber von dieser Ungleichheit das ab, was nur in der Stimmung der Seele, in der größern oder geringern Fertigkeit das Gute zu finden und zu erhöhn, und das Uebel zu vermeiden oder sich zu erleichtern gegründet ist, bleiben wir nur bei dem stehn wovon die verschiednen Verhältniße des Lebens Ursach seyn sollen, so werden wir diese Ungleichheit nicht sehr in Anschlag bringen dürfen“ (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 12– 23). In Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 27– 31 ist im Zusammenhang mit der „Schäzung“ des „Streben[s] und Widerstreben[s]“ bzw. der Freuden und Leiden des menschlichen Lebens von „der Art“ die Rede, „wie wir es ansehn“, in 63, 30 – 33 wird im Zusammenhang des zu ertragenden bzw. zu bestehenden Leidens etwas deutlicher formuliert, dass „nur der […] am besten dran [ist], der es am besten zu tragen weiß“.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 4– 6.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 13 – 17 und 63, 10 – 33.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

267

chermaßen aufgegeben, dass ihr Leben in Hinblick auf die Befriedigung ihres Strebens nach Glückseligkeit letztlich „Mühe und Arbeit“ ist, „beständiges Streben und Widerstreben, Niederschlagen und aufrichten der Seele“,¹¹⁷¹ oder auch „Mühe in der Erduldung seiner Beschwerlichkeiten und in dem natürlichen Bestreben, sie so viel es mit höhern Pflichten bestehn kann zu entfernen“ sowie „Mühe in dem Trachten nach mancherlei Freuden“.¹¹⁷² Begründet durch die wesentliche Bedeutung, die der menschlichen Subjektivität bzw. „Stimmung der Seele“ hinsichtlich der Wertschätzung von erlebten Freuden und Leiden zukommt,¹¹⁷³ insbesondere aber auch verbunden mit der inhaltlichen Bestimmung bzw. Einschätzung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“¹¹⁷⁴ vertritt Schleiermacher in dieser Predigt erneut die Einsicht, dass die Duplizität der hier zugrunde gelegten naturgemäßen Ausrichtung des menschlichen Lebens eine hierarchische Ordnung aufweist. So kommt der Ermöglichung der Befriedigung des menschlichen Strebens nach Glückseligkeit hinsichtlich der Beurteilung des Wertes des menschlichen Lebens zwar, wie zu sehen war, eine eigenständige Bedeutung zu, letztlich bleibt diese aber der Ermöglichung der Annäherung an die „große[…]“, man könnte im Grunde auch sagen: eigentliche Bestimmung des menschlichen Lebens, also der Besserung, Vervollkommnung oder auch Veredelung des Menschen, untergeordnet. Denn „vornemlich“ ist für die Beurteilung des Wertes des menschlichen Lebens ausschlaggebend, „wie fern die Einrichtung desselben der Erreichung unserer Bestimmung förderlich ist“.¹¹⁷⁵ Sollen nun die mit der Einrichtung des menschlichen Lebens jeweils gegebenen Möglichkeiten, sich dieser „großen Bestimmung“ anzunähern, in den Blick genommen werden, so wird zunächst einmal zu präzisieren sein, was unter dieser Bestimmung zu verstehen ist. Mehrere Hinweise, die die Predigt in dieser Hinsicht gibt, sind bereits aus den vorangehenden Predigtanalysen bekannt, brauchen hier also nur kurz erwähnt zu werden. Zu diesen gehört, dass die „große Bestimmung“ des Menschen auf die „Besserung“, „Veredlung“¹¹⁷⁶ oder Vervollkommnung des

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 27– 29.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 15 – 18. Zu vergleichen wäre hier auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 10 – 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 12– 23 und 56, 27– 33.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 19 – 29.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 – 24 und 56, 27– 36 [Hervorh. i. Orig.]. Herangezogen werden könnte hier auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 15 und 60, 19 – 29.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 36.

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II. Predigtanalysen

Menschen zielt. Im Hintergrund dessen wird wieder das Vollkommenheitsstreben der Halleschen Schultradition sowie der Herrnhutischen Erziehung¹¹⁷⁷ erkennbar. Prägnanter als in den bisher untersuchten Predigten ist in der vorliegenden von einer Bedeutung des Tätigseins hinsichtlich der „großen Bestimmung“ des Menschen die Rede. Bei diesem Tätigsein handelt es sich zunächst einmal um ein nicht weiter qualifiziertes Tun des Menschen. Festzustellen ist lediglich, dass es fast durchweg dem „Geist“ oder der „Seele“ des Menschen zugeschrieben wird.¹¹⁷⁸ Vermutet werden könnte von daher, dass Schleiermacher hier, der Eberhardschen „Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens“ gemäß, die grundlegende Seelentätigkeit des Denkens im Blick hat.¹¹⁷⁹ Neben diesem bloßen, nicht weiter qualifizierten Tätigsein der Seele bzw. des Geistes ist nun aber auch von der spezifischeren Variante, „im Guten thätig zu seyn“,¹¹⁸⁰ die Rede.¹¹⁸¹ Betrachtet

 Erinnert sei an den Brief an seinen Vater vom 21. Januar 1787 (Brief 53, 27– 33, in: KGA V/1, S. 50). Hingewiesen werden kann in diesem Zusammenhang auch auf Grove: Deutungen, S. 32 f.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 6 – 9 und 61, 1– 8 oder auch 58, 1 f.: „wie mag er den niedergedrükten Geist erheben und durch Thätigkeit seine Bestimmung erreichen?“  Vgl. Eberhard: AThDE, S. 35: „Die erste Erscheinung, die dem Zustand des Empfindens besonders eigen ist, bestehet darin, daß sich die Seele in demselben als leidend in dem Zustand des Denkens aber als thätig ansieht.“ Der laut Eberhard konstitutive Zusammenhang des „Gefühl[s] der Freyheit“ mit dem „Bewußtseyn unserer Selbstthätigkeit“ erhellt aus folgender Passage der „Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens“: „Das Gefühl der Freyheit kann in der Seele nicht anders statt haben, als durch das Bewußtseyn unserer Selbstthätigkeit. Dieses Bewußtseyn aber setzt voraus, daß wir den Uebergang von einer Vorstellung zur andern bemerken, daß wir bemerken, wie wir der einen nachgehen, indem wir die andere verwerfen und verdunkeln, daß wir also deren mehr vor uns liegen haben unter denen wir uns der triftigsten überlassen. So handeln wir in dem Zustande des deutlichen Denkens; indeß wir bey dem Empfinden unwiederstehlich fortgerissen werden.“ (Vgl. Eberhard: AThDE, S. 165). Schleiermachers Festhalten an der leiblichen Auferstehung in der Osterpredigt „Von dem Siege, den Christus durch seine Auferstehung über den Tod davon getragen“ zu 1. Kor 15,26, ist m. E. eine Konsequenz der Einsicht in dieses die menschliche Seele auszeichnende Charakteristikum des Tätigseins. Die Existenz der Seele kann ohne Tätigkeit nicht gedacht oder vorgestellt werden, das Tätigsein aber bedingt, sozusagen als Instrument, eine wie auch immer geartete körperliche oder leibliche Verfasstheit der Seele. In der Osterpredigt wäre diesbezüglich auf die Passagen Predigt Nr. 12, KGA III/3, 119, 24– 120, 8 und 125, 4– 126, 19 zu verweisen. Dort wird ausgeführt, dass die menschliche Seele notwendigerweise, auch über den Tod hinaus, eines Körpers bzw. eines Leibes bedarf, der den Zusammenhang und Umgang der Seele mit ihrer Umwelt vermittelt. Bemerkenswert ist, dass bereits in dieser frühen Osterpredigt dabei die beiden Aspekte des symbolisierenden bzw. darstellenden und des organisierenden bzw. wirksamen Handelns im Blick sind.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 32– 36; 60, 25 – 27 und 64, 34. Hinzuweisen wäre in diesem Kontext auch auf die Verbindung des Tätigseins mit der Pflichtenerfüllung des Menschen in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 24.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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man davon ausgehend die Beantwortung der metaethischen Fragestellung in dieser Predigt, was denn eigentlich unter dem Guten zu verstehen sei, so wird man auf eine genauere Qualifizierung des Guten aufmerksam. Denn als dem Bösen entgegengesetzt ist hier in einem Atemzug von „demjenigen“ die Rede, was der Mensch „als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“.¹¹⁸² Das Gute kommt hier also in unmittelbarer Verbindung mit dem Willen Gottes, das Sittliche in unmittelbarer Zusammengehörigkeit mit dem Religiösen in den Blick. In der Konsequenz dessen lässt sich als Ausdifferenzierung der Annäherung an die „große Bestimmung“ des Menschen dann unter anderem auch die Formulierung finden, „nach den Gesezen der Religion und Tugend thätig [zu] seyn und darin zu [zu]nehmen“.¹¹⁸³ Deutlich ist, dass die „große Bestimmung“ des Menschen damit wieder, genauso wie auch das „Gute“, sowohl auf den sittlichen als auch auf den religiösen Bereich zu beziehen ist.¹¹⁸⁴ Beispielsweise in der Ausdifferenzierung der Annäherung an die „große Bestimmung“ des Menschen als „Leichtigkeit das Gute zu üben; […] Freiheit von Leidenschaft; […] Ruhe der Seele; […] Liebe zu Gott“ und „lebendige[r] Erkentniß heiliger Wahrheiten“ lässt sich dies unschwer verifizieren.¹¹⁸⁵ Hinzuzufügen ist, dass das „Gute“ sowie die „große Bestimmung“ des

 In der philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ wird Schleiermacher dann dezidiert herausarbeiten, dass es bei der hier relevanten Tätigkeit der menschlichen Seele nicht um blosses Tätigsein geht, sondern dass dieses Tätigsein eine bestimmte inhaltliche Qualifikation aufweisen muss (vgl. die entsprechenden Bemerkungen zu den Unterschieden in den inhaltlichen Ausführungen des einleitenden Teils der philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ und der Neujahrspredigt von 1792 im Abschnitt Vergleich mit der Philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ der vorliegenden Arbeit). Insgesamt erinnert die Betonung der Bedeutung des Tätigseins für die Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen in Schleiermachers Predigt an Aristoteles Beantwortung der metaethischen Fragestellung im sechsten Kapitel des ersten Buches der Nikomachischen Ethik: „das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ (Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 12 [Hervorh. i. Orig.] [Bekkersche Zählung: 1098a]). Dass es sich bei Letzterer um „die denkende Tätigkeit“ handelt, ist dem achten Kapitel des zehnten Buches der Nikomachischen Ethik zu entnehmen (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 251– 253, das Zitat entstammt S. 253 [Hervorh. i. Orig.] [Bekkersche Zählung: 1178a und 1178b, das Zitat entstammt 1178b]).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 5 – 7.  Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Bezeichnung der „Besserung des Menschen“ sowie des „Guten“ als „Weg zur Gottseligkeit und Tugend“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 24– 30 [Hervorh. i. Orig.]) oder auf die Rede von den durch „Frömmigkeit und Tugend“ zu erreichenden „segensreiche[n] Augenblike[n]“ im Schlussteil der Predigt (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 32– 34).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 57, 13.

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II. Predigtanalysen

Menschen des Weiteren den Bereich der Verstandesbildung implizieren.¹¹⁸⁶ Dass dem Wachsen oder Vorankommen im sittlichen, verstandesmäßigen und religiösen Bereich dabei nun zugleich die andere Seite der Medaille, das „[B]esiegen“ von Fehlern¹¹⁸⁷ und Überwinden von Schwachheiten,¹¹⁸⁸ zu korrespondieren hat, versteht sich im Grunde von selbst. Hinsichtlich der Beurteilung bzw. Schätzung der der Einrichtung des menschlichen Lebens jeweils beigegebenen Möglichkeiten, sich dieser nun näher qualifizierten „großen Bestimmung“ des menschlichen Lebens anzunähern, ist entsprechend zu den vorigen Ausführungen zum menschlichen Streben nach Glückseligkeit zunächst einmal festzustellen, dass allen Menschen in diesem Leben gleichermaßen reichlich Gelegenheiten gegeben sind, im Guten voranzukommen.¹¹⁸⁹ Ebenfalls gleichermaßen wird kein Mensch über seine Möglichkeiten hinaus zum Bösen versucht.¹¹⁹⁰ So kann letztlich festgehalten werden, dass die Einrichtung bzw. die Verhältnisse des Lebens niemanden zum Bösen „[z]wing[en]“, denn: „Alles ist ja voll von Beweisen was für Kraft in dem Menschen und denen ihm zugegebnen Hülfsmitteln liegt, auch der größten Verführung auszuweichen und dem erkannten Guten treu zu bleiben“. Ebenso machen die Verhältnisse des Lebens aber auch niemandem „irgend eine Tugend unmöglich“. Einschränkend hinzunehmen ist dabei allerdings, dass jegliche Tugend den „Schranken der menschlichen Natur“ gemäß nur „durch beständigen Streit und Kampf“ errungen werden kann.¹¹⁹¹ Damit führt nun aber auch die Untersuchung der Einrichtung des menschlichen Lebens auf deren Möglichkeiten, sich der „großen Bestimmung“ des Menschen anzunähern, letztlich zu der bereits bekannten inhaltlichen Qualifizierung der Bestimmung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“: „Arbeit in allen seinen Geschäften, Arbeit in der Ueberwindung aller innern und äußern Reizungen, Arbeit in den schweren und mühsamen Fortschritten zum Guten“.¹¹⁹²

 Explizit kommt das in einer Ausdifferenzierung des „Gute[n] was wir in der vergangenen Zeit von uns gethan finden“, zum Ausdruck: „bald durch richtigere Erkenntniße unsern Verstand aufzuhellen, bald durch tiefere Blike in uns selbst uns neue Ziele nach denen wir ringen aufzusteken, bald durch besonders segensvolle Eindrüke von der Liebe und Hoheit Gottes unsre Seele zu erheben, bald mancherlei Handlungen der Liebe und des Wolwollens gegen andre zu üben“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 2– 14).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 7– 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 19 – 21.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 24; 59, 9 – 13; 60, 32– 36 und 64, 27– 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 33 – 36 und 61, 39 – 62, 2.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 35. Heranzuziehen wäre auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 27.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 13 – 20.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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Zielrichtung der „großen Bestimmung“ des Menschen, seines Tätigseins oder Handelns sind dabei laut dieser Predigt explizit nicht „der Glanz und die Größe der äußern Folgen“, die menschliches Handeln hervorbringt, sondern „das was in der Seele vorgeht und die Kraft die sie anwendet“.¹¹⁹³ Die „große Bestimmung“, Besserung oder Veredelung des Menschen zielt damit letztlich auf eine Bildung des „menschlichen Geist[es]“¹¹⁹⁴ und der menschlichen Seele¹¹⁹⁵ bzw. der jeweiligen Person oder auch „uns[erer] selbst“.¹¹⁹⁶ Damit aber ist eine allmähliche¹¹⁹⁷ Entwicklung anvisiert, die maßgeblich im Inneren des Menschen vor sich geht und letztlich wieder eine große Nähe zum Vollkommenheitsstreben der Halleschen Schultradition aufweist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Wert des menschlichen Lebens laut dieser Predigt letzten Endes genau darin besteht, dass die vom Predigttext vorgegebene und zugleich schöpfungsgemäße Bestimmung, Einrichtung oder Verfasstheit dieses Lebens als „Mühe und Arbeit“¹¹⁹⁸ der Natur der menschlichen Seele¹¹⁹⁹ sowie der dieser gemäßen doppelten Ausrichtung des Menschen vollkommen entspricht.¹²⁰⁰ Denn in der Einrichtung aller menschlichen Lebensverhältnisse als „Mühe und Arbeit“ sind letztlich die vollkommenen Voraussetzungen für den Menschen geschaffen, sein Streben nach Glückseligkeit zur Genüge zu befriedigen, sich gleichzeitig aber nicht allein in diesem Streben zu verlieren,¹²⁰¹ sondern die Besserung, Vervollkommnung oder Veredelung seiner Kräfte, seines Geistes und seiner Seele als seine eigentliche Bestimmung zu erkennen und sich dieser mit allen seinen Kräften und unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden Hilfsmittel anzunähern. Die „allgemeine[…] Regel“ oder

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 13 – 16.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 36 – 57, 3.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 13 – 16.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34 f. [Hervorh. i. Orig.]: „Und was hoffen wir nun von uns selbst in dieser neuen Zukunft?“  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 18 – 25.  Diese inhaltliche Qualifizierung der Bestimmung, Einrichtung oder schöpfungsmäßigen Verfasstheit des menschlichen Lebens durchzieht ausgehend vom Predigttext die gesamte Predigt: vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 37; 56, 25 – 29; 59, 13 – 15; 60, 2– 4; 63, 20 – 30; 65, 1 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 f., heranzuziehen wäre auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 21– 23.31 f.  Zudem entspricht die Qualifizierung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“ auch noch dem Wesen der Tugend selbst (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 23 f.).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 9: Das menschliche Leben ist „ein Zustand der wirklich nicht Freuden genug hat das ganze Herz an sich zu ziehn, aber doch genug um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“.

