Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis 9783666402289, 9783647402284, 9783525402283

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Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis
 9783666402289, 9783647402284, 9783525402283

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V

Reinhard T. Krüger

Störungsspezifische Psychodramatherapie Theorie und Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 27 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40228-4 Umschlagabbildung: Robert Delaunay, Rythme sans fin (un 1930) /  bpk / Sprengel Museum Hannover / Michael Herling /Aline Gwose © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1 Was ist Psychodrama? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1 Die Intuition der Therapeutin als handlungsleitender Prozess . 24 2.2 Der Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seiner Spielproduktion auf der äußeren Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3 Neurophysiologische Grundlagen des psychodramatischen Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.4 Der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin während des psychodramatischen Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.5 Störungen in der therapeutischen Beziehung, Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.6 Folgen der Interpretation der Psychodramatherapie als mentalization-based treatment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.6.1 Psychodrama ist ein Therapieverfahren, das von der Anwendung im Format der Gruppentherapie unabhängig ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.6.2 Im Psychodrama darf die Verbindung zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seinem äußeren psychodramatischen Spiel nicht reißen . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.6.3 Die Anwendung der Psychodramatechniken wird einfacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

6

Inhalt

2.6.4

2.7 2.8 2.9

Die Therapeutin denkt systemisch und prozessorientiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.5 Die Gruppe ist als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der individuumbezogene, direktive Leitungsstil und der systembezogene Leitungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mentalisations-basierte Psychodramatherapie und die rollentheoretisch begründete Psychodramatherapie . . . . . . . . . . . Diskussion der Weiterentwicklung der rollentheoretischen Konzeptualisierung der Psychodramatherapie nach Schacht . . .

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3 Der Prozess der Krankheitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Symptomdiagnose und Prozessdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der kreative Prozess und seine vier verschiedenen Aspekte . . . . 3.2.1 Der strukturelle Aspekt des Selbstorganisationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der Aspekt der energetischen Austauschprozesse . . . . . . 3.2.3 Der Aspekt der Handlung in kreativen Prozessen . . . . . . 3.2.4 Der funktionelle Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Störungen des Mentalisierens als Zweitdiagnose . . . . . . . . . .

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4 Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen . . . . . . . . . . . . . 4.1 Was sind Persönlichkeitsstörungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die strukturelle Störung als Grundproblem und Zusatzdiagnose von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . 4.5 Die ersten sechs Schritte der Behandlung im Überblick . . . . . . . . 4.6 Das stellvertretende Mentalisieren durch die DoppelgängerTechnik im »normalen« psychodramatischen Spiel . . . . . . . . . . . . 4.7 Die Repräsentation des Arbeitssystems der Ich-Zustände der Selbstorganisation mit Stühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Problembewusstsein für die Dysfunktionalität der psychischen Selbstorganisation entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Der spezielle therapeutische Zugang zu Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93

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94 99 103 106 108 115 125 128

Inhalt

4.10 Die Umwandlung der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation in einen frei-kreativen Prozess . . . . . . . . . . . . . 4.11 Ähnlichkeiten der Stühlearbeit in der Schematherapie und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Die weniger störungsspezifischen Methoden der psycho­ dramatischen Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.13 Die Arbeit mit den Ich-Zuständen der Therapeutin in chaotisierenden Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.14 Der psychodramatische Umgang mit Störungen in der therapeutischen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.15 Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychoanalytischen »Prinzip Antwort« und zum »komplementären Antworten« von Schacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

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5 Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.1 Das Besondere an der Traumatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.2 Definitionen einer Traumafolgestörung und einer trauma­ tisierenden Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.3 Symptome bei Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.4 Das Dissoziieren als zentrales Kennzeichen von Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.5 Der Therapeut als Zeuge der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 5.6 Die sechs Phasen der psychodramatischen Traumatherapie . . . . 180 5.7 Traumaspezifische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.8 Traumaspezifische Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.9 Selbststabilisierung und dazugehörige Techniken . . . . . . . . . . . . . 192 5.10 Die Traumaverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.10.1 Die Traumaerfahrung durch Handeln zu einer Geschichte verarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.10.2 Die vier funktionellen Arbeitsräume der Trauma­ verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.10.3 Traumaverarbeitung mithilfe von Hilfs-Therapeuten . 204 5.10.4 Der Informations- und Regieraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.10.5 Der sichere Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.10.6 Der Beobachtungs- und Erzählraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5.10.7 Der Handlungsraum zwischen Opfer und Täter . . . . . . . 215 5.10.8 Die Verarbeitung der Traumaexpositionssitzung . . . . . . 218

8

Inhalt

5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.16 5.17

5.10.9 Zur Kontraindikation des Rollentausches mit dem Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.10.10 Die Traumaverarbeitung mithilfe der Tischbühne in der Einzeltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.10.11 Traumaverarbeitung in der Gruppentherapie . . . . . . . . . . 225 Die Integration der inneren Umstellung in die Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Sekundäre Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Das natürliche Selbstheilungssystem des Menschen . . . . . . . . . . . 233 Die therapeutische Nachentwicklung des natürlichen Selbstheilungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Die therapeutische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Sekundäre Traumatisierung und Burn-out der Therapeutin . . . . 244 Konzepte der psychodramatischen Traumatherapie bei anderen Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern . . . . . 247 5.17.1 Peter Felix Kellermann (2000, S. 23–40): The Therapeutic Aspects of Psychodrama with Traumatized People . . . . . 247 5.17.2 Marcia Karp (2000, S. 63–82): Psychodrama of Rape and Torture: A Sixteen-year Follow-up Case Study . . . . . 250 5.17.3 Eva Roine (2000, S. 83–96): The Use of Psychodrama with Trauma Victims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.17.4 Anne Bannister (2000, S. 97–113): Prisoners of the Familiy: Psychodrama with Abused Children . . . . . . . . . 252 5.17.5 Clark Baim (2000, S. 155–175): Time’s Distorted Mirror: Trauma Work with Adult Male Sex Offenders . 253 5.17.6 Jörg Burmeister (2000, S. 198–225): Psychodrama with Survivors of Traffic Accidents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

6 Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die gesellschaftlichen Bedingungen von Ängsten . . . . . . . . . . . . . 6.2 Was sind Angststörungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die besondere Psychodynamik von Patienten mit Panikattacken als Hindernis in der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die Einleitung der Behandlung von Patienten mit Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Die sieben Phasen der Therapie von Menschen mit Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die störungsspezifische Therapie eines Patienten mit sozialer Phobie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 257 259 263 266 275 278

9

Inhalt

6.7 6.8 6.9

Krisenintervention bei Prüfungsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Therapie von Angststörungen in der Gruppentherapie . . . . . Das Vorgehen anderer Psychodramatherapeuten in der Therapie von Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9.1 Die Therapie eines Patienten mit sozialer Phobie durch Moreno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9.2 Die Behandlung von isolierten Phobien . . . . . . . . . . . . . . 6.9.3 Der therapeutische Umgang mit Panikattacken bei anderen Psychodramatikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 287

7 Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und ihre psychodynamische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Behandlung der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation in den Zwangssymptomen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Behandlung von Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Selbststabilisierung und Ich-Stärkung durch Rollenspiele . . . . . .

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288 288 290 292

295 296 300 303

8 Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 8.1 Was ist eine Depression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 8.2 Die verschiedenen Formen der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8.3 Die Therapie von Depressionen bei Aktualkonflikten . . . . . . . . . . 313 8.4 Die Therapie von Depressionen infolge neurotischer Konflikte . 317 8.4.1 Das Grundprinzip der psychodramatischen Therapie von Menschen mit neurotischer Depression . . . . . . . . . . 319 8.4.2 Die neun Schritte der Therapie bei einer neurotischen Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 8.4.3 Die probatorische, systemisch gerechte Beziehungs­ verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 8.4.4 Die Integration der inneren Umstellung in andere Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 8.4.5 Systemisches Denken durch Rollentausch . . . . . . . . . . . . 334 8.4.6 Das Mitspielen der Therapeutin als Hilfs-Ich im psychodramatischen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 8.4.7 Die Behandlung in der Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . 338 8.4.8 Die Therapie von Depressionen bei Ablösungskonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 8.4.9 Die Therapie verlängerter Trauerreaktionen . . . . . . . . . . . 345

10

Inhalt

8.5 8.6

8.7 8.8

Die Therapie von Depressionen bei Menschen mit Identitätskonflikten bei strukturellen Störungen . . . . . . . . . . . . . . Die Therapie von psychosenahen Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Die therapeutische Verständigung durch stellvertretendes Mentalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Die imaginative probatorische Verwirklichung von Suizidfantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Das gemeinsame therapeutische Mentalisieren des Handelns im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.4 Das Aktivieren des Mentalisierens durch die Arbeit mit nächtlichen Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.5 Die Geburt des Ichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.6 Die Integration der inneren Umstellung in die inneren Beziehungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.7 Grenzen der Therapie bei psychosenahen Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikation mit Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidale Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.1 Das Einbetten des suizidalen Impulses in den dazugehörigen Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.2 Die Begegnung mit dem Tod als Weckruf und Anstoß zum Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.3 Die Einengung des Denkens im präsuizidalen Syndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.4 Kriterien und Fragen zur Einschätzung der Suizidalität 8.8.5 Therapeutische Interventionen bei suizidaler Gefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 Psychotische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Das Besondere in der störungsspezifischen Therapie von psychotisch erkrankten Menschen, Morenos Geheimnis . . . . . . . 9.2 Die Psychodynamik der psychotischen Dekompensation . . . . . . 9.3 Die Blockade der therapeutischen Beziehung in der klassischen psychiatrischen Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Die drei Modi des Mentalisierens in der Psychose . . . . . . . . . . . . . 9.5 Die transmodale Beziehungsgestaltung in der Therapie . . . . . . . . 9.6 Die fünf Schritte des therapeutischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1 Der Doppelgängerdialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2 Die medikamentöse Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

350 352 355 355 356 358 359 362 365 367 368 369 371 373 374 378 383 383 389 392 394 399 404 405 410

11

Inhalt

9.6.3

9.7

9.8 9.9

Das Symbolisieren des Gegensatzes zwischen Alltagslogik und Traumlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 9.6.4 Die Anwendung der Hilfswelt-Methode beim Hören von Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 9.6.5 Die Anwendung der Hilfs-Welt-Methode bei Größenwahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Die Integration der fragmentierten Selbstorganisation . . . . . . . . . 424 9.7.1 Die Umwandlung eines Depersonalisationsprozesses in eine Ich-Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 9.7.2 Die Integration einer fragmentierten Selbstorganisation durch das Spiel mit Handpuppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Die theoretischen und praktischen Erkenntnisse von Moreno und Casson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Gruppentherapie mit psychotisch erkrankten Menschen . . . . . . . 435

10 Suchterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 10.1 Das Besondere in der Psychotherapie von Suchtkranken . . . . . . . 441 10.2 Die Definition von Sucht und Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 10.3 Epidemiologische Zahlen und Behandlungsstatistiken . . . . . . . . . 448 10.4 Diagnostik und suchtspezifische Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 10.5 Die Psychodynamik der Suchtentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 10.6 Die sieben Phasen der Suchttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 10.6.1 Die Motivationsphase und die Informationsphase . . . . . 467 10.6.2 Die Abstinenzentscheidung und der körperliche Entzug 472 10.6.3 Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe . . . . . . . . . . . . . 475 10.6.4 Die Phase der psychischen Entwöhnung . . . . . . . . . . . . . . 476 10.6.5 Die Integration der inneren Umstellung in die gegenwärtigen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 10.6.6 Die Mitbehandlung einer psychischen Zweiterkrankung 482 10.7 Das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und die Kapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 10.8 Die transmodale therapeutische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 10.9 Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 10.10 Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 10.11 Tablettenabhängigkeit und Drogenabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . 501 10.12 Nicht-substanzgebundene Suchterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 505 10.12.1 Das Erfassen der persönlichen idealen Suchtszene . . . . . 506 10.12.2 Glücksspielsucht und Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

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Inhalt

10.12.3 Sexsucht und Pornosucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 10.12.4 Internetspielsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 10.13 Kodependenz und sekundäre Traumatisierung von Bezugspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 11 Krankheitswertiges abweichendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Das Besondere in der Behandlung von Menschen mit krankheitswertigem abweichendem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Fallbeispiel eines Patienten mit Fetischismushandlungen . . . . . . 11.3 Die Psychodynamik von Patienten mit krankheits­wertigem abweichendem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Der störungsspezifische Zugang zum Symptom von Fetischismushandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Die Integration des Als-ob-Modus in das krankheits­wertige abweichende Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Fetischismushandlungen als Beziehungsersatz . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Abstinenzversuch und psychische Entwöhnungs­behandlung bei Fetischismushandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

522 522 523 525 526 530 532 534

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552

Vorwort

Während der letzten fünfzig Jahre hat sich das Arbeiten mit Psychodrama über die ganze Welt ausgebreitet. Die Methode wurde in der Lehre weitergegeben, und die Menschen erlebten sie in Aktion. Die meisten Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten haben ihre Erfahrungen aber nicht dem schriftlichen Wort anvertraut. Deshalb gibt es ein Defizit in der theoretischen Konzeptualisierung der therapeutischen Arbeit. Solange Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker nicht anfangen, im Detail zu beschreiben, was sie tun, und die Theorie formulieren, auf der ihre praktische Arbeit beruht, werden sie den Wert dieser Arbeit nicht klar aufzeigen können. Es gibt viele verschiedene Bücher über die praktische Ausübung des Psychodramas. Was macht das Besondere dieses neuen Werks aus? Ich denke an zwei Aspekte. Der Schwerpunkt des Buchs ist die störungsspezifische Anwendung der Psychodramatechniken bei einzelnen psychischen Störungen. Andererseits betont der Autor die Bedeutung kreativen Mentalisierens innerhalb des therapeutischen Prozesses. Zusammengenommen machen diese beiden Aspekte das Buch einzigartig und innovativ. Es ist ein lang erwarteter Beitrag zur Psychodramaliteratur und wird, wie ich hoffe, die Akzeptanz des Psychodramas als realisierbare alternative Psychotherapiemethode innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie erweitern. Obwohl Psychodrama als therapeutisches Verfahren bei seelischen Krankheiten entstanden ist, wird es heute im klinischen Alltag eher selten angewandt. Ein Grund dafür mag sein, dass Psychodramatiker sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten relativ wenig mit den Mechanismen auseinandergesetzt haben, mit denen sie durch Psychodramatherapie die bekannten therapeutisch positiven Wirkungen erreichen. Es wurden zwar viele Vorgehensweisen der Psychodramatherapie beschrieben. Diese Vorgehensweisen wurden aber nicht abgeleitet von einer in sich systematischen, übergeordneten Theorie der Psychodramatechniken, auch wurden sie in ihrer jeweils speziellen Art ihrer Anwendung nicht auf die verschiedenen psychischen Störungen bezogen. Deshalb war es

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Vorwort

bisher für Psychodramatiker und Psychodramatikerinnen schwer, zu überprüfen, ob ihre Patienten für Psychodramatherapie geeignet sind, und die Indikation für bestimmte psychodramatische Vorgehensweisen zu stellen. Auch war es schwer möglich, die Ergebnisse der Psychodramatherapie mit denen anderer Forschungen und anderer Behandlungsmethoden zu vergleichen. Diese Lücke in der Psychodramaliteratur wird durch dieses Buch geschlossen. Es wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der diagnostischen Einordnung der Patienten und spezifischen psychodramatischen Vorgehensweisen. Durch die Darstellung dieses Zusammenhangs kann das Buch helfen, das Wissen um die besonderen therapeutischen Möglichkeiten des Psychodramas in die Wissenschaft seelischer Gesundheit und den Kumulationsprozess von Wissen in die Zusammenarbeit mit Institutionen einzubringen. Gleichzeitig macht das Buch es den Psychodramatikerinnen und -dramatikern leichter, neues Wissen aus anderen Bereichen der Psychiatrie und Psychotherapie in die Psychodramatherapie zu übernehmen. Dieses Werk liefert einen großen Beitrag zur Erklärung des Werts der psychodramatherapeutischen Arbeit an den inneren Beziehungsbildern und am Mentalisieren des Menschen. Moreno schrieb: »Psychodrama is a way to change the world in the here and now using the fundamental rules of imagination without falling into the abyss of illusion, hallucination and delusion« (J. L. Moreno »Magic Charter of Psychodrama«, 1972). Psychodrama legt als eine imaginationsbasierte Methode den Schwerpunkt auf die Fähigkeit des Menschen zur symbolischen Repräsentation der inneren Welt im Spiel, ganz ähnlich wie wir es in unseren Träumen und im freien Spiel tun. Das Konzept des »Als-ob« hat einen zentralen Platz in den Methoden und der Philosophie des Psychodramas. Tatsächlich benutzt das Rollenspiel die wohlüberlegte zeitliche und räumliche Verzerrung und den Einsatz von Hilfs-Ichs, Aufwärmübungen und Requisiten sowie die Fähigkeit des Protagonisten, zu mentalisieren. Das Rollenspiel ermutigt Gruppenteilnehmer, Situationen aus der Vergangenheit so darzustellen, »als ob« diese Ereignisse in der Gegenwart stattfänden. Sie berichten von unbelebten Objekten, »als ob« diese lebendig wären, und sie sprechen zu anderen Gruppenmitgliedern, »als ob« sie alte Bekannte wären oder bedeutsame Personen aus ihrem Leben. Wichtig ist aber, zu erklären, wie solche psychodramatischen Handlungstechniken helfen, den therapeutischen Prozess voranzubringen. Dieses Buch verfeinert unser Verständnis, wie die Welt des »Als-ob« im Psychodrama bei den verschiedenen Klientinnen und Klienten genutzt werden kann, das auch bei denen, die die Welt des »Als-ob« nicht so leicht betreten können. Seit meiner ersten persönlichen Erfahrung mit Psychodrama war ich beeindruckt von der Schnelligkeit des Prozesses, in dem die »Als-ob«-Qualität des

Vorwort

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Rollenspiels sich in ein sehr reales Gefühl emotionaler Entlastung verwandelte. Fast noch stärker war aber das Gefühl, dass eine solche Abreaktion von aufgebauter Spannung oft von einer Art Ermächtigung begleitet war, einer Empfindung, ein Geheimnis entschlüsselt zu haben, und von einem Gefühl von »Nun kann ich der sein, der ich bin«. Wenn ich später begabte Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten beobachtet habe, war ich oft erstaunt. Ihre Sensibilität, ihr intuitives Geschick und ihre kreative Nutzung dramatischer Kunst waren außergewöhnlich. Es sah fast magisch aus, so kam es mir vor. Aber sie sagten: »Nein, das kann man lernen. Auch du kannst das lernen!« Und so begann ich mein mühsames Training. Auch nach vielen Jahren hatte ich aber noch immer eine Menge Fragen, wie es funktionierte und was die einzelnen Konzepte des Psychodramas bedeuteten. Ich versuchte, Morenos Bücher zu lesen, und diskutierte stundenlang mit Zerka Moreno über die verschiedenen Seiten der therapeutischen Aspekte des Psychodramas. Mit der Zeit schrieb ich selbst über den einen oder anderen Aspekt, um mir klar zu werden, was während einer psychodramatischen Therapiestunde passierte. Eine meiner Schlussfolgerungen war, dass für Menschen, die ein spezifisches Trauma erlitten hatten, Psychodrama ganz besonders effektiv zu sein schien. Aber ich beobachtete auch, dass Psychodrama nicht jedem in gleicher Weise helfen kann. Während Psychodrama für viele Menschen an verschiedenen Wendepunkten ihres Lebens passend sein mag, gab es andere, die die imaginative Welt des Rollenspiels nicht betreten konnten oder große Schwierigkeiten damit hatten. Deshalb spüre ich, dass es einen Bedarf gibt, weiter zu forschen und Psychodrama zu untersuchen. Auf diesem Hintergrund ist dieses Buch ein Schritt in die richtige Richtung. Es schafft ein neues Verständnis der psychodramatischen Wissenschaft durch einen Autor mit bedeutsamer Erfahrung in Psychodramatherapie. Dieser Band vermittelt in der Psychodramatherapie eine zuverlässige konzeptionelle Basis für das eigene therapeutische Handeln und wird neue Diskussionen über den Beitrag Morenos zum Prozess der Entwicklung der Psychotherapie anregen. Peter Felix Kellermann

Vorbemerkung

Meine Patientinnen und Patienten haben mir durch die menschlichen Begegnungen, ihre Mitarbeit in den Therapien und durch ihre therapeutischen Prozesse geholfen, zu erkennen, wie Heilung in der Psychodramatherapie geschehen kann. Ich danke ihnen sehr. Ich habe in den Fallbeispielen dieses Buchs, die aus 40 Jahren psychiatrisch-psychotherapeutischer Tätigkeit stammen, die Namen der Patienten und auch einige Sachverhalte so verändert, dass die Anonymität der Patienten gewahrt ist, und von vielen auch die Zustimmung zur Veröffentlichung eingeholt. Von Grete Leutz lernte ich ab 1971 den intuitionsgeleiteten, prozessorientierten Leitungsstil, von Heike Straub erhielt ich wichtige Anregungen für die therapeutischen Anwendungen des Psychodramas. Karl Peter Kisker lehrte mich, als Psychiater in der Begegnung mit Patienten menschenbezogen und nicht symptombezogen zu denken und zu arbeiten. Karlfried Graf Dürckheim half mir mit seiner existenzialpsychologischen Arbeit, zu erkennen, dass Heilung mehr ist als die Summe der einzelnen Mechanismen, die zur Heilung führen (Krüger, 1997, S. 11 f.). Viele Gedanken zu den Inhalten dieses Buchs entstanden in der Auseinandersetzung mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern und mit Ko-Leiterinnen und Ko-Leitern in Fort- und Weiterbildungsseminaren und mit Psychodramafreundinnen und Psychodramafreunden, in den letzten Jahren auch in Fortbildungsseminaren in Budapest, die durch die Zusammenarbeit mit Teodóra Tomcsányi zustande kamen. Meine 40-jährige Mitarbeit im MorenoInstitut Überlingen und meine 25-jährige Redaktionsarbeit in der Zeitschrift »Psychodrama« und der »Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie«, zurzeit herausgegeben von Christian Stadler und Sabine Spitzer, haben mich Fragen stellen und Antworten finden lassen. Stefan Gunkel hat mitgearbeitet an den Kapiteln 1, 2, 3 und 5, an anderen Kapiteln waren beteiligt Gudrun Beckmann, Hans Benzinger, Günter Büchner, Krisztina Czáky-Pallavicini, Alfred Hinz, Birgit Koerdt-Brüning, Annelie Kolbe-Krüger, Volker Kollenbaum, Eva Kulcsár, Zsusza Marlok, Anne Möhring, Marén Möhring, Cameron Paul, Alfons Roth-

Vorbemerkung

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feld, Gudrun Runge, Szofia Sáfrán, Kristina Scheuffgen, Ingrid Sturm, Gabor Török, Gunhild Warbende, Kurt Weber und Birgit Zilch-Purucker. Günter Barke danke ich für die Erstellung der Abbildungen. Die Frage der gendergerechten Formulierung wurde in diesem Buch, um den Lesefluss nicht zu stören, oft so gelöst, dass in den einzelnen Kapiteln entweder von der Therapeutin und dem Patienten oder aber von dem Therapeuten und der Patientin gesprochen wird. Reinhard T. Krüger

1  Was ist Psychodrama?

Jakob Levy Moreno (1889–1974), der die Soziometrie und das Psychodrama entwickelte, wanderte als Psychiater 1925 aus Wien in die USA aus. Er ist einer der Väter der Gruppentherapie und hat deren Entstehung in den USA ab 1931 maßgeblich vorangetrieben. Dabei ist Gruppentherapie nach Moreno nicht gleichzusetzen mit Psychodrama (Moreno, 1959, S. 69 f.). Moreno verstand unter »Gruppentherapie« ganz allgemein »nur« eine Gruppenarbeit, in der »die psychotherapeutische Gesundheit der Gruppe und ihrer Mitglieder das unmittelbare und einzige Ziel ist« (Moreno, 1959, S. 53). In diesem Sinne war Moreno ab 1932 tätig in schon bestehenden Gruppen von sozialen Einrichtungen wie Schulen, Wohnheimen und Gefängnissen. Er hat dort die Mitarbeiter supervidiert, organisatorisch beraten und mithilfe von soziometrischen Untersuchungsmethoden (Moreno, 1974) und Rollenspielen soziotherapeutisch gearbeitet. 1936 gründete er eine kleine psychiatrische Klinik in Beacon/New York. Zu dieser Zeit stand die Entwicklung der Psychotherapie weltweit noch in ihren Anfängen. In seinem 12-Betten-Sanatorium behandelte Moreno seine Patientinnen und Patienten nach den Grundprinzipien der therapeutischen Gemeinschaft. Er integrierte in die Behandlung seiner psychisch kranken Patientinnen und Patienten seine früheren Wiener Erfahrungen mit dem Rollenspiel mit Kindern, mit dem Stegreiftheater von Erwachsenen (Moreno, 1970) und die Erkenntnisse aus seiner Arbeit in sozialen Einrichtungen in den USA. Psychotherapeutisch arbeitete Moreno in seiner Klinik vorwiegend im Einzelsetting (Straub, 2010, S. 28) (siehe Kap. 2.6.1). Dabei wandte er Rollenspiele an, mit denen er die Patienten in eigenen Rollen und in den Rollen anderer, zunächst noch ohne Rollentausch, ihre inneren Welten auf der Bühne ausgestalten ließ (Moreno, 1945, S. 11 ff.; 1959, S. 221 ff.). Hilfs-Therapeuten unterstützten die Patienten dabei als Mitspieler in den jeweiligen Gegenrollen. Erst später integrierte Moreno auch den Rollentausch zwischen dem Protagonisten und einem Hilfs-Ich in seine therapeutische Arbeit (Moreno, 1959, S. 210). Das war die Geburtsstunde des Psychodramas als Psychotherapiemethode, so wie wir es heute kennen.

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Was ist Psychodrama?

Die Psychoanalyse hat die Welt um die Erkenntnis des Unbewussten bereichert und Techniken entwickelt, die das Unbewusste aufdecken. Das Neue an der Familientherapie ist die systemische Sichtweise. Bei der Verhaltenstherapie steht das zielgerichtete Lernen von neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund. Zentraler Gedanke Psychodrama hingegen ist inneres Mentalisieren und psychische Selbstorganisation durch äußeres Spielen auf der Zimmerbühne oder Tischbühne. Wichtige Definition Ich definiere Mentalisieren als die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere situationsbezogen versteht, mit der er Konflikte verarbeitet, nach angemessenen bzw. neuen Konfliktlösungen sucht und seine Handlungen plant.

Dabei unterscheide ich das Mentalisieren als Prozess, mentalizing, von der Mentalisierung, Mentalization, als dem Ergebnis des Mentalisierens. »Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierteren inneren Organisation und seiner Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft« (Fonagy, Gergely, Jurist und Target, 2004, S. 10 f.). Psychodramatherapeutinnen lassen ihre Patienten die Prozesse ihres Mentalisierens nach außen auf die Bühne bringen (Moreno, 1965, S. 212 und 1959, S. 111; Buer, 1980, S. 99; Seidel, 1989, S. 197; Holmes, 1992; Kellermann, 1996, S. 98; von Ameln, 2013, S. 9) und ihre Konflikte dort mithilfe der Therapeutin im Als-ob-Modus des äußeren psychodramatischen Spiels innerlich verarbeiten und probatorisch zu Ende »denken« bzw. mentalisieren (siehe Kap. 2.2). Deshalb gehört Psychodrama zur Gruppe der mentalisations-basierten Behandlungsmethoden (mentalization-based treatment, MBT). Das Konzept des Mentalisierens wird von seinen Urhebern angesehen als integrativer Bezugspunkt und Konzept zur Verbesserung und Verfeinerung der therapeutischen Arbeit in allen Psychotherapiemethoden (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 7 f.). »Wir mentalisieren, wenn wir in uns selbst oder in anderen mentale Zustände wahrnehmen – wenn wir zum Beispiel über Gefühle nachdenken. […] Genauer gesagt, wir definieren Mentalisieren als imaginatives Wahrnehmen oder als Interpretieren von Verhalten als verbunden mit intentionalen mentalen Zuständen« (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. xi). »Wir mentalisieren meist schnell und, ohne dass uns das bewusst ist. […] Mentalisieren ermöglicht, soziale Situationen zu verstehen und vorherzusagen sowie

Was ist Psychodrama?

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eigene Affekte zu modulieren« (Brockmann und Kirsch, 2010, S. 279). »Gekonntes Mentalisieren allein löst nicht Probleme und befreit nicht von Störungen, sondern steigert die Fähigkeiten der Betroffenen, das zu tun« (Williams, Fonagy, Target, Fearon et al., 2006, zitiert nach Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 7). Übung 1 Erkunden Sie einmal selbst als Leserin oder Leser in einem kleinen Experiment die therapeutische Wirkung eines der Grundprinzipien des Mentalisierens durch das psychodramatische Spiel, die Veräußerlichung der Innenwelt des Patienten durch Szenenaufbau: Repräsentieren Sie in Ihrem Therapiezimmer den vom Patienten spontan berichteten Beziehungskonflikt oder sein Problem, seine Symptomszene, außen auf der Bühne mit zwei leeren Stühlen (siehe Abb. 1). Stellen Sie dazu neben den Stuhl Ihres Patienten einen Stuhl für seine innere Selbstrepräsentanz in seinem Konflikt und diesem gegenüber einen anderen Stuhl für seine innere Objektrepräsentanz des dazugehörigen Konfliktpartners. Führen Sie dann mit dem Patienten rein verbal ein ganz normales therapeutisches Gespräch über seinen Konflikt. Zeigen Sie dabei aber mit Ihrer Hand jeweils auf den leeren Stuhl seiner Selbstrepräsentanz, wenn Sie mit ihm über sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln in seinem Konflikt reden, oder auf den leeren Stuhl seiner Objektrepräsentanz, wenn Sie mit ihm über seinen Konfliktpartner reden.

Sie trennen durch das Aufstellen des inneren Beziehungskonflikts des Patienten mit Stühlen die Szene seines inneren Beziehungsbildes außen räumlich sichtbar von der Interaktion der therapeutischen Beziehung und betrachten mit dem Patienten gemeinsam Schulter an Schulter seine Interaktion in seinem inneren Beziehungskonflikt aus der Sicht eines Beobachters. Sie wechseln mit ihm dadurch in die Metaperspektive zu seinem Konflikt und verwirklichen die Psychodramatechnik des Spiegelns. Sie werden merken, dass sich durch diese Szenentrennung die Qualität Ihrer Beziehung mit dem Patienten tendenziell verändert: 1. Der Patient blickt von außen auf die Interaktion in seinem inneren Beziehungsbild und sitzt seinem als Stuhl repräsentierten Konfliktgegner direkt gegenüber. Das aktualisiert diesem gegenüber seinen Affekt. 2. Er sieht weniger die Therapeutin an, fühlt sich dadurch freier, sich mit sich selbst und den Interaktionen in seinem Beziehungskonflikt zu beschäftigen, und zentriert seine Aufmerksamkeit weniger darauf, ob und wie er von der Therapeutin verstanden wird. 3. Dadurch dass er seinen inneren Beziehungskonflikt von außen ansieht, ergänzt er seine individuumzentrierte Sicht in dem Konflikt potenziell um eine systemische Sichtweise. 4. Die äußere räumliche Trennung der beiden Interaktionsräume erleichtert es, diese auch im inneren Denken zu trennen. Das ent-

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Was ist Psychodrama?

mischt die beiden Szenen und vermindert den Konfliktdruck in der Interaktion zwischen der Therapeutin und dem Patienten. 5. Ihr Gespräch mit dem Patienten bleibt in dieser Therapiestunde mehr auf diesen einen Konflikt fokussiert. 6. Durch den gemeinsamen Blick auf das Dritte, das aber der Innenraum des Patienten ist, kreieren Sie mit dem Patienten einen gemeinsamen Fantasieraum, treten mit ihm innerlich in diesen ein und erforschen darin Schulter an Schulter die Interaktionen in seinem Beziehungskonflikt. Dabei vollziehen Sie als Therapeutin innerlich doppelnd, ohne äußerlich zu doppeln (Krüger, 2013, S. 220), das Mentalisieren des Patienten in seinem Konflikt mit, stellen sich die Dinge mit ihm zusammen vor, spüren ihnen nach und benennen sie. Das verlangsamt die Arbeit an dem Konflikt und fördert die innere Konfliktverarbeitung des Patienten. 7. Sie fühlen sich als Therapeutin bei der gemeinsamen verbalen Arbeit an dem Konflikt des Patienten freier und kreativer, als wenn Sie in dem Gespräch in der Gesicht-zu-Gesicht-Position alles, was der Patient sagt, in sich speichern und verarbeiten müssten. Ich nutze die zwei Stühle für die Symptomszene, wie in der Abbildung 1 dargestellt, in fast jedem Therapiegespräch, auch im Erstgespräch. Sie gehören zur dauerhaften Einrichtung meines Therapiezimmers. Konflikt oder Problem des Patienten im psychodramatischen Spiel

Patient

Selbstrepräsentanz

Gesicht zu Gesicht

Schulter an Schulter

Objektrepräsentanz

Therapeutin

Abbildung 1: Die räumliche Trennung der Interaktion in der Symptomszene des Patienten von der Interaktion in der therapeutischen Beziehung durch ihre Repräsentation mit zwei Stühlen

Was ist Psychodrama?

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Zentraler Gedanke Die Tradition Morenos aufrechtzuerhalten ist, um mit den Worten des Komponisten Gustav Mahler (1860–1911) zu sprechen, »die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche«. Das Verständnis des Psychodramas als mentalisations-basierte Psychotherapiemethode differenziert und erweitert die Theorie und Praxis der Psychodramatherapie.

Seit ich das Psychodrama kennenlernte, beschäftigten mich die beiden Fragen: Wie wirkt Psychodrama? Wie geschieht Heilung?« Zunächst entdeckte ich die Analogie zwischen der Arbeit der zentralen Psychodramatechniken und der Arbeit der Mechanismen der nächtlichen Traumarbeit (Krüger, 1978, siehe Abb. 2, Kreis C). Später entwickelte ich ein in sich systematisches theoretisches Konzept für die kreative Prozessarbeit durch Psychodrama (Krüger, 1997). Dieses beschrieb mit noch anderen Begriffen schon damals das Psychodrama als Methode des Mentalisierens durch psychodramatisches Spiel. In diesem Buch fasse ich zunächst die 1997 ausgearbeiteten Gedanken zusammen, erweitere sie und passe sie begrifflich an den heutigen wissenschaftlichen Diskurs an. Anschließend begründe ich auf dieser theoretischen Grundlage das jeweilige störungsspezifische psychodramatherapeutische Vorgehen bei verschiedenen Krankheitsgruppen und entwickle es weiter. Dabei wird deutlich werden, dass Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten wegen der Zentrierung ihrer Aufmerksamkeit auf das Mentalisieren der Patientinnen und Patienten das Psychodrama in der Einzeltherapie ebenso nutzen können wie in der Gruppentherapie (siehe Kap. 2.6.1).

2  Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

2.1 Die Intuition der Therapeutin als handlungsleitender Prozess Wenn Sie als Leser oder Leserin dieses Buch in die Hand nehmen, haben Sie wahrscheinlich Fragen und möchten zum Beispiel gern wissen: »Was macht das Psychodrama zu einer Psychotherapiemethode? Wie wirkt Psychodrama therapeutisch?« Fragen sind kostbar. Ich stelle mir Ihr fragendes Ich als Ihren »inneren Sokrates« vor. Sie erinnern sich: Sokrates war der Philosoph, der gesagt hat: »Ich weiß, dass ich nicht weiß!« Aus dieser inneren Haltung heraus hat er seine Gesprächspartner zu neuen Erkenntnissen geführt. Wenn er auf dem Marktplatz von Athen zum Beispiel mit einem Mann über das Thema Freundschaft diskutierte, fragte er neugierig und scheinbar naiv wie ein Kind nach: »Was ist denn Freundschaft?« Durch die Fragen des Sokrates merkte sein Gesprächspartner, dass er eigentlich gar nicht wusste, was er selbst unter Freundschaft versteht. Daraufhin hat Sokrates zusammen mit seinem Gesprächspartner, gleichsam Schulter an Schulter diesen doppelnd, überlegt, wie sie beide zusammen den Begriff »Freundschaft« verstehen wollen. Sokrates nannte sein Vorgehen »Hebammenkunst«. Eigentlich gibt es in jedem Menschen diese naiv fragende Instanz, den inneren Sokrates. Sicher ist es kein Zufall, dass Moreno einmal gesagt hat: »Ich hatte zwei Lehrer, Jesus und Sokrates« (Yablonsky, 1986, S. 241 f.). Im Folgenden stelle ich mir vor, dass Ihr innerer Sokrates mit einer Psychodramatherapeutin über Psychodramatherapie diskutiert. Ihr Sokrates fragt diese: »Was ist eigentlich handlungsleitend in Ihrer Arbeit? Wie kommen Sie dazu, jeweils gerade in dieser Situation eine bestimmte Psychodramatechnik einzusetzen?« Die Therapeutin: »Ich folge meiner Intuition.« Sokrates: »Was ist diese Intuition?« Therapeutin: »Ich bin Praktikerin. Über Psychodrama soll man nicht reden, das muss man machen!« Sokrates: »Das ist wunderbar! Und wie machen Sie das, wenn Sie Ihrer Intuition folgend Psychodrama machen?« Die Therapeutin: »Wie ich meiner Intuition folge? Darüber habe ich noch nicht

Die Intuition der Therapeutinals handlungsleitender Prozess

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nachgedacht.« Sokrates: »Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken würden? Finden Sie dann eine Antwort?« Die Therapeutin: »Da läuft etwas in mir ab. Aber wie ich das mache? Ich glaube, das kann man nicht erklären!« Sokrates: »Ja! Fantastisch! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Ich merke, Sie wissen mehr, als ich anfangs dachte!« Die Antwort der Therapeutin scheint zwar nicht besonders ergiebig zu sein, sie ist aus prozesspsychologischer Sicht aber stimmig und weiterführend. Denn es ist richtig: Zentraler Gedanke Der durch Intuition gewonnene Handlungsimpuls der Therapeutin, eine Psychodramatechnik einzusetzen, ist das Ergebnis eines systemischen, halb bewussten, halb unbewussten Abstimmungs- und Einigungsprozesses zwischen der Therapeutin und ihrem Patienten. Dabei ist der innere Prozess, der diesem intuitiven Impuls der Therapeutin zugrunde liegt, ein hochkomplexes Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Gerade dieses »Mehr« ist sein Geheimnis.

Die Intuition ist gleichsam der Geist, der die Funktionen des Mentalisierens (siehe Kap. 1 und unten) zusammenhält und sinnvoll arbeiten lässt, sie ist die Dirigentin im Orchester der Funktionen des Mentalisierens und steuert bei der Konfliktverarbeitung die innere Prozessarbeit. Ein gelungener Prozess der Intuition basiert auf einer freien, aufeinander bezogenen Arbeit der Funktionen des Mentalisierens. Dieser gelingt nur, wenn die Therapeutin die für ihr intuitives Spüren erforderlichen Mechanismen frei, stimmig und aufeinander bezogen nutzt. Ich habe zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass die von mir geleiteten Gruppentherapiesitzungen, wenn ich schon vorher festgelegt hatte, was ich als Therapeut in der Sitzung machen wollte, meistens unbefriedigend verliefen. Wenn ich mich aber nicht festgelegt hatte und sogar ein wenig Angst vor der Sitzung verspürte, wurde das meistens eine gute Therapiestunde, weil ich neugierig und offen blieb für das Geschehen und notgedrungen auf meine Intuition in der aktuellen Begegnung mit den Patientinnen und Patienten vertraute. Meine erste Antwort auf die Frage des Sokrates ist deshalb: Zentraler Gedanke Die Psychodramatherapeutin folgt bei dem Einsatz einer bestimmten Psychodramatechnik ihrer Intuition. Dabei steuert ihre Intuition die Arbeit der Funktionen ihre Mentalisierens. Ihr Impuls zum Einsatz einer Psychodramatechnik ist stimmig und angemessen, wenn der Prozess ihrer Intuition das im Augenblick aktuelle Geschehen ohne Vorannahmen frei verarbeitet.

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

Wichtige Definition Die Intuition des Menschen steuert sein halb bewusstes, halb unbewusstes inneres Mentalisieren (siehe Abb. 2) hin zu einem stimmigen Ergebnis. Mit diesem Verständnis des Begriffes »Intuition« folge ich Allen, Fonagy und Bateman (2008, S. 27), die sagen: »We construe implicit mentalizing as intuition.« »Intuition […] ist die Basis unserer Fähigkeit, angemessen auf nonverbale Kommunikation zu antworten, und viele dieser Reaktionen geschehen außerhalb der expliziten Wahrnehmung. […] Wenn wir mentalisieren, bewegen wir uns ständig vor und zurück zwischen mehr impliziten und mehr expliziten Prozessen« (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 27 f.). Letztlich bestimmt also die Intuition der Psychodramatherapeutin ihr therapeutisches Handeln.

