Prudentia gubernatoria: Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts 9783110910629, 9783484165045

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Prudentia gubernatoria: Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts
 9783110910629, 9783484165045

Table of contents :
Abkürzungen
Einleitung
A GRUNDLAGEN
1. Die deutsche politische Wissenschaft des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer propädeutisch-methodisch-bibliographischen Literatur
1.1. Vorbemerkungen
1.2. Die Bildung zur Politik als Standeserziehung: Das politische Studienprogramm der Opera propaedeutica educationis nobilium
1.3. Die Erziehung zur Politik als Fachausbildung: Das Qualifikations- und Lektüreprogramm des Politicus
1.4. Die Politica als eigenständige Fachwissenschaft: Theorie, Bibliographie, Wissenschaftsgeschichte
1.5. Zwischenbilanz
2. Die führenden Opera systematica et compendiosa der politischen Wissenschaft des Reiches im 17. Jahrhundert
2.1. Voraussetzungen und Ansätze
2.2. Konzeptionen und Erkenntnisperspektiven
2.3. Zusammenfassung
B DIE PRAXIS DER HERRSCHAFT IN DER SYSTEMATISCHEN THEORIE
3. Einleitung
4. Der Fürst als höchster Inhaber der Staatsgewalt: Qualifikation, Motivation und Funktion
4.1. Persönliche Eigenschaften
4.2. Einstellung und Verhalten gegenüber der nächsten Umgebung
4.3. Einstellung und Verhalten gegenüber den Untertanen
4.4. Erziehung und Ausbildung
5. Die Helfer der Herrschaft
5.1. Der Magistrat: Räte und Beamte
5.2. Soldaten
5.3. Diplomaten
5.4. Verwandte, Freunde und Klienten: Zur sozialen Dimension der Herrschaft
6. Die Instrumente der Herrschaft
6.1. Zwei universale Verpflichtungsinstrumente: Gesetz und Eid
6.2. Zur Bedeutung des Hofes
6.3. Nervus rerum: Die Staatsfinanz
6.4. Das Instrument der Strafe
6.5. Statistik, Zensur und Informationsdienst
6.6. Zur Rolle von Religion und Kirche
6.7. Erziehung und Bildung
6.8. Untertanenpolitik: Ordnung, Verpflichtung und Vermehrung
6.9. Zur Wirtschaftspolitik: Geldbeschaffung und konservativer ökonomischer Pragmatismus
6.10. Schutz, Fürsorge und Belohnung
6.11. Zur Außenpolitik
6.12. Nachfolgesicherung
7. Die Dynamik der Herrschaft: Gehorsamssicherung, Widerstandsbekämpfung und Machtakkumulation
7.1. Strategien der Gehorsamssicherung und Widerstandsbekämpfung
7.2. Potentia semper augenda: Ansätze der Machtlehre
Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Literatur
Personenregister

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Studia Augustana Augsburger Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte Herausgegeben von Jochen Brüning, Johannes Janota und Wolfgang Reinhard

Band 4

Wolfgang Weber

Prudentia gubernatoria Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Weber, Wolfgang: Prudentia gubematoria : Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts / Wolfgang Weber. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Studia Augustana ; Bd. 4) NE: GT ISBN 3-484-16504-9

ISSN 0938-9652

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Memminger Zeitung, Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Das Gebirge der Barockliteratur ist noch kaum hinreichend vermessen geschweige denn erforscht. Daher ist seine Exploration noch immer mit dem Reiz verbunden, unter Umständen auf überraschende Schichtungsgefüge, seltene Felsformationen oder gar unbekannte Mineralien zu stoßen. Derartige Eindrücke werden sich freilich kaum dem Gipfelwanderer im Sinne Friedrich Meineckes erschließen. Vielmehr wird sie sich nur derjenige erarbeiten können, der auch mittlere und untere Regionen nicht verachtet. Mit anderen Worten, die wissenschaftlich tragfähige Erforschung der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts setzt die Bereitschaft voraus, auch dieser Epoche ihren eigenen Wert zuzugestehen und sie an ihren eigenen Maßstäben zu messen. In diesem Sinne sucht sich der vorliegende Band die Perspektive derjenigen zu eigen zu machen, die einen bestimmten Teil der barocken Literatur selbst geschaffen haben. Er zerfällt daher in zwei Teile. Der erste Teil dient dem Versuch, die spezifischen Voraussetzungen, Maßstäbe und Urteile des politischen Denkens des 17. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Im zweiten Teil hingegen werden wesentliche konkrete Inhalte dieses Denkens entfaltet, wie sie sich in jenen systematischen Werken darstellen, welche die Zeitgenossen für die wichtigsten hielten. Es handelt sich bei dieser Untersuchung mithin um eine wissenschaftshistorisch-ideengeschichtliche Studie eigener Art, die nicht eine konsistente These vertreten will, sondern auf die beschreibende Erfassung bestimmter politischer Denkweisen zielt. Daß sie dennoch keineswegs auf leitende Fragestellungen und Thesen verzichtet, wird der aufmerksame Leser unschwer erkennen. Die Quellen dieser Untersuchung sind zum wesentlichen Teil in der unlängst an die Universitätsbibliothek Augsburg gekommenen Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek zugänglich. Der Band versteht sich daher auch als Dank an alle diejenigen, die zum Erwerb dieser Sammlung beigetragen haben. In entscheidendem Maße verdanke ich allerdings erneut Wolfgang Reinhard das Zustandekommen dieser Schrift. Er gewährte mir die materiellen Voraussetzungen meiner wissenschaftlichen Arbeit, indem ich an seinem Lehrstuhl wirken durfte. Daß auch intellektuelle Anregungen einflossen, versteht sich; geht doch sein OEuvre weit über sein erstes Hauptarbeitsgebiet, die Sozialgeschichte, hinaus. Manchmal noch wichtiger war jedoch seine unvergleichliche, vorbildliche Arbeitsdisziplin! V

Zu danken habe ich für freundliche Begutachtung und Kritik außerdem Michael Stolleis (Frankfurt a.M.), Theo Stammen (Augsburg) und Helmut Altrichter (Erlangen-Niirnberg), ferner für oft zuvorkommende bibliothekarische Betreuung Herrn Dr. Rupp, Herrn Schwarz und Herrn Riepp. Wertvolle Hinweise gewährte mir außerdem Horst Dreitzel (Bielefeld), einer der besten Kenner der Materie. Ich widme dieses in die Vergangenheit führende Buch unseren Kindern in der Hoffnung, daß sie nicht eines Tages gezwungen sein werden, uns die Zerstörung ihrer Zukunft anzulasten - weil wir nicht in der Lage sind, nach den für uns geltenden Maßstäben politisch richtig zu denken und zu handeln. Stadtbergen, im Frühjahr 1990

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Wolfgang Weber

Inhalt

Abkürzungen

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Einleitung

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A GRUNDLAGEN

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1. Die deutsche politische Wissenschaft des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer propädeutisch-methodisch-bibliographischen Literatur 1.1. Vorbemerkungen 1.2. Die Bildung zur Politik als Standeserziehung: Das politische Studienprogramm der Operapropaedeutica educationis nobilium 1.3. Die Erziehung zur Politik als Fachausbildung: Das Qualifikations- und Lektüreprogramm des Politicus 1.4. Die Politica als eigenständige Fachwissenschaft: Theorie, Bibliographie, Wissenschaftsgeschichte 1.4.1. Theorie 1.4.2. Bibliographie und Literaturgeschichte 1.5. Zwischenbilanz 2. Die führenden Opera systematica et compendiosa der politischen Wissenschaft des Reiches im 17. Jahrhundert 2.1. Voraussetzungen und Ansätze 2.1.1 Erfahrungshorizonte der Verfasser 2.1.2. Historisch-empirische Orientierungen der Werke 2.1.3. Quellen und Autoritäten 2.2. Konzeptionen und Erkenntnisperspektiven 2.2.1. Lipsius 2.2.2. Keckermann 2.2.3. Schönborner 2.2.4. Arnisaeus 2.2.5. Liebenthal 2.2.6. Contzen 2.2.7. Heider 2.2.8. Cellarius 2.2.9. Boxhorn 2.2.10. Ciasen

9 9 10 31 42 43 67 80

90 90 90 98 100 104 104 108 111 113 116 117 119 123 126 130 VII

2.2.11. Pufendorf 2.2.12. B o e d e r 2.2.13. Becmann 2.2.14. Hertius 2.2.15. Weise 2.2.16. Buddaeus 2.3. Zusammenfassung

135 140 145 150 153 154 159

Β D I E PRAXIS DER HERRSCHAFT IN DER SYSTEMATISCHEN T H E O R I E

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3. Einleitung

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4. Der Fürst als höchster Inhaber der Staatsgewalt: Qualifikation, Motivation und Funktion 4.1. Persönliche Eigenschaften 4.2. Einstellung und Verhalten gegenüber der nächsten Umgebung . . 4.3. Einstellung und Verhalten gegenüber den Untertanen 4.4. Erziehung und Ausbildung

173 173 184 188 195

5. Die Helfer der Herrschaft 5.1. Der Magistrat: Räte und Beamte 5.1.1. Räte 5.1.2. Beamte 5.2. Soldaten 5.3. Diplomaten 5.4. Verwandte, Freunde und Klienten: Zur sozialen Dimension der Herrschaft 6. Die Instrumente der Herrschaft 6.1. Zwei universale Verpflichtungsinstrumente: Gesetz und Eid . . . 6.2. Zur Bedeutung des Hofes 6.3. Nervus rerum: Die Staatsfinanz 6.4. Das Instrument der Strafe 6.5. Statistik, Zensur und Informationsdienst 6.6. Zur Rolle von Religion und Kirche 6.7. Erziehung und Bildung 6.8. Untertanenpolitik: Ordnung, Verpflichtung und Vermehrung . . 6.9. Zur Wirtschaftspolitik: Geldbeschaffung und konservativer ökonomischer Pragmatismus 6.10. Schutz, Fürsorge und Belohnung 6.11. Zur Außenpolitik 6.12. Nachfolgesicherung

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199 199 199 210 224 235 238 245 245 253 256 269 273 281 288 293 299 302 306 314

7. Die Dynamik der Herrschaft: Gehorsamssicherung, Widerstandsbekämpfung und Machtakkumulation 7.1. Strategien der Gehorsamssicherung und Widerstandsbekämpfung 7.2. Potentia semper augenda: Ansätze der Machtlehre

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Zusammenfassung

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Literatur

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Personenregister

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IX

Technische Hinweise

In der Gestaltung der lateinischen Textteile halte ich mich regelmäßig an die Schreibweise der Quellen, welche sich in der untersuchten Epoche von der durchgehenden Kleinschreibung (außer Eigennamen) löst und zur Großschreibung der Substantive übergeht. Nichtpaginierte Quellen teile werden nur in Ausnahmefällen durch eigene Zählung genauer erschlossen; dabei bedeuten bei der Blattzählung «a» die Vorder- und «b» die Rückseite. Bei der Nennung von Quellen und Literatur in den Fußnoten gelten folgende Regeln: Autorenvornamen werden nur ausgeschrieben, wenn dies aus Identifikationsgründen notwendig erscheint. In den übrigen Fällen werden sie bei erstmaliger Nennung des Autors abgekürzt wiedergegeben; sie entfallen ganz, wenn der entsprechende Autor in aufeinanderfolgenden Fußnoten wiederholt genannt ist. Ein ähnliches Verfahren gilt für den Titel. Wo es notwendig erscheint, wird der gesamte Haupttitel eines Buches oder unselbständigen Beitrages angeführt. Bei wiederholter Nennung wird sukzessiv gekürzt zitiert. Für vollständige Angaben ist in jedem Fall das Quellen- und Literaturverzeichnis heranzuziehen.

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Abkürzungen

ADB AlthB DBA

GGb Jocher NDB Stintzing Stolleis TRE Zedier

Allgemeine Deutsche Biographie Althusius-Bibliographie, hg. H . U . Scupin und U. Scheuner, 2 Bde., Berlin 1973. Deutsches Biographisches Archiv, hg. Bernhard Fabian, München et al. 1980-1985 [Microfiche-Sammlung biographischer Artikel aus entsprechenden Werken des 18., 19. und 20. Jahrhunderts; Zählung nach Fiche (erste Zahl) und Nummer (zweite Zahl) der Eintragfelder, in welche die Fiches aufgeteilt sind]. Geschichtliche Grundbegriffe, hg. O. Brunner et al., Bd. 1 ff., Stuttgart 1974ff. Ch. G. Jocher: Allgemeines Gelehrtenlexikon, 4 Bde., Leipzig 1750-1751, mit Nachträgen ( Jöcher-Adelung). Neue Deutsche Biographie R. Stintzing, E. Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3 Bde., München 1880-1910. M. Stolleis: Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Polizeywissenschaft 1600-1800, München 1988. Theologische Realenzyklopädie, hg. G. Krause und G. Müller, Bd. Iff., Berlin-New York 1977ff. (Zedlers) Großes Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. Iff., Leipzig und Halle 1732ff.

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Einleitung

Die Erforschung des frühneuzeitlichen Staates zumal in seiner absolutistischfürstenstaatlichen Variante wird gegenwärtig vor allem unter sozial- und strukturgeschichtlicher Perspektive vorangetrieben. Die politisch-ideengeschichtliche Analyse spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Diese Forschungslage ist aus historischen wie historiographischen Gründen verständlich. Sie muß aber bei genauerer Betrachtung doch als ergänzungsbedürftig angesehen werden. 1 Das Primat der sozialgeschichtlichen Forschung erklärt sich aus den enormen Defiziten, die eine vor allem politikgeschichtlich orientierte historiographische Tradition in diesem Bereich hinterlassen hat. Es spiegelt außerdem die aktuellen Impulse, die der gegenwärtigen Neubelebung der Staatsdiskussion zugrundeliegen, nämlich die Krisenphänomene des modernen Leistungs- und Interventionsstaates. 2 Darüber hinaus drückt sich in der Vernachlässigung der politischen Ideengeschichte ein tiefes Unbehagen über die methodisch-theoretischen Unzulänglichkeiten und den begrenzten Erkenntniswert dieser historischen Aspektwissenschaft in ihrer traditionellen Gestalt aus. Diese traditionelle Gestalt der politischen Ideengeschichte ist derzeit jedoch in Auflösung begriffen. Die politisch-ideengeschichtliche Forschung durchläuft einen grundsätzlichen Erneuerungsprozeß, der ihre Relevanz deutlich zu steigern vermag. In nahezu allen an der politischen Ideengeschichte beteiligten Disziplinen 3 wird das politische Denken zunehmend vor allem als Ort der geistigen Verarbei1

Vgl. hierzu zusammenfassend vor allem E. Hinrichs (Zum Stand und zu den Aufgaben der gegenwärtigen Absolutismusforschung, in: ders. (Hg.), Absolutismus (1986), S. 7 - 3 4 ) , der einen breiten, das 16. Jahrhundert einschließenden Absolutismusbegriff verwendet; K. Malettke: Fragestellungen und Aufgaben der neueren AbsolutismusForschung in Frankreich und Deutschland (1979); A . A . Strnad: Von der Staatsräson zu den Menschenrechten (1979); ders., Aspekte des Absolutismus in neuer Sicht (1982), sowie G. Barudio: Zeitalter des Absolutismus (1981); R. Vierhaus: Staaten und Stände (1984), und J. Kunisch: Absolutismus (1986), S. 2 0 - 3 6 , 1 7 9 - 1 8 8 , ferner K. O. von Aretin: Einleitung, in: ders. (Hg.), Aufgeklärter Absolutismus (1974), S. 11-51, besonders S. 17ff. und jetzt H. Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus (1989).

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Vgl. hierzu G.F. Schuppert: Zur Neubelebung der Staatsdiskussion (1989); M. Jänicke: Staatsversagen (1986), und P. B. Evans et al. (Hg.): Bringing the State back in (1985). Nämlich (1.) Geschichts-, (2.) Politik- und (3.) Rechts- und (4.) Literaturwissenschaft, vgl. für den hier ausschließlich beobachteten Bereich des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts jeweils vor allem die Arbeiten von (1.) G. Oestreich und dessen Schülern E. A . Seils, K. Siedschlag, G. Abel; E. Hinrichs, H. Dreitzel, W. Reinhard u n d - j e d o c h

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tung jeweils zeitspezifischer politisch-gesellschaftlicher Probleme konzipiert. Dabei wird von einem dialektischen Zusammenhang von Denken, Sprache und Realität ausgegangen. Einerseits bilden die notwendigerweise sprachlich verfaßten politisch-sozialen Ideen nicht einfach nur Wirklichkeit ab. Vielmehr machen sie diese Wirklichkeit überhaupt erst sieht- und begreifbar. «Die beschreibende Erfassung und Rekonstruktion vergangener wissenschaftlicher Ordnungs- und Deutungsversuche schafft also nicht nur einen Zugang zu den sprachlichen Bildern, in denen sich die damalige Welt darstellte, sondern sie führen zur sprachlich konstituierten Wirklichkeit selbst, jedenfalls soweit sie sich in Texten niedergeschlagen hat.» 4 Andererseits gehen die Ideen dementsprechend weder stets der Wirklichkeit voraus, so daß sie als die eigentlich treibenden Kräfte der Geschichte anzusehen wären, noch bilden sie bloße Überbauphänomene ohne eigenständige Kraft. Als zugleich wirklichkeitskonstituierende und wirklichkeitsinterpretierende Vorstellungen kann ihnen vielmehr durchaus auch eine innovative Funktion zukommen. Diese Funktion ist jedoch historisch jeweils genau zu bestimmen. Damit beschränkt sich die Analyse des politischen Denkens nicht mehr auf die Rekonstruktion und Interpretation der geistigen Hervorbringungen selbst. Sie bezieht vielmehr deren Entstehungs-, Verwertungs- und Geltungszusammenhang mit ein und hat infolgedessen sowohl die sprachlich-literarische Erscheinungsform als auch die Begriffe und Maßstäbe der Texte konsequent aus ihrem historischen Zusammenhang zu entwickeln. Von diesem integral empiriebezogenen Arbeitsprogramm sind also neuartige, empirienahe Resultate zu erwarten. 5

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eher im Programmatischen bleibend - Th. Schieder, vgl. Geschichte und politisches Handeln (1985), Vorwort; (2.) I. Fetscher und dessen Schüler H. Münkler; W. Hennis, H. Maier und dessen Schülern H. Denzerund J. Brückner; (3.) M. Stolleis und D. Willoweit, sowie (4.) J. und K. Garber, V. Simenus, C. Wiedemann, W. Barner sowie W. Kühlmann. Im Bereich der Philosophie deutet sich der Perspektivwechsel erst an, vgl. dazu K.C. Köhnke: Entstehung des Neukantianismus (1984). Nachdem für diese Disziplin die Annahme einer prinzipiellen Autonomie des Denkens konstitutiv erscheint, ist hier der Wechsel ohnehin nur als Ergänzung bestehender Vorstellungen denkbar. Α. Β aruzzi ζ. Β. vertritt dementsprechend dezidiert die Gegenposition (Einführung in die politische Philosophie (1984) S. 1), nach der davon auszugehen ist, «daß das eigentlich Politische nicht in den politischen Tatsachen oder gar Tagesereignissen vorgeht, vielmehr in den von der Politik oft fernab gesehenen Lehren der Philosophen». Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts (1988) S. 394 (Zitat), vgl. ferner generell H. Stachowiak: Erkenntnisstufen zum Systematischen Neopragmatismus (1983). Auf die (endlose) philosophisch-erkenntnistheoretische Diskussion, ob eine Sache ohne ihren Begriff überhaupt denkbar ist, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zur programmatischen Diskussion - nach der unzureichenden Reflexion von K.v. Beyme: Politische Ideengeschichte (1969) - U. Bermbach: Über die Vernachlässigung (1984); J.G. A. Pocock: The reconstruction of discourse (1981); P.L.Janssen: Political Thought as traditionary Action (1985), David Boucher: Texts in Contexts (1985), A. Pagden (Hg.): The Language of Political Theory in Early Modern Europe (1987),

Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings weder dieses neue Konzept noch seine Umsetzung in der praktischen historischen Forschung insgesamt zu diskutieren. 6 Wir beschränken uns darauf, einen Blick auf sein Vordringen in den Bereich der Erforschung des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts zu werfen und in diesem Kontext einen eigenen Untersuchungsansatz zu entwikkeln. Politische Ideengeschichte verfügt über fünf verschiedene Möglichkeiten, sich relevante Ausschnitte ihres Objektbereiches anzueignen. Sie kann sich mit einzelnen Denkern, mit Denkschulen oder Denkrichtungen, mit einzelnen Ideen oder Ideenkomplexen, mit übergreifenden Denkströmungen oder mit mehr oder weniger ausgedehnten ganzen Provinzen des Denkens befassen. Am beliebtesten sind verständlicherweise seit jeher die engdimensionierten Verfahren, weil sich mit der horizontalen Ausweitung des Objektbereichs unweigerlich die mögliche Tiefenschärfe der Analyse reduziert. Diese Schwerpunktsetzung wird durch das neue politisch-ideengeschichtliche Paradigma noch verstärkt. Denn der Zugewinn an analytischer Differenziertheit, den es durch seine Integration des realhistorischen Bedingungszusammenhangs verspricht, geht unvermeidlich mit einer komplizierten Methodik einher. Deshalb ist es keineswegs überraschend, daß bei der Umsetzung der neuen Perspektiven bislang diejenigen Fallstudien am überzeugendsten ausgefallen sind, welche die Interpretation des Werkes oder eines Werkes eines bestimmten Autors möglichst systematisch vor der Folie von dessen konkreter praktischer Lebenswelt entwickeln. In diesem Zusammenhang ist vor allem Thomas Kleins Entschlüsselung der scheinbar disparaten Schriften des Marburger Juristen und Historikers Hermann Kirchner als eine «Art Kommentar zur inneren und äußeren Politik Hessen-Kassels unter Landgraf Moriz» anzuführen. 7 Ähnlich tragfähige Ergebnisse konnten auf einzelne Autoren oder Denkrichtungen bezogene Untersuchungen bringen, in denen der realhistorische Hintergrund des Werkes eines bestimmten Autors zwar in allgemeinerer Form, aber doch explizit und ausführlich in den Interpretationszusammenhang einbezogen wird. Auf dieser Ebene sind in erster Linie zwei große Forschungsleistungen der jüngeren Zeit angesiedelt: Gerhard Oestreichs Wiederentdeckung und Würdigung des Justus Lipsius und des Poli-

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sowie - die Verbindung zwischen den klassischen deutschen und den neueren angloamerikanischen Ansätzen herstellend - R. Ashcraft: German Historicism and the History of Political Theory (1987). Auf die Abgrenzung der politischen Ideengeschichte von Geistesgeschichte, Intellectual History, Mentalitätsgeschichte usw. ist hier nicht einzugehen, vgl. dazu E. Schulin: Geistesgeschichte, Intellectual History, Mentalitätsgeschichte (1979) und jetzt D. LaCapra, St. L. Kaplan (Hg.): Geschichte denken (1987). Eine überzeugende und deshalb beispielhaft zu erwähnende Darstellung der neuen Art auf dem Gebiet der antiken politischen Ideengeschichte hat K.M. Girardet: Die Ordnung der Welt (1983) vorgelegt: Anstatt als hochphilosophisches Traktat muß Ciceros schlecht überlieferte Schrift De Legibus als praktisch-politisches Reformprogramm, das Rom und das Imperium Romanum aus der Krise führen sollte, verstanden werden. Dadurch lösen sich viele ihrer vermeintlichen Rätsel auf. Conservatio Reipublicae per bonam educationem (1977), Zitat S. 210, vgl. auch S. 228f.

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tischen Neustoizismus, an die sich inzwischen eine Reihe weiterer, zumeist noch von Oestreich selbst initiierter Untersuchungen angeschlossen hat, sowie das große Werk Horst Dreitzels zu Henning Arnisaeus bzw. dem Politischen Neuaristotelismus. 8 Die Fruchtbarkeit und Grenzen des Zugangs über einen zeitgenössischen realhistorischen Problemzusammenhang, an dem sich entsprechende Ideen entzündeten, haben Karsten Krüger am Problem des Übergangs vom Domänenzum Steuerstaat und Michael Stolleis in bezug auf die Finanzierung des frühneuzeitlichen Staates im allgemeineren Rahmen unter Beweis gestellt. M. Stolleis hat außerdem gewichtige Beiträge zur Denkströmung des Machiavellismus und der Staatsräson- bzw. Arcana-Imperii-Lehre vorgelegt. Bewußt als Gegenentwurf zu Friedrich Meineckes klassischer «Idee der Staatsräson» konzipiert ist Herfried Münklers jüngstes Werk zu diesem Gegenstand. 9 Bereits am Rande des eigentlichen Forschungsfeldes der politischen Ideengeschichte stehen hingegen die stärker wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen von Wilhelm Hennis, Hans Maier und anderen zur Politikwissenschaft und von M. Stolleis zur Wissenschaft vom Öffentlichen Recht. Hier in der Wissenschaftsgeschichte, wo auf der Grundlage eines Fundus akzeptierter theoretischer und methodischer Normen bestimmte Bereiche der Produktion und Verwertung von Ideen systematisiert und institutionalisiert werden, ist der Bezug zur praktischen Lebenswelt allerdings je länger desto mehr nur noch vermittelt. Deshalb beziehen sich diese Analysen zumal in ihrer vorherrschenden längsschnittorientierten Variante oft doch nur noch auf den Binnenbereich der Wissenschaft anstatt systematisch deren historisch-kulturellen Gesamtzusammenhang zu erfassen. 10 Die politische Ideenwelt eines ganzen politisch-geographischen Raumes versucht Thomas Klein zu analysieren. Die einschlägigen Handbücher zu den nationalen politischen Ideengeschichten hingegen sind zumeist als Mischung von Autoren-, Richtungs- und Strömungsporträts angelegt. 11

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Vgl. das Literaturverzeichnis und oben Fußnote 3. K. Krüger: Finanzstaat Hessen 1500-1567 (1980); M. Stolleis: Pecunia nervus rerum (1983); ders., Arcana Imperii und Ratio Status (1980); ders., Löwe und Fuchs (1981); ders., Machiavelli in Deutschland (1982); F. Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (4. Auflage 1976); H. Münkler: Im Namen des Staates (1987). Für die Entwicklung politisch-sozialer Ideen aus der Kriegs- und Friedensproblematik des 16. Jahrhunderts vgl. auch die Beiträge im von F. J. Worstbrock herausgegebenen Sammelband Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus (1986). 10 Vgl. das Literaturverzeichnis und Fußnote 3. Das Problem, die Untersuchungsperspektive überzeugend der langsam wachsenden Autonomie des zu analysierenden Faches anzupassen, ist bei den genannten Arbeiten am besten von M. Stolleis gelöst worden. " Th. Klein: Staat und Recht im Denken mitteldeutscher Juristen (1973); I. Fetscher/ H. Münkler: Pipers Handbuch der politischen Ideen Bd. 3 (1985); H. Fenske u. a.: Geschichte der politischen Ideen (1981); N . O . Keohane: Philosophy and the State in France (1980); J. A. Fernandez-Santamaría: The State, War and Peace. Spanish Political Thought in the Renaissance (1977). Auf der Gegenseite, den Regionen und Städten, 9

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Die jüngste Forschung entwickelte den genannten Ansatz dadurch weiter, daß sie die Argumente der politisch-ideengeschichtlichen Literatur mit den Vorstellungen der unmittelbar aus der Praxis erwachsenen Quellen (Gutachten und Denkschriften einerseits, Protokolle, Entschließungen, Instruktionen usw. andererseits) verknüpft. Dies haben Roland-Götz Förster und Christian Fürbringer für innere Herrschaftsprobleme, Bernd Roeck im Hinblick auf die Reichsverfassung und Harm Klueting hinsichtlich zwischenstaatlicher Macht erfolgreich erprobt. 1 2 Auch wenn Analysen, die ihren Objektbereich im Interesse gesteigerter Tiefenschärfe möglichst begrenzt halten, tatsächlich von vornherein optimal realitätsfundierte Ergebnisse hervorbringen können, so ist diese Untersuchungsstrategie doch durchaus ergänzungsfähig. Denn die Rekonstruktion einzelner Mosaiksteine der politischen Ideenwelt trägt zur Kenntnis der übergreifenden Zusammenhänge, aus denen der Status von Einzelbefunden eigentlich erst zu bestimmen ist, nur indirekt bei. Zudem begibt man sich so bis zu einem gewissen Grad der Möglichkeit, über eine fundierte Rekonstruktion der Hauptthemen und Leitmotive der politischen Reflexion eines Zeitalters Hinweise und Maßstäbe auch für die politik-, struktur- und sozialgeschichtliche Analyse zu gewinnen. Ist nämlich die oben angeführte Prämisse zutreffend, daß das politische Denken in erster Linie Ort der geistigen Verarbeitung historisch zurechenbarer politischer Problemlagen ist, muß diese Chance entsprechenden wechselseitigen Lernens gegeben sein. Auch im Rahmen der neueren politischen Ideengeschichte ist es demnach erforderlich, die Erforschung des politischen Denkens in einem breiteren Rahmen voranzutreiben. Dabei kommt es jedoch auf zwei Voraussetzungen an: Erstens darf der Untersuchungsraum nur so dimensioniert sein, daß die epochenspezifischen realen wie ideellen Problemkonfigurationen noch hinreichend deutlich beschreibbar bleiben. Zweitens muß die Identifizierung und Analyse sowohl der Epoche selbst als auch ihrer Konfigurationen mit einem historisch tragfähigen Verfahren erfolgen. Damit ist das Konzept des vorliegenden Versuchs in seinen Grundzügen festgelegt. Es geht darum, auf der Grundlage der Vorstellungen der Epoche selbst einen Einblick in das politische Denken Deutschlands im 17. Jahrhundert zu erarbeiten. Denn in diese Ära fallen nicht nur äußerst wichtige Prozesse frühneuzeitlicher Staatsbildung in Deutschland. Sie ist auch vergleichsweise wenig

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finden sich bislang lediglich allgemeine ideengeschichtliche Untersuchungen, vgl. beispielsweise Mainz - «Centraiort des Reiches»: Politik, Literatur und Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit (1986). R.-G. Förster: Herrschaftsverständnis und Regierungsstruktur (1975); Ch. Fürbringer: Necessitas und Libertas (1985); Β. Roeck: Reichssystem und Reichsherkommen (1984); H. Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten (1986). Aus der Praxis erwachsene Quellen sind naturgemäß aber auch die (in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigten) Fürstentestamente, vgl. zu ihnen jetzt H. Duchhardt: Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos (1987), S. 1 - 1 3 (Einleitung).

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erforscht, unter anderem deshalb, weil es an sogenannten «großen» Denkern zu fehlen scheint 13 und (für die Forschungspraxis nicht zu unterschätzen) fast die gesamten einschlägigen Druckwerke in spätem Neulatein geschrieben sind. Dadurch entfällt einerseits der philologische Reiz, den immerhin die klassischen humanistischen Autoren noch für sich verbuchen können. Andererseits hat der Historiker aber auch noch keinen bequem zugänglichen deutschen Text vor sich. Näher untersucht werden soll, welche politisch-ideengeschichtlichen Werke welcher Gattung welche politischen Probleme ihrer Zeit unter welchen Prämissen nach zeitgenössischem Verständnis am überzeugendsten behandelten. Dabei ist das Erkenntnisinteresse ein dreifaches: durch bessere Materialkenntnis die Grundlage unserer bisherigen Diskussion auf diesem Gebiet zu verbessern, neue Forschungsperspektiven zu eröffnen, und zur Erarbeitung adäquaterer Maßstäbe und fundierterer Beurteilungen der Tradition deutschen Politik- und Staatsdenkens und deutscher Politik beizutragen. Die in den sechziger Jahren insbesondere von Hans Maier neu angestoßene und aufgrund der aktuellen Entwicklung verstärkt geführte Diskussion darüber zeichnet sich ja bisher durch zwei wesentliche Merkmale aus. Einerseits herrscht die diachronische Perspektive vor, wodurch die jeweilige Eigenart der verschiedenen Entwicklungsetappen nur unzureichend ausgeleuchtet werden kann. Andererseits werden die Anfänge der angeblichen deutschen Sonderentwicklung speziell in das unter dieser Fragestellung noch wenig erforschte 17. Jahrhundert verlegt. 14 Die Quellengrundlage für unser Vorhaben ist ausgezeichnet. Wie Horst Dreitzel bereits vor fast 20 Jahren feststellte, gehört zur Realität des frühneuzeitlichen Staates zumindest in seiner vorherrschenden monarchischen Erscheinungsform, daß dieser «wie keine andere Staatsform zuvor in der europäischen Geschichte von den Zeitgenossen theoretisch reflektiert und wissenschaftlich analysiert wurde». 15 An politisch-ideengeschichtlichem Quellenmaterial herrscht also nicht nur kein Mangel, sondern besteht im Gegenteil sogar Überfluß. Die in Zusammenhang mit der generellen «Literaturexplosion» seit Spätmittelalter und Humanismus stehende Vervielfachung, allmähliche Ausgrenzung und innere Differenzierung der politischen Literatur hatte zusätzlich aber auch

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6

Zum Anteil Friedrich Meineckes an dem Vorurteil, daß das 17. Jahrhundert in Deutschland wissenschafts- und politisch-ideengeschichtlich langweilig, uninteressant und von Schulgeist geprägt sei, vgl. M. Stolleis: F. Meineckes Idee der Staatsräson (1981) S. 90. H. Maier, Ältere Staats- und Verwaltungslehre; ders., Politische Wissenschaft in Deutschland (1985); J. Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht (1977); D. Baum: Bürokratie und Sozialpolitik (1988). Zur Auseinandersetzung um den deutschen «Sonderweg» vgl. H. Grebing: Der «deutsche Sonderweg» (1986) und B. Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges (1980). Die aktuelle politische Diskussion dieser Problematik spielt sich unter anderem auf dem Gebiet der Suche nach einer neuen deutschen Verfassung ab. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 406.

die Entstehung kommentierenden, rezensierenden und bibliographischen Begleitschrifttums zur Folge. Anhand dieser Quellenschicht, die bislang höchstens zur nachträglichen Legitimierung einer vorweg getroffenen Autoren- oder Werkauswahl genutzt worden ist, können die gesuchten zeitgenössischen Urteile und Maßstäbe vergleichsweise bequem erschlossen werden. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, den unübersehbaren literarischen Quellenbestand in handhabbare Portionen zu zerlegen und fundierte Prioritäten zu setzen. Zudem eröffnen sich Durchblicke auf den Verwertungszusammenhang der Politikliteratur, der in dieser selbst nur in verdünnter Form zum Ausdruck kommt. 16

16

H. Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur (1980), S.78 (Zitat); Th. Bestermann: The Beginnings of systematic Bibliography (1935); R. Blum: Die Literaturverzeichnung im Altertum und Mittelalter (1983); J. Kaestner: Anmerkungen in Büchern (1984). Knappe Bemerkungen zur Geschichte der Bibliographie auch bei Chr. Bissel: Die Bibliographia politica des G. Naudé (1966) S. 9. Für Beispiele dafür, daß das zeitgenössische bibliographisch-rezensierende Schrifttum lediglich zur nachträglichen Verortung des gewählten Autors benutzt wird, vgl. E.-A. Seils: Die Staatslehre A. Contzens (1968) S. 223f. und Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 416f. Dreitzel setzt jedoch wesentlich breiter an und liefert daher die bisher beste Zusammenstellung dieses Materials, vgl. auch das Literaturverzeichnis seiner Arbeit.

7

A

GRUNDLAGEN

1.

Die deutsche politische Wissenschaft des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer propädeutischmethodisch-bibliographischen Literatur

1.1. Vorbemerkungen Das kommentierend-bibliographierende Begleitschrifttum zur wachsenden Literatur der Politica entstand mit dieser an der Wende zum 17. Jahrhundert, und zwar sowohl aus praktisch-pädagogischen als auch aus fachlichen methodischtheoretischen G r ü n d e n . Seine Wurzeln liegen in den humanistischen Studienbriefen, die erstmals im frühen 16. Jahrhundert in Deutschland greifbar werden. Diese epistolae de studiis dienten zuerst der Hebung der allgemeinen Studienbereitschaft des Adels, also der Förderung der humanistischen Bildung insgesamt. D a n n , in der zweiten Jahrhunderthälfte, spezialisierten sie sich allmählich. Diese Spezialisierung vollzog sich sowohl von den Bedürfnissen ihrer Adressaten her als auch unter wissenschaftlich-fachlichen Gesichtspunkten. 1 Die Entstehung der politischen Instruktionen für den Adel (Abschnitt 1.2.), die in Auseinandersetzung mit der Jurisprudenz als der bürgerlichen Leitwissenschaft stehen, darf als Verknüpfung allgemeiner Bildungsprinzipien, fachlicher Ansätze und ständisch-sozialer Erwartungen und Interessen betrachtet werden. Die zweite G r u p p e dieses Schrifttums hingegen, die Anleitungen und Qualifikationsbeschreibungen des Politicus als eines neuen Experten für öffentliche Angelegenheiten enthält (Abschnitt 1.3.), beginnt sich aus dem ständischen Kontext zu lösen. Die Vorstellungen, die sich in ihrem Zusammenhang entwickeln, bewegen sich in die Richtung auf Etablierung einer eigenen, gelehrt-praktischen Profession. Auf der anderen Seite verzahnt sich die Propädeutik mit theoretischmethodischer Erörterung (Abschnitt 1.4.). D e r Zwang, die jeweils empfohlene Literaturauswahl inhaltlich zu begründen, verselbständigt sich und weitet sich aus. Dieses Schrifttum tritt dementsprechend zunehmend in stringent akademischem Gewand auf; eine aufschlußreiche Zwischenform ist die Dissertatio epistolica. Die kommentierenden Bibliographien, die sich anfänglich noch an ein 1

Für die allgemeinen humanistischen Studienbriefe und -Ordnungen, aus denen die einzelwissenschaftlichen hervorgingen, vgl. A. Buck: Humanismus (1987) S. 162-176; allgemeiner G.Böhme: Bildungsgeschichte des frühen Humanismus (1984); ders., Wirkungsgeschichte des Humanismus im Zeitalter des Rationalismus (1988), sowie - in die unmittelbare Vorgeschichte des hier behandelten Zusammenhangs führend - A. Schödling: Humanistische Hochschule (1977) S.377ff. u.ö. Moderne Darstellungen sowohl dieser allgemeinen propädeutisch-methodischen Literatur als auch derjenigen der Politik fehlen bisher.

9

breiteres einschlägig interessiertes Publikum wenden, verengen sich allmählich zu Fachbibliographien oder, historisch gewendet, fachspezifischen Literaturgeschichten. D a n e b e n existieren die Kataloge weiter, die sich aber i m m e r feiner gegenständlich gliedern. Insgesamt lassen sich anhand zeitgenössischer Verzeichnisse, entsprechender Querverweise im Schrifttum selbst, der Zusammenstellung in der universitätsgeschichtlichen Bibliographie von W. E r m a n und E . Horn sowie durch Bibliothekskataloge rund 6 0 einschlägige Schriften identifizieren. Für unseren begrenzten Zweck reicht jedoch die Berücksichtigung der zugänglichen namhaftesten Vertreter des jeweiligen Typs aus. 2

1.2. Die Bildung zur Politik als Standeserziehung: Das politische Studienprogramm der Opera propaedeutica educationis nobilium D i e frühesten «Libri, qui in Studium politicum introducunt, vel de e o d e m recte, & cum fructu instituendo agunt», 3 entstanden an der Wende zum 17. Jahrhundert. D a s erste Drittel dieses Säkulums, besonders seine erste D e k a d e , war die Blütezeit dieser Gattung. D a n a c h dünnte die Neuproduktion aus. D e r selbständige und unselbständige Nachdruck hielt aber bis ins 18. Jahrhundert a n . 4 Für die zeitgenössische Rezeption und damit die historische Interpretation nicht un-

2

Ph. Labbé: Bibliotheca Bibliothecarum (1678) Bd. I, S. 208f.; M. Lipenius: Bibliotheca realis Philosophica omnium materiarum, rerum et titulorum (1682) Bd. I (Stichwort «Epistolae») S. 452ff., und Bd. II (Stichwort «Studia & studendi ratio») S. 1429-1433); J. A. Bosius [Bose]: De prudentiaet eloquentia (1699); J. G. Jochius: Prodromus (1705), mit ausführlicher Inhaltsangabe und kritischen Anmerkungen; C. Arnd: Bibliotheca Politico-heraldica (1705), Einleitung; B . G. Struvius [Struve]: Bibliotheca Philosophica distributa in suas classes, ed. L. M. Kahle (1740), Teil 2: Scriptores philosophiae practicae, S. 141-144; W. Erman-E. Horn: Bibliographie der deutschen Universitäten, T . l (1904), S. 462ff. Zu den Querverweisen vgl. die im folgenden aufgeführten Einzeltitel. - Nicht zugänglich waren mir u. a. die folgenden Beiträge: Johann von Koetteritz: De homino politico, ac rebus eundem constituentibus, Oratio, Straßburg 1597 (Erman-Horn Nr. 9634); Samuel Schwalch: Studii iuris hoc nostro saeculo . . . et politices alumnis praescripta, Sedini 1598 (Erman-Horn Nr. 8879); Reinhard König: Oratio de praestantia Studii Politici: Et quis vere dicendus politicus, Rinteln 1647 (Erman-Horn Nr. 9657); Georg Conrad Bergius (Praes.), Stanislaus a Sbaszyn Sbaski (Resp.): Dissertatio de Politici, objectoque eius, circa quod vocatur, natura, Frankfurt a . 0 . 1 6 5 1 (Erman-Horn Nr. 9659); Christoph Adam Rupert: Methodus suscipiendi et tractandi studii Philologico-historico-politici, Nürnberg 1658; Ideam studiosi politices, . . . exposuit Joh. Henr. Goettel, Rostock 1684; Johann Werlhof: De civilium studiorum sobria et ad genium seculi accomodata cultura oratio, Helmstedt 1686 (Erman-Horn Nr. 9679), und Just. Christoph Böhmer: Oratio de viri politici studiis eorumque perpetuo in academia Julia flore recitata, in: Ders., Orationes tres docendi, Helmstedt 1715 (Erman-Horn Nr. 9681).

3

Jochius, Prodromus S. 29. Vgl. die Angaben zu den einzelnen Titeln in den Fußnoten.

4

10

erheblich ist der Befund, daß die Publikation der politischen Propädeutiken häufig im Rahmen von Sammlungen allgemeiner Studieneinführungsschriften erfolgte. Die bedeutendsten waren die folgenden vier: - die Dissertationes de studiis instituendis der berühmten Amsterdamer Druckund Verlagsanstalt Elzevir von 1645 ;5 - der erste von dem Leidener akademischen Herbergsvater, Helfer und Nachhilfelehrer Thomas Crenius (gestorben 1723)6 zusammengestellte Band Consilia & methodi aureae studiorum optime instituendorum von 1692) ;7

5

Hugo Grotius et aliorum Dissertationes, vgl. das Quellenverzeichnis. Das über 700 Seiten starke Werk enthält insgesamt 24 verschiedene Beiträge, die zumeist unmittelbar dem universitären Betrieb entsprungen sind: Hugo Grotius, Epistola ad Lud. Aub. Maurerum de methodo studii juridici (S. 1 - 6 ) ; Gabriel Naudé, Bibliographia politica (S. 7-73); ders., Syntagma de Studio überall ad Illustrem Adolescentem Fabricium ex Comitibus Gnidiis a Balneo (S. 74-140); Arnold Clapmar, Nobilis adolescentis Triennium (S. 141-167); ein Additamentum zu Clapmar ex Johanne Sturmio (S. 168-170); Christoph Coler, De ordinando Studio politico Epistola ad . . . Stanislaum Zelenium Vitellium de Zelanka (S. 171-197); ein Additamentum ex Johannis Caselli (S. 198-203); Jacob Focano, Dissertatio de Studiis (S. 204-251); Joachim Fortius, De ratione studii liber (S. 252-317); Erasmus von Rotterdam, Tractatus eiusdem argumenti (S. 318-339); Caspar Barlaeus, Methodusstudiorum praescripta Ducibus Megapolensibus ad eorum Ephorum (S.340-357); ders., Methodus morum, praescripta Ducibus Lunaeburgensibus ad eorundem Ephorum & studiorum informationem (S. 358-367); Thomas Campanella, De libis propriis & de recta ratione studendi, Synthagma ad Gabrielem Naudaeum Parisinum (S. 368-413); Leonard Aretin, D e studiis & Uteris ad illustrem Dominam Isabellam Malatestam (S. 414-423); Caspar Schoppe, Consultationes de scholarum & Studiorum ratione; ders., D e Prudentiae & Eloquentiae parandae modis (S. 424-500); Ludovico Croci, Instructio de ratione Studii Theologici (S. 501-558); Johannes Loccenius, De studio Juris dissertatio (S. 559-564); Johannes Heurnius, De studio Medicinae bene instituendo dissertatio (S. 565-584); M. Hortensius, Dissertatio de studio Mathematico recte instituendo ad V. D. Marc. Zuer. Boxhornem (S. 585-593); Sebastian Fox, De studio Philosophici ratione Epistola ad Franciscum fratrem (S. 594-608); Petrus Angelius, Bargaei, quo ordine scriptorum historiae Romanae monumenta sint leganda Libellus (S. 609-619); Johannes Caselius, Ad generösem Ernestum a Steinberg Bodenburg Epistola de studio liberalis doctrinae (S. 620-632); Caspar Schoppe, Diatriba de compendiosa & facili linguam Ebraeam & Albert Bann, Dissertatio epistolica de Musicae natura, . . . & denique studio bene instituendo (S. 666-687).

6

Crenius war der Sohn eines brandenburgischen Superintendenten, hatte in Wittenberg, Leipzig und Gießen studiert und mußte um 1673 seine Predigerstelle bei Lüneburg aufgeben, weil er sich in einen aufsehenerregenden Ehescheidungsprozeß verwickelte. In Leiden wurde er erst 1683 heimisch, nach zehnjährigem Umherreisen in fast ganz Europa - Jocher I (1751) Sp. 2189-2191. Nach C. Arnd: Bibliotheca politico-heraldica (1705) S. 15 handelt es sich bei diesem Band um die beste Sammlung methodisch-propädeutischer Schriften. Er enthält auf über 800 Seiten insgesamt 19 Beiträge: Joachim Fortius Ringelberg, De ratione Studii liber vere aureus (S. 1 - 7 7 ) ; Erasmus von Rotterdam, D e ratione studii Tractatus (S. 77-105); Juan Lud. Vives, D e studii puerilis ratione Epistolicae Dissertationes (S. 106-149); Johannes Caselius, D e lingua latina addiscenda Dissertatio (S. 150-160); Johannes Sturm: D e litterarum ludis recte aperiendis liber (S. 161-233); ders., Ad Wer-

7

11

- d e s s e n z w e i t e r S a m m e l b a n d De philologia, educatione

Iliteraria generosum

- d e s s e n d r i t t e K o l l e k t i o n De eruditione dio politico, corum

cognitione

ac Militarium,

liberalis doctrinae,

adolescentium

auctorum

comparanda Ecclesiasticorum,

item peregrinatione

informatione

&

Tractatus (1696) 8 u n d

Tractatus

in humanioribus, Historicorum,

vita, stuPoliti-

(1699). 9

D i e nach der Häufigkeit ihrer zeitgenössischen N e n n u n g u n d d e m zeitgenössis c h e n U r t e i l f ü r u n s e r e P e r s p e k t i v e w i c h t i g s t e n E i n z e l s c h r i f t e n sind d i e f o l g e n den: - d i e B e i t r ä g e Propoliticos

8

9

(1600), Epistola

de studio

liberalis

doctrinae

(1606)

teros fratres Nobilitas Litterata (S. 234-276); Caspar Schoppe, Consultationes D e scholarum & studiosorum ratione deque prudentia & eloquentia parandae modis (S. 277-347); Olaus Borrichius, Cogitationes de variis linguae latinae aetatibus (S. 348-371); Pascalius Grosippus, De rhetoricarum exercitationem generibus (S. 372-418); C. Schoppe, Paedia Politices (S. 419-469); L. Aretin, De studiis et litteris ex bibliotheca Gabrielis Naudaei (S. 470-495); G . N a u d é , Bibliographia politica (S. 496-572); ders., Synthagma de studio liberali (S. 573-638); Hugo Grotius, Epistola ad Maurerum (S. 651-656); Gerard Johannes Voss: D e cognitione sui libellus (S.657-685); ders., De studiorum ratione opuscula (S.686-719); Franciscus Junius, Paraenesis missa Alberico de Vere (S.719-724); G.J.Voss, Introductio in chronologiam (S.725-742); ders., D e imitatione cum oratoria, tum praecipue poetica (S. 743-820). 480 Seiten mit 11 Beiträgen sowie verschiedenen, vor allem biographischen Notizen: Guillaume Budé, De Studio litterarum, recte et commode instituendo (S. 1-61); ders., Librorum de Philologia Praefatio (S.62-166); Thomas Campanella, D e libris propriis & rechta ratione studiendi Syntagma (S. 167-222); Johann Pastor von Hirtenberg, D e Juventutis instituendae Ratione Diatribe, item Epistola de eloquentiae studio (S. 223-271); ders., Palaestra Nobilium seu consilium de Generosum adolescentium educatione in gratiam quorundam Illustrium Polonorum conscriptum (S. 272-349); Johann Andreas Bosius, De prudentia juxta et eloquentia civili, deque libris & scriptoribus ad earn rem maxme aptis Dissertationes isagogieae (S. 350-439); Johannes Scheffer, D e generosi nobilisque informatione litteraria Dissertatio (S.440-471); Petrus Angelius Bargeius, Quo ordine Scriptorum Historiae Romanae monumenta sint legenda libellus (S. 472-479); sowie die Epistola Censura opus certe von Justus Lipsius (S. 480). Dieser knapp 600 Seiten starke Band ist erstmals mit umfangreichen Einleitungen, kritischen Anmerkungen, Ergänzungen und Fußnoten versehen. Seine Hauptbeiträge sind: Joachim Camerarius, Praecepta morum ac vitae accomodata aetati puerili (S. 25-95); Johannes Funger, De Puerorum disciplina & recta educatione Liber (S. 250-364); A. Clapmar, Nobilis adolescentis Triennium (S. 347-368); C. Coler, D e studio politico ordinando epistola (S. 369-398); Ignaz Hanniel, De studio politico (S. 399-408); A. a Lancken, Epistola de educatione nobilium (S. 406-408); J. A . B o s e , Schediasma de comparanda notitia scriptorum ecclesiasticorum (S. 409-470); Gabriel Naudé, Bibliographia militaris (S.471-556); Heinrich Ranzov, Methodus apodemica (S.557-571); J. H. Alsted, Epistola ad J. von derTann (S. 572-581); Matthias Bernegger, Questio . . . An hominibus illustribus, & quomodo, peregrinandum? (S. 581-584) und zwei abschließende Epistolae aus der Feder des Justus Lipsius und Georg Richters ebenfalls zur Problematik der Bildungsreise. Alle Bände Crenius' sind erstaunlicherweise in der Forschung nahezu völlig vergessen.