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II. Predigtanalysen

„Bestimmung des Lebens“ als „Mühe und Arbeit“¹²⁰² ist also dem maßgeblichen Prozess der Erlangung der „großen“ oder eigentlichen Bestimmung des Menschen laut dieser Predigt in höchstem Maße angemessen und förderlich. Zu ergänzen wäre angesichts dessen lediglich, dass die Formulierung, das letzte Lebensziel der Menschen sei „unser Vaterland droben“ und die Menschen seien von daher zeit ihres Erdenlebens „nur Pilger“, die Erlangung der der Natur der menschlichen Seele gemäßen doppelten Ausrichtung des Menschen, wie bereits aus Schleiermachers Examenspredigt bekannt, mit einem eschatologischen Vorbehalt versieht.¹²⁰³ Im Hintergrund dieser Beurteilung oder Schätzung des menschlichen Lebens wird in weiten Teilen die Anlehnung an die Hallesche Schulphilosophie und deren Ontologie erkennbar, eine Kompatibilität der Schleiermacherschen Vorstellungen mit der Leibnizschen These von der Einrichtung dieser Welt als der besten aller möglichen Welten ist ebenfalls festzustellen.¹²⁰⁴

II.3.1.6.2 Vollkommenheit und Schwachheit des Menschen Die aus der Eberhardschen Sittenlehre der Vernunft bereits bekannte zentrale ethische bzw. sittliche Kategorie des Vollkommenheitsstrebens lässt sich, wie im vorigen Abschnitt kurz erwähnt, auch im Hintergrund dieser Predigt feststellen, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der „großen Bestimmung“ bzw. Besserung oder Veredelung des Menschen. So ist hier beispielsweise explizit vom „Grad der Vollkomenheit“ die Rede, der im irdischen Leben erreicht werden kann, indem „die Einrichtung dieses Lebens […] voll von Gelegenheiten unsere Kräfte zu äußern und zu üben, zu erhöhen und zu veredeln“ ist.¹²⁰⁵ Durch die grundlegende Bezogenheit dieses Vollkommenheitsstrebens auf die „große Bestimmung“ des menschlichen Lebens gilt für die inhaltliche Qualifizierung dieses Vollkommenheitsstrebens implizit auch, was im Zusammenhang mit der inhaltlichen Qualifizierung der „großen Bestimmung“ des menschlichen Lebens erarbeitet werden konnte: zur grundlegend sittlichen Ausrichtung derselben tritt ebenso grundlegend und von dieser nicht zu trennen deren religiöse Ausrichtung hinzu,¹²⁰⁶ wesentlich ist denselben dabei zudem die Ausrichtung auf die menschliche Ver-

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 2– 4 in Verbindung mit 59, 13 – 15.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 11 f.  Vgl. den Abschnitt „Des Versuchs von der Güte Gottes, von der Freiheit des Menschen und vom Ursprunge des Bösen, Erster Teil“ in: Leibnitz: Theodicee, dort insbesondere § 21, S. 120 und § 23, S. 121.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 57, 5.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 4– 7.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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standesbildung,¹²⁰⁷ auf die grundlegende Bedingung des menschlichen Tätigseins¹²⁰⁸ sowie auf das fundamentale Ziel der Entwicklung, bzw., wie im vorigen Abschnitt zu sehen war, der inneren Entwicklung des Menschen selbst.¹²⁰⁹ Einen Eindruck dieser Vielfalt des menschlichen Vollkommenheitsstrebens bzw. der den guten Handlungen gemäßen Besserung des Menschen oder seines Voranschreitens in Richtung seiner „großen Bestimmung“ vermag eine Passage des zweiten Teils des Hauptteils der Predigt in komprimierter Form zu vermitteln: „mit dankbarer Rührung erinnern wir uns der liebevollen Führung Gottes welche uns auf dem Weg des Lebens so vielen Veranlaßungen begegnen ließ, bald durch richtigere Erkenntniße unsern Verstand aufzuhellen, bald durch tiefere Blike in uns selbst uns neue Ziele nach denen wir ringen aufzusteken, bald durch besonders segensvolle Eindrüke von der Liebe und Hoheit Gottes unsre Seele zu erheben, bald mancherlei Handlungen der Liebe und des Wolwollens gegen andre zu üben“.¹²¹⁰

Die durchaus auch mit Rückschlägen verbundene Prozesshaftigkeit dieser Vervollkommnung kommt gegen Ende des zweiten Teils des Hauptteils der Predigt in den Blick: „Auf einmal werden wir uns nicht von nun an zu Mustern alles Guten erheben und alle Schwachheiten hinter uns laßen […], aber dessen können wir uns getrösten wir werden alle unsre Wünsche von der Art in so fern erreichen als wir sie immer recht ernstlich wollen werden.“¹²¹¹

Kennzeichen dieser Vervollkommnung ist dabei wiederum, was nicht nur als inhaltliche Qualifikation der „großen Bestimmung“, sondern auch der Schätzung oder Beurteilung des menschlichen Lebens insgesamt ermittelt wurde: „Mühe und Arbeit ist es und soll es seyn durch und durch“, „Arbeit“ nun aber explizit auch „in den schweren und mühsamen Fortschritten zum Guten.“¹²¹²

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 2– 9. In Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 23 – 35, wo es um das zu erarbeitende oder zu lernende Curriculum der „Schule des Lebens“ und damit der menschlichen Vollkommenheit geht, tritt die „Weisheit“ als eigenständige Größe neben die „Tugend“, was durch die parallel konstruierten Anfänge in Z. 23 und Z. 27 f. ersichtlich wird.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58 1 f. und 60, 7– 9.  So können Rückschläge in der „Besserung“ oder „Veredlung“ des Menschen auch als „Demüthigung seiner selbst“ bezeichnet werden (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 64, 6).  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 12.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 64, 25, das Zitat entstammt 64, 19 – 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 13 – 20.

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II. Predigtanalysen

Als Ergebnis dieses durch „Mühe und Arbeit“ errungenen Fortschreitens werden unter anderem auch die aus der Übung sowie aus beständigem Kampf und Streben hervorgehende „richtige[…] Stimmung“ oder die „Vollkomenheiten“ der menschlichen Seele, die ihrerseits wieder das gute Handeln oder auch den richtigen Umgang mit Freuden und Leiden seitens der Menschen fördern, zu verstehen sein.¹²¹³ Dem hier zum Vorschein kommenden optimistischen Menschenbild, das auch die Ausführungen der Predigt zum Thema, „[w]ie hoch […] sich nicht der Mensch emporschwingen [kan]“, wiederholt erkennen lassen,¹²¹⁴ korrespondiert andererseits, wie bereits aus den vorangegegangenen Predigtanalysen bekannt, die durchgängige Einsicht in die gleichfalls überall festzustellenden „Fehler und unrichtigen“¹²¹⁵ bzw. „unvollkomnen Handlungen“¹²¹⁶ der Menschen, „Beweise[…] menschlicher Schwachheit“¹²¹⁷ oder auch der „Mangel an Fortschritten im Guten“.¹²¹⁸ Ein Fokus der vorliegenden Predigt liegt dabei darauf, zu verdeutlichen, dass diese aus mangelnder Erkenntnis, aufgrund zu einseitiger Beurteilung,¹²¹⁹ trügerischer Hoffnung der „Einbildungskraft“ oder „ein[es] leichte[n] Sinn[es]“,¹²²⁰ aus „Nachläßigkeit“ oder „Trägheit“,¹²²¹ aufgrund erkaltenden Eifers für das Gute¹²²² oder schlicht als das Verfehlen des Guten¹²²³ begangenen „unrecht[en] und fehlerhaft[en]“ Handlungen¹²²⁴ von den Menschen selbst zu verantworten sind. Denn die Schuld für sein fehlerhaftes Handeln liegt nicht etwa in den Umständen oder Lebensverhältnissen des Menschen begründet, sie liegt vielmehr beim Menschen selbst, der aufgrund der Kräfte, die in ihm liegen, und der „immer bereite[n] Hülfe der Religion“ seine Fehler und die ihm begegnenden Versuchungen immer auch hätte besiegen können.¹²²⁵ Seine Fehler auf die „Umstände unter denen wir handelten“ zu schieben, wird denn auch mit Worten als Ausrede zurückgewiesen, die an den für Schleiermachers Examenspredigt konstitutiven

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 11– 16; dazu auch 55, 17– 23.  Vgl. z. B. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 7– 35; 61, 23 – 26; 64, 6 – 18.23 – 25.27– 30.38 f. Das Zitat ist Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 9 f. entnommen.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 13 – 16.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 2– 4.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 8 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 64, 6.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 16 – 53, 27 und 53, 29 – 33.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 30 – 36.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 36 – 40 und 58, 8 – 13.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 21– 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 15 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 13 – 15.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 13 – 29. Heranzuziehen wäre auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 7– 9; 58, 8 – 20 und 61, 39 – 62, 2.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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Gedanken der dem Menschen in sittlicher Hinsicht nötigen, aufrichtigen Selbsterkenntnis erinnern: bei rechter Beurteilung des menschlichen Lebens sind „wir […] gewiß weit entfernt“, die „Entdekung“ von Umständen, die unsere unrechten Handlungen förderten, „zu mißbrauchen um einen gewißen Leichtsinn in der Beurtheilung unserer selbst zu beschönigen und die Schuld des Bösen nicht auf uns sondern auf unsere Zustände zu schieben.“¹²²⁶ Neben den direkt von jedem einzelnen Menschen zu verantwortenden unrechten oder fehlerhaften Handlungen ist in dieser Predigt nun aber auch von den dem menschlichen Leben in sittlicher Hinsicht vorgegebenen „Schranken der menschlichen Natur“ die Rede. Diese bedingen es beispielsweise, dass sich Tugenden nicht nur der Tugend gemäß, sondern eben auch aus anthropologischen Gründen, nur durch „Kampf“ erwerben lassen, dass sich Menschen in sittlicher Hinsicht nur in einem allmählichen Prozess von einer „Stufe“ zur anderen emporzuarbeiten vermögen, dass das sittliche Wirken von Menschen an die „vollkommen[e]“ Reinigung ihrer eigenen „Absicht“ gebunden ist sowie dass „die Weisheit“ für sie vorzugsweise auf dem „Wege […] zu erlangen“ ist, „den ihnen die Führung Gottes vorgezeichnet hat“. In all diesen Bereichen hat der Mensch lebenslang zu lernen: „Keiner steht am Ziel! […] Wer noch athmet hat in der Schule des Lebens noch nicht ausgelernt.“¹²²⁷ Allen Menschen ist es also aufgrund ihrer Natur vor- und aufgegeben, sich ihre Vervollkommnung, Besserung oder Annäherung an ihre „große Bestimmung“ in einem lebenslangen Prozess des Mühens, Arbeitens und Kämpfens erringen zu müssen.¹²²⁸ In diese naturgemäße Grundbedingung des menschlichen Lebens fügt sich nun aber lückenlos ein, dass allen Menschen eben auch eine „schwache Seite“ ihres „Herzens“ zu eigen ist,¹²²⁹ die zunächst einmal alle gleichermaßen anfällig für Versuchungen macht.¹²³⁰ Trotz dieser „Schranken der menschlichen Natur“ bleibt der Mensch allerdings prinzipiell fähig, aufgrund der Kraft, die in ihm ist, sowie der „ihm zugegebnen Hülfsmittel[…] […] auch der größten Verführung auszuweichen und dem erkannten Guten treu zu bleiben“.¹²³¹ Nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist, ob mit der „irrdische[n] Unvollkommenheit“,von der im Schlussteil der Predigt die Rede ist, die „uns oft schwach und

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 13 – 21 in Verbindung mit 60, 29 – 32.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 35.  Hinsichtlich des prozesshaften Charakters der Vervollkommnung oder Annäherung an die „große Bestimmung“ der Menschen wäre erneut auch auf Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 18 – 25 hinzuweisen.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 14– 17.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 33 – 62, 2.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 18 – 23.