In der therapeutischen Arbeit kontrolliert die Intuition der Therapeutin den Prozess ihres Mentalisierens, die Intuition des Patienten aber den Prozess seines Mentalisierens. Dabei sorgt die Intuition jeweils für die Ganzheitlichkeit des jeweiligen Prozesses des Mentalisierens und wird spürbar in dem Bestreben dieses Prozesses, zu einem in sich stimmigen Gestaltschluss zu gelangen: »Solange die Wahrnehmung noch nicht zu einer geschlossenen Gestalt zusammengefügt ist, besteht für die synthetische Funktion des Ichs ein Leistungszwang, der ein bestimmtes Quantum neutralisierter Energie erfordert. Dieses Quantum wird frei, wenn die Gestalt geschlossen wurde und der Aufwand an neutralisierter Energie reduziert werden kann« (Lorenzer, 1970, S. 86). Wer nicht ganzheitlich und frei mentalisieren kann, hat demnach eine eingeschränkte Intuition. Wer aber gut ganzheitlich mentalisieren kann, besitzt auch ein gutes intuitives Gespür. Das heißt: Wer lernt, komplexer zu mentalisieren, entwickelt auch seine Intuition. Der intuitionsgeleitete Prozess des Mentalisierens braucht bis zum Gestaltschluss oft nur drei Sekunden. Es kann aber auch Minuten, Stunden oder Tage dauern, bis er zum Ende kommt und das Gefühl eintritt: »Das ist es!« Der intuitive Einfall, das Aha-Erlebnis, ist das Ergebnis gelungenen Mentalisierens. Psychotherapeutische Behandlungsmanuale haben sich mit ihrem expliziten Wissen immer in das intuitionsgesteuerte therapeutische Handeln einzuordnen. Ihr innerer Sokrates fragt an dieser Stelle verständlicherweise weiter: »Wie wird nun aber die Intuition für die psychodramatische Arbeit handlungsleitend?« Zentraler Gedanke Ein Problem bei der theoretischen Konzeptualisierung der Psychodramatherapie war, dass in der praktischen Arbeit das von der Intuition bestimmte therapeutische Handeln auf Beteiligte und Beobachter oft ganz einfach wirkt, eben weil es intuitionsgeleitet ist und sich deshalb so stimmig anfühlt.

Die Intuition der Therapeutinals handlungsleitender Prozess

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Eine Psychodramatherapeutin kann eine Therapiesitzung tatsächlich naiv intuitiv leiten, ohne zu wissen, warum sie in dieser Situation gerade diese Psychodramatechnik auf diese Weise einsetzt. Anfängerinnen und Anfänger in der Psychodramatherapie können in ihrer Arbeit durchaus erfolgreich sein, wenn sie mit ihren Patienten achtsam umgehen und »nur« ihrer naiven Intuition folgen. Denn Intuition ist in sich selbst klug. Ein naiv intiutiver Leitungsstil im Psychodrama reicht aber nicht aus, wenn in der therapeutischen Arbeit mit psychisch Kranken Beziehungsstörungen auftreten. Auch ist der Rückzug auf die Aussage »Ich richte mich nach meiner Intuition« als Erklärung unzureichend, wenn Psychodramatherapeutinnen wissen wollen, »was sie machen, wenn sie machen, was sie machen« (Marineau, 2011, S. 43). So brach ein psychoanalytisch ausgebilderter Psychiater in der ersten von mir geleiteten Psychodramatherapiegruppe 1976 nach einem Jahr die Ko-Leitung und danach auch die Psychodramaausbildung ab mit der Begründung: »Ich schätze das Psychodrama sehr. Im Psychodrama weiß ich aber immer nicht, was ich tue. Ich möchte aber wissen, was ich mache, wenn ich handele!« Tatsächlich benötigt der Therapeut neben ausreichend Selbsterfahrung auch störungsspezifisches Wissen, damit die neurotische, strukturell gestörte oder psychotische Selbstorganisation der Patienten nicht irgendwann sein eigenes Mentalisieren und damit den Fortschritt in der Therapie blockiert. Das störungsspezifische Wissen kann helfen, in der praktischen Arbeit Blockaden im intuitionsgeleiteten Abstimmungsund Einigungsprozess mit den Patienten zu vermeiden oder diese wieder aufzulösen. Auch dann sieht die psychodramatische Arbeit von außen meistens immer noch einfach aus, beruht aber auf einer das störungsspezifische Wissen einschließenden, reifen Intuition. Morenos Erkenntnisse und Ideen sind auch heute immer noch die Grundlage der störungsspezifischen Psychodramatherapie. Moreno (1974, S. 441) verstand sich aber als »Meister des Imperfekten« und ist in seinen vielen gehaltvollen Schriften wenig systematisch. So hat Moreno zum Beispiel keine in sich systematische Theorie der Psychodramatechniken entwickelt. Moreno zählte nur dreizehn (Moreno und Moreno, 1975b, S. 239 ff.) bzw. siebzehn (Moreno, 1959, S. 99 ff.) »Methoden« oder sechzehn »Prinzipien und Hypothesen« des Psychodramas (Moreno, 1959, S. 94 ff.) auf und berichtete, dass einer seiner Mitarbeiter, T. Renouvier, 351 »psychodramatische Methoden« gezählt habe: »Die Therapeuten sind oft gezwungen, im Augenblick eine neue Methode zu erfinden oder eine alte zu ändern, um einer komplizierten Lage zu begegnen« (Moreno, 1959, S. 99). Schützenberger-Ancelin (1979, S. 79 f.) ordnete mangels einer Systematik die von ihr aufgezählten 76 verschiedenen »klassischen Techniken des Psychodramas« einfach nach dem Alphabet, und erwähnte unter B die Technik

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

»Beleuchtung« und unter P das »Psychodrama mit Kindern«. Ein anderer Versuch der Systematisierung bestand darin, die zentralen Techniken des Psychodramas herauszuarbeiten. Lange Zeit wurden nur die Techniken Doppeln, Spiegeln und Rollentausch als »zentrale Techniken« definiert (Leutz, 1974, S. 43 ff.), das vielleicht deshalb, weil Moreno diese drei Techniken mit den »wichtigsten Phasen« der Kindheitsentwicklung in Verbindung gebracht hatte (Moreno und Moreno, 1975a, S. 135 ff.; Moreno, 1959, S. 85 f.). Speziell die Anwendung dieser drei Techniken unterscheidet das Psychodrama auch vom übenden Rollenspiel. Die Begrenzung der Aufmerksamkeit auf diese drei Techniken behinderte aber die Entwicklung einer ganzheitlichen Theorie des psychodramatischen Spiels. Denn in Wirklichkeit benutzen Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten bei der Leitung eines protagonistzentrierten Spiels immer auch andere Psychodramatechniken, zum Beispiel den Szenenaufbau und das Rollenspiel, ohne die ein Rollentausch gar nicht möglich ist (siehe Kap. 2.4). Zentraler Gedanke Erst die Zusammenschau der acht zentralen Psychodramatechniken Szenenaufbau, Doppeln, Rollenspiel in der eigenen Rolle, Rollenspiel in der Rolle anderer, Rollentausch, Spiegeln, Szenenwechsel und Sharing (siehe Abb. 2) machte es möglich, eine allgemeine Theorie der Psychodramatechniken zu entwickeln, aus dieser Zusammenschau heraus zwischen den verschiedenen zentralen Psychodramatechniken eine Beziehung herzustellen und systematisch für jede einzelne von ihnen ihre je eigene therapeutische Wirkung, ihre Indikation und ihre praktischen Anwendungsweisen zu erfassen (Krüger, 1997, S. 75 ff.).

Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten verbindet miteinander, dass sie in ihrer praktischen Arbeit Psychodramatechniken einsetzen und diese auch offen als solche benennen. Dabei entwickeln sich zurzeit im deutschsprachigen Raum zwei verschiedene Interpretationen der Psychodramatherapie. Etliche Psychodramatikerinnen begründen ihr Vorgehen mit den verschiedenen Rollentheorien. Das führt in der praktischen Arbeit oft zu einem individuumzentrierten Vorgehen, das eher mit verhaltenstherapeutischem Denken kompatibel ist (siehe Kap. 2.8 und 2.9). Die in diesem Buch beschriebene Psychodramatherapie geht von dem Konzept der Aktualisierungstendenz des Selbst des Menschen aus. Die Aktualisierungstendenz des Selbst ist »das grundlegende Motiv für das Tätigwerden des Menschen, um Autonomie und Selbstständigkeit zu erlangen. Dabei entwickelt er die zunehmende Bereitschaft, sich für jede Art der Erfahrung zu öffnen und sich und andere so anzunehmen, wie sie sind« (Internet: Psychologie Glossardefinition, C. Rogers M5–03403). Diese Sichtweise des

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Psychodramas misst »den selbstregulativen Prozessen auf allen Ebenen menschlichen (Er-)Lebens besondere Bedeutung bei« (Kriz, 2012, S. 318) und sieht den Menschen als »systemisch organisierte ganzheitliche Struktur« an (Kriz, 2014, S. 128 ff.). So gesehen erweist sich Psychodramatherapie als eine Methode der humanistischen Psychotherapie (Kriz, 2012) und ist eher kompatibel mit dem Denken in psychodynamisch orientierten Psychotherapieverfahren. Zentraler Gedanke Der einzelne Mensch ist ein sich selbst organisierendes lebendiges System. Auch die Gruppe (siehe Kap. 2.6.5) ist ein sich selbst organisierendes System. Die systemische Sichtweise des Menschen und der Gruppe hilft der Therapeutin, in der therapeutischen Beziehung ausreichend flexibel zu bleiben und die therapeutische Beziehung als Wirkfaktor der Therapie voll zu nutzen (siehe Kap. 2.8 und 2.9).

2.2 Der Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seiner Spielproduktion auf der äußeren Bühne Sicher hat sich bei Ihnen als Leserin oder Leser inzwischen Ihr innerer Sokrates wieder gemeldet und möchte wissen: »Aber was hat denn nun das Mentalisieren mit Psychodrama zu tun? Können Sie mir das genauer erklären?« Die Antwort ist: Zentraler Gedanke Die zentralen Psychodramatechniken verwirklichen die Werkzeuge bzw. Funktionen des inneren Mentalisierens im Handlungsmodus im äußeren Spiel auf der Bühne (Krüger, 1997, S. 84 ff.) (siehe Abb. 2).

1. Der Szenenaufbau, das Doppeln und die Doppelgänger-Technik (Krüger, 1997, S. 120 f.) verwirklichen im Als-ob-Modus des Spiels außen im Therapiezimmer die Arbeit, mit der der Mensch bei seiner spontanen inneren Konfliktverarbeitung innerlich die daran beteiligten Personen oder Elemente als Konfliktsystem repräsentiert. Ein solches inneres Konfliktsystem besteht aus einer inneren Selbstrepräsentanz, einer dazugehörigen inneren Objektrepräsentanz und dem Interaktionsraum zwischen der Selbstrepräsentanz und der Objektrepräsentanz. Durch den Szenenaufbau im Spiel wird für den Protagonisten sein inneres Konfliktsystem zur äußeren Wahrnehmung.

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  Beim intrapsychisch verbalisierenden Doppeln (Krüger, 1997, S. 116 ff.) lässt die Therapeutin den Protagonisten ein Selbstgespräch halten, tritt innerlich mit in sein Selbstgespräch ein, verbalisiert in Identifikation mit ihm ihre Wahrnehmungen in dem Konfliktsystem nach außen und innen in Sprache und aktiviert dadurch sein inneres Mentalisieren. Bei der DoppelgängerTechnik tritt die Therapeutin interagierend mit in das Konfliktsystem ein und mentalisiert und verbalisiert ihr inneres und äußeres Wahrnehmen stellvertretend für den Protagonisten (Krüger, 1997, S. 120 ff.). Der Szenenaufbau, das Doppeln und die Doppelgänger-Technik verwirklichen die systemorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im inneren Mentalisieren die Prozessqualität des Raums (siehe Abb. 2). 2. Das Rollenspiel in der eigenen Rolle verwirklicht außen im Spiel die innere Arbeit des Erinnerns und Planens, mit der der Patient im Nachdenken über einen Konflikt die zeitliche Abfolge seiner eigenen Aktionen und Reaktionen und die seines Konfliktpartners wie in einem Film in seiner Vorstellung noch einmal nachvollzieht oder sich in die Zukunft hinein vorstellt und damit festlegt, was für ihn in dem Interaktionssystem des Konflikts Realität war, sein könnte oder werden sollte. Durch den Rollenwechsel in die Rollen anderer und durch das Rollenspiel in diesen anderen Rollen kreiert der Protagonist in sich den inneren Fantasieraum der jeweils anderen Person und erkundet ihre innere Selbststeuerung. Das Rollenspiel vollzieht die realitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreiert im Mentalisieren zusätzlich zur Prozessqualität des Raums die Prozessqualität der Zeit (siehe Abb. 2). 3. Mit dem Rollentausch erforscht der Protagonist in einem Beziehungskonflikt die innere Motivation seines Konfliktpartners und seine eigene innere Motivation in seinem Beziehungskonflikt und beantwortet sich die Frage, was in der Interaktion Ursache und Wirkung ist. Als Rollentausch definiere ich den Wechsel des Protagonisten im psychodramatischen Dialog aus der Rolle seiner Selbstrepräsentanz in die Rolle seiner mit der Selbstrepräsentanz interagierenden Objektrepräsentanz und wieder zurück. Der Rollentausch in einem psychodramatisch ausgespielten inneren Beziehungsbild ist also immer rückbezüglich auf die eigene Person, so dass der Protagonist im Rollentausch aus der Rolle seines Konfliktpartners sich selbst als Objekt sieht (Krüger, 2003, S. 92 ff.). Im Unterschied dazu wird »Rollenwechsel« als ein Wechsel in eine andere Rolle verstanden, die nicht direkt mit der Selbstrepräsentanz des Protagonisten interagiert, also zum Beispiel als Wechsel in die Rolle einer Märchenfigur oder in die Rolle eines Hilfs-Ichs im Spiel eines anderen Protagonisten. Beim Rollentausch sieht der Protagonist sich durch

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die Augen des Konfliktpartners selbst wie in einem Spiegel von außen. Diese Spiegelfunktion des Rollentauschs (Krüger, 1997, S. 162 f.) wird beim eigentlichen Spiegeln ergänzt um die Betrachtung des Beziehungskonflikts aus der Rolle eines Dritten. Beim Spiegeln beobachtet der Protagonist die gesamte Interaktion in seinem Beziehungskonflikt von außen aus der Metaperspektive, verbalisiert, was er wahrnimmt, und gibt sich aus der Ja-aber-Position des Fachmanns heraus selbst Empfehlungen. Der Rollentausch und das Spiegeln lassen den Protagonisten seine individuumzentrierte Sichtweise des Konflikts um eine systemische Sichtweise des Konflikts ergänzen, verwirklichen die kausalitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im Mentalisieren die Prozessqualität der Logik (siehe Abb. 2). 4. Mit dem Szenenwechsel wechselt der Patient im äußeren Spielen von einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort in eine andere Zeit und an einen anderen Ort, stellt wie beim introspektiven Nachdenken zwischen diesen verschiedenen Konflikträumen einen inneren Zusammenhang her und kreiert durch diese zusammenfassende Betrachtung Bedeutungen und Sinnkontexte. Die Techniken Sharing und Amplifikation stellen hingegen Sinnzusammenhänge her mit analogen Konflikterfahrungen anderer Menschen. Dadurch wird der Einzelne mit seinem individuellen Problem wieder in die Gemeinschaft der Menschen aufgenommen und erkennt sein individuelles Leiden neu als Teil allgemein menschlicher Erfahrungen. Der Szenenwechsel, das Sharing und die Amplifikation verwirklichen die finalitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im Mentalisieren die Prozessqualität des Sinns. Das Kreismodell in der Abbildung 2 verdeutlicht die Analogie zwischen der Wirkweise der einzelnen Psychodramatechniken und der Wirkweise der jeweils dazugehörigen einzelnen Funktionen des Mentalisierens dadurch, dass diese jeweils in demselben Quadranten des Kreises angeordnet sind. So sind zum Beispiel die Psychodramatechniken Szenenaufbau und Doppeln und die systemorganisierende Funktion des Mentalisierens in demselben linken unteren Quadranten zu finden.

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% B & C ' D E( F) Abbildung 2: Die Beziehungen zwischen den Psychodramatechniken, den Werkzeugen des Mentalisierens und den Abwehrmechanismen bei der Konfliktverarbeitung (zusammenfassendes Kreismodell, erstellt von Sturm, 2009, S. 123, verändert)

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Übung 2 Sie können als Leserin oder Leser den Zusammenhang zwischen den Werkzeugen bzw. Funktionen Ihres Mentalisierens und den Psychodramatechniken selbst mithilfe der folgenden Übung handlungsnah erleben: 1. Lassen Sie sich bitte eine konflikthafte Beziehung aus Ihrem privaten Bereich oder Ihrer Arbeitswelt einfallen. 2. Denken Sie zwei Minuten an diesen Konflikt! – 3. Erinnern Sie sich nun daran, was Sie eben in diesen zwei Minuten innerlich gemacht haben.

In einem Weiterbildungsseminar meinte eine Teilnehmerin: »Ich habe an meine Chefin in meiner Beratungsstelle gedacht, in der ich tätig bin.« Im Gespräch mit dem Seminarleiter machte die Gruppenteilnehmerin, Frau A., sich die einzelnen Schritte ihres inneren Mentalisierens nachträglich bewusst: »Ja, zuerst hat sich bei mir das Gefühl von Enttäuschung eingestellt, das ich meiner Chefin gegenüber habe. Dann habe ich sie vor mir gesehen. Sie ist schwanger und tut so, als ob nichts wäre. Dabei müssen wir doch planen, wie es weitergehen soll, wenn sie in Mutterschaftsurlaub geht.« Seminarleiter: »Bei der Übung sind Sie also, um einen eigenen Konflikt zu finden, mit Ihrer bewussten Aufmerksamkeit aus der hier und jetzt gegenwärtigen äußeren Realität in Ihre innere Vorstellung hineingegangen. Sie haben sich innerlich in einen konflikthaften, negativen Affekt hineinbegeben und ließen dann in Ihrer Vorstellung das zu diesem Affekt zugehörige innere Beziehungsbild entstehen, das Ihre innere Selbstrepräsentanz und das Bild Ihrer Chefin als innere Objektrepräsentanz umfasst. Sie haben sich in Ihrem inneren Mentalisieren, ähnlich wie beim Szenenaufbau im Psychodrama, zuerst die an dem Konfliktsystem beteiligten Personen vergegenwärtigt: Was gehört alles zu dem Konfliktfeld dazu und was nicht? Diese intuitive innere Ausgestaltung des zu dem Affekt zugehörigen Konfliktsystems ist das Ergebnis der Arbeit der systemorganisierenden Funktion des inneren Mentalisierens.« Frau A.: »Aber ich sehe innerlich auch die Teammitglieder vor mir, wir sitzen alle zusammen in einer Runde!« Leiter: »Ja, Sie ergänzen wie beim Szenenaufbau im Psychodrama bei Bedarf Ihr inneres Bild des Konfliktsystems noch um dazugehörige andere Elemente.« Leiter: »Haben die Personen in Ihrer inneren Vorstellung auch irgendetwas gesagt oder getan?« Frau A.: »Meine Chefin sitzt ja einfach nur da, das ist ja das Problem. Mit der anderen Psychologin habe ich mich aber vorgestern schon über das Thema unterhalten!« Leiter: »Sie haben also in Ihrem inneren Mentalisieren die inneren Bilder der an dem Konflikt beteiligten Personen auch handeln lassen. Sie lassen Ihre Chefin in Ihrem inneren Film ruhig dasitzen und so tun, als ob nichts wäre. Sie wechseln dann aber, wenn Sie über Ihren Konflikt nachdenken, innerlich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit und in eine andere Szene

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und sitzen mit Ihrer Kollegin an einem Tisch. Sie haben also innerlich einen Szenenwechsel vollzogen, wie wenn Sie im Psychodrama außen auf der Bühne einen Szenenwechsel in eine andere Zeit und an einen anderen Ort durchführen würden. Dann ließen Sie aus Ihrer Erinnerung heraus in Ihrer gegenwärtigen Vorstellung das Gespräch mit Ihrer Kollegin noch einmal wie einen Film ablaufen: Sie sprachen innerlich zu der Kollegin, und diese antwortete Ihnen so, wie sie es dort und damals getan hatte. Sie ließen in Ihrem inneren Mentalisieren gleichsam die ›Puppen tanzen‹ und wie im Rollenspiel im Psychodrama die Personen nach Ihrem eigenen Willen handeln. Sie ließen die Chefin schweigen, sich selbst reden und die Kollegin antworten. Dadurch haben Sie die damalige Beziehungsrealität mit Ihrer Chefin und die damalige Beziehungsrealität mit Ihrer Kollegin in Ihrer Vorstellung wieder neu in Szene gesetzt.« Der Seminarleiter und die Teilnehmerin arbeiteten miteinander noch zwei weitere Analogien zwischen ihrem Mentalisieren und der Arbeit der zentralen Psychodramatechniken heraus: Frau A. suchte in ihrem inneren Mentalisieren nach der Motivation ihrer Chefin, warum diese den Konflikt in der Beratungsstelle nicht selbst angesprochen hatte. Sie überlegte, innerlich wiederholt die Rollen tauschend, was bei den Aktionen und Reaktionen in der Interaktion mit ihrer Konfliktpartnerin Ursache und was Wirkung war und legte dabei die Logik in ihrer Interaktion fest. Anschließend suchte sie mithilfe von Szenenwechseln innerlich nach einer möglichen Konfliktlösung, die über die persönliche Beziehung hinaus auch in dem umfassenderen Bezugsrahmen der Beratungsstelle Sinn machen würde. Sie wechselte dazu innerlich in vergangene Beziehungserfahrungen mit ihrer Chefin, in andere Zeiten und andere Orte, dachte diese durch, stellte sich vor, wie sich die Beziehung zu ihr in der Zukunft weiterentwickeln würde, und bezog dabei auch noch andere zu dem Konflikt dazugehörige Konfliktfelder mit ein. Die Lösung des Konfliktes musste ja auch für die Klientinnen und Klienten der Beratungsstelle akzeptabel sein und dem ethischen Kodex sowie der wirtschaftlichen und politischen Situation der Beratungsstelle entsprechen. Die Antwort auf die dritte Frage des Sokrates lautet also: Zentraler Gedanke Die Therapeutin wendet im psychodramatischen Spiel Psychodramatechniken an, die die Werkzeuge bzw. die Funktionen des inneren Mentalisierens des Menschen außen im Therapiezimmer handelnd verwirklichen. Umgekehrt gilt: Der Mensch benutzt bei seiner inneren Konfliktverarbeitung in seinem inneren Mentalisieren natürlicherweise Funktionen, die die Therapeutin im psychodramatischen Spiel außen im Handlungsmodus als Psychodramatechniken einsetzt.

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Unserer innerer Sokrates bleibt weiter neugierig und fragt: »Und was hat das alles jetzt mit Therapie zu tun?« Die Antwort ist: Menschen, die psychisch krank sind, können ihre Konflikte nicht ausreichend verarbeiten und haben Blockaden oder Defizite in ihrem Mentalisieren. Die Werkzeuge ihres Mentalisierens sind nicht vorhanden, nicht alle vorhanden, nicht benutzt oder nicht angemessen eingesetzt. Sokrates: »Und was geschieht dann in der Psychodramatherapie?« Antwort: Zentraler Gedanke Während des psychodramatischen Spiels steuert das innere Mentalisieren des Patienten seinen äußeren Spielprozess auf der Bühne. Umgekehrt steuert sein äußerer Spielprozess auf der Bühne aber auch wieder sein inneres Mentalisieren. Während des psychodramatischen Spiels besteht also ein Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Protagonisten und seinem Spielprozess auf der äußeren Bühne (siehe Abb. 3). Das psychodramatische Spiel wirkt dadurch therapeutisch, dass es über diesen Regelkreis das innere Mentalisieren des Patienten und seine inneren Beziehungsbilder differenziert, erweitert und sinngebend verändert. Diese Aussage ist der Schlüssel zum Verständnis der therapeutischen Wirkung des Psychodramas. Wie in einem Puzzle erhält durch diese Zusammenschau jede der acht zentralen Psychodramatechniken ihren je eigenen Platz, ihren je eigenen Sinn und ihre je eigene Indikation im Gesamtprozess des Mentalisierens des Patienten. Durch die Hinwendung zum Menschen und seinem Mentalisieren erhalten wir Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern die Definitionshoheit über unsere therapeutischen Techniken zurück (siehe Kap. 2.9).

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Regelkreis der Patientin

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Äußere Spielproduktion der Patientin auf der Bühne

Regelkreis des Therapeuten

inneres Mentalisieren d. Therapeuten als impliziter Doppelgänger

Abbildung 3: Der Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seinem äußeren psychodramatischen Spiel (durchgezogene Linie links) und seine Verschränkung mit dem Regelkreis der Therapeutin (gestrichelte Linie rechts) (Krüger, 2012, S. 300, überarbeitet)

Übung 3 Wenn Sie als Leserin oder Leser das Konzept des Regelkreises zwischen dem inneren Mentalisieren und dem äußeren psychodramatischen Spiel erlebnisnäher verstehen wollen, erproben sie diesen Zusammenhang einmal selbst mithilfe der folgenden Übung: Supervidieren Sie sich selbst in einem Beziehungskonflikt aus Ihrem Alltag oder Ihrer Arbeit mithilfe des fiktiven psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch ohne äußere Anleitung. Wenden Sie dabei die unten aufgestellten zwölf Regeln an. Fallbeispiel 1: Vor 40 Jahren, als ich selbst noch Arzt in der Poliklinik der Medizinischen Hochschule Hannover war, litt ich seit Monaten zunehmend unter Konflikten mit meinem Oberarzt. Ich mühte mich ab, mein Oberarzt aber reagierte nicht und schien mich abzulehnen. Die Beziehung war angespannt. Als Ausbildungskandidat im Psychodrama entschied ich mich schließlich, die gestörte Beziehung für mich allein psychodramatisch zu klären. Ich stellte zu Hause abends im Wohnzimmer einen leeren Stuhl vor mich hin und imaginierte, wie ich es gelernt hatte, auf dem leeren

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Stuhl meinen Oberarzt. Wie sitzt der da? Wie ist seine Körperhaltung? Wie ist seine Gestik? Dann sagte ich dem »Oberarzt« über die Realität hinaus alles, was mich an ihm störte: »Ich engagiere mich, denke mit. Sie aber werden immer abweisender. Mache ich etwas falsch? Ich weiß gar nicht mehr, was Sie wollen!« Ich wechselte dann in die Rolle des Oberarztes. Ich nahm auf dessen Stuhl dabei die Körperhaltung ein, die ich von ihm kannte, drückte das Kreuz durch und war in der Gestik väterlich. Da merkte ich plötzlich: »Ach, so ist das! Das ist ja, als ob in meinem Rücken ein Spazierstock eingebaut wäre statt der Wirbelsäule!« Als Oberarzt fühlte ich mich von dem spontanen, munteren Assistenten gestört und musste ihm gegenüber Haltung bewahren. Ich hatte Angst, aus der Rolle zu fallen und die Übersicht zu verlieren. Ich erkannte: »Je mehr ich mich als Assistent anstrenge, desto mehr bin ich als Oberarzt beunruhigt, versteife mich und wehre alles nur ab!« Wieder zurück in meiner eigenen Rolle war der Zorn auf den Oberarzt nicht mehr da. Ich dachte: »Wenn das zurückweisende Verhalten von dem Mann nur Selbstschutz ist und er mich nicht wirklich ablehnt, dann habe ich damit kein Problem, dann kann ich ihm das lassen!« Tatsächlich waren am nächsten Arbeitstag in der Poliklinik die Spannungen in der Beziehung zu dem Oberarzt verschwunden und kamen auch später nicht wieder. Durch den Spielprozess war der Konflikt in meinem Mentalisieren zu Ende gedacht. Mein inneres Beziehungsbild zu meinem Oberarzt hatte sich verändert und ließ mich das Geschehen auch in der realen Begegnung mit ihm mit anderen Augen sehen.

Sie können den fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zur Selbstsupervision (Krüger, 2011, S. 201 f.) auch dann einsetzen, wenn Sie nicht Psychodramatikerin oder Psychodramatiker sind. Eine solche Arbeit dauert maximal 20 Minuten. Halten Sie sich dabei an die folgenden zwölf Regeln: 1. Suchen Sie sich für die Selbstsupervision einen Raum, in dem Sie ungestört sind. 2. Stellen Sie für Ihren Konfliktpartner oder den problematischen Patienten einen leeren Stuhl vor sich hin und imaginieren Sie sich diesen darauf sitzend. 3. Der dann folgende psychodramatische Dialog soll ein rein fiktives Gespräch sein. Sprechen Sie also über die Realität hinaus Ihrem Konfliktpartner gegenüber alles aus, was Sie denken und fühlen. Verhalten Sie sich zum Beispiel als Therapeutin Ihrem »Patienten« gegenüber bitte nicht therapeutisch, sondern muten Sie sich ihm hier im Spiel stattdessen authentisch und frei zu, auch wenn Sie ihn in der Realität dadurch verletzen würden. 4. Sie blicken zu dem leeren Stuhl Ihres Konfliktpartners hin und legen innerlich fest, was dieser ganzheitlich ausstrahlt. 5. Sie stellen sich vor, in welcher Körperhaltung der Konfliktpartner da sitzen würde. 6. Sie fangen aus Ihrer Rolle heraus den Dialog an und sprechen dabei in beiden Rollen laut. 7. Sie achten darauf, häufig die Rollen zu tauschen. Denn die Tendenz zur Verteidigung der eigenen Position

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gegenüber dem Konfliktpartner verführt Sie sonst dazu, sich in Ihrem eigenen Denken immer nur wieder selbst zu bestätigen. 8. Im Rollentausch achten Sie darauf, in der Rolle des Konfliktpartners immer wieder auch wirklich dessen Körperhaltung einzunehmen. Denn oft kommen Sie im Rollentausch erst in die Rolle Ihres Konfliktpartners hinein, wenn Sie diesen in Haltung und Gestik spielerisch wirklich nachahmen. Übung 4 Sie können diese Feststellung in einer kleinen zusätzlichen Übung überprüfen: Nehmen Sie auf dem Stuhl Ihres Konfliktpartners abweichend von seiner realen Körperhaltung eine ganz andere Körperhaltung ein, zum Beispiel eine sehr lässige oder eine sehr aufrechte. Sie werden merken, dass die unterschiedlichen Haltungen in Ihnen leiblich-seelisch ganz verschiedene Denk-, Fühl-, und Handlungsmuster aktivieren.

9. Spüren Sie bitte immer wieder nach, was Sie in Ihrer eigenen Rolle körperlich fühlen. Benennen Sie innerlich Ihren Affekt und bitte nicht nur, was Sie denken. Sprechen Sie dieses Gefühl Ihrem Konfliktpartner gegenüber während des Dialogs immer wieder offen aus. 10. Spüren Sie mindestens einmal auch genau nach, was Sie in der Rolle des Konfliktgegners körperlich fühlen, und benennen Sie für sich innerlich auch seinen Affekt. 11. Beenden Sie den Dialog, wenn Sie intuitiv spüren: »Ich habe neu verstanden, um was es geht«, oder wenn Sie nach 15 bis 20 Minuten merken: »Weiter komme ich jetzt nicht!« 12. Am Ende des psychodramatischen Dialogs schreiben Sie bitte sofort auf ein Blatt Papier die Antworten auf die folgenden Fragen auf: Was wusste ich vorher nicht, was war für mich neu? Was wurde mir in dem Dialog deutlicher, als es mir vorher war? Selbstsupervision nach diesen Regeln führt erfahrungsgemäß in etwa 90 % der Anwendungen in nur 15–20 Minuten zu einer neuen Erkenntnis über den jeweiligen Konflikt. Allerdings müssen Sie dazu vorübergehend Ihre tapfer behauptete eigene Position verlassen und spielerisch in das Denken, Fühlen und Wollen Ihres Konfliktpartners eintauchen. Das ist schwer, weil es in einem Konflikt definitionsgemäß sowieso schon anstrengend ist, die eigene Identität zu behaupten und durchzusetzen. Um zur Selbstsupervision bereit zu sein, ist ein gewisser Leidensdruck oder/und Neugier auf eine eventuell die eigene Wahrheit ergänzende andere Wahrheit erforderlich. Neues Denken zu wagen, auch wenn es nur in der Fantasie des fiktiven Spiels ist, ist eben anstrengender, als im Alten zu verharren. Sie sollten die bei der Selbstsupervion gewonnenen neuen Erkenntnisse immer sofort aufschreiben. Denn die alten Muster Ihrer Konfliktverarbeitung machen es Ihnen erfahrungsgemäß schwer, Ihren in der Selbstsupervison gewonnenen neuen Erfahrungen Bedeutung zu geben, und Sie

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vergessen diese schnell. Eine Psychodramatherapeutin, die die Selbstsupervision zum ersten Mal versuchte, meinte danach: »Da war nichts Neues für mich. Ich bin in meiner Rolle nur ein bisschen traurig geworden.« Ich antwortete ihr: »Wenn du diesem Gefühl in deinem Beziehungskonflikt Berechtigung gibst, verändert das aber Dein inneres Beziehungsbild und dein Verhalten in der Beziehung!« Sie können die Selbstsupervision einsetzen zur Klärung von privaten Beziehungskonflikten, von Konflikten mit Mitarbeitern an Ihrem Arbeitsplatz oder auch zur Klärung der therapeutischen Beziehung zu einer Patientin oder einem Patienten, zum Beispiel vor jedem Schreiben eines Psychotherapieantrags. Wenn Sie bei einer schwierigen Beziehung durch Selbstsupervision nicht zu einem Ergebnis kommen, stellen Sie für den Konfliktpartner versuchsweise zwei leere Stühle auf, einen für seinen anhänglich bedüftigen Ich-Zustand und einen zweiten für seinen konträren autoritär willkürlichen Ich-Zustand (siehe Fallbeispiel 16 in Kap. 4.9). Wechseln Sie dann im psychodramatischen Dialog im Rollentausch in der Rolle des Patienten zwischen diesen beiden Stühlen stimmig hin und her. Wenn Sie dadurch plötzlich Ursache und Wirkung im Konflikt verstehen, kann das ein Zeichen dafür sein, dass Ihr Konfliktparner eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hat. Durch die Selbstsupervision ergänzen Sie als Protagonistin in Ihrem inneren Beziehungsbild anders als beim bloßen Nachdenken Ihre individuumzentrierte Sichtweise um eine systemische Sichtweise Ihres Konflikts. Denn Sie verlassen im äußeren Rollentausch vorübergehend den Schutz Ihrer eigenen Position, Sie wechseln auf den Stuhl Ihres Konfliktpartners, treten innerlich ganz in dessen andere innere Welt ein, in dessen Denken, Fühlen und Wollen und in seine anderen Berufserfahrungen, privaten Beziehungen, Lebenserfahrungen und Werte und Normen. Sie sehen sich selbst dabei vorübergehend durch die Augen Ihres Konfliktpartners und wechseln danach durch Rollentausch wieder zurück in Ihre eigene Welt. Die räumliche Distanz zwischen den beiden Stühlen, der psychodramatische Dialog im Als-ob-Modus des äußeren psychodramatischen Spiels und der Rollentausch helfen Ihnen, in dem inneren Beziehungskonflikt Verschränkungen zwischen Ihrer Selbstrepräsentanz und Ihrer Objektrepräsentanz, die bei länger dauernden Konflikten durch Abwehr durch Projektion oder Introjektion fast immer entstehen, zu entmischen (siehe Kap. 8.4.1). Sie erkennen als Protagonistin über Ihr vorheriges Wissen hinaus klarer die innere Wirklichkeit Ihres Konfliktpartners, wie dieser innerlich »tickt«, und aber auch Ihre eigene innere Wirklichkeit. Einerseits erlangen Sie bei dieser Arbeit durch das leiblichseelische Erleben im Rollentausch das Gefühl von Gewissheit für Dinge, die Sie vorher schon vermutet hatten, andererseits werden bei Ihnen aber auch eventuell vorhandenen Projektionen und Introjektionen in Frage gestellt (siehe Kap. 8.4.1).

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Bei der Selbstsupervision trägt die Protagonistin den Konflikt in ihrem inneren Beziehungsbild im äußeren psychodramatischen Spiel über die Realität des Alltags hinaus versuchsweise bis zu Ende aus. Dadurch differenziert und erweitert sie, vermittelt durch den Regelkreis zwischen ihrem innren Mentalisieren und dem äußeren Spiel, ihr inneres Bild des Beziehungskonflikts, trennt darin Realität und Fantasie und entwickelt neue Hypothesen über Ursache und Wirkung und über ihre Handlungsmöglichkeiten in ihrem Konflikt. Das bringt sie gewöhnlich aus ihrer einseitigen Verteidigungshaltung heraus, macht sie neugierig auf die nächste reale Begegnung mit ihrem Konfliktgegner und fördert im Konflikt ihre soziale Kompetenz. Wenn die Protagonistin ihrem Konfliktpartner dann im realen Alltag real wieder begegnet, wird sie überprüfen, ob ihre neuen Hypothesen die Wirklichkeit des Geschehens in der Beziehung angemessener widerspiegeln als ihre vorherigen Annahmen. Ein angemesseneres Verständnis der Realität der Beziehung hilft, in der nächsten realen Begegnung sich selbst und den anderen in der Beziehung besser zu verstehen, sich bei Bedarf besser abzugrenzen, die eigenen Interessen angemessener durchsetzen (siehe Fallbeispiel 1) und ganz allgemein angemessener zu handeln. In einer experimentellen Wirksamkeistuntersuchung haben Marlok, Török, Martos und Czigány (2015) nachgewiesen, dass die Selbstsupervision mit dem psychodramatischen Dialog und Rollentausch gegenüber einer auf dem Schreibparadigma von Pennebaker beruhenden Selbstsupervisionstechnik einen besonderen Gewinn aufweisen kann. Das Schreibparadigma von Pennebaker (1997) beruht im Wesentlichen auf einem automatischen, unkontrollierten Niederschreiben der eigenen Gedanken und Gefühle zu einem Thema. Beide Techniken der Selbstsupervision tragen »zur Abnahme der Gefühle von emotionaler Belastung und Blockade bei. […] Bei der Selbstsupervision mit Rollentausch verbesserte sich aber signifikant stärker die Fähigkeit, sich dem […] Klienten zuzuwenden und ihn […] wirklich hilfreich zu beraten.« Zentraler Gedanke Im Psychodrama vollzieht der Patient seine innere Konfliktverarbeitung mithilfe der Psychodramatechniken handelnd im äußeren Spiel, er differenziert und erweitert im Spiel seine Konfliktverarbeitung und vollendet sie sinngebend im »wahren zweiten Mal« (Moreno, 1970, S. 77). Die Therapeutin lässt den Patienten also an seinen inneren Beziehungsbildern arbeiten und seine innere Realitätskonstruktion verändern.