12

und Politeusomenos

(1607) des Melanchthonschülers und H e l m s t e d t e r Moral-

p h i l o s o p h e n Johannes Caselius ( 1 5 5 3 - 1 6 1 3 ) ; 1 0 - die Epistola

de studio

politico

ordinando

(1601) d e s neustoizistisch-tacitisti-

schen A l t d o r f e r Geschichts- und Politikprofessors Christoph Coler (gestorben 1640 o d e r 1651); 1 1 - das Triennium

nobilis adolescentis

(1605) des reformierten A d v o k a t e n s o h n e s ,

zeitweiligen H o f m e i s t e r s und Soldaten A r n o l d Clapmar ( 1 5 7 4 - 1 6 0 4 ) , der als Begründer der Arcana-imperii-Lehre in D e u t s c h l a n d in die G e s c h i c h t e einging; 1 2 - die Epistola

de studio politico

ordinando

adJoannem

a Witt (1607) d e s Rostok-

ker Rechtsanwalts und späteren Geschichtsprofessors Ignaz Hanniel (gestorben 1608), die stark protestantisch ausgerichtet ist; 13 - die Epistola

ad Dominum

Josuam

von der Tann (1618) d e s Herborner refor-

mierten P h i l o l o g e n , P h i l o s o p h e n , Enzyklopädisten und T h e o l o g e n Johann Heinrich A i s t e d ( 1 5 8 8 - 1 6 3 8 ) ; 1 4 - die Epistola

de educatione

nobilium

(1627) des holstein-gottorfischen H o f b e -

a m t e n A e g i d i u s a Lancken; 1 5 - die Palaestra

nobilium

seu concilium

de illustrium

adolescentum

educatione

10

Vgl. zum Erscheinungsort oben das Quellenverzeichnis; Angaben zur Biographie und zum Gesamtwerk nach der Zusammenfassung bei Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 99-105 (mit weiteren Verweisen). " Vgl. dazu die zeitgenössischen Urteile von H. Conring in: ders. Opera Bd. 3 (1730) S. 44, 49 (s. u.) und C. Arnd in: ders. Bibliotheca politico-heraldica (1705) S. 21. Coler (geb. vermutlich ca. 1565) nahm später, vermutlich nach Übertritt zum katholischen Glauben, das Amt eines kaiserlichen Zeremonienmeisters in Prag an, vgl. D B A 767, S. 330-339, und Zedier 6 (1733), Sp. 662. (Nicht klar ist, ob Chr. Coler mit dem Freund, Begleiter und Biographen des schlesischen Dichters Martin Opitz identisch ist; vgl. zu diesem wie Opitz mit dem Straßburger Gelehrtenkreis um M. Bernegger und J. H. B o e d e r verflochtenen Verfasser Literatur H. Steinhagen, B. von Wiese (Hgg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts (1984) S. 128-130, 553-555 u.ö.). Die Epistola ist wohl in dieser Phase geschrieben. Ihre verschiedenen Ausgaben - als Jahr der Erstauflage wird teilweise auch 1602 angegeben - sind aufgeführt bei C. Arnd, Bibliotheca politico-heraldica S. 20f. ; Struvius, Bibliotheca Philosophica I, S. 142 und Erman-Horn, Bibliographie, S.462. Ich habe die Edition bei H. Conring, Opera Bd. 3, S. 8 9 - 9 7 und zur Prüfung Crenius III, S. 369-398, benutzt. 12

13

14

15

Titelfortsetzung: quomodo studiosus humaniorum litterarum triennio animum juxta sermonem feliciter excolere possit. Das Werk wurde zuerst in Wittenberg gedruckt, danach (zumeist mit verschiedenen Addimenta) in Gießen (1622), in Leiden (1640; benutzt), sowie in kürzerer Fassung bei Grotius, Dissertationes, S. 141-165, und Crenius III, S. 347-368. Zur Biographie Clapmars s. D B A 191, S. 365-370 und N D B 3, S.260, ferner Stolleis S. lOlf., 111, 119 u . ö . , der auf S. 145 auch eine Ausgabe von bereits 1596 kennt. Der Empfänger ist ein patrizischer Angehöriger des Rostocker Rats. Zur Biographie Hanniels vgl. D B A 470, 167. Vgl. die wichtigsten Angaben zu Werk und Person bei Menk, Herborn, S. 247-254 u. ö. sowie die vorliegende Studie unter Kapitel 3. Erman-Horn weisen außer den im Quellenverzeichnis genannten Ausgaben noch eine weitere von 1636 nach, vgl. Nr. 9656. Zur Biographie Lanckens s. D B A 733, 217-219. 13

( 1 6 5 3 ) des in Schlesien geborenen mehrfachen Konvertiten, A r z t e s und Historikers Joachim Pastor von Hirschberg bzw. Hirtenberg ( 1 6 1 0 - 1 6 8 1 ) ; 1 6 - die Dissertatio manuductoria utiliterque absolvendo

de politicae prudentiae

studio académico

breviter

( 1 6 6 3 ) des Steinfurter Arztes Nicolai H o b o k e n , die ver-

gleichsweise weniger bekannt wurde; 1 7 - die Epistola ad Ottonem bus et nobilibus

L. Baronem

excolenda

de Schwerin

de iurisprudentia

ab illustri-

( 1 6 6 4 ) des neustoizistisch-tacitistisch geprägten Ju-

risten und «ersten preußischen Kultusministers» ( G e r h a r d Oestreich) Paul von Fuchs ( 1 6 4 0 - 1 7 0 4 ) ; 1 8 - die Dissertatio de generosi

nobilisque

informatione

litteraria ( 1 6 8 0 ) des aus der

Straßburger neustoizistisch-tacitistischen Schule stammenden Professors für E l o q u e n z und Politik an der Universität Uppsala, Johannes Scheffer (gestorben 1 6 7 9 ) ; 1 9 - die beiden Schriften Politicus Academicus: zukünftiger könne,

Das ist kurtze Nachricht,

Politicus seine Zeit und Geld auff der Universität wohl

und Väterliches

Testament

wie ein anwenden

(beide 1 6 8 4 ) des Zittauer Gymnasialrek-

tors, politischen Denkers und Dichters Christian Weise ( 1 6 4 2 - 1 7 0 8 ) , der schon nicht mehr in die späthumanistische Bildungs- und Wissenschaftstradition g e h ö r t ; 2 0 - die Dissertatio tinentibus

de studio iuris publici recte instituendo

et de scriptoribus

eo per-

( 1 6 8 8 ) des in Gießen und Straßburg ausgebildeten Reichspublizi-

sten, Hofrats und Diplomaten Johann G e o r g von Kulpis ( 1 6 5 2 - 1 6 9 8 ) ; 2 1

16

Eine zweite Auflage wurde 1678 in Frankfurt veranstaltet, gefolgt vom hier benutzten Abdruck bei Crenius 1696; vgl. auch die kritische Zusammenfassung bei Jochius, Prodromus, S. 5 4 - 5 7 . Zur Biographie Pastors vgl. A D B 25, S. 219 und D B A 9 3 3 , 4 1 8 - 4 2 3 . Pastor war hiernach ursprünglich Lutheraner, dann Sozinianer und schließlich Katholik (danach u.a. Ernennung zum Protonotarius apostolicus). E r veröffentlichte 1659 auch die Schrift Differentiae inter politicum genuinam et diabolicum. Seine weiteren Erziehungsschriften De juventutis instituendae ratione diatribae und Epistola de eloquentiae studio sind wie oben vermerkt bei Crenius II abgedruckt.

17

Zur Biographie Hobokens (Dr. phil. und med.) ist kaum etwas bekannt, vgl. Zedier 13, Sp. 299. Hoboken legte auch medizinische Schriften vor. Zu einem Nachdruck der vorliegenden Dissertatio scheint es nicht gekommen zu sein; bei Jochius, Prodromus und C. Arnd, Bibliotheca I und II, ist sie nicht erwähnt. Zur Biographie vgl. D B A 357, 3 8 6 - 4 0 8 ; Zedier 9 (1735) Sp.2195f.; F. von Salpius: P. von Fuchs, ein preußischer Staatsmann (1877); N. Hammerstein: Jus und Historie (1972) S. 152f. und G. Oestreich: Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa (1969), hier S. 143 und 151 (Zitat). Fuchs hatte in Jena u.a. bei dem Boecler-Schüler J. A. Bose (s. u.) studiert. E r war der Sohn eines lutherischen Pastors aus Pommern, trat aber später mit der ganzen Familie zum Calvinismus über. Erscheinungsort der ersten Ausgabe war Hamburg, hier ist die zweite Edition (bei Crenius II) zugrundegelegt; vgl. die Diskussion des Werkes bei Jochius, Prodromus, S. 5 9 - 6 7 . Zur Person des Verfassers s. D B A 1092, 2 5 6 - 2 6 1 und St. Lindroth: Uppsala University (1977) S. 48. Vgl. zur Person und zum Werk H . A . H o r n : Chr. Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums (1966) und die Angaben unten in Abschnitt 2.2.15. Vgl. zu seiner Biographie die Angaben bei Stolleis passim, ferner Roeck, Reichssystem

18

19

20

21

14

- die Anweisung der politischen Jugend, wie ihre Studia Humaniora auf Gymnasiis und Academien zu tractiren, des Altonenser und schleswigschen Gymnasialrektors Daniel Hartnacke, die auf einen Katalog hinausläuft, 22 und - das auf kaiserliche Initiative erstellte Gutachten Von Erziehung eines jungen Prinzen, der vor allen Studien einen Abscheu hat, daß er dennoch gelehrt und geschickt werde, des Altdorfer Philologen, Historikers, Politikdenkers und Juristen Johann Christoph Wagenseil (1633-1705). 23 Bereits nach den Titeln dieser Schriften lassen sich drei Untergruppen bilden. Eine erste Gruppe nimmt sich ihrer Thematik noch unter der allgemeineren Perspektive adeliger Erziehung und Bildung an. Nur die zweite Untergruppe konzentriert sich auf die Politik, die teils als Politica - auch in adjektivischer Fassung - , teils zumindest andeutungsweise als Prudentia (politica, civilis) auftritt. Eine dritte Gruppe befaßt sich hauptsächlich mit dem juristischen Studium; ihre in diesem Rahmen entwickelten Gedanken zur Politik lassen sie aber dennoch zugleich als Einleitungsschriften für das politische Studium erscheinen. Mit drei Ausnahmen, die alle in das ausgehende 17. bzw. das beginnende 18. Jahrhundert fallen, sind die Introduktionen in Latein abgefaßt. Wir bewegen uns hauptsächlich in der späthumanistischen Epoche, die an der Priorität des Lateinischen als Kommunikationsmedium aller Gebildeten festhalten möchte, an ihrem Ende diesen Anspruch aus inneren und äußeren Gründen aber nicht mehr aufrechterhalten kann. 24 Die Verfasser der Propädeutiken sind mehrheitlich Universitätsprofessoren der Artistischen Fakultät, die zum Teil noch in die höheren Fakultäten aufrückten. Zu ihnen lassen sich die ebenfalls vertretenen Schulmänner zählen. Die meisten Gelehrten verfügen gleichzeitig über praktisch-politische Erfahrung zumindest in Form gutachterlicher Tätigkeit. Alle Verfasser sind evangelisch, die Majorität ist lutherisch. Ihre Universitätszugehörigkeit nach Studium und Berufstätigkeit weist Altdorf und Straßburg als bedeutendste Zentren aus. Die Werbung für das politische Studium und die Ordnung dieses politischen Stu-

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24

S. 57 und 68. Die Dissertatio erfuhr 1700,1708 und 1739 erneute Auflage, vgl. ErmanHorn Nr. 8965-8968. Wie die Schreibweise des Namens des Autors (auch: Sulpicius), so schwankt auch der Titel der Dissertatio: Jochius, Prodromus S. 68; spricht sie als «de studiis academicis iuvenis nobilis recte instituendis» an. Vgl. zu den spärlichen bekannten biographischen Angaben Zedier 12, Sp. 649. S. zu Leben und Werk (umfangreichste Bibliographie) vor allem Zedier 52, Sp. 623-627, ferner unsere Angaben unten in Kapitel 3. - Nicht in diese Reihe aufgenommen habe ich u. a. die Epistola ad Lud. Aut. Maurerum de methodo studii juridici (abgedruckt u.a. in dem o.a. Elzevirschen Sammelband), welche zwar oft zitiert und gelobt wird (Conring!), inhaltlich aber kaum Neues bringt. Vgl. dazu unsere Anmerkungen weiter unten und aus der einschlägigen Literatur G. Michel: Wolfgang Ratke. Die Muttersprache in Schule, Staat und Wissenschaft (1976), K. Schaller: Johann Balthasar Schupp. Muttersprache und realistische Bildung (1976), sowie W. Kühlmann: Nationalliteratur und Latinität (1989), mit wertvoller Bibliographie.

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diums, womit sich dieses Schrifttum befaßt, haben demnach mit den spezifischen Umständen dieser beiden Universitäten zu tun, die zuletzt M. Stolleis zusammenfassend skizziert hat. 25 Altdorf wurde sofort nach seiner Gründung 1575/77 zu einer Wirkungsstätte vor allem französischer und italienischer Gelehrter, die zum Teil aus ihren Heimatländern vertrieben worden waren. Zu den vordringlichsten Aufgaben dieser Hochschule der evangelischen Reichsstadt Nürnberg gehörte die Sicherung und Beförderung der Position dieses protestantischen Reichsstandes und der protestantischen Reichsstände insgesamt. Diesen Aufgaben kam sie hinsichtlich des Reichsverbands durch Entwicklung des Jus publicum, mit Bezug auf die gesellschaftlich-administrative Modernisierung durch Aufnahme und Weiterverarbeitung moderner politisch-herrschaftstechnischer Gedanken nach. Diese Grundkonstellation prägte auch die Position Straßburgs. Dort kamen jedoch die Tradition des oberdeutsch-elsässischen Humanismus, die Lage als Drehscheibe französisch-italienischer, schweizerischer, deutscher und niederländischer Einflüsse, die exponierte Grenzposition zwischen Frankreich und dem Reich, die vielfältigen Konfessionskonflikte innerhalb und in der unmittelbaren Nachbarschaft der Stadt sowie außergewöhnliche persönliche Begabungen hinzu. Zeitweilig war Straßburg eine ausgesprochene < Prinzenuni versi tät>.26 Bei einem gewichtigen Teil der Schriften lassen sich direkt oder indirekt mehr oder weniger konkrete Anlässe oder Zielsetzungen identifizieren. 27 Caselius' Beiträge stehen mit dem Bestreben des Wolfenbütteler Landesherrn in unmittelbarem Zusammenhang, den niederen Adel und die auf Eigenständigkeit bedachten städtischen Oberschichten vor allem Braunschweigs zu disziplinieren und in den Fürstenstaat zu integrieren. Hanniel schreibt gegen den inneren Konflikt Rostocks, der eine Intervention des mecklenburgischen Herzogs provoziert und damit den Verlust aller städtischen Freiheiten an einen absolutistisch-machiavellistischen Fürsten wahrscheinlich macht. 28 Lanckens Mahnungen an die fürstlich adeligen Hofmeister, sich der Ruhmsucht und des Hangs ihrer Zöglinge zum Laster gewiß zu sein und alle Erziehungsanstrengungen auf diese Bedingungen abzustellen, sind auch aus der Situation des 30jährigen Krieges zu verstehen. Die Schrift des zur Abfassungszeit am polnischen Hof tätigen Pastor von Hirschberg kann wegen seiner Kombination von neustoizistisch-praktischen und absolutistisch-theoretischen Gedanken als Versuch gewertet werden, der Schwäche des polnischen Königtums durch disziplinierend-integrierende Adelserziehung

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Geschichte des öffentlichen Rechts S. 98-102, vgl. auch unten Abschnitt 1.3. und 1.4. Vgl. zusammenfassend A. Schindling: Straßburg und Altdorf, in: P. Baumgart, N. Hammerstein (Hg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen (1978) 149-190. Schindlings grundlegende Studie zu Straßburg (Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt) bricht aber für unsere Zwecke zu früh ab. Für Nachweise siehe, soweit nicht eigens vermerkt, neben den Schriften selbst, die oben jeweils angeführte Literatur. Vgl. Epistola a . a . O . S. 143-146, und zur Geschichte Rostocks die Bemerkungen bei H. Schultz: Soziale und politische Auseinandersetzungen in Rostock (1974).

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abzuhelfen. 29 Hoboken zielt auf eine Integration des politischen und juristischen Studiums beim städtischen Patriziat Amsterdams, weil mit der «scientia nuda» des Rechts praktischer politischer Erfolg nicht zu gewährleisten sei. 30 Fuchs, Kulpis und Hartnacke möchten den bürgerlichen Juristen den Weg zur Politica öffnen, dem Adel das juristische Studium schmackhaft machen und gleichzeitig das juristisch-politische Studium auf die spezifischen Verhältnisse des jeweiligen Staates abstellen. Dadurch kommen sie dem Willen ihrer Monarchen entgegen, den Staat nach außen abzugrenzen, mit einer eigenen Identität auszustatten und Adel und Bürgertum herrschaftlich zu integrieren. 31 Scheffer kombiniert absolutistische Prämissen, praktische Herrschaftstechniken und lutherische Glaubenserziehung für Schweden in einer Zeit, in welcher der Absolutismus dort mit der Entmachtung des Reichsrates 1680 gerade eine entscheidende Hürde nahm und der Übertritt Königin Christinas zum römischen Glauben 1655 die konfessionelle Identität des Reiches stark erschüttert hatte. 32 Weise und Wagenseil entwerfen in einer kritischen Übergangsphase Rezepturen gegen die nachlassende Studierwilligkeit des Adels im allgemeinen und gegen die nachlassende Bereitschaft, sich wie die bürgerlichen Studenten eines ordentlichen Studiums mit einem formalen Abschluß zu befleißigen, im besonderen. Generell gilt ferner, daß - das akademische Studium nicht so sehr als separater Prozeß, sondern als integraler Bestandteil der adeligen Erziehung insgesamt betrachtet wird; - dieses Studium sich aus dem Kollegienbesuch und Bücherlektüre einerseits und körperlichen Übungen und Bildungsreisen andererseits zusammensetzt; - das Studium politicum nicht als Betreiben einer bestimmten Disziplin aufgefaßt wird, sondern als schwerpunktmäßiges Studium bestimmter Einzelfächer, das sich aus einem bestimmten Ausbildungsziel ergibt, und - besonders im Licht der Kollektionen des Thomas Crenius im 17. Jahrhundert in Deutschland sowohl deutsche als auch nichtdeutsche Propädeutiken von zentraler Bedeutung waren. 33 Zunächst kommt durchgehend das Bedürfnis zum Ausdruck, dem Jungadel die Notwendigkeit und Nützlichkeit literarischer Bildung überhaupt vor Augen zu führen. Die vielzitierte Abneigung des Adels gegen die Litterae ist auch für Weise und Wagenseil am Ende des Säkulums noch keineswegs überwunden. Das Thema arma & litterae ist noch nicht zum bloßen Topos erstarrt, sondern spiegelt aktuelle historische Spannungslagen, die in der Konkurrenz der Nobilitas litteraria mit der Geburtsaristokratie um Anteil an den Profiten des Fürsten29 30 31 32

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Vgl. besonders Palaestra S. 31 Iff. und 336 (Status monarchicus). Dissertatio manuductoria S. 4 (Zitat), vgl. die Widmung. Vgl. besonders Epistola S. 16ff. Besonders auffällig ist die Hervorstreichung der Arcana-imperii-Lehre Clapmars in diesem Zusammenhang und die Warnung vor allzu frühen Bildungsreisen ins fremdkonfessionelle Ausland, vgl. Dissertatio de informatione S. 449ff. und 458ff. Vgl. hierzu auch unten Abschnitt 1.4.1. zu Naudé.

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staates gründen. 34 Dabei ergeben sich zwei wesentliche Tendenzen. Einerseits wird die Definition der durch Bildung zu erzielenden Vorteile immer materieller, andererseits werden sie immer unmittelbarer auf die konkreten Lebensumstände des Adels bezogen. Allgemeine Sittenverbesserung und Wissenserweiterung, die Hebung der Humanitas, ist das generelle Ziel der Eruditio. Für den Adel ist solche Bildung deshalb bedeutsam, weil sie ihm den unerläßlichen Vorsprung an Ansehen und humaner Qualität verschafft: «scientia civilis . . . maxime decet nobilitatem». 35 Aus diesem Vorsprung ergibt sich unmittelbar eine Vorbildfunktion des Adels für den Vulgus und eine Verpflichtung des Adels zum Einsatz der eigenen Kräfte für die Respublica, die sich zwanglos mit dem überkommenen Herrschaftsanspruch der Aristokratie verbinden läßt. «Nullam rempublicam absque bonorum [d.h. hier: durch Bildung geläuterte] virorum administratione feliciter gubernari posse, in confesso est apud omnes.» 36 Der Adelige vermag mit Hilfe seines Bildungsvorsprungs nicht nur suum Statum, sondern auch den Status der Respublica selbst in schwierigen Zeiten zu bewahren und zu verbessern. Sowohl der Bezug zur Respublica als auch die Notwendigkeit der Bewahrung des eigenen, vorbildlichen Status tragen jedoch dazu bei, daß das Prinzip der Nützlichkeit der durch Bildung zu steigernden Lebens- und Herrschaftsfähigkeit in den Vordergrund tritt. Infolge des sozio-ökonomischen Strukturwandels, des Wachstums des Fürstenstaates und der Krise des Adels, die diesen zur Suche nach neuen Betätigungsfeldern treiben, 37 wandelt sich der Dienst für die öffentliche Sache zum öffentlichen Dienst. Aus der moralisch-gesellschaftlichen Verpflichtung zur Sorge für öffentliche Belange und dem sozialen Anspruch auf Herrschaft wird das Interesse an öffentlichen Ämtern und die Notwendigkeit zur Qualifizierung für diese Ämter. Der nur durch Bildung erreichbare konsequente Verzicht auf 34

Vgl. dazu und zum gesamten Kontext vor allem L. Boehm: Konservatismus und Modernität in der Regentenerziehung (1984), N. Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit (1982); ders., Tradition und Modernität im adeligen Bildungsprogramm (1988), beide allerdings ohne entsprechende Berücksichtigung des Studium politicum, sowie den einschlägigen Absatz bei W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat (1982) 3 5 1 - 3 6 3 . Auch für Frankreich (J. D . Nordhaus: Arma et Litterae, 1974) und England (J. H. Hexter: The Education of the Aristocracy in the Renaissance, zuerst 1950) ist vom Studium politicum noch vergleichsweise wenig bekannt. Die Verarbeitung der Thematik besonders auf der Ebene der 'Schönen> Literatur hat beispielhaft untersucht V. Sinemus: Poetik und Barockrhetorik im frühmodernen deutschen Staat (1978).

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Johannes Sturm: Ad Werteros fratres nobilitas Litterata, in: Crenius I, S. 2 3 4 - 2 7 6 , hier S.241. Th. Crenius in: Crenius III S. 257, Fußnote (Zitat); vgl. auch Pastor, Palaestra Nobilium, in: Crenius II S. 276, und J. Camerarius, Praecepta, in: Crenius III S. 49ff. Vgl. hierzu R . A . M ü l l e r : Universität und Adel (1974), ders; Aristokratisierung des Studiums? (1984), und genereller zum historischen Zusammenhang jetzt H. Reif: Der Adel in der modernen Sozialgeschichte (1987; Forschungsbericht!), sowie V. Press: Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges (1988), besonders S. 2 4 5 - 2 5 2 .

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Saufen, Huren und Spielen entspricht bei Christian Weise nicht nur dem Gebot Gottes, sondern kann auch bei Bewerbungen und Beförderungen eine entscheidende zusätzliche Qualifikation darstellen. Bildung kann damit endgültig zur unabdingbaren Voraussetzung der Erlangung von Ruhm deklariert werden, nach Lancken und anderen dem eigentlichen Lebens- und Handlungsmotiv des Adels. 38 Vom handfesten Nutzen der Bildung für den Adel führt nur noch eine kurze Wegstrecke zum Nutzen der Bildung für alle. Dieses Prinzip, das sich historisch allerdings hauptsächlich als Erziehung zu den «bürgerlichen Tugenden» niederschlug, ist vornehmlich bei Weise und Wagenseil anzutreffen. Beide betonen die umfassende Nützlichkeit des an Schule und Hochschule erworbenen Wissens selbst «für der schlechtesten Leute Kinder, und sogar Weibsbilder». 39 Die vorliegenden Instruktionen zielen auf eine christlich-humanistische oder christlich-eklektische Bildung des Adels sowohl in dessen eigenem Interesse als auch dem Interesse des jeweiligen Gemeinwesens, also konkret des Reiches (Wagenseil), monarchischer Staaten außerhalb des Reiches (Pastor, Scheffer), des Fürstenstaates im Reich (Caselius, Lancken, Fuchs, Kulpis), einer Stadt (Hanniel, Hoboken) oder - abstrakter - jeglicher Respublica (v. a. Coler und Clapmar). Sie dienen der Rekonstruktion des Adels und der Integration des Adels in die sich herausbildenden politischen Systeme. Der Geblütsadel soll zu einer qualifizierten Funktionselite umgeformt werden. «Der Herrschaftsanspruch des Adels wurde anerkannt, aber . . . verlangt, daß diese Herrschaft in Form einer von bürgerlicher Rationalität, Nüchternheit und Humanität bestimmten praktischen Wissenschaft ausgeübt werde als Dienst am Gemeinwesen.» 40 Die frühen Autoren gehen dabei noch davon aus, daß sich in adeligen Familien regelmäßig Tugend und Begabung zur Herrschaft fortpflanzen. Ihre Nachfolger werden zusehends skeptischer. Die Respublica bleibt zwar die natürliche Bestimmung des Adels, aber nicht jeder Adelige ist zur Respublica befähigt, motiviert und erziehbar. 41 Dem entspricht das propagierte, in seinen Grundzügen überall weitgehend identische Studienprogramm. Zunächst äußerlich: Die Aufstellung eines Planes für den Tagesablauf und seine strikte Anwendung sollte eigentlich (Lancken) bereits von früher Kindheit an eingeübt werden. 42 Auch für diese Phase gilt schon die Regel, Leibesertüchtigung, Unterrichtsbesuch, Lektüre und Muße in

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Chr. Weise, Väterliches Testament, S. 6 0 - 7 7 u . ö . ; A . a Lancken, Epistola de educat o n e ed. Conring S. 156ff. Wagenseil, Von Erziehung eines Prinzen(!) S. 4, vgl. aus der einschlägigen Literatur vor allem Paul Münch (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit (1984), S. 9 - 3 8 (Einleitung). Nicht thematisiert wird auf dieser E b e n e der Einsatz von Erziehung und Bildung als Mittel politischer Bildung für alle Untertanen, vgl. dazu unten Abschnitt 6.7. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 105, zu Caselius. Vgl. vor allem das erste Kapitel bei Scheffer, Dissertatio de informatione (1680). Für diese frühe Erziehung am Hof s. die einschlägige Analyse fürstlicher Erziehungsinstruktionen von P. Többicke: Höfische Erziehung (1983).

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durchdachter Weise miteinander abwechseln zu lassen. Nächtliche Ausschweifungen sind sowohl im Interesse guter Lernfähigkeit am folgenden Tag als auch zur Vermeidung von Händeln oder Geld- und Ansehensverlust zu meiden. 4 3 Es ist weder nötig noch im Interesse der Standesehre richtig, sich mit bürgerlichen Mitstudenten «gemein zu machen». Der hoffnungsvolle Jungadel darf mit seinem Geld großzügiger umgehen, um den Ruf eines «kargen Filzes» zu vermeiden. Er ist zu Satisfaktionsforderungen berechtigt und in bestimmten Fällen verpflichtet. Dennoch hat er sich dem friedlichen Wettbewerb im Studienbetrieb zu stellen. «Der Zwang, gewisse Stunden zu halten, auswendig zu lernen, mit gemeiner Leute Kinder umzugehen, und denen in allem gleich gehalten zu werden», mag dem Adel «unleidlich» sein. Entscheidend ist aber das Ziel des Studiums, das akademisch informierte politische Handeln für Fürst, Vaterland, Familie und die eigene Person. 44 Das gilt auch für die von Anfang an umstrittene Frage, ob sich der adelige Student den Examen stellen und dort gar brillieren solle oder könne, ohne seinen Stand zu verlieren, also lediglich zum «perfekten Philosophen» usw. werden solle, den man auch «unter Bauren» finde. 45 Die bürgerlichen Professoren möchten durchaus auch ihre adeligen Studenten examinieren. Sie beabsichtigen keineswegs, auf die Bestätigung der professionellen und sozialen Überlegenheit zu verzichten, wie sie sich aus der Examinierung des Jungadels ergibt. In der Diskussion der Fächer und des konkreten Verlaufs des politischen Studiums überlappen sich verschiedene Orientierungen. 4 6 Darin kommen Spannungslagen in der generellen Definition dieses Studiums ebenso zum Ausdruck wie Schwierigkeiten mit der konkreten Umsetzung dieses Konzepts. Ihrer praktischen Zielsetzung entsprechend gehen die Studienanleitungen im Gegensatz zur theoretisch-methodischen Begleitliteratur der Politica von relativ allgemeinen PoKtikkonzepten aus. Die Politica ist eine praktische Wissenschaft, die Normenwissen, empirisches Wissen und allgemeine Klugheitsregeln kombiniert und möglichst effizient auf die Respublica anwendet, aber gleichzeitig dem Nutzen des Anwenders dient. Die zentrale Perspektive ist dabei die der Herr-

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Hierzu äußert sich zentral Weise, Politischer Academicus C. I-II, S . 4 - 3 5 , und zwar sowohl aus seiner persönlichen reichen Erfahrung als praktischer Pädagoge, als auch infolge aktuell verschärfter Umstände: zu Beginn des 18. Jhrdts. ist wie o. a. das Bestreben des Adels besonders stark, sich von den bürgerlichen Mitstudenten abzusetzen, vgl. hierzu das Folgende. Weise S. 23ff. und 34f.; Wagenseil, Von Erziehung eines Prinzen, Widmung (o.S., 2. Zitat). In den «städtischen» Propädeutiken entfällt der Fürst als Bezugsinstanz, dafür wird «patria» stärker betont. Weise S. 34 (Zitate); vgl. zur Diskussion des Problems Joachim Muensinger von Frundeck: Oratio, An dignitas Doctoralis officiât Nobilitati (1581) und Wolfgang Gruning (Praes.), Arnold Reyger (Resp.): Quaestio perpulchra utrum dignitas doctoralis aut alterius gradus assumptio dedecoret, aut obfluscet generis nobilitatem? (1610), ferner aus der Literatur jetzt H. Lange: Vom Adel des doctor (1980). Angesichts des begrenzten Quellenbestandes verzichte ich im Folgenden in der Regel auf genaue Textverweise.

schaft (Imperium, Gubernatio, Administratio usw.). Je nach Rahmenbedingung, Blickwinkel und Interessenlage können bestimmte Komponenten dieses Systems betont, andere in den Hintergrund geschoben werden. Das notwendige ethisch-politische Normenwissen ist über das Studium der Moralphilosophie 47 (Ethik, Politik i . e . S . u n d z.Tl. Ökonomie) und anhand einschlägiger historisch-philosophischer Autoren sowie von Dichtern zu erwerben. Je nachdem kommt dazu die Bibel, besonders der Dekalog, oder die Bibel wird der Ethik sogar vorangestellt. 48 Ob das Studium in concreto mit der theoretisch anspruchsvollen Ethik beginnen soll, wird allerdings nicht ganz klar. Didaktisch-pädagogische Erwägungen zielen eher dahin, mit weniger anspruchsvollen, unmittelbar interessanten Historikern zu beginnen. Die Historie dient freilich nicht nur der Weitergabe von Normenwissen in Form von empirischer Bestätigung politisch-moralischer Sätze, sondern vermittelt auch empirisches und Klugheitswissen. Deshalb wird die Geschichte zumal bei tacitistisch-neustoizistisch orientierten Autoren zum ständigen Grundfach des Politikstudiums. Dementsprechend ist auch eine Befassung mit der Geschichtsphilosophie, der Historik als der Lehre von der Methode adäquater Geschichtserkenntnis und Geschichtsdarstellung sowie schließlich der Geschichte der Geschichtswissenschaft, vonnöten. 49 In spezifischer Weise mit der Geschichte in Zusammenhang stehen die empirievermittelnden Disziplinen der Genealogie, der Wappenkunde, der Geographie und der sich allmählich ausdifferenzierenden Staatenkunde. Mit dieser fortlaufenden Spezialisierung geht die Konzentration der Historie auf Politik und Herrschaft, auf politisch-pragmatische Geschichte, einher. Herrschaft ist aber in erster Linie zielgerichteter Umgang mit Menschen. Deshalb werden dem Studenten der Politik auch der Erwerb und die Erprobung praktisch-psychologischer Kenntnisse abverlangt. Dieser Wissensbereich entwickelt sich als Teil der Ethik in Auseinandersetzung mit Theologie und Medizin

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Vgl. hierzu umfassend die zeitgenössische Quellen- und Literaturzusammenstellung bei Struve, Bibliotheca philosophica Bd. II C. I S. 1 - 1 3 2 . Vgl. für ein spätes Beispiel Weise, Väterliches Testament. Beste knappe zeitgenössische Zusammenstellung der einschlägigen Studienliteratur bei C. Arnd: Bibliotheca politico-heraldica (1705) S. 105-190. Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566) ist das wichtigste geschichtsmethodische Werk (s. auch unten), vgl. für die zeitgenössische Rezeption auch J.F. Reinhard: Theatrum Prudentiae (1702) S. 3 2 0 - 3 2 5 u. ö. Aus der einschlägigen Literatur zum zeitgenössischen Verständnis der Historie vgl. R. Landfester: Historia magistrae vitae (1972); A . Seifert: Cognitio histórica (1976); J. Knape: «Historie» in Mittelalter und früher Neuzeit (1984); M. Völkel: «Pyrrhonismus historicus» und «fides histórica» (1987), besonders S. 6 8 - 2 0 4 ; zum Zusammenhang von historischer Exempellehre und Topik R. Koselleck: Historia Magistra vitae (1967), in: ders., Vergangene Zukunft (1989) S. 3 8 - 6 6 u n d W. Schmidt-Biggemann: Topica universalis (1983). D i e neuzeitliche Trennung von Geschichte und Wissenschaft macht sich aber vor allem bei Conring bereits massiv bemerkbar, s. dazu noch C. Fasolt: Conring on History (1987) sowie jetzt nochmals R. Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel (1988).

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und als Teil der Rhetorik. Das Studium der menschlichen Charaktere im individuellen, sozial-ständischen, ethnischen und nationalen Kontext nach Temperament, Gefühlsleben und Reaktionsweisen dient zugleich der Erforschung des eigenen Ichs mit dem Ziel erfolgreicher Optimierung der eigenen Möglichkeiten. 50 Einen übergeordneten Rahmen für alle diese Wissensbereiche und zugleich spezielle Hilfsmittel praktischer Klugheit stellen die Rhetorik und die antiken Sprachen, besonders das Latein dar. Die ursprüngliche Vorstellung, daß sich Bildung aus der Beherrschung von Res und Verba zusammensetze, bleibt trotz interner Verschiebungen gewahrt. Das läßt sich auch an den wechselnden Begründungen für die Notwendigkeit des Lateinischen ablesen. Die anfänglich geradezu mythische Überhöhung dieser Sprache macht zunehmend pragmatischen Erwägungen Platz. Wer kein Latein kennt, kann weder die antiken Philosophen noch die antiken Historiker noch die überwiegende Mehrzahl der modernen Schriftsteller lesen. Er kann sich weder im kirchlichen noch im weltlichen Recht orientieren. Die Teilnahme am gelehrten oder am politischen Diskurs in der Diplomatie ist ausgeschlossen. Ebenso ist die Fähigkeit, sich im Schichtungsgefüge und Verflechtungszusammenhang der Normen zurechtzufinden, empirische Eindrücke zu ordnen sowie Empirie und Normen richtig zu verknüpfen, ohne das Latein kaum zu erwerben. Daher wird der des Lateinischen Unkundige weder ein hohes öffentliches Amt erhalten können noch sich und seine Angehörigen sicher durch die Fährnisse der Zeit zu steuern vermögen. «Lingua latina . . . hodie dominatrix est, non inter eruditos tarnen, sed & rerum in orbe potentes usitassima est», meint J. Pastor, angesichts des Vordringens des Französischen parallel zum Aufstieg des französischen Absolutismus freilich nicht mehr völlig zeitgemäß. 51 Die Rhetorik, die dem adeligen Absolventen des Studium politicum nahegelegt wird, reicht bis in die Poetik hinein. Sie umfaßt Erkenntnistheorie und Lo-

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Vgl. hierzu die Auflistung bei Arnd, Bibliotheca politico-heraldica C. XI S. 3 6 3 - 3 7 8 . Für ein spezielles Problem dieses Zusammenhangs s. meinen Aufsatz: Im Kampf mit Saturn. Zum Beitrag der Melancholie zur anthropologischen Modernisierung im 16./17. Jhrdt. (1990). J.Pastor, D e juventutis ratione diatribe, in: Crenius II S . 2 2 7 ; vgl. ferner vor allem J. Caselius, D e lingua Latina Dissertatio, in: Crenius I, S. 150-160; J. Sturm, D e litterarum ludis über, in: ebd. S. 161-233 (mit der Überlegung, daß der Gebrauch des Lateinischen nebst des rechten Modus disputandi die einzige Möglichkeit der Wahrheitsfindung sei), und O. Borrichius, Cogitationes de variis linguae Latinae aetatibus, in: ebd. S. 3 4 8 - 3 7 1 . Zum Verdrängungskampf mit dem Französischen vgl. Wagenseil, Von Erziehung, Widmung o. S.: «sonderlich (will) es fast ein Ansehen gewinnen, als wann die lateinische Sprach nicht so sehr und minder als das Frantzösische excoliret werde». Dabei sei das Latein aber noch immer die Sprache der gelehrten Welt sowie - ein Zugeständnis des protestantischen Autors an seinen Auftraggeber, den katholischen Kaiser? - «der allgemeinen Catholischen Kirche». Aus der Literatur zum Problem der Verdrängung bzw. Beibehaltung des Latein vgl. W. Kühlmann: Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus (1980).

gik, konzentriert sich aber zunehmend auf die praktischen Künste der Konversation, der öffentlichen Rede, des Verfassens öffentlicher und privater Briefe auch unter dem Gesichtspunkt ständischen Prestiges und ständischer Würde, der Abfassung gelehrter Traktate und amtlicher Dokumente. 5 2 Daß zum Kollegienbesuch, der Fachlektüre, der gelehrten Übung, der Traktatabfassung und Konversation körperliche und musische Ertüchtigung und die Einübung standesgemäßen Verhaltens zu treten hat, wird in den politischen Studienanleitungen selbst nur am Rande thematisiert. Dafür ist eine spezielle Anleitungsliteratur zuständig, deren Qualität direkt oder indirekt, durch Querverweise oder die gemeinsame Veröffentlichung in Kollektionen zum Ausdruck kommt. Ein repräsentatives Beispiel für beide Fälle ist die Gymnasma de Exercitiis academicorum des Regensburger Syndikus Georg Gumpelzhaimer (1596- vor 1650). Dieser umfangreiche Traktat, «in quo per discursum disseri tur de eorum [nämlich der exercitia] necessitate, modo, tempore, personis, utilitate», wurde 1652 zusammen mit einer Dissertatici de Politico publiziert, auf die noch zurückzukommen sein wird. 53 Lediglich Weise als Autor einer historischen Phase, in welcher die Verhältnisse an den Universitäten erneut durch verstärkte Abgrenzungsbemühungen des Adels gegenüber den nachdrängenden bürgerlichen Kommilitonen geprägt sind, streift das Reiten, Fechten, Ballspielen und Tanzen als einschlägige aristokratische Übungen. 5 4 Anders verhält es sich auf dem Gebiet der Bildungsreise, jener «Kavalierstour jüngerer Ordnung», die seit längerem das Interesse der Forschung genießt. 55 Johann Heinrich Alsteds Epistola ist eine politisch-apodemische Propädeutik, die den Studenten der Politik nachdrücklich dazu auffordert, den Blick auf alles zu richten, «quae pertinent ad rempublicam togatam & sagatam». An dieses Postulat schließt sich die Empfehlung zur Anfertigung entsprechender Notizen. Hieraus entwickelt sich das Konzept, Beobachtungen und Befragun-

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Vgl. hierzu grundlegend W. Barner: Barockrhetorik (1970) und jetzt für den katholisch-jesuitischen Raum B . B a u e r : Jesuitische «ars rhetorica» (1986), besonders S. 71ff., ferner genereller M. Cahn: Kunst der Überlistung (1986). Vgl. hierzu und zur Biographie Gumpelzhaimers unten Abschnitt 1.3. Das Zitat stammt aus dem Untertitel des Gymnasma. Es ist bezeichnend, daß die einzige Darstellung der Gymnasma - Philipp Schreibmüller: G. Gumpelzhaimers Schrift (1908) - die Dissertatio de Politico nicht einmal erwähnt. Weise, Politischer Academicus C. II S. 2 8 - 3 5 ; sich musikalisch betätigen solle im übrigen nur derjenige, der «sich drauf versteht» (S. 33). B o e h m , Konservativismus S. 84; vgl. zu diesem Komplex weiter J. Stagi: Der wohl unterwiesene Passagier (1980); ders., Die Apodemik oder Reisekunst als Methodik der Sozialforschung (1980); ders. (Hg.), Apodemiken (1983); ders., D a s Reisen als Kunst und Wissenschaft (1983) und jetzt H. J. Teuteberg: Reise- und Hausväterliteratur der frühen Neuzeit (1989). Allgemeine Instruktionen der Apodemik sind Heinrich Ranzov, Methodus apodemica, in: Crenius III, S. 5 5 7 - 5 7 1 , mit einem detaillierten (s. o.) Beobachtungsraster, wieder abgedruckt bei Stagi, D i e Apodemik oder Reisekunst, S. 192-198, sowie Matthias Berneggers kleiner, von Tacitus ausgehender Beitrag ebendort bei Crenius S. 581-584.

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gen von Einheimischen methodisch anhand eines Fragerasters durchzuführen und die Ergebnisse ebenso gezielt systematisch-statistisch zu fixieren. 5 6 Noch deutlicher werden die Konturen des Studium politicum

im Deutschland

des 17. Jahrhunderts bei der Analyse der Lektüreempfehlungen, die in den einschlägigen Propädeutiken gegeben werden. Diese Empfehlungen sind, so läßt sich vorab festhalten, bemerkenswert h o m o g e n . Sowohl über die Klassifizierung der politischen Literatur als auch den Bestand und die Wertigkeit der in diese jeweiligen Klassen fallenden A u t o r e n und Werke besteht weitgehender Konsens. Dies gilt, obwohl die innere Differenzierung des Literaturbestandes erst allmählich feiner wird und von A u t o r zu A u t o r Schwankungen unterliegt. Von A n f a n g an unterschieden wird zwischen A u t o r e n und Werken der normativ-abstrakten universalen politischen Theorie und A u t o r e n und W e r k e n der partikularen Politik, die sich auf bestimmte Erscheinungsformen der

Respubli-

cae oder spezifische Problemkomplexe beziehen und damit eher zur E m p i r i e neigen. D e m zentralen Studienziel des E r w e r b s gesicherten theoretisch-normativen Wissens entsprechend setzen die meisten Propädeutiken mit der Auflistung solcher theoretisch-universaler politischer Werke ein. Diese Schriften werden schon bald als Opera

systematica

bzw. compendiosa

bezeichnet. Die

klassischen A u t o r e n sind hier Aristoteles, Plato und C i c e r o , manchmal verschiedene italienische Renaissancedenker, dann aber Jean Bodin (Six Livres

de la

République,

zuerst 1 5 7 6 ) , 5 7 Justus Lipsius, G r e g o r Tholosanus {De

república

Libri XXVI,

1 5 8 6 ) , 5 8 gelegentlich John Case ( S p h a e r a civitatis hoc est

Reipubli-

cae recte ac pie secundum

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leges administrandae

ratio, zuerst 1 5 8 6 ) , 5 9 ferner Alt-

Aisted, Epistola S. 151f. (Zitat), vgl. auch die vorherige Fußnote. Methodisch weiterentwickelt wird das Fragebogenkonzept nicht nur von den Autoren der professionellen Politik (Abschnitt 1.3.), sondern auch derjenigen der Theorie der Politikwissenschaft (1.4.1). Vgl. dazu knapp, aber werknah W. Reinhard, Vom italienischen Humanismus S. 250ff.; Stolleis passim; die Angaben in der erstmaligen, von B . Wimmer besorgten deutschen Übersetzung (1986/88); H. Quaritsch: Staatsraison in Bodins «République», in: ders., Staatsräson (1970), S. 4 3 - 6 3 ; den Forschungsbericht von G. Roellenbeck: Neues zu Jean Bodin (1983); E . Hinrichs: Das Fürstenbild Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie (1973) und jetzt Faculté des Lettres d'Angers (Hg.): Actes du Colloque J. Bodin (1986). Pierre Gregoire (1540-1596) war Jurist u.a. in Toulouse und an der vom Herzog von Lothringen gegründeten gegenreformatorischen Hochschule in Pont-à-Mousson. Er verfaßte neben seinem weit über 1000 Seiten starken politiktheoretischen Werk auch wichtige rechtswissenschaftliche Arbeiten, u.a. eine Syntagma juris universi (1582), vgl. C. Collot: L'école doctrinale de droit Public de Pont-à-Mousson (1965) und L. Gambino: II De República de Pierre Gregoire (1978). Die meist zitierte Ausgabe der De república ist diejenige von Frankfurt 1597, dort erschienen aber noch 1609 und 1642 neue Editionen. Erscheinungsort der ersten Auflage war Oxford, Neuauflagen erfolgten Frankfurt 1589, 1604, 1614 und 1616, vgl. AlthB Nr. 3987f., Stolleis S. 111, Ch. L. Lohr: Latin Aristotle Commentaries II (1988) S. 85f., und Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 142f. u.ö. Case (1546-1600) war Philosoph und Mediziner, seine Sphaera ist ein

husius (Politica methodice digesta atque exemplis sacris etprofanis illustra, zuerst 1603),60 Bartholomäus Keckermann, J. H. Aisted, Henning Arnisaeus, Adam Contzen, Nicolaus Vernulaeus (Institutionum politicarum Libri VI, zuerst 1623),61 Georg Schönborner, Christian Liebenthal, Marcus Zuerius Boxhorn, Christoph Besold (Synopsis doctrinaepoliticae, zuerst 1620), 62 Johann Heinrich Boeder und in einem Fall Rudolph Gottfried Knichen. 63 Die jüngeren Verfasser nennt Coler noch «nostri homines», später werden sie als «moderni» den «antiqui» oder «veteres» gegenübergestellt. 64 In dieser historischen Differenzierung drückt sich eine wachsende Distanzierung vom antik-humanistischen Erbe aus. Vollendet wird diese Distanzierung in der vorliegenden Reihe aber erst von Christian Weise: bei ihm fehlen die antiken Klassiker völlig. Eine gewisse Zwischenstellung kommt Tacitus und Machiavelli zu, die zum Teil im Kontext der Systematiken genannt werden, aber (s.u.) gleichzeitig den Vermerk erhalten, daß sie sich eigentlich nur mit dem Fürstenstaat, der Monarchie, beschäftigten. Diese Einschränkung wird auch bei Lipsius gemacht. Auf die Bewertung von Aristoteles, Plato und Cicero, zu denen gelegentlich noch Plutarch tritt, ist hier nicht näher einzugehen. Es genügt, auf die drei wichtigsten Dimensionen der ebenfalls anzutreffenden Kritik an ihnen hinzuweisen: es handelt sich um heidnische Denker, deren Vorstellungen z.B. für Ignatz Hanniel im Licht der Bibel zu prüfen sind; Aristoteles verzichtet im

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Aristoteleskommentar, welcher bereits den Charakter eines eigenständigen Werkes annimmt. Vgl. hierzu jetzt umfassend mit den wichtigen Literaturhinweisen K.-W. Dahm (Hg.): Politische Theorie des Johannes Althusius (1988) und M. Behnen: Herrscherbild und Herrschaftstechnik in der Politica des J. Althusius (1984). Vgl. zu diesem Werk und zur Person des Löwener Verfassers (1583-1649) knapp Seils, Contzen S. 215ff.; Lohr, Latin Aristotle Commentaries II S. 479 und D B A 1305, 191-194. Die erste Ausgabe erschien in Tübingen, eine weitere 1637 am neuen Arbeitsplatz des getauften Lutheraners in Ingolstadt. Zur Biographie (Lebenszeit 1577-1638) und zum Gesamtwerk vgl. die Angaben bei Stolleis, passim, nebst der wichtigen dort angegebenen Literatur. Die Liste der antiken Klassiker bedarf keines gesonderten Nachweises; zur Nennung italienischer Denker der Renaissance vgl. für Caselius zusammenfassend Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 102f. (weitere Autoren zwischen Antike und Neuzeit sind hier Dio von Prusa und Themistius, deren Werke in der zweiten Hälfte des 16. Jhrdts. neu aufgelegt wurden); für Coler dessen Epistola S. 92f. (Nennung von «Andreas» (Francisco) Patrizi) und für Clapmar, Triennium S. 64ff. und 87 (Marsilio Ficino u.a.). Danach verschwinden diese Namen bzw. sie tauchen als Autoren speziellerer Werke (die sie ja auch tatsächlich sind) nur noch in bestimmten Unterklassen auf. Zu R. G. Knichen (Opus politicum in tribus libris, 1682) und seinem über 2000 Seiten starken Werk vgl. M. Stolleis: Lipsius-Rezeption (1984) S. 15. Die übrigen Autoren und Werke werden in der vorliegenden Studie weiter unten in Kapitel 2 und 3 behandelt. Auf die wichtigsten der jeweils gemeinten Werke wird genauer unten in Kapitel 2 dieser Studie eingegangen - Coler, Epistola S. 93, vgl. zur chronologisch-epochalen Auflistung zusammenfassend C. Arnd: Bibliotheca politico-heraldica (1705) S. 69ff. Knichen als besten Systematiker nennt Hartnaccius, Anweisung S. 54.