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II. Predigtanalysen

läßig mach[t]“ und eine besondere Anfälligkeit für die Versuchung des Bösen mit sich bringt,¹²³² nun genau diese „Schranken der menschlichen Natur“¹²³³ gemeint sind, oder ob hier – bzw. oder ob hier auch – eine noch andere Quelle oder Kategorie der menschlichen Schwachheit im Blick ist, die in der Predigt ebenfalls thematisiert wird. Denn neben den beiden genannten Formen der sich im weitesten Sinne auf den sittlichen Bereich beziehenden Schwachheit des Menschen, der sozusagen aus aktiv begangenen unrechten oder fehlerhaften Handlungen entstandenen Schwachheit oder Schuld sowie der letzten Endes auf schöpfungsgemäße Einschränkungen der menschlichen Natur zurückzuführenden Schwachheit, ist in der vorliegenden Predigt auch von den aus den „Unvollkomenheiten des Lebens“ oder aus der Einrichtung der ganzen Schöpfung resultierenden Schwachheiten und Leiden der Menschen die Rede.¹²³⁴ Angesprochen werden in diesem Zusammenhang Dinge wie die „Vergänglichkeit“ und die „natürliche[n] Unvollkomenheiten“ des menschlichen Lebens sowie der gesamten „Einrichtungen der irrdischen Welt“, die in umfassender Weise das „gesellige[…] Leben[…] mit andern unsres gleichen“, „die leblose Welt um uns her“ sowie „unsre Verbindung mit einem irdischen Körper“ implizieren und sich dann u. a. in den „Bürden“ des „geselligen Lebens“, in von der „Natur“ herrührenden „Beschwer-

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 36 – 65, 2.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 21– 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 33 – 35. Festzustellen wäre damit, dass Schleiermacher in dieser Predigt insgesamt auf alle drei der in Leibnizens Theodizee aufgeführten Arten des malum Bezug nimmt. Bei Leibniz erfolgt die Einteilung der verschiedenen Arten des malum, der Ausgabe entsprechend, die sich auch in Schleiermachers Besitz befand (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek2, S. 218), folgendermaßen: „Man kann das Böse in metaphysischem, physikalischem und in moralischem Verstande nehmen. Das metaphysische Böse besteht bloß in der Unvollkommenheit; das physikalische im Leiden, und das moralische in der Sünde.“ (Vgl. Leibnitz: Theodicee, § 21, S. 119). Wie eng dabei das metaphysische Übel, insofern es sich auf die Unvollkommenheit des Menschen bezieht, mit dem moralischen Übel verbunden ist, ist schon Gottscheds Anmerkung zu diesem Paragraphen zu entnehmen: „Ich will sagen, wie soll auch das beste einzelne Geschöpf, in den Augen Gottes ohne allen Tadel sein? Aus dieser Unvollkommenheit nun, als aus einem metaphysischen Übel, fließt bei vernünftigen Wesen, von mittelmäßiger Fähigkeit, sehr leicht, ja fast unfehlbar das moralische.“ (Vgl. Leibnitz: Theodicee, S. 120, Anm. [17]). In meiner Erhebung der Formen menschlicher Schwachheit bzw. Unvollkommenheit in Schleiermachers Predigt wäre die aus aktiv begangenen unrechten oder fehlerhaften Handlungen entstandene Schwachheit oder Schuld mit dem malum morale gleichzusetzen, die von mir ebenfalls als sittlich charakterisierte, letzten Endes auf schöpfungsgemäße Einschränkungen der menschlichen Natur zurückzuführende Schwachheit befände sich genau in dem von Gottsched beschriebenen Übergangsbereich zwischen metaphysischem und moralischem Übel.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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den“ oder auch in einer durch „Schwäche und Krankheit“ des Körpers bedingten Hinderung der Tätigkeit des menschlichen Geistes äußern können.¹²³⁵ Festzuhalten ist dabei wiederum, dass der Mensch auch durch diese „Beschwerlichkeiten“,¹²³⁶ „Sorgen und Kümmerniße“¹²³⁷ bzw. „größeren und kleinern Leiden des Erdenlebens“, die eben unser „beschiedenes Antheil“ sind, „so lange wir noch den Stempel des irrdischen tragen“,¹²³⁸ nicht der Fähigkeiten beraubt wird, einerseits die sich in seinem Leben bietenden Freuden dennoch zu genießen, andererseits die ihm begegnenden Gelegenheiten nutzen zu können, um sich durch entsprechendes Handeln seiner „großen Bestimmung“ anzunähern. Denn „sollten wir nicht immer gestehn müßen, daß wir Annehmlichkeiten genug genoßen haben um unsre Seele in Thätigkeit zu erhalten und wo es nöthig war aufs neue zu beleben? daß wir den Tribut von Leiden und Widerwärtigkeiten den wir diesem unvollkomnen Zustand schuldig sind immer haben überstehn können?“¹²³⁹

Ebenso wie im Zusammenhang mit den beiden Arten der im weitesten Sinne auf den sittlichen Bereich zu beziehenden Schwachheiten der Menschen kommt dadurch nun aber auch in Hinblick auf das menschliche Streben nach Glückseligkeit bzw. hinsichtlich des Besiegens oder Ertragens der mit der Einrichtung des Lebens verbundenen Leiden die eigene Verantwortlichkeit des Menschen in den Blick. Auch an den Leiden soll der Mensch seine „Kräfte […] üben“, auch das Ringen mit den Leiden des Lebens verweist den Menschen darauf, dass sein Leben „Mühe und Arbeit seyn muß“,¹²⁴⁰ und: auch im Kontext der zu besiegenden oder zu ertragenden Leiden bleibt der Mensch dabei nicht nur an seine eigenen Kräfte verwiesen, sondern letzten Endes immer auch an die hilfreichen „Gesinnungen der Religion“.¹²⁴¹ Einem grundsätzlich optimistischen Menschenbild, das den eigenen Kräften des Menschen durchaus einen gewissen Erfolg zumutet bzw. zutraut, korrespondiert damit schlussendlich – mit bzw. aufgrund der aktiven, wesens Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 55, 12 in Verbindung mit 54, 24– 33. Hinsichtlich der Vergänglichkeit wäre auch auf Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 11– 29; 65, 8 – 10; 52, 18 – 23 oder auf den Predigttext selbst (Ps 90,10) zu verweisen. Ein Hinweis auf „durch Alter oder Kummer“ verursachte „Beschwerden des Lebens“ findet sich in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 2– 8.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 15 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 37 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 6 – 11. Herangezogen werden könnte hier auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 33. In dieselbe Richtung weisen Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 17– 20 und 56, 29 – 31.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 30.

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II. Predigtanalysen

oder naturgemäßen sowie der in der Einrichtung der gesamten Schöpfung begründeten Schwachheiten des Menschen, sowohl hinsichtlich des Bekämpfens von Leiden und Widerwärtigkeiten als auch hinsichtlich des Überwindens von Versuchungen und Fehlern – die bleibende Angewiesenheit des Menschen auf die „größeren und kleineren Hülfsleistungen“ Gottes bzw. auf die dem menschlichen Leben durch Schöpfung oder göttliche Vorsehung beigegebenen „Beförderungsmittel des Guten“.¹²⁴² Wie unsere Fehler,¹²⁴³ so führen damit nun aber auch die Leiden und Widerwärtigkeiten des Lebens den Menschen zu guter Letzt zur Einsicht in seine Angewiesenheit auf die „liebevolle[…] Führung Gottes“¹²⁴⁴ bzw. auf die „immer bereite Hülfe der Religion“.¹²⁴⁵ Zu ergänzen bleibt, dass sich in der vorliegenden Predigt im Kontext der im weitesten Sinne auf den Bereich des Sittlichen zu beziehenden menschlichen Schwachheiten und deren grundsätzlicher Überwindbarkeit durch eigene Kräfte und die Hilfsmittel der Religion auch folgende, an Kant erinnernde,¹²⁴⁶ mit dem

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 13 – 24.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 19: „Ein jedes denkbares Verhältniß des menschlichen Lebens legt uns Pflichten auf, durch die wir nüzlich sind, deren Ausübung uns Mühe kostet, Fehler zeigt und uns also auf Gott führt und im Guten weiterbringt.“  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 12.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 23 – 27 und 62, 13 – 24. Zu verweisen wäre auch auf den Predigtschluss Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 10 – 14. Der Zusammenhang von Besiegen oder Ertragen der Leiden und dem Verweis auf die Hilfe der „Gesinnungen der Religion“ findet sich in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 30.  Am naheliegendsten wäre es, hinsichtlich dieser Definition des Bösen auf Kants Religionsschrift zu verweisen, in derem ersten Stück „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ Kant beispielsweise formuliert: „Mithin kann in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d.i. in einer Maxime der Grund des Bösen liegen.“ (Vgl. Kant: Religion, S. 19, [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 7]). Zur weiteren Charakterisierung einer solchen, über sittlich Gutes oder Böses entscheidenden Maxime könnte aus Kants Anmerkung zu diesem ersten Stück z. B. folgender Satz hinzugenommen werden: „Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urteile der Vernunft Triebfeder und, wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut.“ (Vgl. Kant: Religion, S. 23 [Hervorh. i. Orig.] [in der zweiten Ausgabe Kants von 1794, S. 12]). Die Schlussfolgerung, dass das moralisch Böse demzufolge darin besteht, das moralische Gesetz nicht zu seiner Maxime zu machen und seine Handlungen durch anderes, wie z. B. Neigungen bestimmen zu lassen, damit nun aber auch eine weitgehende Parallelität zur Formulierung der Schleiermacherschen Predigt, liegt auf der Hand. Da die Religionsschrift, auch das hier besonders relevante erste Stück derselben, zu Neujahr 1792 nun aber noch nicht veröffentlicht war, kann Schleiermacher in seiner Neujahrspredigt von 1792 kaum darauf zurückgegriffen haben (vgl. die entsprechende Bemerkung im Abschnitt zum historisch-biographischen Ort der vorliegenden Predigt). Indessen sind die diesbezüglichen Ausführungen in Kants „Grundlegung zur Metaphysik

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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Verweis auf den „Willen Gottes“ gleichzeitig aber auch über Kant hinausgehende,¹²⁴⁷ Definition des Bösen findet:

der Sitten“ und in der „Kritik der praktischen Vernunft“ deutlich genug und diese beiden hatte Schleiermacher nachweislich bereits vor Entstehung der hier vorliegenden Predigt studiert (ein Brief an Carl Gustav von Brinckmann aus dem Dezember 1789 beweist, dass Schleiermacher die „Kritik der praktischen Vernunft“ zu diesem Zeitpunkt bereits kannte, vgl. Brief 128, 266 – 274, in: KGA V/1, S. 177; die Kenntnis der „Grundlegung“ belegt m. E. der Brief vom 3. Februar 1790 an Carl Gustav von Brinckmann, vgl. Brief 134, 29 – 2, in: KGA V/1, S. 190 f.). So werden die Neigungen in ihrer handlungsmotivierenden Funktion schon in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ der Pflicht oder auch dem praktischen bzw. moralischen Gesetz gegenübergestellt, wenn der „sittliche Gehalt“ einer Handlungen motivierenden Maxime daran festgemacht wird, dass „Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ getan werden (vgl. Kant: Grundlegung, S. 17 [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 398]). Die Verknüpfung dieser Gegenüberstellung mit dem „an sich guten Willen[…]“ und damit mit der Frage nach dem sittlich Guten lässt sich beispielsweise folgender Passage aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung entnehmen: „Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe […], wenigstens aber doch so viel verstehe, daß es eine Schätzung des Wertes sei, welcher allen Wert dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die Notwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Wert über alles geht.“ (Vgl. Kant: Grundlegung, S. 23 [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 403]). Kurz zuvor war das Abweichen „von dem Prinzip der Pflicht“ explizit als „ganz bestimmt böse“ bezeichnet worden (vgl. Kant: Grundlegung, S. 22 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 402]). Zusammenfassend könnte Schleiermachers Definition des Bösen von daher schlicht als großenteils vereinbar mit der Kantischen Beurteilung jeglicher „Heteronomie des Willens“ als „der sittlichen Gesinnung entgegen“ und damit in sittlicher Hinsicht böse bezeichnet werden (vgl. zur „Heteronomie des Willens“ ausführlich Kant: Grundlegung, S. 69 – 74 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 441– 445] oder auch KpV, S. 87 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 112– 114]; die Beurteilung als „der sittlichen Gesinnung entgegen“ ist KpV, S. 44 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 58 f.] entnommen).  Vgl. z. B. KpV, S. 97 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 127): „[…] daß man dem göttlichen Willen gar keine Triebfedern beilegen könne, die Triebfeder des menschlichen Willens aber […] niemals etwas anders, als das moralische Gesetz sein könne“ oder auch die Einlassung Kants gegen den „Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“ in KpV, S. 87 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 112 f.): „Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühl, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen“.

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II. Predigtanalysen

„Es giebt nur ein Böses wozu der Mensch versucht wird, nemlich daß er irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat.“¹²⁴⁸

Hinzugefügt wird dieser Definition des Bösen als der Versuchung zu neigungsgemäßem statt gutem sowie dem Willen Gottes gemäßen Handeln in Bezug auf den Menschen, dem bereits bekannten Predigtduktus gemäß: „Dieses verfolgt ihn in tausend verschiedenen Gestalten“, wohnt aber „allen Verhältnißen des Lebens in gleichem Maaß bei[…]“. Grundsätzlich überwindbar bleibt dieses Böse nun aber wiederum, da alle Lebensverhältnisse immer „auch Mittel an die Hand“ geben, um „uns herauszuziehn“.¹²⁴⁹ Der Mensch vermag es demzufolge prinzipiell jederzeit, das Böse aufgrund von eigenen Kräften und der „immer bereite[n] Hülfe der Religion“¹²⁵⁰ zu vermeiden oder zu überwinden und so „dem erkannten Guten treu zu bleiben“.¹²⁵¹

II.3.1.6.3 Ursprung und Motivation des sittlichen Handelns, Zurechnung, (Willens‐)Freiheit, Bedeutung der Gesinnungen Einer Passage, die zunächst einmal die Situation desjenigen schildert, der mit sich aufgrund „ein[es] wirkliche[n] Mangel[s] an Fortschritten im Guten“ in seiner Vergangenheit unzufrieden ist, lassen sich, kurz vor Einsatz des Schlussteiles der Predigt, Hinweise auf die zugrunde liegende Konzeption der Handlungsmotivation entnehmen: „Das Nachdenken über das vergangne zeigt ihm die Möglichkeit des Besseren, das Mißvergnügen über seine Fehler erfüllt ihn mit einem edlen Muth und die Anhänglichkeit an die Religion gibt ihm die Stärke, die diesem Muth angemessen ist.“¹²⁵²

Sowohl das „Nachdenken“ als auch das „Mißvergnügen über seine Fehler“ verweisen dabei auf zwei für die Eberhardsche Sittenlehre der Vernunft hinsichtlich der Handlungsmotivation konstitutive Elemente, i. e. auf den an einer guten Handlung notwendigerweise beteiligten „Verstand“ sowie auf die hierbei ebenso

 Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 37– 59, 1. Heranzuziehen wäre in diesem Kontext zudem Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 28 – 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 27.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 18 – 21. Zu verweisen wäre auch auf Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 23: „Wir haben uns fest überzeugt daß es kein Verhältniß des Lebens gibt, wo man zum Bösen gezwungen es nicht vermeiden könnte.“  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 64, 25, hier zitiert ist 64, 6 – 10.