Während des Spiels entsteht durch den Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren und dem äußeren Spiel eine Äquivalenz zwischen seiner Innenwelt

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und seiner Außenwelt: Seine Innenwelt ähnelt im Spiel seiner Außenwelt, und seine Außenwelt im Spiel ist seiner Innenwelt ähnlich. Das Erleben der Äquivalenz zwischen Innenwelt und Außenwelt ist, wenn es unbewusst als Denken im psychischen Äquivalenzmodus geschieht, ein Ausdruck von Defiziten des Mentalisierens (siehe Kap. 4.4), zum Beispiel wenn ein Patient am Anfang einer Gruppensitzung vollen Ernstes im Äquivalenzmodus denkend mitteilt: »Herr Krüger, es ist wieder so weit: Ich bin nicht mehr da!« (siehe Fallbeispiel 74 in Kap. 9.7.1) Nach psychodramatischer Verwirklichung seines dissoziativen Prozesses (siehe Kap. 9.7.1) konnte der Patient diese Aussage im Als-ob-Modus denken und als Metapher und symbolisches Bild für sein Gefühl der Überforderung bei seiner Arbeit verstehen. Wichtige Definition Im Äquivalenzmodus denkende Patienten verwechseln, wie Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 96 ff.) sagen, »innere Zustände (wie Gedanken, Phantasien und Gefühle) mit der äußeren Realität und empfinden diese als Realität – statt als bloße innere Repräsentationen der Realität«. Sie gehen zum Beispiel, ohne es zu merken, davon aus, dass ihre durch ihr Mentalisieren entstehende innere Realitätskonstruktion des Beziehungsbildes automatisch die äußere Realität der Beziehung angemessen widerspiegelt, und korrigieren diese Realitätswahrnehmung auch dann nicht, wenn die äußere Realität der inneren Realitätskonstruktion widerspricht. Wichtige Definition Der »Als-ob«-Modus des Mentalisierens ist nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 297 f.) im Gegensatz zum Stadium der psychischen Äquivalenz »durch ein Gewahrsein des repräsentationalen Charakters innerer Zustände gekennzeichnet: Indem das Kind eine Abtrennung oder ›Entkoppelung‹ […] seiner mentalen Repräsentationen von der Realität vornimmt, kann es Gedanken und Phantasien von der Wirklichkeit unterscheiden.«

Im psychodramatischen Spiel lässt die Therapeutin den Patienten sein inneres Bild des Konflikts und so also seine subjektive Interpretation dieses Konflikts nach außen auf die Bühne bringen. Patient und Therapeutin nutzen die Gleichheit bzw. Äquivalenz zwischen dem inneren Konfliktbild des Patienten und dessen Verwirklichung im äußeren Spiel bewusst, um gemeinsam Schulter an Schulter in das Konfliktgeschehen hineinzugehen und das Erleben des Patienten im Konflikt mit Hilfe der Psychodramatechniken im Als-ob-Modus zu mentalisieren. Damit ahmt das psychodramatische Spiel Interaktionserfahrungen nach,

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mit denen wir Menschen in den Beziehungen unserer Kindheit das Denken im Als-ob-Modus entwickeln. Nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 96 ff.) ist das reife Mentalisieren »ein Resultat der Qualität früher Bindungserfahrungen […], weil die Integration von ›Als-ob‹- und ›Äquivalenz‹-Modus in erster Linie im Laufe wiederholter, spielerischer Interaktionserfahrungen mit einer Bezugsperson erfolgt, die dem Kind seine Gefühle und Gedanken auf eine ›markierte‹ Weise widerspiegelt«. Genau das macht die Therapeutin, wenn sie im Spiel des Protagonisten die Psychodramatechniken anwendet und ihn zum Beispiel innerlich Schulter an Schulter begleitet, ihn doppelt, im Interview seine Gefühle differenziert oder ihn im Rollenfeeback sein Erleben in Sprache symbolisieren lässt (siehe Kap. 2.4). Der Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels umfasst den angemessenen Gebrauch der acht zentralen Psychodramatechniken und führt den Als-ob-Modus in das Denken im Äquivalenzmodus ein. Während der psychodramatischen Arbeit achtet die Therapeutin intuitiv darauf, dass der Patient in seinem inneren Konfliktbild, das durch den Szenenaufbau zur äußeren Wahrnehmung wurde, sein äußeres Spielen und sein inneres Mentalisieren konstruktiv und kreativ aufeinander bezogen ablaufen lässt. So angewandt, führt das psychodramatische Spiel dazu, das der Patient lernt, den Äquivalenzmodus seines Denkens und den Als-ob-Modus seines Denkens aufeinander bezogen und also integriert zu benutzen und in einer reifen Form zu mentalisieren. Diese Integration von Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus wird im Psychodrama zusätzlich noch durch den systematischen Wechsel zwischen äußerem Spiel und innerem Mentalisieren des Erlebten in der Nachbesprechung verwirklicht, in der der Patient und seine Mitspieler im Rollenfeedback ihr Erleben während des psychodramatischen Spiels in Worte kleiden und dadurch in den Als-ob-Modus des inneren Denkens bringen. Moreno hat, um die therapeutische Wirkung des psychodramatischen Spiels zu erklären, in seinem Konzept der »Rollenentwicklung des Kindes« die Entwicklung vom Mentalisieren im psychischen Äquivalenzmodus zum Mentalisieren im psychischen Als-ob-Modus schon 1946 (Moreno, 1946/1985, S. 72) mit ganz ähnlichen Worten wie Fonagy, Gergeley, Jurist und Target beschrieben: Er spricht statt vom psychischen Äquivalenzmodus vom Stadium der »AllIdentität« (Moreno, 1946/1985, S. 70), in der Realität und Fantasie noch nicht getrennt seien. Wer im psychischen Äquivalenzmodus mentalisiert, handelt nach Moreno (1946/1985, S. 73) in seiner »psychosomatischen Rolle«. Mit dem Beginn des zweiten Universums im vierten Lebensjahr des Kindes, in dem sich Fantasie und Realität trennen (Moreno, 1946/1985, S. 72), »entstehen zwei Zustände des Erwärmungsprozesses – einer hin zu Handlungen in der Realität und der andere hin zu Handlungen in der Fantasie – und fangen an, sich zu organisie-

Der Regelkreis zwischen dem Mentalisieren und dem psychodramatischen Spiel

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ren«. Parallel zum Handeln in der »psychosomatischen Rolle« läuft nach Moreno (1946/1985, S. 77) das Handeln in der »psychodramatischen Rolle«. »Das Problem ist nicht, dass man die Fantasie zugunsten der Realität aufgeben könnte oder umgekehrt.« Die Kunst sei eher, zur Bewältigung der Lebenssituationen Mittel und Wege zu etablieren, mit denen das Individuum »zwischen dem einen und dem anderen Weg hin und her wechseln kann«. Psychisch kranke Patienten führen durch die Verwirklichung der Werkzeuge ihres inneren Mentalisierens als Psychodramatechniken den Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels in ihr inneres Denken ein, lernen so, in ihren Konflikten vollständiger, koordinierter und freier zu mentalisieren, und werden dadurch zum Regisseur in ihrer eigenen inneren Konfliktverarbeitung. Fallbeispiel 2: Ein Patient mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, Pornosucht und einer schweren Depression (F33.3, F60.31, F63.9) war von seiner Mutter als Kind und Jugendlicher narzisstisch missbraucht und in seinem sozialen Umfeld vielfach schwer gedemütigt worden. Die Mutter hatte den Patienten nach seinen Angaben real auf das Ziel hin erzogen, einmal Ministerpräsident zu werden. Am Ende der Therapie meinte der Patient: »Ich vertraue jetzt mehr auf meine eigene Intuition. Die ›Schultermutter‹ (die Mutter, die ihm im Nacken sitzt) ist nicht mehr da. Ich bin jetzt wirklich Ministerpräsident geworden. Aber nicht wie meine Mutter das wollte in der äußeren Welt, sondern in meiner inneren Welt!« Der Patient war zu Beginn der Behandlung in eine dysfunktionale Selbstorganisation (siehe Kap. 4.8) fixiert gewesen und hatte sich in Identifikation mit seinem pathogenen Mutterintrojekt konsequent selbst gedemütigt, sein eigenes leiblich-seelisches Erleben umgedeutet und jede Aktualisierung seines Selbst unterbunden. Am Ende seiner Therapie konnte er seine guten intuitiven und kognitiven Fähigkeiten angemessen nutzen und feierte seine neue Spontaneität mit Freunden durch ein Fest: »Ich habe mich selbst gefunden!«

Viele Psychodramatiker und Spieltherapeuten wissen, dass sie ihre Patienten im psychodramatischen Spiel ihre innere Welt nach außen bringen lassen (Holmes, 1992). Viele wissen auch, dass es sich bei dem Geschehen auf der Bühne immer »nur« um die subjektive Wirklichkeit der Akteure handelt (von Ameln, 2013, S. 8; Buer, 1980, S. 98) und nicht um eine Wiederholung einer früheren objektiven Realität. Das hier beschriebene Konzept des Regelkreises zwischen dem inneren Mentalisieren und der äußeren Spielproduktion führt aber zu einem neuen Verständnis der psychodramatischen Arbeit.

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Zentraler Gedanke Therapeutisch wichtig ist am Ende nicht, dass ein psychodramatisches Spiel eindrucksvoll war. Ein Spiel führt nur dann zu einem therapeutischen Fortschritt, wenn es auch das innere Mentalisieren des Patienten in seinem Problem oder Konflikt differenziert und erweitert hat. Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten richten ihre Aufmerksamkeit in ihrer Arbeit deshalb intuitiv auch nicht auf das äußere Spiel des Patienten, sondern auf sein inneres Mentalisieren während seines äußeren psychodramatischen Spiels. Dabei benutzen sie, wenn sie Psychodramatechniken anwenden, die Werkzeuge des inneren Mentalisierens als Psychodramatechniken in ihrem Handlungsmodus.

2.3 Neurophysiologische Grundlagen des psychodramatischen Spiels Es ist therapeutisch sinnvoll, anzunehmen, dass das psychodramatische Spiel im Gehirn der Protagonistin oder des Protagonisten über den Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren und dem Spielprozess auf der äußeren Bühne die während der Konfliktverarbeitung ablaufenden neurophysiologischen Prozesse aktiviert, differenziert und erweitert. Diese neurophysiologischen Prozesse sind ungeheuer komplex. Die folgenden Ausführungen sollen Ihnen davon einen gefühlsmäßigen Eindruck vermitteln: Es ist anzunehmen, dass das psychodramatische Spiel in das Zusammenspiel des unbewussten »Proto-Selbst« mit dem bewusstseinsfähigen »Kern-Selbst« und dem »autobiographischen Selbst« (Damasio, 2001, S. 210) eingreift. Dieses Zusammenspiel ist geprägt von »umfangreichen Möglichkeiten für Meta-Repräsentationen von Informationsverarbeitungsprozessen […] (zum Beispiel im präfrontalen Kortex): Das Gehirn modelliert sein eigenes Funktionieren« (Schiepek, 2006, S. 11 f.). Es gibt »strukturelle und funktionelle Schleifen und rekursiv aufeinander bezogene Repräsentationen«, die »Hirnkarten über reziproke Verknüpfungen zeitlich und räumlich koordinieren, sensorische und motorische Ereignisse integrieren und zu Schaltkreisen verbinden. Daraus resultieren Repräsentationen und Meta-Repräsentationen. Im Sinne der Synergetik handelt es sich um multipel parallel vernetzte und hierarchisch integrierte Systeme, die ihre Selbstorganisationsdynamik aufeinander beziehen und Synchronisationsmuster (Ordner) über weitverzweigte Hirnareale erzeugen.« Das psychodramatische Spielen fördert über den Regelkreis zwischen dem Spielprozess auf der äußeren Bühne und dem inneren Mentalisieren die Spontaneität und die Kreativität in der psychischen Selbstorganisation des Men-

Neurophysiologische Grundlagen des psychodramatischen Spiels

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schen und damit die Fähigkeit, auf eine neue Situation angemessen und auf eine alte Situation neu zu reagieren (Moreno, 1974, S. 13). Diese befreiende Wirkung des eigenbestimmten Spiels ist offenbar nicht nur bei Menschen zu finden, sondern auch bei Tieren. In der Süddeutschen Zeitung (1./2. März 2008, Nr. 52, S. 22) schrieb Breuer unter der Überschrift »Spielen hat offenbar einen ernsthaften Sinn – es hilft, das Leben in der komplexen Welt zu meistern«: »Der Spieldrang ist den meisten Säugetieren angeboren; auch bei einigen Vogelarten findet er sich, und sogar Schildkröten schlagen mitunter mit einem Ball die Zeit tot. […] Beim Scheinkampf, dem junge Ratten, Löwen oder Füchse frönen, wechseln sich zudem Jäger und Gejagte in ihren Rollen ab.« Das Spielen von Tieren stellt aber offenbar nicht, wie häufig angenommen wird, ein Verhaltenstraining für den bitteren Ernst des Erwachsenenalters dar. Kätzchen, bei denen jedes Spielen unterbunden wurde, stellten sich später bei der Jagd genauso geschickt an wie solche, die spielen durften (Tim Caro, University of California). Andererseits stellte aber Pellis (Sergio Pellis, University of Lethbridge in Alberta, Canada, 2007) bei Ratten, die sich bis zur Pubertät nicht hatten balgen dürfen, fest, dass bei ihnen im Gegensatz zu anderen Ratten, die hatten spielen dürfen, der mediale präfrontale Kortex deutlich unterentwickelt war. Breuer schreibt weiter: »Dieses Hirnareal ist mit zuständig für die soziale Kompetenz. Pellis vermutet deshalb, dass diese Tiere etliche Aufgaben ihres Lebens nur mühsam hätten bewältigen können.« Ohne Spielen seien die Tiere »später wohl weniger anpassungsfähig, als es normalerweise der Fall wäre«. Bekoff (Marc Bekoff, University of Colorado) erkenne deshalb »den evolutionären Sinn der Spielfreude darin, für das Unerwartete zu trainieren«. Statt nur bestimmte Bewegungsabläufe für absehbare Situationen zu erlernen, gehe es darum, in einer neuen Situation das eigene Verhalten körperlich und geistig schnell angemessen umzustellen – und dieses Talent fördere nur das freie Spiel. Alles andere ließe sich notfalls auch auf anderem Weg erlernen. Für diese Ansicht sprechen einige Indizien: So stellte Anthony Pellegrini (2002, S. 991 ff.) fest, dass »Jungen, die sich bei Kampf- und Tobespielen geschickt zeigten, auch sozial kompetenter waren. Auch würden verspielte Kinder im Vorschulalter psychisch belastende Situationen besser meistern«. In vielen Untersuchungen schneiden »Kinder, die im dritten Lebensjahr […] sich […] gern auf gemeinsames Als-ob-Spiel einlassen, bei Aufgaben, die Gedankenlesen und emotionales Verstehen voraussetzen, souverän ab« (Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004, S. 55). Nach Lillard (1993, zitiert nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004, S. 56) könne »das symbolische Spiel als eine ›Zone der proximalen Entwicklung‹ jener Kompetenzen dienen, […] die der Fähigkeit zugrunde liegen, die Gedanken des anderen zu lesen«.

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Moreno (1985, S. 132 f.) stellte dazu passend fest, dass beim Spontaneitätstraining von Schulkindern mit Hilfe von Rollenspielen diese anschließend auf Außenstehende »intelligenter« wirkten. Auch in der Psychodramatherapie mit Kindern wird die Bedeutung des Spielens für die Entwicklung der Fähigkeiten des Mentalisierens deutlich: Wenn Kinder mit psychisch bedingten Symptomen an einer nondirektiv geleiteten psychodramatischen Gruppentherapie teilnehmen, können sie am Anfang ihrer Behandlung meistens noch nicht spielen. Sie übernehmen die Rollen im Spiel nur für kurze Zeit und stehen sonst oft »nur« beobachtend außerhalb der Bühne. Wenn sie aber nach sechzig Gruppensitzungen gelernt haben, zu spielen, haben sie oft auch keine Krankheitssymptome mehr. Sie haben über den Regelkreis zwischen ihrem inneren Mentalisieren und dem äußeren Spiel offensichtlich ihre inneren Konflikte in mehr oder weniger symbolisierter Form weiterverarbeitet und die Defizite und Blockaden ihres Mentalisierens ausreichend ausgeglichen bzw. aufgelöst. Dadurch sind sie freier geworden, sich in aktuellen Konflikten zu orientieren und schon spontan für sich persönlich angemessenere Lösungen zu finden. Zentraler Gedanke Auch in der Psychotherapie von Erwachsenen ist nach Winnicott (1985, S. 63) die Fähigkeit, zu spielen, eine zentrale Voraussetzung für den Therapieerfolg: »Menschen, die nicht spielen können, müssen zuerst lernen zu spielen. Zu frühe Deutungen sind einfach nutzlos oder wirken verunsichernd. […] Sie führen zur Anpassung.« Um eine Deutung zu verstehen, muss der Patient gleichsam im Konjunktiv denken: »Wenn das, was die Therapeutin sagt, stimmen würde, würde das für mich in dieser Situation bedeuten, dass …« Der Patient wechselt dabei, im Als-ob-Modus denkend, innerlich zwischen verschiedenen Beziehungsbildern hin und her und kreiert zwischen ihnen Sinnkontexte. Er spielt also innerlich.

2.4  Der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin während des psychodramatischen Spiels Wahrscheinlich hat sich, während Sie als Leserin oder Leser die vorhergehenden Kapitel gelesen haben, Ihr innerer Sokrates wieder gemeldet und gefragt: »Es gibt im psychodramatischen Spiel also einen Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seiner äußeren Spielproduktion. Was ist im psychodramatischen Spiel dann aber die Aufgabe der Therapeutin oder des Therapeuten?« In der Psychodramatherapie verwirklichen die Therapeutin und

Der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin

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der Patient zusammen das Grundprinzip der Begegnung (Hutter, 2009, S. 206 f., Krüger, 2000, S. 66). Das psychodramatische Spiel ist eigentlich nur eine zweite Sprache, die, wenn die Begegnung nicht spontan gelingt, und das ist bei psychisch Kranken oft der Fall, diese durch den intuitiv gesteuerten Abstimmungsund Einigungsprozess während des Spiels doch noch gelingen lässt. Übung 5 Erkunden Sie, wenn Sie Psychodramatikerin oder Psychodramatiker sind, einmal selbst, worauf Sie in Ihrer praktischen Arbeit als Therapeutin achten: Leiten Sie ein Psychodramaspiel und folgen Sie dabei Ihrer Intuition! Wann wenden Sie dabei weshalb welche Psychodramatechnik wie an? Sie werden merken: Zentraler Gedanke Der intuitive Impuls der Therapeutin, eine bestimmte Psychodramatechnik einzusetzen, ist das Ergebnis eines intuitiven, halb bewussten, halb unbewussten Abstimmungs- und Einigungsprozesses mit dem Patienten. Die Psychodramatherapeutin verbindet während des äußeren psychodramatischen Spiels des Patienten ihre eigene Intuition mit dem Prozess der Intuition des Patienten bei der Steuerung seiner Konfliktverarbeitung. Sie geht dadurch während seines psychodramatischen Spiels innerlich mit in sein Mentalisieren hinein und hilft ihm gleichsam Schulter an Schulter, den Prozess seines Mentalisierens in das äußere psychodramatische Spiel umzuwandeln und diesen zu erweitern und probatorisch sinngebend zu Ende zu führen. Dabei wandelt sie die jeweils im Augenblick vom Patienten benutzte Funktion seines inneren Mentalisierens in den äußeren Handlungsmodus um, in die analog arbeitende Psychodramatechnik (siehe Abb. 2).

Die Therapeutin verbindet bei der psychodramatischen Konfliktverarbeitung also vorübergehend ihre Seele mit der des Patienten und stellt ihm über den Weg der spielerischen Verschmelzung ihrer Intuition mit seiner Intuition bei Bedarf die Werkzeuge ihres eigenen Mentalisierens in seinem Konflikt zur Verfügung. Während der Leitung des Spiels setzt sie immer dann eine Psychodramatechnik ein, wenn sie als Hilfs-Ich des Patienten beim gemeinsamen Mentalisieren seines Konflikts nicht mehr weiß, wie es in seinem Konflikt weitergeht. Wenn die Therapeutin sich zum Beispiel selbst fragt, was der Protagonist seiner Konfliktpartnerin gegenüber denkt und fühlt, fordert sie ihn auf: »Wollen Sie Ihrer Ehefrau im Spiel auf der Bühne einmal sagen, was Sie ihr gegenüber fühlen?« Wenn der Protagonist das dann macht, gewinnt sie in ihrem eigenen inneren Mentalisieren eine klarere Vorstellung über seine innere Selbstrepräsentanz in

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der Beziehung zu seiner Konfliktpartnerin. Das macht es ihr leichter, in Identifikation mit dem Patienten innerlich seinem Denken, Fühlen und Handeln in seinem Spiel weiter zu folgen und ihn empathisch zu begleiten. Wenn Sie später wiederum nicht weiß, was seine Konfliktpartnerin dem Protagonisten antworten würde, und das aber wissen möchte, fordert sie ihn intuitiv zu einem Rollentausch auf und lässt ihn aus der Rolle seiner Konfliktpartnerin heraus sich selbst antworten. Wenn der Protagonist im Spiel seine Affekte nicht zulässt und sie nicht spürt, was er in seiner Rolle oder in der Rolle seiner Konfliktpartnerin gerade gefühlsmäßig erlebt, fragt sie ihn im Interview: »Was fühlen Sie gerade?« Oder sie doppelt ihn, verbalisiert stellvertretend für ihn seinen Affekt und lässt ihn diesen in einem Selbstgespräch bestätigen oder ablehnen. Sie folgt bei der Leitung des psychodramatischen Spiels also eigentlich den Impulsen ihrer eigenen inneren Konfliktverarbeitung und hilft durch die Verwandlung der Werkzeuge ihres eigenen Mentalisierens in Psychodramatechniken dem Patienten, die Funktionen seines inneren Mentalisierens in die entsprechenden Psychodramatechniken umzuwandeln (siehe Abb. 3). An dieser Stelle meldet sich unser innerer Sokrates wieder und fragt skeptisch: »Und das gelingt immer so einfach? Das glaube ich nicht!« Tatsächlich ist die intuitionsgeleitete praktische Arbeit der Psychodramatherapeutin hochkomplex. Denn auch der Patient selbst steuert mit seiner Intuition sein inneres Mentalisieren und über den Regelkreis zwischen seinem inneren Mentalisieren und seinem psychodramatischen Spiel (siehe Kap. 2.2) auch die Anwendung der Psychodramatechniken in seinem protagonistzentrierten Spiel. Bei einer psychischen Erkrankung ist sein Mentalisieren im Konflikt aber definitionsgemäß durch Abwehr blockiert, defizitär oder zerfallen. Deshalb ist in einem solchen Fall auch sein psychodramatisches Spiel blockiert, defizitär oder zerfallen. Das führt im Spiel zu mehr oder weniger großen Störungen zwischen der intuitiven Steuerung der Konfliktverarbeitung der Therapeutin und der intuitiven Steuerung des Spiels durch den Patienten. Bei einer systemischen Sichtweise der Selbstorganisation des Patienten gilt aber der Grundsatz »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst«. Bei einer solchen Störung stoppt die Therapeutin deshalb das Spiel des Patienten auf der Bühne, wechselt intuitiv spielerisch in die Haltung eines naiven, neugierigen Kindes bzw. in die Sokrates-Haltung (Krüger, 1997, 160 ff.) »Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich möchte aber gern wissen!« und erkundet mit dem Patienten zusammen kleinschrittig sehr genau den Weg seiner für sie fremdartigen Konfliktverarbeitung. Im Wunsch zu wissen, warum dieses für sie fremde Denken für den Patienten die beste Lösung ist, lässt sie ihn zum Beispiel ein Selbstgespräch führen. Oder sie doppelt ihn und spricht dabei aus, was sie in der Identifikation mit ihm in sich selbst fühlt: »Ich fühle mich taub,

Der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin

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ratlos, verwirrt« oder anderes. Oder sie fragt ihn im Interview in der Spielszene nach seinem aktuellen Denken, Fühlen und Wollen oder im Rollentausch auch nach seinem inneren Erleben in der Rolle seiner Konfliktpartnerin. Oder sie kreiert durch Szenenwechsel mit ihm zusammen für sein abweichendes Fühlen, Denken und Handeln einen anderen passenderen Interaktionszusammenhang in seiner Kindheit. Diese Orientierungsarbeit im Spiel des Protagonisten ermöglicht es der Therapeutin, den Weg seiner auf sie befremdend wirkenden Konfliktverarbeitung wieder mitzugehen. Unser innerer Sokrates fragt an dieser Stelle aber erneut nach: »Wie findet die Therapeutin nun aber immer genau die passende Psychodramatechnik?« Die Antwort lautet: Zentraler Gedanke Systemisch bedingt gelangen durch die Interaktionen zwischen Therapeutin und dem Patienten während der gemeinsamen Spielproduktion eventuelle Blockaden oder Defizite des Mentalisierens des Patienten in das Mentalisieren der Therapeutin und aktivieren jeweils gerade die Funktion ihres Mentalisierens, die bei dem Patienten blockiert oder defizitär ist. Ohne das bewusst zu merken, wandelt die Therapeutin dann intuitiv jeweils die durch seine Mentalisationsblockade behinderte Funktion ihres eigenen Mentalisierens in den Handlungsmodus um, in die analog arbeitende Psychodramatechnik, setzt diese im Spiel des Patienten ein und befreit so seine Funktion des Mentalisierens aus der Blockade.

Es kommt zum Beispiel vor, dass die Therapeutin trotz Rollentauschs Ursache und Wirkung im Konflikt des Patienten nicht versteht. Die Arbeit der kausalitätsorganisisierenden Funktion ihres Mentalisierens läuft ins Leere. Das aktiviert im Mentalisieren der Therapeutin automatisch die in der Arbeit der kausalitätsorganisierenden Funktion ihres Mentalisierens (siehe Abb. 2) mit enthaltene Frage nach der Entstehungsgeschichte des Konflikts des Patienten entlang dem roten Faden der Zeit. Das Ablaufen des Films von Erinnerungen wird im Mentalisieren aber durch die realitätsorganisierende Funktion vermittelt. Diese ist bei dem Patienten vielleicht blockiert und hängt fest in der Abwehr durch Projektion oder Verleugnung. Intuitiv wandelt die Therapeutin dann diese weniger komplexe Funktion ihres Mentalisierens (siehe Abb. 2), die realitätsorganisierende Funktion, in ihren Handlungsmodus um und lässt den Patienten kleinschrittig durch Rollenspiel in der eigenen Rolle und Rollenspiel in der Rolle seiner Konfliktpartnerin (siehe Abb. 2) die Realität der Entstehungsgeschichte seines Beziehungskonflikts noch einmal differenzierter zeigen und überprüfen. Dadurch befreit sie die realitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens des Patienten aus der Blockade oder sie führt diese Funktion in das Mentalisieren

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des Patienten als »Denk«-Werkzeug überhaupt erst neu ein. Das Beispiel soll zeigen: Bei den Psychodramatechniken und den Funktionen des Mentalisierens gilt das Emergenzprinzip. Die zentralen Psychodramatechniken bauen ebenso wie die Funktionen des Mentalisierens in ihrer Arbeit aufeinander auf und werden in der Reihenfolge Szenenaufbau, Rollenspiel, Rollentausch, Szenenwechsel bzw. Systemorganisation, Realitätsorganisation, Kausalitätsorganisation und Finalitätsorganisation immer komplexer (Krüger, 1997, S. 224 f.) (siehe Abb. 2). Wenn eine relativ komplexe Psychodramatechnik wie der Rollentausch nicht die erwünschte therapeutische Wirkung erzielt oder ein Patient »nicht rollentauschfähig« ist, liegt das immer daran, dass die weniger komplexen Psychodramatechniken, auf deren Arbeit die komplexe Technik Rollentausch aufbaut, noch nicht angemessen vollzogen sind. Das meinte wahrscheinlich auch Moreno (1985, S. 222), wenn er sagte: »Der archimedische Punkt der Behandlung ist das physiologische Niveau des Patienten, auf dem dieser wirklich spontan ist.«

Die Wirkung des Rollentauschs von außen gesehen

Kausa litä Rea tsor in eig litä en t e

n iegel Sp u. l h pie ns erer le and e

Kausalitätsorganisation Realitätsorganisation Systemorganisation

durch Rolle tion nta isa sation dur us n i c a n h g rga le und der R c l Ro ol o o s R ll r Systemorganisation durch Szenenaufbau und Doppeln

Die sechs im Rollentausch enthaltenen zentralen Psychodramatechniken

Abbildung 4: Die im Rollentausch mitenthaltenen Psychodramatechniken

Viele Psychodramatherapeuten sind bei Störungen im Abstimmungs- und Einigungsprozess im psychodramatischen Spiel verführt, nach immer mehr und komplizierteren Spieltechniken zu suchen. Das Verständnis des Psychodramas als einer Methode des Mentalisierens durch psychodramatisches Spiel kann helfen, sich als Therapeutin durch Unstimmigkeiten im Abstimmungs- und Einigungsprozess mit dem Patienten nicht so leicht verwirren zu lassen, die Komplexität der Psychodramatechniken im ganz normalen psychodramatherapeutischen Handeln zu nutzen, bei Bedarf an der richtigen Stelle mutig innezuhalten und dann kleinschrittiger weiter vorzugehen.

Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand

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2.5  Störungen in der therapeutischen Beziehung, Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand Unser innerer Sokrates hat noch eine letzte Frage: »Was macht eine Psychodramatherapeutin aber, wenn ihre intuitive Abstimmung mit dem Patienten im psychodramatischen Spiel nicht gelingt? Wie geht sie mit einer Störung in der therapeutischen Beziehung um?« Von Moreno ist bekannt, dass er einen eher direktiven Leitungsstil hatte. Noch 1964 vertrat er in der dritten Auflage seines Buchs »Psychodrama Vol. I« (Moreno, 1946/1985, S. VIII) die Auffassung: Operational verstanden »bedeutet Widerstand nichts anderes, als dass der Protagonist nicht wünscht, sich an der Produktion zu beteiligen. Es ist eine Herausforderung an die Fähigkeiten des Therapeuten, diesen anfänglichen Widerstand zu überwinden«. Diese Feststellung vernachlässigt die Tatsache, dass eine länger anhaltende Störung in der therapeutischen Beziehung ein Ausdruck einer Störung im Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen der Therapeutin und dem Patienten ist, und die Erkenntnis, dass durch eine solche Störung der intuitiv gesteuerte Einsatz von Psychodramatechniken behindert wird (siehe Kap. 2.4). Zentraler Gedanke An der Art des Umgangs mit Störungen in der therapeutischen Beziehung zeigt sich, ob die Therapeutin es ernst meint, wenn sie sagt, sie gehe in der Therapie von dem Menschenbild des spontan-kreativen Menschen aus und denke systemisch orientiert. Systemisch gedacht macht die Seele des Menschen nichts umsonst. Auch wenn die Lösung, die der Patient in seinem selbstorganisatorischen Prozess gefunden hat, vielleicht keine gute Lösung ist, so ist sie aber doch die für ihn selbst zu diesem Zeitpunkt in dieser Situation bestmögliche Lösung.

Je unerfahrener eine Therapeutin ist und je schwerer gestört ihr Patient, desto mehr wird sie in die dysfunktionale Selbstorganisation des Patienten und seine Abwehrprozesse mit hineingezogen und desto leichter reagiert sie konkordant oder komplementär mit einer Gegenübertragungsreaktion. Das lässt sich nicht vermeiden. Wichtig ist nur, dass die Therapeutin in der Behandlung den Patienten ernst nimmt und sich selbst ernst nimmt, und versucht, dem Patienten gerecht zu werden und sich selbst gerecht zu werden. Wenn eine Therapeutin als Anfängerin diesem Prinzip folgt, verläuft die Behandlung ihres Patienten erfahrungsgemäß oft erfolgreicher als die eines erfahrenen Therapeuten, der, weil er glaubt, alles zu wissen, als Mensch nicht mehr erreichbar und nicht mehr angemessen neugierig ist. Bei Störungen in der therapeutischen Beziehung sind

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die Konzepte von Übertragung, Gegenübertragung, Abwehr und Widerstand hilfreich, nicht um sie zu vermeiden, sondern um die jeweilige Störung in der therapeutischen Beziehung leichter zu merken, qualitativ zu erfassen und auflösen zu können. Störungen in der therapeutischen Beziehung behindern die psychodramatische Arbeit. Wenn die Therapeutin sich beispielsweise, ohne es zu merken, durch eine Gegenübertragung oder eine eigene Übertragung in dem Konflikt des Patienten einseitig nur mit dem Patienten oder aber nur mit dessen Konfliktpartner identifiziert, kann sie den interaktionellen psychodramatischen Spielprozess zwischen seiner Selbstrepräsentanz und seiner Objektrepräsentanz nicht mehr angemessen vermitteln. Sie »vergisst« dann, den Rollentausch einzusetzen, oder nutzt ihn nicht mehr angemessen. Der Patient kann sich dadurch in seinem inneren Beziehungskonflikt nicht die zu seiner eigenen Wahrheit eventuell ergänzende andere Wahrheit seiner Konfliktpartnerin erarbeiten und diese gegebenenfalls integrieren. Die frei-kreative Beziehungsregulation zwischen dem Patienten und der Therapeutin ist blockiert. Es entsteht ein beiden nicht bewusster, gemeinsamer Widerstand gegen den Fortschritt in der Therapie (Dieckmann, 1981, S. 56; Klüver, 1983, S. 830 f.). Zwar bieten im Psychodrama das Prinzip der Szenentrennung zwischen der therapeutischer Szene und der Symptomszene (siehe Kap. 1 und Abb. 1), die Verschiebung des Problems des Patienten in das Spiel auf der Bühne und die Möglichkeit der Stühlearbeit mit den dysfunktionalen Ich-Zuständen (siehe Kap. 4.7–4.10) nach dem Prinzip »Aller Schiet muss raus!« am Anfang der Therapie eine gewisse Sicherheit vor dem Mitagieren. Aber auch erfahrene Therapeuten lassen sich immer wieder verführen, in den Konflikten ihrer Patienten mitzuagieren, je mehr es um die zentralen Konflikte oder Defizite des Patienten geht, desto mehr. Bei Störungen in der therapeutischen Beziehung sollte die Therapeutin sich die Zeit nehmen, zunächst für sich allein ihre gemeinsame systemische Beziehungsregulation mit dem Patienten bzw. der Gruppe zu untersuchen, und versuchen, über die bisherige Realität hinaus die innere Wirklichkeit des Patienten und auch ihre eigene innere Wirklichkeit in der Beziehung zu erkunden. Das gelingt 1. durch eigene Selbstreflexion des Geschehens in der therapeutischen Beziehung, 2. gegebenenfalls durch Diagnostik der Gruppendynamik mithilfe der Gruppenpositionen nach Schindler (1957/1958, S. 310 ff., Krüger, 2011, S. 194 ff., siehe auch Kap. 2.6.5), 3. durch Supervision oder 4. durch Selbstsupervision mit dem fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch (siehe Kap. 2.2). Gerade die Selbstsupervision kann der Therapeutin helfen, die zu der eigenen subjektiven Wahrheit ergänzende andere Wahrheit des Patienten zu erkennen, diese in ihr eigenes inneres Bild der therapeutischen Beziehung zu

Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand

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integrieren und eventuell in der gegenwärtigen Beziehung agierte Gegenübertragungen und Übertragungen als solche zu erkennen. Die Therapeutin nutzt ihre neuen Erkenntnisse anschließend unausgesprochen oder auch offen in der weiteren therapeutischen Arbeit mit dem Patienten bzw. der Gruppe. Dadurch, dass sie ihr inneres Bild der therapeutischen Beziehung erweitert und realitätsangemessen verändert hat, sieht sie den Patienten aber schon spontan mit anderen Augen und handelt ihm gegenüber dann auch anders. Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, psychotischen Erkrankungen, Traumafolgestörungen und Suchterkrankungen führen die oft schweren Störungen des Mentalisierens der Patienten häufig dazu, dass die therapeutische Beziehung chaotisiert wird. In einem solchen Fall sollte die Therapeutin gezielt das Agieren der dysfunktionalen Selbstorganisation der Patienten mit leeren Stühlen im Therapiezimmer repräsentieren und ihre agierten dysfunktionalen Ich-Zustände auf diese Weise als solche der therapeutischen Kommunikation zugänglich machen (siehe Kap. 4.7, 5.5, 9.6.3 und 10.6.1). Insgesamt gilt: Die Therapeutin kann nur dann therapeutisch frei-kreativ handeln, wenn sie Möglichkeiten entwickelt hat und kennt, wie sie bei Bedarf Übertragungen, Gegenübertragungen und einen Widerstand in der therapeutischen Beziehung auflösen kann, das auch psychodramatisch. Die zentrale Aufgabe dabei ist, zusammen mit dem Patienten oder der Patientin den Übertragungsanteil und den Realanteil an der Beziehungsstörung herauszuarbeiten und voneinander zu trennen. Bei Beziehungsstörungen in der Gruppe legt die Therapeutin außerhalb der Sitzung für die Gruppenmitglieder und für sich selbst die gruppendynamischen Positionen nach Schindler fest (Krüger, 2011, S. 191 ff., siehe Kap. 2.6.5). Danach wartet sie in den folgenden Gruppensitzungen, bis die Kontrahenten, die sich in der Omega-Position und in der Alpha-Position befinden, spontan miteinander interagieren und fordert sie zu einer Beziehungsklärung auf. Denn in der Interaktion zwischen dem Patienten in der Alpha-Position und dem in der Omega-Position wird definitionsgemäß das aktuelle Gruppenthema verhandelt. Anschließend ordnet die Therapeutin zwischen diesen beiden Kontrahenten einen Rollentausch an, lässt sie zeigen, wie sie den jeweils anderen in der aktuellen Auseinandersetzung erlebt haben, und fordert sie auf, die Auseinandersetzung aus den Gegenrollen heraus auch noch über die bisherige Realität hinaus weiterzuführen. Dabei zeigt sich erfahrungsgemäß, ob die im Rollentausch durch die von den Kontrahenten jeweils dargestellte wechselseitige innere Objektrepräsentanz des anderen auch dem Objektbild der anderen Gruppenmitglieder von dieser Person entspricht. Eventuell vorhandene Unterschiede in der Wahrnehmung werden so der therapeutischen Kommunikation zugänglich.

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Durch diese psychodramatische Beziehungsklärung lassen sich auch die Übertragungsanteile an der Beziehungsstörung erfassen: Je problematischer das Verhalten eines Patienten in der Gruppe ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er dieses auch in anderen Beziehungen in seinem Alltag agiert und dass eine nahe Bezugsperson des Betroffenen mit ihm Ähnliches erlebt wie sein Konfliktpartner in der Gruppe. Die Therapeutin nutzt deshalb in der Nachbesprechung im Rollenfeedback die Spiegelfunktion des Rollentauschs und fragt gezielt jeden der beiden Protagonisten der Beziehungsklärung: »Wie haben Sie sich in der Gegenrolle gefühlt? Und wie haben Sie sich selbst aus der anderen Rolle heraus wahrgenommen?« Fallbeispiel 3 (Krüger, 1997, S. 246 f., etwas verändert): In einer Gruppentherapie antwortet der Teilnehmer Jürgen in der Nachbesprechung auf diese Frage: »In Marias Rolle war ich empört und erstaunt. Ich fand Jürgen hysterisch und dachte: ›Schon wieder dieser Zirkus!‹ Als Maria wusste ich: ›Ich gehe meinen eigenen Weg!‹« Der Therapeut nutzt das in dieser Antwort enthaltene Interaktionsmuster, um daraus die Übertragungsfrage zu formulieren: »Jürgen, kennen Sie das, dass jemand zu Ihnen sagt: ›Schon wieder dieser Zirkus!‹ Und dass jemand Sie hysterisch findet?« Jürgen antwortet erstaunt: »Ja, von meiner Schwester. Die unterbricht mich häufig, wenn ich mit anderen rede, und meint einfach: ›Ach, dieser psychologische Kram, das ist doch wirklich nicht so wichtig!‹ Dann stehe ich da und weiß überhaupt nichts mehr.« Jürgen hatte durch die Frage des Therapeuten erkannt, dass er seine schwierige Beziehung zu seiner Schwester auf das Gruppenmitglied Maria übertragen hatte. Der Therapeut ließ den Protagonisten Jürgen anschließend eine passende Episode aus der problematischen Beziehung zu seiner Schwester nachspielen und danach vergleichen, was bei seiner Kontrahentin Maria ähnlich war wie bei seiner Schwester, was aber auch anders.

Wenn die Therapeutin selbst in die Beziehungsstörungen der Gruppe miteinbezogen ist, sollte sie möglichst zunächst durch Selbstreflexion, durch gruppendynamische Diagnostik und Selbstsupervision Ursache und Wirkung in dem Beziehungskonflikt mit dem Gruppenmitglied, das sie am meisten stört, erkunden. Danach kann sie direkt in der Therapiesituation mit dem Patienten die Beziehung klären. Dabei ist es wichtig, den Realanteil an dem Beziehungskonflikt von dem Übertragungsanteil zu trennen (Krüger, 1997, S. 244 ff.). Das gelingt leichter, wenn sie den Patienten in einem protagonistzentrierten Spiel die von ihm assoziierte, analoge, problematische frühere Beziehung zeigen lässt.

Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand

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Fallbeispiel 4 (Krüger, 1997, S. 256 f., gekürzt): In einem fünftägigen Seminar nimmt der Leiter trotz soziometrischer Wahl des Protagonisten durch die Gruppe den Spielwunsch des 34-jährigen Ralf nicht gleich auf. In der folgenden Sitzung beschwert sich Ralf gegenüber dem Leiter: »Sie sind genau wie mein Vater! Der war auch nie da für mich!« Der Leiter bietet Ralf an: »Wollen Sie mir einmal zeigen, wie Ihr Vater war? Dann können wir ja hinterher vergleichen, wo ich ähnlich bin, wo aber auch vielleicht anders!« Es entwickelt sich ein protagonistzentriertes Psychodramaspiel, in dem Ralf eine Szene aus seinem fünften Lebensjahr spielt: Der »Vater« sitzt im Wohnzimmer in seinem Sessel und liest in einem religiösen Buch. Ralf baut als Kind auf dem Boden mit Bauklötzen ein großes Schiff und fordert den »Vater« stolz auf: »Guck mal, Papa!« Der »Vater« beachtet den Jungen aber nicht und liest weiter. Der Junge wiederholt: »Papa, guck doch mal, was ich gebaut habe!« Der »Vater« reagiert abweisend, sieht aus dem Fenster, wird ganz starr und kann offensichtlich nur mit Mühe einen Wutausbruch unterdrücken. Ralf geht enttäuscht in die Küche zu seiner Mutter. Als sein kleiner Bruder ihm später ins Wohnzimmer folgt, zerstört Ralf selbst vorsorglich das so mühsam erbaute Schiff. In der Nachbesprechung ist die Gruppe emotional sehr bewegt.

Meistens bekommt der Protagonist vom Leiter und von den Gruppenmitgliedern bei dem protagonistzentrierten Spiel eines Kindheitskonflikts so viel Aufmerksamkeit, Verständnis, Anteilnahme für sein Leiden und Anerkennung für seine intensive Arbeit, dass ihm hinterher der Leidensdruck fehlt, von sich aus den ursprünglichen Plan der Beziehungsklärung mit dem Therapeuten weiterzuverfolgen. Der Leiter muss in dem Fall die Gruppe aktiv an das ursprüngliche Ziel der gemeinsamen Arbeit erinnern. Oft sieht er subjektiv bei sich selbst zunächst keine Ähnlichkeit mit der negativen Projektionsfigur. Trotzdem sollte er aber mit der Gruppe zusammen das interaktionelle Geschehen in der Gruppe aus der Erinnerung heraus entlang dem roten Faden der Zeit genau nachvollziehen, versuchen, einmal genau andersherum zu denken und aus der Perspektive des Patienten heraus aktiv nach eigenen Handlungen suchen, die denen der Übertragungsfigur des Patienten äußerlich eben doch ähnlich waren. Fallbeispiel 4 (Fortsetzung): Der Therapeut fragt im Rollenfeedback den Protagonisten des Spiels verabredungsgemäß: »Wo haben Sie mich als Therapeut ähnlich, wo aber auch anders wahrgenommen, als Ihr Vater gewesen ist?« Mit dem Patienten zusammen sucht er aktiv nach eigenen Handlungen, die dem Verhalten des Vaters ähneln: 1. Wie der Vater in der Kindheit, so hat der Leiter in der Gruppensitzung vorher Ralf real zurückgewiesen, als er auf dessen Spielwunsch zunächst nicht einging. Seine Absicht war dabei allerdings eine andere als die des Vaters. Er hatte Ralf davor

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schützen wollen, von der Gruppe nach dem Prinzip »Hannemann, geh du voran!« in einer völlig ungeklärten Gruppensituation dazu benutzt zu werden, die Arbeitsweise des Leiters, der nach einem Leiterwechsel gerade neu in die Gruppe gekommen war, auszukundschaften. 2. Auch hatte der Leiter wirklich die Angewohnheit, aus dem Fenster zu sehen, ganz ähnlich wie Ralfs Vater es getan hatte. Die plausible Erklärung des Therapeuten war aber: »Ich kann dann freier spüren, was in der Gruppe ist.« 3. Der Leiter hatte am Vortag vor den Seminarteilnehmern einen Vortrag gehalten zu dem Thema »Religiosität im Psychodrama«. Das war nicht unähnlich dem Lesen des Vaters in einem religiösen Buch. 4. Der Leiter erinnerte sich, dass er in der vorhergehenden Gruppensitzung innerlich tatsächlich noch mit dem Inhalt seines Vortrages beschäftigt gewesen war, und teilte dies offen mit: »Ihr Spiel, Ralf, und Ihr Wunsch nach voller Aufmerksamkeit haben mich nach dem anstrengenden Vortrag eigentlich erst richtig in die Gruppe geholt.« Durch diesen Vergleich mit Ralfs Vater wurde dem Leiter selbst erst deutlich, dass Ralfs Übertragung auf ihn auch einen Realkonflikt umfasste. Deshalb forderte er den Protagonisten Ralf am Ende der Gruppensitzung auf: »Anders als in Ihrer Kindheit dürfen Sie hier auch in Zukunft ruhig sensibel reagieren, wenn Sie zurückgewiesen werden. Warum sollen Sie sich hier in der Gruppe noch einmal so behandeln lassen wie in der Kindheit von Ihrem Vater?« Zentraler Gedanke In jedem Übertragungskonflikt ist auch ein Realkonflikt enthalten (Kellermann, 1996, S. 104; Blatner, 2010, S. 7). Bei der Klärung einer Störung der therapeutischen Beziehung soll die Therapeutin dem Patienten den Realanteil des Beziehungskonflikts explizit als realitätsgerechte Wahrnehmung bestätigen. Das wirkt auf ihn ichstärkend und fördert seine Autonomieentwicklung. Eine psychodramatische Beziehungsklärung ist erst dann als gelungen anzusehen, wenn die Therapeutin und der Patient sich am Ende miteinander geeinigt haben, was sie als Übertragung und was sie als Realbeziehung verstehen wollen.

Weil die therapeutische Beziehung ein sich selbst organisierendes System ist, sollte die Therapeutin bei Störungen in der therapeutischen Beziehung bereit sein, im Spiegel der Reaktionen des Patienten immer wieder ein Stück weit auch ihr eigenes Bild von sich selbst und die eigene persönliche Haltung zu überdenken und über sich selbst etwas Neues dazuzulernen. Die Realität in der therapeutischen Beziehung ist immer eine intersubjektive Realität. In psychodramatischen Begriffen ausgedrückt heißt das: Der Teleprozess zur Telebeziehung hin umfasst vier aufeinander aufbauende Schritte, Anziehung und Abstoßung, Interaktion, Integration und die Einigung auf eine von beiden Seiten akzeptierte Interpretation der Beziehung (Krüger, 1997, S. 80 ff.). Erst durch den vierten

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Schritt des Teleprozesses, die Einigung, (Krüger, 2010c, S. 228) wird eine therapeutische Beziehung zur Telebeziehung (Krüger, 2010c, S. 231 ff.). Ich möchte die bisherigen Ausführungen in einigen Leitsätzen zusammenfassen: 1. Das Psychodrama ist eine Methode des inneren Mentalisierens durch äußeres Spielen. 2. Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten dürfen und sollen sich in ihrer praktischen Arbeit unbedingt von ihrer Intuition leiten lassen. Schon eine gute naive Intuition der Therapeutin reicht aus, um psychodramatherapeutisch erfolgreich zu arbeiten. Intuition ist das Ergebnis des Mentalisierens und deshalb von Natur aus klug. 3. Um störungsspezifisch arbeiten zu können, ist es aber wichtig, darüber hinaus die Anwendung der Psychodramatechniken mit der in sich systematischen Theorie des Mentalisierens durch psychodramatisches Spiel zu begründen. Dann gelingt es leichter, Blockaden oder Defizite des Mentalisierens zu erkennen und jede dieser Blockaden mit der analog arbeitenden Psychodramatechnik aufzulösen. Das explizite Wissen über den störungsspezifischen Einsatz der Psychodramatechniken hat sich in der konkreten therapeutischen Arbeit in die Intuition der Therapeutin einzufügen. 4. Eine erfahrene Therapeutin wird durch ihr scheinbar naives, in Wirklichkeit aber theoriegeleitetes, mutiges Nichtwissen zur Hebamme bei der Geburt und der Entwicklung des Mentalisierens des Patienten in seinem Konflikt. 5. Die Theorie des intuitiven Abstimmungs- und Einigungsprozesses zwischen der Therapeutin und dem Patienten mithilfe des psychodramatischen Spiels führt zur Betrachtung der therapeutischen Beziehung als ein sich selbst organisierendes System. 6. Um das psychodramatherapeutische Handeln zu begründen, sind eher solche Theoriekonzepte hilfreich, die die intuitive Prozessgestaltung im psychodramatischen Spiel und den Prozess des Mentalisierens der Patienten erfassen.

2.6 Folgen der Interpretation der Psychodramatherapie als mentalization-based treatment Zentraler Gedanke Das mentalisations-basierte Verständnis der Psychodramatherapie erweitert und differenziert die Theorie und Praxis des Psychodramas und verändert diese, ähnlich wie die Ich-Psychologie die Psychoanalyse oder die Schematherapie die Verhaltenstherapie verändert hat. Diese Differenzierung und Erweiterung der Psychodramatherapie hat Folgen.

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2.6.1 Psychodrama ist ein Therapieverfahren, das von der Anwendung im Format der Gruppentherapie unabhängig ist Viele Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker verstehen Psychodramatherapie als eine Gruppenpsychotherapiemethode, also als ein Verfahren, das an das Format der Gruppentherapie gebunden ist. Buer (Buer, 2005, S. 289) unterscheidet zwischen Verfahren und Format. Psychodrama als Psychotherapiemethode ist aber ein Verfahren, das in verschiedenen Formaten Anwendung finden kann. Ein Format ist ein Setting wie Gruppentherapie, Einzeltherapie, Supervision, Coaching, Teamentwicklung und andere. Umgekehrt können in einem Format wie der Gruppentherapie verschiedene Verfahren genutzt werden, wie zum Beispiel das Psychodrama, die Psychoanalyse, die themenzentrierte interaktionelle Methode, die Gruppendynamik und andere. Psychodramatiker wenden Psychodramatherapie eher selten im Format der Einzeltherapie an, weil sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, dass die therapeutische Wirkung der Psychodramatherapie nach dem Prinzip »Einer für alle, alle für einen« vor allem durch die aktive Beteiligung der anderen Gruppenmitglieder am psychodramatherapeutischen Prozess entsteht. Im Gruppensetting werden der Wert von Beziehungen und der Wert der Gemeinschaft für die Entwicklung des Menschen in besonderer Weise wirksam. Die Bindung der Psychodramatherapie als Verfahren an das Format Gruppentherapie engt aber das therapeutische Denken der Psychodramatherapeuten ein und kann bei ihnen zu Fehlannahmen über das Psychodrama als Psychotherapiemethode und seine Indikationen führen (siehe Kap. 9.9). »Die Gruppe« ist nicht das Markenzeichen des Psychodramas. Denn auch andere Psychotherapiemethoden arbeiten im Format Gruppentherapie therapeutisch erfolgreich, zum Beispiel die Psychoanalyse oder die Verhaltenstherapie. Die besondere Wirkweise des Psychodramas als Psychotherapiemethode ist nicht vom Gruppensetting abhängig. Zentraler Gedanke Psychodrama nutzt therapeutisch die faszinierende Möglichkeit, durch äußeres psychodramatisches Spielen das innere Mentalisieren der Patienten zu differenzieren, zu erweitern und sinngebend zu Ende zu führen. Dabei werden der Therapeutin im Spiel die Werkzeuge bzw. die Funktionen des inneren Mentalisierens im Handlungsmodus als Psychodramatechniken und Interventionstechniken verfügbar. Patientinnen und Patienten mentalisieren aber in der Einzeltherapie ebenso wie in der Gruppentherapie. Wer diesen Zusammenhang verstanden hat, muss logischerweise Psychodrama auch im Einzelsetting anwenden.

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Schwer gestörte Patienten sind in der Einzeltherapie sogar leichter zu behandeln als in der Gruppe. Moreno selbst hat, nachdem er im Jahre 1936 seine kleine psychiatrische Klinik in Beacon gegründet hatte, in der stationären Behandlung seiner schwer kranken Patientin das Psychodrama wahrscheinlich hauptsächlich als Einzeltherapie benutzt. Straub (2010, S. 28) berichtete, dass sie sich 1954 als Praktikantin acht Monate lang in Morenos Sanatorium in Beacon aufgehalten habe. In der Klinik waren von den zwölf Patientinnen und Patienten jeweils etwa acht psychotisch erkrankt gewesen. In ihrer Zeit dort habe Moreno die Patienten kein einziges Mal zu einer Therapiegruppe zusammengefasst. Auch in Morenos Standardwerken (Moreno, 1959; J. L. Moreno und Z. T. Moreno, 1975a, 1975b; Moreno, 1946/1985) sind nur Fallbeispiele zu finden, in denen Moreno einzeltherapeutisch arbeitete. Leutz (2013, mündliche Mitteilung) berichtete, dass Moreno zwar oft an einer Gruppentherapiesitzung seiner Schülerinnen und Schüler teilnahm, das aber jeweils nur eine Sitzung lang. Er übernahm in der Gruppe dann die Leitung und ließ die Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten die Gruppe in den darauf folgenden Sitzungen allein weiterführen. Wenn Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker heute Psychodrama als gruppenpsychotherapeutisches Verfahren definieren, meinen sie, dass die »Triade Soziometrie, Gruppentherapie, Psychodrama« (Moreno, 1959, S. 55, 72; Leutz, 1974, S. 1, 4) ein untrennbares Ganzes bildet und dass diese drei Methoden deshalb auch immer gemeinsam einzusetzen sind. Dieses Postulat integriert die Methoden Gruppentherapie, Soziometrie und Psychodrama, die Moreno ab 1932 zeitlich nacheinander in eben in dieser Reihenfolge entwickelt hat, zu einem einheitlichen Therapieverfahren. Das Postulat der Einheit dieser drei Methoden hat aber lange Zeit verhindert, dass Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker ihre psychodramatherapeutischen Interventionen in einer in sich systematischen Theorie begründen konnten. Marineau (2011, S. 43) fordert noch heute, dass Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker klarer beschreiben müssen, »was sie machen, wenn sie machen, was sie machen«. Die negativen Auswirkungen des Verständnisses des Psychodramas als Gruppentherapieverfahren sind eklatant. Denn ambulant arbeitende Psychotherapeutinnen und -therapeuten, auch Psychodramatherapeutinnen, arbeiten mit ihren Patientinnen und Patienten heute zu mindestens 95 % einzeltherapeutisch, im stationären Bereich schätzungsweise zu 50 %. Wenn Psychodrama-Ausbildungsinstitute das Psychodrama nur als Gruppentherapie lehren, stellen sie zukünftigen Therapeutinnen und Therapeuten die besonderen therapeutischen Möglichkeiten des Psychodramas nur eingeschränkt zur Verfügung.

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Empfehlung Psychodrama ist als Psychotherapiemethode unabhängig vom Setting sowohl in der Gruppe als auch in der Einzelarbeit therapeutisch wirksam. Die jeweilige Indikation des Settings ist nicht durch das Psychodrama als Verfahren bedingt, sondern durch das Ausmaß der Defizite der Patientinnen und Patienten. Je schwerer ihr Mentalisieren gestört ist, desto eher ist Psychodrama als Einzeltherapie indiziert.

In der Einzeltherapie können Menschen mit schweren Defiziten im Mentalisieren sich oft zum ersten Mal selbst in ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation verstehen und sind nicht wie in der Gruppe verführt, sich wie schon immer in ihrem Leben anzupassen, weil sie nicht wieder zum Außenseiter werden wollen. Schwer gestörte Patienten können allerdings sehr von einer psychodramatischen Gruppenpsychotherapie profitieren, nachdem sie vorher in einer störungsspezifischen Einzeltherapie eine innere Umstellung vollzogen haben. Gut möglich ist auch, sie während der Gruppentherapie anfangs parallel 20 bis 30 Sitzungen in Einzeltherapie zu nehmen. Gut therapeutisch wirksam sind auch stationäre, krankheitsbezogene Gruppenpsychotherapien mit zum Beispiel nur Patientinnen und Patienten mit einer Traumafolgestörung (Sáfrán, Czáky-Pallavicini, 2013) oder nur Abhängigkeitskranken (Waldheim-Auer, 2013, S. 196, Waniczek, Harter und Wieser, 2005). In einer stationären Gruppe speziell für Menschen mit einer Traumafolgestörung können die Patienten zum Beispiel sehr gut gemeinsam Selbststabilisierungstechniken erlernen (siehe Kap. 5.9). 2.6.2 Im Psychodrama darf die Verbindung zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seinem äußeren psychodramatischen Spiel nicht reißen In der mentalisations-basierten Psychodramatherapie zentriert die Therapeutin ihre Aufmerksamkeit in der Psychodramatherapie intuitiv auf den Prozess des Mentalisierens des Patienten und die Verwirklichung dieses Prozesses im psychodramatischen Spiel. Dabei achtet sie darauf, dass der Regelkreis zwischen seinem Mentalisieren und dem psychodramatischen Spiel nicht reißt. Denn wichtig ist, dass der Patient am Ende einer Therapiesitzung durch den Spielprozess auf der Zimmerbühne, der Tischbühne oder der Bühne der therapeutischen Beziehung die Blockaden und Defizite seines Mentalisierens in seinem Konflikt aufgelöst bzw. ausgeglichen hat und dass seine inneren Beziehungsbilder sinnvoll ausgestaltet und erweitert wurden. Dazu muss der Spielprozess nicht eindrucksvoll oder kompliziert gewesen sein und auch nicht in einer Katharsis geendet haben.

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Wenn im Spiel die Verbindung zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seinem äußeren Spielen reißt, ist die psychodramatische Arbeit nutzlos. Das kann zum Beispiel eintreten, wenn ein Patient eine traumatisierende Erfahrung auf der Bühne nachspielt, ohne dass die Psychodramatherapeutin dabei störungsspezifisch vorgeht (siehe Kap. 5.10). Die Therapeutin merkt dann oft gar nicht oder zu spät, dass der Patient dissoziiert und dass sein inneres Mentalisieren während seines psychodramatischen Spiels im Schockzustand blockiert war. Fallbeispiel 5: Eine Psychodramatherapeutin berichtete in der Supervision von einer schwierigen Gruppensitzung. Eine traumatisierte Patientin hatte nach einer zweistündigen (!) psychodramatischen Bearbeitung ihrer körperlichen Gewalterfahrung durch ihre Mutter in der Nachbesprechung nur lapidar gesagt: »Da war nichts Neues für mich im Spiel. Ich wusste das schon alles!« Die Therapeutin fühlte sich entwertet und war hilflos. Vermutlich hatte die Protagonistin im Spiel dissoziiert und ihre Affekte abgespalten, hatte nur kognitiv nachvollzogen, was sie auch schon vor dem Spiel wusste, und war dadurch in ihrem Spiel innerlich gleichsam gar nicht dabei gewesen. In einem solchen Fall erlebt die Therapeutin beim Nachspielen der Traumaerfahrung zwar viel, die Patientin spürt sich aber selbst gar nicht und passt sich wegen ihres Dissoziierens nur äußerlich an die Vorgaben der Therapeutin an. Deshalb ist bei einer Traumaverarbeitung ein störungsspezifisches Vorgehen angezeigt, wie es im Kapitel 5.10 beschrieben wird.

2.6.3  Die Anwendung der Psychodramatechniken wird einfacher Es erfordert von der Psychodramatherapeutin Mut, sich in dem spontan-kreativen Prozess des psychodramatischen Spiels eines Patienten auf die eigene Intuition zu verlassen. Dieser Prozess ähnelt bisweilen einer gemeinsamen Bootsfahrt auf einem Wildwasserfluss. Viele Psychodramatherapeuten neigen dazu, sich vor dem Sog des Spiels zu schützen, indem sie vor dem Spiel von ihren Patienten möglichst viele Informationen über den zu spielenden Konflikt erfragen. So lassen sie ihren Protagonisten beim Aufbau seiner Spielszene zum Beispiel oft hinter das Gruppenmitglied treten, das als Hilfs-Ich die Rolle seiner Konfliktpartnerin spielt, und die Mitspielerin in der Rolle der »Konfliktpartnerin« aus dieser Gegenposition heraus »eindoppeln«. Die Therapeutin bittet den Patienten zum Beispiel bei der Bearbeitung eines Ehekonflikts, sich hinter seine »Ehefrau« zu stellen und fragt ihn dort: »Wie alt sind Sie als Ihre Ehefrau?« »Wie geht es Ihnen hier Ihrem Mann gegenüber?« »Wie lange sind Sie schon verheiratet?« »Sind Sie berufstätig?« Ein solches »Eindoppeln« unterbricht aber den Erwärmungsprozess des Patienten im Mentalisieren seines Beziehungskonflikts.

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Denn beim »Eindoppeln« wechselt der Patient innerlich aus der Rolle seiner inneren Selbstrepräsentanz in die seiner Objektrepräsentanz. Dadurch stellt er sich dem zu seiner inneren Selbstrepräsentanz gehörigen Affekt entgegen und blockiert diesen. Wenn der Protagonist anschließend das Spiel aus seiner eigenen Rolle heraus anfangen will, muss er zuerst wieder sein eigenes Fühlen und seine eigene Aktualisierungstendenz seines Selbst (siehe Kap. 8.1) in sich lebendig machen, um überhaupt spielen zu können. Zu viele Vorinformationen verführen die Therapeutin auch dazu, schon vor dem Spiel innerlich Hypothesen aufzustellen und festzulegen, um was es im Spiel des Patienten gehen könnte. Solche Annahmen blockieren leicht den frei-kreativen Prozess des Mentalisierens der Therapeutin und führen dadurch zu Störungen im Abstimmungs- und Einigungsprozess mit dem Patienten während des psychodramatischen Spiels. Empfehlung Die Therapeutin sollte den Patienten das Geschehen in seinem Konflikt nicht vor dem Spiel erzählen lassen. Dann bleiben sie und die Gruppe während des Spiels neugierig, und es gelingt der Therapeutin besser, die Sokrates-Haltung einzunehmen (siehe Kap. 2.1).

Die Therapeutin lässt den Patienten stattdessen im Szenenaufbau seine innere Welt nach außen auf die Bühne bringen, die Gegenrollen mit Mitspielern besetzen, spricht ihn in der Spielszene in seiner eigenen Rolle an und stellt ihm »nur« die folgenden drei Fragen: 1. »Wie alt ist Ihre Frau?« 2. »Was strahlt sie aus?« 3. »Welche Körperhaltung hat sie?« Das Hilfs-Ich, das die »Ehefrau« des Protagonisten spielt, soll dann aus diesen wenigen Informationen im Spiel selbst eine Idee für die Verwirklichung der Rolle der Ehefrau entwickeln. Natürlich trifft die Mitspielerin in ihrem Spiel die Wirklichkeit ihrer Rolle nicht immer sofort. Die Therapeutin lässt den Patienten deshalb immer wieder einmal mit seinem Hilfs-Ich die Rolle tauschen und im Spiel in der Rolle seiner Ehefrau »zeigen«, wie diese ist, wie sie reagiert hat oder wie sie antworten würde. Wer das Konzept des Regelkreises zwischen dem äußeren psychodramatischen Spiel und dem inneren Mentalisieren ernst nimmt, bemerkt noch andere Gewohnheiten von Therapeuten, die das praktische Vorgehen im Psychodrama eher verkomplizieren und die Spontaneität und Kreativität der Arbeit einengen. So legen manche Psychodramatiker zum Beispiel beim Doppeln dem Patienten grundsätzlich die Hand auf die Schulter. In Ausnahmefällen kann das eine Nähe bezeugende Geste der Therapeutin sein, die wichtig ist.

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Übung 6 Wenn Sie Psychodramatikerin oder Psychodramatiker sind, erkunden Sie einmal zusammen mit einer Kollegin im Rollenspiel den Unterschied zwischen dem Doppeln mit Handauflegen und dem Doppeln ohne körperliche Berührung des Protagonisten. Sie werden merken: Wenn Sie in der Rolle des Protagonisten sind, lenkt Sie das Handauflegen der doppelnden Therapeutin von sich selbst und Ihrem eigenen spontanen inneren Mentalisieren ab und verschiebt Ihre Aufmerksamkeit auf die Therapeutin, die Ihnen vermeintlich »etwas geben« will. Damit wird aber das originäre Ziel des Doppelns verfehlt, das darin besteht, das Mentalisieren des Patienten zu aktivieren und zu erweitern.

Ähnlich fragwürdig ist das viel praktizierte »Entrollen« der Mitspieler nach einem psychodramatischen Spiel. Das Entrollen ist zwar erforderlich, wenn ein Gruppenmitglied als Hilfs-Ich über lange Zeit eine schwierige Rolle zu übernehmen hatte. In allen anderen Fällen finden die Gruppenteilnehmer in der Nachbesprechung des Spiels aber schon spontan aus der Hilfs-Ich-Rolle zu sich selbst zurück. Denn sie formulieren ihr Rollenfeedback in der Vergangenheitsform: »In dem Spiel war ich als Ehefrau ärgerlich.« Auch im Sharing kommen sie wieder zu sich selbst, weil sie dabei von ihren eigenen ähnlichen Erfahrungen berichten. Manche Therapeuten fordern nach dem Spiel den Protagonisten sogar auf, zum »Entrollen« seine Mitspieler mit den Händen von ihren Schultern nach unten ihren Körper entlang abzustreifen. Das soll unter anderem »die Entwicklung von Übertragungen verhindern«. Diese Annahme ist naiv. Wenn Übertragungen, die immer unbewusst sind, aufgrund von szenischen Auslösern entstehen, dann geschieht das auch, wenn der Protagonist nach seinem Spiel seine Mitspielerinnen und Mitspieler »entrollt«. Übertragungen sind auch per se nicht als negativ anzusehen. Sie sind therapeutisch sogar wertvoll, wenn die Psychodramaleiterin gelernt hat, mit ihnen psychodramatherapeutisch angemessen umzugehen (siehe Kap. 2.5). Aus diesen Ausführungen wird deutlich: Zentraler Gedanke Psychodramatherapie ist, wenn sie stimmig dem inneren Mentalisieren des Patienten folgt, eine hochkomplexe Arbeit, auch wenn sie von außen gesehen ganz einfach erscheint. Psychodramatiker, die in ihrer praktischen Arbeit mit einem großen, komplizierten Technikrepertoire imponieren, folgen oft eigenen Annahmen und nicht den inneren Mentalisierungsprozessen ihrer Patienten.

In der störungsspezifischen Psychodramatherapie versucht die Therapeutin von ihrem subjektiven Erleben her nicht, das Richtige zu tun. Vielmehr begegnet sie

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dem Patienten auf Augenhöhe, zentriert ihre Aufmerksamkeit auf den Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen seinem Mentalisieren und ihrem Mentalisieren, folgt beim Einsatz der Psychodramatechniken ihrer Intuition und versucht vor allem, das Falsche wegzulassen. 2.6.4  Die Therapeutin denkt systemisch und prozessorientiert Das Ziel der Psychodramatherapie ist die Differenzierung und Erweiterung des inneren Mentalisierens des Patienten in den inneren Beziehungsbildern, interaktionellen Prozessen, Ich-Zuständen und Lösungsmustern seines Konflikts. Die spontanen Prozesse des Mentalisierens des Patienten sind in sich systemisch aufgebaut, sie kreieren in seiner Vorstellung innere Beziehungsbilder zwischen seiner inneren Selbstrepräsentanz und seiner dazugehörigen Objektrepräsentanz (siehe Kap. 2.2) oder bei strukturellen Störungen, zum Beispiel bei einer Borderline-Organisation oder einer Suchterkrankung, Konflikte zwischen seinen alternierenden Ich-Zuständen (siehe Kap. 4.3 und 10.5). Die Therapeutin lässt den Patienten im Psychodrama im Szenenaufbau sein inneres Konfliktbild als äußeres Beziehungsbild auf die Bühne bringen, im Spiel die an dem Konfliktsystem beteiligten Elemente miteinander in Interaktion bringen und durch Rollentausch seine innere Selbstrepräsentanz, seine Objektrepräsentanz und die Beziehung zwischen diesen erweitern und verändern. In Anlehnung an Hutter (2009, S. 27) definiert Kriz (2014, S. 123) deshalb auch die psychodramatische Szene als »die stets ganzheitliche Verflechtung von körperlichen, psychischen, interaktiv-mikrosozialen, makrosozialen und kulturellen Prozessaspekten […], deren Dynamik wegen ihrer nichtlinearen Vernetzung letztlich nicht planbar oder vorhersagbar ist, sondern kreative Momente enthält, die […] therapeutisch nutzbar gemacht werden können«. Durch den Szenenaufbau, das Rollenspiel und den Rollentausch wird das Denken des Menschen unbemerkt immer zu einem systemischen Denken umgewandelt. Denn durch den Rollentausch wird therapeutisch die innere Selbstrepräsentanz im Konflikt erweitert und aber auch die innere Objektrepräsentanz (siehe Kap. 8.4.3). Fallbeispiel 6: Eine depressiv neurotische Patientin, Frau C., erzählte in der Gruppentherapie resigniert: »Mein Mann verbietet mir, mich mit meiner Freundin zu verabreden!« Die Gruppenmitglieder protestierten: »Das darfst du doch nicht mit dir machen lassen!« Der Therapeut bot Frau C. an, ihren Ehekonflikt psychodramatisch zu spielen. Die Patientin lehnte das aber ab. Der Therapeut fühlte sich dem Leidensgefühl der Patientin ausgeliefert. Er forderte deshalb die Gruppenteilnehmerin, die

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am lautesten protestiert hat, auf, in einem Rollenspiel stellvertretend für Frau C. als ihre Doppelgängerin ihre Interessen gegenüber dem »Ehemann« von Frau C. durchzusetzen. Die Doppelgängerin richtete im Szenenaufbau das Wohnzimmer von Frau C. ein, so wie sie sich dieses vorstellte. Frau C. korrigierte sie dabei. Vom Therapeuten dazu aufgefordert übernahm Frau C. überraschend in dem Rollenspiel selbst die Rolle ihres Ehemannes und erkundete in dieser Rolle, wie der auf ein verändertes Verhalten ihrerseits reagieren würde. Frau C. merkte im Spiel, dass sie, wenn ihre Doppelgängerin ihren Wunsch klar vorbrachte, in der Rolle ihres Mannes zwar missmutig und unwillig reagierte, den Wunsch aber doch nicht autoritär unterbinden würde. Vierzehn Tage später berichtete Frau C., dass sie nun doch mit ihrer Freundin zum Italiener essen gegangen war. Als sie ihrem Mann ihren Wunsch vorgetragen hatte, habe der zwar tatsächlich sein Gesicht mürrisch verzogen, ihr das Treffen mit ihrer Freundin aber nicht untersagt. Die Patientin hatte durch das Spiel offenbar die innere Objektrepräsentanz ihres Mannes erweitert. Sie hatte in der Rolle ihres Mannes leiblich und seelisch erfahren, dass dieser bei einer offenen Auseinandersetzung ihrem Wunsch zustimmen würde, wenn sie selbst nur ausreichend standhält und nicht gleich nachgibt. Und so war es geschehen. Die Patientin hatte durch das psychodramatische Spiel gelernt, das mürrische Gesicht ihres Ehemannes von dem zornigen Gesicht ihres Vaters zu unterscheiden, der bei Widerworten immer leicht aufgebraust war, und hatte die Vaterprojektion auf ihren Ehemann aufgelöst. Sie sah ihren Mann nach dem Spiel mit anderen Augen. Das erlaubte ihr, sich ihm gegenüber selbst anders zu verhalten.

Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten sind mit ihren Aktionen und Reaktionen letztlich immer ein Teil des Systems der therapeutischen Beziehung bzw. der Gruppenbeziehungen. Das wird besonders deutlich bei Störungen in der therapeutischen Beziehung. Denn diese machen es der Therapeutin schwer, im protagonistzentrierten Spiel die Psychodramatechniken angemessen einzusetzen. Das »Spiel« findet unbemerkt schon in der Realität der therapeutischen Beziehung statt und muss deshalb auch auf der Bühne der therapeutischen Beziehung weiter- und sinngebend zu Ende geführt werden (siehe Kap. 2.5). Zentraler Gedanke In der therapeutischen Beziehung geht es darum, dass die Therapeutin dem anderen gerecht wird wie sich selbst. Die Seele des Patienten macht nichts umsonst, aber auch die Seele der Therapeutin macht nichts umsonst. Im mentalisations-basierten Psychodrama gibt es kein »entweder hat der Patient ein Problem oder ich als Therapeutin habe ein Problem« und auch kein »entweder hat der Patient recht oder sein Konfliktpartner hat recht«. Es gibt nur ein »Sowohl als auch«. Die Hierarchie zwischen der Therapeutin als der Wissenden und

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dem Patienten als dem Unwissenden, zwischen der Helferin und dem Bedürftigen, ist immer zu integrieren in eine Begegnung zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe.

2.6.5 Die Gruppe ist als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen Zentraler Gedanke In der psychodramatischen Gruppentherapie erweitert sich das Konzept der Aktualisierungstendenz des Selbst des Menschen zu einem Konzept der Aktualisierungstendenz des Selbst der Gruppe. Das Menschenbild des kreativen Menschen wird zum Konzept der kreativen Gruppe als ein sich selbst organisierendes System. Die Therapeutin versteht sich als Teil dieses Systems.

Viele Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker haben von ihren Ausbildungsleitern und Ausbildungsleiterinnen gelernt, dass ein bestimmter Ablauf der Sitzung »zur Methode des Psychodramas gehört«: Die Gruppensitzung beginnt mit einer Befindlichkeitsrunde. Anschließend rücken die Gruppenmitglieder, die heute an einem Thema arbeiten wollen, ihre Stühle etwas in die Mitte. Die Gruppenmitglieder wählen dann aus diesen Spielwilligen soziometrisch den Protagonisten für das Spiel in dieser Sitzung aus. Es folgt das protagonistzentrierte Spiel, das Sharing, das Rollenfeedback und am Ende das Identifikationsfeedback. Wenn noch Zeit ist, schließt sich eine Abschlussrunde an. Ein so reglementierter Sitzungsablauf hilft Anfängern in der Psychodramaleitung, sich zu orientieren und in einer Psychodramasitzung in ihrem Vorgehen nichts Wichtiges zu vergessen. Regeln können auch helfen, am Beginn einer geschlossenen Gruppe den Gruppenmitgliedern Sicherheit zu geben, in der Kennenlernphase ihre Isolation und ihren neurotischen Rückzug zu überwinden und schnell Vertrauen zu fassen. Eine Reglementierung des Sitzungsablaufes wird aber spätestens dann problematisch, wenn sich in der Gruppe die Themen Unterlegenheit, Macht und Rivalität aktualisieren oder schließlich die Themen Autonomie und Ablösung vorherrschen. Die einengenden Vorgaben der Psychodramatherapeutin führen dann zu einem Widerstand der darauf am ehesten allergisch reagierenden Gruppenmitglieder. Die Therapeutin gerät, ohne es zu wollen, in der Gruppendynamik durch Aktion und Reaktion in einem Teufelskreis zunehmend in die AlphaPosition, also in die Rolle der Aktionsführerin in der Gruppe. Nach Schindler (1957/1958, S. 311) sollten Gruppentherapeuten nur in Ausnahmefällen in die Alpha-Position der Gruppe gehen. Denn »wo der […] Leiter der Gruppe sich in

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der Alpha-Position befindet, stellt sich die Gruppe nach seinem eigenen Unbewussten dar, und er vermag nur sich selbst in ihr zu analysieren […] Er hat in diesem Fall eine eminent erzieherische Chance […] Dort wo es gilt, die ÜberIch-Gestaltung zu fördern, wäre eine solche Position daher indiziert. Das wäre also bei Verwahrlosten der Fall.« Da die Patientinnen und Patienten in einer Gruppentherapie aber in der Regel nicht verwahrlost sind, wird eine Therapeutin in der Alpha-Position normalerweise die Entwicklung der Gruppenteilnehmer behindern, weil sie die eigene unbewusste Beteiligung an den Störungen in den therapeutischen Beziehungen ausblendet. Das führt zu Störungen im Abstimmungs- und Einigungsprozess mit den Patienten, blockiert über kurz oder lang die Mentalisierungsprozesse der Patienten und auch der Therapeutin selbst und behindert dadurch den therapeutischen Fortschritt in der Gruppe. Die Therapeutin kann einen solchen Widerstand der Gruppe erkennen an Verstößen einzelner Gruppenteilnehmer gegen die Gruppenziele und Gruppenregeln: Jemand fehlt, kommt zu spät, will die Gruppentherapie abbrechen, schläft während der Sitzung fast ein oder anderes. Oder die Gruppenmitglieder wählen soziometrisch das von ihnen am stärksten abgelehnte oder das kränkste Gruppenmitglied zum Protagonisten und erwarten von der Therapeutin unausgesprochen, dass sie auch noch dieses »letzte« Gruppenmitglied im protagonistzentrierten Psychodrama von seinen Leiden erlöst und errettet. Wenn die Therapeutin sich in einer solchen Situation gerechterweise auch selbst an die von ihr vorgegebene Regel der soziometrischen Auswahl des Protagonisten hält, scheitert sie gewöhnlich bei der Leitung des Spiels und gerät mit dem Protagonisten zusammen in die Omega-Position (Krüger, 2011, S. 198 f.). Ein Gruppenmitglied in der Omega-Position protestiert, so ist diese Position definiert (Heigl-Evers, 1968, S. 283), gegen die Gruppenaktion auf der Basis von Unterlegenheit und Schwäche. Die Therapeutin kann sich dann nur retten, indem sie ihre Aufmerksamkeit zusammen mit den Teilnehmern auf die Konflikte in den Gruppenbeziehungen richtet, mit den Gruppenmitgliedern zusammen an den Störungen der Gruppenbeziehungen arbeitet (siehe Kap. 2.5) und den Übertragungsanteil und den Realanteil an den jeweiligen Beziehungsstörungen herausarbeitet (Krüger, 2011, S. 192 ff., 204 f.). Zentraler Gedanke Bei einem systembezogenen Leitungsstil vermeidet die Therapeutin, den Ablauf einer Gruppensitzung zu reglementieren. Sie versteht die Gruppe als ein lebendiges, sich selbst organisierendes System (Krüger, 2011) und setzt die Psychodramatechniken intuitiv indiziert ein, um real vorhandene Blockaden des Mentalisierens der Patienten aufzulösen oder Defizite ihres Mentalisierens auszugleichen.

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

Zum Beispiel lässt die Therapeutin die Gruppenteilnehmer Sharings spontan aus eigenem Willen geben und bittet sie nur dann selbst darum, wenn sie spürt, dass der Protagonist nach seinem Spiel wieder als Gleicher unter Gleichen in die menschliche Gemeinschaft der Gruppe aufgenommen werden müsste. Die Therapeutin erfragt von dem Protagonisten und seinen Mitspielern Rollenfeedbacks nur, wenn sie intuitiv merkt, dass der Protagonist seine Erfahrung im Spiel an bestimmten Stellen noch nicht ausreichend in sein inneres Mentalisieren umgesetzt hat und also die Übersetzung seines äußeren psychodramatischen Spiels in sein inneres Mentalisieren an bestimmten Stellen noch zu vervollständigen ist. Sonst lässt sie die Patientinnen und Patienten mit den Folgen ihres Handelns leben. Dadurch bleibt die Therapeutin in der Gruppe eher in der therapeutisch wertvollen Beta-Position (Heigl-Evers, 1967, S. 95). Das ist die Position des Fachmanns, der in Gruppenkonflikten aus einer Ja-aber-Haltung aktiv vermittelnd in die Interaktionen des Beziehungssystems der Gruppe eingreift.

2.7 Der individuumbezogene, direktive Leitungsstil und der systembezogene Leitungsstil Die folgende Tabelle soll die Unterschiede zwischen einem individuumzentrierten Leitungsstil und einem systembezogenen, abstinenten Leitungsstil verdeutlichen. Individuumbezogener, direktiver Leitungsstil

Systembezogener, prozessorientierter Leitungsstil

Die Leiterin versteht sich auch bei Störungen in der therapeutischen Beziehung als Helferin einzelner Individuen und arbeitet psychodramatisch vorwiegend protagonistzentriert.

Die Leiterin zentriert bei Störungen in der therapeutischen Beziehung ihre Arbeit auf das System der therapeutischen Beziehung bzw. der Gruppenbeziehungen und klärt die Beziehungskonflikte unter anderem auch mit psychodramatischen Mitteln.

Die Leiterin versucht, Gefühle der eigenen Verunsicherung zu vermeiden, und handelt bei Konflikten in der therapeutischen Beziehung bzw. in der Gruppe eher direktiv.

Die Leiterin gibt eigenen Gefühlen von Unsicherheit, Unlust oder Unwohlsein Berechtigung und versucht, sich gegebenenfalls neu und offen zu orientieren. Sie vertraut auf ihre Intuition und handelt systembezogen und prozessorientiert.

Der individuumbezogene, direktive Leitungsstil und der systembezogene Leitungsstil

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Individuumbezogener, direktiver Leitungsstil

Systembezogener, prozessorientierter Leitungsstil

Die Leiterin interpretiert das Verhalten des anderen bzw. der anderen und macht im Konflikt Rollenzuschreibungen nach dem Familienmodell, zum Beispiel »Sie verhält sich wie ein Kind« oder anderes.