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5. Buch seiner Politik bei der Untersuchung der «remediae conservandae monarchiae» auf eindeutige ethisch-moralische Wertungen, so daß er zu einem Vorläufer Machiavellis wird, zu einem Propagator der Techniken der Sicherung tyrannischer Herrschaft; diese antiken Autoren hätten unvermeidlich die spezifischen Verhältnisse ihrer Zeit vor Augen. Daher seien ihre Ausführungen mit Hilfe jüngerer Autoren zu ergänzen, bis sie schließlich von diesen abgelöst werden. 65 Jean Bodins Six Livres de la République (1576) gilt als scharf argumentierendes, höchst gelehrtes und vielleicht deshalb bereits zu anspruchsvolles, vorbildhaftes Spitzenprodukt, das das moderne politische Denken auf eine neue Basis stelle. 66 Justus Lipsius' Politicorum seu civilis doctrinae libri sex (1589) erfährt fast noch höhere Wertschätzung, und zwar aus zwei Gründen. Erstens zeichne sich sein Werk durch abgewogene, von hoher humanistischer Gelehrsamkeit zeugende Urteile aus. Zweitens beschränke es sich nicht auf theoretische Erwägungen, sondern sei auf unmittelbare Anwendbarkeit praxisfähiger Klugheitsregeln und empirischer Kenntnisse angelegt. Daneben wiege weniger schwer, daß sich seine Überlegungen auf den Fürstenstaat konzentrierten, unklare Äußerungen zum christlichen Glauben vorlägen und manche nahezu machiavellistische Züge zutage träten, so daß das Werk insgesamt durchaus vorsichtig und nicht schon vom blutigen Anfänger zu lesen sei. 67 Pierre Gregoires De república gilt ebenfalls als grundgelehrt und inhaltlich geradezu unerschöpflich. Es trage aber eben deshalb mehr zur Doctrina als zur Prudentia der Politik bei und wird zunehmend als unhandlich empfunden. 6 8 Die Beurteilungsmaßstäbe, die sich in diesen Bewertungen abzeichnen - Systematik und Vollständigkeit in didaktisch geeignetem Ausmaß, Verhältnis von Theorie (Doctrina) und Praxis (Prudentia), damit verknüpft Aktualität, Verhältnis zu den christlichen Normen und zu den Postulaten der humanistischen Ethik - diese Maßstäbe werden auf die nachfolgenden Opera systematica et compendiosa jedoch nur noch gelegentlich explizit angewandt. Auf der Ebene der Einführungen ist die Qualifizierung einer begrenzten Auswahl ausreichend; weitergehende Erörterungen bleiben der theoretisch-methodischen Begleitliteratur vorbehalten. 69 Zu vermerken ist allerdings die innere Differenzierung der systematisch-kompendiösen Werkklasse zu Ende des Beobachtungszeitraums

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Hanniel, Epistola S. 143ff. (auch mit dem einschlägigen zweiten Argument zum 5. Buch der Politik des Peripatetikers); Pastor, Palaestra S. 336 u . ö . ; Fuchs, Epistola S. 10 (des Aristoteles Werk ist lückenhaft «praesertim si scripta ejus ad nostra tempora & christianum disciplinam examinare velis»). Vgl. z. B. Coler, Epistola S. 93f., und Pastor, Palaestra S. 337. («Bodinus . . . unus oranino eligendus»). Coler, Epistola S. 93; Pastor, Palaestra S. 311, 336 u. ö.; Scheffer, Dissertatio S. 457ff.; Wagenseil, Von Erziehung S. 127 (des Lipsius' Politica als Möglichkeit, Tacitus zu aktualisieren), vgl. ferner die unten in Abschnitt 1.4.1 gesammelten Urteile. Coler, Epistola S. 93; Pastor, Palaestra S. 336f.; Hartnaccius, Anweisung S. 54. Siehe unten Abschnitt 1.4.

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beispielsweise bei Hartnacke. Er stellt den Compendia Politica «völlige Systemata» gegenüber und unterscheidet die aus der Hl. Schrift abgeleiteten Doktrinen von den Opera de República und den allgemeinen Werken «zur Einrichtung des gemeinen Wesens». Damit hat hier nicht nur die Unterschiedlichkeit der Beurteilungsmaßstäbe zu entsprechenden Binnendifferenzierungen geführt, sondern die Staatsliteratur ist auch explizit von der systematisch-kompendiösen Politikliteratur getrennt. 7 0 Die nächst untere Ebene der Opera politica particularia vereinigt ihrem Prinzip nach stärker theoretische Werke zu den drei klassischen Staatsformen mit empirisch-historischen zu konkreten politischen Systemen. Praktisch geht es aber ausschließlich um Erörterungen zum Fürstenstaat und ab der zweiten Jahrhunderthälfte, so bei Paul von Fuchs, auch zum Reich. Der wichtigste Autor zum Status monarchicus als der empirisch wichtigsten politischen Konstellation der Zeit ist nahezu allenthalben Lipsius, für Coler «ante illos» allerdings «Nicolaus Machiavellus», über den Lipsius das angemessene Urteil gefällt habe. 71 Hierzu kommen weitere lipsianisch-tacitistische Beiträge wie Jean Chokier de Surlets Thesaurus Politicus (zuerst 1610) und Hippolyt a Collibus' Princeps (1593), die unmittelbar zur Literatur über die Aufgaben und Qualifikationen des Fürsten in theoretischer, aphoristischer, literarischer und historisch-empirischer Form führen. 7 2 Im Hinblick auf das Reich geht es um die einschlägigen Werke des Jus publicum und der Notitia Imperii Romano-Germanici aus der Feder des Dominicus Arumaeus, Johannes Limnaeus, Johann Heinrich Boeder, Hermann Conring u. a. 73 Die Historiker, die dem adeligen Politikstudenten ans Herz gelegt werden, können hier nur gestreift werden. Das Programm zu Beginn des Jahrhunderts 7 4

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Hartnaccius, Anweisung, S. 5 1 - 5 5 ; vgl. auch unten Abschnitt 1.4. Coler, Epistola S.92f. Machiavelli ist auch bei Clapmar, Triennium S . 6 6 empfohlen. Alle Autoren der modernen Politik einschließlich des Lipsius ab lehnt hingegen Hanniel (Epistola S. 143ff.). «Ex secretionibus bibliothecarum Italicarum, Hispanicarum, Gallicarum» sei keine wahre politische Weisheit zu gewinnen. Im Gegenteil: alle Regionen, die von derartigem politischen D e n k e n und Handeln infiziert würden, seien «vel fiamma vel ferro vastatae, vel in extremam servitutem redactae, horribile iudicii Divini spectaculum praebent.» Für das Urteil des Lipsius über Machiavelli vgl. unten Abschnitt 1.4.

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Vgl. vor allem Pastor, Palaestra S. 311, 336 u. ö. (S. 334 wird außerdem ein Enchiridion virtutum eines Cl. Jonston erwähnt, das ebenfalls eine Nachahmung der lipsianischen Politik darstelle) und Scheffer, Dissertatio S. 458ff. In der Zusammenfassung bei Hartnaccius, Anweisung, S. 5 6 - 5 8 und S.72ff. sind die stärker literarischen Unterklassen bereits ausgeschieden. Chokiers Thesaurus erschien zuerst in Rom, dann lateinisch nochmals in Mainz 1615, schließlich zweimal in deutscher Übersetzung 1624 und 1652. A Collibus' (1561-1612) Princeps wurde zuerst in Basel, 1595 in Hanau verlegt, vgl. zu ihm K. Conermann: H. a Collibus. Zur Ars Politica et aulica im Heidelberger Gelehrtenkreis (1981).

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Zusammenfassend Hartnaccius, Anweisung S. 7 2 - 7 4 ; vgl. zu diesen allen Autoren unter dem Aspekt des Jus publicum Stolleis, passim (Register). Vgl. z. B. Coler, Epistola S. 9 3 - 9 6 (mit dem Urteil des Lipsius über Tacitus S. 95).

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setzt bei Thukydides ein, umfaßt hauptsächlich Xenophon, Plutarch, Sallust, Livius, Dio Cassius, Tacitus nebst dessen neuzeitlichen Editoren und Kommentatoren wie Matthias Bernegger, J. H. Boeder, Christoph Forstner und andere, erwähnt bei den recentiores Historici Johann Sleidan für das Reich, William Cambden für England und Jacques Auguste Thuan (de Thou) sowie Gabriel Bartholomäus Gramond für Frankreich und stößt schließlich seine älteren Bestände zugunsten jüngster, aktueller Darstellungen aus der Feder Samuel Pufendorfs, Johann Christoph Becmanns, Boeclers u . a . allmählich ab. Hierzu gehören auch die Werke der Notitia rerumpublicarum, der hauptsächlich von B o e d e r und Bose begründeten Staatenkunde. 7 5 Auf die bedeutendsten Werke der Geographie, Heraldik und Genealogie wird erst nur sehr selektiv verwiesen. 76 Das gleiche gilt für die praktische Psychologie, deren Autoren später als «scriptores ethici atque pathetici» bezeichnet werden. Etwas dichter, aber für unsere Perspektive weniger bedeutsam sind die Hinweise auf vorbildliche Autoren für politische Rhetorik und die Abfassung politisch-amtlicher Schriftstücke. 77 Da diese Probleme bereits stark technischpraktischer Natur sind, werden sie aber nicht weiter vertieft. Einerseits würde eine nähere Befassung mit ihnen den Rahmen der Studieninstruktionen sprengen. Andererseits kann dem Adel kaum ein volles professionelles Ausbildungsprogramm zugemutet werden; vielmehr ist auf seinen Standesanspruch Rücksicht zu nehmen. 7 8 Dennoch verzweigt sich die politische Studieninstruktion für Adelige auch in diese Richtung. Dem künftigen Angehörigen eines fürstlichen Rates wird u . a . Hippolyt a Collibus' Consiliarius (1598), Johann Paul Felwingers De Consiliario (1642) und J. H. Boeclers Maecenas sive Consiliarius Regius (gedruckt 1705) als Fachlektüre nahegelegt. 79 Das zweite Feld, auf dem sich adeliger Anspruch und wachsende Professionalität verbinden läßt, ist das Gesandtschaftswesen. Eine erfolgreiche Betätigung als Legat setzt das Studium von Alberico Gentiiis' De Legationibus libri tres (1585), Carolus Paschalius' Legatus (1598), Hermann

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Vgl. für die vorliegende Schrifttumebene zusammenfassend Hartnaccius, Anweisung S. 70f. und 74, für den Gesamtertrag des Jahrhunderts ferner wie o. a. C. Arnd, Bibliotheca politico-heraldica S. 105-190. Bei Hartnacke ist als einziger antiker Autor mit vollem Kommentarnachweis Tacitus Übriggeblieben. Das wichtigste Werk der Theorie der Geschichte als Wissenschaft ist Bodins Methodus ad facilem cognitionem historiarum (1572). Zur Staatenkunde (Statistik) vgl. unten Abschnitt 1.4.1. (zu Bose). Vgl. die umfassende, kommentierte Zusammenstellung bei Arnd, Bibliotheca politicoheraldica S. 3 9 9 - 4 1 9 und 4 5 3 - 5 2 9 . Vgl. Arnd, Bibliotheca S. 363 (Zitat) -378 und S. 191ff. (Hinweise zur Rhetorik usw.). So konstatiert in diesem Kontext Clapmar, Triennium S. 91, daß über noch speziellere Lektüreerfordernisse des «hom(inis) civilis, qui ad regum principum Consilia adspirat, luculentius docere neque . . . . loci (est), neque temporis». Vgl. z. B. Scheffer, Dissertatio S.461 und zusammenfassend Hartnaccius, Anweisung S. 58f. Der Beitrag von B o e d e r erschien in Boeclers zweitem Dissertationen-Sammelband S. 7 0 1 - 7 7 5 .

Kirchners Legatus (1610), Wicqueforts Ambassadeur (1677) und weiterer einschlägiger Schriften voraus. 80 Ein dritter, mit der traditionellen Funktion des Adels in unmittelbarem Zusammenhang stehender Bereich, ist das Militärwesen. Bereits Coler nennt mit «Vegetius, Frontinus, Aelianus, Polyaenus, Leo Imperator, Onosander, Michael Montanus, Justus Lipsius, peritissimus Gallus De la Nue . . . (et) Hieronymi Catanaei, Lazari Sorantzii erudita commentarla» viele wichtige Namen des Säkulums, gemischt aus Antike und Frühneuzeit. Hartnacke bietet eine mehrseitige Übersicht zu dieser Thematik. 8 1 Wer Ratsmitglied, Diplomat oder auch Offizier werden möchte, hat sich allerdings zuvor am Hofe auszuzeichnen. Deshalb weisen die adeligen Studieninstruktionen auch Schrifttum nach, welches mit den Lebensformen zu Hofe vertraut machen und Rezepte zur Bewährung im Unglück, zur Durchsetzung gegenüber mißliebigen Rivalen und zum Überstehen feindlicher Intrigen vermitteln möchte. Diese Nachweise beziehen sich u.a. auf Baidassare Castigliones Hofmann (1528), Duo a Pasculos ( = Eberhard a Weyhe) Aulicus Politicus (1596) und Stephano Guazzos De mutua conversatione (1574), also vor allem die frühe, italienische Variante dieser Gattung. 8 2 Schließlich wird dem Jungadel auch die Befassung mit Lektüre zur Staatsräson nahegelegt. Hier umfaßt die Literaturliste die italienischen Klassiker ab Giovanni Botero (Della ragion di stato libri dieci, 1589) oder Scipio Ammirato (Discorsi sopra Cornelio Tacito, 1594), aber ebenso, und zwar mit nachdrücklicher Betonung, Arnold Clapmars Arcana-Werk. 83 Mit der Absolvierung dieses Programms sind jedoch erst die Grundlagen zu der akademischen Ausbildung des Jungadels gelegt, die den Autoren der Instruktionen vorschwebt. Die meisten von ihnen - sogar der als Vertreter modernen Politikdenkens bekanntgewordene Altdorfer Arnold Clapmar 84 - raten dem 80

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Vgl. die Zusammenstellung der Titel bei Hartnaccius, Anweisung S. 60f. und die knappen Bemerkungen zu diesem Problembereich bei Stolleis S. 190f. Coler, Epistola S. 96, Harnaccius, Anweisung S. 6 3 - 6 6 . Coler, Epistola S. 97 weist noch lediglich allgemein auf «libelli aulici» aus Italien, Frankreich und dem Reich hin; Clapmar, Triennium S. 90f.; Pastor, Palaestra S. 337ff. ; Scheffer, Dissertatio S. 459; zusammenfassend und mit den notwendigen bibliographischen Angaben Hartnaccius, Anweisung S. 59f. Vgl. vor allem Pastor, Palaestra S. 338, mit Bezug auf das Urteil B. Keckermanns, und Scheffer, Dissertatio S. 462, sowie die Aufteilung bei Hartnaccius S. 69 unten. Zu Castiglione vgl. A . Buck: Β. Castigliones «Libro del Cortegiano» (1989); die These vom Mißerfolg dieses Werkes im deutschen Sprachraum ist angesichts des vorliegenden Materials jedoch zu differenzieren. E. Weyhe (1553-nach 1663) schrieb sein vielzitiertes Werk vornehmlich aus eigener Erfahrung als Beamter und Diplomat, die Charakterisierung bei Th. Klein (Conservatio Reipublicae per bonam eduactionem S. 192), Weyhe sei «einer der führenden Politologen der Zeit um 1600 schlechthin» gewesen, erscheint aber doch überzogen. Für Guazzo (1530-1593) und dessen zuerst italienisch (La civil conversatione) erschienenes Werk vgl. die Hinweise bei Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat S. 50f. u . ö . Clapmars Triennium zielt auf die Absolvierung eines vollständigen politisch-juristi-

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Adel vielmehr, sich nach seiner politischen Ausbildung an der Artistischen Fakultät eines mehr oder weniger vollständigen juristischen Studiums zu befleißigen. Dies nicht nur deshalb, weil die Kenntnis bestehenden Rechts und der Rechtsinstitutionen zu den weiteren Qualifikationen des adeligen Politikers gehört, aber nicht Bestandteil des Studiums der Artes ist. 85 Offenkundig möchten die bürgerlichen Gelehrten auch am Primat der bürgerlichen Wissenschaft des Rechtes festhalten und auf die Chance nicht verzichten, den Adel mittels dieser Wissenschaft ihren Vorstellungen entsprechend zu normieren und zu disziplinieren. Dieser Tendenz entspricht das gegenläufige Programm, nämlich auch dem bürgerlichen Juristen politische Grundkenntnisse zu vermitteln und ihn damit in verstärkten Wettbewerb mit dem Adel treten zu lassen, oder gar die Politik insgesamt als integralen Bestandteil der Jurisprudenz auszuweisen. Diesen Weg beschreitet noch zögernd bereits Hoboken, konsequenter dann aber Paul von Fuchs und bis zu einem gewissen Grade auch Kulpis. Ihr Ansatzpunkt ist die zweite Komponente des Begriffs der Jurisprudentia, also die Klugheit in der Rechtsetzung, Rechtsfindung und Rechts anwendung. Im Recht geht es nicht nur um Gerechtigkeit («aequum et iniquum»), sondern auch um Nutzen und Schaden («utile . . . noxium»). Die «legislatoria prudentia», die diesem Sachverhalt gerecht werden muß, ist «nobilissima ejus doctrinae pars, quam vulgo Politicarli appellamus». Sie wird aber dort nur höchst unzureichend traktiert. Die Rechtswissenschaft ist aufgerufen, dieses Defizit auszugleichen. Auf diese Weise werden politische Zusammenhänge auch zu einem Element der Jurisprudenz. 86 Erst kollektivbiographisch-statistische Analysen werden zeigen können, inwieweit diese Vorstellungen realgeschichtlich verwirklicht werden. Der für unsere Perspektive wesentliche Befund ist jedoch der, daß das politische Studium des Adels wenigstens seiner Idee nach deutlich stärker herrschaftspraktisch-professionelle Züge aufwies als bislang gemeinhin angenommen wird. Das Konzept des Studium politicum nobilium stellt den Ansatz eines professionellen Fachstu-

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schen Studiums in nur drei Jahren, ein Motiv, das bei Hoboken wieder aufgenommen wird. D i e Jurisprudenz ist für den Verfasser des deutschen Arcana imperii-Standardwerks die Königin aller Wissenschaften, vgl. S. 22f. und 87. In Hartnackes Anweisung sind die Kenntnis des Rechts und des Gerichtswesens in das bibliographische Programm aufgenommen; es wird aber nicht gesagt, in welcher Form diese Kenntnis in das Studium der Politik zu integrieren sei. Auch in diesem sozialgeschichtlichen Zusammenhang steht die Entstehung der sogenannten Jurisprudenz, vgl. vor allem die Dissertatio D e civili Prudentia (1679) eines ihrer Hauptvertreter in Leiden, Gerard Noodt (1647-1686). Fuchs, Epistola S. 13f (Zitate). Zu beachten ist die Machiavelli-Diskussion in diesem Beitrag S. 6ff., weil sie verdeutlicht, daß auch für Fuchs die Verbindung von Recht und Nutzen nicht mit einer Ersetzung des Rechts durch den Nutzen gleichbedeutend ist. So gingen nur die genuinen «Pseudopolitici» vor. Das zweite Zwischenstück, über das Fuchs Recht und Politik verknüpft, ist die Einsicht, daß sich infolge der gefallenen Menschennatur Recht nicht von selbst durchsetzt, sondern erst mit Hilfe von Macht («praemia et poena») erzwungen werden muß (ebd.).

diums dar, welches infolge von Widersprüchen zwischen seinen fachlichen Erfordernissen und den soziomentalitären Merkmalen seiner Adressaten nicht voll entwickelt werden konnte, aber für die Erarbeitung und Vertiefung von Herrschaftswissen und fürstenstaatlicher politischer Kultur beim Adel und damit für die Etablierung und Verfestigung fürstlich-aristokratischer Herrschaft im Reich als höchst bedeutsam angesehen werden muß.

1.3. Die Erziehung zur Politik als Fachausbildung: Das Qualifikations- und Lektüreprogramm des Politicus In welchem Zusammenhang und wann der Begriff des Politicus geprägt wurde, ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. 87 Fest steht jedoch, daß der Terminus seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zum Leitbegriff eines Teils derjenigen politisch-propädeutischen Literatur wurde, die hier untersucht werden soll. Dieser Teil ist in der zeitgenössischen Diskussion zwar nicht als eigene Untergattung ausgewiesen; was dazu gehört, wird vielmehr im Gesamtrahmen der politischen Propädeutik zur Kenntnis genommen. In der Rückschau lassen sich aber dennoch keimhaft neuartige Ansätze erkennen, die eine separate Behandlung aus analytischen Gründen rechtfertigen. 88 Der früheste einschlägige Beitrag, Johann von Koetteritz' De homine politico, ac rebus eundem constituentibus (1597), eine Oratio der Straßburger Hochschule, scheint verschollen zu sein. 89 Unserer Betrachtung liegen daher die folgenden vier zentralen Texte zugrunde: - Die Vir politicus betitelte, über 150 Seiten starke Disputation des Soester Patriziersohnes und späteren orthodox-lutherischen Rostocker Theologen Johannes von Affelen (1588-1624) aus dem Jahre 1599 (!); 90 - die 1621 erstmals erschienene Dissertatio de Politico des Regensburger Syndicus Georg Gumpelzhaimer (1596- vor 1650), die ebenfalls aus Straßburg

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Vgl. z . B . d i e zusammenfassende Diskussion der bisherigen Literatur bei Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat S. 47ff. Vgl. die Zuordnung besonders des ersten hier zu behandelnden Titels von J. Affelen bei Jochius, Prodromus S . 3 2 und die unten in 1.4.2. vorgestellte Gliederung bei Struve, Bibliotheca philosophica. Vgl. oben 1.1. Anm. 2. Zum Verfasser, der bei dem Straßburger Juristen Paul Graseck studierte, s. die spärlichen Bemerkungen bei Schindling, Protestantische Hochschule S. 313 sowie noch Jöcher II, Sp. 2142. W. Kühlmann: J.v. Α . , in: H . - G . R o l o f f (Hg.): Die Deutsche Literatur, R . I I (1987) S. 3 4 0 - 3 4 2 ; A D B 1, S. 134f. und Zedier 1, Sp. 718f. Affeln promovierte erst zehn Jahre später (1609), vermutlich um seine ins gleiche Jahr fallende Bestellung ins Ordinariat zu ermöglichen. Seine Disputation wurde bereits ein Jahr nach ihrem ersten Erscheinen in Magdeburg und in Helmstedt neu aufgelegt, gefolgt von zwei weiteren Ausgaben 1608 und 1610, vgl. Erman-Horn Nr. 9 6 3 7 - 4 0 und Kühlmann ebd. D a s Werk ist den lutherischen Bischöfen in Halberstadt, Verden und Osnabrück gewidmet.

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stammt und dem schwedischen Residenten in Oberdeutschland Georg Snolisky gewidmet ist; 91 - die 1672 vorgelegten Aphorismi de Politico pragmatico des aus der Schule Hermann Conrings hervorgegangenen Halberstädter Theologen Heinrich Walm (1657-1681), die Mitgliedern des Halberstädter Domkapitels gewidmet sind, 92 sowie - die Dissertatio de Scientia perfecti Politici des Nürnberger Schulmannes und Verfasssers christlich-erbaulicher Schriften Simon Bornmeister (1632-1688) aus dem Jahre 1657.93 In unselbständiger Form finden sich freilich weitere bedeutsame Beiträge zur Politicus-Diskussion sowohl in den theoretisch-methodischen Begleitschriften der Politica als auch manchen Kompendien dieser Disziplin. 94 Der entscheidende Argumentationszusammenhang, um den es der PoliticusDebatte geht und durch welchen sich diese Debatte je länger desto mehr von der Diskussion um das Studium politicum nobilium abhebt, wird bereits in Johann von Affelens Disputation deutlich. Die Erörterung geht von einer Bestandsaufnahme der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse der Zeit aus, also der konfessionspolitisch verschärften Vorbereitungsphase zum 30jährigen Krieg. Die Zahl der Homines improbi, die sich um das Wohl der Respublica im allgemeinen und des deutschen Vaterlands (patria Germania) im besonderen in keiner Weise scherten, sondern im Gegenteil sich tatkräftig an dessen Schädigung beteiligten, sei im Steigen. Ungerechtigkeit, Gottlosigkeit, Sittenlosigkeit, Drohung mit Gewalt und Gewaltanwendung griffen um sich. Diese Lage mache die Aufgaben derjenigen, denen die Respublica anvertraut sei, immer schwieriger. Um die Regentes dennoch in die Lage zu versetzen, den Herausforderungen begegnen zu können, sei eine Intensivierung des politischen Studiums vonnöten. Bislang

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Gumpelzhaimer entstammte der Schule um Matthias Bernegger, vgl. die biographischen Angaben bei Schreibmüller: G. Gumpelzhaimers Gymnasma (1908), S. 7ff., ferner Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat S. 346ff. u . ö . Eine zweite, vermehrte (und hier benutzte) Auflage der Gymnasma und der Dissertatio veranstaltete 1652 Gumpelzhaimers Freund Johann Michael Moscherosch. Dieser Ausgabe sind zwei zusätzliche Discursus politici angehängt: I: D e illustrium gravitate externa; II: D e eorum oeconomia, seu aulae constitutione. Die Dissertatio umfaßt 130 Seiten.

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Zur Person des Autors vgl. knapp Zedier 52, Sp. 1723 und Jocher IV Sp. 1791. Im Conring-Sammelband von M. Stolleis ist Walm nicht erwähnt. D e r große Helmstedter Denker ist aber in den Aphorismi ausführlich zitiert und mehrfach als Lehrer, Mentor und Patron genannt, vgl. S . 9 , 10, 15, 24 u.v. ö. D i e Argumentation geht von Conrings D e civili prudentia (s. u.) aus; weitere wesentliche Ideengeber Walms sind neben Aristoteles, was sich von selbst versteht, Lipsius (vgl. S . 2 0 , 36 u . ö . ) , Bodin (S. 58f., 63 u . ö . ) sowie, für das lus publicum, Erich Mauritius und Samuel Rachel, siehe S. 48f. u. ö. Eine zweite Auflage erschien 1678 ebenfalls in Nürnberg, vgl. Erman-Horn Nr. 9669. Die hier zugrundegelegte Ausgabe ist knapp 250 S. (!) stark, reichlich mit Fußnoten bestückt und mit einem Index versehen. Eine monographische Untersuchung wäre dringlich. Zur Biographie des Verfassers vgl. A D B 3, S. 176 und 628. Vgl. am vorliegenden Text weiter unten Abschnitt 1.4.

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seien derartige Bemühungen jedoch viel stärker denjenigen zugute gekommen, die als «Archinauta(e) seu Principe(s) in nave . . . politica ag(unt), quam nautis & administris». 95 Das Politicus-Konzept zielt demnach in erster Linie auf die wachsende Schicht der vornehmlich bürgerlichen Räte und Beamten, deren Bedeutung, notwendige Qualifikation und angemessene Behandlung durch die Fürsten untersucht und unterstrichen werden soll. Es stellt einen aus dem Kontext der adeligen Politik fortstrebenden Denk- und Argumentationszusammenhang dar, in welchem der Akzent auf der Politik als gelehrter Profession liegt, wiewohl es gleichzeitig Spurenelemente der Idee einer allgemeinen politischstaatsbürgerlichen) Bildung enthält. Schon die Reklamierung der politischen Wissenschaft auch für das Personal der mittleren und unteren Ebenen des herrschaftlichen Gefüges stellt eine Form der Popularisierung dieser Wissenschaft dar. Nicht zufällig enthalten die lateinischen Texte deutsche Einsprengsel. Die Methode, durch Vermittlung normativen und empirischen politischen Wissens, gepaart mit starken patriotischen Tendenzen, konstruktives öffentliches Verhalten zu erzeugen, taugt im Prinzip für die gesamte bildungsfähige Bevölkerung. Dabei dürfte eine nicht unwesentliche Rolle spielen, daß das Politicus-Konzept vor allem im reichsstädtischen Milieu entwickelt wurde. 96 Affelen fragt nach einem «Homo politicus, (qui est) peritus . . . scientiae civilis, ita ut magno in Imperii vel Regni (de eo enim genere imperandi ac parendi nostra loquitur oratio potissimum) administratione, domi forisque usui & emolumento esse possit». 97 Seine Nachfolger fassen den Begriff teils enger, teils weiter. Walm handelt vom «Politicus» als einem «expertus», «quid Germanice potest reddi: Ein Regiments-Sachverständiger, ein Policey-Gelehrter». Schon vor ihm vertritt Gumpelzhaimer diese Auffassung: «Politici sind Regimentsverständige, Staatserfahrne, Policey gelehrte, weltweise Leut». 98 Der Titel des Politicus ist freilich zeitgenössisch vielbegehrt: «Jetztunder (will) fast jeder F a n t a s t . . . ein

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Vir politicus S. 3 - 1 0 u.ö., Zitat S. 6, vgl. zu den konfessionellen Auseinandersetzungen auch S. 86ff. Zum direkten Rekurs auf die schwierigen Zeitumstände vgl. auch die Praefatio ad lectorem bei Gumpelzhaimer, Dissertatio (o. S.), wo es u. a. heißt: «De Politico scribere, hoc seculo, his locis, hic quidem modo, spinosa admodum res est.» Vgl. Affelen, Vir politicus (man beachte diese Formulierung, die im Text als «homo politicus» (z. B. S. 6) wiederholt wird), S. 5f., 7ff., 47, 49ff. u. v. ö., ferner Bornmeister, Dissertatio, Prafaetio ad lectorem (o. S.) u. ö. Die patriotischen Tendenzen sind sowohl anhand lutherischer Texte als auch von Texten aus der Feder von Autoren des republikanischen Rom abgestützt. Zu den (sozial-)historischen Zusammenhängen - Aufstieg der bürgerlichen Juristen, wiewohl der Vorrang des Adels erhalten bleibt, die homines novi bekommen eigentlich nur die zusätzlich geschaffenen Positionen - vgl. die einschlägigen Beiträge bei R. Schnur (Hg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates (1986) und W. Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität in der frühen Neuzeit (1988). Vir politicus S. 10. Walm, Aphorismi S. 9. In diesem Werk ist die Definition des Politicus (nicht mehr: homo politicus) anhand von 33 einschlägigen Aphorismen systematisch dargelegt; Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 116.

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Politicus seyn und dafür gehalten werden». 99 Offenkundig verleiht die Nähe zur Herrschaft durch einschlägige Gelehrsamkeit nicht nur begehrtes Prestige, sondern in der Figur des Politicus bündeln sich auch verbreitete Erwartungen zur Überwindung der gesellschaftlich-politischen Krise. Gerade deshalb erscheint es den Autoren aber notwendig, den Politicus systematisch vom Juristen, dem Theologen und Kirchenmann (Ecclesiasticus), dem Ethicus oder Philosophen, dem Höfling, dem raffinierten Anpasser und Egoisten, Atheisten, Sophisten oder Rhetoriker und dem bloßen politischen Empiriker abzugrenzen. Der Jurist hat es prinzipiell nicht nur mit dem politiknahen Jus publicum, sondern auch mit dem Jus privatum zu tun. Seine beruflichen Bemühungen konzentrieren sich auf die Unterscheidung verschiedener Rechtssphären und Rechtsformen, die Ableitung von Rechtsnormen aus Rechtsprämissen und die Anwendung bestehenden Rechts bzw. gegebener Gesetze. Sein Ziel ist die Gerechtigkeit. Der Politicus hingegen befaßt sich ausschließlich mit öffentlichen Angelegenheiten. Er ist für die Rechtssetzung zuständig, wobei er nicht nur die Normen, sondern auch die historischen Umstände und Tendenzen seiner Respublica zu berücksichtigen hat. Sein Ziel ist die praktische Verwirklichung des Gemeinwohls, das sich als eine Mischung aus Honestas, Justifia und Utilitas darstellt. Sowohl nach Hermann Kirchner, Hermann Conring und anderen Aristotelikern als auch nach den Vertretern des Neustoizismus ist der Politicus deshalb «maioris scientiae», von größerer Wissenschaft, «quam Iurisperitus». 100 Der Ecclesiasticus ist für geistliche und kirchliche Angelegenheiten zuständig, der Politicus für weltliche Belange. Der Philosoph als Ethicus strebt im Gegensatz zum Politicus «ad virtutem simpliciter», d . h . die Virtus privata, oder bleibt reiner Theoretiker. Von den Höfligen, Anpassern, Egoisten und Atheisten unterscheidet sich der Politicus hauptsächlich dadurch, daß er nicht sein eigenes Interesse, sondern das Gemeinwohl vor Augen hat und dieses Gemeinwohl konsequent durch Mittel zu erreichen sucht, die christlich- moralisch verantwortbar sind. Der Sophist oder Rhetoriker verfügt lediglich über rednerische Begabung, die er zu beliebigen .zumeist eigensüchtigen Zwecken skrupellos einsetzt. Der bloße politische Empiriker ist ein «expertus» im negativen Sinn. Ihm fehlt sowohl die unerläßliche feste normative Basis für sein Handeln als auch die vertiefte Kenntnis der logischen und historischen Zusammenhänge, auf welchen erfolgreiche Politik langfristig aufbauen muß. Zudem bezieht sich seine Erfahrung ausschließlich auf eine einzige Respublica, während der ideale Politicus zumindest im Horizont des Politischen Aristotelismus ein universaler, in allen

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Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 6. Vgl. vor allem Walm, Aphorismi S. 2 2 - 2 4 , mit dem zusätzlichen Argument, daß die Juristen sich zu sehr mit dem überholten Römischen Recht beschäftigen, und Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 2-10,26f. u. ö. (Zitat aus dem unpaginierten Praeloquium), sowie Bornmeister, Dissertatio S. 43ff. Moderne Darstellungen des Politicus liegen noch nicht vor, sieht man von den kenntnisreichen Bemerkungen bei Dreitzel (zuletzt in: Aristotelismus (1988) S. 171f.) ab.

Gemeinwesen einsatzfähiger Fachmann ist.101 Die Konzeption eines neuen politischen Fachmanns dieses Typs in Abgrenzung von konkurrierenden professionellen Experten und Trägern spezifischer sozialer Rollen gehört zu den in der Forschung bis heute kaum zur Kenntnis genommenen Leistungen des deutschen Politikdenkens im 17. Jahrhundert. Deshalb ist es gerechtfertigt, hier kurz weitere einschlägige Definitionen vorzustellen. Der von Zeitgenossen vielbeachtete, aber erst durch Michael Stolleis dem Vergessen entrissene Discursus politicus (1602) des Torgauer Juristen und Verwaltungsfachmanns Jakob Bornitz (gestorben 1625) markiert einen frühen Höhepunkt der Po/ííí'cwj-Diskussion im wissenschaftstheoretischen Kontext der Politica.102 Bornitz' Interesse besteht darin, der politischen Praxis, in der er selbst steht, durch Hinweise auf entsprechende Lektüre Sinn, Zusammenhang und bessere Effizienz zu verschaffen. Deshalb gipfelt sein Diskurs in einer umfassenden Beschreibung des wahren, freilich höchst selten zu findenden (rara avis) Politicus. Politicus ist für ihn «non qui Piatonis aut Aristotelis dogmata tantum teneat; non qui juris civilis privati tantum particulam delibavit; non . . . qui aliquali rerum experientia valaet, non qui, ut vulgus opinatur, astute simulare & dissimulare sciat, . . . non qui in conversatione hominum, praesertim in aulis moribus decoris, in sermone & gestu utatur; . . . non qui obiter tantum historiam hanc vel illam percurrerit, non . . . qui externas nationes transeunter viderit, & linguas exóticas calleat: Veru[s] illu[s], qui sit vir bonus, & prudentiam civilem theoria & praxi obfirmatam sibi comparaverit, eandemque dextre ad fundationem & conservationem Reipubl. accomodare sciat, seu ut explicatius dicam, qui vera arte politica imbutus, historiis, peregrinatione Rerumpublicarum, atque tandem praxi Imperii, Judicii, Consilii, tegationisexercitatus sit, ex quibus solidam prudentiam imbiberit, eamq. congruenter ad usum transferre possit.» 103

Zu vermerken ist hierbei die eingeschränkte Abgrenzung des Politicus vom Juristen. Über die Potóicuí-Konzeption des Hauptes der Helmstedter aristotelischpolitischen Schule Hermann Conring unterrichtet unter anderem die Disputatio de natura ac optimis auctoribus civilis prudentiae, die 1639 vorgelegt wurde. 104 Diese Abhandlung setzt bei der (s. o.) angeblich allenthalben zu beobachtenden 101

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Gumpelzhaimer, Dissertatio S.66 (erstes Zitat), 5ff., 22ff. u . ö . ; Walm, Aphorismi, S. 21 (zweites Zitat) und passim, vgl. aber die Schlußabschnitte dieser Ausführungen. Vgl. die zeitgenössischen Anmerkungen bei Jochius, Prodromus S. 43 sowie M. Stolleis: Pecunia nervus rerum (1983) S. 129-154 und ders., Geschichte des Öffentlichen Rechts S. 116-118. Der Discursus ist, obwohl über 120 Seiten stark, unpaginiert. Ich folge meiner eigenen, in rechteckige Klammern gesetzten Zählung. S. [122], Zur Bedeutung des Discursus als erster in Deutschland erschienener Schrift, in welcher eine fortgeschrittene theoretische Auseinandersetzung mit der Staatsräsonlehre geführt wird, vgl. P.-L. Weihnacht: Fünf Thesen zum Begriff der Staatsräson, in: R. Schnur (Hg.), Staatsräson (1973), S. 65-71. Benutzte Ausgabe: H. Conring, Opera III, S. 1-16. Respondent Conrings ist bei dieser Disputatio ein gewisser Friedrich Strube. Das Werk ist als Vorarbeit zu Conrings systematischem Entwurf De civili prudentia (1663) zu werten. Die derzeit beste Darstel-

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Verwirrung darüber an, was unter einem Politicus und damit der Prudentia politica bzw. Politica zu verstehen sei. Nicht nur die Kenntnis eines einzelnen Staates (cognitio hujus aut alterius Reipublicae) werde als Prudentia politica ausgegeben, sondern auch die bloße Kenntnis des Rechts. Andere unterschieden nicht zwischen der Prudentia civilis und anderen Spielarten wie der Prudentia militaris. Mithin sei eine neue, exaktere Bestimmung der Politica vonnöten. Erst von ihr her könne dann die entsprechende Literatur - dem Hauptziel der Disputation entsprechend - identifiziert und beurteilt werden. Die Prudentia civilis oder Politica sei identisch mit des Aristoteles Politica. Prudentia sei «habitus ille mentis, qui occupatur circa id, quod homini bonum & malum est: Prudentia vero civilis, quae id tradit, quod ex re est, aut abs re est civili hominum socie tati». Die Politik beziehe sich also auf die Kenntnis davon, «quod omnibus (Rebusp.) prosit, aut obsit», ungeachtet ihrer jeweiligen konkreten Ausprägung. Sie sei eine architektonische Wissenschaft, deren unvergleichliche Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen sie zu einer (nach Cicero) «ars regia» mache. 105 Weil es aber nicht allein um Kenntnis geht, sondern um die Umsetzung von Kenntnis in entsprechendes Handeln, wie bereits die Qualifizierung der Politica als Ars signalisiert, ergibt sich die folgende Definition des Politicus: «Eum . . . demum esse exacte politicum, qui architecti in morem, omnium civitatum bona malaque novit gubernare». Daß zu den Kenntnissen selbstverständlich auch solche von den spezifischen Verhältnissen des betreffenden Staates einschließlich der Rechtsverhältnisse kommen müssen, versteht sich. Doch Conring verdeutlicht nochmals nachdrücklich: dies allein reicht noch nicht aus. Die Politica ist sowohl dem Ausmaß ihres Wissensbereichs nach als auch im Hinblick auf den Verwertungs- und Anwendungszusammenhang ihres Wissens grundsätzlich von der Jurisprudenz, der Politicus als «gubernator Reipublicae» grundsätzlich vom Jurisconsultus oder dem Öffentlichrechtler geschieden, denn die Politik geht dem Recht voraus. 106 Die demnach bei Conring besonders im Vordergrund stehende Abgrenzung des Politicus vom Juristen wird erst in späteren Werken durch Distanzierung von anderen Rollenträgern ergänzt. 107 Das unterstreicht erneut die Spannung zwischen der adeligen Politik und dem bürgerlichen Recht, die das Politicus-Konzept bestimmt, und die im Fortgang der Entwicklung zu bestimmten Akzentverlagerungen führt. Weil eine zu schroffe Distanzierung des Politicus vom Juristen den bürgerlichen Zugang zur Politik in Frage stellt, wird wie bereits in der adeligen Politikpropädeutik versucht, die Prinzipien der Ethik und die höchsten Prämissen der

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lung der Gesamtkonzeption Conrings ist Dreitzel, Conring und die politische Wissenschaft (1983). D e natura S. 2ff. Ebd.l S. 3 (Zitate). Klargestellt wird gleich, daß mit Respublica nicht der Stadtstaat, sondern der übergreifende, in der Regel monarchische Territorialstaat gemeint ist. Vgl. H. Conring, Justus Gerhard Rinck: Dissertatio de civili Philosophia eiusque optimis ac praecipuis scriptoribus (1673), in: Opera III, S. 3 3 - 4 6 , hier S. 33 (Abgrenzung gegenüber dem politischen Empiriker und dem listig-gewandten «Welt-Kind»).

Politik als göttliches oder Naturrecht und die politischen Grundnormen eines Staates als öffentliches Recht auszuweisen. Gumpelzhaimer vertritt dabei einen historischen Ansatz. In der griechischen Antike sei die Politik stärker an die Moralphilosophie gekoppelt gewesen. Schon zur Zeit des Tacitus hingegen habe das Jus publicum «nihil aliud» dargestellt, «quam quod ad statum Romanae tuendum spectat», und sei damit mit der Politik verschmolzen. Es ist die «ars legitima iustitiae in statu civium publico, id est, Republ. conservanda & recuperanda, ad utilitatem & dignitatem eiusdem». 108 Ein «Politicus p e r f e c t u s » ist für den Regensburger Syndicus nicht einmal «absque juris privati cognitione» denkbar; die zerrüttete Gegenwartslage ist nicht zuletzt auf die Vernachlässigung des Studiums «Juris publici (in) superiore Seculo» zurückzuführen. 1 0 9 Die zweite Methode, Recht und Politik wieder zusammenzuführen, besteht also in der Unterscheidung verschiedener, mit dem Grade der rechtswissenschaftlichen Qualifikation verknüpfter Reifegrade des Politicus. Diese Methode wendet auch Bornmeister an, allerdings in veränderter Weise, was uns zur Frage der konkreten Ausbildung und konkreten Aufgabe des Politicus zurückbringt. «Officium (Politici) consistit in Rep. recte fundanda s. constituenda, administranda, conservanda & corrigenda», und zwar vor allem als «consiliarius, legatus, orator, negotiator, agens, residens, deputatus, minister, nuntius et al.». 110 Die Arbeit des Politicus läßt sich abstrakt als «adplicatio universalium ad singularia» beschreiben, wobei es auf die Beachtung der jeweiligen Umstände (condìtiones), das Erfassen günstiger Gelegenheiten, die Wahl angemessener Handlungsweisen und die Erwägung der Folgen dieses Handelns ankommt. 1 1 1 Wichtigstes Hilfsmittel ist jedenfalls bei Simon Bornmeister die «recta ratio», die dort unter Bezug auf Hobbes definiert wird. Sie ist «nihil aliud, quam ratiocinatio cuiusque propria, & vera, circa actiones suas, quae in utilitatem, vel damnum coeterorum hominum redundare possunt». 112 Im Hinblick auf die Ausbildung des Politicus ist dementsprechend ein «organon ad vitam practicam» gefragt, das formal dem Ausbildungsprogramm des gelehrten Medicus ähnelt. 113 Das bedeutet, daß zum Studium der Politik und im optimalen Fall des gesamten Rechts nicht nur wie üblich akademische Bildungsreisen zu treten haben, sondern auch praktische Erfahrungen auf allen Ebenen und in allen entsprechenden Institutionen und Aufgabenbereichen der Gubernatio Reipublicae.

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Gumpelzhaimer, Dissertano S. 6 7 - 7 9 , Zitate S. 72 und 76f. S. 67f. und 73ff. D e m (alleinigen) «Jurisconsulto privato» geht der Politicus (praestat) voraus, der Abstand zum «Jurisconsulto publico» ist dagegen sehr viel geringer (S. 90). Walm, Aphorismi S. 51 (erstes Zitat); Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 85 (zweites Zitat). Bornmeister, Dissertatio S. 32ff. Bornmeister S. 36ff. D a s herangezogene Werk Hobbes' ist dessen D e Ci ve, Kapitel 2. Bornmeister begreift die recta ratio des Politicus aber keineswegs achristlich, vgl. S. 47ff. Affelen, Vir politicus S. 19 (Zitat) und z. B. S. 78 (Vergleich mit dem Arzt), vgl. auch Walm S. 27f. u . ö .

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Das geforderte Studium und die akademische Peregrinatio sind notwendigerweise mit dem entsprechenden adeligen Modell identisch, wiewohl sich im Lektüreprogramm schließlich Verschiebungen ergeben. Obwohl eigentlich für die «Archinautae et Principes», die höchsten politischen Entscheidungsträger, geschrieben, sind die Werke des Justus Lipsius, Jean Bodins, Pierre Gregoires usw., also die Opera systematica & compendiosa der Politik, auch für den Politicus Pflichtlektüre. 114 Während jedoch der «Seneca Belgicus», dessen Vorbild Tacitus und die von Lipsius geprägte Richtung zumal bei Gumpelzhaimer entschiedene Hervorhebung erfahren, trifft die übrigen Autoren wegen ihrer relativen Praxisferne verstärkte Kritik. Die Opera compendiosa & systematica vermitteln gewiß die notwendige «notitia universalis» bzw. «cognitio rei» demjenigen, «qui accurationi Rerumpubl. notitia instructus, quid ad finem illarum legitime consequendum, necessarium, & utile, in rem conferre valet». Der größte Nachteil der meisten Kompendien besteht aber darin, daß sie «non tradunt rationem Remp. gubernandi», d . h . ihr Sachwissen nicht konsequent genug für die Herrschaftspraxis organisieren. 115 So ist es unvermeidlich, daß auch die übrige historische, pathetische und rhetorische Lektüre des adeligen Politikstudenten hier ebenfalls verpflichtend wird. Die Logik ihres Ansatzes führt die Autoren des Politicus aber dennoch dazu, spezifischere professionelle Literatur in den Vordergrund zu rücken. Am konsequentesten verfährt dabei Gumpelzhaimer. Er empfiehlt an zentraler Stelle elf Autoren oder Schriften, von denen über die Hälfte nicht zufällig aus Frankreich stammen: Wer als Politicus in Gegenwart und Zukunft Erfolg haben will, muß sich an den Ideen und Verhaltensweisen derjenigen orientieren, die in diesem Zusammenhang nachweislich bereits Erfolg hatten. Grundlagenliteratur des Politicus sind daher die aus der Praxis erwachsenen Memoiren, Ratgeber, Gutachten und Darstellungen des Jean de Silhon (Le Ministre d'Etat, 1631), Richelieus (Testament politique, 1642), Pierre Matthieus (Les Remarques d'Etat,

114

Affelen S.5ff. ; Gumpelzhaimer, besonders Praefatio; für Walm, Aphorismi, s. die erste A n m . zu diesem Autor im vorliegenden Abschnitt oben; Bornmeister, Dissertatio, vor allem S. 2 0 - 3 1 , vgl. hier die eindeutige Feststellung: «Qui vero optimae monetae scriptores Politici sint, reperies in Diss. Summi Conringi, & Becman & Scioppius, Naudaeus, . . . Chr. Coler», den Verweis auf die Literaturangaben bei Gebhard Theodor Meiers Analysis Politicorum Aristotelis (1668) und die Empfehlung von J. A . Böses Diatribae isagogiae bzw. des Werkes des Altdorfer Politiktheoretikers Johann Paul Felwinger.

115

Bornmeister, Dissertatio S. 4, 27f. und 13, vgl. zur Hervorhebung des Tacitus («Taciturn enim ipsum Civilis Prudentiae doctorem tarn Politico Viro necessarium puto, ut eum & temporis jure & praeceptorum pondere nemo non commendatissimum habere possit») auch S. 118. Affelen, Vir politicus S. 5f., wiederholt die Kritik an Gregoire, daß dieser unübersichtlich und daher nahezu unlesbar sei, und spitzt die auch anderorts erhobenen Vorwürfe an die Adresse Bodins, zu sehr französisch zu denken und gegenüber den Deutschen Vorurteile zu haben, zu einem in seiner Tragweite von ihm noch nicht erkannten Urteil zu: Seine Ausführungen seien für die Praxis außerhalb Frankreichs nahezu untauglich.