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notwendigerweise beteiligte „Empfindung des Vergnügens oder der Unlust“.¹²⁵³ Im weiteren Verlauf der Predigtpassage kommen sodann auch die gemäß der Eberhardschen Definition der „[v]ollständige[n] Güte einer freyen Handlung“¹²⁵⁴ noch fehlenden Momente der „Begierde nach dem Guten“ sowie des dieser Begierde entsprechenden „[W]ollen[s]“ und Kräfte-Anspannens zur Sprache.¹²⁵⁵ Charakteristisch für Schleiermachers Predigt ist, dass er hier zudem wieder die Hilfe der Religion bzw. „die Anhänglichkeit an die Religion“ als diejenige Größe in den Blick nimmt, die letztlich in entscheidender Weise zur Umsetzung des verstandesmäßig Erkannten und gefühlsmäßig Intendierten in gute Handlungen beiträgt.¹²⁵⁶ Erinnert sei daran, dass auch das selbstverständlich mit der Eberhardschen Konzeption der Handlungsmotivation kompatibel ist.¹²⁵⁷ Ebenfalls mit

 Der Nachweis bezüglich der Eberhardschen Formulierungen ist der folgenden Anmerkung zu entnehmen. In Schleiermachers Predigt findet sich bereits in einer früheren Passage des zweiten Teils des Hauptteils ein Hinweis auf das Gefühl der Lust bzw. des Vergnügens und damit implizit auch auf das entsprechende Pendant des Gefühls der Unlust bzw. des Missvergnügens als Element der Handlungsmotivation. Denn dort wird als eine Möglichkeit der Bilanz des Vergangenen geäußert, „daß unsre Seele mit Munterkeit und Lust ausgerüstet gern thätig war, so viel sie es vermochte“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 1– 3). Erinnert sei daran, dass dieses Element der Handlungsmotivation der Kantischen Konzeption explizit widerspricht (vgl. KpV, S. 31 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 44 f.] oder auch KpV, S. 98 – 100 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 128 – 130]).  Vgl. Eberhard: SdV, § 34, S. 34 f.: „Zu einer guten Handlung gehört also, daß darin nichts von Seiten des Verstandes, des Willens und der Bewegungskraft fehle. Denn dieses ist ihr Entstehen: der Verstand erkennt das Gute oder Böse, diese Vorstellung verursacht Vergnügen oder Unlust, diese Empfindung des Vergnügens oder der Unlust erregt den Willen zu Begehren oder Verabscheuen, und der Wille bewegt den Körper. Wenn etwas von diesen Bestandtheilen abgeht, oder darin fehlerhaft ist, so fehlt der Handlung etwas von ihrer Güte.“  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 15 – 25. Im Anschluss an die weiter oben zitierte Passage Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 6 – 10 folgt in 64, 10 – 18 eine Konstruktion von fünf rhetorischen Fragen und zwei Ausrufen. Die ersten vier dieser rhetorischen Fragen nehmen die beiden Aspekte des Empfindens und des Nachdenkens in chiastischer Anordnung zunächst in Hinblick auf die Vergangenheit, dann in Hinblick auf die Zukunft auf. Dadurch wird die grundlegende Relevanz dieser beiden Faktoren für die hier vertretene Theorie der Handlungsmotivation noch einmal deutlich.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 6 – 25. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Rede vom „heiligen Eifer[…]“ der Gläubigen „gegen die Schwäche, deren wir uns bewust sind“.  Hinzuweisen wäre auf die Eberhard: SdV, § 50, S. 48 f. zu entnehmende Unterstützungsfunktion der Religion bzw. deren Ergänzung und Verstärkung der „natürlichen Bewegungsgründe […]“ guter Handlungen. Im weiteren Kontext wäre auch noch einmal die laut Eberhard notwendige Rücküberführung von Gedanken in Empfindungen zu erwähnen, „wenn nun […] Gedanken sollen Entschließungen werden“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 232 f.), da bereits in der Analyse der

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II. Predigtanalysen

der Eberhardschen Konzeption der Handlungsmotivation stimmen sodann die grundlegende Ausrichtung der guten Handlungen in der vorliegenden Predigt auf das Ziel der vielfältigen menschlichen Vervollkommnung oder Annäherung an die „große Bestimmung“ des Menschen hin¹²⁵⁸ sowie der Gedanke der in diesem Prozess handlungsmotivierend fungierenden „Unzufriedenheit“ mit sich selbst, man könnte auch sagen des Bewusstseins der eigenen Unvollkommenheit oder Mangelhaftigkeit, überein.¹²⁵⁹ Mit dieser Adaption der Eberhardschen Konzeption verbindet die vorliegende Predigt im Kontext der Handlungsmotivation nun allerdings auch Elemente, die unverkennbar der Kantischen Praktischen Philosophie entstammen. Gemeint sind damit die explizite Berufung auf den „guten Willen“ der Gläubigen, die oben bereits dargestellte Nähe der Schleiermacherschen Definition des Bösen zur Kantischen Bestimmung des sittlich Bösen sowie die Übernahme des Kantischen Motivs des Tugendkampfes, der – bei Schleiermacher der menschlichen Natur sowie dem Wesen der Tugend,¹²⁶⁰ bei Kant der menschlichen Verfasstheit als sowohl der sinnlichen als auch der intelligiblen Welt zugehörig sowie dem Wesen der Tugend geschuldet¹²⁶¹ – dem Menschen in sittlicher Hinsicht unumgänglich aufgegeben ist.

Schleiermacherschen Gebetspredigt die für Schleiermacher konstitutive Bedeutung der Hilfe der Religion für diesen Schritt zu erkennen war (vgl. Predigt Nr. 14, KGA III/3, 142, 26 – 38).  Vgl. grundlegend z. B. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 12 oder 63, 34– 64, 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 1– 10. Grundlegend zu verweisen wäre in diesem Kontext auf die Ergebnisse der Analyse der Schleiermacherschen Examenspredigt.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 35.  Kant definiert die „Tugend“ im Gegensatz zur „Heiligkeit“, die dem „Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens“ entspricht, als „moralische Gesinnung im Kampfe“ (vgl. KpV, S. 114 f. [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 150 f.]). Beispielsweise der Beantwortung der Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ im dritten Abschnitt der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ ist sodann zu entnehmen, dass der Mensch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Verstandeswelt „dem Gesetze der […] Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen“ ist, andererseits allerdings „als Glied der Sinnenwelt“ zugleich auch unter dem Einfluss des „Naturgesetz[es] der Begierden und Neigungen“ steht. Dies hat zur Folge, dass davon auszugehen ist, dass die Handlungen des Menschen der „Autonomie des Willens“ nicht „jederzeit gemäß“ sind, sondern lediglich formuliert werden kann, dass sie dies „sein sollen“. Dieses Sollen ist nun allerdings als „kategorische[s] Sollen“ zu verstehen, da „die Idee“ des menschlichen Willens als „zur Verstandeswelt gehörigen, reinen für sich selbst praktischen Willens […] die oberste Bedingung“ des menschlichen Willens, insofern er „durch sinnliche Begierden affiziert[…]“ wird, wie Kant formuliert: „nach der Vernunft enthält“ (vgl. Kant: Grundlegung, S. 83 – 85 [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 453 – 455], die Zitate befinden sich mit Ausnahme der Frage der Überschrift auf S. 84 bzw. in der Akademieausgabe Bd. IV auf S. 453 f.). Dieses „kategorische Sollen“ bezeichnet nun aber wiederum genau „[d]ie sittliche Stufe“ der „Achtung fürs moralische Gesetz“, „worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht“,

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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Die Tatsache, dass dem menschlichen Willen bzw. Wollen im Kontext der Handlungsmotivation in Schleiermachers Predigt eine wesentliche Bedeutung zukommt,¹²⁶² könnte zunächst einmal auch, wie oben gesehen, auf die Nähe zur Eberhardschen Sittenlehre zurückgeführt werden. Auffällig ist nun allerdings die explizite Nennung des „guten Willen[s]“ im Schlussteil der Predigt,¹²⁶³ die insbesondere auf dem Hintergrund der Schleiermacherschen Definition des Bösen nun doch stark an Kant erinnert. Denn Schleiermachers Definition des Bösen verortet das Böse nicht nur wie Kant eindeutig im sittlichen Bereich,¹²⁶⁴ was an sich noch nicht weiter bemerkenswert wäre, Schleiermachers Definition des Bösen stimmt insbesondere in formaler Hinsicht in signifikanter Weise mit den Ausführungen Kants zur Qualifizierung des sittlich Guten bzw. Bösen überein. Denn, indem Schleiermacher das einzig existente Böse, „wozu der Mensch versucht wird,“ dahingehend definiert, „daß er irgend etwas das seiner Neigung schmeichelt demjenigen vorziehn möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“,¹²⁶⁵ charakterisiert er dieses Böse im Grunde genauso wie Kant als – durch den Menschen selbst vorgenommene, freie – falsche oder unsittliche Wil-

sowie den „moralische[n] Zustand“ der „Tugend, d.i. moralische Gesinnung im Kampfe“, „darin er jedesmal sein kann“ (vgl. KpV, S. 114 f. [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 150 f.]).  Hinzuweisen wäre beispielsweise auf folgende Passagen der Predigt: Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 23 – 29; 64, 17 f.19 – 25.31 f.; 65, 13 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 31 f. Diese Beziehung auf den „guten Willen“ erfolgt zwar im Kontext der „Freude“, also des Bereiches des Strebens nach Glückseligkeit, der unmittelbar folgende Satz macht dann allerdings deutlich, dass in dieser Passage des Schlussteils der Predigt Glückseligkeit und Tugend in einer gewissen Zusammengehörigkeit in den Blick kommen (vgl. auch den folgenden Abschnitt zum „Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit“ in der vorliegenden Predigt).  Hinzuweisen wäre hierfür beispielsweise auf folgende Passage der „Kritik der praktischen Vernunft“: „Das Gute oder Böse wird eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person bezogen, und, sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) gut oder böse sein, oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst, als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte.“ (Vgl. KpV, S. 82 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 105 f.]).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37. Hinzugezogen werden könnte an dieser Stelle auch die im Zusammenhang mit der Zurückweisung der Vorstellung eines möglichen Zwanges zum Bösen stehende Formulierung: „Alles ist ja voll von Beweisen was für Kraft in dem Menschen und denen ihm zugegebnen Hülfsmitteln liegt, auch der größten Verführung auszuweichen und dem erkannten Guten treu zu bleiben.“ (Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 18 – 21). „[D]em erkannten Guten treu zu bleiben“ aber verweist wiederum auf eine seinem Handeln zugrunde liegende bewusste gute Willensbestimmung des Menschen.

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II. Predigtanalysen

lensbestimmung.¹²⁶⁶ Die Übereinstimmung in der Art und Weise des Zustandekommens des sittlich Bösen bzw. Guten mit der Kantischen Konzeption des „gute[n] Wille[ns]“¹²⁶⁷ liegt damit auf der Hand.¹²⁶⁸ In inhaltlicher Hinsicht ist des Weiteren zunächst einmal eine grundlegende Übereinstimmung der Schleiermacherschen Definition des Bösen mit der Kantischen kategorischen Ablehnung jeglicher Neigung als Bestimmungsgrund des sittlich Guten¹²⁶⁹ festzustellen. Die der „Neigung“ entgegengesetzte positive bzw.

 Kant würde in diesem Zusammenhang,wie oben bereits dargelegt,von der Heteronomie des Willens sprechen. Diese liegt vor, wenn die Maxime, die der Mensch seinem Handeln zugrunde legt, nicht allein dem moralischen Gesetz entspricht, sondern – auch oder nur – von irgendwelchen anderen Objekten oder Triebfedern, Begierden oder Neigungen bestimmt wird. Dazu wäre beispielsweise der erste Satz des Kapitels „Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit“ im zweiten Abschnitt der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ heranzuziehen: „Wenn der Wille irgend worin anders als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin, wenn er, indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgendeines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus.“ (Vgl. Kant: Grundlegung, S. 69 [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 441]). Eine Definition des sittlich Guten kann dem ersten Abschnitt der „Grundlegung“ entnommen werden: „Es kann daher nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst […] sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung, der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzüglich Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf.“ Der dieser Passage hinzugefügten Anmerkung ist in differenzierter Weise zu entnehmen, dass die Menschen dem moralischen Gesetz zwar einerseits „unterworfen“ sind, dass es aber „als uns von uns selbst auferlegt“ „doch“ als „eine Folge unseres Willens“ bzw. unserer Willensbestimmung zu verstehen ist. Eine Definition der „Maxime“ als dem „subjektive[n] Prinzip des Wollens“, dem als „objektive[s] Prinzip“ „das praktische Gesetz“ gegenübersteht, bietet die unmittelbar vorangehende Anmerkung des Kantischen Textes (vgl. Kant: Grundlegung, S. 20 f. [Hervorh. i. Orig.] [Akademieausgabe Bd. IV, S. 400 f.]).  Zu den zuvor zitierten Passagen der „Grundlegung“ wäre hier natürlich der Hinweis auf den Beginn des ersten Abschnittes derselben hinzuzufügen (vgl. Kant: Grundlegung, S. 11– 13 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 393 – 395]) sowie u. a. auf KpV, S. 44 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 58 f.), S. 81 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 105 f.), S. 109 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 142– 144), S. 159 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 212 f.f.) oder S. 213 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 285 – 288) zu verweisen.  Peter Grove bezeichnet diesen Sachverhalt im Zusammenhang mit Schleiermachers philosophischer Studie „Über das höchste Gut“ aus dem Jahr 1789 als „Schleiermachers Anschluß an Kant, was die epistemische Seite der Sittlichkeit betrifft“ (vgl. Grove: Deutungen, S. 39).  Zu belegen wäre dies beispielsweise mit KpV, S. 158 f. (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 212), mit Kant: Grundlegung, S. 17 [Hervorh. i. Orig.] (Akademieausgabe Bd. IV, S. 398), wo der „sittliche Gehalt“ einer Maxime daran festgemacht wird, dass „Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ getan werden, oder mit Kant: Grundlegung, S. 23 [Hervorh. i.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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materiale Bestimmung des sittlich Guten bei Schleiermacher, i. e. die das sittlich Gute qualifizierende Orientierung des Handelns an dem, was der Mensch „als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“,¹²⁷⁰ steht nun allerdings deutlich im Widerspruch zur Kantischen Konzeption. Denn während Kant als einzig zulässigen Beweggrund des sittlich Guten die Autonomie des Willens bzw. die pflichtgemäße Befolgung der der Vernunft eigenen Gesetzgebung, i. e. des moralischen Gesetzes gelten lässt, beruft sich Schleiermacher in Hinblick auf die dem sittlich Guten entsprechende Willensbestimmung hier explizit auch auf den Willen Gottes, was nach Kant, wie oben bereits vermerkt wurde, geradezu eine „Verirrung[…] […] in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“ darstellen würde.¹²⁷¹ Schleiermacher dagegen rekurriert in seiner Predigt hinsichtlich der sittlichen Willensbestimmung ganz selbstverständlich auf den „Willen Gottes“ oder auch auf die Zusammengehörigkeit der „Geseze[…] der Religion und Tugend“¹²⁷² und bezieht somit die Dimension der religiösen Gesetzgebung bzw. des Religiösen, d. h. des Christlichen, konstitutiv in das Gefüge der sittlichen Handlungsmotivation mit ein.¹²⁷³ Hinzu kommt, dass schon die Bezugnahme auf das im weitesten Sinne sittliche Ziel der Vollkommenheit oder Vervollkommnung des Menschen bei Schleiermacher unter die in der Kantischen praktischen Vernunft genannten „Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“ fällt.¹²⁷⁴ In formaler Hinsicht stimmt Schleiermachers Definition des sittlich Bösen bzw. Guten somit zwar grundlegend mit der Kantischen praktisch-philosophischen Konzeption überein, in materialer oder metaethischer Hinsicht sind allerdings, sowohl aufgrund Schleiermachers Einbeziehung der religiösen Dimension in die Handlungsmotivation als auch aufgrund seines Beibehaltens der Orientierung des sittlichen Prozesses und damit des sittlich Guten an der Halleschen Größe der Vollkommenheit des Menschen, unverkennbare Unterschiede zwischen der Schleiermacherschen und der Kantischen Theorie der Sittlichkeit bzw. der

Orig.] (Akademieausgabe Bd. IV, S. 403), wo der übergreifenden Größe „allen Wert[es] dessen, was durch Neigung angepriesen wird,“ der Wert des „an sich guten Willens“ entgegengesetzt wird.  Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Hingewiesen sei noch einmal auf die Einlassung Kants gegen den „Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“ in KpV, S. 87 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 112 f.): „Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühl, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen“.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 5 – 7.  Zu vergleichen wäre dazu auch der Predigtschluss (Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 10 – 14) mit seiner Bezugnahme auf Phil 2,13.  Vgl. KpV, S. 87 (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 112 f.).