Die Leiterin zentriert ihre Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen sich selbst und dem anderen bzw. zu den anderen, macht außerhalb der Therapiesitzung systembezogene Selbstsupervision durch einen fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch und versucht, in der therapeutischen Beziehung das Prinzip zu verwirklichen, dem anderen gerecht zu werden wie sich selbst.

Sie interpretiert Weigerungen von Patienten, zu machen, was sie empfiehlt, als Widerstand.

Sie definiert Widerstand als Fixierung des Patienten bzw. der Gruppe und der Therapeutin in eine gemeinsame ÜbertragungsGegenübertragungsbeziehung, die den Fortschritt in der Therapie behindert.

Sie denkt bei Konflikten in der therapeutischen Beziehung nach dem Muster: Entweder der Patient hat ein Problem oder ich habe ein Problem.

Sie denkt bei Konflikten in der therapeutischen Beziehung nach dem Muster: Sowohl der Patient bzw. die Gruppe hat ein Problem als auch ich habe ein Problem. Wir haben also ein gemeinsames Problem.

Sie denkt nach dem Bewertungsprinzip falsch/richtig.

Sie denkt nach dem Bewertungsprinzip »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst, und auch meine Seele macht nichts umsonst« und gibt den eigenen Gefühlen und den Gefühlen des anderen Berechtigung.

Sie denkt hierarchisch. Sie nimmt bei Störungen in der therapeutischen Beziehung die Haltung der Wissenden ein und hält den Patienten für unwissend, unfähig oder nicht motiviert.

Sie versucht, auch bei Störungen in der therapeutischen Beziehung dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen, und ist bereit, in der Beziehung vorübergehend auch genau andersherum zu denken, also »den kleinen Tod zu sterben«. Sie nimmt auch bei Störungen in der Beziehung immer wieder die Haltung eines gesunden, naiven Kindes bzw. des Sokrates ein: »Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich möchte aber gern wissen.« Das ist gruppendynamisch gesehen die Beta-Position.

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

Individuumbezogener, direktiver Leitungsstil

Systembezogener, prozessorientierter Leitungsstil

Sie sichert sich beim Einsatz der Psychodramatechniken ab, indem sie vor dem Spiel viele Informationen sammelt.

Die Therapeutin setzt die Psychodramatechniken intuitionsgeleitet so ein, dass diese das innere Mentalisieren des Patienten mit seinen Funktionen auf der Bühne verwirklichen. Dadurch werden die Psychodramatechniken wieder »einfach«. Die Erinnerungen werden erspielt und nicht zuerst erzählt und erst danach nachgespielt.

In einem Beziehungskonflikt begründet die Therapeutin ihr Vorgehen methodenbezogen: »Das ist so im Psychodrama.«

Bei Beziehungskonflikten begründet die Therapeutin ihr eigenes Handeln beziehungsbezogen und versucht aktiv, den beidseitigen Übertragungsanteil und den Realanteil an dem Beziehungskonflikt voneinander zu differenzieren.

Sie versucht, durch feste Regeln für den Ablauf einer Gruppe sich selbst und die Patienten vor »Fehlern«, »unnötigem Leiden« und Störungen in den Beziehungen zu beschützen und zu bewahren.

Sie folgt in der Leitung ihrer Intuition und ist bereit, mit den Folgen ihres eigenen Handelns zu leben und also auch ihr eigenes Handeln infrage zu stellen. Sie lässt aber auch den Patienten mit den Folgen seines Handelns leben und weiß, dass sie das Entstehen von Übertragungsbeziehungen nicht vermeiden kann, dass diese therapeutisch sogar ein Fortschritt sein können.

Sie erlebt Beziehungskonflikte in der therapeutischen Beziehung bzw. in den Gruppenbeziehungen als störend und hat Mühe, mit Beziehungskonflikten psychodramatisch umzugehen.

Sie wertet Beziehungskonflikte in der therapeutischen Beziehung bzw. in den Gruppenbeziehungen als mutig und hat sich psychodramatische Möglichkeiten erarbeitet, sie handlungsnah zu klären.

Sie versteht sich als Leiterin als außerhalb der Gruppe stehend und wendet zur Klärung der Gruppendynamik soziometrische Methoden an, ohne sich selbst in die Wahlen einzubeziehen.

Sie versteht die Gruppe als ein sich selbst organisierendes System und sich selbst dabei als Teil des Gruppensystems. Sie wendet deshalb zur Diagnostik der Gruppendynamik das systemische Konzept der Schindlerschen Gruppenpositionen Alpha, Beta, Gamma und Omega an (Schindler, 1957/58). Wenn sie damit das latent agierte Gruppenthema erfasst hat, arbeitet sie dieses zusammen mit den Gruppenmitgliedern mit soziometrischen Methoden weiter aus (Krüger, 2011, S. 203 f.).

Die rollentheoretisch begründete Psychodramatherapie

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Individuumbezogener, direktiver Leitungsstil

Systembezogener, prozessorientierter Leitungsstil

Die Leiterin wechselt bei Beziehungskonflikten in der Gruppe aus der Beta-Position in die direktive Alpha-Position.

Die Leiterin versucht, bei Gruppenkonflikten in der non-direktiven Beta-Position der Gruppe zu bleiben. Sie wechselt aber bei Bedarf bewusst spielerisch auch in die in der aktuellen Gruppendynamik nicht vertretenen Gruppenpositionen.

Bei Gruppenkonflikten drängt die Leiterin durch ihr Handeln speziell den Patienten in die Omega-Position, der die von ihr selbst verdrängten Wünsche und Affekte am ehesten auslebt. In Gruppenspielen spiegeln die Gruppenmitglieder dann oft, ohne dass es bemerkt wird, die Probleme der Leiterin reziprok komplementär wider.

Im Konflikt versteht die Leiterin den Protest des Omega als die ergänzende Wahrheit zu der Wahrheit des Alpha. Wenn sie selbst in der Alpha-Position war, kommt sie dadurch wieder in die Beta-Position.

2.8 Die mentalisations-basierte Psychodramatherapie und die rollentheoretisch begründete Psychodramatherapie Psychodramatisch arbeitende Therapeutinnen und Therapeuten benutzen Psychodramatechniken. Das ist ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Lange Zeit blieben die Theoriekonzepte der Psychodramatherapie in der Nachfolge von Moreno als dem »Meister des Imperfekten« unsystematisch. Im Zuge der Anerkennungsverfahren als Psychotherapiemethode in Deutschland, Österreich, Ungarn und der Schweiz entstand aber der Zwang, die therapeutischen Interventionen im Psychodrama auf dem Hintergrund einer in sich geschlossenen Theorie zu begründen. Dabei entwickelten sich zwei verschiedene theoretische Konzepte der Psychodramatherapie, ein rollentheoretisch begründetes Konzept, das sich an verschiedenen psychodramatischen Rollentheorien orientiert (Moreno, 1946/1985, S. II ff., 153 ff.; Leutz, 1974, S. 36 ff. 153 ff.; Petzold und Mathias, 1982, Hochreiter, 2004, S. 128 ff., Stelzig, 2004, Schacht, 2009, und andere), und das mit den Prozessen der psychischen Selbstorganisation und den Prozessen des Mentalisierens begründete Verständnis des intuitionsgeleiteten Psychodramas (Schacht, 1992, 2003, Krüger, 1997, 2002a), das die Kreativitätstheorie Morenos (1946/1985, S. 47 ff., 1974, S. 11 ff., 439 ff.) weiterentwickelt. Dieses Konzept wird in diesem Buch weiter ausdifferenziert.

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

Zentraler Gedanke Bei der Begründung des Psychodramas mit Rollentheorien gibt es ein grundsätzliches Problem: Der Begriff »Rolle« erfasst das von außen wahrnehmbare Ergebnis des Prozesses des inneren Mentalisierens des Menschen (siehe Abb. 5), aber nicht den Weg, wie diese »Rollen« entstehen. Deshalb sind die meisten Rollenbegriffe für das praktische psychodramatische Handeln nur hilfreich, wenn es darum geht, interpersonelle Konflikte zwischen real anwesenden Personen zu beschreiben, zum Beispiel in der Teamsupervision oder Organisationsberatung. Wichtige Definition Moreno (1985, S. IV) definierte »Rolle« als »the functioning form the individual assumes in the specific moment he reacts to a specific situation in which other persons or objects are involved«. Sinngemäß übersetzt meint dieser Satz: »Rolle ist die funktionelle Form, die ein Mensch vorübergehend einnimmt, wenn er in einer spezifischen Situation auf andere Personen oder Objekte reagiert.«

Diese Definition bedeutet: 1. Die in der jeweiligen Situation gelebte Rolle ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses der Selbstorganisation. 2. Der Einzelne übt seine Rolle in der aktuellen Situation dann gekonnt aus, wenn er ausreichend spontan ist und sich in einer neuen Situation angemessen oder in einer alten Situation neu verhält (Moreno,1974, S. 13). Psychodramatherapie verwirklicht im Als-ob-Modus des Spiels mit ihren Psychodramatechniken die inneren Prozesse der Selbstorganisation und des Mentalisierens der Patienten, die sie diese Spontaneität gewinnen lassen. 3. Mit Rollenbegriffen lässt sich deshalb eigentlich »nur« der Ausgangspunkt und das Ergebnis der psychodramatischen Arbeit beschreiben (siehe Abb. 5), aber nicht der Weg, wie die jeweils aktuelle Ausformung der Rolle mit psychodramatischen Mitteln entsteht. Finalitätsorganisation

Kausalitätsorganisation

Mentalisieren

Rolle

RealitätsSystemorganisation organisation

Abbildung 5: Das Mentalisieren und die Rolle als das von außen wahrnehmbare Ergebnis des Mentalisierens

Die rollentheoretisch begründete Psychodramatherapie

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Zentraler Gedanke Moreno hat versucht, den Widerspruch zwischen dem auf das innere Mentalisieren des Patienten bezogenen psychodramatherapeutischen Handeln und den Rollentheorien, die dieses Handeln erklären sollen, zu lösen, indem er die Existenz von inneren »Rollen« und »Rollenclustern« postulierte (Moreno, 1947, S. 9; Schwehm, 2004, S. 140), die, so nahm er an, im psychodramatischen Spiel nach außen gelangen und in ihrem Handlungsmodus sichtbar werden. Nach den neueren neurophysiologischen Erkenntnissen (siehe Kap. 2.3) ist diese Idee aber eine unzulässige Vereinfachung der inneren Prozesse der Patienten während der psychodramatischen Spielproduktion.

In den inneren neurophysiologischen Prozessen des Menschen existieren keine Rollen, kein »Rollendefizit« und auch kein »zu geringes Rollenrepertoire«, das durch Übernahme von neuen Rollen erweitert werden könnte (Roine, 2000, S. 95). Die Seele des Menschen besteht nicht aus Rollen, die ähnlich wie die verschiedenen Schalen einer Zwiebel als »verschiedene Facetten eines Menschen […] sich ergänzen und ein Ganzes ausmachen« (Schaller, 2006, S. 60). Die Gedächtnisinhalte entstehen vielmehr durch hochkomplexe neurophysiologische Verarbeitungsprozesse von Erfahrungen und Konflikten (siehe Kap. 2.3). Die Verarbeitungszustände dieser inneren Sturkturen verändern sich im Laufe des Lebens ständig weiter und integrieren neue Erfahrungen. Wo die Verarbeitungsprozesse konflikthaft bleiben, kann das psychodramatische Spiel die Verarbeitungszustände differenzieren, erweitern und probatorisch zu Ende führen. Zum Beispiel wird bei einer »mangelnden Rollenflexibilität« (Leutz, 1974, S. 153 ff.) das äußerlich wahrnehmbare Rollenverhalten des Patienten flexibler durch das Auflösen der Blockaden seines inneren Mentalisierens oder die Nachentwicklung der Werkzeuge seines inneren Mentalisierens im äußeren psychodramatischen Spiel, nicht aber oder nur sehr ungezielt durch das Einüben von neuen Rollen. Zu den Annahmen innerer Rollen oder Rollencluster meint Schiepek (2006, S. 5): Es macht »keinen Sinn […], das Gehirn mit einem seriellen Computer zu vergleichen und das Gedächtnis mit einem Vorgang, bei dem Dateien abgespeichert und wieder abgerufen werden«. Auch Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 106) stellen kategorisch fest: »Wir distanzieren uns von einem Modell, das die frühe Beziehung als Schablone späterer Beziehungen konzeptualisiert – ein Modell, das im Lichte aktueller Forschungsergebnisse naiv wirkt –, und vertreten die These, dass es die Qualität oder ›Tiefe der Verarbeitung‹ der psychosozialen Umwelt ist, die durch frühe Erfahrung festgelegt wird.«

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

Zentraler Gedanke Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker geraten in ein unauflösbares Dilemma, wenn sie rollentheoretisch begründet arbeiten wollen, sich in ihrer praktischen psychodramatischen Arbeit aber intuitiv an dem inneren Mentalisieren ihrer Patienten orientieren und mit dem Patienten zusammen versuchen, sein Mentalisieren in äußere Spielproduktion umzuwandeln (siehe Kap 2.2).

Entweder sie verwenden die Rollenbegriffe dann nur zum Schein, zum Beispiel in Abschlussarbeiten, und benutzen in ihrer praktischen Arbeit aber in Wahrheit andere theoretische Konzepte. Oder aber ihr Denken in Rollenbegriffen lässt sie im Spiel zwar eine Differenzierung und Erweiterung der Selbstrepräsentanz im Konflikt anstreben, aber nicht auch eine Veränderung der inneren Objektrepräsentanz. Da es sich bei dem von innen nach außen auf die Bühne gebrachten Konflikt aber um den inneren Verarbeitungszustand des Konflikts handelt, ist unabhängig von der realen Persönlichkeit des Konfliktgegners im Konflikt definitionsgemäß immer auch bei dem »Konfliktgegner« im Spiel, also bei der inneren Objektrepräsentanz des Patienten, ein zu geringes Rollenrepertoire, eine Rollenkonfusion oder andere Rollenpathologien zu finden. Auch die innere Objektrepräsentanz ist im psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zu differenzieren, zu erweitern und von Projektionen zu befreien. Sie können das als Leserin oder Leser mithilfe der Übung der Selbstsupervision (siehe Kap. 2.2) gut nachvollziehen. So erkannte der Protagonist im Fallbeispiel 1 durch das Nachspielen der Rolle seines Oberarztes, dass dessen Zurückweisungen dessen Selbstschutz dienten. Der Protagonist bezog diese nach dem Spiel nicht mehr auf sich und wurde dadurch in der Beziehung zu seinem Oberarzt wieder frei und spontan. Weil rollentheoretisch denkende Psychodramatiker die notwendige Veränderung auch der inneren Objektrepräsentanz vernachlässigen und ihre Aufmerksamkeit auf die Selbstrepräsentanz zentrieren, verändert rollentheoretisches Denken das Psychodrama mehr oder weniger zu einem individuumzentrierten Rollenspiel (Leutz, 1974, S. 168 ff.). Es nutzt dann nicht den im Rollentausch grundsätzlich enthaltenen systemischen Ansatz des Psychodramas. Rollentheoretische Begründungen des intuitionsgeleiteten Psychodramas verändern mit der Zeit das praktische psychodramatische Handeln. In der Therapie von Suchtkranken zum Beispiel gehen manche rollentheoretisch denkende Therapeutinnen und Therapeuten davon aus, dass der Patient, wenn er seinen Alkoholkonsum und seine Affekte nicht ausreichend steuern kann, ein »Rollendefizit« hat für die »Rolle des Regisseurs«. Sie versuchen, die Steuerungsfähigkeit des Patienten in Bezug auf seinen Alkoholkonsum durch das Spielen der »Rolle eines Regisseurs« zu verbessern. Die Therapeutin geht mit dem Patien-

Die mentalisations-basierte Psychodramatherapie

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ten auf der Zimmerbühne in einen von der Aktionsbühne abgetrennten »Regieraum« und lässt den Patienten aus der »Rolle des Regisseurs« heraus sein Leben betrachten. Er soll aus der Distanz die Problematik seines Handelns wahrnehmen und sich selbst angemessene Handlungsanweisungen geben (Schwehm, 2004, S. 139, 146 ff.). Dieses Vorgehen kann zwar helfen, es verwirklicht aber eigentlich »nur« die psychodramatische Technik des Spiegelns. Eine positive therapeutische Wirkung wäre gegebenenfalls das Ergebnis des Perspektivwechsels durch das Spiegeln, aber nicht die Folge der Integration der »Rolle des Regisseurs« in die Gedächtnisstrukturen des Patienten. Die Rolle des Regisseurs ist auch bei Abhängigkeitskranken in Form des gesunden Erwachsenendenkens immer schon mehr oder weniger vorhanden. Das Problem ist aber die Ich-Spaltung zwischen dem Ich-Zustand des gesunden Erwachsenendenkens und dem Ich-Zustand des süchtigen Denkens und Fühlens. Das Alternieren zwischen diesen beiden konträren Ich-Zuständen ist psychodramatisch mit der ZweiStühle-Technik zu konkretisieren und durch Rollenwechsel zu erfassen (siehe Kap. 10.6.1 und 10.6.4). Nur dadurch wird der Patient dann zum »Regisseur« in seinem Suchtkonflikt (siehe Fallbeispiel 96 in Kapitel 10.6.4). Rollentheoretische Überlegungen verführen Psychodramatherapeutinnen oder -therapeuten bisweilen zu merkwürdigen Vorgehensweisen. So beschreibt zum Beispiel Hudgins (2000, S. 240 f.), die ihre Arbeit mit traumatisierten Patientinnen explizit rollentheoretisch begründet, in einem fiktiven Fallbeispiel die psychodramatische Traumaexpositionssitzung einer fiktiven Patientin mit dem Namen »Greta«. Um beim Nachspielen der Traumaszene zu verhindern, dass die Patientin dissoziiert, lässt die Therapeutin die Gruppenmitglieder der Therapiegruppe insgesamt elf stabilisierende Rollen einnehmen und spielen. Als »Greta« trotzdem dissoziiert, veranlasst die Therapeutin »ein trainiertes HilfsIch die Rolle derer zu übernehmen, die die Dissoziation festhält. Colette […] nahm diese Rolle und fing an, im Raum herumzulaufen mit einem weißen Schal. Sie schwang ihn in der Luft und rief: ›Ich kann all die Dissoziationen im Raum einsammeln und fassen. Greta, hilf mir, sie zusammenzubekommen, dass ich sie hier festhalte. Du kannst sie zurückhaben, wenn du sie brauchst. Aber ich glaube, für dich ist es im Augenblick sicherer, wenn du siehst, was passiert!‹ Der Direktor […] sagte: ›Ja, Greta, sammle die Anteile deiner Verwirrtheit ein, die im Raum herumschwirren, und lege sie real in den weißen Schal. Dann sage der Hüterin der Abwehr, was sie damit tun soll!‹« Hudgins glaubte offensichtlich, dass eine Patientin durch das symbolische Einfangen von abgespaltenen Selbstanteilen im Raum ihr Dissoziieren stoppen könne. Andere Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker, die sich in ihrem psychodramatischen Vorgehen am Mentalisieren ihrer Patienten orientieren, lassen ihre Patienten, wenn

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

sie dissoziieren, stattdessen ihren inneren Prozess des Dissoziierens funktionell äußerlich auf der Bühne verwirklichen, indem sie ihr Ich, das durch Dissoziieren in ein handelndes Ich und ein beobachtendes Ich gespalten ist, mit zwei Stühlen getrennt voneinander konkretisieren und die Patienten dann zwischen diesen äußerlich handelnd hin und her wechseln lassen (siehe Fallbeispiel 74 in Kap. 9.7.1). Dadurch wird das Dissoziieren dann störungsspezifisch aufgelöst (Kellermann, 2000, S. 29 f.; Leutz, 2000, S. 190, 194; Karp, 2000, S. 68 ff.; Krüger, 2002b, S. 132 ff.; siehe auch Kap. 5.4 und 5.10.4).

2.9 Diskussion der Weiterentwicklung der rollentheoretischen Konzeptualisierung der Psychodramatherapie nach Schacht Rollentheoretisch denkenden Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker haben Ansätze zu einer Krankheitslehre entwickelt, die sich an der äußerlich wahrnehmbaren Rollenausübung orientierte. Sie beschrieben Rollenpathologien wie zum Beispiel das »Rollendefizit«, das »zu geringe Rollenrepertoire«, das »Rollenmangelsyndrom«, die »Rollenkonfusion«, den »Intra-Rollenkonflikt«, den »Inter-Rollen-Konflikt« oder die »mangelnde Rollenflexibilität« (Leutz, 1974, S. 153 ff., Stelzig, 2004). Diese Begriffe boten in der praktischen psychodramatischen Arbeit aber wenig Orientierung. Denn die Rollentheorien können das intuitiv geleitete Psychodrama nur unzureichend theoretisch begründen. Schacht (2003 und 2009) hat versucht, die in sich widersprüchlichen Rollentheorien des Psychodramas zu systematisieren und die psychodramatischen Vorgehensweisen in Anlehnung an Moreno (1946, 1985, S. 64, S. 74 ff.) von der Rollenentwicklung des Kindes abzuleiten. Er integrierte in seine Überlegungen Konzepte anderer Schulen, insbesondere die »psychoanalytischen Erkenntnisse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik zur Persönlichkeitsstruktur (Arbeitskreis OPD, 2006)« (Schacht, 2009, S. 13), psychoanalytische »Arbeiten zur strukturbezogenen Psychotherapie von Rudolf (1998, 2004, 2006)« und die Entwicklungsniveaus von Selman (1984). Auf dieser Basis erarbeitete er Konzepte für ein rollentheoretisch begründetes psychodramatisches Störungsverständnis und für störungsspezifische Therapieprozesse. Schacht übersetzte bei seiner Integration anderer Konzepte in das Psychodrama viele Ideen aus psychodynamisch orientierten Methoden in Rollenbegriffe und kleidete sie damit äußerlich neu ein. So wurde bei ihm aus dem Denken im »psychischen Äquivalenzmodus« in Anlehnung an Moreno das Handeln in der »psychosomatischen Rolle« (Schacht, 2009, S. 22 f.), aus dem

Konzeptualisierung der Psychodramatherapie nach Schacht

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Denken im »Als-ob-Modus« das Denken in der »psychodramatischen Rolle« (Schacht, 2009, S. 23) und aus der »Integration von Äquivalenzmodus und Alsob-Modus« das Denken in der »soziodramatischen Rolle« (Schacht, 2009, S. 25). Den Begriff »Abwehrmechanismen« übersetzte er mit »perfekte Ziele« (Schacht, 2009, S. 92 ff.), aus »Übertragung« wurde »die vertraute Rollenkonfiguration« (Schacht, 2009, S. 240, 242), aus dysfunktionalen Denk- und Handlungsmustern wurden »desintegrierte Rollen« (Schacht, 2009, S. 270), aus dem Bewusstwerden eines dysfunktionalen Handlungsmusters wurde eine »Rollendistanz« (Schacht, 2009, S. 270), die dem Patienten neue Wahlmöglichkeiten verschafft. Aus dem »Prozess der inneren Umstellung eines Patienten« wurde der »status nascendi« (Schacht, 2009, S. 332). In der rollentheoretisch begründeten Psychodramatherapie nach Schacht orientiert sich die Therapeutin bei der Leitung des psychodramatischen Spiels aber weiterhin einseitig auf die Veränderung der inneren Selbstrepräsentanz des Patienten in seinem Konflikt. Der Patient soll, abhängig von seinem jeweiligen strukturellen Niveau, die Rollenentwicklung seiner inneren Selbstrepräsentanz nachholen und vollenden vom Denken im Äquivalenzmodus in der »psychosomatischen Rolle« über das Denken im Als-ob-Modus in der »psychodramatischen Rolle«, das mit dem Denken im Äquivalenzmodus alterniert, zum Denken in der »soziodramatischen Rolle«, in der der Patient den Äquivalenzmodus und den Als-ob-Modus des Denkens aufeinander bezogen benutzt und somit integriert. Schacht versäumte in seiner theoretischen Konzeptualisierung der Psychodramatherapie aber, theoretisch den qualitativ entscheidenden Schritt zu gehen und zu sagen, dass die zentralen Psychodramatechniken schon durch sich selbst den Prozess der Rollenentwicklung verwirklichen. Die Psychodramatechniken müssen »nur« störungsspezifisch eingesetzt werden, damit die Patientinnen und Patienten ihre von außen wahrnehmbare Rolle, nach Moreno definiert als das Ergebnis ihres Mentalisierens, weiterentwickeln. Es braucht keine zusätzlichen Interventionen. Die Rollenentwicklung geschieht schon durch die Anwendung der Psychodramatechniken selbst. Schacht vernachlässigt durch seinen auf die Entwicklung der inneren Selbstrepräsentanz des Patienten im Spiel zentrierten Blick, theoretisch auch die Entwicklung der inneren Objektrepräsentanz des Patienten durch Psychodramatechniken zu erfassen. Das wirkt sich auf die praktische Arbeit aus. Er arbeitet mehr als nötig individuumzentriert übend, unterbricht zum Beispiel das psychodramatische Spiel bei Bedarf und interveniert verbal statt psychodramatisch. So achtet Schacht zum Beispiel in der Behandlung von depressiv neurotischen Patienten darauf, dass diese, um im psychodramatischen Spiel als Protagonistin oder Protagonist durch den Rollentausch den nächsten Schritt der Rollenentwicklung zu gehen, das Verhalten

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

ihrer Konfliktpartner zeigen (Schacht, 2009, S. 324 f.) und die Perspektivübernahme üben (Schacht, 2009, S. 319 f.). Auch fragt Schacht die Patienten verbal »immer wieder, ob sie wirklich ›am längeren Hebel sitzen‹«, und meint, »nur wenn dies der Fall ist, sollte man versuchen, ein Ziel gegen die Interessen von anderen durchzusetzen« (Schacht, 2009, S. 325). In der mentalisations-basierten Psychodramatherapie lässt die Therapeutin in der Behandlung von depressiv neurotischen Patienten stattdessen den Patienten im Rollentausch (siehe Kap. 8.4.1, 8.4.5 und 8.4.8) selbst die innere Realität der inneren Objektrepräsentanz seines Konfliktpartners denkend und fühlend erkunden und weiterentwickeln und den gesamten Prozess seiner Konfliktverarbeitung zwischen seiner inneren Selbstrepräsentanz und seiner Objektrepräsentanz systembezogen im Als-ob-Modus des Spiels ausdifferenzieren, erweitern und probatorisch sinngebend zu Ende führen. Der Patient bekommt dadurch Zugang zu der Aktualisierungstendenz seines Selbst (siehe Kap. 8.1) und wird Kreator in seiner eigenen Konfliktverarbeitung, die Therapeutin wird zur Kokreatorin (siehe Abb. 6). Dabei befreit der Rollentausch den Patienten in seinen inneren Beziehungsbildern systematisch aus seiner Fixierung in die Abwehr durch Introjektion und Projektion und aus seiner Identifizierung mit dem Angreifer (siehe Kap. 8.4 und Fallbeispiel 56). Der Patient entwickelt so eine veränderte Hypothese über die Realität und die Ursache und Wirkung in seinem Beziehungskonflikt (siehe Kap. 2.2). Diese neue Hypothese hilft ihm, in der nächsten realen Begegnung mit seinem Konfliktpartner das Geschehen in der Interaktion realitätsnäher einzuschätzen und stimmiger zu steuern. Zentraler Gedanke Das psychodramatische Spiel lässt, rollentheoretisch gedacht, die Patientinnen und Patienten durch seinen Als-ob-Charakter schon durch sich selbst die »psychodramatische Rolle« einnehmen und entwickeln. Das gilt auch für Patienten mit strukturellen Störungen.

Abbildung 6: Vom Objekt des Geschehens zum Kreator in der eigenen Konfliktverarbeitung werden

Konzeptualisierung der Psychodramatherapie nach Schacht

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In der rollentheoretisch begründeten Psychodramatherapie von Patienten mit strukturellen Störungen (siehe Kap. 4) nach Schacht soll die Therapeutin den Patienten durch verbale, markierende Spiegelung gleichsam wie eine gute Mutter die fehlenden Schritte seiner »Rollenentwicklung« in der therapeutischen Beziehung nachholen lassen. Sie lässt sich in ihrem Denken und Fühlen spielerisch auf das jeweilige strukturelle Niveau des Mentalisierens des Patienten ein, passt sich in Mimik und Gestik dem Leidensgefühl des Patienten an und antwortet ihm verbal komplementär gleichsam als gutes Hilfs-Ich (Schacht, 2009, S. 270 f.). Dazu muss die Therapeutin die von dem Patienten an sie delegierten Ich-Zustände in ihr Ich aufnehmen, diese in Identifikation mit der Selbstorganisation des Patienten gesund erwachsen denkend spielerisch in sich zulassen und ihr Erleben achtsam in Form von Ich-Botschaften verbalisieren. Dieses Vorgehen ist durchaus hilfreich und sollte von allen Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten als zusätzliche therapeutische Interventionstechnik gelernt werden (siehe Kap. 5.15). Es ähnelt dem »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.) aus der Psychoanalyse. Dieses verbale komplementäre Antworten in der Behandlung von strukturellen Störungen (siehe Kap. 4.4–4.11) nutzt aber nicht die besonderen Möglichkeiten des psychodramatischen Spiels. Im mentalisations-basierten Psychodrama stellt die Therapeutin die miteinander im Konflikt dysfunktional zusammenarbeitenden Ich-Zustände des Patienten getrennt voneinander als leere Stühle auf der Zimmerbühne auf und benennt sie zusammen mit dem Patienten entsprechend ihrer jeweiligen Funktion im Zusammenhang der strukturellen Störung seiner psychischen Selbstorganisation, zum Beispiel als »Selbstschutzverhalten« oder als »selbstverletzendes Denken« (siehe Abb. 11 und Kap. 4.7). Anschließend lässt sie den Patienten spielerisch die Arbeit seiner einzelnen Ich-Zustände im Konflikt nachvollziehen und diese durch psychodramatischen Dialog miteinander in Interaktion treten. Dadurch gibt der Patient jedem IchZustand seinen je eigenen Sinn im Zusammenhang mit den anderen Ich-Zuständen. Der Patient bekommt Zugang zu seiner dysfunktionalen Aktualisierung seines Selbst und erlebt diese als von ihm selbst steuerbar (siehe Kap. 4.10). Durch die Stühlearbeit versteht die Therapeutin den Patienten besser, aber auch der Patient selbst versteht sich auf neue Weise, gewinnt dadurch seine Würde als Mensch zurück und entwickelt im Spiel den »Aspekt des Schöpfers zum eigenen Leben« (Moreno, 1970, S. 78). Die Therapeutin tritt dabei im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels als Doppelgängerin mit ein in die Prozesse der inneren Konfliktverarbeitung des Patienten, je größer die Defizite seines Mentalisierens sind, umso aktiver, bis hin zum stellvertretenden Mentalisieren (siehe Fallbeispiel 10 in Kap. 4.6). Dadurch wird das Leben für den Patienten

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Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

tendenziell zu einem selbst geschaffenen Werk (Simone de Beauvoir, zitiert nach Andreas Kruse, 2012, mündliche Mitteilung). Fallbeispiel 7: Ein 20-jähriger Patient, Herr B., berichtete im Erstgespräch von quälenden Zwangsgedanken. Beim Autofahren fürchtete er bei jeder Bodenwelle, dass er mit seinem Auto eine fremde Person überfahren hätte. Er überprüfte das im Rückspielgel, fuhr aber doch mit dem Auto auch immer wieder einmal zurück, um seine Befürchtung zu entkräften. Er tat das, obwohl er »natürlich wusste, dass das Überfahren von einem Passanten sich anders anfühlen müsste und dass er den ja hätte sehen müssen«. Der Therapeut konkretisierte mit leeren Stühlen die drei alternierenden Ich-Zustände, die an der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation des Patienten beteiligt waren: Gegenüber von Herrn B. positionierte er einen »sadistischen Quälgeist, der ihm die Bedrohungsgedanken eingibt«, und stellte für diesen in Abstimmung mit ihm die Handpuppe eines aggressiv blickenden roten Teufels auf den Stuhl. Dem Patienten an die Seite stellte er einen anderen Stuhl für seine Zwangshandlungen und interpretierte diese positiv um in ein Selbstschutzverhalten: »Diese Handlungen helfen Ihnen, aktiv zu überprüfen, ob Sie die von dem Quälgeist angedrohten Taten wirklich begangen haben. Dadurch bewahren Sie sich vor dem Vorwurf der Fahrerflucht und dem Führerscheinentzug.« Der Therapeut deutete dann mit der Hand auf Herrn B.: »Zusätzlich gibt es Sie aber auch noch als jemand, der gesund erwachsen denkt. Wie Sie sagten, wissen Sie natürlich, dass das Überfahren eines Menschen sich eigentlich anders anfühlen würde, und finden diese Gedanken realitätsfern.« Der Patient staunte über diese Interpretation seiner dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation und fühlte sich erleichtert. Vor der Aufstellung war das Zurückfahren mit dem Auto ihm sinnlos erschienen, weil er ja wusste, dass er eigentlich keinen Menschen überfahren haben konnte. Durch die Aufstellung bekam aber jeder seiner drei Ich-Zustände im Gesamtzusammenhang seiner psychischen Selbstorganisation einen Sinn, und er gewann Zugang zu sich als Kreator in seiner dysfunktionalen Selbstorganisation. Im Verlauf der weiteren Therapie entpuppte sich der »Quälgeist« für ihn als innere Repräsentanz einer sadistischen Bezugsperson aus seiner Kindheit (Fortsetzung in Kapitel 7.2). Zentraler Gedanke Rollentheoretisch denkende Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten laufen Gefahr, die Psychodramatherapie in individuumzentriertes, übendes Rollenspiel zu verwandeln und die therapeutischen Wirkungen der Psychodramatechniken nicht ausreichend zu nutzen.

Konzeptualisierung der Psychodramatherapie nach Schacht

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Immer wieder sehen Therapeutinnen und Therapeuten anderer Psychotherapieschulen, wie Psychodramatherapeutinnen praktisch arbeiten, und integrieren psychodramatische Techniken in ihre anderen Methoden. Sie markieren diese dann mit den in ihren Schulen üblichen Interpretationsfolien und verstehen sie anschließend als zu ihren Methoden zugehörige Techniken. Das geschieht zum Beispiel in der systemischen Therapie (Bleckwedel, 2008; Klein, 2010; Lauterbach, 2007; Liebel-Fryzer, 2010), in der integrativen Therapie (Petzold, 2004), in den Rollenspielen der Verhaltenstherapie, in der Schematherapie (Arntz und van Genderen, 2010), in der Pesso-Therapie oder in der Dramatherapie (Jennings, Cattanach, Mitchell, Chesner und Meldrum, 1994). Die rollentheoretische Begründung der Psychodramatherapie hilft wenig, die Interpretationshoheit über die psychodramatischen Vorgehensweisen zu behalten. Denn die dabei benutzten privatsprachlich anmutenden Rollenbegriffe schließen die rollentheoretisch denkende Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker aus dem wissenschaftlichen Diskurs weitgehend aus. Zentraler Gedanke Anders als die rollentheoretisch begründete Konzeptualisierung des Psychodramas ist das in diesem Buch benutzte Verständnis des Psychodramas als mentalisations-basierte Therapiemethode in der Welt der Psychotherapie von seiner Begrifflichkeit her wissenschaftlich anschlussfähig. Das ermöglicht, die Definitions- und Deutungshoheit über unsere psychodramatischen Methoden wiederzugewinnen und zu behalten. Es stärkt unsere eigene Identität als Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker und verschafft dem Psychodrama mehr Anerkennung als wissenschaftlich begründetes Therapieverfahren.

3  Der Prozess der Krankheitsentwicklung

3.1  Symptomdiagnose und Prozessdiagnose Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten orientieren sich bei der Einteilung der psychischen Erkrankungen in Deutschland mehrheitlich an der ICD10 (2004). Das ist die »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«. Sie teilt die psychischen Erkrankungen vorwiegend nach Art und Schwere der Krankheitssymptomatik ein. Die Diagnosebegriffe der ICD sind nützlich zur Kennzeichnung dessen, was man als Krankheit verstehen will, zur wissenschaftlichen Verständigung, zur Organisation der Therapie und zur Klärung der Kostenübernahme für die Behandlung mit den Krankenkassen. In der praktischen psychotherapeutischen Arbeit orientieren sich Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten jedoch stärker an den Prozessen der Krankheitsentwicklung als an den Krankheitssymptomen. Die Entwicklung von psychischen Krankheitssymptomen ist, wenn es sich nicht um eine angemessene Anpassungsreaktion an belastende äußere Lebensumstände oder eine körperliche Erkrankung handelt, das Ergebnis von Störungen des Mentalisierens und der Selbstorganisation des Betroffenen. In der systembezogenen, prozessorientierten Psychodramatherapie versucht die Therapeutin, das dysfunktionale Mentalisieren der Patienten im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels frei-kreativ werden und den Patienten so die Dysfunktionalitäten seiner Konfliktverarbeitung aufheben zu lassen (siehe Kap. 2.2). Bei der Planung ihrer psychodramatischen Vorgehensweisen orientiert sich die Therapeutin deshalb an Prozesspathologien und versteht, anders als wenn sie sich nur an den Symptomen eines Patienten orientieren würde, »psychische Störungen, auch die schwersten unter ihnen, […] nicht nur als Ausfallserscheinungen oder Defizite und Dysfunktionalitäten; sie sind in gewissem Sinne auch aktiv, wenn auch […] Prozesse mit eigenen, defensiven und/oder kompensatorischen Funktionen, und dürfen deswegen auch als funktionale dynamische Gebilde betrachtet werden« (Mentzos, 2011, S. 283).

Der kreative Prozess und seine vier verschiedenen Aspekte

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Die therapeutische Arbeit an psychischen Prozessen führt anders als die Arbeit an Symptomen zu einerm Verständnis des einzelnen Individuums als ein sich psychisch selbst organisierendes System. Die »Person« eines Individuums ist, wie Kriz (2014, S. 129) es in seinem Konzept der Personenzentrierten Systemtheorie definiert, zu verstehen »als die einem je einzelnen Menschen zugeschriebene ganzheitliche organisierte Struktur seiner Individualität. Damit ist die Einmaligkeit gemeint, mit der jeder Mensch im Vollzug seiner Lebensprozesse seine Beziehungen zur Welt insgesamt, zu anderen Menschen und zu sich selbst gestaltet. Hierbei lassen sich je nach Interesse und Fragestellung unterschiedliche Teilprozesse unterscheiden, zum Beispiel seine Wahrnehmungen, deren Bewertungen, seine (semantischen, autobiographischen, prozeduralen etc.) Gedächtnisprozesse, sein Bewusstsein und die mentalen Prozesse, sein Verhalten und Handeln, seine kommunikativen und interaktiven Prozesse, seine Teilhabe an medialen und kulturellen Prozessen.« Indem die Therapeutin bei ihrer Arbeit den Menschen als ein sich psychisch selbst organisierendes System versteht, verwirklicht sie das Menschenbild des spontan-kreativen Menschen. Dieses misst »den selbstregulativen Prozessen auf allen Ebenen menschlichen (Er-)Lebens besondere Bedeutung bei« (Kriz, 2012, S. 317). Die Adaption dieser Prozesse findet »unter hinreichend günstigen Bedingungen ständig im Sinne von Assimilation und Akkomodation statt. […] Es geht also […] um das Aufgeben inadäquat gewordener zugunsten neuer, weniger leidvoller Prozessstrukturen. […] Unter weniger günstigen Entwicklungsbedingungen können einzelne Prozessebenen Muster […] aktualisieren, die als Not- oder nur Partial-Lösungen zur Bewältigung der Herausforderung dienen, die aber dysfunktional zu den anderen Prozessebenen und/oder nicht adaptiv für weitere Entwicklungen sind. So können beispielsweise die Strukturen des Selbstverstehens (also des reflexiven Bewusstseins) weniger das organismische Erleben oder gespürte Bedürfnisse symbolisieren, sondern Deutungen und Verstehensweisen der sozialen Umwelt (›Introjekte‹) […]. In Aktualisierung solcher dysfunktionalen (Teil-)Lösungen kommt es somit gegebenenfalls zur Symptombildung« (Kriz, 2012, S. 319).