38

1648) und anderer zu Frankreich 116 sowie Boeclers Geschichte Könige,

der

schwedischen

ferner die Essays Montaignes als Informationsquelle zur praktischen

Psychologie und Boeclers Dissertatio

de Eloquentia

Politici für die rhetorisch-

oratorische Ausbildung. Für den Politicus als D i p l o m a t e n , offenkundig eine seiner wichtigsten A u f g a b e n , sind die bekannten Anweisungsschriften des Carolus Paschalius ( s . o . ) , Friedrich de Marselaer ( D e Legato,

1624) u . a . einschlägig. 1 1 7

Dieser Übergang vom Politicus als einem «Architectus sive Architectonus . . . circa totam Reip. summam . . . occupatus» zum Inhaber eines spezifischen A m tes in e i n e m Staat vollzieht sich freilich nicht bruchlos. Er produziert vielmehr Widersprüche, die das Politicus-Konzept

weiteren Belastungen aussetzen. Be-

reits H. Walm unterscheidet, wiewohl als Conring-Schüler d e m integrierten Po/i'ricMs-Ideal besonders verpflichtet, zwischen drei Typen. D i e Gruppe der

Archi-

tecti Politici zerfällt in die Untertypen der «Philosophi» und «Pragmatici». D i e Philosophi

sind diejenigen, die «regulas & praecepta gubernandi praescribunt;

& quamvis hi artem illam optime calleant, o b causas tarnen graves nolunt negotiis civilibus admoveri, sed potius delectan tur suis studiis & Vitae tranquillitate». D i e Pragmatici

hingegen «sunt qui remp. gubernant, qui urbes aut novas consti-

tuunt, aut constitutas tuentur, qui salutem libertatemque civium vel Bonis Legibus, vel salubribus consiliis, vel judiciis gravibus conservant, & Philosophiae civilis Doctoribus contra distinguuntur ac praeferuntur». Ein dritter Typ ist der «Exekutor», der freilich nicht beispielsweise mit einem Knecht verwechselt werden darf, weil er durchaus über vertiefte Kenntnisse von N o r m e n und Mechanismen der Politik verfügen muß. 1 1 8 D i e s e Differenzierung sprengt das integrierte

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Vgl. zu ihnen G. Barudio: Zwischen Depotismus und Despotismus (1985) S. 208ff., 212-214, 215ff. u.ö. Gumpelzhaimer, Dissertatio, S. 116-120, unter Einschluß des Tacitus-Kommentators Forstner als in gleicher Weise bedeutsamer Fachautor (!); selbstverständlich ist die Erwähnung Schwedens auch in Hinblick auf den Widmungsadressaten des Beitrages zu sehen. Bei Affelen zu vermerken ist im übrigen die Betonung der Funktion der Geschichtsschreibung, sowohl über die Mutationes und Conversiones der Imperien als auch des menschlichen Lebens zu informieren (Vir politicus S.41f. u.ö.), ferner der Hinweis auf Francois de la Noues Discours politiques et militaires (1587, deutsch 1592) im Zusammenhang mit den Bildungsreisen und dem Erwerb militärischer Kenntnisse (S. 47,110 u.ö.) sowie die Unterstreichung der Notwendigkeit, über die Methoden der Kriegsvermeidung, Gewinnung und Erhaltung von Verbündeten, Kriegsvorbereitung, Kriegsführung und möglichst baldigen, allseits befriedigenden Kriegsbeendigung durch richtigen Friedensschluß Bescheid zu wissen (S.70ff u.ö.). Zur Distanzierung von Aristoteles als einem «praestantissimus autor», der aber für die Epochen «post sua temporis» zu wenig bringe, vgl. auch Bornmeister, Dissertatio S. 14f. und 20: Die moderne Aristoteleskommentarliteratur ist deshalb wichtiger und auch Machiavelli ist höchst nützlich. Bornmeisters o.a. Hinweis auf das Werk J.P. Felwingers ist als Hinweis auf die professionelle Literatur des Consiliarius, Legatus usw. zu verstehen, womit sich der Altdorfer Tacitist am ausführlichsten beschäftigte, vgl. Felwingers Tractatus tres (1665). Aphorismi S. 27f. (Zitate). Die Pragmatici zerfallen in die Politici «cum imperio» (Fürsten, Vertreter der Fürsten, Magistrate) und «sine imperio», d.s. erstens «ordinarli 39

Lektüreprogramm für den Politicus ebenso wie das diesem zugrundeliegende Gleichgewicht von politischer Theorie und politischer Praxis. Die Theoretiker des Politicus integrieren ihre eigene Zunft in das Modell des Politicus um den Preis, daß der Praktiker tendenziell aus dem Studienzusammenhang entlassen wird. Die ursprünglich zur Ergänzung des Studiums gedachten Praktika an den Höfen und in den Positionen des Herrschaftsapparates werden sich im 18. Jahrhundert verselbständigen. 119 Es versteht sich, daß diese Rollendifferenzierung nicht ohne Auswirkungen auf die Beschreibung der notwendigen «virtutes» des Politicus bleiben konnte. 120 Diese Virtutes waren im Hinblick auf den bürgerlichen Politicus ohnehin genauer durchzudenken, weil sie diesem, im Gegensatz zum Adel, nicht regelmäßig als angeboren zugeschrieben werden konnten. Der Politicus muß ein «vir bonus» sein, weil «vera honestas» und «vera utilitas» nicht trennbar, sondern aufeinander bezogen sind, nur ein gutes Gewissen (salva conscientia) die notwendige Sicherheit, Ausdauer und Konsequenz im politischen Handeln garantiert und auf Dauer nur dem moralischen Politiker Glück beschieden sein wird. Ein guter Mensch zu sein, widerspricht keineswegs den Erfordernissen der Politik. Denn auch die Verstellung («simulatio & dissimulatio»), das von Machiavelli erstmals konsequent geforderte moderne politische Prinzip, widerspricht nicht per se dem Wahrhaftigkeitsgebot. Nur wo sie zu sehr (nimia) oder nicht «pro salute Reipublicae» geübt wird, ist sie moralisch zu verurteilen. Und die konkrete Definition des Bonum ist stets auch im Hinblick auf die wahre Utilitas zu treffen. 1 2 1 Zur Eignung (aptitude) des Politicus gehören ferner bestimmte körperliche und charakterliche Merkmale. Die Statur soll kräftig, von mittlerer Größe und wohlgefällig sein, wichtiger sind jedoch Sport und Abhärtung. Von Natur träge, stumpfe, dumme, unbeherrschte, zornige, geizige und raffgierige Menschen sind «minus apti». Das beste Temperament ist das sanguinische. Auf das Alter kommt es nur insofern an, als junge Politici zu spontan sind und alte oft gleichgültig, nicht mehr auffassungsfähig oder den physischen Belastungen ihres Geschäfts nicht mehr gewachsen. 122 Im ganzen ist der Homo temperaos stoisch-

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curatores» («judices, officiales, consiliarii, syndici etc.») und zweitens «extraordinarii curatores», d . h . «legati». Vgl. hierzu die Bemerkungen bei N. Hammerstein: Universitäten - Territorialstaaten - Gelehrte Räte (1986). Vgl. besonders Walm, Aphorismi S. 31ff. Mit «Virtutes» sind freilich konkrete, aufgabenbezogene Qualifikationen gemeint. Walm, Aphorismi S. 3 1 - 3 4 (Zitat 1 - 3 ) ; Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 2 2 - 4 4 (restliche Zitate S. 22f. und 26, vgl. auch Affelen, Vir politicus S. 89ff. Religion bzw. christliche Überzeugung zu heucheln wird dauerhaft erfolgreich nie möglich sein. Wer als Fürst nur seinen eigenen Vorteil verfolgt, verleitet seine Untertanen dazu, das Gleiche zu tun. Dadurch verliert er alle Freunde, ohne die Herrschaft auszuüben unmöglich ist. Zusammenfassend Gumpelzhaimer, Dissertatio S. 4 6 - 6 6 ; die notwendige körperliche Ertüchtigung soll natürlich anhand der Gymnasma desselben Verfassers erfolgen.

heroischer Gesinnung gefragt, den bei Walm allerdings nicht mehr nur eine allgemeine Bereitschaft zum Einsatz für die Respublica, sondern ein ausgesprochener Wille dazu auszeichnet. Wahrer Politicus ist nur derjenige, welcher «universam & quacumque remp. . . . dirigere non tantum novit, sed etiam velit». 123 Er möchte diesen Einsatz realistischerweise auch «ad utriusque partis tarn regentium quam subditorum salute» orientiert sehen, weil nur diese beiden Interessen das wahre Gemeinwohl ausmachten. 124 Die Geschlossenheit dieses Anforderungsprofils, das auf die Aufzählung von Tugenden wie Fortitudo, Magnanima, Pietas usw. im Stil der Fürstenspiegel weitgehend verzichtet, wird schließlich durch Bornmeister wieder aufgebrochen. Erstens rundet dieser Autor nämlich sein Konzept des Politicus verus dadurch ab, daß er von diesem auch «externa ornamenta, elegantia civilis, nempe, in verbis & actionibus sese exercens» verlangt. Dadurch eröffnet er dem Adel neue Zugangschancen. 125 Zweitens zieht er weitgehende Folgerungen aus der Forderung an den Politicus, Herrschaft durch Anpassung an die jeweils gegebenen Umstände auszuüben. Die Erkenntnis, daß die Diversitas und Varietas der Republiken zu groß ist, um auch nur annähernd bekannt zu sein, relativiert das Idealbild des universalen Politicus perfectus et verus in grundsätzlicher Weise. Niemand vermag mit allen Formae Rerumpublicarum so vertraut zu werden, daß er alle diese Staaten «secundum suos conceptus» regieren kann. 126 Die Argumentation, die zu diesem historisch bedeutsamen Schluß führt, bedarf der näheren Beleuchtung. Fast noch wichtiger als die offenkundige Beschaffenheit eines Staates sind die verborgenen «genia hominorum, . . . momenta temporum» usw.127 Den «genius parentium, loci et temporis» einer Respublica kann aber nur der Einheimische wirklich kennen. Der Politicus ist dementsprechend eigentlich jeweils nur zur «felicitas suae civitatis» befähigt. Die Spanier vermochten es daher schon prinzipiell nicht, «Belgis genio Hispánico imperare». 128 Nur der einheimische Politicus kann am Verhalten, dem Mienenspiel und der Sprache den Charakter der Optimates und des Vulgus einer Respublica ablesen. Nur er vermag mit Erfolg diejenigen praktischen Methoden anzuwenden, die ihm in Verbindung mit einschlägiger Literatur seine eigentliche Qualifikation verschaffen: die «observatio temporis», die «accurata etiam loci observatio»; die Beachtung der Regel «ut vocabula status, ab ipsius natura accurate distinguere

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Walm, Aphorismi S. 69, vgl. zu den geforderten Virtutes auch Affelen S. 52ff. und 61ff. (Bezug zu den Idealen des alten Germanien). Walm ebd. S. 69 (Zitat) und S. 63ff. Bornmeister, Dissertatio S. 43f. Es gibt keine Indizien dafür, daß die geforderte Elegantia civilis als speziell bürgerliche, im Gegensatz zu einer praesumptiven Elegantia nobilis, zu verstehen sei. S. 72f. S. 57, mit Bezug auf Conring, Clapmar, Sagittarius und das «iudicium egregium» Daniel Ciasens. S. 87 und 80.

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sciât, ne ex illis de hoc iudicium fiat»; die Kenntnis der «accidentia status», des «externus splendor» einer Respublica, des tatsächlichen und des formalen Sitzes der Souveränität, der realen Nachfolgeregelungen usw. Das heißt aber nichts anderes, als daß der Politicus die Ratio status des jeweiligen Staates erkennen und nach dieser handeln muß. Bornmeister zitiert an dieser Stelle Johann Christoph Becmann: «Quod in Sacris sunt mysteria, id ratio Status in Politicis esse videtur». 129 Diese Staaträson kennt zudem «media extra ordinaria», die ebenfalls im konkreten einzelstaatlichen Kontext zu entwickeln und anzuwenden sind. 130 Bereits im letzten Viertel ihres Jahrhunderts gerät die Politicus-Diskussion daher mit innerer Konsequenz in eine kritische Phase, die durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet ist. Auf der einen Seite wird die Bedeutung der akademischen Ausbildung zur Politik, von der man sich doch ursprünglich eine entscheidende Verbesserung der Praxis erhoffte, relativiert und in Frage gestellt. Auf der anderen Seite wird der universale Bezugsrahmen des politischen Denkens zunehmend zersetzt. Die politische Reflexion individualisiert sich einzelstaatlich, je stärker sie sich aktualisiert und historisiert. Beide Tendenzen wirken sich jedoch zunächst vor allem auf praxisnahen Ebenen des Denkens aus. Das höchste Niveau, die Ebene der Opera compendiosa & systematica, wird dabei noch kaum erreicht. Es wird zu prüfen sein, ob diese Feststellung auch für die wissenschaftsmethodisch-theoretische Begleitliteratur der Politica gilt.

1.4. Die Politica als eigenständige Fachwissenschaft: Theorie, Bibliographie, Wissenschaftsgeschichte. Die dritte wichtige Perspektive, unter welcher seit der Wende zum 17. Jahrhundert Politik wissenschaftlich reflektiert wurde, war diejenige einer Fachwissenschaft Politik. 131 Die hierfür maßgebenden Ansätze lassen sich grob den zwei Gruppen Theorie (1.4.1.) und Bibliographie und Literaturgeschichte (1.4.2.) zuordnen. Wir analysieren die wichtigsten Texte dieser Gruppen unserem Erkenntnisinteresse entsprechend unter der Fragestellung, welche Literaturen sie kennen und welche zeitgenössischen Autoren vor allem der höchsten Literaturklasse sie für die wichtigsten halten.

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42

S. 115(f., 129ff., 140f., 147, 151ff, 182f. und 215ff. Das zitiert Werk Becmanns sind dessen Parallela politica, s. zu ihnen unten Abschnitt 2.2.13. S. 70ff und 229f. (Zitat). Eine tragfähige institutionell-disziplingeschichtliche Analyse der Politica fehlt bisher. H. Maier: Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten (zuerst 1962) gibt lediglich einen groben Überblick und weiß sozialgeschichtlich sehr wenig. H. Denzen Moralphilosophie und Naturrecht bei S. Pufendorf (1972) bietet im Anhang jedoch einen wertvollen, ergänzungsfähigen Lehrstuhlüberblick.

1.4.1.

Theorie

T h e o r e t i s c h - m e t h o d i s c h e Texte, die Politica

als eigenständige Wissenschaft de-

finieren u n d strukturieren, bilden d e n systematischen Kern der g e s a m t e n politisch-propädeutischen Literatur d e s untersuchten Jahrhunderts. Sie bündeln die verschiedenen A n s ä t z e zur politischen R e f l e x i o n . Von zentralem Interesse aus unserer Perspektive sind dabei die f o l g e n d e n Titel: - die Propaideia

practica:

hoc est studii politici

Heidelberger

Juristen

Johannes

Calvinus

ac juridici (Kahl;

prognosis

(1595) d e s

gestorben

vermutlich

1614) ; 132 - die Idea sive exegesis

universi

studii politici

d e s Juristen und Reichshofrates

O t h o M e l a n d e r ( g e s t o r b e n 1640) von 1599, die aus der Straßburger juristischpolitischen Schule u m G e o r g O b r e c h t stammt; 1 3 3 - der bereits erwähnte Discursus

politicus

de Prudentia

politica

comparando

(1602) von Jakob Bornitz; 1 3 4 - Friedrich T i l e m a n n s Systema

Studii politici

seu Prima Politicae prudentia

prin-

cipia (1605); 1 3 5 - die Praecognita

Politices

complectens

(1614) d e s Tübinger und später Ingol-

städter Juristen Christoph B e s o l d ( 1 5 7 7 - 1 6 3 8 ) , die einen e n t s p r e c h e n d e n S a m m e l b a n d ihres A u t o r s einleitet; 1 3 6 - die Paedia politices

132

133

134

135

136

sive suppetiae

logicae scriptoribus

politicis

d e s aus der Pfalz

Vgl. zur Biographie Stolleis S. 175ff.; A D B III, S.715f. und Zedier 5, Sp.326. Sein artistisches und juristisches Studium absolvierte Kahl in Marburg und Heidelberg. Erscheinungsort der Propaideia ist Frankfurt. Das Werk enthält zunächst verschiedene Propaideiae practicae überschriebene Tractate (S. 7-96), dann eine Methodica totius Politici studii synposis, hoc est Ethices, oeconomices, Politices speciatim sumtae (S. 97-194), eine Oratio de fine et usu politicarum disciplinarum (S. 195-211) sowie eine Oratio de quatuor Politices ac Politicorum scholis ac periodis (S. 212-227). Titelfortsetzung: Ex media Jurisprudentia ac civili sapientia desumta, et ad praesentem Romanae politiae (!) statum accomodata, plurimarumq, quaestionum discussionibus referta. Weitere Auflagen erschienen 1600 und 1618 in Frankfurt. Vgl. zur Biographie und zum Straßburger Hintergrund Schindling, Humanistische Hochschule, S. 303-311 u . ö . , zur juristischen Tätigkeit Melanders Stolleis S. 136, 158 und 168. Melander ist übrigens auch als Herausgeber von späthumanistischen Scherzsammlungen hervorgetreten, vgl. seine Iocorum atque seriorum liber primus et secundus, Lieh 1604. S. oben Abschnitt 1.3. Die Schrift wurde von einem Neffen des Verfassers herausgegeben, was zu gelegentlichen Schwierigkeiten beim Verfassernachweis führt. Der Verfasser war Professor für Geschichte in Wittenberg und starb 1598, Herausgeber des Bandes ist einer von dessen Studenten, vgl. zur Biographie Zedier 44, Sp. 143 und knapp Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 298. In die A D B wurde Tilemann nicht aufgenommen; seine 1598 in Wittenberg erschienene Dissertatio de eversionibus Rerumpublicarum scheint, obwohl zeitgenössisch breit rezipiert, heute ebenfalls vergessen zu sein. Das Systema ist 86 Seiten stark. Collegium Politicum, vgl. das Quellenverzeichnis. Die wichtigsten Informationen zur Biographie und zum Gesamtwerk jetzt bei Stolleis S. 119-122, S. 162ff. u . ö . 43

s t a m m e n d e n römischen Pamphletisten, Neustoizisten und Machiavellisympathisanten Caspar S c h o p p e ( 1 5 6 7 - 1 6 4 9 ) , die 1623 erstmals erschien; 1 3 7 - die Bibliographia

Politica von Gabriel N a u d é ( 1 6 0 0 - 1 6 5 3 ) , d e m Bibliothekar

Richelieus und Mazarins, die 1633 erstmals in V e n e d i g erschien und während eines Ferienaufenthalts ihres Verfassers aus d e m G e d ä c h t n i s , o h n e H i l f e einer B i b l i o t h e k , geschrieben wurde; 1 3 8 - die drei einschlägigen Beiträge H e r m a n n Conrings, des H a u p t e s der H e l m stedter aristotelisch-politischen Schule, Disputado bus civilis prudentia civili Philosophia

de natura ac optimis

autori-

(1639; R e s p o n d e n t ist Friedrich Strube), Dissertatio eiusque

optimis

ac praecipuis

dent Justus Gerhard R i n c k ) und Dissertatio

scriptoribus

de

(1673; R e s p o n -

de Autoribus

Politicis

(ca.

1660); 1 3 9 - die zwei e n t s p r e c h e n d e n Schriften Johann Heinrich B o e c l e r s ( 1 6 1 1 - 1 6 9 2 ) , des Bernegger-Schülers und H a u p t e s der Straßburger tacitistisch-neustoizischen historisch-philologisch-politischen Schule Dissertatio dio

bene

instituendo

(1656) und Dissertatio

de scientia

epistolica & studio

de stupolitico

(1673); 1 4 0

137

138

139

140

44

Das Werk ist Kardinal Ludovico Ludovisi gewidmet - D B A 1166, 14-51; A D B 33, S. 479; M. d'Addio: Il Pensiero politico di Gaspare Scioppio (1962; mit Abdruck eines Werkverzeichnisses S. 593-608 und eigenhändigen Lebenslaufs Schoppes S. 671-684); H. Kowallek: Über C. Scoppius (1871). Schoppe hatte in Heidelberg und Altdorf studiert. 1607 ließ er sich in Padua nieder und wirkte in der Folge als Pamphletist, Berater und Diplomat für den Papst bzw. Erzherzog Ferdinand, wobei ihm seine vielfältigen Beziehungen zur europäischen Gelehrtenwelt von Nutzen waren, vgl. hierzu auch ausführlich d'Addio S. 7-253. Großen Einfluß auf Schoppe übte auch Thomas Campanella aus. Die wichtigste Kontroversschrift gegen Schoppe sind die Vindiciae politicae contra Pseudopoliticos, qui G. Schippio in Paedia Politices . . . ferente (1636) des Dillinger Jesuiten Heinrich Wangnereck. Ein zweiter Druck erschien schon 1641 in Wittenberg, weitere folgten 1642 (Leiden) und 1673 (Helmstedt, besorgt durch H. Conring). Insgesamt sollen bis 1730 (!) zehn verschiedene Ausgaben erschienen sein. Eine brauchbare deutsche Übersetzung findet sich bei Chr. Bissel: Die Bibliographia Politica (1966), S. 90-130; vgl. hier S. 1 - 5 auch das Notwendigste zur Biographie Naudés. Ausführlichere Angaben bieten Ph. Wolfe (ed.): Lettres de Gabriel Naudé (1982), Einleitung, sowie J. von Nostran Rice: G. Naudé (1939). Sämtliche in: H. Conring, Opera III (in dieser Reihenfolge) S. 1 - 1 6 , 3 3 - 4 6 (s. oben Abschnitt 1.3) und 17-33. Vgl. zur Biographie und zum Werk Conrings wie oben vermerkt jetzt den einschlägigen, von M. Stolleis herausgegebenen Sammelband sowie spezieller G. Scheel: H. Conring als politisch-praktischer Ratgeber (1983). Über die genannten Respondenten ist nichts Genaues bekannt. Dissertatio epistolica in: J. H. Boeder: Dissertationum academicarum Tomus II (17122) S. 341-352; Dissertatio de scientia in: J . H . B o e d e r : Institutiones politicae (1674), Anhang S. 303-316. Die Arbeit von 1656 wurde nach Boeclers Rückkehr aus Uppsala verfaßt, wo der Straßburger zeitweise eine historisch-philologische Professur bekleidete. Sie ist im Kontext mit dem Zusammenschluß und der Machtbildung der rheinischen Fürsten gegen den verstärkten Expansionsdruck Frankreichs zu sehen. Das zweite Werk ist ein akademisches Produkt; zur Biographie Boeclers vgl. den entsprechenden Abschnitt 2.2.12. im folgenden Kapitel.

- die Bibliotheca quentia

civili

politica

contrada

bzw. Diatribae

isagogicae

de prudentia

et elo-

(zuerst 1671) des Boeclerschülers Johann A n d r e a s B o s i u s

( 1 6 2 6 - 1 6 7 4 ) , Inhaber einer Geschichtsprofessur an der Universität Jena und Mitbegründer der Statistik als S t a a t e n k u n d e , die nichts anderes darstellt als eine Fortentwicklung des historisch-empirischen

Staatsbeschreibungskon-

zepts seines Lehrers; 1 4 1 - die Oratio

de necessitate

et usu philosophiae

practicae

des M o r a l p h i l o s o p h e n

und Juristen Johann G o t h a r d B o e c k e l e n ( 1 6 4 5 - 1 7 0 2 ) in H e l m s t e d t , die 1683 erschien; 1 4 2 - A d a m R e c h e n b e r g s , d e s Leipziger Historikers, Philosophen und T h e o l o g e n vielbeachteter Liber singularis Sectio III zur Philosophia - die Introducilo

in philosophiam

de studiis

academicis

in seiner einschlägigen

practica,m civilem quam vocant Politicam

d e s Kieler Phi-

l o s o p h e n Friedrich G e n t z k e n ( 1 6 8 8 - 1 7 5 7 ) , erschienen erstmals 1721, 1 4 4 und schließlich - der Entwurffeiner

Staats-Bibliothek

nebst dergantzen

Politischen

Klugheit

des

141

Vgl. zur Biographie Jocher 1, Sp. 1270 und die Angaben bei Crenius III, S. 350-352. In die A D B und die N D B ist Bose nicht aufgenommen (!). Zur Leistung Böses auf dem Gebiete der Staatsbeschreibung vgl. die Hinweise in der Kollektion: Statistik und Staatsbeschreibung, hg. M. Rassem und J. Stagi (1980), die Boeclers Bedeutung aber noch nicht gerecht werden. - Daß die Bibliotheca (abgedruckt in: Bibliographia Historico-politico-philologia curiosa (1672) S. 254-330) und die Diatribae identisch sind, ergibt sich einerseits aus der zeitgenössischen Diskussion, die in Arnds Bibliotheca politico-heraldica S. 2 9 - 3 5 zusammengefaßt ist, sowie einem entsprechenden handschriftlichen Vermerk der Zeit in der von uns benutzten Ausgabe der Bibliographia aus der Münchner Staatsbibliothek, andererseits aus dem Textvergleich. Ursprünglich scheint es sich um zwei getrennte Dissertationen (De prudentia civili, De eloquentia) gehandelt zu haben, die textlich leicht variiert u.a. bei Crenius II, S . 3 5 5 - 4 1 1 und 412-439, abgedruckt sind. Die bei Erman-Horn gebotene Aufzählung der Ausgaben der Diatribae (Nr. 9665-9668) ist keineswegs vollständig. In modernen Bibliothekskatalogen nachgewiesen sind die selbständigen Ausgaben Jena 1671,1698 und 1699 (benutzt).

142

Das bei Erman-Horn angegebene Erscheinungsjahr 1673 (Nr. 8947) ist unzutreffend: in diesem Jahr wurde die Oratio vorgetragen, aber nicht publiziert. Zur Biographie Boeckelens, der in Rostock, Helmstedt, Heidelberg und Tübingen studierte und zusätzlich zu seiner Professur eine Assessorenstelle am Wolfenbütteler Hofgericht bekleidete, vgl. Zedier 4, Sp. 377 (mit dem falschen zweiten Vornamen Gerhard). Zur Biographie des Verfassers vgl. unten Kapitel 3. Der in der uns vorliegenden Ausgabe über 300 Seiten starke Band wurde bis 1714 viermal aufgelegt. Deutsche Auszüge sollen in der Zeitschrift Tetzel's monatliche Unterredungen veröffentlicht worden sein. Titelfortsetzung: ubi praemissa histórica tractatione, & addida sectarum ibidem occurentium differentia, non solum exponitur, quomodo simplices societates familiam efficiant, sed etiam qua ratione civitas secundum regulas justitae, aequitatis & prudentiae sit constituenda & administranda, ita ut omnia summi imperii jura debito ordine & nexu sistantur. Zur Biographie Gentzkens, der in Greifswald studierte, vgl. die spärlichen Angaben bei Jöcher-Adelung II, Sp. 1400f. Das Werk ist über 180 Seiten dick.

143

144

45

Blankenburger Bibliothekars und Rektors Johann Tobias Wagner von 1725. 1 4 5

Wieder setzen sich die Verfasser hauptsächlich aus Universitätsprofessoren, Philosophen, Juristen und - verstärkt - Historikern zusammen. Wieder spielt Straßburg eine bedeutsame Rolle, in diesem Fall jedoch gefolgt von Helmstedt. Daneben sind Wittenberg sowie Heidelberg, Leipzig und Kiel vertreten. 146 Wichtige Impulse gehen darüber hinaus von der Praxis (Bornitz in Torgau) und vom romanischen Ausland aus: Schoppes Paedia und Naudés Bibliographia haben das deutsche Politikdenken nach dem Zeugnis Hermann Conrings und anderer Vertreter der Politica massiv beeinflußt. 147 Die Motive, Anläße und Ziele der Schriften, die sich neben und verknüpft mit universitätsspezifischen Ausgangslagen eruieren lassen, sind vielfältig, konzentrieren sich aber erneut auf den herrschaftlichen Motivationsstrang. Der reformierte Jurist Kahl hatte in seinem juristischen Werk den pfälzischen Selbständigkeits- und Geltungsanspruch nach außen untermauert, indem er den Sitz der Souveränität im Reich nicht dem Kaiser, sondern mit Bodin den Reichsständen zuweist. 148 Im vorliegenden politischen Beitrag stärkt er die Herrschaftsordnung der Pfalz im Innern: Die politische Ordnung ist rechtlich und sittlich legitimiert. Die Herrschenden haben einen weitgehenden Erziehungsauftrag gegenüber den Untertanen. Unabdingbare Voraussetzungen für «huius vitae beatitudo seu felicitas (civis); quam in actione virtutis collocai,» sind deshalb die konsequent durchzusetzende Tranquillitas reipublicae und Amicitia inter cives. Als Wissenschaft hat die Politik vor allem die Aufgabe, die Prudentia der Herrschenden zu fördern, die aus der Mens practica und der Conscientia geformt und als «ratio recta nempe practica» und «facultas & potestas a g e n d i . . . in rebus politicis» definiert ist. 149 Melanders Idea ist nichts anderes als die erste

145

146

147 148 149

46

Wagners Lebensdaten sind nur sehr dürftig bekannt, vgl. Zedier 52, Sp. 674f. Vor dem Entwurff einer Staats-Bibliothek verfasste der Bibliothekar einen Entwurff einer Soldaten-Bibliothek (Goslar 1724). Vgl. zu Straßburg unsere Bemerkungen oben in Abschnitt 1.3., zu Helmstedt P. Baumgarts Beiträge in: ders., N. Hammerstein (Hgg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen (1978), S. 191-242; zu Leipzig und Kiel die Anmerkungen ebd.; zu Wittenberg den Beitrag von G. Heinrich ebd. S. 111-130, und zu Heidelberg V. Press: Kurfürst Maximilian I. von Bayern, die Jesuiten und die Universität Heidelberg (1986), sowie die im dort angegebenen Sammelband erschienenen weiteren Beiträge. Vgl. die Angaben in diesem Abschnitt weiter unten. Vgl. hierzu wie o. a. die Ausführungen bei Stolleis. Propaideia S. 32f., 70f„ 72,109f., 116,125,134f., 149f., 202,204ff. u.ö. Jurisprudenz, Ethik und Politik sind unmittelbar aufeinander bezogen: «Ethica principia & fundamenta politicae continet. Politica vera est Iurisprudentia theoretica; Iurisprudentia autem, politica exemplaris & practica, certae nimirum politiae, regno vel imperio accomodata» (S. 6). Als «scientia curandae salutis populi» (S. 149 u. ö.) ist die Politica zwar keine schroffe Herrschaftslehre, zumal auch der von ihr herstellbare Gradus perfectionis felicitatis civium niemals der (nur anhand der Bibel zu verwirklichende) höchste

deutsche Werbeschrift zur Einführung der professionellen Politik an den Universitäten, wie bereits ihr Untertitel zeigt: «Pro politices Profeßione in Academias introducenda.» Und zwar ausdrücklich, weil diese Politik «Politiam conservât [!], eiusq. laudabiliter gubernandae viam et rationem demonstrat», aber von den Juristen völlig vernachlässigt werde: «Jureconsultus aqua facilius & igni carebit, quam Politices scientia». 150 Sein Beitrag ist als Fortentwicklung des Ansatzes seines Lehrers Georg Obrecht zu werten. Dieser bildete als Jurist künftige Mitglieder des Reichskammergerichts aus, die dann für die evangelische Sache tätig werden konnten, und beschrieb als politischer Denker Methoden zur Stärkung bedrohter Reichsstände wie z . B . d e r isolierten evangelischen Städte. 151 Bornitz' konkretes Interesse besteht darin, dem Politiker und Verwaltungspraktiker in schwieriger Zeit ein Nachschlagewerk an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe die Praxis verbessert werden kann. Auch für ihn «tradit» die Politica als «prudentia civilis» in erster Linie «imperandi rationem», über die der Jurist, weil er die «varietas temporum aliarumque circumstantiarum» ignoriert, nicht verfügt. 152 Tilemann schreibt, wenn man der an den Stettiner Rat gerichteten Dedicatoria seines Herausgebers folgt, gegen die schlechten, alle Kräfte der «Politici & rerump. gubernatores» absorbierenden Bedingungen (conditiones) seiner Zeit, die die Gemeinwesen zu ruinieren drohen. 153 Bei den nachfolgenden Autoren sind derartige Zusammenhänge nicht mehr direkt gegeben. Die politische Reflexion hatte sich als akademische Disziplin etabliert und sich zunehmend nach ihrer eigenen Logik fortentwickelt, ohne dabei freilich ihren funktionalen sozio-politischen Kontext abzusprengen. 154 Deshalb bleibt auch die angeschlagene Tonart bei der Definition und Funktionsbeschreibung der Politica erhalten. Besold weist der Politica die Aufgabe zu,

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151

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Grad dieses Glücks sein kann. Ohne Herrschaft und Unterwerfung (sine imperio ac subjectione) kann aber auch für den Calvinisten Kahl keine «administratio . . . sicut & societas ipse» bestehen (S. 149). Idea S. 14 und 4 (Zitate). Im folgenden taucht die Politica dementsprechend auch als Ars gubernandae reipublicae, civitates gubernandae Ratio usw. auf. Die Unzulänglichkeit bloß juristischen Denkens wird von Melander am Niedergang des Instituts des Reichstags und der Unfähigkeit des Reiches, sich der türkischen Bedrohung zu erwehren, demonstriert. Vgl. hierzu die bibliographische Auflistung der Schriften Obrechts bei Schindling, Protestantische Hochschule S. 406 und Hans Maier: Ältere Staats- und Verwaltungslehre (1986) S. 122-131. Nicht zufällig bewegen sich Obrechts Beiträge vornehmlich um Militär- und Finanzfragen. Discursus politicus S. [4] und S. [lf.] (Zitate). Am Vorrang der Praxis vor der Theorie besteht für Bornitz, der sich gerade deshalb auch nachdrücklich um die Fragen der Staatsfinanz kümmerte (vgl. dazu Michael Stolleis: Pecunia nervus (1980) S. 129-154), kein Zweifel: «Praxis enim in rebus omnibus certissima Magistra est» (S. [112], vgl. auch S. [42] u.ö. und den ausführlichen Fragekatalog S. [39ff.]). Systema S. [20] (Epistola dedicatoria) u.ö. Der Akzentwechsel ist auch äußerlich bemerkbar: Besolds Praecognita sind erstmals eine akribisch gegliederte, mit zahllosen Verweisen angereicherte schulmäßige Disputation.

47

sich mit der «ratio gubernandi, sive conservado» des Staates sowie deren «conséquentes partes; augmentatio nempe & conversio, ac contra earn quae sint remedia» zu befassen. 155 Schoppe begreift die Politica als «utilitatis publicae scientia, sive earum, quibus uti possumus ad condendum tuendumque Statum». 156 Für Naudé hat die Politica den entstehenden Staat zu festigen, den bestehenden zu erhalten und den zusammenbrechenden zu stützen und wiederherzustellen, und zwar mit den Mitteln der Administratio Ordinaria im Regelfall und denjenigen der Administratio extraordinaria im Notfall. 157 Conrings Vorstellung von der Politica ist wie bereits bemerkt das Leitkonzept des Politischen Aristotelismus seiner Zeit: «Prudentia civilis sive Politica . . . est cognitio quaedam universalis administrandi & instituendi omnis generis respublicas, ita, ut nulla species reipublicae possit fingi, cujus institutionem & administrationem Politica non docet. Sic etiam ars medica est universalis, qua quis seit rationem conservandi & restituendi sanitatem in genere.» Diese Institutio und Administratio sind zwar nicht mit der bloßen Conservatio status zu verwechseln, weil Conring explizit am umfassenden Staatsziel des aristotelischen bene beateque vivere festhält. Sie sind aber breit genug gefaßt, um diese Conservatio miteinzuschließen und im gegebenen Fall - bei Eintritt entsprechender historischer Umstände - den Akzent auf sie zu verlagern. 158 Auch für B o e d e r und Bose geht es bei der Politica um jene Angelegenheiten, «quae ad imperandum pertinent», mit dem Ziel der Conservatio status und des honeste vivere, auch hier ist die Prudentia civilis als Lehre zur Vorbereitung der politischen Praxis die «peritia tractandi remp. eiusque negotia dextre administrandi.» 159 Lediglich der Jurist Boeckelen möchte der Politik vornehmlich die Aufgabe zuweisen, Justitia universalis im Staat herzustellen, weil nur auf diese Weise ein Staat wirklich glücklich und ruhig sein könne. Dieses Konzept soll offenbar den Anspruch der späthumanistischen Jurisprudenz erneuern, die wahre politische Wissenschaft zu sein. 160 Adam Rechenberg faßt die Politica

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48

Praecognita S.29f. Paedia (ed. Conring in: Opera III) S. 52. Conring beeilt sich gleich anzumerken, daß damit das Ziel der Politik zur conservatio Status geschrumpft sei, statt bei der umfassenden aristotelischen Felicitas Societatis civilis «id est exercitium virtutis cum rerum sufficientia» zu bleiben (S. 55). Bibliographia (ed. Conring 1673) S. 60f., vgl. zusammenfassend Bissel, Die Bibliographia S. 102. Conring, Dissertatio de Autoribus Politicis S. 17, vgl. auch die vorletzte Fußnote (Kritik Conrings an Schoppe) sowie Dreitzel, Conring und die politische Wissenschaft S. 165f. Conrings variables, breites Politikkonzept entspricht dem Ansatz des Aristoteles selbst, dessen frühneuzeitliche Attraktivität zu einem erheblichen Grade eben darin bestand, auch als Herrschafts- und Staatserhaltungslehre gelesen werden zu können. Zum Vorbild der Medizin vgl. auch J. Kahls Parallelisierung der Ethik als Medizin der Seele und der Ökonomie als Medizin für die Familia (Propaideia S. 225f.), ferner aus der Literatur die Angaben bei E. Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. (1969) S. 57. B o e d e r , D e scientia S. 314 ( 1. Zitat, B o e d e r zitiert hier Cassius Dio) ; B o s e , Diatribae S. l f . (2. Zitat). D e necessitate S. l l f . mit dem Schlüsselsatz: «Universalem nominae iustitiam, nil aliud

aristotelisch als diejenige Wissenschaft, «quae docet remp. bene instituere, & institutam recte gubernare», wiewohl er ihre Pars specialis mit dem Jus Publicum gleichsetzt. 161 Für Friedrich Gentzken ist die Politica eine praktische Wissenschaft der Gerechtigkeit und Prudentia, «quibus civitatum imperantes in suo statu se & Rempubl. conservare student». Ihr wesentliches Ziel ist die Securitas communis als Vorbedingung des Gemeinwohls. 162 Wagners Staats-Bibliothek schließlich, die Friedrich Wilhelm I. von Preußen gewidmet ist, bezieht sich auf die Politik als Lehre, «einen öffentlichen Staat klüglich zu regieren». 163 Im Lichte dieses Schrifttums ist Politik ein eigenständiger Handlungs- und Denkzusammenhang, der aus dem Bedarf nach Überlebensfähigkeit, Sicherheit und Stabilität in einem Zeitalter sich zuspitzender konfessionspolitischer Konflikte entstand. Ihre methodisch-theoretische Verselbständigung als Wissenschaft gelang mit Hilfe der humanistisch-praktischen Aneignung des politischen Werkes des Aristoteles, ergänzt durch stoisch-tacitistische, in Auseinandersetzung mit Machiavelli wiedergewonnene Elemente. Das Prinzip der Politica ist gemäß dieser Ausgangslage die Herrschaft, von der man sich die Herstellung stabiler Ordnungsverhältnisse als Voraussetzung des gemeinschaftlichen und individuellen Glücks versprach, ohne daß die neue Qualität dieser Herrschaft dabei übersehen wurde. Die Politica des 17. Jahrhunderts in Deutschland ist eine Regierungslehre, die als Wissenschaft eigener Ordnung (scientia suo ordine) «theoretisch-universale Erkenntnisinteressen und -möglichkeiten und praktisch-partikulare, auf die Praxis gerichtete einschloß, ohne sie scharf voneinander zu trennen». 164 Diesen Aspekt der Herrschaft spitzte sie verständlicherweise auf die Herrschaftsordnung des Staates und damit den öffentlichem Bereich zu, wobei Bodin wichtige aktuelle Denkanstöße und Argumente lieferte. Je stärker jedoch die konfessionell-politische Krise noch als umfassende Gesellschaftsund Kulturkrise und die Herrschaftsordnung und Herrschaft als abhängig von ihren anthropologisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen empfunden wurden,

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. . . , quam universam Sapientiam civilem in campum producere.» Schon das Römische Recht enthalte alle Prinzipien der Moralphilosophie und Politik: «honeste vivere, neminem laedere, suum quique laedere» (S. 19f.). Liber singularis S. 69f. (Zitat). Introductio S. 6f. und 60ff. Gentzken ist Hobbes-Anhänger, indem er den Staat als Kunstprodukt «metu injuriarium & oppressionum» begreift, die Staatsgewalt «potestas repraesentandi & continendi voluntas & vires civium» (vgl. S. 4 0 - 4 5 ) konzipiert und Wert auf die Bereitstellung und Nutzung von Machtmitteln (Arcana imperii nach A . Clapmar) legt. Gegen Hobbes möchte er jedoch die Staatsgewalt ausdrücklich als Imperium limitatum verstanden wissen, die stets auf den Konsens der Bürger - wenngleich «vel expresse vel tacite» - verwiesen bleibt. Entwurff einer Staats-Bibliothek S. 12f. u . ö . S. 32 wird auf die Beiträge Naudés und Böses sowie (s.v.) die Bibliographien C. Ands und Struves verwiesen, die jedoch die «Politic» noch nicht erschöpften. Dreitzel, Aristotelismus S. 171 (Zitat). Dieser Beitrag stellt den derzeit wichtigen Überblick über die verschiedenen Strömungen der Politica dar, zentriert um den als Hauptrichtung verstandenen Politischen Aristotelismus Conringscher Prägung. Zu seiner Kritik vgl. das Schlußkapitel der vorliegenden Studie.

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desto nachdrücklicher wurden in das Konzept der Politik auch nichtöffentliche Bereiche miteinbezogen. Nur der Aristotelismus scheint sich diesem Mechanismus weitgehend entzogen zu haben, während der Neustoizismus/Tacitismus, die Staatsräson-Diskussion, Althusius' Richtung und die eklektische Philosophie am Ausgang des 17. Jahrhunderts ihre Substanz gerade dank dieser doppelten D i m e n s i o n gewannen. Es ist zu vermuten, daß diesem Befund nicht zuletzt auch die eigentümliche pädagogische Ausrichtung des Humanismus in Deutschland zugrundeliegt. D i e doppelte Natur der Erziehung - Autorität und fürsorgliche Zuneigung - ist es jedenfalls auch, welche die Bandbreite des jeweils vertretenen Herrschaftsverständnisses markiert. 1 6 5 Aus diesem umfassenden, aber doch durch klare Schwerpunkte gekennzeichneten Konzept wird mehr oder weniger konsequent das umfangreiche Literaturprogramm der Politica abgeleitet. Auf die verschiedenen Varianten braucht hier nicht detailliert eingegangen zu werden. Erneut zeigt sich nämlich eine weitgehende Identität der Vorstellungen und Urteile, so daß ohne bedenkliche Erkenntnisverluste im Detail auf höherer Abstraktionsebene die Konturen einer Gesamtentwicklung rekonstruiert werden können. D i e frühen Autoren Kahl und Melander ordnen den Quellenbestand ihrer Literaturempfehlungen noch nicht systematisch. Ihre antiken Autoritäten sind ohne gezielte Begründung Aristoteles, Plato und Cicero. Von den Autores centiores

re-

werden italienische und französische Humanisten, deutsche Aristote-

leskommentatoren sowie vor allem Bodin und Lipsius, ferner John Case, Pierre Gregoire, Andreas Modrzewski und Lambert D a n a e u s genannt. 1 6 6

165

166

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Vgl. hierzu auch oben Abschnitt 1.2 und 1.3 sowie unten Kapitel 2, ferner aus der einschlägigen Literatur noch die Zusammenfassungen bei Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat S. 47ff. und Stolleis S. 80-125. Zur Parallelisierung der Herrschaft über sich selbst durch die Rezepte der Ethik, der Herrschaft des Paterfamilias in der Familie durch die Präzepte der Ökonomie und der Herrschaft in der Civitas durch politische Regeln vgl. in unserem Literaturzusammenhang z. B. explizit Kahl, Propaideia S. 203ff. Mit dieser differenzierten Zuordnung der verschiedenen Wissenschaftsbereiche ist die Politik jedoch nicht scharf auf den öffentlich-staatlichen Bereich beschränkt, sondern sie bezieht in einem weiteren Sinne je nach Bedarf Ökonomie und Ethik mit ein. Vgl. Kahl, Propaideia besonders S. 185ff. und Melander, Idea S. 12,72ff. u. ö. Bei Kahl werden vier Entwicklungsphasen der Politik unterschieden, Maßstab ist dabei das jeweilige Verhältnis zum Christentum. Plato erscheint als «Moses atticus»; die aufgeführten Aristoteles-Kommentatoren sind u.a. der Weggefährte Melanchthons Joachim Camerarius (1500-1574) und Theodor Zwinger (1533-1588), der 1582 in seiner Heimatstadt Basel die einflußreiche Scholia et tabulae in Aristotelis Politica veröffentlichte. Melander verarbeitet auf aristotelischer Grundlage Bodin und greift ergänzend auf Lipsius, Tholosanus und Case zurück. S. 72 nennt er den Italiener Duro a Pasculo seinen Freund. Als französischer Humanist ist Philippe de Commynes aufgeführt; außerdem tauchen an wichtiger Stelle die Namen Machiavelli und Antonio de Guevara auf. Für A. F. Modrzewski (Modrevius) bzw. dessen De República emendanda (1551) vgl. knapp Stolleis S. 87f. (mit Literaturangaben), für L. Danaeus (Politices Christianae Libri VII, 1596) ebendort S. 105f.

Einen entscheidenden Schritt zur Systematisierung vollzieht hingegen Bornitz, und zwar infolge seines oben vermerkten praktischen Interesses. Das Lektüreprogramm der Politica ergibt sich hier aus den Bedürfnissen der Praxis, ebenso das Urteil, das über die einzelnen Schriftsteller abzugeben ist. Die «Principes politicorum scriptorum» sind zweifellos Plato und Aristoteles, «qui an Rebuspubl. interfuerint, rerumq. experientia documenta sua stabilita nobis relinquerint». Hier gilt jedoch, daß «eorum doctrina ñeque disciplinae civili ñeque militari hodie satis sit». 167 Deshalb ist auch die Lektüre aktueller Autoren notwendig, von welchen allerdings nur Bodin aufgeführt wird: «Badino [sic!] asserente, nemo extiterit, qui quid optimus Reip. status hactenus noverit». Die übrigen Schriftsteller sind lediglich in Form einer alphabetischen, über zwei Seiten langen Namenliste einbezogen. 168 Dieses Verfahren der Autorenaufzählung im Bereich der theoretisch-normenvermittelnden politischen Literatur wird auch bei den Darstellungen, «quae de principis institutione, officio & potestate tractant», und den anschließenden, nicht weiter qualifizierten «discursus & tractatus singulares» angewandt. 169 Indirekt läßt sich erschließen, daß Bornitz folgende Klassen unterscheidet: historiographische Werke und Erlebnisberichte (relationes) zur Vermittlung fremder Empirie; apodemische Werke, schließlich historische Darstellungen, Dokumente und Anleitungsschriften, die im Umkreis der höchsten Staatsorgane, hohen Gerichte, Staatsräte und Diplomaten entstanden sind oder sich mit derartigen Themen befassen. 170 Tilemanns Erkenntnisziel ist nicht die Entfaltung einer Literatursystematik, sondern die auf das Studium bezogene, pädagogisch-didaktisch optimierte Aufbereitung der gültigen Prämissen der Politica. Dementsprechend beschränkt er sich auf wenige Autoren und Werke. Sein Herausgeber faßt zusammen: «Equidem non defuerunt unquam optimi autores, qui de omni Politica prudentia eiusque nobilissimis effectibus erudite et enucleate scripserint, ut L i p s i u s , . . . Petrus

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Discursus S. [25] und [28]. D i e Disciplina bzw. Prudentia militaris wird von Bornitz aber bewußt nicht behandelt, weil sie für ihn als Aristoteliker nicht eigentlich zur Politica gehört. D a s Gleiche gilt für die bloße Staatsräson-Lehre der «Pesudopolitici & Machiavellici» (S. [11]). D e n n die Ratio Status sei keine Prudentia, sondern beziehe sich nur auf Instrumente und Mittel, deren moralisch-sittliche Qualität nicht befragt werden: «Quae certe ratio non prudentia, sed summa malitia est» (S. [4]). Allerdings vertritt Bornitz auch die (im Aristotelismus verbreitete) Auffassung Bodins, daß die «Sophismata vel kryphia» des Aristoteles diejenigen Media und Rationes seien, «quae Tacitus arcana imperii & dominationis vocat», vgl. zusammenfassend Stolleis, Pecunia S. 143.

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Discursus S. 3 0 - 3 3 . D i e Liste, die auch Machiavelli umfaßt, wird konsequenterweise Index genannt. Discursus S. 3 3 - 3 6 . Vgl. hierzu auch die ramistische Delineatio discursus auf S. [VII]. Bemerkenswert ist, daß der Bereich der Staatsfinanz und der Wirtschaft fehlt. Bei den Praecepta civilia führt Bornitz neben Plutarch (in dieser Reihenfolge) Lipsius, Sansovino, Giucciardini u. a. auf, es handelt sich aber offenbar eher um eine Zufallsauswahl.

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Tholosanus & alii . . . Sed qui modum acquirendae plane et accurate praemonstrarunt, vel nulli sunt vel rarissimi». Nur Bodin findet noch häufiger positive Erwähnung, und Machiavelli wird wegen seiner Verabsolutierung der diesseitigen Utilitas harsch kritisiert. 171 Die am häufigsten zustimmend zitierten Autoren zur Politica generalis sind bei Besold die reformierten Gelehrten Bartholomäus Keckermann und Clemens Timpler, ferner die Aristoteliker Johann Crüger in Marburg (Centuria quaestionum ethico-politicarum, 1626) und Christian Matthias in Gießen (Colloquium politicum, 1611). Zur Politica specialis wird nichts angegeben. 172 Auch Schoppes Erkenntnisabsicht bezieht sich in erster Linie auf die Vermittlung von Theorie und Praxis der Politik, die er mit Aristoteles anhand des Konzepts einer «paedia, id est artis cujusque tractandi modum & viam» leisten möchte. 173 Literaturempfehlungen fehlen deshalb ganz, sieht man von der Benutzung der Bibel und des Thomas von Aquin zur Trennung der Theologie und Rechtswissenschaft von der Politik einmal ab. Der gesamte Beitrag ist freilich eine verdeckte Apologie Machiavellis, wiewohl dieser nur als «Politicus», «conatus scriptor» u . a . , ohne Namen also, gekennzeichnet wird. Er läßt sich deshalb auch als Aufforderung zum Studium Machiavellis lesen. 174 So erweist sich Naudés Bibliographia als erster in Deutschland breit wirksamer Versuch zur systematischen Erfassung der Po/iiica-Literatur, wiewohl es sich bei diesem Werk in Wirklichkeit um ein eigenständiges praktisches Handbuch zur Regierungslehre handelt. Auf über 140 Textseiten werden über 400 Schriftsteller genannt, beginnend mit der Antike, fortgeführt bis ins Jahr 1531, unter besonderer Berücksichtigung des romanischen Raumes. Das Werk ist jedoch nach aristotelischem Vorbild in Sektionen zur Ethik, Ökonomie und Politik i.e.S. gegliedert, so daß für unseren Zweck eine nähere Betrachtung des letzten Teils ausreicht.

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Systema S. [20] (Epistola dedicatoria; Zitate), S. 7, 47, 31f., 73ff. u . ö . Lipsius wird kritisiert, weil er wie Machiavelli die Tendenz aufweise, die Prudentia politica dem Princeps zu reservieren (!). D i e richtig verstandene Salus publica verknüpft Virtus, Honestas, Justitia und Utilitas, vgl. z. B. S. 6. Praecognita, passim. D i e übrigen erwähnten systematisch-kompendiösen Autoren sind Pierre Gregoire, Friedrich Tilemann (!), Lambert Danaeus, Heinrich Velsten (Conturia questionum politicarum, Wittenberg 1610) und Paul Busius ( D e República, o.w. Α . ) . Paedia (ed. Conring in: Opera III) S. 51. Conrings Lob Schoppes in seiner Praefatio zur Paedia bezieht sich genau auf diesen Punkt. In einer anderen Schrift (vgl. d'Addio, II Pensiero S. 502) benutzt Schoppe auch das Adjektiv «architectonia» zur Kennzeichnung der Politica als einer umfassenden Ars; vgl. zum Verhältnis Conrings zur Paedia außer bei d'Addio S. 4 9 9 - 5 3 3 und 5 5 6 - 5 6 2 auch M. Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson (1983) S. 197. Vgl. besonders S. 62f. und die Schlüsseldiskussion S. 67 ( D i e Zuneigung, welche die Untertanen ihrem Princeps entgegenbringen und ein unerläßliches Stabilisierungsmittel für den Status darstellt, «efficit non virtus in principe, sed opinio in subditis de virtute principis»).

Der studierte Mediziner und Bibliothekar, dessen mit der Wissenschaftssystematik der Politik verwandtes Bibliotheksordnungssystem europaweite Bedeutung erlangte, unterscheidet drei Werk- bzw. Autorengruppen. Voran gehen die Klassiker der universalen politischen Theorie, beginnend wie üblich bei Plato, Aristoteles und Cicero nebst ihren Kommentatoren. Als einzigen «Phoenix» seiner Zeit lobt Naudé dann seinen überaus gelehrten Landsmann und neuartigen Systematiker Bodin, dem sich jeder anvertrauen müsse, der sein politisches Schiff sicher in den Hafen bringen wolle. Die Kritiker Bodins, unter anderem der konservative Denker und römische Propagandist Fabio Albergati, werden als Pygmäen bezeichnet. Die übrigen Autoren dieser Klasse, an die sich Naudé zu erinnern vermag, sind erneut Lipsius, Clemens Timpler und Bartholomäus Keckermann. Sie alle zeichneten sich allerdings eher durch stilistische Gewandtheit, verbesserte Methodik und damit erhöhte Verständlichkeit aus als durch Originalität. 175 Die zweite Gruppe wird von den Autoren bzw. Werken der politischen Utopie gebildet, die Leitbilder für die aktuelle Praxis böten. Aufgelistet sind Thomas Morus' Utopia, Thomas Campanellas Sonnenstaat und der Mundus alter & idem.™ Die dritte Werk- und Autorengruppe zielt auf die Probleme der politischen Praxis. Sie weitet sich zu einem systematischen Überblick über alle Dimensionen dieser Praxis aus, in welchem die Literaturhinweise zweitrangig werden. Dieser Überblick ist es, der die zeitgenössische Attraktivität des Werkes ausmachte. 177 In einem ersten Abschnitt zu den außerordentlichen Staatsaktionen, die zur Erhaltung eines bestehenden Staatswesens unter besonderen Umständen notwendig sind, zählt Naudé indirekt Machiavelli, dann die italienischen Staatsrä-

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Vgl. die Übersetzung der Bibliographia bei Bissel S. 99ff. und 114 (Lob des Niederländers wegen dessen Erneuerung der stoischen Ethik und der Leistungen in der Historiographie und Philologie). Als neuere, freilich trotz aller Verdienste noch unzulängliche Autoren sind noch Nicolaus Biesius (?) und Paolo Paruta erwähnt. Timpler (1563-1624) gilt als der bedeutendste calvinistische Schulphilosoph des 17. Jahrhunderts, vgl. die hervorragende Darstellung von J.S. Freedman: The Life, Significance and Philosophy of Cl. Timpler (1982), zur Politik S. 6 2 7 - 7 0 6 . Sein wichtigstes politiktheoretisches Werk ist die Philosophia practica aus dem Jahre 1612. Zu Albergati und den übrigen Bodin-Kritikern Possevino und Bonfadi ( s . u . ) vgl. E. Gianturco: J. Bodin's conception of the Venetian constitution and his critical rift with F. Albergati (1944) und Α . Cremer: Les Théoriciens italiens de la raison d'état juges de J. Bodin (1975). - G. Naudés Advis pour dresser une bibliothèque (zuerst Paris 1627, dann zumindest 6 Neudrucke und Übersetzungen) wurde europaweit umgesetzt, vgl. A . Franklin: Histoire de la Bibliothèque Mazarine (1860) und die Angaben bei Rice, Naudé, ferner zur Richelieu-Bibliothek selbst J. Wollenberg: Richelieu (1977) S. 1 1 5 - 2 4 4 u . ö . Die Bibliothek wurde bereits 1660 gegen den Willen ihres Gründers der Bibliothek der Sorbonne einverleibt.