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II. Predigtanalysen

sittlichen Handlungsmotivation festzustellen. Eine nicht von der Hand zu weisende Nähe zur Kantischen Konzeption ergibt sich allerdings wieder, wenn die Ausführungen Schleiermachers hinsichtlich des den Menschen unumgänglichen lebenslangen Tugendkampfes in dieser Predigt in den Blick genommen werden. Dieser ist den Menschen in sittlicher Hinsicht in weitestgehend übereinstimmender Form sowohl bei Schleiermacher als auch bei Kant notwendig,¹²⁷⁵ in der Eberhardschen Sittenlehre der Vernunft so aber nicht zu finden.¹²⁷⁶ Sowohl Schleiermacher als auch Kant sehen nun aber nicht nur einerseits das Wesen der Tugend darin, dass sie im „Kampf“ errungen werden muss,¹²⁷⁷ andererseits die Notwendigkeit zu diesem lebenslangen Tugendkampf in einer spezifischen Verfasstheit des Menschen begründet, hinzu kommt auch noch, dass Schleiermacher kurz nach seiner entsprechenden Wesensbestimmung der Tugend auf die entscheidende Bedeutsamkeit der Reinigkeit der „Absicht“ der Handelnden in diesem „Streit und Kampf“ verweist.¹²⁷⁸ Damit bezieht sich Schleiermacher nun aber wieder auf die grundlegende Bedeutung der einer sittlichen Handlung vorangehenden sittlichen Willensbestimmung des Menschen, die im Grunde der Funktion der Kantischen „moralische[n] Gesinnung“ im Handlungsgefüge entspricht. Eberhard dagegen versteht die Tugend, wie früher schon zu sehen war, gerade nicht als eine der Handlung vorangehende Gesinnung, sondern als „Fertigkeit“.¹²⁷⁹ Dass der Hallesche Einfluss bei Schleiermacher andererseits aber auch

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 35 oder auch 61, 36 – 39 und die entsprechenden Ausführungen zur Tugend als „moralische[r] Gesinnung im Kampfe“ in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“: KpV, S. 114 f. [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 150 f.). In der sich auf die Verfasstheit des Menschen beziehenden Begründung der Notwendigkeit dieses lebenslangen Tugendkampfes weichen Schleiermacher und Kant allerdings, wie bereits oben erwähnt wurde, voneinander ab.Während es bei Schleiermacher in ontologischer Diktion die „Schranken der menschlichen Natur“ sind (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 21– 23), denen sich diese Notwendigkeit verdankt, ist es bei Kant letztlich die Differenz zwischen Sinnenwelt und Verstandeswelt bzw. konkret die immer auch zuzugestehende Zugehörigkeit des Menschen zur Sinnenwelt, die den lebenslangen Streit mit der Gesetzgebung der intelligiblen Welt hervorruft (vgl. beispielsweise Kant: Grundlegung, S. 83 – 85 [Akademieausgabe Bd. IV, S. 453 – 455]).  Vgl. die Ausführungen zum „VIII. Hauptstück. Von der Tugend.“ in Eberhard: SdV, §§ 96 – 98, S. 98 – 102, das Zitat befindet sich auf S. 98 und ist im Original als Überschrift hervorgehoben.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 23 f.: „Sie möchten Tugend haben ohne Kampf, was keine Tugend wäre“ und KpV, S. 115 [Hervorh. i. Orig.] (in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 151): „Tugend, d.i. moralische Gesinnung im Kampfe“.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 15 – 27.  Gleich zu Beginn des den „Begriff“ der Tugend verhandelnden Paragraphen ist bei Eberhard beispielsweise zu lesen: „Zu der Lehre von der Pflicht gehört auch die Lehre von der Tugend. Denn die Tugend ist die Fertigkeit in unsern Pflichten, oder der Beobachtung der Gesetze.“ (Vgl.

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im Kontext seiner Überlegungen zum Tugendkampf nicht gänzlich verschwindet, war bereits an seiner Variante der in der menschlichen Verfasstheit begründeten Notwendigkeit dieses Tugendkampfes zu sehen, die er in ontologischer Manier auf die „Schranken der menschlichen Natur“ zurückführt.¹²⁸⁰ Ebenfalls als dem Halleschen Einfluss geschuldet muss im Kontext der Handlungsmotivation sodann die in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt begegnende Überlegung mancher Menschen gewertet werden, die eigenen guten Handlungen auf die „richtige[…] Stimmung und d[ie] Vollkomenheiten ihrer Seele“ zurückzuführen.¹²⁸¹ Zusammenfassend bleibt damit hinsichtlich der dieser Predigt zu entnehmenden Theorie der Handlungsmotivation festzuhalten, dass hier unverkennbar

Eberhard: SdV, § 96, S. 98). Dass das entscheidende Kriterium der Tugend dabei wieder, der grundlegend onotologisch orientierten Gesamttheorie entsprechend, die „Uebereinstimmung mit dem Naturgesetze“ ist, kommt u. a. in folgenden Passagen zum Ausdruck: „Da nun die Tugend, als Fertigkeit, ein größeres Vermögen ist, den Gesetzen gemäß zu handeln […]“ oder auch „[d]as Wesen der Tugend besteht also in der Uebereinstimmung mit dem Naturgesetze.“ (Vgl. Eberhard: SdV, § 96.1 und § 96.2, S. 98 f.). In entsprechender Weise definiert Eberhard die „Gesinnungen“, wie bereits erwähnt, als „die praktischen Urtheile von der Sittlichkeit der freyen Handlungen“ (vgl. Eberhard: SdV, § 56.1, S. 57). Da diese Sittlichkeit bzw. Moralität nun aber in erster Linie von „ihr[em] Zusammenstimmen […] mit dem Wesen, Eigenschaften und der Bestimmung des Menschen“ abhängt, also die ontologisch vorgegebenen inneren oder objektiven Kriterien der Sittlichkeit freier Handlungen den äußeren oder subjektiven Kriterien, die sozusagen lediglich auf den „freyen Willen einer Person“ zurückgehen, vorgeordnet werden, wird deutlich, dass die sittlichen Gesinnungen bei Eberhard letzten Endes auf eine nachgängige Übereinstimmung der freien Handlungen mit den ontologisch gegebenen Gesetzmäßigkeiten zielen und bei ihm in diesem Zusammenhang erst in zweiter Linie der „freye[…] Wille[…] einer Person“ eine Rolle spielt (vgl. Eberhard: SdV, § 25, S. 26).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 21– 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 11– 18. Bei Eberhard ist im Zusammenhang mit der „Vollkommenheit der Seele“ von der „Verhältnißmäßigkeit bey der Ausbildung der Seelenvermögen“ die Rede: „Um das richtige Maaß in der Ausbildung der Seelenvermögen zu treffen, müssen wir sowohl auf ihr inneres Verhältniß, als auch auf das Verhältniß eines jeden zu unsern Umständen Rücksicht nehmen.“ (Vgl. Eberhard: SdV, § 170, S. 204 f., das kursiv Gesetzte gibt die Überschrift des Paragraphen wieder). Anzustreben ist damit ein – sowohl nach innen als auch nach außen gerichtetes – ausgewogenes Verhältnis der Vollkommenheiten der einzelnen Seelenvermögen, das dann insgesamt die größtmögliche Vollkommenheit der menschlichen Seele ergibt. Im Hintergrund dessen ist ohne Zweifel auch das „Erbe des Wolffschen Gedankens der Vollkommenheit eines Dinges als ‚Zusammenstimmung des Mannigfaltigen‘“ erkennbar (vgl. Grove: Deutungen, S. 43 mit Bezug auf Wolff: Deutsche Metaphysik, § 152, S. 78). Die „Stimmung“ der Seele beruht, an den aristotelischen Habitus erinnernd (vgl. die entsprechenden Ausführungen im siebten Kapitel des dritten Buches der Nikomachischen Ethik, Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 56 [Bekkersche Zählung: 1114a]), auf der Übung bestimmter Fertigkeiten der Seele (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 17– 20).

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II. Predigtanalysen

sowohl wesentliche Aspekte der entsprechenden Eberhardschen Konzeption als auch wesentliche Aspekte der entsprechenden Kantischen Konzeption zusammenfließen. Hinsichtlich der (Willens‐)Freiheit ist allerdings eine größere Nähe der vorliegenden Predigt zur Kantischen Praktischen Philosophie festzustellen, insbesondere in Hinblick auf die hier von Schleiermacher vertretene Definition des Bösen. Denn indem das einzig existente Böse darin gesehen wird, dass die Menschen ihren Willen durch Neigungen bestimmen lassen, obwohl es ihnen aufgrund der eigenen inneren Kräfte sowie der immer bereitstehenden Hilfe der Religion jederzeit möglich wäre, ihren Willen von dem als gut und dem Willen Gottes gemäß Erkannten bestimmen zu lassen, wird die sittliche Willensbestimmung, trotz der materialen Differenzen, letzten Endes wie bei Kant auf die freie Maximenwahl des Menschen zurückgeführt, nicht aber auf das Kriterium der Übereinstimmung mit ontologisch vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten, wie es Eberhards Hallescher Konzeption entspräche.¹²⁸²

 Vgl. die Vorordnung der ontologisch gegebenen inneren bzw. objektiven Kriterien der Sittlichkeit einer freien Handlung vor die durch den freien Willen einer Person bestimmten äußeren oder subjektiven Kriterien bei Eberhard: SdV, §§ 25 – 28, S. 25 – 29. Die „freye Handlung des Menschen“ definiert Eberhard folgendermaßen: „Eine freye Handlung des Menschen aber ist diejenige, in Ansehung der es in dem Vermögen des Menschen steht, sich selbst durch seinen freyen Willen zu bestimmen. Sie ist gut, wenn sie seine Glückseligkeit befördert, und böse, wenn sie dieselbe hindert.“ (Vgl. Eberhard: SdV, § 2, S. 3). Da die Glückseligkeit nun aber wiederum auf die Vollkommenheit zurückgeführt wird (vgl. Eberhard: SdV, § 3, S. 3), kommt auch hier zum Ausdruck, dass die freie Willensbestimmung des Menschen bei Eberhard an das Kriterium der Übereinstimmung mit vorgegebenen ontologischen Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. Die „Natur des freyen Willens“ besteht laut Eberhard konsequenterweise darin, das, „was wir uns deutlich als gut vorstellen,“ von selbst zu begehren und das, „was wir uns als deutlich Böse vorstellen,“ ebenso von selbst zu verabscheuen (vgl. Eberhard: SdV, § 39, S. 38). Die Lösung für das Problem des Zusammenbestehens des Bewusstseins der „Freyheit des Willens“ mit dem auf ontologisch gegebene Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten gegründeten „Zusammenhange der Weltveränderungen“ schließlich sieht Eberhard letztlich darin gegeben, dass „das Bewußtseyn bey einer freyen Handlung […] nicht alle Theile derselben umfaßt“ und „in sofern […] nur zum Theil mit dem Gegenstande übereinstimmt“ (vgl. Eberhard: AThDE, S. 36 f.). Ganz anders realisiert sich die (Willens‐)Freiheit des Menschen bei Kant in der „freien Unterwerfung des Willens“ unter das moralische Gesetz (vgl. KpV, S. 109 [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 142 f.]). Dabei wird „alles, was sich als Objekt des Willens vor dem moralischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgründen des Willens, unter dem Namen des UnbedingtGuten, durch dieses Gesetz selbst […] ausgeschlossen“ (vgl. KpV, S. 100 [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 130 f.]). Die „Abhängigkeit vom Naturgesetze“ kann Kant in diesem Zusammenhang geradezu mit einer „Heteronomie der Willkür“ gleichsetzen (vgl. KpV, S. 45 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 59]). Denn „an sich und schlechterdings-gut“ ist für Kant allein „die bloße praktische Form, die in der Tauglichkeit der Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung besteht“, da diese wiederum allein dazu in der Lage ist,

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit ergibt sich daraus konsequenterweise, dass die Menschen laut Schleiermachers Predigt für ihre unrechten oder falschen Handlungen selbst verantwortlich bleiben, auch wenn ihnen noch so viele ungünstige Lebensumstände vordergründig die Wahl des Bösen nahe legen.¹²⁸³ Ein Zwang zum Bösen existiert nicht.¹²⁸⁴ Etwas zu differenzieren ist laut Schleiermacher allerdings hinsichtlich der guten Handlungen der Menschen. Denn diese basieren grundsätzlich auf der Angewiesenheit des Menschen auf die Hilfe der Religion bzw. Gottes und sind aufgrund dessen nie allein dem Vermögen des Menschen zuzurechnen. Theologisch gesprochen schließt Schleiermacher damit den Gedanken möglicher verdienstlicher Werke seitens des Menschen aus.¹²⁸⁵ In Hinblick auf den Aspekt der Freiheit des Menschen wäre allerdings präzisierend hinzuzufügen, dass dieser in Schleiermachers Predigt – den zwei grundlegenden Ausrichtungen des Menschen gemäß – in zweifacher Hinsicht konzipiert ist. So kommt neben der den Bereich der Handlungsmotivation betreffenden (Willens‐)Freiheit des Menschen auch eine in den Bereich des Strebens nach Glückseligkeit gehörige, die Empfindungsebene in den Blick nehmende Freiheit des Menschen gegenüber äußeren Einwirkungen zur Sprache. Dieser zufolge ist der Mensch zwar neben wahren Freuden auch wahren Leiden ausgesetzt,¹²⁸⁶ da das vorherbestimmte Verhältnis zwischen beiden aber für alle Menschen bzw. Lebensumstände als dasselbe anzusehen ist, hängt der tatsächliche Einfluss der Freuden bzw. Leiden auf ein menschliches Leben letzten Endes allein davon ab, wie der Mensch mit ihnen umgeht und sie zu nehmen bzw. zu tragen vermag.¹²⁸⁷ In den Blick genommen wird damit – hinsichtlich der (relativen)

„die Maxime eines reinen Willens [zu] gründe[n], der allein in aller Absicht gut ist.“ (Vgl. KpV, S. 100 [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 131]).  Vgl. insbesondere Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 13 – 62, 2, aber auch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 4– 21 und 58, 8 – 13. „[B]egleitende[…] Umstände“, einschränkende „Verhältniße“, „unvermutheter Zufall“ oder „sonderbare Verwiklung“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 53, 18 – 26 und 57, 14– 17), Verführung und Versuchung zum Bösen (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 18 – 21; 58, 34– 59, 1 und 61, 33 – 36) sowie „Schranken der menschlichen Natur“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 21– 35 und 64, 18 – 25) und „irrdische Unvollkommenheit“, die „uns oft schwach und läßig mach[t]“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 36 – 39) gibt es zwar, sie sind aber nicht entscheidend für die Qualität der menschlichen Handlungen, da die Menschen laut der vorliegenden Predigt allen diesen widrigen Umständen und Versuchungen mit Hilfe eigener Kräfte sowie der Hilfsmittel der Religion bzw. Gottes widerstehen können (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 13 – 21 und 61, 21– 29).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 23 und 64, 27– 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 2– 24.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 55, 12 und 63, 10 – 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 12– 23; 56, 27– 33; 59, 15 – 18 und 63, 20 – 33.