3.2 Der kreative Prozess und seine vier verschiedenen Aspekte Ein kreativer Prozess der Konfliktverarbeitung und der psychischen Selbstorganisation umfasst immer vier zeitlich nacheinander auftretende Phasen (siehe Abb. 7): 1. Ein dynamisches Gleichgewicht der psychischen Selbstorga-

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Der Prozess der Krankheitsentwicklung

nisation gerät durch einen inneren oder äußeren Anpassungszwang in einen Konflikt. 2. In der Konfliktphase versucht der Betroffene, den Konflikt mit den ihm bekannten alten Lösungen zu bewältigen. Wenn diese für die Lösung des Konflikts unzulänglich sind, kommt es zu inneren Konfliktspannungen und zur Symptombildung. 3. Wenn die Konfliktspannungen immer weiter zunehmen, bricht irgendwann das alte Gleichgewicht in sich zusammen. Der Betroffene gerät in seiner Konfliktverarbeitung in eine krisenhafte Chaosphase. Er steuert sich vorübergehend nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Diese Phase der Konfliktverarbeitung wird im Psychodrama »status nascendi« oder »Spontaneitätslage« genannt (Moreno, 1946/1985, S. 104, Schacht, 2009, S. 72). 4. Dabei entstehen spontan immer wieder neue Lösungen. Wenn eine dieser neuen Lösungen von außen und/oder innen positiv bestätigt wird, dann verstetigt sich diese neue Lösung zeitlich. 5. Der Betroffene integriert die neue Lösung in das Repertoire seiner verfügbaren Konfliktlösungsstrategien bzw. in sein Repertoire der Prozessmuster seiner psychischen Selbstorganisation, und entwickelt ein neues dynamisches Gleichgewicht. Seine inneren Strukturen gewinnen dadurch an Komplexität (siehe Abb. 7) (Schacht, 1992, S. 100, Schacht, 2003, S. 21). Chaosphase Krise status nascendi Spontaneitätslage

Symptombildung Konfliktphase alte Lösungen

neue Lösung

neues altes dynamisches Gleichgewicht

Abbildung 7: Die vier Phasen eines kreativen Prozesses der Selbstorganisation

Zentraler Gedanke Wenn man die kreativen Prozesse der Konfliktverarbeitung verstehen und differenziert erfassen will, ist es hilfreich, vier verschiedene Blickwinkel zu unterscheiden und zu einem Zeitpunkt immer nur je einen davon einzunehmen (siehe Abb. 8). Man kann einen kreativen Prozess betrachten: 1. aus dem Blickwinkel

Der kreative Prozess und seine vier verschiedenen Aspekte

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der strukturellen Entwicklung, das ist die Entwicklung der inneren Prozessstrukturen und der im autobiografischen Gedächtnis repräsentierten Inhalte, 2. aus dem der energetischen Austauschprozesse, 3. aus dem Blickwinkel des Handelns und der interaktionellen Entwicklung zwischen den Prozessstrukturen bzw. den Interaktionspartnern und 4. aus dem Aspekt der funktionellen Organisation (Krüger, 1997, S. 24 ff.).

strukturelle Entwicklung energetische Austauschprozesse Handeln und Interaktion funktionelle Organisation

Abbildung 8: Die vier verschiedenen Aspekte eines kreativen Prozesses (Krüger, 1997, S. 25)

3.2.1  Der strukturelle Aspekt des Selbstorganisationsprozesses Zentraler Gedanke Der kreative Prozess der Konfliktverarbeitung entwickelt das Material eines Konflikts zu einer umfassenderen, sinngebenden Struktur weiter und integriert es. »Alle therapeutischen Vorgehensweisen führen Komplexität ein« (Kriz, 2014, S. 133).

Zum Beispiel »denken« in der störungsspezifischen Psychodramatherapie von psychoseerkrankten Menschen die Patienten im Als-ob-Modus des Spiels ihren Wahnkonflikt im Doppelgängerdialog und mit der Hilfswelttechnik zu sinngebenden Geschichten zu Ende, erweitern dabei ihre inneren Prozessstrukturen und können dadurch Fantasie und Wirklichkeit leichter voneinander trennen (siehe Kapitel 9.6.4, Fallbeispiel 81). Je komplexer die inneren Beziehungsbilder oder Prozessstrukturen eines Menschen werden, desto konfliktfähiger wird dieser. Denn mit der wachsenden Komplexität seiner inneren Strukturen werden die Differenziertheit und der Umfang der in den Strukturen enthaltenen inneren spontan-kreativen Prozesse größer (Sabelli, 1989, S. 166 f.; Schacht, 1992, S. 127). Umgekehrt kann man sagen: Je weniger komplex die inneren seelischen

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Der Prozess der Krankheitsentwicklung

Strukturen eines Menschen sind, je weniger also seine Gedächtnisinhalte und Prozessstrukturen miteinander integriert sind, desto weniger konfliktfähig ist er und desto eher dekompensiert er in Krisen. 3.2.2  Der Aspekt der energetischen Austauschprozesse Wenn ein Mensch in einen Konflikt gerät, kommt es zu psychophysischen und emotionalen Spannungen in seinen inneren Repräsentationen des Konfliktsystems. Diese Spannungen machen ihm den Konflikt als Konflikt bewusst. Die Energien seines Konfliktverarbeitungssystems zentrieren sich in diesem Konfliktsystem. Bei einem drohenden Arbeitsplatzverlust zum Beispiel sind die dazugehörigen Gedanken, Bilder und Gefühle energetisch so aufgeladen, dass der Betroffene eventuell Mühe hat, sich auf seine Arbeit oder zu Hause auf seine Kinder zu konzentrieren. Hohe Energiepotenziale im Konfliktsystem lassen den Betroffenen in seinem inneren Mentalisieren in dem Konfliktfeld probatorisch handeln und nach einer Konfliktlösung suchen. Das bedeutet: Je geringer die Energiepotenziale im inneren Konfliktsystem eines Betroffenen sind, desto geringer ist sein Leidensdruck und desto geringer sind damit auch seine Chancen zur Konfliktbewältigung. Je höher hingegen das in seinem Konflikt gebundene Energiepotenzial ist und je »lärmender« seine Symptomatik, desto besser sind auch seine Chancen zur Konfliktbewältigung. In der psychodramatischen Arbeit wird der therapeutische Umgang mit den energetischen Potenzialen in Konflikten unter dem Stichwort »Erwärmung« (Leutz, 1974, S. 95 ff.), warming up, abgehandelt. So kann die Therapeutin zum Beispiel am Beginn einer Therapiesitzung die Gruppenmitglieder in Anwärmübungen durch Handeln die Energiepotenziale ihres Fühlens und Denkens aktivieren lassen. Das steigert die Energiepotenziale in deren inneren Konfliktfeldern. Wenn ein Patient seinen Konflikt danach im psychodramatischen Spiel protagonistzentriert bearbeitet, vergrößert sich das Energiepotenzial in seinem inneren Konfliktsystem noch zusätzlich dadurch, dass die Therapeutin und die Gruppenmitglieder ihn in seinem Konflikt sehen, verstehen, doppeln, haltgebend empathisch begleiten und als Hilfs-Ichs in seinem psychodramatischen Spiel aus den jeweiligen Gegenrollen heraus seine innere Konfliktverarbeitung dynamisieren. Der Protagonist nutzt seine so aufgeladenen Konfliktenergien zum Handeln im Spiel und über den Regelkreis zwischen dem äußeren Spiel und dem inneren Mentalisieren (siehe Kap. 2.2) auch zur inneren Konfliktverarbeitung. Das differenzierte Denken, Fühlen, Handeln und Wahrnehmen des Protagonisten im Spiel aktiviert bisher nicht genutzte Bereiche seines Gehirns und vergrößert so die Zahl der am Mentalisieren beteiligten Prozessstruktu-

Der kreative Prozess und seine vier verschiedenen Aspekte

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ren. Dadurch können zum Beispiel destruktive Aggressionen zu konstruktiven Aggressionen umgewandelt werden (Krüger, 2007b, S. 29 ff.). Schon Moreno (1959, S. 251) stellte fest: »Jeder krankhafte Erwärmungsprozess, der ein kleines Gebiet der Persönlichkeit betrifft, kann aufgesaugt und aufgehoben werden durch einen Erwärmungsprozess, der eine weitere Ausdehnung hat, aber diesen kleineren Teil in sich einschließt.« Moreno nannte dieses Prinzip »Erwärmungsregel«. Bei hohen energetischen Spannungen in dem Konfliktsystem kann das »Stirb-und-Werde« (Kriz, 2014, S. 134) bei der Umwandlung der inneren Strukturen von einer Katharsis mit Weinen oder Lachen begleitet sein. 3.2.3  Der Aspekt der Handlung in kreativen Prozessen Je geringer die Aktivität des Handelns in der Realität und in der Fantasie ist, desto weniger konfliktfähig ist der Mensch. Handeln kreiert Interaktionszusammenhänge und hilft dadurch, die Realität in dem Konfliktsystem zu erfassen und diese von Fantasien und unzutreffenden Interpretationen zu unterscheiden. Schulte-Markwort hat einmal von einer Längsschnittstudie berichtet (SchulteMarkwort, 2002, mündliche Mitteilung über die Kauai-Längsschnittstudie von Werner und Smith, 2001), in der man versucht hat, schon bei Säuglingen Kriterien zu finden, die helfen, vorauszusagen, wie ihre psychische Gesundheit im Erwachsenenalter sein würde. Das aussagekräftigste Kriterium, das man fand, war das Aktivitätsniveau der Kinder: Je höher das Aktivitätsniveau eines Säuglings war, desto seltener traten später psychische Krankheiten auf. Dieser Zusammenhang lässt sich aus der einfachen Tatsache erklären, dass man innerlich und äußerlich handeln muss, um Konflikte zu verarbeiten bzw. zu lösen. Menschen mit einem geringen Aktivitätsniveau sind zum Beispiel in einer schwer zu bewältigenden Stresssituation stärker als andere gefährdet, traumatisiert zu werden. Wenn ein Betroffener in einer solchen Situation nicht kämpfen und aber auch nicht fliehen und somit also nicht handeln kann, wirkt sich diese Situation auf ihn traumatisierend aus (siehe Kap. 5.2). 3.2.4  Der funktionelle Aspekt Ein vierter Aspekt des kreativen Prozesses ist der der funktionellen Prozessorganisation, der durch die Arbeit des Mentalisierens vollzogen wird (siehe Kap. 2.2). Mentalisieren ist die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere situationsbezogen versteht, mit der er Konflikte verarbeitet, nach angemessenen bzw. neuen Konfliktlösungen sucht und seine Handlungen plant.

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Der Prozess der Krankheitsentwicklung

Zentraler Gedanke Die Fähigkeit zum angemessenen Mentalisieren kann bei psychischen Erkrankungen gestört sein: 1. durch Blockaden des Mentalisierens bei neurotischer Konfliktverarbeitung (siehe zum Beispiel Kap. 8.4.1), 2. durch Defizite des Mentalisierens, wenn zum Beispiel bei strukturellen Störungen die Werkzeuge des Mentalisierens nicht ausreichend entwickelt sind (siehe Kap. 4.4), und 3. durch den Zerfall des Mentalisierens, wie er zum Beispiel bei einer psychotischen Dekompensation eintritt (siehe Kap. 9.2). +|KHGHULP.RQÀLNWV\VWHP JHEXQGHQHQ(QHUJLHSRWHQ]LDOH .RPSOH[LWlW GHU6WUXNWXUHQ

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Abbildung 9: Die Faktoren der Fähigkeit zur Konfliktbewältigung

Man kann die unterschiedliche Größe der Fähigkeit der Konfliktbewältigung für einzelne Patienten bildhaft veranschaulichen (siehe Abb. 9 und 10): Die Therapeutin malt dazu auf ein Blatt Papier ein Koordinatenkreuz. Jede der vier Achsen steht für einen der vier Aspekte der psychischen Selbstorganisation. Entlang eines Schenkels nimmt, vom Schnittpunkt des Koordinatensystems aus betrachtet, die Ausprägung des jeweiligen Aspektes des Selbstorganisationsprozesses von 0 bis zum Maximalwert 100 stetig zu. Die Therapeutin schätzt auf dieser 100-Punkte-Skala jeden der vier Faktoren der Fähigkeit ihres Patienten zur angemessenen Selbstorganisation quantitativ ein: 1. die Komplexität der am Konflikt beteiligten inneren Strukturen des Patienten, 2. die Höhe des in seinem Konfliktsystem gebundenen Energiepotenzials, 3. das Aktivitätsniveau seines Handelns in der Realität und in der Fantasie und 4. seine Fähigkeit zum angemessenen Mentalisieren. Dann trägt sie diese Werte in ihrer jeweiligen Größe im Koordinatensystem ein und verbindet die für ihren Patienten auf den vier Schenkeln zutreffenden Markierungen miteinander. Es entsteht eine Fläche mit vier Ecken. Die Größe dieser Fläche gibt der Therapeutin Auskunft über die Größe der Fähigkeit ihres Patienten zur Konfliktverarbeitung und Konfliktbewältigung. Bei einem hebephren psychotischen Patienten zum Beispiel sind alle vier Faktoren der Konfliktbewältigung relativ gering entwickelt, die Komplexität der psychischen Strukturen, die Höhe der Energiepotenziale in seinen Konflikten, sein

Die Störungen des Mentalisierens als Zweitdiagnose

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Aktivitätsniveau und die Differenzierung seines Mentalisierens (siehe Abb. 10). Bei der Verbindung der Punkte auf den Koordinaten entsteht in diesem Fall um den Nullpunkt herum eine nur kleine Fläche. Das weist darauf hin, dass der Patient nur sehr geringe Fähigkeiten zur Konfliktverarbeitung und Konfliktbewältigung hat. Bei einem Gesunden, der seine Konflikte gut bewältigen kann, würde das Viereck um den Nullpunkt herum die Schenkel des Koordinatensystems hingegen jeweils bei einem Wert von 80–90 schneiden (siehe Abb. 10). Ein geringer Wert in einem einzelnen Aspekt des kreativen Prozesses der psychischen Selbstorganisation ist jedoch nicht automatisch gleichbedeutend mit einer verminderten Fähigkeit auch in den anderen drei Aspekten. Zum Beispiel wird jemand, der neurotisch depressiv ist, ein vermindertes Aktivitätsniveau im Handeln haben, er kann aber durchaus ein hohes Energiepotenzial in seinem Konfliktsystem, eine hohe Differenzierung der funktionellen Organisation und eine hohe Komplexität der inneren Strukturen besitzen (siehe Abb. 10).

3.3  Die Störungen des Mentalisierens als Zweitdiagnose Je schwerer das Mentalisieren und die psychische Selbstorganisation eines Patienten gestört sind, desto schwerer psychisch krank ist er. Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stellen bei ihren Patientinnen und Patienten deshalb inzwischen zwei qualitativ verschiedene Diagnosen, eine an den Symptomen orientierte Diagnose nach der ICD-10 und dazu eine zweite Diagnose, die das Ausmaß der Störung des Mentalisierens und der Selbstorganisation verdeutlicht, also die Schwere einer eventuell vorhandenen strukturellen Störung (siehe Kap. 4.4). Die strukturelle Diagnose richtet die Aufmerksamkeit der Therapeutin nicht auf die Symptomatik, sondern »auf spezifische psychische Funktionsweisen bzw. Dysfunktionen« (Rudolf, 2006, S. 3). Im Gegensatz dazu geben zum Beispiel die ICD-10-Diagnosen »depressive Episode« leichten, mittleren oder schweren Grades keine Auskunft darüber, ob es sich bei der betreffenden Depression um eine depressiv neurotische Entwicklung ohne Defizite des Mentalisierens handelt (siehe Kap. 8.4) oder um eine Depression mit Defiziten des Mentalisierens, wie sie zum Beispiel oft bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, einer Traumafolgestörung oder einer Suchterkrankung zu finden ist (siehe Kap. 4.3, 5.2 und 10.5). Strukturelle Diagnosen sind das Ergebnis eines systembezogenen, prozessorientierten Denkens der Therapeutin. Sie beschreiben Funktionsweisen der Patienten.

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Der Prozess der Krankheitsentwicklung

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Abbildung 10: Die Fähigkeit zur Konfliktbewältigung bei psychischen Erkrankungen

Die Störungen des Mentalisierens als Zweitdiagnose

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Zentraler Gedanke In der praktischen psychodramatischen Arbeit sind abhängig von dem jeweiligen Schweregrad der strukturellen Störung der Patientinnen und Patienten und dem Ausmaß der Störung ihres Mentalisierens unterschiedliche Vorgehensweisen indiziert (siehe Abb. 2). Es empfiehlt sich, vier verschiedene Prozessstörungen zu unterscheiden (siehe Abb. 20 in Kap. 8.2): 1. vorübergehende, durch Aktualkonflikte ausgelöste Blockaden des Mentalisierens, 2. dauerhafte, durch neurotische Konflikte ausgelöste Blockaden des Mentalisierens, 3. Identitätskonflikte bei einer strukturellen Störung der psychischen Selbstorganisation durch Defizite des Mentalisierens und 4. den Zerfall des Mentalisierens bei psychotischen Erkrankungen.

1. In Aktualkonflikten kann durch eine vorübergehende Blockade des Mentalisierens die Aktualisierung des Selbst oder die Anpassungsfähigkeit in einem zentralen Lebensbereich eingeschränkt sein infolge einer real vorhandenen Belastungs- oder Umstellungssituation. Die Patienten können die Wirklichkeit und das Ausmaß ihres Konfliktes nicht ausreichend wahrnehmen. Oder sie nehmen den Konflikt zwar angemessen wahr, können ihn aber nicht bewältigen oder/und sich selbst nicht ausreichend würdigen für das, was sie bei ihrer Konfliktbewältigung leisten. Therapeutisch wichtig ist es dann, dem Patienten zu helfen, das Geschehen in seinem Konflikt realitätsgerecht wahrzunehmen und mit ihm das reale Ausmaß und die realen Folgen des Konfliktgeschehens differenziert herauszuarbeiten. Dabei erfasst die Therapeutin von dem Patienten schon selbst gefundene Bewältigungsmöglichkeiten, würdigt diese angemessen und aktiviert so therapeutisch die gesund erwachsenen Konfliktlösungskompetenzen des Patienten. Auf diese Weise kann der Patient die Blockade seines Mentalisierens im Aktualkonflikt auflösen, und er wird in seinem Konflikt wieder angemessen handlungsfähig. 2. Eine dauerhafte Blockade einzelner oder mehrerer Funktionen des Mentalisierens führt zu einer neurotischen Konfliktverarbeitung. Die Patienten sind bei ihrer Konfliktverarbeitung seit der Kindheit in alte Prozessmuster bzw. in eine alte Abwehr fixiert. Diese hindern sie in der Gegenwart, ihre Konflikte angemessen auszutragen, sich selbst zu behaupten und in Beziehungen sich selbst und auch dem jeweils anderen gerecht zu werden. Aufgabe der Therapie ist es dann, die seit der Kindheit bestehenden Blockaden des Mentalisierens in den inneren Beziehungsbildern aufzulösen. Das gelingt bei einer neurotischen Depression zum Beispiel dadurch, dass die Therapeutin den Patienten einen fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch mit der

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Der Prozess der Krankheitsentwicklung

inneren Objektrepräsentanz seiner Konfliktpartnerin führen lässt und dabei mit ihm über die Realität hinaus probatorisch eine systemisch gerechtere Beziehungsverwirklichung erarbeitet (siehe Kap. 8.4.3). 3. Bei Defiziten des Mentalisierens fehlen dem Patienten Werkzeuge zur Konfliktverarbeitung, zum Beispiel durch Beziehungstraumata in der Kindheit (siehe Kap. 5.2). Es kommt zu Identitätskonflikten durch strukturelle Störungen der psychischen Selbstorganisation, weil die Prozessstrukturen der Selbstorganisation fragmentiert und nicht aufeinander bezogen arbeiten (siehe Kap. 4.10). Das führt sekundär zu schweren Beziehungsstörungen. Therapeutisch ist es dann angezeigt, die dysfunktional arbeitenden Prozessstrukturen der psychischen Selbstorganisation mit der Stühlearbeit äußerlich als Ich-Zustände zu repräsentieren (siehe Kap. 4.7), sie in ihrer jeweiligen Funktion im Gesamtzusammenhang der dysfunktionalen Selbstorganisation zu benennen, diese Funktion im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels erlebbar und zum Gegenstand des Denkens im Als-ob-Modus zu machen und sie durch Verbesserung ihrer Zusammenarbeit zu einem aufeinander abgestimmten Arbeitssystems umzuformen (siehe Kap. 4.10). 4. Ein Zerfall des Mentalisierens tritt zum Beispiel ein bei der Dekompensation in eine Psychose oder in ein psychosenahes Zustandsbild. Solange das Ich des Patienten zusammengebrochen ist, kann dieser seine Konflikte innerlich nicht angemessen wahrnehmen und jede Arbeit an den Konflikten führt deshalb ins Leere (siehe Kap. 8.6 und 9.3). Das Ich des Patienten und sein Identitätsgefühl sind nur noch in der Steuerung des Symptoms zu finden (siehe Kap. 9.2). Bei Patienten mit derartigen Störungen versucht die Therapeutin deshalb, noch vor einer Traumatherapie oder einer Behandlung der Persönlichkeitsstörung im Doppelgängerdialog mit in die Symptomsteuerung des Patienten hineinzugehen, dem Patienten als Doppelgängerin in seiner Selbstorganisation Halt zu geben und sein Mentalisieren im Wahnkonflikt weiterzuentwickeln, sodass er darin Realität und Fantasie wieder unterscheiden lernt (siehe Kap. 9.6.1).

4  Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

4.1  Was sind Persönlichkeitsstörungen? Die diagnostische Kategorie der »Persönlichkeitsstörungen« (ICD-10 F60–F62) umfasst Krankheitsbilder, die weder zu den Psychosen noch zu den Neurosen gehören. Das Besondere an ihnen ist, dass sie sich nicht durch spezielle Symptome oder Kombinationen von Symptomen definieren. Sie stellen vielmehr »überdauernde Muster von Erlebens- und Verhaltensweisen dar, welche […] von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und […] mehr durch Charakterzüge und weniger durch Funktionsstörungen definiert werden« (Mentzos, 2011, S. 149). Nach dem DSM-IV manifestieren sich solche überdauernden Muster »in mindestens zwei der folgenden vier Bereichen: Kognition, Affektivität, Gestaltung zwischenmenschlicher emotionaler Reaktionen, Impulskontrolle […]. Die Muster sind stabil und lang dauernd und beginnen spätestens in der Adoleszenz« (Mentzos, 2011, S. 151 f.). Zu den heute als »Persönlichkeitsstörungen« bezeichneten Krankheitsbildern gehören nach Mentzos (2011, S. 150) die früher so bezeichneten »Borderline-Zustände«, »Psychopathien«, »abnorme Persönlichkeiten«, »Charakterneurosen« und »narzisstischen Persönlichkeitsstörungen«. Bei den Persönlichkeitsstörungen unterscheidet Mentzos (2011, S. 157 ff.) die paranoide Persönlichkeitsstörung, die schizoide, die schizotypische, die dissoziale, die narzisstische, die hyperthyme, die abhängige, die histrionische, die selbstunsichere, die depressive, die zwanghafte und die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die häufigste Form sei die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bei dieser findet man nach der ICD-10 F60.31 zusätzlich zu einer emotionalen Instabilität und mangelnder Impulskontrolle auch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen, ein chronisches Gefühl der Leere, intensive, aber unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sind je nach Studie zu 30–90 % traumatisiert (Gunkel, 1999, S. 54 ff.). In der Phase der Diagnostik

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

ist deshalb immer auch nach Beziehungstraumata in der Kindheit und/oder Traumaerfahrungen im Erwachsenenalter zu suchen, um gegebenenfalls Elemente der Traumatherapie (siehe Kap. 5) mit in die Behandlung aufzunehmen. Die Therapeutin sollte ihre Patientinnen und Patienten immer auch aktiv nach Alkoholmissbrauch oder anderen Süchten sowie abnormen Gewohnheiten (ICD F10–F19, F63 und F65) fragen, die bei etwa 30 % der Patienten mit Persönlichkeitsstörungen vorliegen. Solche Suchtstörungen sind schon am Anfang mit in die Behandlung einzubeziehen (siehe Kap. 10.6.6). Denn unbehandelt verhindern sie den Erfolg der Therapie.

4.2 Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen In der psychodramatischen Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen gelingt der intuitive Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen der Therapeutin und dem Patienten spontan entweder gar nicht oder nur kurzfristig. Denn diese Patienten leiden unter einer Störung der Integration ihrer psychischen Selbstorganisation. Auffällig ist bei ihnen nicht, welche Probleme sie nennen, sondern wie sie über ihre Probleme reden und wie sie sich in der therapeutischen Beziehung steuern, also ihr unbewusster Umgang mit den von ihnen dabei benutzten Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsmustern. Der Mensch benutzt in seiner psychischen Selbstorganisation viele verschiedene Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsmuster. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen aber können zwischen diesen nicht angemessen hin und her wechseln, weil ihre psychische Selbstorganisation latent fragmentiert ist und weil sie sich zur Selbststablisierung deshalb einseitig an bestimmte Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsmuster klammern. Gewöhnlich macht der Mensch die Prozessmuster seiner psychischen Selbstorganisation nicht zum Gegenstand seines Mentalisierens. In der Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen und strukturellen Störungen ist es aber therapeutisch hilfreich, genau das zu tun. Dazu empfiehlt es sich, die große Komplexität der psychischen Selbstorganisation des Menschen stark zu reduzieren und in Anlehnung an die psychoanalytischen Abwehrmechanismen ein ganzheitliches Arbeitssystem von vier potenziell dysfunktional arbeitenden Ich-Zuständen anzunehmen, die das gesunde Erwachsenendenken behindern können (siehe Abb. 11).

Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen

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Wichtige Definition Es gibt nach Putnam (1988, S. 24 ff.) Zustände des individuellen Bewusstseins, die sich um spezifische Affekte, Körperbilder, Arten der Kognition und der Wahrnehmung und um zustandsabhängige Erinnerungen und Verhaltensweisen zentrieren, die sich wiederholen und relativ stabil zu sein scheinen. Sie sind offenbar selbstorganisierende und selbststabilisierende Strukturen. Der Wechsel zwischen diesen Zuständen erfolgt eher diskontinuierlich als linear entlang eines quantitativen Kontinuums der Erregung und läuft eher versteckt ab. In Anlehnung an diese Theorie haben Watkins und Watkins (2003, S. 45) ein Konzept der Ich-Zustände entwickelt. Sie definieren einen Ich-Zustand »als ein organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen Ich-Zuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist«.

Ein gesunder Mensch wechselt, ohne es zu merken, zwischen den verschiedenen Ich-Zuständen seiner psychischen Selbstorganisation (siehe Kap. 4.7) frei hin und her und nutzt diese im Rahmen des ganzheitlichen Arbeitssystems seiner psychischen Selbstorganisation kreativ. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen aber sind in ihrer Selbstorganisation starr an ein dysfunktionales Muster der Zusammenarbeit ihrer Ich-Zustände gebunden und gelangen deshalb in Konflikten immer wieder zu derselben einseitigen dysfunktionalen Interpretation der Welt. Diese spezielle Art des Zusammenspiels ihrer Ich-Zustände war in ihrer Kindheit angemessen und hat ihnen damals geholfen, seelisch zu überleben. In der Gegenwart führt ihr starres Festhalten an den alten Prozessmustern aber zu mangelnder Konfliktverarbeitung und zu einer unangemessenen inneren Realitätskonstruktion. Ihr Selbst gerät in Widerspruch mit ihren gegenwärtigen Erfahrungen. Rogers (2009, S. 61) nennt diese Diskrepanz »Inkongruenz«. Die Ich-Zustände der Betroffenen arbeiten dysfunktional zusammen und behindern sich gegenseitig in ihrer Arbeit. Zum Beispiel neigen Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung dazu, ihre Bezugspersonen zur Stabilisierung ihrer Abwehr durch Grandiosität zu funktionalisieren oder sich selbst zu diesem Zweck narzisstisch missbrauchen zu lassen. Wird ihre Grandiosität nicht von außen bestätigt, gerät der Patient in eine Krise und es treten die seit der Kindheit abgespaltenen und kompensierten Selbstzweifel und Außenseiterängste auf. Der Patient reagiert darauf erneut einseitig mit dem dysfunktionalen Ich-Zustand des »Selbstschutzverhaltens der Abwehr durch Grandiosität«. Sein in den Erfahrungen seiner Kindheit entwickelter autodestruktiver Ich-Zustand des »selbstentwertenden Denkens« suggeriert ihm, dass er»ein Normalo und ein Nichts« sei, wenn er wie andere Menschen zunächst einmal kleine Brötchen

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

backen würde. Der Patient verachtet die Anforderungen des Alltags, »vergisst« eventuell, ihnen gerecht zu werden und kann kleine Dinge nicht genießen.

6. verlassenes Kind, missbrauchtes Kind

1. Patientin im gesunden Erwachsenendenken

7. wütendes Kind

5. Selbstschutzverhalten durch Anpassung oder Übernahme einer kompensatorischen Rolle

en, enk , D s h nde r-Ic tze s Übe e l r e che alt stv elb distis tsanw s . a 8 .s taa z. B erer S n in

2. Therapeutin

therapeutische Beziehung

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die Ich-Zustände der Selbstorganisation

3. innere Selbstrepräsentanz der Patientin im Konflikt

4. innere Objektrepräsentanz, z. B. die eines Konfliktpartners

Problem oder Konflikt im Alltag, Symptomszene

Abbildung 11: Das System der Ich-Zustände der Patientin und seine Aufstellung mit leeren Stühlen im Therapiezimmer

Dysfunktionale Charakterzüge von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind psychodynamisch »in gewisser Hinsicht sinnvolle, zurzeit ihrer Entstehung sogar wahrscheinlich notwendige, wenn auch leider auf Dauer nicht nur fehlerhafte, sondern auch Leid hervorrufende Pseudolösungen von Grundkonflikten« (Mentzos, 2011, S. 152 f.).

Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen

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Zentraler Gedanke Die dysfunktionale psychische Selbstorganisation von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen hat die Funktion, eine Identitätsproblematik, eine Selbstwertproblematik oder schwere Beziehungsproblematiken zu verdecken (Mentzos, 2011, S. 154). Die Patienten erleben zwar, dass sie anders sind als andere. Weil sie selbst aber keine andere Art der psychischen Selbstorganisation kennen, haben sie keine freie Wahl, sich anders zu verhalten. Sie identifizieren sich im Laufe der Zeit mit ihrem Anderssein und erleben ihre dysfunktionale Selbstorganisation als Teil ihrer Identität.

Der Mann, der als Fetischist zwanghaft Frauenkleider anziehen muss, nimmt an, dass er bisexuell sei, dass das Verkleiden also zu seiner Identität gehöre, und vertritt dies offensiv gegenüber seiner Frau (siehe Fallbeispiel 116 in Kap. 11.6). Er leidet darunter, dass seine Frau sich an seiner Bisexualität stört. Er leidet aber nicht mehr unter seinen zwanghaften Fetischismushandlungen. Zentraler Gedanke Menschen mit Persönlichkeitsstörungen erleben ihre dysfunktionale Selbstorganisation als Teil ihrer Identität. Daraus resultiert die geringe Flexibilität der Betroffenen (Young, Klosko und Weishaar, 2008, S. 32 f.): »Oft äußern sie, dass sie keinerlei Hoffnung auf irgendeine Möglichkeit, sich zu verändern, haben. Ihre charakterologischen Probleme sind ich-synton, insofern ihre selbstschädigenden Muster offenbar ein derart fester Bestandteil ihres Seins sind, dass sie sich nicht vorstellen können, sie zu verändern. Weil ihre Probleme für ihr Identitätsgefühl zentral sind, erscheint es ihnen wie eine Art Tod, sie aufzugeben – wie der Tod eines Teils ihrer selbst.«

Versucht man, diese Patienten mit dem Problem zu konfrontieren, halten sie vehement, reflexhaft und manchmal sogar aggressiv an dem fest, was sie ohnehin bezüglich ihrer selbst und der Welt für wahr halten. […] Weil Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt häufig das zentrale Problem sind, ist die therapeutische Beziehung sowohl für die Einschätzung als auch für die Behandlung dieser Patienten einer der wichtigsten Aspekte […].« Patienten mit Persönlichkeitsstörungen führen die Beziehungskonflikte oft selbst durch provokantes Verhalten herbei. Denn die Beziehungskonflikte stabilisieren sie in ihrer Abwehr, und sie fühlen sich dadurch mit sich selbst identisch. Die dysfunktionalen Charakterzüge dieser Menschen rufen in ihrem sozialen Umfeld zwar mehr oder weniger großes Leid hervor. Die Patienten kommen meistens aber erst in die Therapie, wenn ihre Problematik sekundär »in klinisch bedeutsamer Weise zu

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Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen« (Mentzos, 2011, S. 152) geführt hat. Spontan berichten sie der Psychotherapeutin dann anfangs »nur« ihre sekundären, durch die dysfunktionale Arbeit ihrer Ich-Zustände entstandenen Probleme. In der therapeutischen Kommunikation versuchen sie unbewusst, die Psychotherapeutin als konkordante Mitstreiterin zu gewinnen bei der Stabilisierung ihrer subjektiven unangemessenen Realitätswahrnehmung. Wenn die Therapeutin diese Erwartung nicht erfüllt, agieren sie ihre dysfunktionale psychische Selbstorganisation auch in der therapeutischen Beziehung aus und verführen dadurch die Therapeutin, komplementär zu reagieren: Wenn ein masochistisch agierender Patient sich ständig selbst entwertet, antwortet die Therapeutin zum Beispiel oft spontan: »Ja, gut. Aber wenn Sie wirklich so leistungsschwach wären, wie Sie sagen, dann würden Sie ihre anspruchsvolle Arbeit doch gar nicht schaffen können! Dann hätten Sie doch auch keine Leistungszulage bekommen!« Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind anders zu behandeln als neurotische Patienten (Rudolf, 2006, S. 2), also nicht nur »haltgebend, emotionales Erleben fördernd, unbewusste Konflikte und Widerstände deutend.« Denn sonst besteht die Gefahr, dass Psychotherapeutinnen »gegen Ende der verfügbaren Behandlungszeit« feststellen, »dass die Patienten zwar einige Veränderungsschritte vollziehen konnten, aber insgesamt in vielen unlösbaren Schwierigkeiten stecken, einschließlich solcher, die aus einer zunehmend verwickelten und ungelösten Übertragungsbeziehung stammen« (Rudolf, 2006, S. 2). Fallbeispiel 8: Ein 42-jähriger zeitweise suizidaler Verwaltungsangestellter mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung (ICD F60.1) rief an seinen Arbeitsstellen durch arrogantes, nicht empathisches Verhalten immer wieder Mobbingsituationen seitens seiner Vorgesetzten hervor. Dabei hielt er in Konfliktsituationen den entwürdigenden Anfeindungen so ungerührt stand, wie kein anderer das gekonnt hätte. In der therapeutischen Beziehung verlangte er meistens ohne affektive Beteiligung rein funktional nach »konkreten Perspektiven und Hilfen«. Die Therapie konzentrierte sich darauf, den Patienten durch seine immer wiederkehrenden Krisensituationen zu begleiten und in den »Mobbingsituationen« jeweils sozial verträgliche Lösungen zu erarbeiten. Als die geplanten fünfzig Stunden Psychotherapie gerade zu Ende gingen, wurde dem Patienten nach einem ersten Arbeitsplatzverlust trotz aller psychotherapeutischer Bemühungen auch eine zweite Arbeitsstelle wieder gekündigt. Der Patient dekompensierte in eine schwere depressive Episode. Erst aufgrund des unbefriedigenden Therapieergebnisses am Ende der Behandlung kam der Therapeut auf die Idee, die vielfältigen Beziehungsproblematiken des Patienten mit seinen frühesten Kindheitserfahrungen zu verknüpfen: Eine eineinhalb Jahre ältere Schwester

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des Patienten war kurz vor seiner Geburt ertrunken. Die traumatisierte Mutter wollte damals ins Kloster gehen, wurde aber durch einen Priester daran gehindert. Vermutlich war der kurz darauf gezeugte Patient für seine Mutter, die sich nach ihrer verunglückten Tochter sehnte, das »falsche Kind« und so also latent nicht gewollt. Die Mutter war wahrscheinlich in ihrem Schockzustand für den Säugling emotional nicht erreichbar gewesen. So lernte der Patient nicht, seine Affekte zu lesen und zu regulieren. Angstsituationen am Arbeitsplatz beantwortete er mit einem nach außen arrogant wirkenden Selbstschutzverhalten (siehe unten Kap. 4.7), um die dahinterstehende Panikreaktion des in ihm aktualisierten »kleinen, nicht gewollten Kindes« nicht fühlen zu müssen.

4.3 Das Besondere in der Behandlung von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung Wichtige Definition Im Unterschied zu den anderen Persönlichkeitsstörungen, bei denen eine rigide Stabilität ihrer dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation vorliegt, handelt es sich nach Mentzos (2011, S. 167) bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen »per Definition um labile Zustände und Strukturen. […] Das Wechselhafte […] stellt sein wichtigstes Charakteristikum […] dar«. Dabei ist diese Wechselhaftigkeit aber konstant vorhanden. Denn im Vordergrund der Störung steht das Alternieren von zwei konträren Ich-Zuständen infolge der Abwehr durch Spaltung (siehe Abb. 12). Man spricht deshalb von einer »stabilen Instabilität des Borderline« (Mentzos, 2011, S. 167).

Als ich Therapeutinnen und Therapeuten in einem Seminar einmal fragte: »Was macht die Therapie von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen eigentlich so schwer?«, antworteten diese: 1. Diese Patienten fordern Hilfe gegen ihren Konfliktgegner und erwarten, dass die Therapeutin sie dabei einseitig und direkt unterstützt. 2. Sie idealisieren die Therapeutin blind schon in der ersten Begegnung. 3. Sie brechen unvermittelt die Therapie ab. 4. Sie klagen die Therapeutin aus heiterem Himmel an und entwerten sie. 5. Sie denken in SchwarzWeiß-Mustern, zwei Wahrheiten nebeneinander gibt es nicht. Der Patient versteht zum Beispiel eine an Bedingungen geknüpfte Hilfe als glatte Verweigerung der Hilfe. 6. Die Patienten setzen immer wieder die Regeln des Settings außer Kraft. Sie verstoßen zum Beispiel gegen die Gruppenregeln. 7. Unvermittelt treten negative Übertragungen auf. 8. Sie agieren oft scheinbar ohne Problembewusstsein. 9. Die Therapeutin hat das Gefühl, sie muss in jeder Sitzung von

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Neuem anfangen, obwohl man sich doch in der letzten Stunde gut verständigt hatte. 10. Die Therapeutin fühlt sich in dem Schwarz-Weiß-Denken der Patienten gefangen. Sie weiß nicht, was sie glauben soll, und vermutet, dass der Patient lügt, weil er sich selbst immer wieder widerspricht. 11. Auf eine vermeintliche Zurückweisung reagieren die Patienten mit Wut und Gleichgültigkeit. Sie sind dann für die Therapeutin emotional nicht mehr erreichbar. 12. Die Therapeutin schwankt hin und her zwischen Mitleid und Wut. Nicht selten fühlt sie sich inkompetent und als Fachkraft unfähig. Kernberg (1981, 1991) hat die Psychotherapie von Menschen mit Borderline-Syndrom entscheidend weiterentwickelt. Dazu war es wichtig, die »stabile Instabilität« dieser Patientinnen als »zeitlich aufeinanderfolgende Aktivierung zwischen konträren Ich-Zuständen« (Kernberg, 1981, S. 14) zu verstehen (siehe Abb. 12). Diese Patientinnen leiden an einer strukturellen Störung unterschiedlich starker Ausprägung, können ihre Affekte schwer regulieren, geraten schon bei relativ kleinen Enttäuschungen ihrer Erwartungen in starke innere Spannungszustände und reagieren dann wechselnd mit anhänglich bedürftigem oder autoritär willkürlichem Verhalten. Wichtige Definition Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung begründen aufgrund der Defizite ihres Mentalisieren das schnelle Wechseln ihrer Gefühle mit dem Handeln ihrer gegenwärtigen Beziehungspartner, das heißt, sie denken im Konflikt im Äquivalenzmodus: Wenn sie sich gerade bedürftig fühlen, idealisieren sie den Beziehungspartner und sehen diesen als Helfer in ihrem Kampf gegen die böse Welt an. Bei Enttäuschung ihrer oft illusionären Erwartungen reagieren sie mit Wut, schließen aus ihren Wutgefühlen, dass ihr Beziehungspartner etwas getan hat, was sie wütend macht, und bekämpfen diesen unvermittelt.