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Bibliographia übers. Bissel S. 100. Vgl. die Zusammenstellung der Stimmen bei Jochius, Prodromus S. 3 7 - 3 9 ; ein Schema der Gliederung Naudés nebst einer knappen Diskussion von deren Grundlagen findet sich bei Bissel S. 53f.

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sonautoren Giovanni Botero, Girolamo Frachetta, Gabriel Zinano und Ludovico Settala sowie Arnold Clapmars Arcana auf. Ferner wird auf Schoppes Paedia, Federico Bonaventura, Girolamo Cardano, Scipio Claramont und Naudés eigenen Beitrag Les Coups d'Etat verwiesen. 178 Der zweite Hauptabschnitt befaßt sich mit der ordentlichen Administratio Reipublicae und deren Literatur. Das erste Problem in diesem Zusammenhang ist die Religionspolitik. Naudé vertritt die machiavellistische Auffassung von der politischen Funktionalität der Religion, versteckt seine Meinung aber hinter einem schweren Schutzschild christlicher Apologetik und anti-islamischer Polemik. Für seine pragmatisch-politische Lösung, Sekten nur solange direkt oder noch besser indirekt zu bekämpfen, als sie klein und überwindbar sind, sie danach aber im Interesse der Conservatio Status zu dulden, kann er keinen einschlägigen Autor nennen. 1 7 9 Beim zweiten Problem, der Bündnispolitik, beschränkt sich der Autor auf eine nach eigenem Eingeständnis zufällige und hier deshalb nicht wiederholte Namenauswahl. 180 In Bezug auf den dritten Problemkreis, denjenigen von Krieg und Frieden, ist nach Empfehlung Naudés das überaus kenntnisreiche Werk De jure pacis et belli des Hugo Grotius zu lesen. In Wirklichkeit war Naudé als Anhänger Richelieus in dieser Frage aber ein Vertreter des politischen Zweckdenkens. An einer humanistischen oder rechtlichen Stillegung des Krieges hatte er kein Interesse. 181 Die weiter angesprochenen Aktionsfelder der Politik sind das Zeremoniell zwischen Fürsten und Staaten, die Bevölkerungspolitik und das Steuerwesen, ferner der Umgang mit rivalisierenden Adelsfaktionen, deren Anhänger sich auch noch in staatsschädigender Weise duellieren. Auch hier sind die Literaturhinweise spärlich und offenkundig höchst selektiv. Erwähnenswert scheint lediglich die nochmalige Nennung Boteros und Hippolyt a Collibus' im Zusammenhang von Bevölkerung und Steuer. 182 Die Erörterung der Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen der Personen, welche die Staatsgeschäfte betreiben, setzt bei den Fürsten ein. Zunächst werden erneut die antiken Theoretiker Plato und Aristoteles, ferner Xenophon und «alle lateinischen Panegyriker» als einschlägige Wissensvermittler aufgelistet. Dann folgen ohne nähere Qualifikationsmerkmale Agostino Nipho und Machiavelli als Darsteller des empirischen Fürsten sowie Erasmus, Sebastian Foxio, Georgio Natta, Jacob Omphalius, Wimpfeling, Frachetta u . a . neben Roberto Bellarmino, Pedro de Ribadeneira und Carolus Scribanus als Au-

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Bibliographia S. 103f.; Bissel S. 56ff. Für die jeweils genannten Verfasser und Werke vgl. neben den zu knappen Angaben bei Bissel die Hinweise bei Stolleis und in Pipers Handbuch der politischen Ideengeschichte Bd. 3, Register. Bibliographia S. 104-107. Bibliographia S. 107f. und Bissel S. 71-74. Neben politischen Bündnissen geht es auch um Handelsabkommen. Bibliographia S. 108f. Anschließend werden die konkreten Kriege Frankreichs gegen das Osmanische Reich, gegen Spanien und gegen die hugenottischen Aufrührer kritisch thematisiert. Bibliographia S. 110 und Bissel S. 76-80.

toren normativer Fürstenbilder. 183 Mit deutlicher Betonung wird anschließend die gleiche Thematik bezogen auf die «ministri sive primi consiliarii Principum» behandelt. Naudé nennt weitgestreute Literatur zur Festigung der Tapferkeit, des Gerechtigkeitssinnes, der politischen Klugheit und der Redefähigkeit dieser Männer. 184 Gesondert hervorgehoben wird der Botschafter unter Hinweis auf die angeblich höchst umfangreiche Literatur. Zum Abschluß folgen nur teilweise bibliographisch belegte Hinweise auf edierte diplomatische Berichte, auf die sachgerechte, wennötig in Geheimschrift vorzunehmende Abfassung dieser Berichte und schließlich aller politischen Depeschen, Briefe und Dokumente. 185 Nach diesen media specialia kommen die media universalia zur Sprache, deren sich alle am politischen Geschäft Beteiligten zu befleißigen haben: Höflichkeit und feine Lebensart, um sich ungehemmt in Gesellschaft bewegen und damit die eigenen Interessen besser umsetzen zu können; praktische Psychologie, um die geheimen Gedanken, Gefühle und Interessen der Menschen aufdecken und ausnutzen zu können; historisch-empirische Kenntnisse über die Völker und die Fähigkeit zur Anpassung an ihren unterschiedlichen Charakter, unter erneutem Hinweis auf Bodin; politisch relevante, historisch-statistische Kenntnisse über alle Verhältnisse des Staates und seiner Nachbarn (cognitio materiae reipublicae); Kenntnis der Darstellungsmethoden der Historiker, deren Werke zur Information über diese Tatbestände herangezogen werden, und schließlich ausgedehnte genealogische Kenntnisse, um die Zusammenhänge und Tendenzen der großen Familien ins Kalkül ziehen zu können. 1 8 6 In die Systematik und inhaltliche Zusammenstellung der Politikliteratur, die wenig später Hermann Conring für die aristotelisch-politische Hauptströmung im Reich verbindlich machte, gingen diese Anregungen Naudés direkt ein. 187

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Zusammenfassend Bissel, Bibliographia S.62f. Hier auch der Hinweis auf die sehr wahrscheinlich unzutreffende Angabe Naudés, er kenne das Werk «Le Prince» des Jean Louis Guez de Balzac nicht, das vermutlich in direkter Förderung durch Richelieu entstand. Separat nennt Naudé noch die Opera mónita weiser Staatsmänner oder politischer Denker und die Apophtegmata (Denksprüche) weiser Fürsten als wichtige Informationsmittel der Prinzen, s. Bibliographia S. 113f. Bibliographia S. 116ff., vgl. die Zusammenfassung bei Bissel S. 65ff. Auf den komplizierten bibliographischen Inhalt ist hier nicht einzugehen. Bibliographia S. 118-120. Selbstverständlich fehlt der Hinweis auf speziell die venezianischen Relationen nicht. Bibliographia S. 120-129. Zum Problemkreis (1.) werden u. a. Stephano Guazzi, Antonio Guevara und Baidassare Castiglione, zu (2.) Scipio Claramont und Gardano, zu (4.) G. Botero, Francesco Sansovino, Giucciardini sowie - mit Nachdruck als Kombinator von Geschichte und politischer Klugheit (S. 126) - Tacitus aufgelistet. D i e übrigen Hinweise streuen zu stark, um hier wiederholt zu werden. Vgl. die Erläuterungen Conrings in dessen D e civili prudentia S. 400f., 416 u. ö. sowie ders., D e autoribus S. 32, vgl. zusammenfassend Arnd, Bibliotheca politico-heraldica S. 24. Auch die Bibliotheksordnung Naudés ( s . o . ! ) sei vorbildlich; Richelieus und Mazarins Buchbestände, die von Naudé betreut wurden, stellten eine Pilgerstätte für Gelehrte aus allen europäischen Ländern dar.

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Die stärker wissenschaftlich-theoretische Orientierung des Helmstedters führt allerdings dazu, daß bei ihm auch formale Gesichtspunkte, wie die Unterscheidung verschiedener Literaturgattungen und Textsorten, Berücksichtigung finden. Außerdem konzentriert sich sein Erkenntnisinteresse aus eben diesem Grunde auf die Opera systematica, die entsprechend ausführlich behandelt werden. Der bedeutendste Autor im Bereich der «dogmatici scriptores, praecepta universalia legesque communes civilis doctrinae tradentes» ist selbstverständlich Aristoteles, wiewohl das Urteil über ihn allmählich kritischer wird. Da viele seiner Bücher nicht überliefert sind, heißt es «nec ex Aristotele integram doctrinam politicam haurire possimus». 188 Generell ist außerdem zu beachten, daß der historische Wandel seit der Antike und die z.T. fragwürdige Methode der antiken Autoren deren Nutzen immer deutlicher einschränken. Als erster moderner Systematiker (in Frankreich) gilt - im Anschluß an Naudé - Bodin. Dieser habe ein «novum opus politicum ex proprio ingenio» zu schreiben versucht, sich dabei aber mehrere Schwächen zuschulden kommen lassen: er mische Politikfremdes, d . h . konkret Rechtsfragen, in seine Ausführungen ein; er halte sich nicht an die richtige, sprich: aristotelische Ordnung jeder systematischen Politikdarstellung; er berücksichtige nicht alle Staatsformen und deren Gründungs- und Erhaltungsprobleme ; er erweise sich auch in der Logik nicht erfahren genug, und er werde den deutschen Verhältnissen oft nicht gerecht. 189 Der zweite wichtige moderne Systematiker aus Frankreich sei Pierre Grégoire. Er beziehe freilich ebenfalls viele Probleme mit ein, «quae ad cognitionem rerum publicarum in genere nihil faciunt», also konkret erneut die Rechtsangelegenheiten. 190 Im deutschen Raum kommt wegen seiner «aristotelische(n) Methode, Universalität, Systematik und historische(n) Veranlagung» Conrings Vorgänger Arnisaeus der eindeutige Vorrang zu, wiewohl auch ihn Kritik trifft. Die Sorgfalt seiner Argumentation und die Sicherheit seines Urteils seien zu loben. Insofern rage er aus allen anderen jüngeren Autoren hervor. Dennoch bringe auch er vieles Wichtige überhaupt nicht oder nicht in der richtigen Weise, besonders was das Verhältnis von Jus publicum und Prudentia civilis betrifft. Mit anderen Wor-

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Conring-Rinck, D e civili Philosophia S. 43 (erstes Zitat); Conring, D e autoribus S. 31 (zweites Zitat). Die Disputatio de natura ac autoribus von 1639 ist noch wesentlich unkritischer, vgl. dort zu Aristoteles, seinen Nachfolgern und Kommentatoren S. lOff. Auch Plato und Cicero sind hier noch als unverzichtbar genannt, während sie später nur noch gestreift werden. Conring-Strube, D e natura S. 12f.; Conring, D e civili prudentia, S. 420f. ; ConringRinck, D e civili Philosophia S. 43. Auch Bodins Daemonomania wird als ein liber impiorum arcanorum verurteilt. Die konsequente Unterscheidung der Autoren nach Nationalität ist im frühesten Werk noch nicht durchgeführt. D e natura S. 13; D e civili prudentia und D e civili Philosophia wie vorhergehende Fußnote.

ten, auch er berücksichtige noch zu stark juristische und damit fachfremde Materien. 191 Die übrigen bedeutenden deutschen Systematiker sind Adam Contzen, Georg Schönborner, Balthasar Cellarius, Daniel Ciasen, der Niederländer Marcus Zuerius Boxhorn und - mit Abstand - Christoph Besold. 192 Daneben werden die - als unvollständig und wegen ihrer Volkssouveränitätsdoktrin irrig und aufruhrträchtig verurteilten - Politiken des Althusius und des Hoenonius (Houtuyn) genannt. 193 Diesen allen sei aber Bartholomäus Keckermann vorzuziehen «multum tarnen itidem distans a perfecta methodo». Obwohl es eigentlich keine «Politica integra» darstelle, hebt Conring schließlich auch noch Arnold Clapmars «opusculum» De arcanis rerumpublicarum als elegant, systematisch und nützlich hervor. 194 Die Opera de principatu werden in historischer Sicht von Machiavellis Principe, aus wissenschaftlicher Perspektive jedoch von des Lipsius Libri Politicorum angeführt. Conring ist sich aber über die den Zusammenhang ihrer formalen Literaturklasse bei weitem übersteigende Qualität dieser Werke im klaren. Deshalb widmet er ihnen kritische Aufmerksamkeit wie keinem der übrigen besprochenen Werke. Wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung sei auf diese kritischen Erörterungen hier im einzelnen eingegangen. In der Disputado de natura von 1639 wird Machiavelli als erster moderner Autor genannt. Der Florentiner habe zwar keinen Kommentar zu Aristoteles geschrieben, aber doch «plurima . . . spectantia ad civilem prudentiam». Er sei ein großer Kenner der Ursachen des Untergangs von Staaten gewesen. Weil Machiavelli mit den Betrügereien und Verbrechen lasterhafter Politiker vertraut gewesen sei, habe er diese ausführlich beschrieben, ohne sie jedoch hinreichend zu verurteilen. In seinem Hauptwerk, dessen Titel eigentlich lauten müsse, habe er Betrug und Verbrechen zur Stabilisierung der Tyrannei empfohlen. Deshalb sei dieser Autor wie ein Schriftsteller zu lesen, der

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D e natura S. 13; D e civili prudentia S. 420f.; D e autoribus S. 31; Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 419 (Zitat). Zu vermerken ist, daß in der frühesten Arbeit vor Arnisaeus Lipsius (s. u.) aufgeführt wird. In D e civili Philosophia und D e natura S. 13 wird Contzen unmittelbar neben seinem Kollegen Gregoire aufgeführt und mit der gleichen Kritik bedacht; D e civili Philosophia S. 43f.; D e civili Prudentia S. 420. D e civili prudentia S. 421 (Althusius' Buch ist «turbando orbi aptus»); D e civili Philosophia S. 42 (Althusius und seine Anhänger verbreiteten «pernitiosa dogmata, seditiosae plebis tumultus alentia, a doctis viris jam diu sunt proflicta»); D e autoribus S. 31 («capitalem errorem habent hae politicae . . . , quod populum semper debeat esse summa rei publicae, quale quidem, nec in toto orbe observatur»). Philipp Heinrich Hoenonius (1576-1648/49), Professor der Pandekten und der Politik in Herborn, publizierte 1608 stark an Althusius orientierte Libri duo disputationeum, die hier offenkundig gemeint sind, vgl. sowohl zu ihm als auch zum Schicksal des Althusius K.-W. Dahm (Hg.): Politische Theorie des Johannes Althusius (1988), Register. D e civili prudentia S . 4 2 1 (Zitate). In den übrigen Beiträgen fehlen diese Namen an dieser Stelle.

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über Gift schreibt, und man müsse sich parallel dazu Bücher wie den chiavel

Anti-Ma-

Innocent Gentillets (1576) vornehmen. 1 9 5 D i e mit Rinck veranstaltete

Dissertatio

zitiert hintereinander die Urteile Matthias Berneggers, Lipsius', Cy-

riacus Lentulus', Campanellas und Gentillets über Machiavelli und verweist schließlich auf die Praefatio Conrings zu dessen Edition von Machiavellis Princeps:1% «Acerrimi alias judicii Politicus, ex Berneggen sententia, fuit. De ilio Iustus Lipsius in Praef. ad Politicam suam, inquit: Unius Machiavelli ingenium non contemno, acre, subtile, igneum: & qui utinam Principem suum recta duxisset ad templum illud virtutis & honoris: sed nimis saepe deflexit, & dum commodi illas semitas intente sequitur, aberravit a regia hac via. In quam sententiam, inclinare etiam videtur Cyriacus Lentulus, in Praef. Polit, ad Lectorem: Machiavelli, inquiens, de Militia & de Historia florentina patrio sermone scripti libelli parum quod sugillare queas, proferunt. Discursus in Livium, multum promunt acuminis, multum salutaris doctrinae, nisi, quod plebejae licentiae faventior, nondum exspirantem, quamvis affectam Florentiae libertatem ante oculos, ut sub Augusto Livius Romanam, habuisse videatur. In Principe, in diversos plane scopulos abreptus, ab impio in Deum sensu & subjecto tyrannidi fomento, etiam Campanella. Sic enim libro de Monarchia hispanica inquit: Machiavelli suggestiones & cautelae, nil bonae conscientiae in se continent; dissimulant insuper etiam tyrannidem & crudelitatem Principum. Unde satis mirari nequeo, extitisse, qui autorem hunc impium cum suis consiliis, in coelum usque evehant, ac si norma & idea, quaedam essent bene ac feliciter regendi. Sed nos, potius cum Clarissimo beatae memoriae Boeclero miramur, quid callido & ad fraudem acuto Campanellae venerit in mentem Qui [sic!], cum vidisset, Machiavellum ob perniciosa Consilia apud plerosque vapulare, ipse verlut mangonio quodam adornata, quae Machiavellus nuda protulerat, ita denuo in theatrum induxit, ut & reprehenderet subinde Machiavellum, & Machiavelli tamen placita sub diversis nominibus teneret. LXXXVI. Iniquum interim est, illud Gentilleti: Machiavellum fuisse tenuissimi raunicipii ac pagi scribam, nec ullum rerum usum assequi potuisse, quoniam nihil ferme sua aetate, nisi forte aliquas civitatum & minutorum Italiae Principum rixas ac Florentinorum quorundam civium Consilia & factiones viderit. Quicquid fit, constat tamen, Machiavellum a secretissimis consiliis fuisse nobilissimae & per Italiani potentissimae Florentinae reipublicae, atque ad illius res maximas admotum: in quam Machiavelli aetatem, horribiles universae Italiae conversiones inciderunt. Sicut recte de eo testatur Amplissimus Dn. Praeses in Praefat. ad Machiavelli Principem. ut adeo in opis judicii argumentum prodat ille, qui putaverit Machiavellum nullum usum nullamque experientiam habuisse.»

Wie bereits M. Stolleis herausarbeitete, vertritt Conring eine ambivalente Positon: Er «respektiert Machiavelli als einen der Großen der Geistesgeschichte und

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De natura S. 12ff. ; De autoribus politicis S. 31 (Machiavelli ist ein Autor «egregius, sed Vitiosus») vgl. aus der Literatur die Bemerkungen bei Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson S. 184f. De civili Philosophia S. 41f. (folgende Zitate); vgl. die Princeps-Edition in Conrings Opera II, S. 973-1077.

verteidigt ihn gegen oberflächliche Angriffe. Er hält sich an die L i n i e , . . . antimachiavellistische Kritik in Einzelpunkten zuzugeben, aber an Machiavelli doch ganz entschieden den scharfsinnigen Analytiker, den erfahrenen Politiker, den tiefen Menschenkenner sowie den großen Stilisten hervorzuheben.»197 Justus Lipsius ist in der Disputatio de natura (1639) als zweiter moderner Autor nach Bodin aufgeführt. Der Niederländer schrieb zwar «políticos Libros eleganter», habe sich aber nur mit bestimmten Aspekten des Principats, d.h. der Monarchie, befaßt. So liege der eigentliche Wert seiner Beiträge in ihren umfassenden Sammlungen politischer Sentenzen und Axiomata, deren Nutzen kaum hoch genug geschätzt werden könne. Am Ende der Ausführungen zu älterer, jüngerer und historisch-staatsbeschreibender Literatur bezieht sich Conring nochmals auf Lipsius: Lipsius' Urteil sei nicht nur im Hinblick auf diese Art der Historiographie, sondern ganz allgemein (omnino) maßgebend. 198 Erst in seinen späteren Schriften ordnet Conring den Lipsius der zweiten Literaturklasse nach den Opera systematica, den Opera de principatu, zu. Aber auch hier ist das Urteil noch ambivalent, weil Lipsius' Werk eben mehr darstelle als eine Analyse des Principats: «Qui particulam saltim scientiae politicae elaborunt, multi fuerunt. Inter hos circa regna occupati sunt multi. Hos inter eminet Justi Lipsii Politica, quae tantum circa principatum occupata sunt. Sed multa tarnen, q u a e ad principatus pertinent, omisit, nec varias etiam species observavit regnorum, seu Principatum, cum tarnen alia regna sint Simplicia, alia mixta, alia sint composita ad utilitatem regnantium, alia ad utilitatem populi, et sic nec debent e o d e m m o d o administrari. Lipsius vero disseritita de regno seu principatu, quasi omnia unius generis sint et e o d e m m o d o etiam debeant administrari. A Lipsio etiam multa sunt tradita, q u a e non ad principat. pertinent saltim, sed sunt reliquis speciebus rerump. comunia. Sed tarnen egregia sunt et prosunt politica Lipsii.» 1 9 9

In den folgenden Literaturklassen sind nur selten Bewertungen eingefügt oder Autoren eindeutig identifiziert. Da diese Dimensionen der politiktheoretischen Produktion ohnehin nicht im Zentrum unserer Betrachtung stehen und weitere,

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Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson S. 184f. (Zitat); vgl. dort auch zur weiteren Auseinandersetzung Conrings mit Machiavelli, die uns hier nicht weiter interessiert. D e natura S. 12ff. und 16: «Qui vero scriptores [i.e.: historici] prae aliis hic valeant, optime expositum est a J U S T O L I P S I O in notis ad politica, cuius iudicio o m n i n o est standum» (Hervorhebung im Original). Ich vermute, d a ß diese und die gesamte praktisch-politisch-neustoizistische A k z e n t u i e r u n g dieser f r ü h e n Schrift mit den Zeitumständen, d e m großen Krieg, zusammenhängt. Auch bei Conring herrscht zunächst ein praktisches Interesse an der Politica vor, bis stärker akademisch-fachwissenschaftliche Bedürfnisse h i n z u k o m m e n , vgl. zu seiner praktischen Tätigkeit einleuchtend G . Scheel: H . Conring als politisch-praktischer Ratgeber (1983). D e autoribus politicis S. 31. Die weiteren A u t o r e n D e principatu sind wie gesagt Machiavelli sowie Juan de Mariana (1536-1624), gemeint ist dessen D e rege et regiis institutione (1599), vgl. zu ihm k n a p p U . B e r m b a c h : Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat (1985) S. 152ff.

59

besser dokumentierte Listen vorliegen (s.u.), seien nur die Klassen selbst genannt: 200 -

Ratio-Status-Werke; Opera de Regimine principum; opera ethica; Dissertationensammlungen; Kommentare; Apophtegmata; Aphorismensammlungen; Mónita regum; Tragödien (!); Orationes; Opuscula consultatoria; Briefsammlungen; pragmatisch-politische Historien; Gesetzessammlungen; Opera singularium rerumpublicarum, vera et ficta histórica.

und

Wie die Beiträge aus Helmstedt, so bewegen sich zunächst auch jene aus Straßburg und vor allem Jena noch im Zwischenbereich von Propädeutik, Theorie und Bibliographie der Politica. Mit Böses Diatribae bringt diese neustoizistischtacitistische Richtung jedoch die insgesamt bedeutendste, weil methodisch am konsequentesten durchgearbeitete theoretisch-bibliographische Anleitungsschrift hervor. Boeder, von dem zunächst die Rede sein soll, empfiehlt seinen adeligen Studenten die Propädeutiken des Caselius, Johann Sturms, Colers und Clapmars zur Organisation des Studiums und der Lektüre. Er unterscheidet Opera über Praecepta politica universalia, deren wichtigste Autoren Aristoteles sowie Arnisaeus, Keckermann und Timpler seien; Opera über Praecepta politica exempta mit Lipsius an der Spitze; Thesauri politici wie vor allem diejenigen Contzens und Bodins, wobei der letztere allerdings «non lectorem modo, sed & judicem requiret»; schließlich eine Vielzahl weiterer Literaturgattungen ohne oder nur mit wenigen genauen Autorenangaben: Opera de viro aulico und über das Hofleben insgesamt; Opera über die Charaktere der Menschen; Opera de consiliario und de legatis; Opera de censu; Opera de Ratione status; Opera ethica für das Individuum; historische und historiographische Werke mit unterschiedlichen Themen; Opera zur Eloquenz, dem «verum instrumentum politici»; Fürstenspiegel; sonstige Praecepte-Sammlungen, schließlich theologische Literatur einschließlich der Bibel. «In caeteris omnibus materia vel ex Lipsii Politicis (sunt enim hue valde accomodata) vel aliunde cognita (est).» Eminent

200

60

Vgl. besonders De civili prudentia S. 400f., 416 und De autoribus S. 32.

nützlich sei auch die Schrift Naudés «ad consilium ordinandae Bibliothecae portabilis».2111 Nach Bose ist die Prudentia politica bzw. civilis auf drei Arten zu erwerben: «doctrina, conversatione & usu». Der wahrhaft weise, wohl vorbereitete Politicus ist derjenige, «cuius animo primo doctrina probe imbuerit, de ride firmaverit conversatio, usus denique perfecerit». Die Doctrina und die Conversatio werden von den Universitäten vermittelt. Erstere bezieht sich wie üblich auf die Universalia der Politik, wird aber keineswegs nur aus Büchern, sondern auch «e praeceptoribus vivis» erworben. 202 Bose integriert somit die Wissenschaft von der Politik und ihre Fachvertreter systematischer als andere in den politischen Erfahrungszusammenhang, worauf nicht zuletzt die zeitgenössische Attraktivität seines Beitrags beruhen dürfte. Die «libri, civilis prudentiae studioso utiles» zerfallen in verschiedene Gattungen. «Alii enim per praecepta & observationes generales, alii per exempla, alii per sententias aut etiam parabolas, nunc docendo & instruendo, nunc hortando aut suadendo, nunc laudando vituperandoque, aliisque modis prudentia instillant.» Expressis verbis möchte Bose «in unoquoque genere selectiores & optimos indica(r)e». 203 Den Geleitzug führen (agmen ducant) wie üblich die Scriptoressystematici an. Das sind - jetzt erstmals in dieser Form ausdrücklich genannt - diejenigen Autoren, «qui scientiam politicam iusto ordine & methodo iusta digesserunt». 204 In diesem Bereich nennt und kommentiert Bose wenigstens zum Teil als «minora compendia» die Doctrina politica des Arnisaeus, das Systema Β. Keckermanns, die Libri des J. Lipsius und die Institutiones politicae Μ. Z. Boxhorns. Boxhorn und Lipsius seien dabei «magis ad civitatis gubernationem, civilisque actus prudentiam» gerichtet, die übrigen «magis ad civitatis rerumque civiliam historiam & theoriam». Des Lipsius' Unvollständigkeit vor allem in der Behandlung aller Staatsformen wird zur Kenntnis genommen, aber in Form eines Optativs positiv gewendet: «Opus utinam tarn completum & omnibus rerumpup. formis adcommodatum, quam est accuratum, & plane e genuinis fontibus deductum». 205

201

B o e d e r , Dissertatio epistolica S. 3 4 2 - 3 5 2 , Zitate S. 346 und 352. Die Autoren der Praecepta universalia seien auch nach der Sprache unterscheidbar. Vgl. auch ders., Dissertatio de scientia S. 310 («perfecti ergo operis Politici gloria relicta est Aristotelis».), S. 313f.: D i e Opera systematica hätten die Gegenwart förmlich überschwemmt, wiewohl ihre Methode nicht immer originär und fruchtbar sei. Genannt sind Bodin, Tholosanus und A . F. Modrzewski, also ausschließlich Autoren D e república. Über die übrigen Systematiken informierten (S. 314) die Consilia Colers, Clapmars usw.

202

Diatribae S. lf. Diatribae S. 3. Diatribae S. 3. S. 4. Die Unterscheidung der genannten beiden Tendenzen dieser Kompendien bezieht Bose nach eigener Angabe ebd. von Boeclers Dissertatio de politicis Lipsanis, wo auch der hervorragende Nutzen des lipsianischen Werkes ausführlich dargestellt sei.

203 204 2115

61

Zu den Autoren umfassender Systematiken und Kompendien zählt Bose ex antiquis wie üblich Plato und Aristoteles, wobei der Preis des letzteren sich auf entsprechende Äußerungen Conrings bezieht. Der dritte Autor dieser Unterklasse ist erwartungsgemäß Cicero. 206 «E recentioribus scriptoribus systematicis nominari: prae ceteris meretur Ioannes Bodinus in opere de república.» Allerdings erfordert auch für Bose dieses Werk «non minus censorem, quam lectorem». Denn es ermangle der rechten Ordnung, mische viel Fremdes (aliena) ein, wechsele zu abrupt von einem Thema zum anderen, gefalle sich in der Ausbreitung von Geschichten, decke aber dennoch nicht die gesamte Bandbreite der Prudentia civilis und der Staatsformen ab, «& c». Die zweitwichtigste umfassende Systematik ist das Werk des Petrus Tholosanus, und zwar besonders dann, «si auctoritate Doctorum aut apparatu & instructu argumentorum opus est», also wegen ihrer gelehrten Fülle. Des Tholosanus Nachfolger Adam Contzen reicht nicht an diesen heran; beide traktieren vieles sowieso eher juristisch als politisch. 207 «Non inutiliter» sind im Hinblick auf ihre Gelehrsamkeit auch Wolfgang Heiders Systema philosophiae politicae und des Arnisaeus leider unvollendet gebliebene Relectionespoliticae (sie!). Schließlich ist zu den ernstzunehmenden Politiken auch die «Republik» des Andreas Fricius Modrevius zu rechnen, während der Lipisus-Imitator Johannes a Chokier in seinem Thesaurus bedauerlicherweise «quod Optimum in Lipsio habendum, omisit», nämlich fundiertes Urteil und praktisches Gespür. 208 An dieser Stelle setzt die nachfolgende Gattung der historisch-politischen Praecepta & exemplapolitica an. Es sei nämlich eine Täuschung, wenn Autoren oder Leser von Kompendien und Systematiken sich hinreichend zur Politik befähigt fühlten, ohne sich mit dieser praktisch-konkreten Art der Opera Politica befaßt zu haben. Für die Praxis der Herrschaft und des zivilen Lebens (ad regimen Imperiorum vitamque civilem) ist diese Gattung politisch-historischer Literatur sogar noch bedeutsamer. Deshalb befaßt sich Bose breit mit ihr und untergliedert sie weitläufig. Ihr gemeinsames Merkmal ist, daß sie «veritate, explanatione & judicio p o l l e n t , . . . observant non solum quid factum sit, sed etiam qua occasione, quo Consilio, quo praetextu & quo eventu: simul & iudicia de cuiusque consilii & gestis ex sententia prudentum virorum subinde adnectunt». 209 Ihr Gliederungsschema ist das folgende:

206 207 208

209

62

S. 4 - 6 , mit Auflistung aller wichtigen Aristoteles-Kommentare. S. 6 (alle Zitate). S. 7 (alle Zitate). Bei Modrevius ist vermerkt: «Egregie enim disputât, magnaque Libértate in vulgares errores políticos invehitur.» Zu Heider vgl. den einschlägigen Abschnitt unten 2.2.7. Diatribae S. 8 (Zitat), 9 - 3 7 .

I. Verfasser profaner Ereignis-, Epochen- und Ländergeschichten faktographischen Charakters. A

Veteres a) b)

Graeci Romani mit jeweils 1.) den besten Editionen 2.) den besten Kommentaren, Notae, Dissertationes

Β

e media aetate

C

nostro & superiori a)

Galli

b)

Italiani

c)

Britanni

Observationes,

u.a.

saeculo

d) Belgi (Niederlande) e)

Frisi/Dani

f)

Poloni

g)

Germani

II. Historiker der römischen Kirche «a quibus Consilia resque rerum publicarum magnam partem pendent». 2 1 0 A Biographen der Päpste Β

Konzilshistoriker

III. Biographen profaner illustrium A Β

Virorum.

Veteres Recentiores

IV. Universalhistoriker V. Historiker, «qui respublicas integras, earumque statum, origines, progressus, ex professo describunt». 211 A

Veteres

Β proximi

temporis

VI. Verfasser von Staatsbeschreibungen. A

übergreifend

Β

einzelne Staaten

VII. Historiker «ad statum religionis in universo occidente». 212 VIII. Historiker, «qui veteres & Hodiernas respublicas invicem compara(nt)». 2 1 3 IX. Verfasser politischer Utopien. 210 211 212 213

S. 24. Die Untergliederung dieser Klasse ist nicht völlig klar. Diatribae S. 30. S. 35. S. 36. Diese vergleichenden Texte sind der politisch-ideengeschichtlichen Forschung bisher praktisch völlig entgangen.

63

Die dritte Gattung umfassender politischer Literatur ist nach Bose diejenige, die Exempla und Praecepta miteinander mischt, also an historischer Genauigkeit verliert, dafür aber «in iudicio de rebus informando» hinzugewinnt. 214 Ihre erste Abteilung umfaßt Werke, «qui certa argumenta politica seorsum tractant, ν. g. de officio principis, consiliarii, legati, aulici, secretarii, de bello & pace, de foederibus, de maiestate, eiusque iuribus, de legibus, de iudiciis, & c». Verfasser und Werke nennt Bose hier nicht, stattdessen verweist er auf die Angaben bei Gabriel Naudé, die jedoch höchst lückenhaft seien, Christoph Coler und anderen «Scriptor(es) de ratione studiorum politicorum». 215 Eine zweite Abteilung ohne speziellen Titel vereinigt Ciceros De officiis und andere ethisch-politische Beiträge. Die dritte Abteilung wird von allgemeinen Werken «sine certo ordine ac delectu» gebildet, die vierte von solchen, «qui praecepta & observationes políticas pariter nulla certa iustaque methodo, sed breviter & per modum aphorismorum, axiomatum, apophtegmatum collegerunt: idque alii nude, alii cum appertatu instructuque exemplorum». Sie ist entsprechend untergliedert in Aphorismi, Axiomata politica und Apophthegmata.216 Ob die folgende Gruppe der Sententiae sacrae zu diesen gemischten Praecepta und Exempla gerechnet wird oder eine eigene Klasse bildet, bleibt unklar. Als vierte große Gattung politischer Literatur werden von Bose diejenigen Bücher genannt, welche «mire instruunt animum & ad interiorem prudentiam singulari quadem ratione praeparant». 2 1 7 Ihre erste Abteilung umfaßt Beiträge, «qui arcanas artes Imperantium, consiliaque cum ordinaria tum extraordinaria gubernationis exponunt. Idque vel in thesi, vel in hypothesi, seu cum adplicatione ad certa Imperia, eorumque principes aut ministros.» Gemeint ist die Staatsräson- und Arcana-Imperii-Literatur, genannt sind Machiavelli und die italienischen Staatsräsonisten sowie, sogar an erster Stelle, Arnold Clapmar. 218 In die zweite Abteilung fallen Darstellungen, die «sive aperte sive sub fictis nominibus variarum rerumpublicarum & principum virtutes & vitia, Consilia & artes, bene aut male gesta, itemque ministrorum fraudes & scelera exponunt». 219 Die dritte und letzte Gruppe enthält Werke zur Entscheidungsfindung «in rebus civilibus» und zur Umsetzung dieser Entscheidungen in Instruktionen und Mandate. 220 Die fünfte Gattung vereinigt die politisch relevanten Werke «de moribus, adfectibus & ingeniis hominum . . . docetque, qui varii sint hominum mores adfectusque pro diversitate patriae, familiae, professionis, status, sexus, aetatis, aliarumque circumstantiarum, quibusque modis unius cuiusque in genium, &

2.4 2.5 216 217 218 2,9 220

64

S. 37. S. 37f. Diatribae S. 39f. (Zitate). S. 40 (Zitat). S. 40f. (Zitat). Diatribae S. 42f. (Zitat). S. 43. Auch die Mandate selbst sind miteingeschlossen.

indoles cognosci queat». 221 Ihre Abteilungen orientieren sich an diesen Unterscheidungsmerkmalen . Eine sechste große Gattung bildet der Jenenser Gelehrte aus denjenigen Schriften, die nicht «ex professo ad usum politicum» geschrieben wurden, aber doch von erheblicher Bedeutung dafür seien, nämlich bestimmte Opera oratoria, Opera poetica, Epistola und Werke, die allgemein Regeln für das öffentliche Leben vermitteln. 222 Erst an siebter Stelle führt Bose als eigene Gattung das Schrifttum zum Jus divinum, naturalis, gentium, publicum und civilis auf, mit der Begründung «cum prudens [!] sit, non solum quid utile, rebusque suis proficuum sit, dispicere, sed etiam quid liceat aut non liceat, & ad quae quisque obligetur aut non obligetur». 223 Die nachfolgende Auflistung von Literatur «ad cognitionem pietatis & providentiae divinae» dürfte ebenfalls als eigene Gattung zu verstehen sein. Das Werk schließt mit weiteren allgemeinen Hinweisen, darunter erneut die Empfehlung der bekannten Instruktionen von Coler bis Naudé. 2 2 4 Im Vergleich zu diesem bedeutenden Systematisierungsversuch könnten die verbleibenden theoretisch-methodischen Schriften auf den ersten Blick vernachlässigt werden. Sie unterstreichen jedoch nicht nur die anhaltende generelle Verbindlichkeit der bisher rekonstruierten zeitgenössischen Urteile, sondern spiegeln auch deren Spannungslagen und den Wandel, der sich wegen dieser Spannungen anbahnt. In den lateinischen Werken wird an der Unterscheidung von theoretisch-systematisch-dogmatischen Werken der universalen politischen Doktrin und praktisch-partikularen Literaturgruppen festgehalten. Die jeweils genannten großen Theoretiker sind weitgehend mit den bisher aufgeführten identisch, es treten jedoch bisweilen neue Namen hinzu. Dabei handelt es sich um Verfasser neuerschienener Systematiken herkömmlichen Stils, wie J. F. Horn, 225 J.Chr. Becmann, J. H. Aisted, Chr. Liebenthal, A. Rechenberg und J. N. Hertius, um Verfasser politischer Gesamtdarstellungen weiterentwickelten Typs wie z . B . C h r . Weise und schließlich um Verfasser juristischer und philosophischer Werke wie Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Ulrich Huber, Jacob Thomasius und J.F. Budd(a)eus, die jetzt zur theoretischen Politik gezählt werden. 226 Diese 221 222

223 224

225

226

Diatribae S. 4 4 - 4 6 , Zitat S. 44. Diatribae S. 4 6 - 5 3 , Zitat S. 46. Auch dieser Bestand ist teilweise nach Epochen untergliedert. Zur letzten Abteilung zählen auch die Sentenzensammlungen. S. 5 3 - 5 6 , Zitat S. 53. Das Folgende auf S. 56. Diatribae S. 56-61; S. 59f. faßt Bose diejenigen Werke nochmals zusammen, die annähernd alle genannten Bereiche behandeln. An erster Stelle sind Arnisaeus, Keckermann, Lipsius, Boxhorn und Aristoteles (!) genannt. J.F. Horn (1633-1664) legte 1664 seine vielbeachtete absolutistische Politicorum pars architectonica vor, vgl. AlthB 5577 und Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform S.233 sowie Chr. Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (1979) S. 79f. Anm. 64. Zu den übrigen einschlägigen Verfassern s. oben Kapitel 2 und 3. Boeckelen, Oratio bietet keine ausdrückliche politische Autorenliste, bewegt sich aber

65

Verschiebungen ergeben sich vornehmlich aus zwei Tendenzen. Die wachsende Einsicht in die Eigenart und Kompliziertheit der zeitgenössischen europäischen und einzelstaatlichen Verhältnisse reduziert die Reichweite und Relevanz der universalen Normen und Klugheitsregeln der Dogmatiken. Gleichzeitig werden deren methodische Grundlagen in wachsendem Maße als unzureichend empfunden. Das hat zur Folge, daß das Normensystem unter Zuhilfenahme moderner rechtlicher und philosophischer Elemente stringenter durchorganisiert wird und die praxisrelevanten Klugheitsregeln verstärkt auf der Ebene der einzelstaatlichen Literatur thematisiert werden. 227 Diese Tendenzen begünstigen die endgültige Verdrängung der Utilitas durch die Justitia, nachdem traditionell längst die wahre Utilitas mit der Justitia gleichgesetzt wurde, und die mit diesem Vorgang verbundene beschleunigte Auslagerung des íMítas-Konzepts aus dem politischen in den gesellschaftlich-persönlichen Bereich. 228 Die praktisch-partikularen Literaturklassen bleiben in ihrer Struktur zwar grundsätzlich erhalten. Der ungeheure Bestand an humanistischen Praecepta & Exempta tritt jedoch immer deutlicher in den Hintergrund; besonders das fiktional-poetisch-literarische Schrifttum wird schließlich stillschweigend abgestoßen. Der Zwang, Klugheitsregeln im konkreten staatlichen Kontext zu entwickeln, begünstigt die Aufnahme neuen Schrifttums, so z . B . V . L . v o n Seckendorffs Fürstenstaat bei Rechenberg. Die Konkretisierung anhand systematischer Fragestellungen läßt auch die Problematik des Reiches verstärkt hervortreten.229

227

228

229

66

dort, wo er auf die politische Literatur rekurriert, grundsätzlich im bekannten Bereich; Rechenberg, Liber singularis S. 70-78, fügt als erster Pufendorf hinzu (vgl. S. 70f., mit ausdrücklichem Bezug auf Conrings Konzept); Gentzken, Introductio bringt die gesamten Ergänzungen. Für Grotius vgl. neben den Angaben bei Stolleis S. 193-195, 241f. u . ö . H.van Eikema Hommes: H. Grotius. Einige Betrachtungen über die Grundmotive seines Rechtsdenkens (1986) und - trotz seines speziellen Titels auch wesentlich erhellend für das Gesamtwerk - P. Haggenmacher: H. Grotius et la doctrine de la guerre juste (1983). Auf Pufendorf und Buddaeus kommen wir unten zurück. Für U. Huber vgl. Stolleis S.291ff. u . ö . sowie, ausführlich auch zu unserem Zusammenhang, T.J.Veen: Recht en Nut (1976). J. Thomasius (1622-1684) war der Vater des Chr. Thomasius; einer seiner Hauptverdienste liegt in der systematischen Unterscheidung der von der Staatsräson, die jedoch für die Praxis kaum Relevanz erhielt, s. ebenfalls Stolleis S. 108f., mit weiteren Verweisen. Beispielhaft ist die Argumentation bei Rechenberg, Liber signularis ebd., mit ihrer Unterscheidung der Prudentia universalis und Prudentia singularis. Letzterer Vorgang ist wie bereits vermerkt (und weiter unten noch genauer behandelt) die Fortentwicklung des Neustoizismus und Staatsräson-Denkens zur allgemeinen Klugheitslehre der eklektischen Philosophie (vgl. u . a . J.F.Buddaeus unten im Abschnitt 2.2.16.). So vor allem wieder bei Rechenberg, Liber singularis S. 77ff. Rechenberg war mit Sekkendorff freilich auch weitläufig verwandt und bekannt. Die Fragen, die er an konkret staatsbezogene Werke der Prudentia singularis stellt, sind die folgenden: (1.) «de Civitatis & Reipublicae (!) origine et interna structura»; (2.) «de modo gubernandi»; (3.) ob «felicitas sive salus publicae finis Reipublicae» sei oder nicht. E r muß zur Kenntnis nehmen, daß diese Fragen für das Reich immer weniger politisch als nur noch öffent-

In Wagners deutschsprachigem Entwurff einer Staats-Bibliothek hat sich die Abdrängung der universalen Dogmatiken der Politik und der humanistischen Präzeptistik weitgehend durchgesetzt. Nur noch moderne Autoren sind relevant, und zwar bezogen auf und gegliedert nach ihrer Nationalität. Machiavelli, Botero, Boccalini und Campanella werden noch genannt, aber in ihrer Bedeutung für fremde politische Systeme relativiert: «Für Deutschland (wäre) es gut gewesen . . . , wenn sich unsere Teutschen auch in diesem Werke [d.h. der Staatsräson, W.W.] herfurgetan und sehen lassen, und sich nicht bloß auf die Juristerey und Chicane gelegt». Die Nationalität eines Autors ist somit ein Hinweis auf seinen eigentlichen Gültigkeitsbereich: Für Frankreich stehen Bodin und der Absolutismus-Kritiker Charles-Irenée Castel de Saint-Pierre; für Spanien noch Saevedra Fajardo und Balthasar Gracián; für England Morus und Bacon, für die Niederlande Lipsius, Grotius und Boxhorn. 230 Zu Deutschland merkt Wagner an, daß viele der später wichtigen Politikautoren (Clapmar, Coler, Arnisaeus, Reinking, Forstner, Schoppe, Horn, Boeder, Bose, Conring und Seckendorff) ursprünglich aus des Caselius Schule hervorgegangen seien. Von den «neuen» erscheinen ihm besonders wichtig Weise, Buddaeus, Andreas Rüdiger (Klugheit zu leben und zu herrschen, 1722) und Johann Jakob Lehmann ( K u r t z e . . . Anleitung, die allgemeine und Staats-Klugheit gründlich zu erlernen, 1714), ferner trotz seiner aristotelischen Prägung J. N. Hertius. Der beste sei jedoch Theodor Lau mit seiner polizeiwissenschaftlichen Systematik Entwurff einer wohl-eingerichteten Policey (zuerst Frankfurt 1717).231 Damit ist in der deutschen politischen Theorie endgültig ein neues Kapitel aufgeschlagen.

1.4.2. Bibliographie und Literaturgeschichte Es ist nicht die Absicht dieser Studie, die Entstehung der politikwissenschaftlichen Bibliographie und der Literaturgeschichte der Politica nachzuzeichnen, sondern die Klassifizierung und Beurteilung der Politica, die sich dort vollzieht, zu prüfen. Auf eine nähere Untersuchung der Literaturgeschichte, so wünschenswert sie wäre, muß daher verzichtet werden. 232

230

231

232

lich-rechtlich zu beantworten sind, das Reich (s. u. Kapitel 3) keine wirkliche Macht mehr hat. Entwurff 191-197, Zitat S. 191. Zu den genannten Autoren und Werken vgl., soweit sie noch nicht erwähnt wurden, die Angaben bei Stolleis (Register). Für Castel de Saint-Pierres Discours sur la Polysynodie (1718) liegt jetzt eine gut kommentierte deutsche Übersetzung vor, hg.v. H. Hornig und F.-J. Meißner (1988). S. 198. Aus spezielleren Perspektiven wichtig für die «Politic» sind in der Perspektive Wagners die Bibel, Christian Wolff, als Kameralisten «in vorigen Zeiten» Osse und Löhneyss, jetzt aber Becker, Schröder und Hörnigk, vgl. zu diesen knapp Stolleis (Register) und für Rüdiger und Lehmann noch unten 2.2.16. Einschlägige Darstellungen liegen bislang nicht vor, auch ein entsprechender Bedarf wird m. W. nirgends reklamiert.

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Bibliographische Züge und gelegentliche literatur- und wissenschaftsgeschichtliche Einschübe weist bereits ein Teil des oben in den Abschnitten 1.2., 1.3. und 1.4.1. untersuchten Schrifttums auf. Gabriel Naudés theoretisch-praktisches Handbuch von 1633 führt erstmals den Titel Bibliographia Politica. 1672 wird von B o e d e r die Bezeichnung Bibliographia historico-politico-philologica curiosa benutzt. Im selben Jahr ist auch erstmals von einer Bibliotheca politica die Rede, wobei das Substantiv den engen Zusammenhang von Bibliothekskatalog und wissenschaftlicher Literaturverzeichnung signalisiert. Diese Bezeichnung Bibliotheca ist freilich mindestens ein Jahrhundert älter. 233 Insgesamt jedoch ist erst das 18. Jahrhundert auch auf dem Gebiet der Politica das Zeitalter der Bibliographie, Enzyklopädie und Literaturgeschichte. 234 Die früheste für uns interessante selbständige literatur- und wissenschaftsgeschichtliche Studie der Politica erschien 1662 in Tübingen unter dem Titel Dissertano de Studii Politici ortu & progressu. Verfasser sind der Historiker und Politologe Magnus Hesenthaler (1621-1681; Praeside) und ein Heinrich Friedrich Forstner (Respondent). Dieses Werk ist von Bacon beeinflußt. Es möchte mit Hilfe der Wissenschaftsgeschichte aus dem angeblich verwirrenden Gelehrtengezänk der Gegenwart herauskommen und zu neuer Gewißheit (Certitudo) in Theorie und Methode gelangen. 235 Seine Prämisse zielt auf das problematische Verhältnis von Theorie und universaler Norm zu Praxis und konkretem Einzelfall. «Nihil inveniatur in globo materia, quod non habeat parallelum in globo crystallino, sive intellectu. Hoc est, u t . . . nihil perviat in practicam, cuius non sit etiam in doctrina aliqua & theoria.» Praecepta universalia und Exempla müßten deshalb methodisch aufeinander bezogen werden. Dieses Konzept habe bereits Aristoteles geleitet, als dieser das Studium politicum begründete, «sine

233

Vgl. hierzu die oben in der Einleitung angegebene bibliographiegeschichtlichen Darstellungen von Th. Bestermann, The Beginnings (1935), und R. Blum, D i e Literaturverzeichnung (1983). - J. J. Frisius: Bibliotheca instituta et collecta [von] Conrad Gesner (1583) ist ein alphabetischer Katalog, der aber keine politischen Theoretiker enthält. Machiavelli und Bellarmin sind lediglich im Index aufgeführt, im Text aber nicht zu finden. Ph. Labbés (S.J.): Bibliotheca Bibliothecarum (1678; vgl. oben 1.1.) verweist auf Naudé, Beiträge Conrings, J. Lipsius: D e bibliothecis Syntagma (1601) und Chr. A . Rupert: Methodus suscipiendi ac tractandi studii philologico-historico-politici, Nürnberg 1658, das uns nicht zugänglich war, als einschlägige Bibliotheken der Politik. C. a Beughem: Bibliographia Jurídica & Politica (1680) Berichtszeitraum 1651-1679), und M. Lipenius: Bibliotheca realis philosophica omnium materiarum, rerum et titulorum in aniverso totius philosophia ambitu occurentium (2 B d e . , zuerst 1682) zielen auf Vollständigkeit in alphabetischer Ordnung nach allgemeinen Stich- bzw. Schlagworten.