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II. Predigtanalysen

Freiheit gegenüber äußeren Einwirkungen – die Bedeutung der inneren Verfasstheit oder Subjektivität des Menschen, die exemplarisch in der „Stimmung der Seele, in der größern oder geringern Fertigkeit das Gute zu finden und zu erhöhn, und das Uebel zu vermeiden oder sich zu erleichtern“, zum Ausdruck kommt.¹²⁸⁸ In diesen Kontext gehört dann aber auch die Rede davon, sich eine „Empfindungsart […] zur herrschenden zu machen“,¹²⁸⁹ die wieder stark an die aus dem Bereich der Handlungsmotivation bekannte, auf Kant verweisende, Willensbestimmung der Menschen durch ihre Maximenwahl erinnert. Darüber hinaus kommt bereits in den Überlegungen der Predigt zu dem Sachverhalt, dass sich alle Lebensumstände „in Absicht des Glüks das sie möglich machen, und des Leidens, das sie herbeiführen[,] so ziemlich das Gleichgewicht halten“, eine prinzipielle Unabhängigkeit der Menschen von äußeren Faktoren auch hinsichtlich des Bereiches der guten Handlungen bzw. der Handlungsmotivation zum Ausdruck. Denn hier wird deutlich, dass im Grunde alle Privilegien oder Freiheiten eines Menschen mit deren jeweils entsprechenden Nachteilen oder Unfreiheiten verbunden sind. „[W]enn Macht und Gewalt über andre dem Menschen mehr Freiheit für seine Kräfte läßt, so sind sie“ beispielsweise andererseits „mit tausend Sorgen und Unruhen verbunden“, die diese Kräfte wiederum hemmen.¹²⁹⁰ In der Konsequenz dessen hat als „wahrer Maaßstab für die menschlichen Handlungen“ nicht „etwa der Glanz und die Größe der äußern Folgen“ derselben zu gelten, sondern „das was in der Seele vorgeht und die Kraft die sie anwendet“.¹²⁹¹ Somit wäre aber auch im Zusammenhang mit der sich auf den Bereich der Handlungsmotivation beziehenden (Willens‐)Freiheit des Menschen die maßgebliche Bedeutung der innerpsychischen Vorgänge im Menschen bzw. der Subjektivität des Menschen gegenüber den letzten Endes irrelevanten äußeren Handlungsfolgen noch einmal explizit zur Sprache gebracht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, obwohl der Mensch laut Schleiermachers Predigt sowohl im Bereich des Strebens nach Glückseligkeit als auch im Bereich des Strebens nach seiner „großen Bestimmung“ bzw. Besserung auf ein Mindestmaß an „Annehmlichkeiten“ und Gelegenheiten, im Guten vor Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 17– 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 33 – 55, 3.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 29 – 56, 11.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 38 – 58, 16 und 61, 8 – 13. Vorausweisen könnte dieser Gedanke auf die Konzeption des „innern Handelns“ oder des „innern Lebens“ in den Monologen (vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Monologen. Eine Neujahrsgabe [1800], in: KGA I/3 [Schleiermacher: Monologen], z. B. 10, 26 – 12, 7 und 49, 6 – 35). Gegen Ende des fünften Monologs „Jugend und Alter“ formuliert Schleiermacher, das innere Handeln auf die innere Freiheit des Menschen zurückführend: „dem Bewußtsein der innern Freiheit und ihres Handelns entsprießt ewige Jugend und Freude“ (vgl. Schleiermacher: Monologen, 61, 13 f.).

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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anzukommen, angewiesen ist¹²⁹² und obwohl dem Menschen dabei einerseits ein bestimmtes Maß an Genüssen, eine bestimmte „Masse von Vergnügen“, andererseits „größere[…] und kleiner[e] Leiden des Erdenlebens“ als sein bzw. ihr „irrdische[s] Antheil“ vorherbestimmt sind¹²⁹³ und in diesem Zusammenhang sogar vom immer gleich bleibenden „Schiksal“¹²⁹⁴ oder „Loos“¹²⁹⁵ der Menschen die Rede sein kann, in dieser Predigt letzten Endes der frei handelnde und empfindende Mensch gefragt bleibt, der die Mühe und Arbeit seines Menschenlebens auf sich nimmt und den damit verbundenen Kampf mittels seiner eigenen Kräfte und der ihm zur Verfügung stehenden Hilsfmittel der Religion bzw. Gottes erfolgreich besteht.¹²⁹⁶ Die Vereinbarkeit dieser anthropologischen Konzeption mit der Vorstellung der göttlichen Vorsehung und Führung des einzelnen Menschen steht dabei außer Frage, gehen doch sowohl die gerade genannten Annehmlichkeiten als auch die Gelegenheiten, im Guten voranzukommen, sowohl die „in das irrdische Leben überhaupt“ gelegten „Beförderungsmittel des Guten“ als auch alle „uns von außen“ zukommenden „größeren und kleineren Hülfsleistungen“ letzten Endes auf die „liebevolle[…] Führung Gottes“ zurück.¹²⁹⁷

II.3.1.6.4 Verbindlichkeit und Pflicht bzw. Pflichten Der Gedanke der Pflichten spielt in dieser Predigt eine ungleich größere Rolle als in den bisher analysierten Predigten. Bedingt sein könnte das dadurch, dass die grundlegende Bestimmung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“ geradezu impliziert, das menschliche Leben von seinen Pflichten her zu verstehen.¹²⁹⁸ Die konstitutive Bedeutung der Pflichten für das menschliche Leben gemäß dieser Predigt ist in nuce einer im Kontext der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen stehenden Passage des ersten Teils des Hauptteils zu entnehmen:

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 2– 9 und 59, 4– 15.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 13 – 17 und 63, 10 – 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 1– 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 30 – 33 und 65, 4– 6.  Vgl. exemplarisch Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 13 – 20.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 28.  Vgl. insbesondere Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 20, wo im Kontext der Bestimmung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“ der Gedanke der Pflichten in 59, 16 f. und in 59, 8 f. mit der Formulierung „das auszurichten, wozu man da ist“, aufgenommen wird. Im weiteren Kontext wäre aber auch auf Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 27– 29; 63, 20 – 33 und 64, 39 – 65, 8 zu verweisen.

292

II. Predigtanalysen

„Ein jedes denkbares Verhältniß des menschlichen Lebens legt uns Pflichten auf, durch die wir nüzlich sind, deren Ausübung uns Mühe kostet, Fehler zeigt und uns also auf Gott führt und im Guten weiterbringt. Je emsiger und treuer wir diese erfüllen desto thätiger sind wir. O es mag mancher große Veränderungen in der Welt hervorgebracht haben, wovon die Geschichte noch nach Jahrhunderten spricht und dabei weniger thätig gewesen seyn, als viele die unbemerkt im verborgenen ihren stillen Beruf in der Welt mit Treue erfüllten.“¹²⁹⁹

Charakteristisch für dieses Pflichtenverständnis ist zunächst einmal, dass in dessen Hintergrund, neben dem Aspekt der Nützlichkeit,¹³⁰⁰ das grundlegende sittliche Ziel der Vervollkommnung des Menschen zu erkennen ist: Durch die Arbeit an sich selbst und durch die Erkenntnis der eigenen Fehler sowie der damit verbundenen Angewiesenheit auf Gott kommt der Mensch letztlich „im Guten weiter[…]“. Bemerkenswert ist sodann, dass hier im Kontext der Rede von den Pflichten auch die grundsätzliche Bedeutung des Tätigseins des Menschen wieder in den Blick kommt. Dieses Tätigsein wird nun aber mit der „stillen“ und treuen Ausübung des dem jeweiligen Menschen zukommenden „Beruf[s] in der Welt“ identifiziert.¹³⁰¹ Die Bedeutung der „Art“ des Tätigseins¹³⁰² des Menschen tritt so hinter die – im Grunde „reformatorische[s] B[erufs]ethos“ in Reinform propagierende¹³⁰³ – Aufforderung zurück: „laßt uns unsern Beruf ehren und lieben,  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 24.  Dieser Aspekt begegnet auch in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 22– 29 und in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 5 – 8. Dass hier ein Anklang an die stoische Verbindung des sittlich Guten bzw. der Tugend mit der „Konnotation des Nützlichen“ vorliegen könnte, das bzw. die letztlich auf das zielt, „was den Menschen gut macht“ und von daher „seiner Verfassung nützt“ (vgl. Forschner: Stoische Ethik, S. 178 f.), wäre ebenso denkbar wie die Herkunft dieses Aspekts aus der Tradition der Neologie (zu verweisen wäre z. B. auf Spaldings Werk „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ [vgl. SpKA I/3], etc.).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 24.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 3 – 9.  Vgl. den entsprechenden Abschnitt im zehnten Kapitel des Dritten Buches der Calvinschen Institutio (Calvin: Institutio III, 10, 6, S. 470). Grundlegend wären zum reformatorischen Berufsethos beispielsweise auch Franz Lau: Beruf. III. Christentum und Beruf, RGG3 Bd. 1, Sp. 1076, Hans G. Ulrich: Beruf. III. Kirchengeschichtlich, RGG4 Bd. 1, Sp. 1338 – 1341 und Volker Drehsen: Beruf. V. Praktisch-theologisch, RGG4 Bd. 1, Sp. 1343 f. heranzuziehen. Heinz-Horst Schrey stellt fest, dass der Terminus „Beruf […] in Aufklärung und deutschem […]Idealismus zum Grundbegriff der Pflichtenlehre geworden“ ist (vgl. Heinz-Horst Schrey: Beruf. III. Protestantismus und Katholizismus der Neuzeit, TRE Bd. 5, S. 672). Eine typische Variante dieses Sachverhalts, die „Beruf“ und „Pflichten“ ausdrücklich als religiöse Kategorien bzw. als alltäglichen Gottesdienst ausweist, findet sich beispielsweise in Spaldings Predigt „über den beständigen Gottesdienst eines Christen“, die Schleiermacher im für die Entstehung der vorliegenden Predigt relevanten Zeitraum bereits zugänglich war. Dort heißt es: „Wer selbst einmal von dem großen Werthe der Religion und der Gewissenhaftigkeit überzeugt ist, wer die Empfindung davon einmal seinem Gemüthe mit wahrem Ernst eingedrückt hat, der wird gar wohl in dieser Gesinnung alles

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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wenn er auch still und unbemerkt ist“. Die treue und pflichtbewusste Ausübung des eigenen Berufs, „wenn er auch still und unbemerkt ist“,¹³⁰⁴ kommt damit neben den zuvor erwähnten innerpsychischen Vorgängen bzw. der „Kraft die sie [i. e. die Seele, D.G.] anwendet“, als ein „wahrer Maaßstab für die menschlichen Handlungen“¹³⁰⁵ bzw. als angemessene sittliche „Triebfeder[…]“¹³⁰⁶ in den Blick. Was indessen unter den am Ende des ersten Teils des Hauptteils erwähnten „höhern Pflichten“ zu verstehen ist, wird leider nicht näher definiert. Da diese allerdings im Kontext des Strebens nach Glückseligkeit als Grenze des zulässigen Beseitigens von „Beschwerlichkeiten“ genannt werden, die eben nur „so viel es mit höhern Pflichten bestehn kann“ entfernt werden dürfen, ist davon auszugehen, dass mit ihnen der Bereich der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen angesprochen ist.¹³⁰⁷

II.3.1.6.5 Das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, Begriff der Glückseligkeit und des Höchsten Gutes Glückseligkeit und Tugend sind in dieser Predigt zunächst einmal als zwei voneinander zu unterscheidende Aspekte wahrzunehmen, worauf schon die den Bedürfnissen der „Natur unserer Seele“ entsprechende, grundlegende Unterteilung der Schätzung bzw. Beurteilung des menschlichen Lebens in das Streben nach Glückseligkeit einerseits und in den Bereich der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen andererseits verweist.¹³⁰⁸ Dabei stehen diese beiden Bereiche, wie bereits aus der Analyse der

das thun können, was er in seinen gewöhnlichen Verrichtungen zu thun hat. […] indem er gerne die Vorstellung bey sich erweckt: Gott siehet mich auch hier bey dieser meiner Arbeit; und wie glücklich bin ich, wenn ich ihm darin wohlgefalle! indem er dann eben aus diesem Grunde desto sorgfältiger sein Gewissen bewahret, Redlichkeit und Fleiß beweiset; so werden dadurch die Werke seines Berufs selbst wirkliche Werke der Religion; und sein Stand, seine Lebensart, seine Beschäftigung mag sonst auch noch so klein, und in den Augen der Welt noch so verächtlich seyn, so dienet er doch in der That Gott damit; und er dienet ihm auf die Art viel besser, als wenn er, mit Verabsäumung solcher gemeinnützigen Pflichten, in einem scheinheiligen Müßiggange sich hinsetzte, seine Zeit mit beständigen eigentlichen Andachtsübungen zuzubringen.“ (Vgl. SpKA II/ 2, 216, 31– 217, 25).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 3 – 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 13 – 16.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 8 – 13.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 15 – 17.  Vgl. grundlegend Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 5 – 9 und 54, 15 – 24, die oben angeführten Zitate sind der letzteren Passage entnommen. Eine grundsätzliche Unterscheidung der beiden Aspekte der Glückseligkeit und der Tugend voneinander liegt der Kantischen Konzeption des Höchsten Gutes zugrunde: „Also bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch

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II. Predigtanalysen

Schleiermacherschen Gebetspredigt bekannt, in einem unumkehrbaren hierarchischen Verhältnis zueinander: das Streben nach Glückseligkeit bleibt dem Bereich der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen strikt untergeordnet.¹³⁰⁹ Neben dieser grundlegenden Unterscheidung der beiden Bereiche begegnet im Predigtschluss dieser Predigt allerdings zudem der Gedanke der mit der Tugend, präziser der mit „Frömmigkeit und Tugend“ verbundenen Glückseligkeit, was u. a. an der für diesen Sachverhalt charakteristischen Formulierung: „Frömmigkeit und Tugend werden uns selige segensreiche Augenblike bereiten“ festgemacht werden kann.¹³¹⁰ Eine die gesamte Predigt durchziehende Gemeinsamkeit des Strebens nach Glückseligkeit und des der Tugend zuzuordnenden Bereiches der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen findet sich in der grundlegenden „Bestimmung des Lebens und der allgemeinen Regel desselben“ als „Mühe und Arbeit“.¹³¹¹ Der Passage in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 30 ist dabei zu entnehmen, dass das Ertragen und Bekämpfen der Leiden des menschlichen Lebens genauso wie das Ringen um Tugend und Besserung maßgeblich auf den inneren Kräften des Menschen sowie auf der möglich, noch immer […] eine unaufgelösete Aufgabe. Das aber, was sie zu einer schwer zu lösenden Aufgabe macht, ist in der Analytik gegeben, nämlich daß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt werden könne […]“ (vgl. KpV, S. 152 [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 203]).  Vgl. beispielsweise Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 27– 36 und 60, 22– 29. Verwiesen werden könnte in diesem Zusammenhang auch auf 59, 4– 9. Die entsprechende Hierarchie findet sich auch in Kants Konzeption des Höchsten Gutes: „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit, glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer […] nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“ (Vgl. KpV, S. 149 f. [Hervorh. i. Orig.] [in der ersten Ausgabe Kants mit dem Druckjahr 1788, S. 199]).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 31– 36.  Zu vergleichen wäre beispielsweise die Bestimmung des menschlichen Lebens als „Mühe und Arbeit“ im Kontext des Strebens nach Glückseligkeit in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/ 3, 56, 27– 29 und 60, 2– 6 (dieser Passage ist das oben angeführte Zitat entnommen) mit der beide Bereiche umfassenden entsprechenden Charakterisierung des menschlichen Lebens in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 22; besonders deutlich natürlich auch im Zusammenhang bzw. im Anschluss an die mit der Tugend verbundene Glückseligkeit am Predigtschluss: 64, 31– 65, 8.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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göttlichen Hilfe bzw. auf der Hilfe der „Gesinnungen der Religion“ beruht.¹³¹² Die göttliche Führung nimmt von daher konsequenterweise beide Bereiche in den Blick und bedenkt die Menschen sowohl mit der „Gelegenheit zur Freude“ als auch mit derjenigen „zum Guten“.¹³¹³ Als das in dieser Predigt vorausgesetzte Höchste Gut muss aufgrund des oben festgestellten hierarchischen Verhältnisses allerdings, trotz der beobachteten Beibehaltung und Eigenständigkeit des Bereiches des Strebens nach Glückseligkeit, streng genommen die Ermöglichung der Annäherung an „unsre[…] große[…] Bestimmung“,¹³¹⁴ d. h. die „Besserung des Menschen“,¹³¹⁵ seine bzw. ihre Vervollkommnung¹³¹⁶ oder auch „Veredlung“¹³¹⁷ bezeichnet werden. Die Einrichtung der Welt befördert zwar beide durch die „Natur unserer Seele“ vorgegebenen Bereiche des menschlichen Lebens, sowohl das Streben nach Glückseligkeit als auch die Besserung oder den Prozess der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen,¹³¹⁸ unverkennbar aber ist, dass laut dieser Predigt der „Zwek“ des menschlichen Lebens eben „nicht der Genuß der Annehmlichkeiten ist die e[s] darbietet“, sondern dass das menschliche Leben letzten Endes darauf zielt, in treuer Berufspflicht „das auszurichten, wozu man da ist“.¹³¹⁹ Die Perspektive, dass genau das letzten Endes wiederum „selige segensreiche Augenblike“ mit sich bringen wird und damit der Gedanke einer aus Tugend und Sittlichkeit hervorgehenden Glückseligkeit als des Höchsten Gutes des Menschen, ist dabei, wie oben schon erwähnt, dem Schlussteil der Predigt zu entnehmen.¹³²⁰ Abgesehen von dieser am Schluss der Predigt auftretenden, aus Tugend und Frömmigkeit hervorgehenden Form der Glückseligkeit findet sich die Glückseligkeit in dieser Predigt allerdings überwiegend als eine an das irdische, leiblichseelische Dasein gebundene vor. Denn „unstreitig“ ist es, „daß es doch wahre Freuden und Glükseligkeit für uns gibt in der Ordnung der Dinge, in welche wir zum Anfang unserer Laufbahn gesezt sind“. Gemeint sind damit ebenso die „Freuden […] die unmittelbar aus unserm innern entspringen“, als auch diejenigen, die aus den „Einrichtungen der irrdischen Welt“ hervorgehen. Letztere  Für den Bereich des Ringens um Tugend und Besserung könnte in diesem Zusammenhang u. a. auf Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 9 – 21 oder 61, 21– 27 verwiesen werden.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 25 – 28.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 – 23.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 26 [Hervorh. i. Orig.], als weitere Belegstelle könnte 63, 34– 36 angeführt werden.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 36 – 57, 3 und 63, 34– 39.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 34– 39.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 – 24.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 15.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 31– 36.