Nach Abreaktion des Affektes kann ihre Wut jedoch übergangslos wieder in den anhänglich bedürftigen Ich-Zustand umschlagen. Als Folge dieser inneren Instabilität gibt es für sie in der Welt nur entweder Freund oder Feind, sie befinden sich entweder in einer guten oder in einer bösen Welt. Bei diesen Patientinnen »resultiert das Leiden weniger aus den blockierten Ansätzen des eigenen Handelns (wie im neurotischen Konflikt) als vielmehr aus dem Tun der anderen, das schwer zu ertragen ist. Es ist die von den anderen versagte Befriedigung, die verweigerte Bestätigung, die entzogene Zuwendung, die gerichtete Forderung, die Leiden verursacht. Das Leiden wird als unerträgliche Erregungsspannung mit ängstlicher oder ärgerlicher Gefühlstönung erlebt. Es ist ein Leiden, das wegen seiner Unerträglichkeit zu raschem Handeln zwingt« (Rudolf, 2006, S. 50).

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Spaltung

bedürftig anhänglicher Ich-Zustand

autoritär willkürlicher Ich-Zustand Patientin

guter böser Therapeut Abbildung 12: Das zeitversetzte Alternieren zwischen den zwei konträren Ich-Zuständen bei Abwehr durch Spaltung

Kernberg (1991, S. 49) versteht die Abwehr durch Spaltung als »das aktive Auseinanderhalten konträrer Introjektionen und Identifizierungen.« Mit dem bedürftig anhänglichen Ich-Zustand lebt der Patient das Denken, Fühlen und Handeln des »verlassenen oder missbrauchten Kindes« aus, das sich durch Introjektion anpasst (siehe Kap. 4.7). In dem konträren autoritär willkürlichen Ich-Zustand verschmelzen die Ich-Zustände (siehe Kap. 4.7) des »wütenden Kindes«, des »Selbstschutzverhaltens« und des »pathologischen Introjekts« (siehe Abb. 11). Das kann so weit gehen, dass in der Kindheit traumatisierte Patienten, ohne es zu merken, im unbewussten Rollentausch zeitversetzt das Drama ihrer Traumaerfahrung reinszenieren, indem sie zuerst die Rolle ihres pathologischen Täterintrojektes ausleben und sich wenig später durch die Reaktionen ihres sozialen Umfeldes auf ihr dysfunktionales Verhalten ebenso zurückgewiesen, entwertet oder »geschlagen« fühlen wie in ihrer Kindheit. Sie befinden sich dann in dem Ich-Zustand des »traumatisierten Kindes«.

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Wichtige Definition Die Abwehr durch Spaltung manifestiert sich nach Kernberg (1991, S. 49) klinisch »in der Weise, dass […] gegensätzliche Seiten eines Konfliktes abwechselnd die Szene beherrschen, wobei der Patient in Bezug auf die jeweils andere Seite eine blande Verleugnung zeigt und über die Widersprüchlichkeit seines Verhaltens und Erlebens überhaupt nicht betroffen zu sein scheint.«

Die Therapeutin reagiert auf die Widersprüchlichkeit des Patienten oft mit dem Gefühl, dass der Patient sie manipuliert, und glaubt, dass er »lügt« und ihr bewusst nur die Hälfte erzählt. Fallbeispiel 9: Eine Psychotherapeutin berichtete in der Supervision: »Die stationäre Therapie mit meiner 35-jährigen Patientin, Frau E., geht nicht weiter! Ich mag die Frau. Aber sie macht mich ratlos und hilflos, weil sie immer dann, wenn sie in der Therapie einen Fortschritt gemacht hat und endlich ihre Einsamkeit und Bedürftigkeit zulässt, plötzlich wieder herumflippt. Sie bekommt dann Wutausbrüche und zerdeppert auf der Station Sachen. Hinterher tut sie dann aber so, als ob sie das gar nicht gewesen wäre!« Die Reaktionen der Patientin hatten die Therapeutin hilflos gemacht und sie an sich selbst zweifeln lassen. Die Patientin hatte sich selbst aber wahrscheinlich gar nicht als widersprüchlich erlebt. Im psychodramatischen Nachspielen einer typischen Begegnung mit der Patientin zeigte sich: Die Therapeutin hatte die Patientin bisher »nur« als Neurotikerin behandelt, war im therapeutischen Gespräch jeweils empathisch den Schilderungen der Patientin gefolgt und hatte deren Leiden bis dahin einseitig als Leiden des »verlassenen Kindes« interpretiert, das die Patientin in ihrer Kindheit gewesen war. Zentraler Gedanke Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung wehren die Wahrnehmung ihrer Widersprüchlichkeit unbewusst ab durch Verleugnung (Rohde-Dachser, 1979, S. 70) und blenden diese aktiv aus ganz nach dem Motto »und so schloss er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf«. Dieser Satz stammt aus dem Gedicht »Die unmögliche Tatsache« von Christian Morgenstern. Wenn die Therapeutin versucht, die Widersprüche in der therapeutischen Beziehung anzusprechen und die Ursachen für »Missverständnisse« zu klären, erlebt der Patient wegen seiner Abwehr durch Verleugnung diesen Klärungsversuch als Angriff und streitet seine Widersprüchlichkeit ab, das heißt, der Patient verhängt über die Therapeutin ein »Double Bind«.

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Eine Doppelbindung ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mensch in einer Beziehung implizit oder explizit eine in sich widersprüchliche Forderung stellt und dazu den Versuch seiner Bezugsperson, über diesen Widerspruch miteinander zu reden, ablehnt. In der Doppelbindung eines Borderline-Patienten gefangen zu sein, macht die Therapeutin absolut hilflos. Oft entsteht daraus ein leidvoller Machtkampf. Wenn die Therapeutin versucht, in der Widersprüchlichkeit des Patienten einen Sinn zu finden, wird sie selbst »verrückt«. Denn die Stimmungswechsel des Patienten lassen sich ursächlich mit dem realen Geschehen in der therapeutischen Beziehung nicht erklären. Seine Widersprüchlichkeit hat in Wahrheit »nur« den Sinn, seine inneren Konfliktspannungen abzureagieren und sein labiles intrapsychisches Gleichgewicht zu stabilisieren. In einer solchen Situation hat die Therapeutin oder der Therapeut nur die Möglichkeit, innerlich die Widersprüchlichkeit des Patienten zunächst bewusst zu dulden. Wenn sie versucht, diese aufzulösen, verstrickt sie sich in dem widersprüchlichen Agieren des Patienten und wird in der Therapie zunehmend handlungsunfähig. Das kann so weit gehen, dass sie am Ende anfängt, an ihren eigenen Fähigkeiten als Therapeutin zu zweifeln, und ernsthaft überlegt, ob sie ihren Beruf aufgeben soll. Eine solche Reaktion ist nach Rohde-Dachser (1975, mündliche Mitteilung) ein diagnostisches Kriterium dafür, dass der Patient an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet.

4.4 Die strukturelle Störung als Grundproblem und Zusatzdiagnose von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen hat die dysfunktionale psychische Selbstorganisation die Funktion, Identitätskonflikte, Selbstwertprobleme oder schwere Beziehungsprobleme zu verdecken, und es bestehen Defizite in der Fähigkeit zum Mentalisieren. Empfehlung Neben der deskriptiven Diagnose »Persönlichkeitsstörung« ist in der Psychotherapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen immer die Zweitdiagnose »strukturelle Störung« zu stellen. Diese soll das Ausmaß seiner Defizite in der Fähigkeit zu mentalisieren beschreiben und damit die Schwere seiner strukturellen Störung erfassen.

Mentalisieren ist die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere situationsbezogen ver-

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steht, mit der er Konflikte verarbeitet, nach angemessenen bzw. neuen Konfliktlösungen sucht und seine Handlungen plant (siehe Kap. 1). »Der Begriff »strukturelle Störung« (Rudolf, 2006, S. 48 ff.) betont vom Wortsinn her die strukturellen Defizite in den Selbstorganisationsprozessen der Patienten. Diese entstehen aber eigentlich durch funktionelle Defizite der psychischen Selbstorganisation. So sagt auch Rudolf (2006, S. 50), dass mit »Struktur […] nicht Inhalte […], sondern das Organisationsniveau der psychischen Funktionen, die das Selbsterleben und das Beziehungsverhalten regulieren,« gemeint ist: »Die diagnostische Frage lautet nicht: ›Was beschäftigt diesen Menschen inhaltlich?‹, sondern ›Wie funktioniert seine Persönlichkeit in bestimmten Situationen?‹« Rudolf (2006, S. 49) definiert deshalb den Begriff »strukturelle Störung« als »eingeschränkte Verfügbarkeit über jene Funktionen, die zur Regulation des Selbst und seiner Beziehungen erforderlich sind. Die strukturellen Funktionen betreffen die Fähigkeiten, sich selbst und andere kognitiv differenzieren zu können, sich selbst, sein Handeln, Fühlen und den Selbstwert steuern zu können, sich selbst und die anderen emotional verstehen zu können, zu anderen in emotionalen Kontakt zu treten, emotional wichtige Beziehungen innerlich zu bewahren, sich selbst im Gleichgewicht zu halten und eine Orientierung zu finden.« Empfehlung In der Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sollte die Therapeutin ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Beziehungskonflikte des Patienten richten, sondern immer auch auf die Nachentwicklung der Werkzeuge, mit denen der Patient diese Beziehungskonflikte löst, achten und damit auch die mehr oder weniger start ausgeprägte strukturelle Störung seiner psychischen Selbstorganisation im Auge haben.

Eine mangelhafte Fähigkeit zum Mentalisieren ist meistens durch Beziehungstraumata in der Kindheit entstanden (siehe Kap. 5.2). Den Menschen mit strukturellen Störungen fehlten in den ersten Lebensjahren positive Beziehungserfahrungen in Halt gebenden und ausreichend flexiblen Beziehungen. Bei schweren Störungen des Mentalisierens ist es nach Rudolf (2006, S. 22) anders als bei neurotisch bedingten Störungen zwecklos, nach Erinnerungen von analogen Interaktionsmustern aus der Kindheit zu fragen, weil der Patient die negativen Beziehungserfahrungen in der Kindheit als solche nicht bewusst wahrnehmen konnte und sie deshalb auch nicht als Erinnerungen innerlich repräsentiert hat. Die negativen Beziehungserfahrungen in der Kindheit sind »nur« indirekt »gespeichert« als Defizite des Mentalisierens bzw. Fehlen von Werkzeugen des Mentalisierens. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und strukturellen Stö-

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rungen können deshalb das zu ihrem Konflikt dazugehörige Interaktionssystem und die dazugehörigen Affekte in ihrem Mentalisieren nicht oder nicht vollständig repräsentieren, sie können sich selbst und Bezugspersonen nicht angemessen wahrnehmen und verstehen, haben wenig Zugang zur Aktualisierungstendenz ihres Selbst und geraten bei affektiver Erregung in massive innere Konfliktspannungen. Sie sind wegen ihrer Defizite im Mentalisieren in der psychodramatischen Konfliktverarbeitung wenig spielfähig und deshalb schnell überfordert. Während des »normalen« psychodramatischen Spiels reißt bei ihnen nicht selten der Faden zwischen ihrem inneren Mentalisieren und ihrem äußeren psychodramatischen Spiel. Die innere Ich-Konfusion des Patienten zwischen verschiedenen Selbstanteilen und zwischen Selbstrepräsentanz und Objektrepräsentanz im Konflikt wird zur äußeren Szenenkonfusion. Ein Patient mit einer schweren strukturellen Störung kann durch Defizite seines Mentalisierens sich selbst und den anderen im Konflikt nicht verstehen, er kommt im psychodramatischen Spiel oft in seine eigene Rolle oder in die Rolle seines Konfliktpartners nicht hinein und ist nicht rollentauschfähig. Der psychodramatische Dialog mit Rollentausch ist deshalb auch diagnostisch wertvoll. Fallbeispiel 10: Herr A., ein 48-jähriger Patient mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, einem Zustand nach chronischem Alkoholmissbrauch bis vor zehn Monaten und einer schweren strukturellen Störung (ICD F60.31, F10.2), kann sich in seine Bezugspersonen nicht unmittelbar einfühlen und in Beziehungen oft sich selbst und den anderen nicht verstehen. Er macht stattdessen kognitiv Annahmen, was der jeweils andere fühlen könnte, und behandelt diesen entsprechend seiner Zuschreibung. In einer Zeit relativen Wohlergehens klagt der Patient, Herr A., in der Therapiestunde über »Schuldgefühle« gegenüber seinem 23-jährigem Sohn: »Der redet nicht mit mir. Er macht gerade Abitur. Aber ich fürchte, der schafft sein Leben nicht. Ich versuche, gut zu ihm zu sein, mache alles für ihn, räume sein Zimmer auf, koche Essen und bringe es ihm hoch. Ich versuche, ihn zu verwöhnen.« Der Therapeut fordert Herrn A. auf: »Wollen Sie Ihrem Sohn einmal in einem Rollenspiel mitteilen, dass Sie sich Sorgen um ihn machen und ihm gegenüber Schuldgefühle haben?« Herr A. folgt der Aufforderung widerwillig. Im Rollentausch in der Rolle seines Sohnes antwortet er sich selbst: »Aber ich habe doch meine Lehre geschafft und danach auch die Schichtarbeit, und jetzt bin ich in der Abendschule in den Zensuren auf drei!« Herr A. ist verwirrt und merkt: »Eigentlich weiß ich gar nicht, was mein Sohn von mir erwartet!« Der Therapeut: »Fragen Sie Ihren Sohn doch hier im Rollenspiel einfach danach!« Herrn A. ist überrascht: »Stimmt eigentlich! Aber kann ich das denn?« Der Therapeut: »Warum nicht! Sie haben doch erzählt, dass Sie selbst als Kind im Kinderheim aufgewachsen sind und dass sich da keiner für Sie interessiert hat. Wenn Sie jetzt Ihren

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Sohn fragen, merkt er, dass Sie sich als Vater für ihn interessieren. Das ist das, was Kinder dann als Liebe erleben!« Herr A. überwindet sich und fragt seinen »Sohn«: »Was willst du eigentlich von mir?« Im darauffolgenden wiederholten Rollentausch übernimmt der Therapeut selbst die Rolle von Herrn A. und fragt als dieser über die Realität hinaus den »Sohn«, der von Herrn A. gespielt wird: »Was brauchst du von mir? Merkst du eigentlich, dass ich mir Mühe gebe?« Herr A. kann dadurch in der Rolle seines Sohnes mit viel Zeit erlebnisnah »suchen«, was der Sohn ihm gegenüber wohl spürt, denkt, fühlt und will. Dieses kleinschrittige Vorgehen im Als-ob-Modus des Spiels hilft dem Patienten, eine theory of mind über die innere Wirklichkeit des Sohnes zu entwickeln. Am Ende der Therapiesitzung stöhnt Herr A.: »Das ist ja eine anstrengende Arbeit hier! So habe ich mir das nicht vorgestellt!« Er lacht den Therapeuten halb verzweifelt an: »Das bringt mich ja richtig ins Schwitzen!« (Fortsetzung in den Kapiteln 4.6, 4.13 und 4.14).

In der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen hat die Therapeutin über die Konfliktverarbeitung im »normalen« psychodramatischen szenischen Spiel hinaus störungsspezifisch zwei zusätzliche Aufgaben: 1. Sie mentalisiert als Hilfs-Ich des Patienten im psychodramatischen Spiel für ihn stellvertretend mithilfe von verschiedenen Variationen der Doppelgänger-Technik sein Erleben in seinem Konflikt (siehe Kap. 4.6). 2. Sie erfasst mit ihm zusammen die Ich-Zustände seiner dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation, arbeitet deren Sinn im Gesamtzusammenhang seiner Selbstorganisation heraus und integriert sie zu einem ganzheitlichen, angemessenen arbeitenden System der Selbstorganisation (siehe Abb. 11 und Kap. 4.7).

4.5  Die ersten sechs Schritte der Behandlung im Überblick Die störungsspezifische Therapie von Patientinnen oder Patienten mit Persönlichkeitsstörungen braucht wegen der Komplexität der Umstellungsprozesse viel Halt, Zeit und störungsfreien Raum in der therapeutischen Beziehung. Deshalb finden die ersten sechs Schritte der Therapie, wenn möglich, im Einzelsetting statt. Alternativ kommt auch eine die Gruppentherapie begleitende Einzeltherapie infrage. 1. Die Therapeutin diagnostiziert die Persönlichkeitsstörung des Patienten anhand seiner Symptomatik und seiner starren dysfunktionalen Prozessmuster in seinem Alltag und in der therapeutischen Beziehung bzw. den Gruppenbeziehungen. Sie arbeitet versuchsweise mit der Tischbühne oder mit dem psychodramatischen Dialog an einem Konflikt des Patienten und

Die ersten sechs Schritte der Behandlung im Überblick

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macht sich dabei ein Bild über das Ausmaß der strukturellen Störung des Patienten (siehe Kap. 4.4). Sie fragt aktiv nach begleitenden Suchterkrankungen und Traumaerfahrungen, um diese gegebenenfalls in die Behandlung einzubeziehen. Psychopharmaka sollten während der Psychotherapie von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen nur so viel gegeben werden wie erforderlich. Denn »es gibt Hinweise, dass Psychopharmaka mit emotionalen und kognitiven Veränderungsprozessen interferieren und die Gesundung verzögern« (GiesenBloo, van Dyck, Sponhoven, Tilburg et al., 2006, zitiert nach Arntz und van Genderen, 2010, S. 116). Bei medikamentöser Mitbehandlung durch einen Nervenarzt ist auf eine enge Zusammenarbeit zu achten und zu bedenken, dass dieser wegen seines von den Krankenkassen vorgegebenen geringen Zeitkontingents die Medikamente aus Gewohnheit zur eigenen Absicherung oft zu hoch dosiert. Die Therapeutin arbeitet im »normalen« psychodramatischen Spiel sehr kleinschrittig und wendet dabei in vielfältiger Weise die Doppelgänger-Technik an (siehe Kap. 4.6), je schwerer die Störung des Patienten ist, desto mehr. Dabei mentalisiert sie als Hilfs-Ich im Konflikt des Patienten stellvertretend sein Erleben. Sie benutzt immer wieder den fiktiven psychodramatischen Dialog zur Selbstsupervision (siehe Kap. 2.2) und erfasst dabei im Rollentausch zwischen dem Patienten und sich selbst erlebnisnah das strukturelle Niveau des Patienten. Bei dem Verdacht auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe Fallbeispiel 16) stellt sie für den Patienten zwei leere Stühle hin, einen für seinen autoritär-willkürlichen Ich-Zustand und einen anderen für seinen anhänglich-bedürftigen Ich-Zustand. Die Therapeutin lässt den Patienten möglichst früh Problembewusstsein für die strukturelle Störung seiner psychischen Selbstorganisation entwickeln durch Stühlearbeit und Rollenwechsel zwischen seinem dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand und dem Ich-Zustand seines gesunden Erwachsenendenkens (siehe Kap. 4.8). Bei einem Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung repräsentiert sie den anhänglich bedürftigen Ich-Zustand und den autoritär willkürlichen Ich-Zustand nebeneinander auf der Bühne und macht dem Patienten so die Widersprüchlichkeit seines Denkens, Fühlens und Handelns leiblich-seelisch erlebbar (siehe Kap. 4.9). Die Therapeutin versucht, mit dem Patienten zusammen nach dem Motto »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst!« den persönlichen Sinn der Dysfunktionalität seiner psychischen Selbstorganisation zu erfassen (siehe Kap. 4.10). Sie ordnet mit ihm zusammen den dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand in das Gesamtsystem seiner psychischen Selbstorganisation

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ein, repräsentiert dabei auch die anderen dysfunktionalen Ich-Zustände mit Stühlen im Therapieraum (siehe Kap. 4.7), die mit dem dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand destruktiv interagieren, vollzieht mit ihm handlungsnah und szenisch die Dysfunktionalität der Arbeit der Ich-Zustände als Abwehrprozesse nach und lässt ihn so Zugang finden zur inneren Aktualisierungstendenz seines Selbst. 6. Die Therapeutin lässt den Patienten seine verschiedenen Ich-Zustände durch psychodramatischen Dialog und Rollentausch miteinander in Beziehung treten und dadurch ihre destruktive Zusammenarbeit in ein konstruktives Miteinander umwandeln (siehe Kap. 4.10). Ein persönlichkeitsgestörter Patient braucht gewöhnlich zehn bis fünfzehn Therapiestunden, bis er die strukturelle Störung seiner psychischen Selbstorganisation mithilfe der Stühlearbeit erfasst hat, sich mit diesem Denkmodell angefreundet hat und beginnt, es für sich fruchtbar anzuwenden. Erst danach folgen die im Kapitel 4.12 beschriebenen Therapieschritte, die den allgemeinen Prinzipien der Behandlung von Menschen mit schwereren psychischen Störungen folgen.

4.6 Das stellvertretende Mentalisieren durch die Doppelgänger-Technik im »normalen« psychodramatischen Spiel Gewöhnlich lässt die Therapeutin den Patienten im psychodramatischen Spiel bei Blockaden seines Mentalisierens ein Selbstgespräch halten, doppelt ihn intrapsychisch verbalisierend (Krüger, 1997, S. 116 ff.) und lässt ihn so sein aktuelles Erleben im Spiel aktiv im Als-ob-Modus mentalisieren. Bei Menschen mit einer schweren strukturellen Störung ist das Mentalisieren jedoch definitionsgemäß defizitär. Der Patient denkt oft im Äquivalenzmodus und versteht das Doppeln der Therapeutin als Aufforderung, sich ihrem Denken und Fühlen anzupassen. Zentraler Gedanke Je panischer ein persönlichkeitsgestörter Patient in seinem Konflikt wird, desto mehr fallen seine Interpretationen der äußeren Wirklichkeit und die äußere Wirklichkeit auseinander. In einem solchen Fall sollte die Therapeutin als Doppelgängerin mit in das psychodramatische Spiel seiner Konfliktsituation eintreten (Krüger, 1997, S. 117 ff.), dabei ihr Erleben in seinem Konflikt stellvertretend verbalisieren und im Als-ob-Modus des Spiels für ihn stellvertretend handeln

Das stellvertretende Mentalisieren durch die Doppelgänger-Technik

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und mentalisieren. Bei dem stellvertretenden Mentalisieren mit der Doppelgänger-Technik gibt es vier verschiedene Varianten: 1. Fuhr (1991, mündliche Mitteilung) empfiehlt ganz allgemein: Empfehlung »Je kränker eine Patientin ist, desto mehr muss man ihr als Therapeutin am Anfang ihre Konflikte vorspielen.« Das geht soweit, dass die Therapeutin zu Beginn der Therapie vielleicht das psychodramatische Spiel sogar allein bestreiten muss, auch mit Rollentausch. Die Patientin wird die Therapeutin dann gewöhnlich spontan korrigieren und coachen.

2. Die Therapeutin übernimmt, wenn der Patient im Rollentausch die Rolle seines Konfliktpartners spielt, in der psychodramatischen Spielszene selbst die Rolle des Patienten und spricht stellvertretend für ihn aus, was sie in seiner Rolle wahrnimmt, denkt, fühlt und will. 3. Die Therapeutin wechselt auf der Bühne der therapeutischen Beziehung mit dem Patienten die Plätze und erkundet, wie es ist, der Patient zu sein. 4. Die Therapeutin gibt dem Patienten in einer genetischen Szene, zum Beispiel in einer Kindheitsszene, einen fiktiven Doppelgänger an seine Seite, im Einzelsetting repräsentiert durch ein Hilfs-Ich oder einen leeren Stuhl, der die Aktualisierungstendenz seines Selbst in der Szene aktiviert. Fallbeispiel 10 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 4.4): Herr A. hat bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess nach einem Jahr Dienstunfähigkeit große Probleme mit seinem Vorgesetzten: »Ich sollte nach jetzt drei Wochen Arbeit eine Beurteilung unterschreiben, dass ich bei der Fallbearbeitung Rückstände habe und dass mir elementares Wissen fehlt. Das habe ich verweigert. Mein Chef will mich loswerden! Ich habe schon wieder massive Magenschmerzen.« Der Therapeut versucht vergeblich, den sichtlich erregten Mann gesund erwachsen denkend auf die Realität seiner Arbeitsplatzsituation hinzuweisen: »Sie sind doch Beamter! Auch schaffen Sie 95 % der geforderten Arbeit! Ihr Chef kann Ihnen nichts!« Worte kommen bei Herrn A. nicht mehr an. Als in der Kindheit nicht gewolltes Kind reagiert er auf die Zurückweisung am Arbeitsplatz panisch und wütend. Im Äquivalenzmodus denkend ist er ärgerlich auf den Therapeuten, weil dieser ihm scheinbar in seiner Not nicht helfen kann. Der Therapeut hat Sorge, dass Herr A. durch seine blinde Verweigerungshaltung seinen Arbeitsplatz als Beamter verliert, den er braucht, um sich seelisch zu stabilisieren. Deshalb überführt der Therapeut zur Krisenintervention das gemeinsame Nachdenken über den Konflikt in den Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels. Er stellt zwei leere Stühle einander zugewandt auf die Bühne: »Führen sie doch einmal ein fiktives Gespräch mit Ihrem Chef und teilen Sie ihm Ihre Wut und Ihren Ärger mit.

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Vielleicht kann Sie das gefühlsmäßig entlasten!« Verlegen und unbeholfen folgt Herr A. dieser Aufforderung. Überraschenderweise verhält er sich im Spiel seinem Chef gegenüber eher bescheiden und keineswegs aufbrausend. Als Herr A. in die Rolle seines Chefs tauscht, übernimmt der Therapeut die Rolle des Patienten, wiederholt das, was Herr A. dem Chef gesagt hat, integriert dabei in das Spiel als Doppelgänger aber auch die vom Patienten vorher im Gespräch gegebenen Informationen und verbalisiert stellvertretend für ihn seinem »Chef« gegenüber, was er, der Therapeut, in der Rolle des Patienten fühlt, denkt und will: »Ich bin enttäuscht und ärgerlich. Wenn ich jeden meiner bearbeiteten Fälle einem der fünf Teamleiter vorstellen soll, kostet das Zeit! Die fehlt mir dann bei der Arbeit. Rechnen Sie doch die Besprechungszeit einmal mit ein, dann bin ich ganz gut in meiner Arbeitsleistung! Außerdem: Erst verdonnern Sie mich dazu, Sie zu fragen, und dann legen Sie mir das als Unwissen aus. Wenn ich die Teamleiter etwas frage, dann ja nicht deshalb, weil mir Grundwissen fehlt. Das ist nicht gerecht! Sie behandeln mich schlecht!« Herr A. kommt im Spiel eigentlich gar nicht richtig in die Rolle seines jungen, ehrgeizigen Chefs hinein, unbeholfen findet er einige Gegenargumente, er fällt aber immer wieder zurück in seine eigene Rolle. Dabei hört er aber dem Therapeuten als seinem Doppelgänger mit allen Sinnen hoch aufmerksam zu, korrigiert bei Bedarf dessen Aussagen und coacht ihn wie ein Trainer seinen Schützling. Am Ende des Spiels meint er spontan: »Oh, mir geht es tatsächlich schon besser: Meine Magenschmerzen sind weg!« In der Nachbesprechung fassen der Patient und der Therapeut noch einmal die im Spiel erarbeiteten Handlungsmöglichkeiten des Patienten in seinem Konflikt mit dem Chef zusammen. Der Therapeut: »Tun Sie einfach weiter das, was dran ist, und lassen Sie sich nicht beirren. Es geht darum, dass Sie lernen, im Konflikt standzuhalten. Das ist sehr schwer für Sie. Es bringt aber auch viel, zum Beispiel Selbstbewusstsein und im Monat 1000 Euro mehr Gehalt als bei einer Frühpensionierung« (Fortsetzungen in Kap. 4.13 und 4.14). Zentraler Gedanke Der Therapeut kann zur Krisenintervention wie in diesem Fallbeispiel ganz auf das strukturelle Niveau des Patienten eingehen und den Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels als Hilfsinstrument nutzen, um mit dem Patienten sein im Äquivalenzmodus gefangenes Denken, Fühlen und Handeln (siehe Kap. 2.2) in den Als-ob-Modus des Mentalisierens zu überführen. Auf diese Weise kann er mit einem Patienten, der im Äquivalensmodus denkt, seinen Konflikt doch noch therapeutisch hilfreich »besprechen«.

Im Als-ob-Modus des Spiels konnte der Patient »eine Abtrennung oder ›Entkoppelung‹ […] seiner mentalen Repräsentationen von der Realität« vorneh-

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men und so »Gedanken und Phantasien von der Wirklichkeit unterscheiden« (Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, S. 297 f.). Die konkrete reale Gegenwart von Selbstrepräsentanz und Objektrepräsentanz seines Konflikts im Als-obModus des Spiels als zwei Stühle auf der äußeren Bühne half dem Patienten, während des Konfliktgespräches die dazugehörige Subjekt- und Objektrepräsentanz auch innerlich zu repräsentieren und durch spielerische Interaktion den Konflikt so auch im inneren Als-ob-Modus zu verarbeiten. Dabei erweiterte der Therapeut durch stellvertretendes Mentalisieren (Krüger, 1997, S. 144 ff.) das innere Denken des Patienten im Äquivalenzmodus um den Als-ob-Modus des Denkens. Scharnhorst (Ursula Scharnhorst 1987, mündliche Mitteilung) schlug vor, das stellvertretende Mentalisieren der Therapeutin auch direkt auf der Bühne der therapeutischen Beziehung anzuwenden, wenn die Therapeutin merkt, dass sie den Patienten trotz beidseitigen ernsthaften Bemühens in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht versteht und ihn aber gern verstehen möchte. Das ist auch im Gruppensetting möglich. Fallbeispiel 11 (Krüger, 1997, S. 144 f.): Die zwanzigjährige Frau B. (Borderline-Persönlichkeitsstörung ICD F60.31) teilt in ihrer zehnten Gruppensitzung mit, dass sie die Gruppentherapie beenden will: »Die Gruppe hilft mir nicht. Mir geht es immer schlechter.« Die Gruppenmitglieder reagieren zunächst hilfreich, dann aber zunehmend aggressiv. Versuche der Beziehungsklärung verunsichern die Patientin nur noch weiter. Unfähig, die Konfliktspannung zu ertragen, zieht sie sich schließlich zurück. Sie wirkt sehr angespannt. Der Therapeut ist ratlos. Er versteht nicht, was in Frau B. vorgeht. Deshalb fragt er sie: »Kann ich mit Ihnen einmal die Rolle tauschen? Ich möchte gern wissen, wie es ist, Sie zu sein, wie ich mich in Ihrer Rolle fühlen würde.« Frau B. ist überrascht, stimmt aber zu. Sie setzt sich auf den Platz des Therapeuten, ohne dessen Rolle zu übernehmen. Der Therapeut seinerseits setzt sich auf ihren Stuhl und nimmt ihre Körperhaltung ein: Er schlägt die Beine übereinander, fingert mit der rechten Hand an seinem Mund herum und wiederholt: »Alles ist so verkrampft hier. – Keiner hat etwas mit dem anderen zu tun. – Es passiert nichts. Es geht mir immer schlechter!« Während der Therapeut sie nachspielt, spürt er bewusst in sich hinein und merkt, dass er sich zunehmend gelähmt fühlt. Stellvertretend mentalisierend spielt er die Rolle der Patientin über die Realität hinaus weiter aus und verbalisiert, was er erlebt: »Ich merke, ich werde ganz taub. Ich sacke richtig weg. Das ist ein ganz diffuses Gefühl. Ich will das nicht!« Mit einer inneren Kraftanstrengung zieht er sich aus dem averbalen Lähmungszustand heraus und wird wütend: »Ich habe das hier satt! Ich will hier heraus! Das stinkt mir! Das hilft mir nicht! Ich will in eine Klinik! Alle sitzen hier nur verkrampft herum! Mir geht es immer schlechter!«

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Frau B. schaut dem Therapeuten interessiert und offen zu. Sie bestätigt ihn in seiner Ausgestaltung ihrer Rolle bisweilen durch Kopfnicken. Schließlich wechselt der Therapeut mit ihr wieder die Plätze. In der Nachbesprechung teilt er mit, was er in ihrer Rolle noch darüber hinaus erlebt hat: »Zunächst saß ich ganz normal da und sagte, dass ich aus der Gruppe heraus wollte. Das war im Gefühl noch recht flach. Als ich dann aber kritisiert wurde, spürte ich, wie ich zunehmend taub wurde und sackte weg in irgendeinen Abgrund oder ein Dunkel hinter mir. Das machte mir Angst, ich wollte das nicht und ich fing an zu kämpfen. Ich sah dabei überhaupt nicht, wen ich angriff, alle sahen für mich gleich aus, Mann oder Frau oder Therapeut. Ich wollte nur aus der Lähmung herauskommen. Das Kämpfen gab mir Kraft. Die Lähmung war dann weg.« Frau B. erkennt sich in dem vom Therapeuten geschilderten Bild wieder, ihre Taubheit ist wie weggeblasen: »So ist es auch!« Sie fängt an zu weinen: »In der letzten Woche ist es mir schlecht gegangen. Schon am Donnerstag, als ich hier in der Gruppe saß. Gleich zu Beginn hat es angefangen, dass ich plötzlich meinen Körper nicht mehr spürte. Das war, wie wenn alles weg war unter mir. Ich wusste nicht, ob Stockwerke unter mir sind oder nicht. Ich dachte, ich falle. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich mich nicht fühle. Wie wenn kilomerweit unter mir nichts ist.« Frau B. weint eine ganze Weile lang weiter. Mit der Zeit atmet sie ruhiger und entspannt sich allmählich. Empfehlung Die Therapeutin kann außerhalb der therapeutischen Sitzungen Selbstsupervision machen mithilfe eines fiktiven psychodramatischen Dialogs (siehe Kap. 2.2), um das strukturelle Niveau des Patienten zu erkunden. Im Rollentausch merkt sie dabei leiblich-seelisch, wo und wie der Patient sie nicht versteht. Diese Erfahrung macht das nächste therapeutische Gespräch gewöhnlich hilfreicher. Die Therapeutin kann aber auch in der direkten Begegnung mit dem Patienten dessen Rolle übernehmen und ausspielen. Dadurch kann sie sich leichter auf die Ebene des strukturellen Niveaus des Patienten einlassen und aber, stellvertretend mentalisierend, gleichzeitig auch schon das Mentalisieren des Patienten um den Als-ob-Modus des Denkens erweitern.

Auch das metaperspektivisch-symbolisierende Bühnenhandeln auf der Tischbühne (Krüger, 2005, S. 266 f.) fördert gezielt die Mentalisierungsarbeit des Patienten. Dabei repräsentiert die Therapeutin zusammen mit dem Patienten während des gemeinsamen therapeutischen Gesprächs alles, was in seiner inneren Verarbeitung seines Konfliktes im Augenblick wichtig ist, mit Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne: das Ich des Patienten selbst, die anderen Personen, aber auch alle seine Gefühle, seine Eigenschaften, die Gegenstände und anderes. Die

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Therapeutin fühlt sich dabei spielerisch in die seelische Prozessarbeit des Patienten ein und hilft ihm implizit als Doppelgängerin und Hilfs-Ich, die Dinge beim Namen zu nennen, sie zu differenzieren, seine Affekte zu »lesen« und also die Wahrheit seiner Seele auf der Tischbühne im Als-ob-Modus zum Ausdruck zu bringen und im Spiel mit den Steinen weiterzuentwickeln. Bei Bedarf ergänzt sie dieses Vorgehen durch die Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7, 4.8 und 4.10). Fallbeispiel 12: Der 41-jährige Herr D. litt an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, einer schweren depressiven Episode und Computerspielsucht (ICD F60.8, F32.2, F63.8) bei einer strukturellen Störung mittleren Grades. Er kam nach einem langen Klinikaufenthalt weiterhin suizidal in die ambulante Therapie. Er hasste sich masochistisch selbstverletzend und entwertete sich selbst so, wie das früher seine Mutter mit ihm gemacht hatte. Die störungsspezische Behandlung seiner Internetsucht und seine Entscheidung zur Abstinenz entlasteten ihn von seinen Scham- und Schuldgefühlen. Er machte innerhalb von zwei Jahren gute therapeutische Fortschritte. Dabei wurde das Bild einer »eigenen Zauberkiste« für ihn zu einem Symbol für seinen eigenen freien Willen. Seine Fortschritte in der Therapie brachten ihn intrapsychisch aber in Konflikt mit seinem pathologischen Mutterintrojekt, sodass er wieder depressiv dekompensierte. Emotionslos stellt er fest: »Ich habe keine Zauberkiste mehr. Ich habe kein Recht darauf.« Zusammen mit dem Therapeuten erkundet er, dass seine innere »Schultermutter«, der Ich-Zustand seines selbstverletzenden Denkens (siehe Kap. 4.7), ihm wie früher wieder blind jedes Recht auf eigene Wünsche abspricht: »Du bist ein Blödmann, du bist schlecht! Du bist egoistisch! Wenn du krank wirst, ist das nur deine Schwäche. Andere sind auch angestrengt!« Bei dem Gespräch über den wieder verloren gegangenen eigenen Willen erzählt Herr D. von seinem Interesse für Puppenhäuser: »Ich weiß noch genau, wie ich als Kind mit etwa acht Jahren bei einem Besuch einer anderen Familie zum ersten Mal ein Puppenhaus sah: Ich staunte. Da waren lauter kleine Stühle und Teller, Lampen und Schränke, alles ganz echt in klein. Ich war fassungslos. Meine Hände wollten wie von allein die Sachen greifen. Ich war fasziniert und begeistert. Die Tochter der Familie stand aber davor und ließ mich nicht damit spielen. Da kam meine Mutter in das Zimmer und holte mich unter irgendeinem Vorwand weg. Ich glaubte ihr!« Der Therapeut möchte den Patienten aus der Identifikation mit seiner Mutter, die ihn als Kind narzisstisch missbraucht hatte, befreien. Er lässt ihn deshalb die erinnerte Kindheitsszene mit Steinen und Bauklötzen auf der Tischbühne aufbauen, mit Steinen für sich selbst, für seine Gefühle, für das Mädchen, für seine Mutter und für die Puppenstube, und die Kindheitserinnerung mit den Steinen nachspielen. Um den Patienten in dem Spiel aber Zugang zur Aktualisierungstendenz seines Selbst finden zu lassen, nimmt der Therapeut das Symbol für die Mutter, einen großen run-

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den Stein, vom Tisch und legt ihn auf einen zwei Meter entfernten Stuhl: »Was hätten Sie in dieser Situation als Kind eigentlich gebraucht? Was hätte ihrer Meinung nach eine gute Mutter stattdessen tun sollen? Ich lege für diese fiktive gute Mutter hier diesen anderen grünen Stein auf den Tisch!« Herr D. zögert: »Die wäre gekommen und hätte das Puppenhaus bewundert, vielleicht das Mädchen überredet, dass ich mit der Puppenstube einmal spielen kann!« Der Therapeut mentalisiert stellvertretend als impliziter Doppelgänger in der Wunschwelt des Patienten: »Ja. Und vorher hätte die gute Mutter Sie angesehen, Ihre leuchtenden Augen bemerkt und vielleicht gesagt: ›Oh, Daniel, die Puppenstube ist schön, findest du nicht auch? Da staunst du!‹ Dann hätte die gute Mutter sich an das Mädchen gewandt: ›Darf Daniel einmal den kleinen Stuhl in die Hand nehmen?‹« Herr D. ist sehr berührt: »Ja, die gute Mutter hätte sich für mich interessiert!« Therapeut: »Ja, sie hätte Ihre leuchtenden Augen gesehen, mit Ihnen mitgefühlt und Ihre Begeisterung empathisch in Worten widergespiegelt.« Herr D. fühlt sich tief verstanden. Der Therapeut und Herr D. einigen sich, dass seine reale Mutter ihm in seiner Kindheit seinen eigenen Willen und die Fähigkeit zu wünschen »gestohlen« hat: »Eine gute Mutter hätte Ihre Wünsche zustimmend geteilt und Sie nicht durch einen Trick von Ihren eigenen Wünschen entfremdet!« In der nächsten Therapiestunde berichtet Herr D.: »Seit der letzten Stunde habe ich wieder so ein Sinnlosigkeitsgefühl, wie ich es kenne, wenn ich absacke. Am Tag nach unserer Stunde fühlte ich: Ich müsste jetzt arbeiten, aber da war gleichzeitig der Impuls: ›Tu es nicht!‹ Da habe ich die Aufgaben einfach schleifen lassen.« Der Therapeut stellt zwei Stühle im Behandlungszimmer auf, einen für den »Selbstschutz durch Anpassung« und einen für das »missbrauchte Kind der Kindheit« (siehe Kap. 4.7), und deutet mit der Hand auf den zweiten Stuhl des »missbrauchten Kindes«: »Ich glaube, das Gefühl von Sinnlosigkeit gehört noch in Ihre Geschichte mit dem Puppenhaus vom letzten Mal. Ihr Sinnlosigkeitsgefühl ist wahrscheinlich das Gefühl, das Sie als Kind empfunden haben, als Ihre Mutter Sie unter einem Vorwand von dem Puppenhaus wegholte und sich gar nicht dafür interessierte, was Sie selbst wollten! Das ist ein Fortschritt, dass Sie die Sinnlosigkeit jetzt so klar zu fühlen wagen!« Körperlich erlebt Herr D. das Gefühl der Sinnlosigkeit »im Oberbauch giftig grün, wie eine Flüssigkeit, die hineinsickert in alle Bereiche seines Lebens«. Der Therapeut: »Sie fühlen, wie sich die Sinnlosigkeit in Ihnen ausbreitet, wenn Ihre Mutter das, wonach Sie sich sehnen und was Sie wünschen, auf Null setzt.« Erst jetzt erzählt Herr D. zum ersten Mal, dass er sich in seinem 14. Lebensjahr aus Streichholzschachteln und Eierschalen selbst ein Puppenhaus gebastelt hatte: »Ich habe mir dazu auch selbst kleine Brote gebacken. Aber eines Tages war das Puppenhaus plötzlich weg! Mit achtzehn Jahren habe ich mir dann in einem Laden aber einfach Puppenstubenmöbel gekauft und die unter meinem Mantel versteckt heimlich ins Haus geschmuggelt. Ich verstehe das jetzt besser, dass meine Mutter und das Sinnlosigkeitsgefühl sich miteinander so wohlfühlen!«