234

Ich verzichte im folgenden auf eine systematische Auflistung des herangezogenen Schrifttums vorweg, um den spezifischen Zuschnitt des jeweiligen Werkes stärker herausarbeiten zu können. Zur Biographie des Pastorensohns Hesenthaler, der Hofmeister eines württembergischen Prinzen war und in Tübingen Geschichte, Politik, Eloquenz und Moral lehrte, vgl. A D B 12, S. 271f. Zur Zielsetzung des Werkes s. auch den Untertitel «Antesignanus Politicus» und die Erläuterung S. 4 dazu.

235

68

quo nec constituí imperia possunt, nec gubernari». 236 Bereits Plato sei Aristoteles gegenüber viel zu abstrakt gewesen, die nachfolgenden Denker und Sekten erfaßten nur noch Teilbereiche der Politik, schließlich meinte man sich in diffusen Mythen, Fabeln und Symbolen ausdrücken zu müssen. Diese höchst unzulänglichen Methoden seien selbst auf die «via paradigmatica» der Politik, die Historie, übertragen worden. Machiavellis Werk zeichne sich demgegenüber durch eindeutigere Argumentation aus. Für Hesenthaler, der ein Anhänger einer christlich-lutherischen Weltsicht ist und seinen Traktat mit einer Anrufung Christi einleitet, gibt der Florentiner aber die Doctrina völlig auf. Deshalb wird sein Principe wieder als ein «liber pestilentissimus» verworfen. 237 Bodins Republik als erstes zeitgenössisches systematisches Werk wird wie gehabt wegen konfuser Methodik und allzu französischer Perspektive kritisiert. Die übrigen Systeme, die «quotidie augentur», möchten die Verfasser mit Rücksicht auf die Mühen der Autoren nicht durch Kritik in Frage stellen. Generell korrigierten die jeweils jüngeren die Fehler ihrer Vorgänger, viele gingen aber zu sehr in die Breite oder seien methodisch doch nicht in der Lage, Theorie und Praxis optimal in Verbindung zu bringen. In den Fußnoten taucht der bekannte Namenbestand auf (Tholosanus, Lipsius, Arnisaeus, Schönborner, Boxhorn). 238 Unüblich ist die anschließende Unterscheidung römischer Autoren, die «Pontifici Romano supremarum potestatum in omni Republ. arbitrium attribuunt», von Autoren, welche «summam potestatem penes populum esse statuunt», von protestantischen Theoretikern und von Autoren des Naturrechts. 239 Hiernach mündet die Diskussion wieder in vertraute Gewässer. Zur Sprache kommen die bekannten pragmatisch-paradigmatischen Historien, Staatsbeschreibungen, Fürstenspiegel, Utopien (!) usw., unter Verweis auf die Bibliographia Naudés. 240 Aus der hier gewählten Perspektive nur von beiläufigem Interesse sind die Judicia de novissimis prudentia civilis scriptoribus (1669) des Wittenberger Historikers Conrad Samuel Schurzfleisch. Im Gegensatz zu den Erwartungen, die ihr Titel weckt, handelt es sich nämlich vornehmlich um persönliche, inhaltlich wenig konkrete und daher kaum argumentativ verwertbare Angriffe auf etablierte Gelehrte der Zeit. Dies sind vor allem Conring, B o e d e r - der Schurz236

Dissertatio de ortu S. 6 - 1 0 ; das Zitat stammt von Bacon. Dissertatio de ortu S. 1 3 - 2 5 , Zitate S. 13 und 23f. Die Fußnoten des Werkes bringen Hinweise auch auf die katholische Machiavelli-Debatte sowie - für das folgende - die römische Anti-Bodin-Literatur. 238 S. 2 4 - 2 7 . Wegen der z.Tl. unzureichenden Methodik mangelt es auch an didaktischer Qualität. Lipsius deckt nicht «universum doctrinae civilis ambitum» (S. 27) ab, taucht aber dennoch erneut wieder auf dieser höchsten Ebene auf. 239 S. 27f. D i e in den Fußnoten aufgelisteten Autoren sind: (1.) Contzen, Scribanus, «aliique»; (2.) Althusius, Brutus, Hotmann, Buchanan «&c.»; (3.) Johannes Gerhard; (4.) Grotius, Johannes Seiden, Th. Hobbes ( D e Cive, Leviathan), Petrus Gassendi (!) und Pufendorf. Hobbes wird u. a. deshalb kritisiert, weil die Fähigkeit des Menschen ignoriere, die angeborene Wolfsnatur ablegen können. 240 § 2 9 - 3 1 . Der Bestand an Autorennamen ist der übliche. 237

69

fleisch gerichtlich zu b e l a n g e n suchte - , Pufendorf und Cyriacus Lentulus, deren zeitgenössische B e d e u t u n g damit unterstrichen wird. 2 4 1 E b e n s o soll hier nur vermerkt w e r d e n , daß n e b e n die Bibliographien der A r i s t o t e l e s - K o m m e n t a r e und Aristoteles-Forschung, die als früheste spezielle politikwissenschaftliche B ü cherverzeichnisse 2 4 2 entstanden, 1701 e i n e reich gegliederte Spezialbibliographie der Staatsräson-Literatur trat. D i e s e Bibliotheca ecipui,

qui de Ratione

Status,

et quae eo pertinent,

statistica,

sive

Autorespra-

in genere & in specie

tradent,

des sachsen-lauenburgischen Rates Caspar Thurmann enthält die wichtigsten Beiträge zu d e n Q u a l i f i k a t i o n e n der h o h e n A m t s i n h a b e r (Minister, R ä t e , D i p l o m a t e n ) und zu politischen Sachfragen, aber naturgemäß nichts zu d e n systematica

&

Opera

compendiosa,243

A n d e r s verhält e s sich mit der Bibliotheca

philosophica

des Jenaer Polyhisto-

rikers und Juristen Burkhard Gotthelf Struve ( 1 6 7 1 - 1 7 3 8 ) . 2 4 4 D i e s e s zuerst 1704, in zweiter A u f l a g e 1706 und in einer wesentlich erweiterten, von L u d w i g Martin Kahle b e s o r g t e n dritten A u s g a b e 1740 e r s c h i e n e n e Werk bietet e i n e n

241

242 243

244

70

Zuerst veröffentlicht unter dem Pseudonym Theodatus Sarcmasius; deshalb wurde der 1711 von Theodor Crusius besorgte Sammelband, der die wichtigsten Beiträge zur sich anschließenden Kontroverse dokumentiert, mit dem Titel Acta Sarcmasiana versehen. Noch Zedier hat der Kontroverse einen eigenen Artikel gewidmet (34, Sp. 74-75), vgl. auch den Überblick bei Arnd, Bibliotheca politico-heraldica S. 26ff. Auf die Biographie Schurzfleischs gehe ich unten in Kapitel 3 ein. - Die Vorwürfe gehen dahin, daß die angegriffenen Autoren methodisch unzulänglich, unsauber, stilistisch schwülstig und widersprüchlich argumentierten bzw. z.T. sogar undeklariert abschrieben. Selbst für Crusius sind sie aber vor allem «ex ardore iuvenili» entsprungen (Acta, Praefatio o. S.). Die Kontroverse brachte Schurzfleisch jedoch die bedeutendere Geschichtsprofessur an der traditionell mit Wittenberg rivalisierenden Leipziger Universität ein. Vgl. den Überblick bei Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 429-431. Das Verzeichnis ist 64 Seiten stark. In der bisherigen Forschung scheint es so gut wie gar nicht beachtet worden zu sein. - Nur vereinzelte Hinweise auf die für uns wesentlichen Zusammenhänge bieten auch die Exercitationes de libris scriptorum optimis & utilissimus, 5 Bde., Leiden 1704-1707, aus der Feder des Th. Crenius, dem wir oben (Abschnitt 1.2) bereits begegnet sind. Es handelt sich hier um alphabetisch geordnete Lexika zu Autoren aller humanistischen Bildungsbereiche, deren Artikel aus Werkvorstellungen und (oft unselbständiger) Kritik am Werk bestehen. Stichproben belegen, daß die Urteile dem säkularen Konsens entsprechen. Eine Bibliotheca politica hat Crenius nicht vorgelegt, 1730 erschien in Leiden jedoch immerhin eine Bibliotheca Creniana, sive Catalogue Excellentissimorum . . . Librorum . . . continensTheologicos. Struve war ein bedeutender Vertreter der Jenenser Politik-, Reichs-, Rechts- und Landesgeschichte, welche auf spezifische Weise die im Staatsrecht aufgeworfenen Probleme der sächsischen Fürstenstaaten historisch aufarbeiten wollte, vgl. zusammenfassend Alma mater Jenensis (1984) S. 118 u . ö . sowie Hammerstein, Jus und Historie S. 177f. (hier auch Details zu Struves weitläufiger Verwandtschaft in der sächsischen Gelehrten-, Juristen- und Beamtenschicht). E r war der Sohn des Jenenser Rechtsordinarius Georg Adam Struve, der u. a. bei Conring studiert hatte. B. G. Struves wichtigster Lehrer war J. A. Bose, dessen Nachfolge auf dem Jenenser Geschichtslehrstuhl (u. a. nach Christoph Sagittarius) er 1704 antrat. 1730 rückte er auch in die Rechtswissenschaftliche Fakultät ein, schon zuvor war er Universitätsbibliothekar geworden, vgl. auch noch A D B 36, S. 671ff.

systematischen Überblick über die gesamte Bandbreite der politiktheoretischen Literatur, ergänzt durch eigenständige kritische Kommentierung. Für unsere Z w e c k e ungünstig ist lediglich, daß es nach Vollständigkeit strebt. 2 4 5 D e r Stoff der Ausgabe von 1740 ist in der folgenden Weise organisiert: I. Scriptores, qui bibliographiaspolíticasediderunt. II. Scriptoresde instituendostudio politico. III. Scriptores veteres politici, Plato atque Aristoteles. IV. Commentatores in Politicarli Aristotelis. V. Politica Taciti cum commentatoribus. VI. Scriptores, qui compendia ac systemata politica ediderunt. VII. De Politica Wolfii. VIII. Scriptores, qui Politicam ex Christianissimis principiis deduxerunt. IX. Scriptores, qui principis statum formare docent. X. Politica Machiavelli ac adversariorum. XI. Scriptores, qui certis exemplis principem formant. XII. Instructiones paternae ad filios, Principes juventutis. XIII. Scriptores, qui principem juventutis formare student. XIV. Scriptores de república. XV. Scriptores qui fictas respublicas ediderunt. XVI. Scriptores, qui novas respublicas cum veteribus quibusdam per parallelas conferunt. XVII. Scriptores de incrementis & decrementis rerumpublicarum. XVIII. Scriptores, qui varias artes & arcana rerumpublicarum ediderunt. XIX. Scriptores, qui thesauros rerumpublicarum ediderunt. XX. Scriptores de statu religionis. XXI. Scriptores de potestate circa sacra. XXII. Scriptores der Ratione Status. XXIII. Scriptores, qui jura diversorum regum defenderunt. XXIV. Scriptores de cive. XXV. Scriptores de consiliariis. XXVI. Scriptores de re militari. XXVII. Scriptores, qui vitia Politicorum describunt. XXVIII. Scriptores Monarchomachi & horum adversarii. XXIX. Scriptores, qui Politicam ex variis auctoribus antiquis deduxerunt. XXX. Scriptores, qui reflexiones & observationes políticas ediderunt de variis negotiis. XXXI. Scriptores, qui dissertationes, observationes & axiomata politica ediderunt. XXXII. Scriptores de arte apodemica seu peregrinandi. XXXIII. Scriptores de politica privata, seu prudentia universali. Während das traditionelle Gliederungsschema, welches uns bereits mehrfach begegnet ist, grundsätzlich beibehalten wird, sind doch neuartige Einschübe hinzugekommen, in denen sich die Zersetzung des alten Schemas andeutet. Plato und Aristoteles sind Tacitus schärfer als sonst üblich entgegengestellt, wobei Tacitus freilich mit einer eigenen Politica

ausgewiesen wird. D i e aufge-

klärte Politik Christian Wolffs (1679—1754) 246 erscheint als eigenständiger Gliederungspunkt vor den Beiträgen der christlichen Politik. D i e um die Probleme des Fürstenstaates kreisende Literatur ist feiner gegliedert und beansprucht vergleichsweise mehr Platz. In diesen Zusammenhang gehört die spezielle Behandlung der Monarchomachi.

D i e Autoren zum Staat (de

república)

erfahren wieder eigene N e n n u n g , in gleicher Weise die Utopien. Hervorgehoben sind ferner die Probleme des Verhältnisses von Staat und Kirche. Außerdem ist die Anfügung einer eigenen Literaturklasse de politica

245

246

privata,

seu

Die hier benutzte dritte Ausgabe (die beiden früheren Auflagen waren nicht zugänglich) ist im einschlägigen zweiten Band 398 Seiten stark, das einschlägige Kapitel II umfaßt 170 Seiten. Bibliotheca S. 170ff. Dieser Gliederungspunkt ist naturgemäß - Wolffs Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen erschienen erstmals 1721 - eine Hinzufügung Kahles. 71

prudentia universali247 bezeichnend, während auf der anderen Seite das Schrifttum der Staatsfinanz und des Kameralismus völlig fehlt. Auch sprachlich (Darstellungssprache ist Latein, berücksichtigt sind aber auch viele neusprachliche, speziell deutsche Titel) markiert diese Bibliographie eine Übergangsphase, nämlich den Übergang vom Späthumanismus zur Aufklärung, der dringend weiterer Erforschung bedarf. 248 Zu den modernen auctores systematici zählt Struve zunächst Althusius mit dessen Politica, welche jedoch Balthasar Cellarius' Politica Succincta vorzuziehen sei, «quae ad statum imperii nostri est accommodata» und in der Souveränitätsfrage des Althusius' Vorstellungen widerlege. 249 Dann folgen J.Chr. Becmann (Politicae meditationes), Johann Friedrich Horn (Politica pars architectonica, s.o.), Daniel Ciasen und Georg Schönborner. 250 Als «systema maius» anzusehen sei Christian Matthias' Systema politicum, wenngleich «ad disputandum magis est comparatum». Ein ähnliches Verdikt trifft Henning Arnisaeus, während Besold eher Einzeldissertationen zusammenfasse als ein wahres System liefere. 251 Der Aspekt der Vollständigkeit und der Systematik ist für Struve aber keineswegs entscheidend. «Nec in regulis solum quaerenda est politica, potius rationibus exemplis.» Deshalb sind die in einem zweiten Durchgang vorgestellten Autoren und Werke bedeutsamer, wiewohl es manchen von ihnen an Vollständigkeit und Systematik gebricht: M. Z. Boxhorn (Institutiones politicae), trotz seiner «nimia libertas», die manche Theoretiker veranlaßt, den Autor zu den Monarchomachen zu zählen; Adrian Houtuyn (Politica contracta), obwohl dieser Verfasser unzweifelhaft ein «liber periculosus» lieferte ; J. H. Boecler (Institutiones politicae)·, Christian Weise (Compendium politicum); vor diesen J. F. Buddaeus {Institutiones politicae in: Elementa philosophiae practicae); an erster Stelle («nervum habent») jedoch die Libri IVpoliticorum des Lipsius in ihren besten Ausgaben und mit ihrer wichtigsten Begleitliteratur. 252 Die an-

247

248 249

250

251

252

72

Diese Klasse umfaßt sowohl ältere (Hieronymus Cardano) als auch jüngere, d. h. aufgeklärte Autoren der praktischen Lebensklugheit, u. a. Julius Bernhard Rohr (Einleitung zu der Klugheit zu leben, 1715) und Christian Thomasius (Primaelineae prudentiae consultatoriae, 1705 u . ö . ) . Vgl. hierzu unsere Ausführungen unten in 2.2.16. Bibliotheca S. 161-170, Zitat S. 161, hieraus auch, sofern nicht anders angegeben, die folgenden Zitate. Für die Bedeutung der Politica succincta im Verhältnis zu den Monarchomachen vgl. den einschlägigen Paragraphen XXVIII S.289f. S. 162. Horns Politica sei aber «imperfecta . . . parum accomodata»; Schönhorners Beitrag werde von manchen wegen seiner Vermischung mit Materien des Jus publicum gelobt, von anderen getadelt. D e s Arnisaeus D e República ist als Politica «male applicata», die Doctrina politica desselben Autors weist diesem eher einen Platz unter den Juristen als unter den «prudentiae vera scriptores» zu (S. 162 A n m . 1). Bibliotheca S. 163-168. D i e beste Textedition des lipsianischen Werkes ist nach Struve diejenige des Johannes Freinshem (Straßburg 1649), die beste kommentierte Edition jedoch das Theatrum prudentiae elegantioris des Johann Friedrich Reinhard, eine Kollektion, die durch die geschickte Auswahl ihrer historischen Exempla «nostro statui maxime convenit» (S. 168). Als (bloßer) Kommentar zur lipsianischen Politik wird

schließend aufgelisteten systematischen Titel und Verfasser werden nicht mehr im Text, sondern nur noch in den Fußnoten kommentiert. Hier handelt es sich um: Rudolph Gottfried Knichens Opus politicum (1682; s.o.); Andreas Rüdigers Klugheit zu leben und zu herrschen (1722), eine Verdeutschung der Institutiones politicae des J. F. Buddaeus; Ephraim Gerhards Einleitung zur Staatslehre (1713); J.N.Hertius' Elementa prudentiae civilis (zuerst 1684; s.o.); J.B. von Rohrs Einleitung zur Staatsklugheit (1718), die vor allem auf Seckendorffs Fürstenstaat aufbaue; Johann Jakob Lehmanns Kurtze... Anleitung, die allgemeine und Staats-Klugheit zu lernen (1714), und schließlich Wolfgang Heiders Philosophiae politicae systema. Die Autoren der christlichen Politik sind bei Struve demgegenüber im wesentlichen die bekannten: Lambert Danaeus, Johann Stephan Menochius, Theodor Reinking, Saavedra Fajardo, Seckendorff. Zusätzlich führt der protestantische Boseschüler aus Jena aber neben der Politica Christiana eines Samuel Sturm (1666) noch Christoph Besolds De Consilio Politico (1622) auf, «qui per certa axioma ta Politicum ex fundamentis theologicis formare studet», und nennt Bossuets hochabsolutistische Politique tirée de l'Ecriture Sainte sowie Giovanni Baptista Comazzis Politica e Religione (1706). Außerdem bedenkt er Saavedras Beitrag mit besonderem Lob: «qui liber, si quis alius, plane egregius est, principem enim non ad rationem Status corruptam, quam plane reiicit, sed veritatem christianam instruit in omni regiminis parte, atque singula historiéis illustrât exemplis». 253 Mit der Bibliotheca Politico-heraldica selecta des Rostocker Philosophen, Philologen und Theologen Carl Arnd (1673-1721) aus dem Jahre 1705 liegt eine sowohl von den Zeitgenossen als auch der heutigen Forschung (soweit sie von ihr

253

Chokier de Surlets Thesaurus (1652 u.ö.) gewertet (S. 166; s.o.), als Begleitliteratur werden Boeclers Ad Lipsii politica praelectiones ( = die Dissertatio?), die Anmerkungen eines Johann Heinrich Mollenbeck (in dessen (uns unzugänglichen): Tractatus posthumi, Frankfurt 1709) und eine anonym veröffentlichte einschlägige Dissertation eines Johann Philipp Slevogt (ebenfalls unzugänglich) angegeben. Bibliotheca S. 172-176. Die Autorenreihe in Paragraph XIV De República setzt sich wie folgt zusammen: (1.) Cicero (als Imitator des Plato); (2.) Sallust; (3.) «primus ex recentioribus» Bodin (S. 204: «scriptor est elegans, sed blasphemus, nec ubique recte de Deo sentit. Comprobat sua ex historiis, sed in iis saepe nimium est prolixus, multa quoque intermiscet aliena» - das ist der übliche Vorwurf, s. o.); 84.) Petrus Tholosanus (S. 206: «secutus Bodinum est, . . . commendatur . . . hic, licet multa intermiscuerit, quae potius ad iuris scientiam, quam ad Politicam, spectant, ab argumentorum tarnen adparatu atque sententiis doctorum, quorum allegata apud eum sunt frequentia»); (5.) A. F. Modrevius (S. 206f.: «nec tarnen omnia politices capita absolvit, licet in iis, quae explicat, multos politicorum naevos detexerit, alia quoque de regno Poloniae intermiscuerit»); (6.) Johannes Ferrarius Montanus; (7.) Adam Contzen (!), bei Übernahme der (s.o.) kritischen Wertung Conrings u.a. (S.207). - Wir verzichten hier auf eine systematische Auflistung auch der Titel und Autoren, die in den übrigen Paragraphen genannt werden. Soweit bedeutsam, sind sie an anderer Stelle in unsere Fußnoten aufgenommen.

73

Kenntnis nahm) anerkannte, die wichtigsten Maßstäbe und Urteile des 17. Jahrhunderts kompilierende Bibliographie raisonée vor. 254 Der Verfasser entwickelt seine Kompilation annähernd systematisch aus dem Kernbestand der vor ihm entstandenen politisch-propädeutischen Literatur, allerdings unter Bevorzugung der Opera propaedeutica nobiliutn.255 Aufbau und Literaturauswahl des Werkes verdienen daher sorgfältige Betrachtung. Die von Arnd übernommene und fortentwickelte Ordnung, «quo scriptores Politico - Heraldica recensendi sese in vicem excipiunt», umfaßt zwei Generalklassen: die «Pseudopolitici» und die «Politici». Die erste, nur rund 30 Seiten beanspruchende Generalklasse setzt sich aus den Spezialklassen (I.): «Machiavelli & Machiavellisti», und (II.): «Monarchomachi», zusammen. Als einschlägige Autoren aufgeführt sind bei (I.) neben Machiavelli unter anderem Lipsius, Naudé, Hobbes, Richelieu und Mazarin, «Papistae curiales», «Jesuitae probabilistae» und «Politici indifferentismo vel Atheismo infecti», bei (II.) unter anderem Hotman, Danaeus, Althusius, Kirchner, Besold, Grotius und Milton. Ihre Aus- und innere Abgrenzung erfolgt nach zwei sich überschneidenden Kriterien: Erstens handle es sich um diejenigen Autoren, die entweder den Fürsten oder das Volk zur Quelle und zum Ziel der Politik machten. Zweitens vereine diese Autoren der weitgehende oder völlige Verzicht auf christliche und moralische Normen, so daß die Mittel der Politik zu deren Ziel werden. 256 Die zweite Generalklasse, auf die über 450 Seiten und damit der gesamte Rest des Werkes entfallen, gliedert sich in 16 inhaltlich und/oder formal freilich nicht immer eindeutig voneinander abgegrenzte Spezialklassen: - Scriptores dogmatici oder methodici, «h. e. (opera) eorum, qui scientiam Politicam justo ordine & justa methodo digesserunt, idque vel breviori & compen-

254

Untertitel: hoc est Recensus Scriptorum ad Politicam atque Heraldicam pertinentium selectus ex praestantissimis praestantissimorum Scriptorum monumentis conquisitus, rarioribus ex Historia literaria observationibus illustratus & accuratioribus Eruditorum judiciis constipatus. Gewidmet ist der Band einem Mecklenburgischen Staatsminister; seine Zielsetzung ist Hilfeleistung bei der politischen Literaturauswahl im Studium politicum. - Arnd war zeitweilig auch als Hofmeister in Politicis et Heraldicis tätig. Er legte ein Jahr später noch eine Bibliotheca aulico-politica eaque selecta h. e. scriptorum de Ministris aulicis & vita aulica vor, zu denen später theologische, juristische und medizinische Verzeichnisse kamen, vgl. zu Biographie und Werk Zedier 2, Sp. 1573. Zum zeitgenössischen Urteil s. die Anzeige in den Acta Eruditorum 1706, S. 189ff., Struve, Bibliotheca philosophica S. 140 Anm. η und J.EW.von Naumann: Bibliotheca juris (1727) S. 117 und 130, der Kritik lediglich an kleinen Sachfehlern und der gleichgewichtigen Gegenüberstellung von Machiavellisten und Monarchomachen (s.o.) zu üben weiß. Noch bei Zedier (Artikel Staats Wissenschaft, Staats-Lehre, Bd. 39, Sp.707ff.) wird diese und die erwähnte Bibliotheca von 1706 empfohlen. Zur Einschätzung aus heutiger Sicht vgl. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 421.

255

Vgl. den Apparatus fontium S. 14-35. Die von uns benutzten Dissertationes und Disputationes fehlen fast völlig. Bibliotheca politico-heraldica S. 35-68.

256

74

diosa, ut C o m p e n d i a r » , vel e x a c t i o n & aliquanto diffusiori, ut Systematici, tarn antiquiores q u a m recentiores & recentissimi»; 2 5 7 - Historici,

das sind Verfasser von historischen Werken über politische A n g e l e -

g e n h e i t e n und politische Persönlichkeiten (Kaiser, Fürsten usw.); 2 5 8 - Philologi,

«qui scripserunt vel epístolas Políticas vel orationes civiles vel Poe-

mata Politica»; 2 5 9 - Florilegici,

«qui collegunt dicta, facta, mónita & e x e m p l a Politica, A x i o m a t a

item & A p o p h t h e g m a t a » ; - Discursorii,

Verfasser von wissenschaftlich-kritisch erläuternden politischen

und historisch-politischen « O b s e r v a t i o n e s vel disputationes»; - Eristici,

Verfasser von politischen Kontrovers- und Problemschriften ( Q u a e -

stiones & Problemata); 2 6 0 - Paedeutici,

d . h . «quiPrinciperai j u v e n t u t i s f o r m a r e d o c e n t idque velinstitutio-

nibus paternis, ut Paraenetici vel certis e x e m p l i s ut Paradigmatici vel formatione Status Principis ut Scholastici»; 2 6 1 - Consultatores,

d . h . die Sammler und K o m m e n t a t o r e n v o n «Consilia, Re-

scripta, Mandata Politica, Instructiones, R e l e g a t i o n e s Políticas & similia»; - Statistici,

257

258

259

260

261

262

« h . e . qui scripserunt d e R a t i o n e Status»; 2 6 2

S. 36 (Zitat) und 69-104. Die Formulierung geht auf Bose, Diatribae zurück (s. o.). Zu vermerken ist, daß Arnd und seine Quellen die Bezeichnung «Politicae» oder «(opera) Politica», also «Politiken» im Sprachgebrauch der heutigen Forschung, nicht verwenden. S. 105-190. Zur Bestimmung der freilich auch sehr zahlreich vorliegenden Historici Pragmatici greift Arnd S. 105 auf die Definition Böses, Diatribae S. 8 (s.o.) zurück. S. 191-233, Zitat S. 37. Auch hier erfolgt die nähere Definition in Anlehnung an Bose: «qui noin quidem ex professo ad usum Politicum scripserunt, non minori tarnen dexteritate, quamquam non aeque obvia, partem aliquam doctrinae politicae tractarunt saepeque ea ingesserunt mónita, quae non melius suppeditaverint qui id unum egere» (S. 191). Bibliotheca politico-heraldica 4.: S. 234-251; 5.: S. 252-261; 6.: S. 262-279, gemeint sind hier Autoren, «qui vel ad Historíeos Veteres aut Historia aliquam Veteris & Recentrons partem commentantes, Theses & Antitheses Políticas easque varias agitavere, vel qui partem aliquam Politicae quoad doctrinas & controversias integris dissertationibus ex professo pertractarunt; item . . . qui Praecepta & observationes Políticas quamvis nulla certa justaque methodo breviter tamen & per modum Aphorismorum & Axiomatum collegerunt, idque alii nude alii cum apparatu & instructu exemplorum» (S. 262). Die Zitate oben sind sämtliche von S. 37. S. 280-297 und S. 298-329, alle Zitate von S. 37. Die Opera Paedeutica sind in allgemeine, spezielle, paradigmatische und - als jüngste Abteilung - «statistische» unterteilt. Zu diesen heißt es wörtlich (S.295): «Attingunt denique Ciassem praesentem Scriptores illi, qui statum Principis formare singulari commentario adgressi fuerunt». Als deutsche Paedeutici sind genannt Georg Engelhard von Löhneyss: H o f - S t a a t s - und Regier-Kunst (1622, 2. Auflage 1679); Melchior von Osse: Prudentia regnativa (1607; deutsch: Bedenken, ein Regiment wohl zu bestellen, zu verbessern und zu erhalten), sowie Veit Ludwig von Seckendorffs Fürsten-Staat (1656), also Vertreter derjenigen Literatur, die heute als Regimentslehre angesprochen wird! Vgl. hierzu auch Struve, Bibliotheca S. 176-183. S. 298-328 und S. 329-344, Zitate von S. 37. Im ersten Fall (8.) spannt sich der Bogen 75

- Sytribolici,

das sind d i e j e n i g e n , «qui sub certis Symboli & hieroglyphicis sche-

matibus Politiae statum [!] adumbrarunt»; 2 6 3 - Ethici

vel Patethici,

« h . e . . . . , qui d e moribus & affectibus vel h o m i n u m in

g e n e r e vel in specie certarum nationum c o m m e n t a r i o s ediderunt»; - Juridici,

also A u t o r e n des Jus Divinum

lungen a) Jus Naturae und Jus Gentium

und d e s Jus humanuni

in seinen A b t e i -

und b) Jus Civile seu privatum

und «Jus

Publicum seu Statisticum»; 2 6 4 - Geographico-Politici,

d . h . «qui vel fictis titulis atque tectis R e s publicas des-

cripserunt & q u o a d G e o g r a p h i a m h . e . situm & q u o a d Politicam h . e . statum seu Regiminis f o r m a m ; vel qui veris & apertis id egerunt titulis»; 2 6 5 - Strategici

bzw. «Scriptores d e Re militari»;

- Apodemici,

also T h e o r e t i k e r und R a t g e b e r der Ars peregrinandi,

- Genealogici

und

und

Heraldici.2bb

D i e für unseren Z u s a m m e n h a n g e n t s c h e i d e n d e Auflistung der Scriptores matici diorum

vel methodici Politicorum

dog-

enthält f o l g e n d e N a m e n : 2 6 7 « E x recentioribus c o m p e n Scriptoribus» J. Lipsius, M . Z . B o x h o r n , J. H . B o e d e r ,

von «Collectores & Editores Conclavium Romanorum» über Staatsmemorabilia aus der Feder hochgestellter Akteure wie vor allem Richelieus und Mazarins (vgl. S. 307-325) bis zu den bekannten Aktensammlungen des Reiches und Europas, unter anderem der Staats-Cantzley Anton Fabers bzw. Christian Leonhard Leuchts (erschienen 1697-1710). Im zweiten Fall (9.) sind einerseits die üblichen italienischen Beiträger aufgeführt (Botero, Spontone, Zinnano, Settala, Palazzo, Claramonte, Frachetta und Bonaventura), andererseits als besonders bedeutsam die Beiträge des Herzogs Rohan (1638) und Gottfried von Jenas (1658) hervorgehoben, nebst Nennung der weiteren deutschen Autoren Wilhelm Ferdinand von Efferen, Conring, Rahne, Jacob Thomasius, Im Hof, Stypmann, Roetenbec, Wagenseil und Rechenberg und einem Verweis auf die o. a. Spezialbibliographie von C. Thurmann (s. dort auch zu den jeweils angesprochenen Titeln). Die nähere Definition dieser neuen Art politischer Erörterung lautet: eine Literatur, die «mire instruit animum & ad interiorem prudentiam singulari quadam ratione praeparat», bzw. «Scriptores, qui arcanas artes Imperatium consiliaque cum ordinariae tum extraordinariae gubernationis exposuerunt» (S. 329). 263

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76

S. 345-362. Genannt wird unter anderen Rabelais' Pantagruel (!), als besonders nützlich hervorgehoben Saavedra Fajardos Idea Principis christiani (1640, deutsch 1674) und Boccalinis Ragguagli di Parnasso (1612/13, deutsch 1644). Zitate S. 38; 11.: S. 363-377; 12.: S. 378-398. Die Abteilung der Juristen wird mit der oben zitierten Feststellung Böses eingeleitet, daß es auch notwendig sei zu wissen, was erlaubt ist und was nicht. Der wichtigste Autor bei a) ist erwartungsgemäß Grotius. S. 319-419, Zitat S. 38. Vermittelt werden sollen einerseits Kenntnisse der Lage, Geschichte und Tendenzen des eigenen Staates, andererseits diese Merkmale der benachbarten Staaten und die politisch relevanten Verflechtungen, die sich aus diesen Verhältnissen ergeben. Genannt sind u . a . Morus' Utopia (1516), Campanellas Sonnenstaat (1602), die Elzevirischen Republiken (1627ff., vgl. Struve, Bibliotheca S.233f.) und J. Chr. Becmanns Historia orbis (1698). Zitat von S. 38. 14.: S. 420-437, mit besonderer Hervorhebung von Lipsius' De militia Romana (1595); 15.: S. 437-452; 16.: S.453-529. Die antiken Systematiker sind wie üblich Plato und Aristoteles, ferner Sallust und Cicero (S. 70-85).

G. Schönborner, Β. Cellarius und Daniel Ciasen; aus den «recentiores systematic! Germanici» A. Contzen, H. Arnisaeus, B. Keckermann, J. H. Aisted, W. Heider und Chr. Liebenthal; von den «recentiores systematici Galli» Bodin und Tholosanus; aus den «recentiores systematici Itali» Francesco Philelpho und Francesco Patrici, sowie aus «ex recentissimis compendiariis atque systematicis» J.Chr. Becmann, Chr. Weise, A. Rechenberg, J. F. Buddaeus, J.Chr. Wagenseil, S. Pufendorf und C. S. Schurzfleisch. 268 Aufgeführt sind ferner als «Compendiarli & Systematici Christiani sive Theologici» L. Danaeus, Johannes Menochius, Theodor Reinking und Seckendorff. 269 Arnd bewegt sich demnach mit wenigen Ausnahmen in der Unterabteilung der jüngsten Dogmatiker im vorgegebenen Autoritätenbestand, wenngleich die Plazierung der jeweiligen Namen und die Aufzählung der Dogmatici christiani teilweise selbständig ist. Es fehlen der u. a. bei Naudé genannte Cl. Timpler und J. N. Hertius, ferner Chr. Besold. Arnds zweite politikwissenschaftliche Bibliographie Bibliotheca aulico-politica (1706), die sich vornehmlich an den Höfling und den Minister aulicus wendet, ist demgegenüber bereits in neuem Geist geschrieben. Die wichtigsten Autoren der Doctrina moralis et politica sind dort Chr. Weise, J. F. Buddaeus und J. H. B o e d e r und H. Conring. Diese Veränderung geht vor allem auf die verstärkte Anlegung christlicher Maßstäbe zurück: B o e d e r und Conring vernachlässigten die christliche Religion, daher sei Buddaeus umso nötiger. Auch die Gliederung der politischen Literatur hat sich verändert. 270 J. F. Buddaeus' Compendium Historiae Philosophicae (zuerst 1706) äußert sich nicht gezielt dazu, welche systematischen Autoren der Politica des 17. Jahrhunderts als die wichtigsten anzusehen sind oder wie sich die Politikliteratur auffächert. Stattdessen werden Zuordnungen zu Schulen (sectae) und Traditionen vorgenommen. Überraschungen gibt es dabei nicht: Lipsius wird als früher Historiker der antiken griechischen Philosophie, Bewunderer, Erforscher, Anhänger und christlicher Erneuerer der Stoa gerühmt; die Secta Machiavellistica und die Monarchomachi werden in der üblichen Weise definiert und kritisiert; Thomas Hobbes und dessen Anhänger werden als Fortsetzer Machiavellis «sub alios schemata» verdammt; Conring und andere werden als strikte AristotelesAnhänger (gegenüber weniger strikten in der Nachfolge Melanchthons) ausge-

268 269

270

Bibliotheca politico-heraldica S. 7 1 - 1 0 2 , Zitate S. 86, 93, 96, 98 und 99f. S. 103f., s. hier auch zu den jeweils gemeinten Werken. Die nähere Definition lautet: Scriptores, «qui Politicam non ex ratione status sed Christianismi principiis deduxerunt & saltim cum iisdem combinarunt.» S. 9 - 1 1 (I. Teil: Discursus de formando rite rectéque studiorum Politicorum cursu ejusque adminiculi necessari debitu & justus selectus). D i e Literaturgliederung ist jetzt die folgende: 1. Theologica zur Vermittlung der Pietas vera; 2. Oratoria; 3. Logica; 4. Metaphysica, 5. Physica & Mathematica (!!); 6. Ethica; 7. Politica d. h. Politica dogmatica; 8. Histórica literaria; 9. Histórica pragmatica; 10. Geographica; 11. Genealogica; 12. Heraldica; 13. Jus Civilis; 14. Jus Publicum; 15. Aulica notitia (sehr ausführlich, S. 2 8 - 1 1 2 ) . Angegliedert ist eine Betrachtung des Vaters von C. Arnd Josua zu Joab als dem Vorbild für den christlichen Minister.

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wiesen, während Β. Keckermann Aristoteles mit dessen Kritiker Ramus habe versöhnen wollen; Grotius und Pufendorf seien methodisch und inhaltlich derzeit die fruchtbarsten philosophisch-juristisch-politischen Denker. 271 Von größerem Nutzen für den vorliegenden Zusammenhang ist die 1715 vorgelegte Leipziger Dissertatio politica de fatis studii Politici praesertim in Academias, et de insignioribus, quibusdam circa illud defectibus. Denn dieser akademische Beitrag reflektiert die neuen Auffassungen in modern anmutender kritisch-historischer Weise. Sein Hauptverfasser ist der Frankfurter Staats- und damalige Leipziger Natur- und Völkerrechtler Christian Gottfried Hoffmann (1692-1735). 272 Die Wissenschaft der Politik (Studium Politicae) entstand für ihn mit der Respublica und ist deren «ratio gubernandi». Ihr kommt das schwere Amt zu, die wahre Utilitas publica als eine Verbindung von Commodum und Honestum zu definieren und von der Utilitas privata, dem Urtrieb des Menschen, abzugrenzen, sowie die Wege und Mittel zu ihrer Verwirklichung bereitzustellen. Diese Aufgaben stellen sich konkret unter jeweils gewandelten Umständen jedesmal neu, weshalb allzu starkes Kleben an Autoritäten zu Vorurteilen, Fehlinterpretationen und Fehlschlüssen führt. Auf diese Weise werden überkommene Autoritäten umso obsoleter, je älter sie sind. Das gilt zuerst für Plato und Aristoteles, die kaum noch als wertvolle Systematiker der Politik angesehen werden, aber auch für die römischen Autoren. 2 7 3 Aus dem Mittelalter seien keine brauchbaren politischen Texte überliefert. An den Akademien wurde keine Politik gelehrt. Das Papsttum habe nämlich, um seine Herrschaft über die Laici durchzusetzen, jegliche Befassung mit der Wissenschaft von der Politik verhindert. Stattdessen habe es erfolgreich alle geistigen Bemühungen auf die politisch ungefährliche Metaphysik gerichtet. Daher wurden alle Gelehrten zu «Clerici & Monachi, homines ad docendam prudentiam civilem inidonei, omni experientia destituii, historiarum ignorantes, & ad summum metaphysice docti». 274 Erst die Reformation habe diesen Ballast abgeschüttelt. Die protestantischen Gelehrten hätten sich bemühten, mit Hilfe der Ethik eine neue praktisch-moralische Basis zu finden. So wurde der Professor Moralium gleichzeitig auch der 271

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Compendium philosophicae historiae ed. Georg Walch (1731), bes. C.VI: De Philosophia Recentiori, S. 108, 132, 243, 256; 378ff., 401ff., 489-527. Respondent ist ein Christoph Peter; zur Biographie Hoffmanns s. A D B 12, S. 574. Die Dissertatio umfaßt 31 Seiten. De fatis S. 5 ff. und 26 (Zitat). Zu notieren ist die Kritik an der Verherrlichung des imperialen Rom: «Reipubl. magnitudo & potentia non semper est infallibile signum, quod ea prudentibus consiliis regatur. Crescere potest etiam Respubl. per incuriam & imprudentiam vicinorum.» In Wirklichkeit litt der Status Romanorum omni fere tempore an Unruhe, Verwirrung der Maßstäbe und Hervorbrechen schädlicher Affekte (ebd. S. 5f.). Dennoch bleibt der beste Vermittler praktisch-politischer Klugheit Tacitus (S.7f.). S. 9-14, Zitat S. 12. Auch die Einführung des fremden Römischen Rechts gegen das einheimische Germanische Recht sei eine Herrschaftsmaßnahme des römischen Papstes gewesen.

«Politicae Doctor». Zu denjenigen, die noch im 17. Jahrhundert maßgeblich am Aufbau dieser Basis mitwirkten, gehörten die Namen «Grotii, Seldeni, Hobbesii, Pufendorfii, Thomasii & Titii». 275 Jetzt, nach der Wiedergewinnung der richtigen Prinzipien, komme es jedoch mehr auf die Ausbildung des künftigen Politikers für die Praxis an. Zu diesem Zweck sei das vorliegende literarische Material kritisch zu sichten und neu zusammenzustellen. Um «genuinum & naturae hujus disciplinae convenientem conceptum sibi formare», seien sowohl deduktiv gewonnene Universalprinzipien und im Rahmen des politischen Modelldenkens entwickelte Vorstellungen als auch empirische Erkenntnisse systematisch aufeinander zu beziehen. Das so erstellte Konzept einer Politica «nostri saeculi» stelle die «ratio gubernandi civitatis» dar, die ausschließlich auf den säkularen Bereich der Respublica bezogen ist und sich in einer Mischung aus Prudentia und Justitia (definiert im Kontext des Jus Publicum universale und des Jus Publicum speciale) materialisiert. 276 In der umstrittenen Frage, ob die erste Komponente der Justitia, das Jus Publicum universale, an der Philosophischen oder an der Juristischen Fakultät zu lehren sei, plädiert Hoffmann unter Hinweis auf entsprechende Empfehlungen Conrings, Hertius' und Böses für eine Ansiedelung bei der Philosophie. Für den Unterricht im Jus gentium empfiehlt der Verfasser das einschlägige Kompendium Nicolaus Hieronymus Gundlings, für die Prudentia eine Kombination von Johann Christian Lünig und Christian Thomasius. 277 In der bekanntesten frühen deutschen Literaturgeschichte, Jacob Friedrich Reimmanns Die Ersten Linien von der Historia literaria derer Teutschen von 1717, findet sich zwar der bekannte Namen- und Titelbestand. 278 Die jeweiligen Charakterisierungen deuten aber eine mangelnde Vertrautheit mit diesem Bestand an. Für Reimmann war das Mittelalter durchaus nicht politiklos, sondern die Politik wurde jedenfalls vor Albertus Magnus «mehr aus der Erfahrung als aus der Beschreibung gewisser Bücher gelehret und gelernet». Unter die Erneuerer der gelehrten Politik im 16. Jahrhundert zählt er Wimpheling, Melanchthon, Joachim Camerarius, den Reformator Calvin, Johannes Hockenhafen, Philipp Scherbius, Michael Piccart, Hubert Giphanius und andere. Johann Caselius sei jedoch «der erste in Deutschland» gewesen, der «die Politique auf einen bessern Fuß zu setzen sich bemüht, der Justus Lipsius der erste, der die Arcana derselben eingesehen». Arnold Clapmar habe die Politica erstmals «in geziemender Ordnung recensieret»(ü), Jacob Bornitz ihre «Oeconomie . . . recht ex-

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De fatis S. 15. De fatis S. 22f. und 25ff. Hieraus auch das Folgende. Vgl. zu Biographie und Werk dieser Autoren Stolleis (Register), zu Chr. Thomasius auch K. Luig: Chr. Thomasius, in: M. Stolleis (Hg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (1977), S. 228-247. Reimmann (1668-1743) war Hauslehrer, Prediger, Diakon und schließlich Superintendent in Hildesheim. Seine akademische Prägung erhielt er in Jena. Außer seiner Literaturgeschichte veröffentlichte er 1725 eine Historia universalis atheismi. 1730-1732 wurde er durch eine erbitterte Fehde mit einem Jesuiten bekannt, vgl. A D B 27, S. 716f.

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hauriret» und Bartholomäus Keckermann die «Doctrina de consiliis politicis untersucht» und die «respublicae antiquorum» beschrieben. Ähnlich unscharf sind die Bemerkungen zu Thomas Lansius, Theodor Reinking und den Elzevirischenen Republiken. Caspar Schoppe habe «Machiavelli öffentlich das Wort geredet», J. A. Bose die «notitiam rerumpubl. in formam scientiae gebracht», Conring die «Politiam der Teutschen recht untersucht» und Johann Joachim Becher das «Commerzien Wesen verbessert und die Introduction derer Manufacturen vorgeschlagen». 279 Christian Thomasius, der für die endgültige Abstoßung des theoretisch-universalen Teiles der Politica verantwortliche Frühaufklärer, kennt im gleichen Jahr als «große» Autoren dieser Wissenschaft noch Contzen, Arnisaeus, Besold, Reinking, Bodin, Lipsius und Knichen, schätzt aber des J.N. Hertius Elementa prudentiae civilis am höchsten. 280 In der Bibliotheca juris imperantium quadripartita des markgräflich-ansbachischen Rates, Diplomaten und juristischen Schriftstellers Johann Wilhelm von Neumann schließlich, die 1727 in Nürnberg erschien, werden keine Opera systematica Politicae mehr nachgewiesen. Neben Pufendorf tritt aber Adam Rechenberg als Autor des Jus naturae auf. Und im Bereich der Scriptores Juris publici universalis ist als Verfasser eines entsprechenden umfassenden Werkes Bodin (!) genannt. Weitere politische Autoren kommen in den Abschnitten zur Sprache, in denen es laut Titel um speziellere juristische Materien ( z . B . d e Majestate, de Successione usw.) gehen soll. Der juristische Zugriff schließt also den Einbezug praktisch-politischer Werke nicht

1.5. Zwischenbilanz Die Begleitliteratur zur Wissenschaft von der Politik verteilt sich im 17. Jahrhundert im Reich auf drei verschiedene Ebenen. Jede Ebene tendiert dazu, einen

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Die Ersten Linien S. 50f. (Von der Politica derer Teutschen). Die angesprochenen Werke sind zumeist nicht durch Titel und Erscheinungsjahr eindeutig identifiziert (Lansius!). Vgl. die Edition des sogenannten «Politischen Testamentes» des Melchior von Osse aus dem Jahre 1555 durch Thomasius (Halle 1717, S. 3346f., Fußnote), hier zitiert nach Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S.421 Anm.54. - Friedrich Gentzkens Historia philosophiae (Hamburg 1724) bleibt im Rahmen der Introductio desselben Verfassers (s.o. den vorhergehenden Abschnitt). Die Artikel «Politick» und «Staatswissenschaft» in Zedlers Universallexikon (28, Sp. 1525-1527 und wie o. a. 39, Sp. 707ff.) weisen auf die o.a. Propädeutiken von Naudé, Schoppe und Coler (in der Edition Conrings) bzw. die Bibliographie Böses sowie auf Conring, J. Chr. Becmann u.a. als wichtigste Politikautoren hin. Zur Biographie Neumanns, der u.a. in Wittenberg, Leipzig, Halle und Jena studiert hatte, vgl. A D B 23, S. 523f. Für die angegebenen Stellen des über 300 Seiten starken Werkes vgl. S. 7 9 - 8 6 , 96ff., 109-117 und 118-141 (Machiavellisten und Monachomachen) u.ö.

eigenen Reflexions- und Geltungszusammenhang zu bilden. Dennoch sind die Ebenen untereinander verknüpft, und ihr jeweiliger Wissensbestand entwickelt sich im ganzen gleichförmig. Dieser Befund erklärt sich vor allem daraus, daß die Verfasser fast stets derselben dünnen protestantischen Gelehrtenschicht angehören, die sich im Humanismus an den Schulen und Universitäten als bürgerlich-städtische Träger einer literarisch-ästhetischen «Gelehrtenkultur» formt und von dort aus immer stärker in das gesellschaftliche und politische Leben auch der Territorien hineinzuwirken versucht. 282 Denn diese praxisorientierte Humanisten- und Gelehrtenschicht erwirbt ihre historisch-gesellschaftlichen Erfahrungen in mehr oder weniger identischen beruflich-sozialen Situationen und verarbeitet sie mit Hilfe identischer geistig-literarischer Mittel. Sie repräsentiert die Kerngruppe des territorialen Bürgertums, welches sich spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts vom kommunalen Bürgertum abhebt und als territoriale Elite einen spezifischen sozialen Ort zwischen dem Fürsten und dem Adel einerseits und den städtischen Führungsschichten andererseits einnimmt. 283 Die weitgehende Gleichförmigkeit der Entwicklung besteht in einem Transformationsprozeß des Bezugssystems der Motivation, des argumentativen Gravitationszentrums und der Zielsetzung der politischen Reflexion. Die Verdichtung des Diskurses über Politik, der Versuch, politisch-gesellschaftliche Probleme mit gelehrten Mitteln zu diagnostizieren, zu analysieren und akzeptablen Lösungen zuzuführen, wird historisch von der konfessionell-politischen Zuspitzung der Konflikte des ausgehenden 16. Jahrhunderts in Gang gesetzt. Sie findet zuerst dort statt, wo sich gelehrtes Potential mit besonderen Bedrohungslagen verbindet, also einerseits an Universitäten bestimmter evangelischer Reichsstädte und andererseits an Universitäten bestimmter evangelischer Territorien. Im zweiten Fall können sich in die tragende defensive Leitmelodie auch offensive Töne mischen. Im Fortgang der Entwicklung gerät die Politica dann immer stärker in den Wirkungsbereich der Höfe. Im Einklang mit der wachsenden Partizipation der territorialbürgerlichen humanistisch-juristischen Gelehrten an den Chancen des

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Vgl. zum Selbstverständnis und zu wichtigen Denkmustern auch derjenigen Gruppe dieser späthumanistischen Gelehrtenschicht, die sich mit deutscher Literatur befaßt, W. Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Zu den entsprechenden Reformbemühungen an vielen Universitäten, in welchen Zusammenhang die Entstehung der Politica ebenfalls gehört, vgl. neben J. Bücking: Reformversuche an den deutschen Universitäten der frühen Neuzeit (1986) noch die Ausführungen bei Menk, Hohe Schule Herborn S. 103ff. und jetzt L. Boehm: Die deutschen Universitäten im Sozialgefüge des absolutistischen Fürstenstaates, in: W. Barner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der Aufklärung (1989) S. 2 5 1 - 2 7 3 .

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Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund vgl. knapp V. Press: Soziale Folgen der Reformation in Deutschland (1983) und ders., Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges (1988), ferner die einschlägigen Beiträge in: C . W i e d e m a n n , S . N e u m e i s t e r (Hgg.): Respublica litteraria (1987) und jetzt K. Malettke, J. Voss (Hgg.): Humanismus und höfisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert (1988).