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II. Predigtanalysen

nehmen „die Art des geselligen Lebens mit andern unsres gleichen, […] die leblose Welt um uns her und unsre Verbindung mit einem irdischen Körper“ als „reiche unversiegende Quelle von mancherlei Freuden“ in den Blick, „denen wir ihren wolthätigen Einfluß nicht absprechen können.“¹³²¹ All diesen Freuden und all dieser Glückseligkeit korrespondieren als deren Kehrseite aber auch die auf die „natürliche[n] Unvollkomenheiten“ und auf die „Vergänglichkeit“ dieser Freuden zurückgehenden „wahre[n] Leiden“ des menschlichen Lebens.¹³²² Als Konsequenz dessen ist festzuhalten, dass das Leben zwar „Annehmlichkeiten genug“ mit sich bringt,¹³²³ dass die Menschen aber keine „Ansprüche auf reine unvermischte Glükseligkeit“ haben.¹³²⁴ Allen Menschen ist vielmehr ihr jeweiliger „irrdische[r] Antheil“ sowohl an Freuden als auch an Leiden vorherbestimmt,¹³²⁵ wobei letztlich eine gleiche Verteilung von Freuden und Leiden auf alle Menschen und Lebensverhältnisse stattfindet.¹³²⁶ Die Freuden verdanken sich dabei Gottes guter Schöpfung und liebevoller Führung,¹³²⁷ die Leiden aber sind u. a. mit Hilfe der „Gesinnungen der Religion“ zu bestehen.¹³²⁸ Ein Einfluss auf die Bilanz eines Menschenlebens hinsichtlich der erlebten Freuden und Leiden bzw. hinsichtlich der erfahrenen Glückseligkeit kommt nichtsdestotrotz der Art der subjektiven Wahrnehmung des Menschen zu oder auch, wie Schleiermacher formuliert, der jeweiligen „Stimmung der Seele“ bzw. „größern oder geringern Fertigkeit das Gute zu finden und zu erhöhn, und das Uebel zu vermeiden oder sich zu erleichtern“.¹³²⁹

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 33. Hingewiesen sei dabei noch einmal auf die gleichzeitige Einschränkung in 59, 4– 9, derzufolge das menschliche Leben „wirklich nicht Freuden genug hat das ganze Herz an sich zu ziehn, aber doch genug um mit Wolgefallen darin zu verbleiben, und das auszurichten, wozu man da ist“.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 3 – 11 [Hervorh. i. Orig.], zu verweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf 60, 6 – 11.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 6 – 9, zu verweisen wäre hier auch noch einmal auf 59, 4– 9.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 4– 6.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 13 – 17, zu verweisen wäre auch auf 63, 10 – 25.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 30 – 32; 56, 7– 11 und 59, 39 – 60, 1. Sowohl die gleiche Verteilung von Freuden und Leiden in jedem menschlichen Leben als auch die gleiche Verteilung von „Vortheilen und Nachtheilen“ hinsichtlich der Gelegenheiten zum Guten findet sich in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 4– 15.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 25 – 32 und 62, 17– 28, die als zweite genannte Passage nimmt zugleich auch die Gelegenheiten zum Guten als von der göttlichen Vorsehung geschenkt in den Blick.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 17– 23, heranzuziehen wären auch 56, 27– 33 und 63, 30 – 33.

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Die abschließenden Ermahnungen des Predigtschlusses beginnen mit einer von der Erinnerung an das schnell wie ein Strom vergehende Jahr eingeleiteten Aufforderung, „von nun an jeden Augenblik anzulegen“.¹³³⁰ Auf diese Weise wird der Topos des voll ausgeschöpften oder auch genutzten Augenblickes in der Predigt aufgenommen. Das dabei verwendete Bild des Lebens als eines schnell dahinfließenden Stromes, das in der Predigt zuvor im Kontext des Bereiches von Freuden und Leiden des menschlichen Lebens begegnet war,¹³³¹ verweist die Nutzung des Augenblicks dabei zunächst einmal in den Bereich des Strebens nach Glückseligkeit. Der weitere Kontext des Predigtschlusses allerdings, der bereits ab Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 31 die mit Tugend und Sittlichkeit verbundene Glückseligkeit im Blick hatte, sowie die der Aufforderung, „von nun an jeden Augenblik anzulegen“, unmittelbar folgenden, auf den Bereich von Tugend und Religion zielenden anaphorischen Ermahnungen verweisen die Nutzung des Augenblickes dann aber schwerpunktmäßig doch in den Bereich der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen. Im Kontext der Rede von den unbezweifelbar existierenden wahren Leiden des menschlichen Lebens sind in dieser Predigt schließlich auch eschatologische Aspekte auszumachen: „wißen wir doch, daß wir hier nur Pilger sind, und daß unser Vaterland droben ist.“¹³³²

II.3.1.6.6 Das Verhältnis von Tugend und Religion In Hinblick auf diese Predigt ist zunächst einmal festzustellen, dass der Religion neben den Größen des Strebens nach Glückseligkeit und der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen hinsichtlich der Schätzung oder Beurteilung des menschlichen Lebens kein eigenständiger, diesen beiden Größen gar gleichwertiger Bereich zukommt.¹³³³ Die Religion gehört vielmehr konstitutiv zu diesen beiden Bereichen dazu, denn sie begegnet durchgängig sowohl im Kontext des Strebens nach Glückseligkeit als auch im Kontext der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 65, 8 – 10.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 16 – 33.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 3 – 12.  Die Schätzung bzw. Beurteilung des menschlichen Lebens hängt laut dieser Predigt vielmehr durchweg von den beiden Größen des Strebens nach Glückseligkeit sowie der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung der „großen Bestimmung“ des Menschen ab (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 52, 5 – 9 oder auch 56, 31– 36; mit Herleitung aus der „Natur unserer Seele“ in 54, 19 – 24; verwiesen werden könnte natürlich auch auf die grundlegende, an den beiden genannten Bereichen orientierte Argumentationsstruktur der Predigt, wie sie der Skizze der Predigtdisposition zu entnehmen ist).

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II. Predigtanalysen

Im Kontext des Strebens nach Glückseligkeit wäre beispielsweise hervorzuheben, dass die vergangenen Freuden „als […] süße Erquikungen die uns Gott auf unserm Wege geschenkt hat“, charakterisiert werden.¹³³⁴ Dabei sind sowohl die schöpfungsgemäßen bzw. „in der Ordnung der Dinge“ vorzufindenden „wahre[n] Freuden und Glükseligkeit“ im Blick¹³³⁵ als auch die durch die göttliche Vorsehung oder Führung gewährten.¹³³⁶ Für die erfolgreiche Auseinandersetzung mit den Leiden des menschlichen Lebens ist neben „unsre[n] Kräfte[n]“ die Hilfe der „Gesinnungen der Religion“ notwendig,¹³³⁷ zudem kommt im Kontext der „wahre[n] Leiden“ ein eschatologischer Ausblick auf das „Vaterland droben“ zum Vorschein.¹³³⁸ Im Kontext der Besserung bzw. des Prozesses der Erlangung unserer „großen Bestimmung“ kommt die Religion noch ausgeprägter zum Tragen.¹³³⁹ Zu erwäh-

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 59, 25 – 32.  Die Rede von den „wahre[n] Freuden“ und der „Glükseligkeit […] in der Ordnung der Dinge, in welche wir zum Anfang unserer Laufbahn gesezt sind“, wird durch den Gedanken der „Undankbarkeit, wofür uns Gott bewahren wolle“, mit Gott bzw. mit Gottes Schöpfung in Verbindung gebracht (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 24– 55, 3). Terminologisch begegnet die Schöpfung in dieser Predigt allerdings nur in der Rede von den „fremden Geschöpfen Gottes“ in Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 27– 31. Ansonsten wird neben der „Ordnung der Dinge“ v. a. von der „Verfassung, in welche wir auf dieser Erde gesezt sind“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 54, 19 – 33), relativ neutral von den „Verhältniße[n] des Lebens“ (vgl. u. a. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 20 – 23 und 56, 7– 11) oder von der „Einrichtung“ des menschlichen Lebens gesprochen (vgl. z. B. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 31– 36 [Hervorh. i. Orig.]).  So begegnet beispielsweise der Gedanke, dass eine bestimmte „Masse von Vergnügen“ jedem Menschen als „irrdische[r] Antheil“ vorherbestimmt ist, wobei diese Vorherbestimmung allerdings nicht explizit auf Gott zurückgeführt wird (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 60, 13 – 19). An anderer Stelle aber ist es explizit die Führung Gottes, die die Menschen mit der „Gelegenheit zur Freude“ bedenkt (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 25 – 28) oder die „Macht die uns führt,“ die die Art, den Ort und die Dauer der „mancherlei […] Menschenfreuden“ des Lebens zuteilt. Letzteres gilt dann genauso für die „größeren und kleinern Leiden des Erdenlebens“, die „unser beschiedenes Antheil“ sind (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/ 3, 63, 10 – 25).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 63, 20 – 30.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 3 – 12 [Hervorh. i. Orig.].  Zu bestätigen ist von daher Dorette Seiberts Beobachtung, dass sich „das Religionsmotiv“ in dieser Predigt „deutlicher im Bereich des Strebens nach Sittlichkeit als in dem des Strebens nach Glückseligkeit“ findet. Nicht halten lässt sich in diesem Zusammenhang allerdings Seiberts These der „radikalen Elimination Gottes aus den Glückseligkeitsvorstellungen“ (vgl. Dorette Seibert: Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft. Der junge Schleiermacher und Herrnhut [Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Bd. 102], Göttingen 2003 [Seibert: Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft], S. 262 f.). Die oben für den Kontext des Strebens nach Glückseligkeit herausgearbeiteten religiösen Verweisungszusammenhänge und Inhalte sprechen eindeutig dagegen.

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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nen wäre diesbezüglich v. a. das für den Bereich der guten Handlungen durchgängig vorausgesetzte und immer wieder explizit formulierte Zusammenspiel von inneren Kräften des Menschen und den zusätzlich notwendigen Hilfsmitteln der Religion,¹³⁴⁰ ebenso hinzuweisen aber wäre auf, wie bereits zu sehen war für die Neologie typische, Doppelformulierungen wie die Rede von den „Gesezen der Religion und Tugend“,¹³⁴¹ von dem „Weg zur Gottseligkeit und Tugend“¹³⁴² oder auch von der „Frömmigkeit und Tugend“,¹³⁴³ die die engste Zusammengehörigkeit von Tugend und Religion auch für diese Predigt belegen. In den Kontext dieser Doppelformulierungen fügt sich die Definition des Guten bzw. des obersten Kriteriums des sittlichen Handelns als das, was der Mensch „als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat“,¹³⁴⁴ ebenso wie die These, dass uns „jedes denkbares Verhältniß des menschlichen Lebens“ aufgrund der mit ihm verbundenen Pflichten letztlich „auf Gott führt und im Guten weiterbringt“,¹³⁴⁵ durch die jeweils

 Vgl. beispielsweise Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 18 – 21, wo noch etwas unspezifisch von den dem Menschen „zugegebnen Hülfsmitteln“ die Rede ist, oder auch 58, 38 – 59, 1, wo von den Hilfsmitteln, die die „Verhältniße[…] des Lebens […] an die Hand“ geben, gesprochen wird. In Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 21– 27 begegnet dann explizit die Formulierung der „immer bereite[n] Hülfe der Religion“; in 62, 5 – 28 wird auf die für die guten Handlungen der Menschen konstitutiv notwendigen, dem Menschen auf Veranlassung der göttlichen Führung hin „von außen“ kommenden „Beförderungsmittel des Guten“, die einerseits bereits „in das irrdische Leben überhaupt“ gelegt sind, und die sich andererseits der „besondern“ Führung „eines jeden“ verdanken, reflektiert; in der die Handlungsmotivation differenziert darstellenden Passage 64, 6 – 25 wird die unterstützende Funktion der „Anhänglichkeit an die Religion“ erwähnt, wobei in der Rede vom „heiligen Eifer[…] gegen die Schwäche, deren wir uns bewust sind“, die Verbindung von beidem, sittlichen menschlichen Kräften und Unterstützungsfunktion der Religion im Grunde in nuce zum Ausdruck kommt; zu guter Letzt wäre noch auf den Predigtschluss zu verweisen, wo die konstitutive sittliche Bedeutung der Hilfe der Religion einerseits in Hinblick auf die Thematisierung der Überwindung der Versuchung bzw. des Bösen (64, 36 – 65, 3), andererseits im Kontext der Nutzung des Augenblicks (65, 8 – 14) in den Blick kommt. Darüber hinaus verweist Günter Meckenstock zu Recht darauf, dass in der Passage Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 28 nicht nur die sittliche Unterstützungsfunktion der Religion in den Blick genommen wird, sondern auch umgekehrt zum Ausdruck kommt, dass „[d]er sittliche Fortschritt […] frommes Bewußtsein“ „weckt und unterstützt“ (vgl. Meckenstock: Deterministische Ethik, S. 175 und S. 180).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 4– 7.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 26 – 28, wobei im Zusammenhang mit Beobachtungen zu Spaldings homiletischen Ausführungen zur Rechtfertigung bereits deutlich wurde, dass der Terminus „Gottseligkeit“ demjenigen der „Tugend“ in der Neologie inhaltlich sehr nahe kommen konnte (vgl. z. B. SpKA I/3, 179, 15 – 180, 27).  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 32 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 34– 37.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 58, 16 – 19.