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expandierenden Fürstenstaates kreist das politikwissenschaftliche Denken immer enger um das fürstenstaatliche Ordnungsmodell. Diese Annäherung an den Hof, die äußerlich am Wandern des Schwerpunktes politikwissenschaftlichen Bemühens von Straßburg und Altdorf nach Helmstedt, Leipzig und Jena abgelesen werden kann, ist allerdings in der vorliegenden politologischen Hilfsliteratur nicht mit einer Auslieferung der Politica an den Fürsten gleichzusetzen. Die Anpassung der Literatur, die sich langsam als eigenständiger Zusammenhang auszubilden beginnt, ging möglicherweise weiter. 284 Das beruflich-soziale Interesse der hier erfaßten Angehörigen der respublica litteraria ging dahin, die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung wiederzugewinnen und abzusichern, die ungestörte humanistische Gelehrsamkeit, aber auch eigenverantwortliche erzieherisch-beratende Einwirkung auf die Träger jener Ordnung und Beeinflussung von deren Qualität möglich macht. Dementsprechend geht in die Politica von Anfang an eine doppelte Perspektive ein und ihre Option für die Herrschaft zum Zwecke der Legitimierung, Perfektionierung und Stabilisierung des Ordo imperandi et parendi darf nicht vorschnell mit absolutistischer Dienstbarkeit identifiziert werden. Die zweifache Perspektive der politischen Reflexion - Individuum und Respublica verschränkt sich in der Zielsetzung, das bildungsfähige Individuum über die Internalisierung der durch Offenbarung, Geschichte, Natur und Vernunft beglaubigten ethisch-moralischen Normen und Regeln in das zunehmend verdichtete gesellschaftlich-staatliche Ordnungssystem einzubinden. Der Selbstbeherrschung des Individuums, das freilich in concreto mit Bodin der künftige oder aktuelle Paterfamilias ist, entspricht seit Arnisaeus die öffentliche Herrschaft, deren Qualität zwischen Machiavelli und Althusius, zwischen Absolutismus und Volkssouveränität, angesiedelt wird. 285 Sowohl die Studienschriften für den Adel als auch das professionelle Schrifttum des Politicus und die theoretisch-methodische Literatur der Politica lassen die zentrale Tendenz erkennen, in jedes Herrschaftssystem, aber vor allem in das wegen seiner Eindeutigkeit, Aktionsfähigkeit und deshalb unterstellten Stabilität bevorzugte monarchische System, eine humanistisch-juristisch gebildete Berater- und Beamtenschicht einzufügen, die als eigentliches Unterpfand guten Regiments und stabiler Ordnung gilt. Mit anderen Worten, das beruflich-soziale Interesse der Politikwissenschaftler schlägt unmittelbar auf die von diesen Politikwissenschaftlern produzierte Politikwissenschaft durch.

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Vgl. dazu ebenfalls Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, ferner die einschlägigen Abschnitte bei A . Buck (Hg.): Europäische Hofkultur (1981) und Wiedemann/Neumeister, Respublica litteraria. D i e weitgehende inhaltliche, funktionale und soziale (Produzenten!) Ungeschiedenheit der fiktionalen von der fachlich-wissenschaftlichen Literatur bedingt den erheblichen Nutzen, den die moderne literaturwissenschaftliche Forschung für die politische Ideengeschichte dieser Epoche hat. Vgl. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 412. Auch diese These, daß die wahre Politik zwischen Machiavelli und den Monarchomachen, dann den Volkssouveränitätstheoretikern, liege, ist von Bodin übernommen.

Genau an dieser Stelle, der Verbindung zwischen Theorie und Praxis, der Vermittlung von normativem Regelwissen für das praktische politische Handeln, vollzieht sich der Aufstieg und der gegen Ende des Beobachtungszeitraums einsetzende Niedergang der späthumanistisch-lateinischen Politica. Das Programm der Opera propaedeutica educationis nobilium, durch humanistische und später frühaufgeklärte Erudition Bildung, Rationalität und Humanität als Qualifikationsmerkmal der Herrschaftsträger und des Herrschaftssystems zu erzeugen, ist nämlich von Anfang an in seiner Wirkung begrenzt. Es scheitert schließlich an den Statusinteressen seiner Adressaten und der wachsenden Selbsthistorisierung und Selbstrelativierung seines Normen-, Regel- und Empiriewissens. Dieser Mechanismus, die Sprengung des übergreifenden normativen und regelhaften Rahmens durch fortschreitende Differenzierung und Spezifizierung der empirischen Bezugsfelder, führt auch zur Zersetzung des ebenfalls auf den Adel, vor allem aber auf das wachsende Amtsbürgertum zielenden Politic¡«-Konzepts. In gleicher Weise ist er an der Zuspitzung der Widersprüche zwischen den theoretisch-universalen und den praktisch-partikularen Erkenntnisperspektiven beteiligt, welche die Grundproblematik der Politica in der betrachteten Epoche darstellen. Dabei wird aber auch endgültig klar, daß es sich bei diesem Vorgang um ein Element des umfassenden wissenschaftlich-methodischen Modernisierungsprozesses der Wende zum 18. Jahrhundert handelt. In diesem Prozeß wird die heute schwer nachvollziehbare normativ-empirische Einheit der aristotelischen praktischen Philosophie und damit auch der vornehmlich aristotelisch geprägten Politica aufgebrochen. Die normative Reflexion wandert in höhere Abstraktionsebenen ab, die Empirie aber wird immer schneller ihrer normativen Qualität beraubt. 2 8 6 Dieser Umschlag zur Moderne deutet sich in den vorliegenden Texten jedoch erst an. Diese Quellen bestätigen damit die Auffassung der neueren Forschung, daß sich die Abstoßung des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses sehr viel länger hinzog als im Schatten der Aufklärung bislang unterstellt wurde. Sie rükken die Phase der eklektischen Philosophie in den Vordergrund, die «zwar in (ihrem) Ergebnis bekannt, in (ihrem) Verlauf und in (ihren) inneren Gründen aber noch kaum erhellt» ist. 287 Darüberhinaus lassen sie erkennen, daß der politischen Reflexion bei der Ausbildung dieser Philosophia eclectica eine bedeutsame Rolle zukam. Die doppelte Perspektivität der Politica, ihre versuchte Verschmelzung systematisch-aristotelischer und partikular-historisch-individueller tacitistischer und neustoizistischer Ansätze förderte die Distanzierung von den Autoritäten und die kritische Nutzung überkommener Einzelerkenntnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Praktikabilität und Effizienz. Aus der politischen Pro-

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Vgl. hierzu jetzt die Beiträge bei Barner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation (1989). Dreitzel, Aristotelismus S. 184. Hier finden sich wichtige Quellenzitate zum methodisch-theoretischen Selbstverständnis dieser Übergangsperiode, vgl. jetzt auch W. Schmidt-Biggemann: In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus, in: Barner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation, S. 2 9 7 - 3 1 0 .

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blematik der Existenz unterschiedlicher Konfessionen ergab sich eine Bestärkung der humanistischen Idee des überkonfessionellen Christentums, von wo aus der Abstand zur Antike ebenfalls deutlich erkennbar wurde. Ferner wirkte sich dieser Ansatz bei der Ausarbeitung der Naturrechtslehre zu einer neuen Ethik aus, wobei eine neue Mischung der beiden Perspektiven der Politica entstand, das Konzept der «Klugheit zu leben und zu regieren». 288 Für unser unmittelbares Erkenntnisinteresse ist der in diesem Zusammenhang von der politikwissenschaftlichen Begleitliteratur entwickelte Literaturkanon entscheidend. Dazu lassen sich zusammenfassend folgende Feststellungen treffen. Die Empfehlungen auf den drei verschiedenen Reflexionsebenen sind weitgehend identisch. Der nähere Praxisbezug der Adelserziehung und der Politicwi-Ausbildung wirkt sich nicht in einer signifikanten Variation des Lektüreprogramms aus. Diese Identität der Programmatik bezieht sich sowohl auf die Klassifizierung der Literatur als auch auf den rangmäßig geordneten N a m e n - und Titelbestand. Die Klassifizierung der Literatur stellt regelmäßig systematischkompendiöse, theoretisch-universal orientierte Gesamtdarstellungen einer in sich unterschiedlich differenzierten Klasse speziellerer, mit Teilfragen der Politik befaßter Literatur gegenüber. Die Systematisierung dieser Literatur anhand wichtiger Praxiserfordernisse gelingt freilich nicht wirklich, weil diese Praxiserfordernisse zu disparat sind und zusätzlich formale Klassifizierungskriterien eingebracht werden. Regelmäßig wird in allen Klassen und Abteilungen immer stärker zwischen antiken und modernen, in den theoretischeren Beiträgen innerhalb der modernen auch zwischen deutschen und nichtdeutschen Autoren unterschieden. Diese analytische Unterscheidung geht beschleunigt gegen Jahrhundertende in eine Distanzierung von den antiken und den nichtdeutschen Autoren über. Anders ausgedrückt: Die Reichweite der Rezeption reduziert sich, die Reflexion konzentriert sich auf den unmittelbaren eigenen Bereich. Dennoch verdankt die Politica des 17. Jahrhunderts in Deutschland ihren europäischen Nachbarn entscheidende Anstöße. Bereits bei den Zeitgenossen bestand weitgehender Konsens darüber, daß italienische Späthumanisten wichtige Grundlagen vermittelten, von Machiavelli im Hinblick auf den Fürstenstaat die größten Herausforderungen an die Normen der Politik ausgingen und das Werk Bodins die moderne systematische Politikreflexion im Reich in Gang setzte. Weitere französische und niederländische Literatur wird umso stärker rezipiert, je deutlicher die politisch-historische Wirksamkeit der Systeme dieser Länder deren Wahrheitsgehalt und Praxiseffizienz zu belegen scheinen. Im Hinblick auf die Klassifizierung der Politikliteratur nimmt die Bibliographia politica des Bibliothekars Richelieus und Mazarins, Gabriel Naudé, eine Schlüsselstellung ein. Es ergibt sich bei den modernen deutschen Opera systematica ά

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Vgl. dazu den oben mehrfach angeführten Titel von A. Rüdiger.

compendiosa

eine bis gegen Jahrhundertende von nahezu allen Autoren befürwortete Auswahl, die folgende Namen und Titel umfaßt: Justus Lipsius (Politicorum sive civilis doctrinae libri VI, 1589); Bartholomäus Keckermann (Systema disciplinae Politicae, 1607); Georg Schönborner (Politicorum libri VI, 1610); Henning Arnisaeus (Doctrina Politica in genuinam Methodum, quae est Aristotelis, reducía, 1606; De República seu Relectionis Politicae libri II, 1615);289 Christian Liebenthal (Collegium Politicum, in quo de societatibus, magistratibus, iuribus majestatis et legibus fundamentalibus ... tractatur, 1619); Adam Contzen (Politicorum libri decern, 1620); Wolfgang Heider (Philosophiae Politicae systema, 1628); Balthasar Cellarius (Politicae succinctae, ex Aristotele potissimum erutae ac ad praesentem Imperii Romani statum multis in locis accomodatae, 1645); Marcus Zuerius Boxhorn (Institutionum politicarum libri duo, 1656); Daniel Ciasen (Compendium Politicae succinctum, 1671); Johann Heinrich B o e d e r (Institutiones Politicae, 1674) und Johann Christoph Becmann (Meditationes politicae, 1676 bzw. Meditationes politicae iisdemque continuendis & illustrandis addita Parallela politica, 1679). Besonders auffällig ist an dieser Auswahl das Auftauchen der Libri des Lipsius, obwohl deren unzureichende systematische Qualität bemängelt wird. G. Oestreichs These von der überragenden Bedeutung der lipsianischen Variante des Neustoizismus für das Politikdenken im 17. Jahrhundert, die in der jüngsten Forschung eher relativiert wird, findet also Bestätigung. Ebenfalls bemerkenswert ist die Nennung des Arnisaeus als Repräsentant des von H. Dreitzel rekonstruierten Protestantischen Aristotelismus und Boeclers als Haupt der Straßburger neustoisch-tacitistisch-aristotelisch-naturrechtlichen Schule. Mit dem wissenschaftlich-weltanschaulichen Standort der übrigen Autoren und Inhalt und Tendenz ihrer Werke wird sich unsere Analyse in Teil II dieser Studie zu befassen haben. Hier ist aber noch die wissenschaftliche Anerkennung und politische Ablehnung der Politica des Althusius und der Arbeiten von dessen Anhängern festzuhalten, sowie die nicht mehr von einem breiten Konsens getragene Ergänzung der genannten Auswahl an systematisch-dogmatischen Autoren durch S. Pufendorf (De jure naturae et gentium libri octo, 1672); J. N. Hertius (Elementa prudentiae civilis, 1689); Chr. Weise (Quaestiones Politicae sive Exacta Prudentiae civilis Cognitio, 1690); J. F. Buddaeus (Elementa Philosophiae practicae, 1697) u. a. Der Autoren- und Titelbestand der spezielleren Literatur zur Politik ist zwar weniger eindeutig zu greifen, scheint aber im Ganzen ähnlich stabil zu sein. Die communis opinio spiegelt am überschaubarsten die Bibliotheca C. Arnds von 1705 wider. Rekonstruktionen der Bestände und inhaltlichen Tendenzen der einzelnen Klassen stehen noch aus, wären aber dringend erforderlich. Zum Abschluß sei jedoch noch ein Blick auf einen Bereich gelehrten Bemühens um politische Probleme geworfen, der bisher nur am Rande gestreift wurde, nämlich die römisch-katholische Wissenschaft. Katholische Verfasser 289

Zu den schon frühen Irrtümern in Bezug auf den Titel des zweiten (unvollendeten) Beitrages vgl. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus S. 115, Fußnote.

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von politikwissenschaftlicher Begleitliteratur sind uns bisher nur in Gestalt von Caspar Schoppe und Gabriel Naudé begegnet. Bei Schoppe handelt es sich allerdings um einen ausgesprochenen Jesuitengegner, und Naudé steht den Jesuiten fern, während die römisch-katholische Wissenschaft der Zeit wesentlich jesuitisch geprägt ist. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß immerhin einer der systematisch-dogmatischen Autoren, die zur Auswahl des Jahrhunderts gehören, ein Jesuit ist. 290 Wir sollten daher zumindest zwei repräsentative politische oder politiknahe jesuitische Texte durchmustern, um herauszufinden, welche Autoren und Texte hier als bedeutsam angesehen werden. Die Annahme der Forschung, daß sich die Politik dort, wo die Ratio studiorum das philosophische Denken bestimmte, über einige späthumanistische Ansätze hinaus nicht weiterentwickeln konnte, soll uns von einer Musterung dieser Quellen nicht abhalten. Der Beitrag des altgläubigen Denkens zum Politikverständnis des 17. Jahrhunderts wurde bisher ja noch viel zu wenig untersucht. Weil es einer versinkenden oder versunkenen Welt anzugehören scheint, galt eine Befassung mit ihm als uninteressant. 291 Herausragendes Instrument eines kämpferischen geistig-kulturellen Programms für ganz Europa war in dem von uns beobachteten Zeitraum die Bibliotheca selecta des jesuitischen Spitzendiplomaten und Unionstheologen Antonio Possevino (1533-1611) von 1593.292 Dieses in Rom nach einer entsprechenden Tagung zusammengestellte Werk wendet sich gezielt an die Principes aliosque Magistrates. Denn diese würden von obskuren oder offenkundig unchristlichen Büchern «de politicis rebus» geradezu überschüttet und verlangten deshalb nach rascher, zuverlässiger Orientierungshilfe. Die in neuen Büchern gepriesenen «novissimae artes hoc saeculo, quas vocant Rationem Status», seien aber in Wirklichkeit das sicherste Mittel, Moral und Politik zu untergraben, die Herrschaft umzustürzen und jegliche Autorität aufzuheben. 2 9 3 Aufgrund eines ausdrücklichen Mandats Innocents IX. verwirft Possevino deshalb die wichtigsten Darstellungen ad novam administrandi rationem, als die er Machiavellis Principe, Francois de la Noues Discours politiques et militaires und Jean Bodins Six

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Nämlich Adam Contzen, s. unten Abschnitt 2.2.6. Contzens Autoriät Tholosanus war nach Z. Gambino (II De República [1978], S. 15ff. u. ö.) freilich ein entschiedener Gegner des Ordens. Vgl. Stolleis S. 123. Titelfortsetzung: qua agitur De Ratione studiorum, in Historia, in Disciplinis, in Salute omnium procuranda. Possevino gewann 1578/80 den schwedischen König Johann III. für Rom zurück, trat in Osteuropa (z. B. Wilna, Riga, Braunsberg) als Hochschulgründer hervor und leistete für die Entwicklung der allgemeinen Wissenschaftstheorie Bedeutendes, vgl. neben G. Fell: Possevins Leben und Schriften (1901) A. Biondi: La Bibliotheca selecta di Antonio Possevino. Un progetto de egemonia culturale (1981); G. Anselmi: Per un' archeologia della Ratio: Dalla «Pedagogi» alla «Governo» (1981) und jetzt J. P. Donnelly: Possevino's Papalist Critique of French Political Writers (1987). Bibliotheca, Vorwort («Causae et idea operis») o. S., S. 37.

livres identifiziert. 294 Die Kritik, die dieser entschiedenen Ablehnung zugrundeliegt, gipfelt in drei Hauptvorwürfen. Es werde in diesen Werken den viri ecclesiastici das Recht zur Intervention in res políticas abgesprochen oder sogar die Idee eines supremum imperium der weltlichen Herrscher über die Kirche propagiert. Die teuflische Idee der Autonomia werde vertreten, d. h. daß in der Respublica die Libertas credendi konzediert werden müsse. Zum Dritten seien viele einzelne Argumente direkt und eindeutig gegen den katholischen Glauben und die römische Kirche gerichtet. Posse vino, sein Orden und sein höchster Auftraggeber, der Papst, stellen sich demnach gegen die Abdrängung des kirchlichen Einflusses aus der Politik im Zuge der Ausbildung eines autonomen, eigenen Gesetzen folgenden politischen Systems. Wogegen sie sich jedoch nicht wenden, ist die Modernisierung der Herrschaftsmittel, sofern sie nur im römischen Sinne angewandt werden. Das zeigt sich am deutlichsten bei der Befürwortung der Wiederbelebung der altrömischen Militärdisziplin, aber auch der Rationalisierung der Politik im ganzen. Zur richtigen Belehrung in politicis geeignet sind auch nach Possevino deshalb die Libri de Principatu seu Politicis rebus des Justus Lipsius, Giovanni Boteros Staatsräsonwerk sowie, was das Problem der Autonomie betrifft, des Lensaeus Traktat De libertóte Christiana.295 1660 wurde eine weitere jesuitische, in diesem Fall jedoch für das deutsche Publikum bestimmte Studienanleitung mit Bezügen zur Politica veröffentlicht, das posthume Tractat, Goldgrub aller Künst und Wissenschaften genannt, des verstorbenen Hofpredigers Maximilians I.von Bayern Hieremias Drexel (1581-1638). 296 Der gebürtige Augsburger möchte seine Schützlinge hier mit der Kunst des Exzerpierens («Ausschreiben») vertraut machen, exemplifiziert am besonders bedeutsamen Bereich der Politik. Schon die Notwendigkeit des Exzerpierens an sich unterstreicht Drexel mit dem «Zeugnis und Exempel 294

S. 121-127 (Judicium de Machiavello, Nua milite, Bodino & aliis, qui Politici habentur, nec sunt; im Index wird diese Charakterisierung unter der Bezeichnung «Pseudopolitici» zusammengezogen), S. 127-129 (Auseinandersetzung mit Machiavelli), S. 144-147 (Auseinandersetzung mit La N o u e ) und S. 1 2 9 - 1 4 2 (Auseinandersetzung mit Bodins Six Livres und der Daemonomania). Ein weiteres scharf abgelehntes Werk ist Philipp Morneis Liber de veritate Christianae Religionis, vgl. S. 142-144.

295

S. 125ff. Was Possevino an dem an einer Jesuitenschule ausgebildeten Lipsius nicht gefällt, ist naturgemäß dessen nicht eindeutige Stellungnahme zur Problematik der Libertas credendi. Die Schrift des Lensaeus ist angeblich 1590 in Antwerpen gedruckt. Vor ihr nennt der Jesuit noch den «sub alio nomine» veröffentlichten Traktat des Andreas Ernstberger: D e Autonomia, D a s ist Freystellung mehrerlay Religion und Glauben (1586); vgl. hierzu z . B . W . S c h u l z e : D a s Wagnis der Individualisierung (1988) S. 284, A n m . 35.

296

Erstausgabe lateinisch in: H. Drexel, Opera omnia, Antwerpen 1660. D e n vorstehenden Ausführungen liegt die zweite, vierbändige Auflage von 1662 zugrunde, die ins Deutsche übersetzt ist. Zur Biographie Drexels siehe H. Breidenbach: Der Emblematiker J. Drexel S.J. (1581-1638) (1970), und K. Pörnbacher: Die «irdische Wolredenheit» des J. Drexel (1981), ferner D . Breuer: Absolutistische Staatsform und neue Frömmigkeitsformen (1984) und noch D B A 252, 3 4 1 - 3 4 5 .

87

J. Lipsii». Aber auch methodisch und in der Qualität der Argumentation sei der ehemalige Jesuitenschüler «vor andern gelehrt, über alle massen scharpffsinnig». 297 Die Politik des Lipsius ist nach Drexel, der bei seinen Ausführungen zweifellos die bayerischen Kurprinzen im Auge hatte, ein «schrecklich wundersames Werck, das ihm wenige werden nachthun». Die separate Aufzählung der «Scribenten, welche man in Regiments-Sachen lesen soll», reiht allerdings vor dem an zweiter Stelle genannten Niederländer noch Robert Bellarmin ein, danach den Lipsius-Nachahmer Jean Chockier de Surlet (s.o.) sowie - mit gegenständlich bedingten Einschränkungen - Thomas von Aquin, Adam Contzen und Carolus Scribanus. 298 An anderer Stelle, bei der Erörterung der Probleme politisch klugen Redens und Schweigens, zitiert Drexel das Urteil des Lipsius über Machiavelli. 299 Auch hier bestätigt sich also der von Oestreich und nach ihm von Seils für den katholischen Raum herausgearbeitete Befund, daß die neustoisch-tacitistische Politiklehre einem allgemeinen Bedürfnis der Zeit entsprach. Die Umstände und Tendenzen des Zeitalters brachten in allen konfessionellen Lagern ähnliche theoretische und praktische Reaktionen hervor. Die Unterschiede in den geistig-konfessionellen Prädispositionen schlugen sich eher in Varianten als in Alternativen nieder. 300 Im römisch-katholischen Raum wurde unverkennbar weniger Literatur produziert, die sich schon vom Titel her als politisch klassifizieren läßt. Dieser Rückstand ist unzweifelhaft auch mit den modernisierungshemmenden Elementen der Ratio studiorum zu erklären, die Arno Seifert am Beispiel Ingolstadts herausgearbeitet hat. 301 Aber es entstanden durchaus politische Systementwürfe und Beiträge zu speziellen politischen Problemen, die selbst im protestantischen Lager Anerkennung fanden, und zwar besonders in Köln und Mainz. 302 Die gängige Vorstellung, daß die jesuitische Gelehrsamkeit des 17. Jahrhunderts rückständig gewesen sei, muß demnach differenziert werden. Tatsächlich konnte auch die römisch-katholische Kirche auf eine Modernisierung des politisch-herrschaftlichen Instrumentariums im Kampf mit ihren Gegnern

297 298 299

300

301

302

88

Goldgrub S. 972, 1047f. S. 1063ff. Die politisch Zung, S. 1828: «Von Machiavello halte ich, die Wahrheit zu sagen, eben das, was der hochgelehrte Justus Lipsius von ihm gehalten, der redt von diesem Politischen Schreiber niemand zu lieb noch zu leyd also: Daß Machiavelli Art und Ingenium, spricht er, wil ich nicht veracht haben, doch wollte GOTT, erhette seine Fürsten den schnurgeraden Weg zur Tugend und zur Ehr und Würdigkeit g e f ü h r e t . . . Machiav e l l i ist zwar spitzfindig, aber offt gar zu verkehrt.» Zu den sehr relativen Unterschieden im Verhältnis zum Politischen Aristotelismus zwischen Reformiertentum und Luthertum vgl. die Ausführungen bei Dreitzel, Aristotelismus S. 182-184 u.ö., ferner unsere Bemerkungen unten in Kapitel 2. A. Seifert: Der jesuitische Bildungskanon im Lichte der zeitgenössischen Kritik (1984). Zur Messung dieser Anerkennung wären eine systematische Auswertung der Bibliotheken protestantischer Gelehrter und gelehrter Institutionen einerseits und entsprechende Textanalysen andererseits zu veranstalten.

keinesfalls verzichten. Schließlich spricht auch vieles dafür, daß trotz der relativen Säkularisierung der Politik im 17. Jahrhundert in Wirklichkeit alle politischen Systeme auf die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines konfessionell einheitlichen Unterbaues nicht verzichten konnten. 3 0 3

303

Für Hinweise auf den bis heute unterschätzten Beitrag jesuitischer Gelehrsamkeit zur lateinischen Fachliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. J. Ijsewijn: A Companion to Neolatin Studies (1977), S. 21-24 und 51-53; zum Gesamtzusammenhang und zum speziellen Fall der Modernisierung der jesuitischen Rhetorik (allmähliche Distanzierung vom ciceronischen Stil, Entwicklung einer profanen Eloquenz) ist einschlägig B.Bauer: Jesuitische «ars rhetorica» (1986). Die These von der Notwendigkeit der Konfession für Politik und Staat bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vertritt derzeit am konsequentesten W. Reinhard, vgl. dessen Zwang zur Konfessionalisierung? (1983).

89

2.

Die führenden Opera systematica et compendiosa der politischen Wissenschaft des Reiches im 17. Jahrhundert

2.1. Voraussetzungen und Ansätze

2.1.1 Erfahrungshorizonte der Verfasser Es ist hier nicht der Ort, detailliert dem komplexen Formierungs- und Amalgamierungsprozeß nachzugehen, aus welchem schließlich die weltanschaulich-wissenschaftlich-politischen Positionen von Gelehrten hervorgehen. Dennoch müssen wenigstens die wichtigsten biographisch begründeten Orientierungen der Verfasser des hier zu untersuchenden Schrifttums angesprochen und anschliessend auf höherer Abstraktionsebene zusammengefaßt werden. Justus Lipsius (1547-1606) entstammte dem katholischen städtischen Amtsbürgertum der südlichen Niederlande, absolvierte das Kölner Jesuitengymnasium und studierte in Löwen Philologie und Rechtswissenschaften. Seine erste berufliche Tätigkeit führte ihn im Gefolge eines hohen päpstlichen Diplomaten für zwei Jahre nach Rom. Weil der niederländische Bürgerkrieg ein ruhiges Gelehrtenleben in der Heimat unmöglich machte und eine Position an einer katholischen Universität auch durch Antichambrieren in Wien nicht zu erlangen war, übernahm er danach eine Professur für Eloquenz und Geschichte im lutherischen Jena. Von dort trieb ihn der flaccianische Streit zuerst an die Heimatuniversität Löwen zurück, welcher er aber bald wieder den Rücken kehren mußte, weil ihn die Inquisition bedrohte. Erst in Leiden, an der Musteruniversität der Generalstaaten, war ihm eine länger dauernde Wirkungszeit beschieden (1579-1591). Als auch dort neue Konflikte um Konfession und Toleranz ausbrachen, wandte er sich wieder dem Katholizismus und der Löwener Universität zu. Lipsius' kritische Tacitus-Edition, die Grundlage seiner Politica, wurde in Jena erarbeitet. Sein praktisch-philosophischer Ratgeber zum Überleben des gebildeten Bürgers in bewegter Zeit De constantia libri duo qui alloquium praecipue continent in publicis malis (1584), der den Antwerpener Räten gewidmet ist, ist ebenso eine Frucht der Leidener Jahre wie die erste Fassung der Politicorum seu civilis doctrinae libri sex (1589), seine dem Kaiser, den Königen und den Fürsten allgemein dedizierte Politica. Die zweite, katholisierende Fassung der Politica und das militärtheoretische Hauptwerk De militia Romana (1595/6) entstanden in Löwen. Ebenfalls dort wurden die Manuductiones ad stoicam philosophiam 90

libri tres (vermehrte A u s g a b e 1610) geschrieben, die Lipsius endgültig z u m B e gründer der Secta stoica nova werden ließen. 1 B a r t h o l o m ä u s K e c k e r m a n n ( 1 5 7 3 - 1 6 0 9 ) wurde als S o h n e i n e s reformierten H o f b e a m t e n in D a n z i g g e b o r e n , studierte Philosophie und T h e o l o g i e in Wittenberg, Leipzig und H e i d e l b e r g und war zuerst als Lehrer der T h e o l o g i e a m Heidelberger P ä d a g o g i u m bzw. Sapienzkolleg tätig. 1602 kehrte er als Professor für Philosophie an das G y m n a s i u m seiner Heimatstadt zurück, das zu dieser Zeit «ein Bollwerk für das evangelische Christentum an der N o r d o s t g r e n z e D e u t s c h lands» darstellte. Zunächst nur als T h e o l o g e und Philosoph schriftstellerisch tätig, scheint seine Beschäftigung mit der Politik auf die sich verschärfende konfessionell-politische Situation D a n z i g s im D r e i e c k von Luthertum, Calvinismus und Katholizismus einerseits und d e m Konflikt zwischen Stadt und König andererseits zurückzugehen. D a s Hauptwerk Systema

disciplinae

politicae

erschien

1607. 2 G e o r g S c h ö n b o r n e r ( 1 5 7 9 - 1 6 3 7 ) s t a m m t e aus einer evangelischen Juristen-

1

Zu Lipsius und seinem Werk generell s. J. L. Saunders: J. Lipsius (1955); die vielfältigen Arbeiten von G. Oestreich (Literaturverzeichnis!); Fr. de Nave: J. Lipsius, schrijver in politicis (1969); K.-H. Mulagk: Phänomene des politischen Menschen (1973), S. 71-98; L. Foster: Lipsius and Renaissance Neostoicism (1977); G. Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit (1978); K. Siedschlag: Der Einfluß der niederländisch-neustoischen Ethik (1978); H.Wansink: Politieke wetenschappen aan de Leidse Universiteit 1575-1650 (1981) S. 146-152; M . E . H . N. Mout: In het schip: Justus Lipsius en de Nederlandse Opstand tot 1591 (1985); W. Reinhard: Humanismus und Militarismus (1986); M. Stolleis: Lipsius-Rezeption (1987), und jetzt J.H. M. Salmon: Stoicism and Roman Example: Seneca and Tacitus in Jacobean England (1989). Salmon ist der erste Autor, der die gleichgewichtige Verbindung von Stoa und Tacitus als eigentliches Merkmal der lipsianischen Bewegung hervorhebt. Neben den Manuductiones legte Lipsius noch die Physiologiae stoicorum libri tres (2. Auflage Antwerpen 1610) vor. Die seit längerem angekündigte Edition der deutschen Übersetzung der Politicorum libri (Gesamtauflage des Werkes: 96, Neuausgabe noch Wien 1750) von Melchior Haganeus (Sechs Bücher von Unterweisung zum weltlichen Regiment oder von bürgerlicher Lehr (!!), 1. Auflage Amberg 1599, steht noch aus. Das Briefwerk erscheint seit 1978 in Brüssel, schon zuvor (1968) erschien ein von A. Gerlo betreutes Inventaire dieses Briefwerks in Antwerpen. Soweit wir sehen, fehlt indessen noch eine systematische Untersuchung aller zeitgenössischen Lipsius-Nachahmer, von welchen hier als Werk nur die Institutio viri privati et publici et aulici, admodum fere Iusti Lipsii in Politicis (1647) und als Autor neben den o. a. Verfassern nur der Jesuit Jacob Pontanus erwähnt seien - B. Bauer: J. Pontanus S.J. (1984). Für die Melancholie und Depressionen, die Lipsius zunehmend quälten und für seine Weltanschauung sicher nicht unerheblich sind, vgl. meinen o. a. Aufsatz: Im Kampf mit Saturn (1990).

2

Vgl.zu ihm knapp zusammenfassend Stolleis S. 109f., breiter W. H. Zuylen: B. Keckermann. Sein Leben und Wirken (1934; o . a . Zitat S. 16); A . Goedeking: Die «Politik» des L. Danaeus, J. Althusius und B. Keckermann (1972; grundlegend), sowie W. SchmidtBiggemann: Topica universalis (1983), S. 89-100, und Z. Ogonowski: Filosofia szkolna w Polsce XVII wieku (1985), diese beiden speziell zur Methode und Wissenschaftsauffassung Keckermanns (). Zum derzeit bequem zugänglichen Nachdruck der Opera omnia Keckermanns vgl.das Quellenverzeichnis. Das Systema wurde insgesamt dreimal aufgelegt. 91

und Beamtenfamilie Schlesiens. Er studierte in Frankfurt, Leipzig, Helmstedt, Jena, Marburg, Altdorf und Heidelberg, promovierte zum Doktor der Rechtswissenschaften aber in Basel. 1609, ein Jahr nach der Promotion, nahm er eine Kanzlerstelle bei den Grafen von Hohenzollern an. Zuletzt führte ihn seine Verwaltungskarriere als kaiserlichen Finanzjuristen nach Niederschlesien und in die Lausitz. Seine Politicorum libri Septem, die sich durch eine besondere Komposition (s.u.) auszeichnen, erschienen in erster Auflage bereits 1609. Sie sind Schönborners einziges bekanntgewordenes Werk geblieben. 3 Henning Arnisaeus' (ca. 1575-1636) Familie ist unbekannt, sein Heimatort war ein Dorf in der Nähe von Halberstadt. Er studierte in Helmstedt und Frankfurt a . d . Oder, im artistisch-philosophischen Grundstudium besonders bei Johannes Caselius, anschließend Medizin. A b 1602 als Dozent für Politik und Metaphysik in Frankfurt tätig, kehrte er 1605 nach Helmstedt zurück, wo nach der Rückkehr von einer Reise nach Frankreich, England und die freien Niederlande als Hofmeister zweier jungen Grafen die Berufung zum Professor der Medizin aber vorerst scheiterte. Dafür ernannte ihn der brandenburgische Kurfürst 1610 zum Extraordinarius und 1612 zum Ordinarius medicinae. 1613 erfolgte dann die Bestallung für Medizin und Philosophie in Helmstedt; sieben Jahre später siedelte Arnisaeus jedoch als Königlicher Leibarzt an den dänischen Königshof über. Die politikwissenschaftliche Produktion fällt in die Jahre bis 1615. Die Doctrina politica erschien 1606, die unvollendet gebliebene De República wurde 1615 in Frankfurt verlegt. 4 Christian Liebenthal (1586-1647) war der Sohn eines kleinen neumärkischen Beamten, absolvierte sein philosophisch-philologisches Studium in Frankfurt, Wittenberg, Rostock und stieg danach vom adeligen Hofmeister zum Professor für praktische Philosophie und Eloquenz an der ebenso streng lutherischen wie entschieden kaisertreuen Gießener Universität auf. Die Ernennung zum darmstädtischen Rat 1624 scheint lediglich eine Titelverleihung gewesen zu sein. Liebenthals Collegium Politicum (erste Auflage 1619, weitere Auflagen 1643 und 1654) setzt sich aus akademischen Disputationen zusammen; daneben hat ihn sein Collegium ethicum (zuerst 1620) bekanntgemacht. 5 Adam Contzen (1577-1635), der aus einem kleinen Ort im Herzogtum Jülich stammte, war einer der bedeutendsten Vertreter der jesuitischen Theologie-, Kirchen- und Staatsreform. Als Professor in Mainz, Universitätsreformer (Molsheim, Heidelberg), Verfasser wichtiger politischer und politik-literarischer Schriften, Diplomat und Beichtvater des Bischofs von Bamberg und Würzburg sowie Kurfürst Maximilians I. von Bayern beeinflußte er die katholische

3

4 s

Vgl. zu ihm den Beitrag bei Stolleis S. 116 und 118f. sowie D B A 1130, 213-216. Bei Schönborners Kindern war der Dichter Andreas Gryphius Hofmeister. Die Politica Schönborners wurde viermal aufgelegt. Alle Daten nach Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus (1970). Vgl. kurz Stolleis S. 119f., ferner Zedier 17, Sp.989f., Jöcher-Adelung 3, S. 1787-1788 und D B A 762, 391-396.

92

Politik seiner Zeit erheblich. Seine in den Anfangsjahren des Dreißigjährigen Krieges erstmals vorgelegten Politicorum libri decern (1620, zweite Auflage 1628) gelten als «die Quintessenz dessen, was aus streng katholischer Sicht in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelehrt wurde». Der Methodus doctrinae civilis seu Abissini Regis historia ist ein hervorragender Beitrag zur oberdeutschen Literatur des Frühabsolutismus. 6 Wolfgang Heider (1558-1626) war der Sohn eines lutherischen Bauern aus Thüringen. Er besuchte gelehrte Ausbildungsstätten in Magdeburg, Hildesheim und Jena, 1587 erfolgte die Ernennung zum Professor für Ethik und Politik ebendort. Neben seiner Lehrtätigkeit, aus der das erst posthum veröffentlichte Philosophiae politicae systema (1628) hervorging, war er als Inspektor für die Stipendiaten zuständig. Seine humanistisch-unorthodoxe Haltung beeinflußte die Atmosphäre der thüringischen Landesuniversität nachhaltig, ungeachtet der oft mit harten Mitteln durchgesetzten Zurückdrängung des Kryptocalvinismus zugunsten der lutherischen Orthodoxie in den Jahren 1591 bis 1593.7 Über Balthasar Cellarius' Herkunft ist nur wenig überliefert. Bezeugt ist jedoch, daß er in Jena, Wittenberg und Helmstedt Theologie studierte, dann eine braunschweigische Predigerstelle annahm und von dort in die Kirchenverwaltung (General-Superintendent) und als Theologieordinarius an die Helmstedter Universität übertrat. Seine Johann Ernst von Sachsen gewidmete Politicae succinctae (zumindest 6 Auflagen) wurden in der Braunschweiger Pastorenzeit abgefaßt. 8 Marcus Zuerius Boxhorn (1612-1663) wurde in Bergen-op-Zoom geboren. Er war der Enkel des Leidener Theologen Heinrich Boxhorn. Als Student der Artes, der Politik und der Rechte ein genuines Produkt der Leidener Universität, stieg er ebendort 1632 zum Professor der Eloquenz auf, welchem Amt sich 1648 die Nachfolge des Daniel Heinsius auf der Geschichtsprofessur anschloß. Sein Werk ist höchst umfangreich, besonders bedeutsam sind neben den insgesamt viermal (zuletzt 1702) aufgelegten Institutionum politicarum libri duo verschiedene historisch-staatenkundlich-politische Beiträge über die Generalstaaten. Sie alle dienen vornehmlich dem Bestreben, der jungen niederländischen Republik historische Légitimât, politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität zu verschaffen. Speziell die Libri duo sind dabei praktisch ein Plädoyer für die Institutionalisierung und Festigung der niederländischen Statthalterschaft. 9

6

7

8 9

Stolleis S. 122-125 (Zitat S. 123); E. A. Seils: Die Staatslehre A. Contzens S.J. (1968); R. Bireley: Maximilian von Bayern, A. Contzen und die Gegenreformation (1975); V.Press: Kurfürst Maximilian I.von Bayern, die Jesuiten und die Universität Heidelberg (1985). Alma mater Jenensis (1984) S. 50f., 53 u. ö. ; A D B 11, S. 306; D B A 496,264-267; Zedier 12, Sp. 1142f. Zu einer Neuauflage der über lOOOseitigen Politica scheint es nicht gekommen zu sein. D B A 184, 166-167. A D B 3, S.218ff.; E . d e Beauverger: École hollandaise. Althusius et Boxhorn (1858); G.O. van de Klashorst et al.: Bibliography of Dutch 17th century political thought

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Daniel Ciasen (1622-1768) wurde als Sohn eines Kaufmanns in Lüneburg geboren, studierte vor allem in Helmstedt die Artes und die Rechte, war zuerst Rektor in Magdeburg, dann Professor für Ethik und Politik am Lüneburger Gymnasium und schließlich ab 1669 Rechtsordinarius in Helmstedt. Aus der Lüneburger Amtszeit stammt der De religione Politica liber unus (1655), aus der Helmstedter Professorenzeit ging das Compendium Politicae succinctum hervor. 10 Samuel Pufendorfs Biographie (1632-1694) ist bekannt. Er war der Sohn eines sächsischen Pfarrers, wurde an der Fürstenschule in Grimma ausgebildet und studierte zunächst Theologie, dann , Jurisprudenz, Politik, Ethik und Naturrecht in Leipzig und Jena. Nach dem Studium geriet er als Hauslehrer des schwedischen Gesandten in Kopenhagen für acht Monate in Haft, studierte dann erneut, und zwar klassische Philologie in Leiden, und erhielt 1661 den ersten Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht in Deutschland an der Philosophischen Fakultät in Heidelberg. 1670 wechselte er nach Lund; während jener Tätigkeit erschienen seine Hauptwerke. Sieben Jahre später wurde der vielseitig gebildete Gelehrte zum schwedischen, 1688 zum preußischen Hofhistoriographen ernannt. Als eigentliche Beiträge zur Politik nennt die Anzeige der De Jure naturae de gentium libri octo (1672) in den Acta Eruditorum nur die Bücher VI bis VIII, während die vorgenannten Empfehlungen das gesamte naturrechtliche Grundlagenwerk und die schon 1675 erschienen Dissertationes academicae selectiones einschließen. 11 Johann Heinrich B o e d e r (1611-1672) war der Sohn eines fränkischen Pfarrers. Seine erste gelehrte Ausbildungsstätte, das Heilbronner Gymnasium, mußte er wegen kriegerischer Ereignisse verlassen, weshalb er nach Nürnberg, Tübingen und schließlich Straßburg auswich. An der Straßburger Akademie wurde er vor allem von Matthias Bernegger gefördert, als dessen Meisterschüler er gilt. 1636 zunächst am Straßburger Gymnasium als Lehrer des Lateinischen eingestellt, erhielt er schon ein Jahr später die Universitätsprofessur der Elo-

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( 1986), S. 348f. u. ö. Bedeutend aus Boxhorns Feder sind die Idea orationum e selectiori Materia moderni status politici desumpta (1643, Nachdruck u . a . Köln 1721), d e r C o m mentariolus de statu confoederatarum provinciarum Belgii (1649), das D e majestate regum principumque ac praerogativa et iure primogenitorum in adeundo principatu liber singularis (1649; behandelt die englische Thronfolge) sowie die anonym erschienenen Disquisitiones politicae (1650; 3. Auflage 1669). D B A 192, 119-135; Zedier 6, Sp. 235. Ciasens D e religione Politica wurde 1681 nochmals aufgelegt. D a s Compendium erschien offenbar 1675 in zweiter Auflage. Vgl. zu ihm ausführlich und mit allen wichtigen Literaturhinweisen Stolleis S. 2 3 3 - 2 3 8 , 2 8 2 - 2 8 5 U . V . Ö . ; W. Rod: Geometrischer Geist und Naturrecht (1970), S. 8 1 - 9 9 (zur Methode); H. Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei S.Pufendorf (1972); N. Hammerstein: S. Pufendorf (1977); S. von Pufendorf 1632-1982. Ett rättshistorisk Symposium (1986; besonders die Beiträge von H. Denzer und N. Hammerstein), und E. Klein: S. Pufendorf und die Anfänge der Naturrechtslehre (1986). D i e Dissertationes erschienen bereits 1677 zum zweiten Mal, für die Ausgaben des Naturrechtswerkes vgl. die ausführliche Bibliographie bei Denzer, Moralphilosophie (Anhang).

quenz. 1649 folgte ein dreijähriger Aufenthalt als Geschichtsordinarius in Uppsala, wo Königin Christina eine tiefgreifende Modernisierung der akademischen Gelehrsamkeit betrieb, 1652 die Rückkehr auf die Straßburger Geschichtsprofessur. Danach setzte die dichte Folge von Boeclers politiktheoretischen Werken ein, die im Kontext der speziellen Situation Straßburgs (s.o.) mit Auftragsarbeiten für den Mainzer Kurfürsten und Ludwig XIV. sowie mit anhaltenden Treuebekundungen gegenüber Schweden verbunden waren. Sein Verhältnis zu den Habsburgern war demgegenüber eher zurückhaltend. B o e d e r stand mit dem zweiten hervorragenden Vertreter des deutschen Politikdenkens dieser Epoche, Hermann Conring, in Verbindung, eine feste Freundschaft entwickelte sich jedoch nicht. Die Institutiones politicae (1674) sind ein posthum veröffentlichtes Spätwerk. 12 Johann Christoph Becmann (1641-1717) wurde als Sohn eines Superintendenten und Theologieprofessors geboren, der mit der Hohenzollerndynastie vom Luthertum zum Calvinismus konvertiert war. Er besuchte zunächst die väterliche Wirkungsstätte, das Zerbster Gymnasium illustre, und studierte dann in Frankfurt die Artes und Theologie. Danach unternahm er als Stipendiat Friedrich Wilhelms von Brandenburg ausgedehnte Reisen nach Holland (Universität Leiden) und England. 1667 erhielt er in Frankfurt eine Professur für griechische Sprache, 1676 eine Stelle für Geschichte, 1682 eine Professur für Politik und 1690 ein Theologieordinariat. Daneben war Becmann Universitätsbibliothekar und Hofhistoriograph. Er zählte zu den Häuptern der reformierten Partei lutherischer Provenienz, welche die Oder-Universität auf Betreiben der Landesherren zu einer für das gesamte Territorium umformen wollte. In diesem Zusammenhang sind seine politiktheoretischen Werke Meditationes politicae und Parallela politica sowie der Conspectus doctrinae politicae (1691) zu sehen, die inzwischen fast völlig vergessen sind. 13 Johann Nicolaus Hertius (1651-1710) ging aus dem hessischen lutherischen Pfarrer- und Beamtenstand hervor. Er studierte an der Heimatuniversität Gießen, in Jena, Leipzig und Wittenberg die Artes und die Rechte und arbeitete anschließend als Advokat an der fürstlichen Kanzlei in Gießen. Aus einer Ne-

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Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen nebst Literaturhinweisen bei Stolleis S. 101, 176, 195, 204 u. v.ö. sowie E. Jirgal: J. H. Bökler (1931) und W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat S. 45f., 48, 50ff., 60, 81 u.ö. Bei Zedier 4, Sp. 352 ist das Todesjahr 1692 angegeben. Neben den drei Dissertationenkollektionen Boeclers ist besonders die Commentatio in Hugo Grotii Jus Belli et Pacis ad illustrissimum Baronem Boineburgium (1704) bedeutsam. D B A 73, 30-43; N D B 1, S.730; G. Mühlpfordt: Die Oder-Universität 1506-1811 (1983), S. 19-72. 1684 erschien in Frankfurt eine erste Dissertationensammlung Becmanns, 1699 eine zweite, vgl. AlthB 5507. Die oben erwähnte Historia orbis terrarum geographica et civilis Becmanns (1680) erfuhr 1692 eine vierte Auflage. 1691 legte der Hobbes-Anhänger außerdem eine kommentierte Grotius-Ausgabe vor. Schon 1679 publizierte Becmann ferner eine lateinische Ausgabe des Basilicon Doron Jacobs I. von England.

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bentätigkeit als Dozent für Rechtswissenschaft und Politik an der dortigen Universität ergab sich 1683 für ihn eine juristische Professur. Daneben war er als landgräflicher Rat und Kanzler sowie als Beisitzer am darmstädtischen Samtrevisionsgericht tätig. Berufungen ins Ausland und zuletzt nach Halle schlug er aus oder konnte sie nicht mehr annehmen. Die Elementa prudentiae civilis (der leicht variierte Titel der ersten Auflage lautete: Specimen prudentiae civilis) entstanden als Frucht von Bemühungen, die überlieferte politische Dogmatik den modernen Verhältnissen anzupassen. «Damit bewahrte er zu einem Zeitpunkt, als die neoaristotelische Politik an Kredit verlor, deren Inhalte in der modernen Form einer kann ich hier nicht eingehen. Das Interesse des Staates, die Kirche als Institution von Zucht und Erziehung erhalten und funktionsfähig zu wissen, führt Pufendorf zur Konzipierung eines staatlichen Kirchenregiments in lutherischer Tradition. Polemik gegen den Anspruch der Papstkirche, wobei im Übrigen der vollendete Absolutismus der Papstherrschaft klar gesehen wird (vgl. vor allem De Concordia S. 547, 550 u. ö.), fehlt ohnehin nicht, ergänzt gelegentlich durch Attacken gegen bestimmte calvinistische Vorstellungen, vgl. Denzer, Pufendorf S.214.

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D e Obligatione adversus Patriam, in: Dissertationes Academicae S. 1-109. Die herangezogenen Belegstellen beweisen ein weiteres Mal, daß auch dieses Motiv vor allem antik-römisch vermittelt ist. Pufendorf wehrt sich hier analog zu seiner Einstellung in der Religionsfrage gegen eine allzu platte machiavellistische Instrumentalisierung der Vaterlandsliebe: Sie ist eben nicht ein(e) «error utilis & fraus necessaria» (S. 6), sondern ein echter, natürlicher menschlicher Trieb mit verpflichtendem Charakter. Gerade deshalb bewirkt sie aber eine entscheidende Vertiefung der Gehorsamsbereitschaft und -Verpflichtung vor allem des Civis, obwohl die Zielsetzung dieser Diskussion auch darin besteht, die Imperantes in die Pflicht zu nehmen. Der erneute Hinweis darauf, daß die Cives gar nicht beurteilen können, welche staatlichen Akte wann und wie dem Vaterland nützen (gestützt überdies mit einem Zitat ausgerechnet von Tacitus:» Tam nescire quaedam non milites solum, sed & caeteros subditos, quam scire oportet. Si ubi jubeantur, quaerere singulis liceat, pereunte obsequio etiam imperium intercidit», S. 31), führt faktisch zu jenem Ergebnis, das als Hobbesscher Lehrsatz noch explizit abgelehnt wurde: Die Cognitio boni & mali liegt nur noch beim Staat beziehungsweise den Imperantes. «Civi autem, si Reipubl. administratio displicuerit, nihil aliud relictum, quam patientia aut emigratio» (S. 97).