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II. Predigtanalysen

charakteristische Verbindung des sittlich Guten mit Gott bzw. mit Gottes Willen mühelos ein. Nicht weiter verwunderlich ist von daher, dass die Ausdifferenzierung dessen, was der Mensch in sittlicher Hinsicht erreichen kann, entsprechenderweise sowohl die „Leichtigkeit das Gute zu üben“ als auch die „Liebe zu Gott“ und die „lebendige Erkentniß heiliger Wahrheiten“ umfasst.¹³⁴⁶ Im Predigtschluss kommt die Zusammengehörigkeit aller drei Größen, der Religion, der Glückseligkeit und der Tugend, schließlich explizit zum Ausdruck: ein „gute[r] Wille[…] und ein demüthiges Herz“ führen zur „Freude“ sowie „Frömmigkeit und Tugend“ letzten Endes zur Glückseligkeit.¹³⁴⁷ Abschließend lässt sich von daher festhalten, dass die Religion in dieser Predigt zwar erneut in engstem Zusammenhang mit dem Bereich der Tugend oder Sittlichkeit begegnet, dass sie hier aber nicht allein auf diesen Bereich fokussiert bleibt, sondern sich auf beide für die Entfaltung der Natur der menschlichen Seele maßgeblichen Bereiche und damit auf das gesamte menschliche Leben erstreckt – und noch darüber hinaus reicht.¹³⁴⁸ Die „Gelegenheit zur Freude“¹³⁴⁹ ist hier deshalb konsequenterweise ebenso wie die Möglichkeiten und Gelegenheiten, unsere sittlichen „Kräfte zu äußern und zu üben“, prinzipiell auf die schöpfungsgemäße „Einrichtung dieses Lebens“¹³⁵⁰ oder die „liebevolle[…] Führung Gottes“¹³⁵¹ zurückzuführen.

II.3.1.7 Zur Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt Eine Verhältnisbestimmung der Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt vorzunehmen, bietet sich in besonderer Weise an, da eine philosophische Studie Schleiermachers existiert, die eine begonnene Ausarbei-

 Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 57, 9 – 13. Vergleichbar werden in demselben Zusammenhang in 62, 5 – 12 als auf die „liebevolle[…] Führung Gottes“ zurückzuführende „Veranlaßungen“ zum Guten Aspekte nebeneinander gestellt wie „durch besonders segensvolle Eindrüke von der Liebe und Hoheit Gottes unsre Seele zu erheben“ und „mancherlei Handlungen der Liebe und des Wolwollens gegen andre zu üben“.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 64, 31– 36.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 55, 11 f.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 25 – 28.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 56, 33 – 57, 7.  Vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 62, 5 – 12 und 62, 20 – 28 sowie 58, 10 – 13. Auf die gütige göttliche Führung dürfte auch der folgende Gedanke verweisen: „keiner wird versucht über sein Vermögen“ (vgl. Predigt Nr. 6 Am 1. Januar 1792, KGA III/3, 61, 39 – 62, 2).

II.3 Kontext der frühen philosophischen Studien Schleiermachers

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tung der Neujahrspredigt von 1792 darstellt.¹³⁵² Bereits Dilthey hat auf diesen genetischen Zusammenhang der beiden Texte unter Bezugnahme auf den hier in der Anmerkung zitierten Briefausschnitt Stubenrauchs aufmerksam gemacht und im Zuge dessen die Datierung der Schleiermacherschen Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ auf das Neujahr 1792 korrigiert.¹³⁵³ Bei der genannten philosophischen Studie handelt es sich um das Fragment „Über den Wert des Lebens“,¹³⁵⁴ das „wohl in der zweiten Jahreshälfte 1792 und zu Beginn des Jahres 1793 in Schlobitten entstand[…]“.¹³⁵⁵  In seinem Brief vom 26. Juni 1792 gab Schleiermachers Onkel Stubenrauch die entsprechende Anregung im Zusammenhang mit der „Beurtheilung“ zweier Predigten, die Schleiermacher ihm übersandt hatte: „Sehr schön wäre es wol, wenn Sie den Vorsaz die Neujahrspredigt zu erweitern, die Ideen noch mehr zu entwikkeln, wirklich ausführten. An Kraft dazu fehlt es Ihnen wahrlich nicht, an Lust auch nicht, und so viel Muße ließe sich auch wol finden. Aber, Aber.“ (Vgl. Brief 183, 2 f.16 – 20, in: KGA V/1, S. 251 f.).  Vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 46 f. und Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXIIf. Von Sydow war die Predigt bei der Edition irrtümlicherweise mit dem Zusatz „Am Neujahrstage 1793“ versehen worden (vgl. SW II/7, 135, 4; die Datierung ist in der Vorlage gesperrt gedruckt).  Der Titel der Schrift „ist durch eine Briefbemerkung Duisburgs sichergestellt“ (vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXII). Die entsprechende Passage findet sich in F.C.G. und Anna Barbara Duisburgs Brief vom 9. – 11.9.1792: „Mit Troschel habe ich am Freytage gesprochen. […] Er ist wohl willens das Wercklein über den Werth des Lebens zu nehmen, wenn Du Dich näher gegen ihn darüber erklären willst.“ (Brief 192, 66 – 70, in: KGA V/1, S. 258). In den Denkmalen fügte Dilthey dem Titel „Ueber den Werth des Lebens“ als Untertitel „Ein Fragment“ hinzu (vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 46).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXII-LXIV. Dort wird einleuchtenderweise der Briefwechsel Schleiermachers mit seinem Freund Friedrich Carl Duisburg für die Datierung herangezogen. Duisburg führte für Schleiermacher die Verhandlungen über die geplante Veröffentlichung der Schrift mit dem Verleger Troschel. Die Veröffentlichung war zur Neujahrsmesse 1793 vorgesehen, konnte aber nicht realisiert werden, da Schleiermacher nicht rechtzeitig lieferte bzw. die philosophische Studie, wie es der überlieferte Textbestand nahe legt, gar nicht fertig stellte. Dilthey datiert das Fragment auf denselben Zeitraum: „Also im Sommer 1792 ward der Plan gefaßt. Am 7. Mai 1793 war dann Schleiermachers Weggang von Schlobitten entschieden. Auf den dortigen Aufenthalt bezieht sich das Bruchstück vielfach und muß demnach in diese Zwischenzeit fallen; vielleicht daß der Faden bei dieser Veränderung seines Zustandes abbrach.“ Noch präziser vermutet Dilthey, insbesondere aufgrund der „Form einer Geburtstagsbetrachtung“, „daß Schleiermacher diese Selbstbetrachtung am 21. November 1792, […] seinem vierundzwanzigsten Geburtstage begann“ (vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 47). Die von Hermann Mulert überarbeitete Einleitung Friedrich Michael Schieles in dessen kritischer Ausgabe der Monologen weist dieselbe Überlegung auf, charakteristisch ist hier natürlich insbesondere der Gedanke, dass das Fragment „Über den Wert des Lebens“ den „erste[n]

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II. Predigtanalysen

Ein Vergleich zwischen Schleiermachers Neujahrspredigt „Die wahre Schäzung des Lebens“ von 1792 und dem Fragment „Über den Wert des Lebens“ soll nun in einem ersten Schritt die Grundlage für eine Verhältnisbestimmung der Bedeutung von Theologie und Philosophie für die vorliegende Predigt ergeben. Ergänzend sollen dann in einem nächsten Schritt zwei thematisch besonders relevante weitere Predigten aus dem Zeitraum zwischen 1791 und 1792 oder 1793 herangezogen werden.

II.3.1.7.1 Vergleich mit der Philosophischen Studie „Über den Wert des Lebens“ Dilthey stellt in den „Denkmalen“ nicht nur den genetischen Zusammenhang der Schleiermacherschen Abhandlung „Über den Wert des Lebens“ mit der Neujahrspredigt von 1792 fest, er attestiert diesen beiden Texten auch eine weitgehende Übereinstimmung miteinander, was folgender Beurteilung entnommen werden kann: „die Ausführung“ der Schrift „Über den Wert des Lebens“ „schließt sich ganz genau an die Ordnung der Predigt“ vom Neujahrstag 1792 an, „nur wird, was auf der Kanzel über die Bestimmung des Menschen vorausgesetzt wurde, hier zuerst ausführlich entwickelt; bei der Ausführung des auf S. 141 (Absatz) Begonnenen bricht die philosophische Bearbeitung ab.“¹³⁵⁶ Eine vergleichbare Nähe zwischen den beiden Texten wird in der von Mulert überarbeiteten Einleitung Schieles in deren kritischer Monologen-Ausgabe unter der Überschrift „Die Entstehung der Monologen“ festgestellt. In Bezug auf die Abhängigkeit der Abhandlung „Über den Wert des Lebens“ von der Neujahrspredigt aus dem Jahr 1792 heißt es dort: „Der Gedankengang ist großenteils derselbe wie in der Neujahrspredigt, doch ist das meiste weiter ausgeführt, vieles vertieft.“¹³⁵⁷ Etwas zurück-

Entwurf der späteren Monologen“ darstelle: „wahrscheinlich an seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, am 21. November 1792, begann er Selbstbetrachtungen niederzuschreiben, die uns als der erste Entwurf der späteren Monologen zu gelten haben.“ (Vgl. Schleiermacher: Monologen. Nebst den Vorarbeiten, S. XV). Die Schlobittener Situation wird beispielsweise in folgenden Passagen als Hintergrund der philosophischen Studie erkennbar: Schleiermacher: WdL, 393, 1– 17; 394, 22– 26; 403, 11– 27; 405, 25 – 406, 20; eventuell schon mit Blick auf die drohende Trennung: 418, 5 – 26 und 470, 14– 471, 28.  Vgl. Wilhelm Dilthey: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, Anhang zu: Dilthey: Leben I1, S. 47. Die im Zitat erwähnte Seitenzahl, S. 141, bezieht sich auf die Version der Neujahrspredigt von 1792 in Sydows Ausgabe (vgl. P 319, 01.01.1792, SW II/7, 141, 20 – 22).  Vgl. Friedrich Michael Schieles von Hermann Mulert überarbeitete Einleitung zu Schleiermacher: Monologen. Nebst den Vorarbeiten, S. XV. Schiele und Mulert halten die in „Über den Wert des Lebens“ formulierten „Selbstbetrachtungen“ Schleiermachers für den „erste[n] Entwurf

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haltender urteilt Günter Meckenstock, der zwar „die große Bedeutung der Neujahrspredigt für die Entstehung und den gedanklichen Entwurf der Abhandlung“ zugesteht, ansonsten aber „Diltheys Einschätzung der sachlich-konzeptionellen Korrespondenz zwischen Predigt und ausführender Darstellung […] nicht ganz folgen“ kann.¹³⁵⁸ Meckenstock formuliert seine Bedenken folgendermaßen: „Weder folgt die Abhandlung genau dem Aufbau der Neujahrspredigt, denn die Abhandlung hat einen anderen Einsatz und auch nicht die für die Predigt charakteristische Zweiteilung, noch beschränkt sich die Abhandlung auf die im ersten Drittel der Predigt geäußerten Gedanken, denn auch aus der zweiten Predigthälfte nimmt Schleiermacher durchaus Gedanken in die Abhandlung auf. Schließlich hat die Abhandlung alle Bezüge und Anklänge an die Predigtsituation ‚Neujahr‘ und an den Predigttext Psalm 90,10 abgestreift. Wenn man bedenkt, daß diese Bezüge für die Predigt nicht nur marginalen Charakter haben, wird das Ausmaß der Umformung und Differenz deutlich.“¹³⁵⁹

Bei genauerem Hinsehen lassen sich diese Bedenken nun allerdings in einigen wesentlichen Punkten nicht bestätigen. Zuzugestehen ist natürlich, dass die gattungstypischen Merkmale der Predigt in der philosophischen Studie entweder in deutlich veränderter Form begegnen, wie der für die Predigt charakteristische Einleitungsteil und der Bezug zur spezifischen Predigtsituation des Neujahrs, oder aber ganz fehlen, wie der Bezug zum Predigttext Ps 90,10 und die Orientierung an der inhaltlichen Zweiteilung des Predigthauptteils. Ebenfalls zuzugestehen ist, dass diese Unterschiede nicht als marginal zu verbuchen sind, sie geben den beiden Texten vielmehr ihr je eigenes Gepräge und das nicht nur in formaler, sondern durchaus auch in inhaltlicher Hinsicht. Gesteht man solche gattungsspezifischen Eigenheiten und Unterschiede nun aber grundlegend zu, so lassen sich bei einem Vergleich der beiden hier vorliegenden Texte dennoch sehr weitreichende Übereinstimmungen feststellen. So beginnt die philosophische Studie „Über den Wert des Lebens“ zwar anders als die Neujahrspredigt, der Einsatz bei der subjektiven Reflexion des eigenen Lebens anlässlich des Geburtstages¹³⁶⁰ kann m. E. aber gerade als adäquate Entsprechung der in Form einer Selbstbetrachtung verfassten philosophischen Studie zu der Beschäftigung mit der Predigtsituation des Jahresbeginns in der „allgemeinen Einleitung“ der Predigt gewertet werden.

der späteren Monologen“ (vgl. ebd.) und sehen hier sogar „ausnahmslos für alles, was später die Eigentümlichkeit seiner ethischen Anschauung ausmachte, […] schon die Keime, Ansätze und ersten Bildungen“ liegen (a. a.O., S. XVI).  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXIV.  Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/1, S. LXV.  Vgl. Schleiermacher: WdL, S. 393, 1– 395, 12.

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II. Predigtanalysen

Sodann weist die philosophische Abhandlung zwar nicht die inhaltliche Zweiteilung des Predigthauptteils auf,¹³⁶¹ die beiden Themenbereiche der zwei Teile des Hauptteils der Neujahrspredigt von 1792 begegnen aber auch in den Überlegungen der philosophischen Studie.¹³⁶² Dass im Übrigen durchaus Analogien der philosophischen Studie zu der argumentativen Struktur beider Teile des Hauptteils der Predigt festzustellen sind, ergibt sich daraus, dass gleich zu Beginn der philosophischen Studie die beiden Gegensatzpaare eingeführt werden, die auch das Schleiermachersche Vierfelderschema des zweiten Teils des Hauptteils der Neujahrspredigt vorgeben:¹³⁶³ „Handlung und Genuß“ sowie „Vergangenheit und Zukunft“.¹³⁶⁴ Das erste dieser Gegensatzpaare, das nicht nur eines der Strukturelemente des zweiten Teils des Hauptteils der Neujahrspredigt ist, sondern bereits den ersten Teil ihres Hauptteils grundlegend gliedert, liegt offensichtlich auch dem gesamten Gedankengang des philosophischen Fragments „Über den Wert des Lebens“ bzw. dessen auf die einleitende Erarbeitung der Bestimmung des menschlichen Lebens hin folgender zweigeteilter Argumentationsstruktur zugrunde. Dem fragmentarischen Charakter der philosophischen Studie ist es dabei zuzuschreiben, dass lediglich die Ausführungen zum zweiten Aspekt dieses Gegensatzpaares, nämlich wie das Leben „vermag […] meine Sehnsucht nach Glükseligkeit und Wolseyn zu stillen“, vorliegen.¹³⁶⁵ Der eigentlich wichtigere erste Aspekt dieses Gegensatzpaares, das mit dem Begriff der „Handlung“ gemeinte „erhabene Interesse der Vernunft“ bzw. die „Foderungen der Tugend an das Leben“, sollte den Ausführungen zur Glückseligkeit aber auch in der philosophischen Studie folgen.¹³⁶⁶ Eine weitere Übereinstimmung der Argumentationsstrukturen der Neujahrspredigt und der philosophischen Abhandlung ist durch die gewissermaßen se-

 Eine dem Hauptteil der Predigt gemäße Zweitei