151

D e Jure S. 768-772, Zitat S.771; Lib. VIII C.I-XII S. 772-929, besonders C. IV S. 838-867 (Valor civium; mit «Honores» sind zum Teil auch die öffentlichen Ämtern gemeint) und C. V S. 868-879 (Vectigalia und Tributa; Hervorhebung im Zitat dazu (S.873) von mir, W.W. ; nicht zufällig ist gerade hier am häufigsten vom «Vulgus» 139

A u c h Pufendorfs großartiger Systementwurf dient d e m n a c h d e m wichtigsten Ziel der hier untersuchten Opera

politica:

den absolutistisch-monarchischen

Ordnungs- und Sicherheitsstaat s o auszurüsten, daß er sowohl schleichenden B e d r o h u n g e n als auch o f f e n e n Herausforderungen e n t g e g e n t r e t e n und in seiner gesellschaftlich-politischen Grundgestalt stabilisiert w e r d e n kann. G e h t m a n von seiner politiktheoretischen K o n z e p t i o n im e n g e r e n Sinne aus, s o kann überdies festgestellt w e r d e n , d a ß sich der Naturrechtslehrer über die Z u s a m m e n h ä n g e u n d die D y n a m i k d e s praktisch-politischen H a n d e l n s durchaus im klaren

2.2.12. Boeder In s e i n e m August Friedrich von Braunschweig-Lüneburg g e w i d m e t e n

sy-

stematischen Hauptwerk erweist sich der im a l l g e m e i n e n als Tacitist und N e u stoizist dargestellte Politiktheoretiker B o e d e r als e b e n s o stark aristotelisch beeinflußt. G e n a u e r : exemplarisch für e i n e n wesentlichen Teil der a k a d e m i s c h e n Politikdiskussion geht B o e d e r von aristotelischen, z u m Teil naturrechtlich ergänzten Prämissen aus, u m diese im herrschaftspraktischen B e r e i c h s e i n e s Syst e m s tacitistisch-lipsianisch zu ergänzen. 1 5 3

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anstatt von «Cives» die Rede), vgl. aber auch C. XII: D e mutatione & interitu civitatum S. 924-929. Auf die Herrschaftsrezepte im Einzelnen komme ich wie üblich oben in Teil 4 zurück, hier sei exemplarisch nur die Aufforderung zur Auskundschaftung der «Consilia & molitiones» ( = Rüstungen, S. 772) der Nachbarn erwähnt, die «hodie» unter anderem durch «legationes perpetuae» zu erledigen sei. Was die Fürsorge für die Subditi betrifft, so unterstreicht Pufendorf im Gegensatz zu manchen seiner Vorgänger jedoch ausdrücklich, daß die Summi Imperantes zur Ernährung ihrer Untertanen nicht verpflichtet sind (S. 771). Vgl. hierzu die entsprechenden Schlüsse bei Hammerstein, Pufendorf S. 176,183, 186 u. ö. Die Feststellung, daß Pufendorf verschlossen geblieben sei, daß Politik «mehr ist als nur Verwaltung und Rechtssprechung» (S. 194) muß nach dem Angeführten abgeschwächt werden. Obwohl die rechtliche Auflösung zum Beispiel der Staatsräson durchaus eines seiner Ziele darstellte, hat ja Pufendorf selbst durchaus anerkannt, daß es einen Wissens- und Handlungsbereich jenseits des Rechts gibt, und dieser Bereich in seine Disziplin fällt, vgl. De Jure Naturae Lib. VII C. IX S. 765. Bei der historischen Einordnung der Leistung Pufendorfs dürfen also weder seine Bezüge zum Luthertum noch diejenigen zum politischen Aristotelismus und zum Neustoizismus fehlen. In der Gewichtung der verschiedenen Bestandteile des Werkes ist dann, wenn man von den im engeren Sinne politischen Erwägungen ausgeht, das aufklärerische Element, die Betonung der Würde der Person, die Pufendorf insbesondere angerechnet wird, eher skeptischer zu beurteilen. Auch in Bezug auf Pufendorfs D e Statu Imperii Germanici ist von M. Stolleis (Textor und Pufendorf, 1975) schon vor einiger Zeit nicht nur dessen zuvor weitgehend übersehenes starkes Verhaftetsein in der zeitgenössischen Diskussion, sondern auch die eminent praktisch-politische Ausrichtung nachgewiesen worden. Institutiones Politicae, vgl. zur Verbindung von Aristotelismus und Tacitismus-Lipsianismus auch die entsprechenden Ausführungen des Herausgebers Ulrich Obrecht im

140

A u f diese Weise tritt die Politica praktisch ausgerichtete Prudentia trina, Scientia

o d e r Philosophia

bei ihm s o w o h l neustoisch-lipsianisch als

civilis w i e auch als m e h r theoretische

Doc-

civilis auf, und bezieht sie sich sowohl auf das

bürgerliche Z u s a m m e n l e b e n überhaupt als auch auf d e n speziellen B e r e i c h der Herrschaft im Staat d. h. die Politik i. e . S. 1 5 4 D e s h a l b ist in der Politik w i e üblich sowohl die richtige G r ü n d u n g ( C o n s t i t u t i o ) als auch die Regierung ( A d m i n i s t r a tio) einer Respublica

zu b e h a n d e l n . D i e s e setzt sich aus den kleineren Einheiten

der e h e l i c h e n , familiären und häuslichen G e m e i n s c h a f t e n der Cives

zusammen

und ist durch ihren «ordo imperandi & parendi» von der b l o ß e n Civitas grenzt. 1 5 5 D i e D e f i n i t i o n d e s Ziels der Respublica

abge-

ist in gleicher Weise sowohl

auf das materiell gute (utilis) und das tugendhafte (honestis) L e b e n b e z o g e n , für das Utilitas die wesentliche Vorausetzung darstellt. 1 5 6 Innerhalb dieses aristotelischen A n s a t z e s an der Respublica

wird aber zu wesentlichen Punkten vornehm-

lich neustoisch argumentiert. D i e zweite Hauptperspektive gilt ja d e m Individ u u m und d e s s e n Tugenden in den verschiedenen L e b e n s l a g e n , s o d a ß von einer Prudentia

conjugalis,

Prudentia

domestica

usw. g e s p r o c h e n w e r d e n kann. 1 5 7

D a ß auch für B o e d e r die Herrschaftsordnung des Staates von wesentlicher B e d e u t u n g ist, versteht sich d e m n a c h von selbst, e b e n s o deren e i n d e u t i g e Hierarchisierung unter einer souveränen Spitze. 1 5 8 D e r Begriff der

Vorwort o. S. Auch zu B o e d e r und Boeclers Werk fehlt noch eine moderne Studie, diejenige Jirgals ist tiefschürfend, vermag den Mangel aber nicht zu beheben. I n s t i t u t i o n s Prooemium S. 1-7, hier besonders S. lf., 4f., sowie Lib. I C. I S. 8 - 1 5 , hier S. 14f. mit ausdrücklichem Rekurs auf Aristoteles, Plato und andere antike Autoren als die wichtigsten Lieferanten der Fundamente der Politiktheorie und Lipsius als den Theoretiker der Vita civilis im Ganzen. Vgl. auch Diss. I: De scientia & studio politices, in: Institutiones [Anhang] S. 303-316. Institutiones C. I S. 14; C. II-C. VI S. 15-89, ferner Diss. III: De iure & ordine imperandi parendiq; adeoq; de Majestate & obsequi civili, in: ebd. [Anhang] S. 327-335. Obwohl mit dem Begriff des Civis im Prinzip sowohl die Imperantes als auch die Parentes in einem Staat gemeint sind (vgl. vor allem S. 79ff.), wird er im folgenden zunehmend nur noch für die Cives als Parentes bzw. Subditi gebraucht. S. 69ff. betont Boecler die noch für seine Zeit keineswegs selbstverständliche Grenzziehung nach außen: kein Civis kann gleichzeitig zwei oder mehr Staaten angehören. Institutiones C. VI S. 81ff. Adäquate Überbegriffe sind Eudaimonia, Felicitas und Beatitudo; zur näheren Konkretisierung wird Cicero zitiert: Finis reipublicae «est beata civium vita, ut opibus firma, copiis locuples, gloria ampia, virtute honesta fit, sive beata & honesta civitas» (S. 83f.). Institutiones C. II S. 37ff., 61ff. u . ö . Institutiones C. VI S. 76ff., sogar (wieder einmal) mit leichter Kritik an Aristoteles, weil dieser in seiner Definition der Civitas «sua anima», nämlich die Ordnung in Befehl und Gehorsam, nicht hinreichend berücksichtigt habe, ferner mit der nachdrücklichen Feststellung, daß kein noch so gut gemeinter Vertrag etwas nützen kann, wenn keine Möglichkeit besteht, Vertragsverstöße entsprechend zu ahnden. Ähnlich Lib. II C. I S. 89-110 («Civitatis anima in Imperio», S. 89), mit erneut besonders häufiger Zitierung von Arnisaeus als dem konsequentesten neuaristotelischen HerrschaftsstaatsTheoretiker, und der bekannten Ablehnung der Unterscheidung einer Majestas realis von einer Majestas personalis, wenn die Gefahr besteht, daß dadurch monarchomachische Mißverständnisse entstehen können (S.94f.). Auch auf die religiös-theologische 141

darf dabei nicht zu eng juristisch verstanden werden: gemeint sind die «Partes» oder «Efficia», also die von der Sache (und nicht von der rechtlichen Umschreibung) abhängenden Kompetenzen, die für Herrschaft benötigt werden. 159 Gesetzgebung und Gesetze als wichtigste, nämlich gehorsamerzwingende, zukunftsgestaltende Instrumente des Staates werden breit erörtert. 160 In der Frage der Jura Majestatis circa Sacra wird ein pragmatischer Standpunkt angenommen. Anknüpfend an Johann Gerhard 161 bestätigt B o e d e r das Recht des Staats auf «Conservado recti cultus» und «restitutio collapsi corruptive», weil die möglichen sicherheits- und ordnungsgefährdenden Konsequenzen von Konfessionsstreitigkeiten und religiösem Niedergang nicht zu leugnen sind. Das bedeutet weitgehende Inspektions-, Kontroll- und Gestaltungsrechte bzw. Fürsorgepflichten, aber nicht das Recht, Untertanen zu einem bestimmten Glauben zu zwingen. «Cum id, quod optimum est, non semper possit sperari ac obtineri», nämlich die religiöse Einheit, sind abweichende oder häretische Konfessionen zu dulden, wobei diese Duldung aber nicht mit einer Approbation zu verwechseln ist. In seiner Argumentation gegen die «Pontifici» geht B o e d e r sogar so weit, die provisorische Fürsorge eines Princeps für schutzlose Glaubensgenossen in einem Nachbarstaat zu befürworten. 162 An nächster Stelle wird der Magistrat als vom Souverän konstituiertes und geführtes Herrschaftsorgan erörtert. Dabei spricht sich B o e d e r explizit gegen eine analytische Trennung des Senats oder der Consiliarii vom Magistrat aus:

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Abstützung des Souveränitätsgedankens wird nicht verzichtet (S.98ff.), selbstverständlich mit besonderer Hervorhebung von Römer 13, «quod caput Christianorum Politicarli non sine ratione nominat Philippus Melanchthon» (S. 101); vgl. auch die Zusammenfassung S. 102. Die Diskussion der Frage nach der Bindung des Souveräns an das Gesetz S. 106ff. folgt ebenfalls weitgehend Arnisaeus. Institutiones C. I S. 110 u.ö. Institutiones Lib. II C. III S. 114-142; Diss. IV: De Juribus Majestatis in Genere & De Potestate Legislatoria, in: ebd. [Anhang] S. 335-357. Die Gesetzgebung ist das erste Jus Majestatis, wie selbst die Theologen zugestehen (S. 114f.), vgl. auch zu den Jura allgemeiner C. II S. 110-114, mit der tabellarischen Übersicht auf S. 112. Stellen sie doch einerseits die wesentlichste Verbindung des Souveräns zu den Subditi dar bzw. die Manifestation des Ordo imperandi & parendi, und andererseits die Mittel zur Ansteuerung bzw. Realisierung des Staatsziels, und zwar eingebettet in ein übergreifendes System natürlicher, moralischer und göttlicher Gesetze. Die Juristen sind wie üblich lediglich auftragsgemäß tätigwerdende Experten der Gesetzestechnik: «Ad majestatem ergo pertinet tota jurisdictio», vgl. C. V S. 147-156, Zitat S. 149. Nachdem die Jurisdictio bzw. die Gesetze nicht für sich selbst existieren, sondern dem Bonum commune dienen sollen, wird besonders im Strafrecht für eine entsprechend politisch-flexible Haltung plädiert. Vgl. zu ihm B. Eckert: Der Gedanke des Gemeinen Nutzens in der lutherischen Staatslehre des 16. und des 17. Jahrhunderts (1976) S. 79-129, sowie das Standardwerk M. Honecker: Cura religionis Magistratus Christiani (1968), der Boeder jedoch nicht erwähnt. Institutiones C. IV S. 142-146, Zitate S. 142,144 und 146. J. Gerhard wird des öfteren gelobt; eine spezielle Analyse des Werkes von Boeder hätte somit auch ihn besonders zu berücksichtigen.

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Empirisch sei dieses Problem unterschiedlich gelöst, sachlich handle es sich aber um einen funktionalen Gesamtzusammenhang. 1 6 3 Nach einem Blick auf die Rechte des Souveräns nach außen folgt die Erörterung der Abgaben und Steuern. 164 Auf praktische Details geht B o e d e r unter Verweis auf die entsprechende Spezialliteratur nicht ein: «Non opus erit de singulis aliquid dicere, cum praesertim haec materia multis magnisque voluminibus tractanda sit, quae in omnium manu versantur. Quis enim non vidit Obrechti Secreta Politica, Hermannum Lutherum de Censu, Klockium de contributionibus, Fausti Aerarium &c.?» 165 Das knappe Buch III ist der Untersuchung der verschiedenen Formae Imperii nach dem Sitz der Souveränität einerseits und dem davon zu unterscheidenden Modus administrationis andererseits gewidmet. Boeclers Sympathien gehören unzweifelhaft der Monarchie, obwohl er eine klare Stellungnahme umgeht und auf die unterschiedlichen Bedingungen abhebt, denen die Staats- und Regierungsform jeweils angepaßt sein muß. Das Erbkönigtum wird mit Conring und anderen Theoretikern nicht als von vornherein illegitim angesehen. Bei der Verfallsform Tyrannei hebt B o e d e r die Schwierigkeiten der Bewertung tatsächlicher Herrschaftsverhältnisse hervor. Der Begriff der Tyrannei wird ohnehin ganz eng gefaßt. 166 Sehr viel ausführlicher gibt sich der Verfasser hingegen im Buch IV. Dort geht es um die Faktoren, «quibus civitas vel conservatur, firmatur, augetur; vel infirmatur, diminuitur, destruitur». 167 Nach einem Seitenblick auf die Providentia divina als letzte Wirkursache solcher Entwicklungen wird in einem speziellen Kapitel - allerdings erheblich knapper als bei Contzen - auf die Macht des Staates eingegangen. Diese Macht (Potentia Reipublicae) ist definiert als die Fähigkeit, sich mit dem Notwendigen und dem Nützlichen zu versehen, sich gegen Bedrohung zu schützen «aut etiam acquirendi aliena». 168 Dann folgen hierzu gehörende separate Kapitel «de Armis» (!), zur Bedeutung der Bevölkerungsstärke, der geopolitischen Lage des Staates, seiner Einkünfte und zur äußeren

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Institutiones C. VI S. 156-162, mit Verweisen vor allem auf Bodin und Tholosanus (S. 161). Zum Magistrat gehören naturgemäß auch die Legati. Institutiones C. VII-VIIIS. 161-167 (Jura belli & pacis bzw. Jus foederum); C. IX (Dominium eminens - dieses ist im Grunde eine unglückliche, verwirrende und unnütze Konstruktion) S. 167-169; C. X (Steuern und Zölle) S. 169-171. Institutiones S. 169f. Als siebten bei der Steuerfrage zu beachtenden Punkt spricht Boeder die Arcana an, die es bei der Erhebung zu beachten gelte, allerdings ohne sie an dieser Stelle zu vertiefen. Lib. III C. I-VIII S. 173-198, vgl. auch die Anmerkungen von Jirgal, Bökler S. 340f. Das Mißtrauen gegenüber der Aristokratie, welches angesichts der Straßburger Verfassung auf den ersten Blick erstaunt, beruht auf der Befürchtung, daß diese Form zu leicht in die Oligarchie umschlage und von dort aus schnell zur Demokratie werde. Das bei weitem längste Kapitel dieses Buches ist dasjenige zur Staatsform des Reiches. Den Dominât diskutiert Boeder nicht. Beim Regnum herile kommt es darauf an, ob der König «primario . . . ad parentum bonum» regiert (S. 176). Institutiones Lib. IV C. I-XI S. 199-220, Zitat C. I S. 199. C. III S. 201f.

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Bindung durch Verträge, jeweils ergänzt durch Hinweise auf entsprechende Verbesserungsmöglichkeiten. 169 Die abschließenden Abschnitte untersuchen unter neustoisch-lipsianischen Prämissen die Beiträge, welche Virtus und Prudentia zu leisten vermögen und damit die Möglichkeiten der qualitativen Verbesserung von Herrschaft durch Realisierung der zuvor beschriebenen Machtmittel. 170 Alle diese Ansätze werden in den folgenden Büchern vertieft, so daß über ihre zentrale Bedeutung kein Zweifel bestehen kann. Die über 30 Seiten starke, also im gegebenen Rahmen Buchumfang erreichende Digressio de Civitate Maritima exemplifiziert zudem Boeclers Konzeption am Beispiel eines handeltreibenden Seestaates, für welchen Venedig, die Hanse, die freien Niederlande und schließlich England Pate gestanden haben. 171 Demgegenüber reißt das kurze, mehr Anhangcharakter tragende siebte Buch sein Thema Arcana Imperii nur knapp an. Eine explizite Diskussion des Staatsräson-Ansatzes findet in Boeclers Hauptwerk demnach nicht statt. Er hält es offenbar für falsch, dieses Thema akademisch auszuwalzen. 172 In den beigefügten Dissertationen werden einige der in den Institutiones selbst weniger deutlich zum Ausdruck gekommenen Motive und Prämissen noch vertieft: Erstens das negative, ziemlich pessimistische Menschenbild, in dem ähnlich wie bei Hobbes die Ambitio bzw. Cupiditas dominandi eine zentrale Rolle spielt, und das deshalb die eigentliche Grundlage zur Errichtung des Sicherheits- und Machtstaates abgibt, den B o e d e r favorisiert. Zweitens die eng damit zusammenhängende natürliche Notwendigkeit der Organisation des Staates als klare Herrschaftsordnung. Drittens die Bewertung der kaum eingeschränkten Gehorsamspflicht des Untertanen als dessen eigentliche Gloria, viertens Steuern, Münz- und Geldfragen, Probleme der Diplomatie, schließlich die Probleme der Staatsumwälzungen. Hier kommt das treibende Motiv Boeclers klar zum Vorschein: Ihm geht es um die Erreichung und Sicherung der sozialen und politischen Harmonie, der Concordia und Aequalitas im Staatswesen,

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Institutiones C. IV-VIII S. 202-220. Fast überflüssig festzustellen ist, daß nicht nur beim Militär, sondern auch bei den übrigen Gegenständen fortwährend vor allem auf Tacitus, Lipsius und weitere Vertreter dieser Richtung hingewiesen wird. C. IX-XI S. 220-230. Lib. V S. 231-250 untersucht die Ursachen des Niedergangs der Staaten, mit einem zentralen Kapitel zur Rolle der Gewalt: Von den Herrschenden zu direkt und zu brutal ausgeübt, verursacht sie Tumult, Aufstand und Gegengewalt, und damit die Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse oder den Untergang des Staates. Ganz kurz wird auch auf die Remedia gegen den Aufstand eingegangen - ganz im lipsianischen Sinne und unter nachdrücklichem Verweis auf des Lipsius Beitrag. Lib. VI reicht von S. 250 bis S. 295, die Digressio dabei von S. 253 -286. In C. III werden unter Verweis auf Aristoteles folgende Faktoren als unbedingt notwendige «Partes civitatis» (in dieser Folge) aufgereiht: 1. Alimenta bzw. Annona; 2. Artes und Opificia; 3. Arma und Milites; 4. Pecunia; 5. Sacerdotia und 6. Judicii (S. 286ff.). Lib. VII «Tamquam Appendix» S. 295-299. Das Werk schließt allerdings mit Hinweisen auf weitere Lektüremöglichkeiten.

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die allein dessen Stabilität und Dauer, Stärkung und Blüte zu garantieren vermögen. 173 Die separaten, umfangreichen Dissertationensammlungen bieten noch weitere Ergänzungen und legen Zeugnis vom weiten intellektuellen Horizont und der unerschöpflichen Lehr- und Arbeitskapazität dieses Gelehrten ab. 174

2.2.13. Becmann Für J. C. Becmann ist die Politik die «prudentia socialiter vivendi. Clarius: Habitus bene agendi in vita sociali». 175 Mit anderen Worten, hier ist ähnlich wie bei

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Vgl. besonders Diss. II: D e discrimine Honestorum & turpium, utilium item & noxiorum, in: Institutiones [Anhang] S. 316-327; De Jure & Ordine imperandi S.333 (zur tacitistischen «Obsequii gloria»); Diss. VI: De Foederibus & Pactionibus, S. 353-357; Diss. VII: D e Vectigalibus, S. 357-361; Diss. VIII: De Jure Monetae, S. 361-363 und XIX: D e Conversionibus, Eversionibus, & Mutationibus Rerumpublicarum, S.443-452, besonders S.447ff., ferner Diss. VII: D e Potentia Civitatum, in: Dissertationes Academicae [la] S. 343-383. Diese Macht der Staaten ist mit Cicero zwar wie üblich so definiert: «Potentia est ad sua conservanda, & alterius obtinenda, idonearum rerum facultas» (S. 344, vgl. zum gesamten Zusammenhang unten Abschnitt 4.5.2.). Die einzige einschränkungslos begrüßte und warm empfohlene Methode, neue Güter und Machtmittel von außen her zu erwerben, ist jedoch wieder der Handel. Der Gedanke, durch Krieg Reichtümer erwerben zu wollen, wird ausdrücklich abgelehnt (S. 353f.). Zu beachten ist auch die in diesem Zusammenhang angestellte Staatsformendiskussion. B o e d e r räumt zwar ein, daß «ad res magnas bello gerendas nihil aptius» sei als «si unus rerum temporumque dominus, non suspensam aliunde vim imperii in praesentaneos usus expediat» (S. 375). Er distanziert sich von dieser Lösung jedoch, indem er immer wieder den Frieden als den politisch-staatlichen Normalzustand hervorhebt. Fast die gesamte Dissertation ist dementsprechend der Darstellung der Mittel zur friedlichen Machterhaltung vor allem im Inneren, aber auch durch Verträge nach außen, gewidmet.

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Vgl. dazu jeweils die einschlägigen Abschnitte in Teil II dieser Untersuchung. Die verschiedenen Teil- und Einzelausgaben dieser Arbeiten sind bisher noch kaum zu überblicken. Meditationes politicae C. I S. 1-16, Zitat S. 2. Das Werk ist vier brandenburg-preußischen Räten gewidmet und laut Praefatio wie die beiden übrigen Werke zur politischen Bildung künftiger Räte und Politici gedacht. Seine Darstellungsweise ist systematisch, die Argumente werden in Frage- und Antwortform entwickelt. Bei der Bestimmung des Begriffs der Politici wird auf dessen Ursprung in den französischen Religionskriegen und das politische Ziel der mit diesem Namen gekennzeichneten Gruppierung, nämlich «Pax & securitas» zu erreichen, hingewiesen (S. 1). Der Politica als der Prudentia socialiter vivendi ist die Ethica als «Prudentia honeste vivendi» und die Oeconomica als diejenige «commode vivendi» gegenübergestellt. Becmann kritisiert die vorliegenden «Disceptationes Scholasticae» und «Compendia Politica», weil deren Erkenntnisse und Vorgaben ziemlich schwierig auf den konkreten Einzelfall anzuwenden seien. Außerdem hebt der Historiker stark die universale wie spezifische Brauchbarkeit historischer Kenntnisse hervor: «nihil novi sub Sole», nur die handelnden Akteure wechseln, die historischen Kenntnisse können daher auch jüngeren Personen zu gutem politischen Verständnis verhelfen (S. 12-15); vgl. hierzu auch Parallela C. I S.420ff.

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Althusius und Grotius der Bezug zur Herrschaftsordnung zunächst zurückgenommen, obwohl im Begriff der Prudentia eine starke Praxisorientierung in neustoisch-lipsianischer Tradition zum Ausdruck kommt. Die Politica soll demnach zwar in den übergreifenden Rahmen von Naturrecht und Ethik zurückgeholt, aber dennoch nicht ihrer relativen Eigenständigkeit beraubt werden. Auf die Frage «An Politicae sit, tantum docere quid ex usu, non quid iustum sit?», gibt Becmann daher nur auf den ersten Blick eine klar verneinende Antwort: «R. Ex utilitate mensuram non accipere sed. 1. Ex Societatis custodia. 2. Adeoq; Necessitatibus Humanis». 176 Dementsprechend vertritt Becmann auch das überkommenene Modell des Erwerbs dieser Prudentia durch Natura, Doctrina (durch Lesen vor allem von pragmatischen Historien) und Usus}11 Das Ausgangsproblem ist das geläufige: Wenn alle unsere Handlungen auf universellen Prinzipien beruhen: «Cur non semper eodem tenore fluant?»178 Die Antwort ergibt sich aus der Tatsache, daß jeder Mensch in einem spezifischen privaten und öffentlichen Zustand lebt, aus dem ihm eine spezielle «ratio ad securitatem, statutem conservandi & profligandi mutationem» zuwächst. Dementsprechend markiert die Ratio des Staatszustands den Bereich der Politik i.e.S. «Est Arcana illa Remp. regendi & conservandi ratio». Die Ursache jeglicher Ratio Status ist «Amor nostri; Finis propria commoda». 179

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Im Conspectus Doctrinae Politicae C. I S. 1 - 7 ) , der dem kurbrandenburgischen Minister Paul von Fuchs (s.o.) und einem von dessen gleichrangigen Kollegen gewidmet ist, ist die Ausgangslage ähnlich. Grotius' De Jure Belli & Pacis (1691 gab Becmann eine kommentierte Ausgabe heraus) gilt ihm als bestes Demonstrationes lieferndes Werk, Bodins D e República als bestes allgemeine Praecepta & Exempla vermittelndes (ebd. S.7). Die besten Praecepta ad vitam für die politische Elite liefere jedoch Jakobs I. Donum Basilikon beziehungsweise Donum regium, das (s.o.) von Becmann in das Lateinische übertragen und 1679 in Frankfurt a.O. verlegt wurde. Meditationes C. I S. 15: Jus gentium und Jus Publicum sind der Politik verwandt, aber nicht mit dieser identisch; Parallela C. X S. 528ff.: gegenüber dem unbegrenzten Anspruch der Juristen (und deren Hochmütigkeit, gegen die von dem Calvinisten Luther ins Feld geführt wird) ist auf eine spezielle Kompetenz der Politik und der Politiker zu beharren; die Principes und Magistrate können sich nicht von den kleinen Juristen vorschreiben lassen, was sie zu tun haben. Vgl. ferner Conspectus C. I S. 3. Der Begriff der Societatis Custodia ist von Grotius übernommen, vgl. C. II S. 7. Meditationes S. 4 Vgl. auch dezidiert Conspectus C. I S. 3ff., mit der entsprechenden Stellungnahme zur traditionellen Frage, ob der Civis bonus notwendig ein Vir bonus sein müsse, den Abgrenzungen des Politikers gegenüber dem Ökonomen, Juristen, usw. Auch das Urteil über Machiavelli fällt durchaus differenziert aus. E r ist nicht so schlecht, «quam vulgo creditur» (S. 6). Überhaupt ist zwischen der Meinung der Experten und derjenigen der breiten Masse zu unterscheiden. Darüberhinaus gilt, daß auch manche «disputationes Academici» bis zu einem gewissen Grade für die Gelehrten Übungscharakter haben wie die Jagden für die Fürsten (S. 4). Meditationes C. III S. 3 0 - 4 4 , hier S. 30. Meditationes S.32ff. und 36f.; Conspectus S. 11. Der Begriff «status» wird hier auf Tacitus und die italienischen Theoretiker zurückgeführt, der richtige, das Bonum publicum und alle Gesetze berücksichtigende Staatsräsonbegriff von Gottfried von Jena bezogen (S. 35).

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Die Selbstliebe bzw. die Reflexion auf die Vorteile, die ein bürgerliches Zusammenleben bietet, sind es, die zur vertraglichen Staatsgründung führen. 1 8 0 Der Staat ist in Verknüpfung aristotelischer und hobbesscher Argumente als «Solamen contra solitidudinem; Adjumentum in negociis; Protectio adversus injurias» zur «Sibi-sufficientia» und «Securitas publica» gedacht. Das bedeutet, daß in die richtig verstandene Staatsräson («Ratio Status genuina») von vornherein das Gemeinwohl integriert ist. Die Staatsräson ist die Ratio des Staatszustands, im Gegensatz zur Ratio des Naturzustandes, wo es nur um die Sicherung des jeweils individuellen Status' ging. 181 Konsequenter als bei Pufendorf wird auf diesem Boden dann das Modell eines am besten absoluten monarchischen, klar hierarchisch strukturierten, mit breitesten Kompetenzen ausgestatteten Ordnungs- und Sicherheitsstaates errichtet. Die «prima productio vitae socialis» ist das Imperium, welches dem Inhaber der Majestas nach den gängigen «hypotheses Politicae» zwar einst im Zuge eines Paktes verliehen wurde, aber prinzipiell nicht mehr in Frage gestellt werden darf. 182 Diese Macht ist nicht als ein System von Rechten zu fassen. «Regalia certo numero non posse comprehendi, sed totidem esse, quot rerum gerendarum in Rep. occasiones sunt: Quibus quoties publicum autoritate sua accedit, toties Jus aliquod Majestatis suae exercet.» 183 Sie benötigt aber bestimmte Attribute und Formen, um das notwendige Durchsetzungsvermögen entfalten zu können. Der Souverän braucht vor allem Auctoritas, die aus bestimmten inneren und äußeren Vorzügen sowie der Verfügung über bestimmte Mittel resultiert. 184 Kriegslisten und Simulationes auch gegenüber seinen Untertanen sind ihm erlaubt und für die Herrschaft unverzichtbar. 185 Sein Herrschaftsanspruch

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D i e primäre Ursache für die Staatsgründung ist die menschliche Indigentia (Bedürftigkeit). D i e s e führt zum «desiderium proprium commodorum» und damit zum «mutuus metus». D i e Interpretation von Hobbes, daß allein die Furcht den Staat hervorbringe, greife zu kurz, vgl. C. IV S. 4 5 - 6 2 , hier S. 46f., sowie C. V S. 62-77, besonders S. 67. Meditationes C. III S. 34ff. Conspectus C. III S. 14f. (auch zur Verfälschung der Staatsräson («Ratio Status spuria») durch Satan und seine Anhänger vor allem dadurch, daß diese sie den Fürsten als Mittel zur «Amplificatio regni"(!) anpreisen), und Meditationes C. IV S. 53ff. In den Parallela wird dieser Ansatz noch dahingehend fortentwickelt, daß das Verständnis der richtigen Staatsräson nicht nur einer entsprechenden Elite reserviert bleibt, sondern überhaupt menschlichem Verständnis partiell entzogen wird: «Quod in Sacris sunt Mysteria, id Ratio Status in Politicis esse videtur» (C. III S. 447). Der rein sachliche Hinweis darauf, daß das Ausbrennen fernabliegender Provinzen deshalb, damit die Bewohner zum Verbleiben in denjenigen Gebieten gezwungen werden, die besser zu beherrschen sind, ein Arcanum der türkischen Imperantes sei, erscheint vor diesem Hintergrund nur logisch (Parallela C. XI S. 543ff.). So am deutlichsten Conspectus C. VII S. 2 9 - 3 4 , Zitat S. 29. Für die Hypotheses vgl. ebd. C. VI S. 2 4 - 2 9 . Parallela C. XVIII S. 662f. Conspectus C. VII S. 30, in Anknüpfung vor allem an Seneca (!). Die Führungs- beziehungsweise Herrschaftsqualitäten, die gefordert sind, können aus natürlichen Gründen in der Regel nur die Männer beibringen. Daran ändert auch nichts, daß «dissimulare necessitatem, quae in ore omnium est,

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erstreckt sich sowohl auf die Person der Subditi als auch auf die «res propter personas», also den privaten und öffentlichen Besitz, 186 allerdings nur im Sinne von Lenkung. «Princeps quoque dirigit Medicinam, Processus in Jure, Philosophiae doctrinam; licet ipse nec Medicinam faciat, nec Advocatum agat, nec Mathematicum, nec Metaphysicum.» 187 Den durch Eid verpflichteten Untertanen bleiben außer «simplex & absoluta oboedientia» und der wegen der Unmöglichkeit voller Gewissenskontrolle wohl oder übel zu gewährenden Gewissensfreiheit kaum eigenständige Rechte. 188 Gehorsam nur von Fall zu Fall ist gleichbedeutend mit Ungehorsam: «Quod omnem in re humana ordinem turbat». Der Hinweis, daß dennoch die Oboedientia nicht «coeca» (blind) zu sein brauche, bringt wenig Entlastung. Hinter dem Modell, daß das «Imperium Rationem nec tollit, sed dirigit» steckt nämlich wie bei Pufendorf und Hobbes der grundsätzliche Anspruch der Staatsgewalt auf ausschließliche Beurteilungskompetenz. Nicht nur die Entscheidung darüber, ob im Zweifelsfall ein Princeps rechtmäßiger Herrscher oder Tyrann ist, steht dem Untertan nicht zu. 189 Offenkundigen «mandata inhonesta» kann er zwar, wenn es ihm wirklich nicht anders möglich ist, den Gehorsam verweigern; dafür hat er aber die entsprechende Strafe willig auf sich zu nehmen. 1 9 0 Bereits die Diskussion über staatliche Maßnahmen ist untersagt, wenn sie nicht in der erforderlichen Ehrfurcht gegenüber denjenigen, «qui supra nos sunt», erfolgt: «Extra hune modum non licet, quia est 1. Contra Naturam subditorum, qui non possunt scire; 2. Contra dignitatem Principum, quae salva esse non potest, si Inferioris cuiusq; judicio subjaceat». Der Untertan darf die Dignitas und damit die Autorität des Princeps nicht durch irrtumsanfälli-

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vanitas non caret» (Conspectus C. III S. 14). D i e salvatorische Generalklausel, nämlich daß «jus alienum» nicht verletzt werden dürfe, wird durch den Hinweis auf den alles Recht brechenden Notstand und die unbedingte Erfordernis der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit wieder entwertet. Conspectus S. 32f. Comspectus C. X X S. 100. D i e Passage ist auf die Begründung des Jus circa Sacra abgestellt. Conspectus S. 32; Meditationes C. X V I I S . 2 4 8 - 2 6 6 ; Parallela C. X V I I S . 6 2 2 - 6 6 2 . Im Conspectus S. 29 begründet Becmann in der üblichen Weise, warum der Subditus die Superiores prinzipiell nicht verpflichten kann, während er selbst durch Eid jederzeit in die Pflicht zu nehmen ist. Conspectus S. 32 (Zitat) und C. XXIII S. 111: die «vis resistendi licita» reduziert sich wie bei vielen Aristotelikern und Hobbes auf den Extremfall «si Princeps totam Remp. eversam velit», welches Wollen aber eben nicht von den Untertanen gültig konstatiert werden kann. Vgl. hierzu auch Meditationes C. X I X S. 2 7 3 - 2 8 7 , hier besonders S. 276ff. und Parallela C. X I X S. 6 6 9 - 6 9 5 , wo in aller Schärfe, unter Verweis auf die Ereignisse in England, argumentiert wird, sowie S. 6 7 5 - 6 7 9 , mit dem Abdruck der Verteidigungsrede Karls I. gegen seine Widersacher. Meditationes S. 274; vgl. auch die Umschreibung der «gloriosa inoboedientia» in Conspectus C. XXIII S. 109. Beim weiteren wichtigen Punkt, nämlich dem Zwang zum Militärdienst, wird ausdrücklich unterstrichen, daß dieser auch bei Zweifeln an der Justitia belli verpflichtend ist, vgl. Conspectus C. X X V I I S. 119f.

148

ges ( « o b periculum & facilem circa e a errorem») N a c h f o r s c h e n (scrutare) schänden

(temere).191

D e m e n t s p r e c h e n d sind Religion u n d Kirche vollständig der staatlichen Kontrolle unterstellt, o b w o h l unter das Jus circa Religionem gione

nicht ein Jus de

Reli-

in d e m Sinne fällt, daß der Fürst j e d e Religion abschaffen k ö n n t e . E s

besteht ein Jus stabiliendi

Doctrinam

sacrarti,

das Kirchengut kann g e g e b e n e n -

falls säkularisiert werden und selbst ein Jus mutandi

Religionem

(d.h.

confessio-

nem) ist g e g e b e n . D e r Souverän kann, w e n n e s wirklich unumgänglich ist, Toleranz g e w ä h r e n - B e c m a n n , der in d e n N i e d e r l a n d e n studiert hat, versäumt in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g nicht, auf die positiven wirtschaftlichen A u s w i r k u n g e n der Toleranz dort hinzuweisen. 1 9 2 A u f wirtschaftlichem G e b i e t vertritt er o h n e h i n e i n e eher kapitalistische Position. D e r Handel soll w e i t g e h e n d freigegeben w e r d e n , auch in d e m Sinne, daß die A n g e h ö r i g e n aller Stände, auch A d e l und B a u e r n , sich damit b e f a s s e n dürfen. 1 9 3 A u c h das Zugriffsrecht des Souveräns auf den Besitz der U n t e r t a n e n vor allem in Form der Steuer wird von B e c m a n n breit ausgeführt. Im Hinblick auf das D o m i n i u m e m i n e n s folgt der Verfasser d e n e n t s p r e c h e n d e n A u s f ü h r u n g e n von Grotius. B e i m Besteuerungsrecht wird j e d o c h im G e g e n s a t z zu d e n m e i s t e n übrigen A u t o r e n mit H o b b e s die Qualität der A b g a b e n an d e n Souverän als «reco191

Parallela C. XII S. 546-564, besonders S. 555: «Quis dixit Tibi Principem male imperare?» Weil die Prudentia divina bei der Auswahl und Kontrolle der Handlungen des Princeps die letzte, entscheidende Rolle spielt, ist ein entsprechender Anspruch von Subditi überdies ein Angriff gegen Gott. Conspectus C. IV S. 32f. (Zitate) und C. XIV S. 64-73. Hier wird Grotius herangezogen: «Remedia humana . . . contra Principum injurias non dantur». Hierüber «non licet disputare et judicare» (S. 67). «Nec Principem deponi posse» (S. 70), auch keine «Principes furiosi». Das Crimen laesae Majestatis «est gravissimum; Pugnat enim contra Securitatem Publicam, quia Securitas Principum & Reip. peculiariter est munienda» (S. 73). Wer «unum Regale laedit, laedit omnia». «Principis Majestas velut Sol est», die alles bescheint und von der alles abhängig ist. Deshalb gilt auch: «Totus enim Princeps in singulis objectis operatur, Totus ergo laeditur» C. XX S. 99. Vgl. dazu auch die Handhabung der Dignitates als Prämien zur Belohnung des aktiven Gehorsams C. XIIX S. 90-95. Becmann ist zudem der erste konsequente Verteidiger des Hofes beziehungsweise des Hoflebens, weil dessen Verdammung naturgemäß auch die Autoritas des Princeps beschädigen würde, vgl. C. XIX S. 97f.

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Vor allem Meditationes C . X V I I S. 248-266, hier S.261, und Conspectus C . X X S. 98-103. An dieser Stelle wird deutlich, daß der brandenburg-preußische Untertan Becmann je länger desto mehr der Auffassung zuneigt, daß jede Ejectio von Dissidentes für den Staat gefährlich ist und deshalb besser nicht vorgenommen werden sollte. Ausnahme bleibt wie üblich die Austreibung von Heiden und Atheisten. In allen Werken Becmanns fehlt auch die antikatholische Würzung nicht, was den Verfasser in einigen Zusammenhängen hinter den von ihm grundsätzlich erreichten Stand der Säkularisierung der Politik zurückwirft. Beispielsweise wird die Praxis der Principes Evangelici unterstützt, päpstliche Legati nicht zu empfangen, u . a . weil die «causa mittendi suspecta» sei - Conspectus C. XIX S. 96f. Ebenso stimmt Becmann der Verweigerung der Übernahme des neuen Kalenders durch die Protestanten zu (S. 103).

193

Conspectus C . X X I S. 103-106, unter Verweis auf J.J.Bechers «Commercien-Tractat». 149

gnitio superioris» unterstrichen. 194 Der kluge Princeps wird freilich Steuererhebungen, auch wenn er nicht ohnehin durch die Leges fundamentales dazu verpflichtet ist, zunächst unverbindlich durch Stände- und sonstige Untertanenvertretungen beraten und vorbereiten lassen, um auf diese Weise deren Akzeptanz auszuloten und zu verbessern. 195 Diese Zielsetzung der Effizienz ist auch bei Becmanns Diskussion der Familien- oder Sippenhaftung im Verbrechensfall entscheidend, wo er mit seiner Neigung für dieses Verfahren von den übrigen Theoretikern abweicht. 196 Eine ähnlich pragmatische Haltung legt er in der Frage der Folter an den Tag. Deren Rechtmäßigkeit wie Effizienz ist zwar durchaus fragwürdig. Solange es aber keine adäquaten Ersatzlösungen oder sonstige verbesserte Verfahren im Kampf gegen das Verbrechen gibt, muß sie weiter angewandt werden. 197 Bezeichnend ist auch die Begründung dafür, daß die Juden, die wie üblich im Zusammenhang mit der Definition des Subditus in den Blick geraten, zu tolerieren seien: «1. ob spem conversionis; 2. Ne viciniorum potentia per egressum eorum augeatur». 198 Im Dienst der Hohenzollerndynastie hat der Frankfurter Theologe und Historiker damit eine genuin absolutistische Politica geschrieben. Sein Werk markiert eine Einbruchsteile des Hobbesschen Staatsdenkens, die bislang fast völlig übersehen wurde.

2.2.14. Hertius Hertius' Elementa entstanden nach Angabe des Autors ex necessitate officii.199 Sie sind deshalb ein systematisch-akademisches Werk mit wertvollen Hinweisen auf die wissenschaftliche Diskussion. Der erste Teil entwickelt die Pars architectonica der Politik, der zweite befaßt sich mit dem «modus administrandi in malis & remediis, primum universum, dein singulatim». 200 Die Politik ist definiert als

194

195

196 197 198 199 200

Meditationes C. XX S. 287-294, hier S. 290f., und C. X X I S . 287-294; vgl. auch Parallela C. XX S. 695-704 beziehungsweise C. XXI S. 704-716 und Conspectus C. XXIV S. 112-114 beziehungsweise XXV S. 114-118 (Dominium eminens; auch die Auslieferung Unschuldiger als Geiseln ist erlaubt). «Personae Functionibus publicis ornatae», also Minister und Beamte, sollen steuerfrei bleiben. Allzu hohe Steuern bedeuten, daß der «Princeps peccat» (Conspectus S. 112), aber die Untertanen müssen es ertragen. Der kluge Princeps weiß aber, daß hieraus Aufruhr entsteht! So vor allem Meditationes, wie vorherige Anmerkung; vgl. auch Conspectus C. XXIV S. 111-113. Meditationes C. IX S. 135ff. Das Vorbild ist Japan. Meditationes C. XIV S. 581ff. Conspectus O.C. XXIII S. 109f. Elementa prudentiae civilis, Praefatio prior Fol. 2a. Elementa P. II, Prologus S. 1. Beide Teile weisen diesselbe Seitenzahl auf. Weil aber bereits im ersten Teil (ab Sect. X) von den verschiedenen Staatsformen, -mutationen und -krankheiten gehandelt wird, entfällt auf diese Thematik der insgesamt größte Seitenanteil.

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Prudentia civilis, «quae constituendae ac conservandae civitatis curam ac rationem tradit». Mit Civitas ist dabei nicht eine (fiktive) «nuda multitudo (hominum)» gemeint, sondern «intellegimus . . . talem hominum societatem, quae inclusam habet rempublicam». Die Methode der Politica ist induktiv; sie bereitet ihr Material «demonstratione, dispositione & usu» auf.201 Dieser aristotelische Ansatz in der Tradition Conrings wird jedoch flexibel gehandhabt. Zwar ist das Objekt der Politica nach Origo, Finis, Subjectum, Forma und Causae schulmäßig, unter Einschmelzung der Hobbessianisch-Pufendorfischen Vertragslehre, dargelegt. Das Interesse des Verfassers konzentriert sich aber schon bald auf die Remedia contra mala civitatum, die beide (Remedia und Mala) empirischexemplarisch entwickelt werden. Ziel ist, für jede empirisch gegebene Forma civitatis eine Conditio optima herzustellen, in welcher ein wahrhaft glückliches bürgerliches Leben «sine motu tumultuque» möglich ist.202 Die Lebensverhältnisse der Menschen «ante constitutionem civitatis» sind nicht ohne Norm und Gesetze, aber es herrscht doch ein «status turpidus, instabilis, saepe hostilis, & in summa miser». Daher schließen sich die Menschen zu kleinen (Domus) und großen (Civitas) Lebensgemeinschaften (Societates) zusammen. Die Respublica entsteht aus menschlichem Hang zur Gemeinschaftsbildung ebenso wie der Suche nach der Überwindung des unerträglichen Status primus, und zwar nach Maßgabe der Umstände in einem zweistufigen Prozeß der Vertragsschließung. Der erste Vertrag regelt die Verhältnisse des Einzelnen mit den übrigen Einzelnen, der zweite entscheidet «de transferenda summa potestate».203 Unter der Zielsetzung des «vivere [!] & vivere beate» für alle Angehörigen der Respublica tritt nach diesem Akt der Staat als Gemeinschaft der Herrschenden und der Gehorchenden ins Leben. Civis ist, wer «legibus immunitatibusque civitatis pro aetate, sexus & conditione sui fruitur». Die summa Potestas ist die «facultas eminens ordinandi civitatem cum omnibus suis partibus ad suum finem». Von ihrer durch den Herrschaftspakt bestimmten essentiellen und ihrer historisch-gesellschaftlich geprägten akzidentiellen Form her bestimmt sich die Forma civitatis. Von dieser Form kann die konkrete Constitutio administrationis unter bestimmten Bedingungen freilich abweichen. Ob die summa Potestas beim Volk, einer bestimmten Personengruppe oder einer Einzelperson liegt, ist im Prinzip gleichgültig. Die Empirie, konkret die Notwendigkeit der Vermeidung von Dissidio, spricht aber für die Monarchie.204

201 202

203

204

Elementa, Paedia S. 1 - 1 4 0 , hier S. 7, 15 und 17. Paedia S. 16ff., zur Methode und der entsprechenden Literatur der Politik besonders S. 23f. Die optima Forma civitatis soll ausdrücklich nicht ex hypothesi oder ex voto allein abgeleitet werden. Die schlechten (lasterhaften) Staatsformen werden mit Vorliebe als «minus rectae» o . ö . angesprochen, um bestehende politische Systeme nicht vorschneller, destabilisierender Verdammung auszuliefern. Elementa P. I S. 5 2 - 5 6 und S. 7 5 - 7 7 , Zitate S. 41 und 75. Daß eine summa Potestas notwendig sei, wird nicht mehr ausführlich begründet, sondern vorausgesetzt. Elementa P.I Sect. IV-VI S.81f., 89, 125 (Zitate). Die Monarchie als beste Lösung wird aber ebenfalls nicht ausführlich dargelegt; ebenso fehlen im gesamten Werk Aus-

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Zur Forma specialis eines Staates gehört ferner die unterschiedliche Organisation und Funktion des beratenden Elements (Consultatici), der Exekutive (Imperium) und der Judikative (Judicium). Bei der Consultatio ist eine ständische (Comitia) und eine administrative (Senatus) Lösung denkbar. Hertius bevorzugt letztere. Die bewegenden Kräfte (Causae effectrices) im Staat sind die Divina Providentia, die Natur des Inhabers der summa Potestas sowie die Beschaffenheit der Beamten und der Gesetze. In der Feindifferenzierung der Staatsformen wird das aristotelische Prinzip weitgehend abgelegt. Zu den numerisch nach den Souveränitätsträgern und qualitativ nach ihrem Verhältnis zum normativen Staatsziel unterschiedenen Formen treten Formae mediterranae oder maritimae, arme und reiche Staaten, Klientelstaaten, Patrimonialstaaten usw. Die abschließende längste Sectio des ersten Teils befaßt sich mit den Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen des Wandels von Staaten. An dieser Stelle setzt die Reflexion der Remedia contra mala rerumpublicarum ein, und zwar mit einer Klage über des Aristoteles Unzulänglichkeit in diesen Fragen. 205 Das Spektrum der Betrachtung ist zunächst das vertraute: Ursachen der Staatskrankheiten sind zuviele Ausländer im Staat, zu große Territorien bei zu geringer Bevölkerung, schlechte Educatio, sorgloses bei den Bürgern wie bei den Politikern, ökonomisch-soziale Mißverhältnisse, Armut, Discordia, zu scharfe oder zu schwache Vis dominationis, Consilia sophistica statt praktikabler Beschlüsse in den beratenden Gremien (!), zu viele Kriege, zu viele oder schlechte Gesetze, ein schlechtes Rechtswesen, usw. Diese allgemeinen Ursachen werden im folgenden jedoch mehr oder weniger detailliert auf die jeweiligen Causae effectrices der verschiedenen Staatsformen bezogen. Auf diese Weise entsteht eine vielgestaltige Herrschaftsrezeptur, deren Praxisbezogenheit deutlich wächst, obwohl sie auf einem höheren Argumentationsniveau bleiben möchte. Hertius kennt Wohlfahrtsstaaten mit spezifischen Problemen, Kondominate, Erbstaaten, Staatskoalitionen, Staatensysteme, neue Staaten, Interregna, tyrannische, dynastische (!) und ochlokratische Formen, schließlich Staaten im Zersetzungsstadium infolge von Verschwörungen, Faktionenbildung, Aufstand und Bürgerkrieg. Der letzte Abschnitt greift dann das neustoisch-lipsianische Politikprinzip auf, ohne es als solches zu deklarieren: «In universum a summo imperante absit ingenii vanitas, e contrario ei adsit animi robur & constantia». Dieser summus Imperans ist wie gesagt am besten ein Monarch, «qui (auctoritate) dissidentes componat & ambarum partium sit arbiter», denn nach wie vor gelte des Aristoteles Erkenntnis: «Regna moderata maxime durant». 206

205 206

fiihrungen zum Fürstenethos, zur Auctoritas usw. Perspektive ist also, stärker als bei den meisten Vorgängern, der Staat. S.o. Abschnitt 2.1.3. Elementa P. II Sect. I S. 5 - 1 1 , Sect. X X V S. 247, Sect. XVIII S. 198 und Sect. IV S. 84 (Zitate).

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2 . 2 . 1 5 . Weise In Weises Quaestiones politicae, die als erstes zeitgenössisch anerkanntes Politikkompendium ins Deutsche übersetzt wurden, fällt zunächst der doppelte Politikbegriff auf. Der Zittauer Gymnasialprofessor begreift Politik einerseits als Grundbegriff aller Klugheit in jedem sozialen Stand («Staat»), Ausgangspunkt und primärer Realisationsraum dieses Begriffs ist allerdings noch die «PersonalPolitica» der Inhaber öffentlicher Ämter. Der Kanal zur weiteren Popularisierung dieser Idee ist die Präsenz bürgerlicher Gelehrter am Hof als dem Zentrum der politischen Welt. Auf der anderen Seite bezieht Weise die Politik auf die «Republique» bzw. den «öffentlichen Staat». Dort wird sie zur «Lehre, wie man einen Staat klüglich regieren kann». Und zwar ausdrücklich und zunächst ausschließlich in Hinsicht auf dessen Erhaltung. Die «politische Staats-Klugheit» ist «eine gewisse Bereitschaft allerhand guter Regeln und practicabler Vorschläge, dadurch sich die Erhaltung des Staates befördern läßt. Insgemein wird es Doctrina Statistica genennet». 207 Mit dieser Politik befaßt sich Weise jedoch erst im abschließenden dritten Teil seines Werkes. Im ersten Teil geht es um den «Statum ipsum, cuius rationem scientia politica moderatur», und im zweiten um die «respublicas hodie existentes», d. h. deren «situs, formae regiminis, potentia» usw.208 Seine hauptsächliche Perspektive ist also die des Staates. Von diesem her wird alles Folgende entwickelt, auf ihn ist alle Politik bezogen, seiner Erhaltung wird oberste Priorität gegeben: Die «Conservation des Staates . . . soll (man)