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In der folgenden Therapiesitzung meint Herr D. spontan: »Ich bin heute irgendwie dauernd ärgerlich. Auf Autofahrer, die mich auf der Autobahn geschnitten haben. Und auch auf eine Frau am Telefon, die barsch war. Der werde ich das morgen sagen, dass sie nicht so schroff sein soll! Ich fühle mich wieder selbstbestimmt. Ich habe wieder Zugang zu meinem Puppenhaus! Das ist meine Zauberkiste. Statt Trauer verbinde ich jetzt Freude mit dem Puppenhaus!« Therapeut: »Ihr Sinnlosigkeitsgefühl und Ihre Wut gehören zusammen! Wir haben letzte Stunde zusammen archäologische Ausgrabungen gemacht und nach Ihrem eigenen Willen gesucht.« Der Therapeut und der Patient formulieren zusammen einen Therapiefokus (Kämmerer, 1989, mündliche Mitteilung): »Meine Depression hilft mir, mein Sinnlosigkeitsgefühl wahrzunehmen. Das tritt immer dann ein, wenn ich es wage, meinen Wünschen Berechtigung zu geben, oder wenn ich mir von jemandem Empathie und Mitgefühl wünsche. Bis ich das Sinnlosigkeitsgefühl der Beziehung zu meiner Mutter zuordne und mir meine Puppenstube aus den Händen meiner Mutter zurückhole.«

4.7 Die Repräsentation des Arbeitssystems der Ich-Zustände der Selbstorganisation mit Stühlen Die störungsspezifische Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sollte am Anfang der Therapie weitgehend im Einzelsetting stattfinden. Denn die Umstellung der psychischen Selbstorganisation des Patienten und der Ausgleich der Defizite seines Mentalisierens brauchen so viel Halt und Flexibilität in der therapeutischen Beziehung, dass sie in einem Gruppensetting nur schwer gelingen. Je schwerer strukturell gestört Patientinnen oder Patienten sind, desto stärker arbeitet ihre Selbstorganisation dysfunktional. Diese blockiert dann auch den Abstimmungs- und Einigungsprozess in der therapeutischen Beziehung. Dadurch wird über kurz oder lang die therapeutische Beziehung zum Ort der Konfliktregulation des Patienten, je gestörter der Patient ist, desto mehr. »Der neurotische Modus ist der des Internalising. […] Der strukturelle Modus ist der des Externalising, da die Spannungen dem Außen zugeschrieben und dort bekämpft werden. […] Hier wird die Erregungsspannung vorwiegend im Handeln und im interpersonellen Raum wirksam« (Rudolf, 2006, S. 50). Wenn der Patient einen Ich-Zustand starr dysfunktional ausagiert, delegiert er durch Interaktion den von ihm abgewehrten komplementären IchZustand auf die Therapeutin. Ein masochistisch fixierter Patient zum Beispiel denkt und handelt selbstverletzend und delegiert sein unterdrücktes Selbst auf die Therapeutin. Die Therapeutin ist dann verführt, sich spontan mit diesem von dem Patienten abgewehrten, komplementären Ich-Zustand zu identifizie-

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ren. Das führt oft zu einem latenten oder sogar offenen Machtkampf zwischen dem Patienten und der Therapeutin. Die Therapeutin macht deshalb in der Therapie über die psychodramatische Konfliktverarbeitung hinaus zusammen mit dem Patienten mithilfe der Stühlearbeit immer auch seine psychische Selbstorganisation im Konflikt zum Gegenstand der Behandlung. Dabei nutzt sie im Behandlungszimmer äußerlich wahrnehmbar drei verschiedene Bühnen nebeneinander (siehe Abb. 11): 1. die Bühne der therapeutischen Beziehung (Krüger, 1997, S. 250 ff., Pruckner, 2002, S. 151) mit den zwei Stühlen für den Patienten und die Therapeutin, auf denen sie schon sitzen (in der Abbildung 11 die Stühle 1 und 2), 2. die Bühne für die Symptomszene. Diese steht für das von dem Patienten in der Sitzung spontan vorgebrachte Problem. Die Therapeutin versucht innerlich immer, sich sein Problem szenisch vorzustellen als Konfliktsystem zwischen dem Patienten und einem komplementär agierenden Konfliktpartner (Abb. 11, Stühle 3 und 4). Sie stellt dafür zwei Stühle auf die Bühne, einen für die innere Selbstrepräsentanz des Patienten in seinem Konflikt und einen für seine innere Objektrepräsentanz, bei einem Ehekonflikt zum Beispiel einen Stuhl für den Patienten und diesem gegenüber einen anderen für seine Ehefrau (siehe Abb. 1 in Kap. 1). 3. Die dritte Bühne ist der Interaktionsraum zwischen den verschiedenen Ich-Zuständen der dysfunktionalen Selbstorganisation des Patienten (Abb. 11, Stühle 5–9). Die therapeutische Arbeit auf jeder dieser drei Bühnen ist eng bezogen auf die Arbeit auf den anderen Bühnen und verändert diese mit. Die Gesamtschau dieser drei Bühnen macht es möglich, das auf jeder der drei Bühnen agierte Interaktionsmuster zu erfassen, diese drei Interaktionsmuster wie bei dem szenischen Verstehen von Lorenzer (1970, S. 227) miteinander zu vergleichen und nach Analogien zwischen ihnen zu suchen. Das erleichtert es der Therapeutin und dem Patienten, zu erkennen, wann der Patient in der Symptomszene oder in der therapeutischen Beziehung eine alte Lösung aus seiner Kindheit agiert oder wann er vielleicht auch den Mut hat, sich neu und der Situation angemessener zu verhalten. Die Therapeutin kann dann bei einer alten Lösung jeweils mit der Hand auf den Stuhl des in Abwehr erstarrten dysfunktionalen Ich-Zustands des Patienten deuten, bei einer neuen Lösung aber auf den Stuhl seines »gesunden Erwachsenendenkens« zeigen. Zentraler Gedanke Der Mensch kann sich zwar seiner inneren Konfliktverarbeitung spontan bewusst werden. Er hat aber in seinem Kopf kein Denkmodell, um seine psychische Selbstorganisation ganzheitlich zu erfassen und diese verstehen zu können (Sattelberger, 2013, mündliche Mitteilung). Wenn ein persönlichkeitsgestörter Patient seine dysfunktionale Selbstorganisation zum Gegenstand seines Mentalisierens machen

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soll, muss die Therapeutin ihm deshalb im therapeutischen Prozess zunächst das hier geschilderte Denkmodell zum Verständnis seiner Selbstorganisation anbieten und dieses mit ihm zusammen mit seinem inneren Erleben verbinden.

Die Therapeutin erfasst die jeweiligen dysfunktionalen Ich-Zustände des Patienten mit ihm zusammen auf folgende Weise: Wenn in der therapeutischen Kommunikation der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen der Therapeutin und einem persönlichkeitsgestörten Patienten durch seine dysfunktionale Selbstorganisation gestört ist, gibt sie ihrem eigenen Gefühl der Irritation Berechtigung und nimmt dieses Gefühl aber zum Anlass, nach dem Motto »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst« innerlich spielerisch mit dem dysfunktionalen Denken, Fühlen und Handeln des Patienten mitzugehen und die jeweilige Dysfunktionalität seiner Selbstorganisation als Prozessmuster zu erfassen. Sie repräsentiert dieses als Ich-Zustand mit einem Stuhl auf der Zimmerbühne (siehe Abb. 11), beschreibt handlungsnah und szenisch die je spezifische Arbeit des IchZustands im Gesamtsystem der psychischen Selbstorganisation, benennt ihn mit einem dazu passenden Namen und macht ihn so zum Objekt der gemeinsamen Betrachtung. Dadurch befreit die Therapeutin sich aus einer beginnenden Gegenübertragungsreaktion. Zugespitzt ausgedrückt handelt sie dabei nach dem Prinzip: »Aller Schiet muss raus auf die Bühne!« Anschließend konkretisiert sie auch die anderen vier Ich-Zustände der Selbstorganisation des Patienten, mit denen sein dominant agierter dysfunktionaler Ich-Zustand im Kampf liegt, mit Stühlen. Zentraler Gedanke Bei der Repräsentation der Ich-Zustände mit Stühlen sind die Zahl und die Art der im Folgenden beschriebenen Ich-Zustände eines Patienten bestimmt durch die Zahl seiner möglichen inneren Abwehrmechanismen (siehe Kap. 4.10 und Abb. 13). Die Therapeutin sollte sie deshalb nicht noch durch zusätzliche andere ergänzen oder sie in ihrer Funktion umdefinieren. Die hier aufgeführten Ich-Zustände repräsentieren das gesamte Arbeitssystem der Selbstorganisation des Menschen und sind in sich ein logisches Ganzes. Empfehlung Wenn Sie als Leserin oder Leser die Stühlearbeit in der Behandlung einer Ihrer Patientinnen oder Patienten anwenden wollen, fotokopieren Sie sich die Abbildung 11 und legen diese während der Arbeit vor sich auf den Tisch. Das macht es Ihnen leichter, sich in der dysfunktionalen Selbstorganisation Ihres Patienten und dem System der Ich-Zustände zu orientieren. Sie folgen bei der Aufstellung dann dem folgenden Schema:

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1. Die Therapeutin stellt direkt neben dem Patienten einen Stuhl auf für sein Selbstschutzverhalten (Stuhl 5). Damit kennzeichnet sie, dass der Patient in seinem Konflikt »nur« so tut, als ob, oder »nur« funktioniert und sich selbst anpasst durch Übernahme einer selbst kreierten oder von seiner Konfliktpartnerin erwarteten Rolle. Auch das unbewusste Spiel der Rolle des Helden, dem nichts etwas anhaben kann, die Abwehr durch Grandiosität, ist ein »Selbstschutzverhalten«. Die Therapeutin deutet das Selbstschutzverhalten dem Patienten gegenüber aktiv als »eine von mehreren möglichen Lösungen« im Umgang mit sich selbst und mit anderen. In der Schematherapie wird dieser dysfunktionale Ich-Zustand »distanzierender Selbstschutzmodus« genannt (Arntz und van Genderen, 2010, S. 12): Die Patientin »wirkt relativ erwachsen und ruhig. Der Therapeut könnte annehmen, der Patientin geht es gut. Tatsächlich setzt die Patientin diesen schützenden Modus ein, um ihre Gefühle der Angst (verlassenes Kind), Unterlegenheit (Bestrafung) oder Wut (impulsives Kind) nicht erleben oder zeigen zu müssen. […] Es ist gefährlich, Gefühle zu zeigen, Wünsche zu äußern und seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Die Patientin hat Angst, die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. […] Dies wird besonders deutlich, wenn sie Bindungen zu anderen Menschen eingeht. Der Selbstschutzmodus hält andere auf Abstand.« 2. Die Therapeutin benennt jedes angemessene Denken des Patienten in seinem Konflikt sofort als gesundes Erwachsenendenken (Stuhl 1) und benennt den »normalen« Patientenstuhl, auf dem er ihr gegenüber im Gespräch sitzt, zum »Stuhl, der sein gesundes Erwachsenendenken« repräsentiert. Dieses ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, sich selbst in seinem Handeln innerlich empathisch zu begleiten und dem eigenen Fühlen, Handeln und Wollen und dem des anderen im Konflikt innerlich angemessen Berechtigung zu geben. Zentraler Gedanke Das »gesunde Erwachsenendenken« entwickelt sich in der Therapie erst allmählich. Denn es ist eigentlich in der dysfunktionalen Arbeit der Ich-Zustände des Patienten versteckt mitenthalten. Es verbessert sich dadurch, dass der Patient durch die Stühlearbeit seine Fixierung in die dysfunktionale Arbeit seiner Ich-Zustände auflöst, den Sinn jedes einzelnen Ich-Zustands im Arbeitssystem seiner psychischen Selbstorganisation erkennt und »lernt«, seine Ich-Zustände aufeinander bezogen arbeiten zu lassen (siehe Kap. 4.10).

In der Schematherapie ist der gesunde Erwachsenen-Modus »genau dieser Modus, den die Patientin kultivieren und schließlich beibehalten sollte. […] Er hat […] in der Anfangsphase der Therapie nur selten eine hohe Ausprägung.

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[…] Der Rückstand der Entwicklung der Patientin in Bereichen wie Beziehungsgestaltung, Selbstständigkeit, Fähigkeit, sich auszudrücken, oder Selbstwertgefühl und eine mangelnde Erfahrung im Umgang mit realistischen Grenzen machen es erforderlich, dass der Therapeut als Vertreter der ›gesunden Seite‹ handelt. Dies […] besonders zu Beginn der Therapie. […] Während späterer Phasen hilft dieser Modus, […] gesunde Ziele zu erreichen« (Arntz und van Genderen, 2010, S. 17). 3. Die Therapeutin verfolgt das Selbstschutzverhalten des Patienten durch die Übertragungsfrage hinein in seine Vorgeschichte und Kindheit: »Wie alt ist eigentlich Ihr Selbstschutzverhalten? Woher kennen Sie das noch, dass Sie eine nicht zu bewältigende Stresssituation erleben und sich dann aber mit aller Kraft bemühen, Ihre Gefühle nicht zu zeigen und nicht aufzufallen?« Der Patient erinnert sich dann vielleicht, dass er als Kind vom Vater immer geschlagen wurde, weil der Vater ihn anders haben wollte, als er war, und dass sein Weinen den Vater nur noch mehr gereizt hätte. Oder dass er die schlechte Behandlung durch seine Großeltern heldenhaft aushielt und den Eltern nichts davon erzählte, weil er diesen nicht noch mehr Kummer machen wollte. Die Therapeutin repräsentiert die durch die Übertragungsfrage herausgearbeitete leidvolle Kindheitserinnerung des Patienten im Therapieraum mit einem zusätzlichen leeren Stuhl für das »missbrauchte, verlassene oder beschämte Kind« (Stuhl 6). Sie würdigt die krankmachende Qualität der leidvollen Kindheitserfahrung und benennt zum Beispiel traumatisierende Situationen explizit als »Traumaerfahrung« des Patienten (siehe Kap. 5.5). Die Übertragungsfrage lässt den Patienten für sein aktuell unangemessenes Fühlen, Denken und Verhalten innerlich einen Sinnkontext mit einer Erinnerung aus der Vergangenheit herstellen und innerlich spielerisch in diese genetische Szene hineinwechseln. Dabei zeigt sich meistens, dass das Selbstschutzverhalten in der Kindheitssituation ursprünglich eine angemessene kreative Lösung des Kindes war. Diese Erkenntnis erleichtert es der Therapeutin, das Selbstschutzverhalten des Patienten in seinem gegenwärtigen Konflikt nicht mehr nur als defizitär zu sehen, sondern dieses radikal positiv umzubewerten in ein auf dem Hintergrund seiner Kindheit verständliches Fühlen und Handeln. Ein solches Vorgehen verbindet den Patienten implizit mit der Aktualisierungstendenz seines Selbst, lässt ihn sich selbst besser verstehen und gibt ihm so seine Würde als Mensch zurück. Die Benennung des Ich-Zustandes »missbrauchtes oder verlassenes Kind« habe ich von der Schematherapie übernommen. In diesem Modus ist die Patientin »traurig, verzweifelt, untröstlich und oft total panisch, […] verändert […] häufig die Stimme […] zu der eines kleinen Kindes. Ihre Gedanken und ihr Verhalten werden die einer Vier- bis Sechsjährigen. Sie fühlt sich allein in der Welt. […] Jeder wird sie ausnutzen

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und schließlich im Stich lassen. Die Welt ist ein bedrohlicher, gefährlicher Ort. Die kleine Nora unterteilt die Welt in Schwarz und Weiß. Sie fordert sofortige und konstante Bestätigung und Lösung ihrer Probleme […]« (Arntz und van Genderen, 2010, S. 14). 4. Wenn der Patient unangemessen wütend reagiert, stellt die Therapeutin zusätzlich einen leeren Stuhl für sein »inneres wütendes Kind« (Stuhl 7) auf. Sie interpretiert damit den Wutaffekt des Patienten als zwar grundsätzlich berechtigt, aber bisher noch nicht ausreichend in die gegenwärtige Realität integriert (siehe Fallbeispiele 15, 47 und 53). Das »wütende Kind« ist potenziell das »gesunde innere Kind«. Es entwickelt sich meist erst im Verlaufe der Therapie. Arntz und van Genderen (2010, S. 15) nennen es das »wütende, impulsive Kind«: »Die ›zornige Nora‹ verhält sich wie ein wütendes, frustriertes und ungeduldiges kleines Kind (ungefähr vier Jahre alt), das keinen Gedanken an andere verschwendet. […] Die Patientin ist verbal und manchmal auch körperlich aggressiv und gibt bissige Kommentare gegenüber anderen, ihren Therapeuten eingeschlossen. Sie ist aufgebracht, da ihre Bedürfnisse nicht gestillt werden und ihre Rechte unbeachtet bleiben. […] Sie ist nicht nur aufbrausend, sondern will auch, dass jeder merkt, wie schlecht sie behandelt wird. Dies erreicht sie, indem sie andere angreift […], sich selbst verletzt, versucht, sich oder sogar andere aus Rache zu töten […]. In abgeschwächter Weise wird Nora […] ihren Ärger zeigen, indem sie Sitzungen schwänzt oder die Therapie ganz abbricht. […] Im Selbstschutzmodus ist das Verhalten kontrollierter und eher zynisch als aufbrausend.« 5. Manche Patienten neigen dazu, sich in Konflikten vorsorglich masochistisch selbst zu entwerten und unangemessen mit Minderwertigkeits-, Schuldund Schamgefühlen zu reagieren, schon bevor sie von anderen kritisiert oder angegriffen werden. Masochismus ist nach Rohde-Dachser (1976, mündliche Mitteilung) »der Schrei nach Empathie«. Damit ist gemeint, dass masochistisch handelnde Patienten sich in gegenwärtigen Beziehungen selbst auf ähnliche Weise entwerten oder schädigen, wie sie früher als Kind von einer Bezugsperson entwertet oder geschädigt worden sind. Andere Patienten treiben sich blind zu immer grandioseren Leistungen an, um der Kritik anderer Menschen zuvorzukommen und im Konflikt keine »Schläge« zu bekommen. Die Therapeutin antwortet darauf, indem sie dem Patienten gegenüber einen zusätzlichen leeren Stuhl aufstellt für sein »selbstverletzendes Denken oder Handeln« (Stuhl 8). Sie sucht zusammen mit ihm nach einem für den Patienten passenden Namen für diesen Ich-Zustand und nennt ihn zum Beispiel sein »masochistisches Denken«, seine »überkritische Haltung sich selbst gegenüber«, seinen »inneren Staatsanwalt«, seine »innere Gouvernante« oder den »Teufel, der ihm schlechte Gedanken eingibt«.

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Zentraler Gedanke Der Mensch kann innere Objektrepräsentanzen von Bezugspersonen aus der Kindheit nicht aus seinen Erinnerungen tilgen außer durch seinen Tod. Er kann aber lernen, das in Identifikation mit den Bezugspersonen der Kindheit entstandene selbstverletzende Denken und Fühlen oder seinen von ihm selbst entwickelten »inneren Sklaventreiber« im Laufe der Zeit wegzulassen. Das »selbstverletzende Denken« ist ein Ich-Zustand, der für eine angemessene Selbstorganisation nicht gebraucht wird.

Der »Ich-Zustand des selbstverletzenden Denkens oder Handelns« wird in der Schematherapie als der »bestrafende oder überkritische Modus« (Arntz und van Genderen, 2010, S. 16) bezeichnet. Die Patientin ist sich selbst gegenüber »höhnisch, missbilligend und demütigend. […] Der Modus bezeichnet Nora als Angeberin. Wenn sie etwas nicht schafft, dann nur, weil sie sich nicht genug angestrengt hat. Für Gefühle hat der bestrafende Modus wenig Interesse. […] Wenn etwas schief geht, ist es ihr Fehler. In ihrer Vorstellung ist ihr Erfolg ausschließlich von ihrem Willen zum Erfolg abhängig. Wenn sie versagt oder etwas nicht funktioniert, hat sie es offensichtlich nicht gewollt. […] Sie provoziert überall Bestrafung, auch bei ihrem Therapeuten. Sie lehnt es ab, an ihrer Behandlung mitzuarbeiten. Dies hat häufig einen vorzeitigen Therapieabbruch zur Folge.« 6. Hinter den Stuhl für das »selbstverletzende Denken« stellt die Therapeutin bei Bedarf noch einen weiteren leeren Stuhl für die innere Objektrepräsentanz der schädigenden Bezugspersonen des Patienten aus seiner Kindheit (Stuhl 9) auf, die ihn durch Missbrauch oder Vernachlässigung geschädigt hat. Eventuell hat der Patient sich deren Denken und Fühlen durch Identifizierung mit dem Angreifer zu eigen gemacht hat. Bei traumatisierten Patienten kann dieser Stuhl auch ein inneres pathologisches Introjekt (siehe Kap. 5.12) repräsentieren. Der Stuhl für die innere Objektrepräsentanz der schädigenden Bezugsperson der Kindheit nimmt in der Aufstellungsarbeit eine Sonderstellung ein, denn er ist eigentlich kein Ich-Zustand. Bei dem Aufstellen der Ich-Zustände sind die in der Abbildung 11 vorgegebene Positionierung der leeren Stühle im Raum und die Richtung der Pfeile für die verschiedenen »Blickrichtungen« der Stühle nicht zufällig. Ihre Ausrichtung gibt Auskunft darüber, ob der betreffende Stuhl zum Selbstempfinden des Patienten gehört oder einem Beziehungsobjekt zuzuordnen ist. Das Selbstschutzverhalten steht gewöhnlich vor dem Stuhl für das »verlassene Kind« und blickt gleichsam Schulter an Schulter in dieselbe Richtung wie das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten und seine innere Selbstrepräsentanz in der Symptomszene. Der Patient empfindet diese dadurch leichter als zu seinem

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Selbst gehörig. Der Stuhl für das »wütende Kind« ist am Anfang der Therapie meistens noch gar nicht da oder noch weit entfernt in der Zimmerecke positioniert. Dagegen stehen die Stühle für den Konfliktpartner in der Symptomszene, für das selbstentwertende Denken und dahinter der Stuhl für die schädigende Bezugsperson aus der Kindheit dem Patienten immer Gesicht zu Gesicht gegenüber und blicken ihn gleichsam an. Denn sie sollen von ihm als zu Beziehungsobjekten gehörig erlebt werden. Fallbeispiel 13: Der 26-jährige Fliesenleger Herr C. leidet an rezidivierenden depressiven Episoden, Computerspielsucht, einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (F33.2, F63.8, F60.8) und einer mittleren strukturellen Störung. Er ist seit einem halben Jahr in Einzeltherapie. Er hat starke Leistungsprobleme, behauptet aber, mit seiner Einmannfirma »alle Aufträge zu bekommen, die er will«. Wie sich im Laufe der Therapie herausstellt, gelingt ihm das nur, weil er seinen Kunden immer den niedrigsten Kostenvoranschlag macht. Um bei seiner Arbeit doch noch einen Gewinn zu machen, plant er für seine Arbeit immer viel zu wenig Zeit ein. Aus Angst vor Kritik seiner Kunden ist er gleichzeitig perfektionistisch. In der Realität kann er deshalb seinen Zeitplan fast nie einhalten. Das Scheitern an seinem Plan löst bei ihm aber jeweils schwere Selbstwertkrisen bis hin zu Suizidgedanken aus. Denn es aktualisiert bei ihm traumatische Erfahrungen aus seiner Kindheit. Seine Familie war zerrüttet gewesen. Zwischen seinem vierten und zehnten Lebensjahr saß er als kleiner Junge nachts oft allein weinend im Hausflur auf der Treppe und wartete auf seine Eltern, bis Nachbarn sich seiner erbarmten und ihn zu sich in die Wohnung nahmen. Wegen Vernachlässigung und einer neurotischen Lernstörung hatte er als Kind trotz guter Intelligenz drei Jahre lang die Sonderschule besuchen müssen. Durch seine dysfunktionale Selbstregulation im Leistungsbereich ist der Patient nahezu arbeitsunfähig. Durch Geldsorgen kommt es immer wieder zu schweren Beziehungskonflikten mit seiner Ehefrau. Diese will sich in nächster Zeit von ihm trennen. In der Therapie wirkt der Patient verzweifelt und wieder suizidgefährdet. In der Begegnung hat der Therapeut den Eindruck, Herrn C. auf der Ebene der rein verbalen Kommunikation nicht zu erreichen. Es ist so, als ob zwischen ihm und dem Patienten eine Glaswand wäre. In dieser therapeutischen Situation entschließt sich der Therapeut, sich zur Krisenintervention zusammen mit dem Patienten mithilfe der Stühlearbeit zunächst einmal in dessen dysfunktionaler Selbstregulation zu orientieren. Am Ende der Therapiestunde stehen in dem Therapieraum nach dem Muster der Abbildung 11 für den Patienten verschiedene leere Stühle im Therapiezimmer. Der Konflikt mit seiner Ehefrau ist als Symptomszene mit zwei Stühlen repräsentiert. Neben Herrn C. steht ein Stuhl für sein Selbstschutzverhalten durch Grandiosität, wie er es agiert, wenn er seinen Zeitplan bei der Arbeit viel zu kurz berechnet und aber stolz ist, alle Aufträge zu bekommen. Oder

Die Repräsentation des Arbeitssystems der Ich-Zustände

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wenn er gleichsam als weißer Ritter in der Welt real für Gerechtigkeit sorgt. Herr C.: »Ja das kann ich gut, für andere kann ich mich total einsetzen! Und das klappt dann auch! Meine Stieftochter habe ich aus der Drogenszene herausgeholt. Nur für mich selbst kann ich das nicht!« Der Therapeut: »Wenn jemand anderes ungerecht behandelt wird, dann kommt in Ihnen jetzt anders als in Ihrer Kindheit Wut hoch. Ich stelle für das wütende Kind in Ihnen auch noch diesen Stuhl neben Sie. Aber wenn jemand Sie selbst kritisiert, zum Beispiel ein Kunde oder Ihre Frau, dann sind Sie nicht wütend, dann sind Sie wieder das verlassene und beschämte Kind aus Ihrer Kindheit. Ich stelle für das verlassene Kind, das Sie waren, hier auch noch einen Stuhl hin. Setzen Sie sich doch einmal auf diesen Stuhl!« Herr C. folgt der Aufforderung. Der Therapeut weist mit der Hand auf den jetzt frei gewordenen Stuhl des Patienten gegenüber dem Therapeuten: »Das ist der Stuhl für Ihr gesundes Erwachsenendenken, mit dem Sie hier in der Therapiestunde gerade fühlen: ›Ich möchte ja alles können, aber es geht nicht!‹« Der Therapeut positioniert gegenüber von Herrn C. einen weiteren Stuhl für dessen »selbstverletzendes Denken und Fühlen«. Er stellt sich hinter diesen und verbalisiert die Arbeitsweise dieses dysfunktionalen Ich-Zustands: »Und hier als Ihr innerer Zensor sagen Sie zu sich: ›Einfach sagen, es geht nicht, da machst du es dir aber einfach! Irgendwann muss es doch auch mal klappen! Ich finde dich ziemlich mickrig.‹« Der Therapeut lässt den Patienten wieder auf den Stuhl seines gesunden Erwachsenendenkens wechseln und doppelt ihn dort: »Aber es geht wirklich nicht. Ich will ja, aber ich sitze da, es ist wie eine Bremse! Stimmt das so?!« Herr C.: »Ja, ich will es machen, aber wenn ich es will, ist mein Gehirn plötzlich wie eingefroren. Plötzlich geht nichts mehr!« Der Therapeut tritt wieder neben den Stuhl des sadistischen ÜberIchs: »Dann meldet sich wieder diese Seite Ihrer Seele und sagt: ›Na, das ist doch auch klar, du bist eben ein Loser!‹« Herr C.: »Genau, dann denke ich: Das ist nichts für dich! Du warst auf der Sonderschule, kannst ja nicht einmal richtig schreiben! Zuletzt habe ich das 2001 von meinem Vater gehört: ›Das schaffst du sowieso nicht!‹ Da wollte ich Vertreter werden, weil ich die ganzen Prüfungsblätter meiner Frau damals fünfzigmal mit durchgemacht hatte und alles konnte!« Der Therapeut stellt hinter den Stuhl des »inneren Kritikers« des Patienten einen zusätzlichen Stuhl, der den Vater des Patienten symbolisiert: »Das ist ein großes Problem, glaube ich, dass Sie sich heute selbst genauso entwerten, wie Sie früher von Ihrem Vater entwertet worden sind! Vielleicht können Sie mit der Zeit lernen, diese Ihre Selbstentwertung wegzulassen! Die brauchen Sie eigentlich nicht!« Am Ende der Therapiestunde ist die Glaswand in der therapeutischen Beziehung verschwunden, sie taucht auch in den nächsten Therapiesitzungen nicht wieder auf.

Das Aufstellen der dysfunktionalen Ich-Zustände mit leeren Stühlen hat in diesem Fallbeispiel die innere Ich-Konfusion des Patienten in einen äußerlich

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

wahrnehmbaren Interaktionsraum zwischen seinen verschiedenen Ich-Zuständen umgewandelt und so den dysfunktionalen Machtkampf zwischen seinen verschiedenen Ich-Zuständen deutlich gemacht. Dabei half der Therapeut dem Patienten als Doppelgänger und Hilfs-Ich, die Arbeit seiner verschiedenen dysfunktionalen Ich-Zustände in seinem Konflikt mit der Ehefrau differenziert und gezielt nachzuvollziehen und löste dadurch seine traumatisch bedingte Ich-Konfusion auf. Der Patient verstand sich in seiner Krise erstmals selbst und konnte so seinen gegenwärtigen Konflikt zum ersten Mal im Als-ob-Modus mentalisieren. Die Therapeutin kann, wenn ihr Therapiezimmer sehr klein ist, die verschiedenen Ich-Zustände auch mit Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne aufstellen statt mit Stühlen. Der Nachteil dabei ist, dass der innere Wechsel in einen anderen Ich-Zustand dann nicht durch Stuhlwechsel leiblich seelisch erlebt wird, sondern »nur« durch Anfassen des entsprechenden anderen Steins vollzogen werden kann. Das macht das gefühlsmäßige Differenzieren zwischen den Ich-Zuständen schwerer. Andererseits symbolisiert der Patient dabei seine verschiedenen Ich-Zustände aber mit Steinen von verschiedener Größe, Farbe und Form und kann diese Symbole in der nächsten Therapiestunde wiederverwenden (Zilch-Purucker, 2012, mündliche Mitteilung). Übung 7 Die in den Abbildung 11 und 13 dargestellten fünf verschiedenen Ich-Zustände repräsentieren das Arbeitssystem der psychischen Selbstorganisation des Menschen. Sie können als Leserin oder Leser den Sinn dieses Denkmodells leichter erfassen, wenn Sie die an Ihrer eigenen psychischen Selbstorganisation beteiligten Ich-Zustände in einer Übung anhand eines eigenen Konfliktes psychodramatisch in sich lebendig werden lassen: 1. Stellen Sie zunächst entsprechend der Abbildung 11 alle neun Stühle für die Aufstellungsarbeit in Ihrem Zimmer auf. 2. Wählen Sie innerlich einen eigenen Konflikt aus, den Sie schon erfolgreich bewältigt haben. 3. Verschieben Sie diesen Konflikt in Ihrer Vorstellung nach außen auf die beiden Stühle der Symptomszene. 4. Setzen Sie sich jetzt nacheinander auf jeden Stuhl der fünf Ich-Zustände und erarbeiten Sie sich dort jeweils die Antwort auf die Frage: »Wenn ich, anders als in der Realität, bei meiner Konfliktlösung persönlichkeitsgestört gedacht, gefühlt und gehandelt hätte, wie hätte sich dieser spezielle Ich-Zustand dann in meinem Denken, Fühlen und Handeln in meinem Konflikt gezeigt?« Sie werden merken, dass die Stühlearbeit Ihre Konfliktverarbeitung in spezifischer Weise aktiviert, differenziert und erweitert.

Problembewusstsein für die dysfunktionale Selbstorganisation entwickeln

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4.8 Problembewusstsein für die Dysfunktionalität der psychischen Selbstorganisation entwickeln Bei Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen ist die strukturelle Störung ihrer psychischen Selbstorganisation so mit ihrem Identitätsgefühl verbunden, dass sie keine Hoffnung haben, sich ändern zu können (siehe Kap. 4.1). Der Patient muss deshalb zunächst Problembewusstsein für die Dysfunktionalität seiner Selbstorganisation entwickeln und merken, dass er automatisch immer mit demselben einseitigen dysfunktionalen Denk- und Handlungsmuster reagiert. Zentraler Gedanke Bei Patienten mit verschiedenen Persönlichkeitsstörungen sind jeweils andere dysfunktionale Ich-Zustände vorherrschend. Bei einer masochistischen Persönlichkeitsstörung dominiert das selbstschädigende Denken und Fühlen, bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung der Selbstschutz durch Grandiosität, bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung der Wechsel zwischen dem wütenden Kind und dem inneren verlassenen Kind (siehe Kap. 4.9) usw.

Der jeweils dominante dysfunktionale Ich-Zustand versperrt der Therapeutin wie eine verschlossene Tür den Zugang zu dem Prozess der Selbstorganisation des Patienten. Deshalb sollte sie diesen dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand des Patienten möglichst früh mit einem leeren Stuhl konkretisieren, den Patienten dadurch unausgesprochen über seine dysfunktionale Art zu denken, zu handeln und zu fühlen in Kenntnis setzen und ihn durch Stuhlwechsel den Unterschied zwischen seinem dysfunktionalen Denken und seinem gesunden Erwachsenendenken leiblich-seelisch erlebbar machen. Fallbeispiel 14: Herr E. leidet an einer sozialen Phobie bei einer ängstlichen, vermeidenden Persönlichkeitsstörung (ICD F60.6). Er fühlt sich von seiner Arbeit »immer erschöpft«. Gewohnheitsmäßig entwertet er in vorauseilender Identifizierung mit eventuellen Kritikern sich schon selbst. Er ist gefangen in einem Hilflosigkeitssyndrom, das er dem Therapeuten gegenüber masochistisch agiert. Der Therapeut: »Ich erlebe es so, dass Sie sich blind selbst entwerten und Untauglichkeit zuschreiben. Ich stelle hier Ihnen gegenüber einen Stuhl hin für dieses ›selbstverletzende Denken‹.« Herr E.: »Aber ich dachte, das ist doch wahr, dass es keinen Grund gibt, erschöpft zu sein.« Der Therapeut: »Wechseln Sie doch bitte einmal auf diesen Stuhl Ihrer Selbstentwertung und Selbstvorwürfe! Was fällt Ihnen dort ein, was Sie als Ernst alles nicht können?« Herr E. setzt sich auf den Stuhl seiner Selbstentwertung und

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antwortet mit Blick auf seinen eigenen Stuhl: »Eigentlich ist das ein Wunder, dass der überhaupt noch seine Arbeit schafft! Aber lange hält der das bestimmt nicht mehr durch. Andere sind viel besser als der!« Der Therapeut: »Das hört sich so an, als ob Sie sich selbst verachten!« Herr E.: »Naja, stimmt!« Therapeut: »Tauschen Sie doch einmal wieder zurück auf Ihren ersten Stuhl. Ich nenne diesen den Stuhl für Ihr gesundes Erwachsenendenken. Im Unterschied zu Ihrem gesunden Erwachsenendenken ist Ihr Selbstkritiker hier auf dem anderen Stuhl blind. Der guckt gar nicht hin, was Sie gerade tun. Vielleicht könnten Sie von Ihrem gesund erwachsen denkenden Stuhl aus einmal beschreiben, was der Herr E. an seiner Arbeitsstelle gerade fühlt und was er da erlebt. Ich stelle für Sie und Ihr Problem an Ihrer Arbeitsstelle hier diese beiden anderen leeren Stühle als Symptomszene dazu.« Der Patient erlebt durch die Konkretisierung seines »selbstverletzenden Denkens« als leerer Stuhl außen auf der Bühne, durch die Benennungen seiner Ich-Zustände und durch den Rollenwechsel zwischen seinem »selbstverletzenden Ich-Zustand« und seinem »gesunden Erwachsenendenken« erstmals bewusst die Differenz zwischen seinen beiden Arten zu denken und zu fühlen. Zwei Sitzungen später meint er spontan: »Ich wusste gar nicht, was für eine große Last ich dauernd mit mir herumschleppe. Ich glaube, ich bin depressiv.« Der Patient war damals noch zu wenig introspektiv, um seine Selbstentwertung mit seinen Beziehungstraumata in der Kindheit in Zusammenhang zu bringen. Fallbeispiel 15: Die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidende 52-jährige Frau F. (F60.31, F33.2) war von ihrem Arbeitgeber fristlos gekündigt worden. Nach kurzem Klinikaufenthalt sitzt sie ohne jede Selbstreflexion wütend vor dem Therapeuten, beschimpft ihren früheren Chef, erzählt aber nicht, was am Arbeitsplatz vorgefallen ist. Unausgesprochen fordert sie vom Therapeuten blindes Verständnis für ihre Wut. Der Therapeut identifiziert sich wegen ihrer mangelnden Selbstreflexion innerlich zunächst spontan mit dem Vorgesetzten der Patientin. Statt sich nun aber gegen das Agieren der Patientin zu wenden, erfasst der Therapeut ihren dysfunktionalen Ich-Zustand als solchen und repräsentiert ihn außen im Therapiezimmer: »Ich stelle hier neben Sie einen Stuhl hin für das ›wütende Kind‹ in Ihnen, das Sie gerade sind. Mögen Sie sich einmal auf diesen Stuhl setzen?« Frau F. folgt der Aufforderung und meint spontan: »Stimmt! Ich fühle mich auch wie ein Kind! Mein Chef hat sich wirklich schlecht benommen!« Wie ausgewechselt kann die Patientin plötzlich ruhig die Ereignisse schildern, die der Kündigung vorausgingen. Die Geschichte erweist sich jetzt als eine real merkwürdige Mobbinggeschichte. Der Therapeut bekommt durch die Schilderung der Patientin Mitgefühl mit ihr, kann sie in ihren Emotionen verstehen und sie hilfreich unterstützen (Fortsetzung in Kap. 4.13).

Problembewusstsein für die dysfunktionale Selbstorganisation entwickeln

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Um den Patienten Problembewusstsein für die Dysfunktionalität seiner psychischen Selbstorganisation entwickeln zu lassen, geht die Therapeutin die folgenden Schritte: 1. Im Gespräch mit dem Patienten identifiziert sie sich innerlich mit seiner Selbstorganisation und fühlt sich, gesund erwachsen denkend, in seinen Konflikt ein. 2. Sobald der Patient im Gespräch dysfunktional denkt, entsteht für sie eine Diskrepanz zu ihrer gesund erwachsenen Art, seinen Konflikt zu mentalisieren. 3. Als Doppelgängerin für das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten versteht sie diese Diskrepanz entsprechend dem Modell der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation (siehe Abb. 11 und Kap. 4.7) als dysfunktionales Denken, benennt die jeweils persönliche Art des Patienten, dysfunktional zu denken, mit dem passenden Namen des jeweiligen dysfunktionalen Ich-Zustands und repräsentiert diesen mit einem leeren Stuhl im Therapiezimmer. 4. Sie lässt den Patienten auf diesen zweiten Stuhl seines repräsentierten dysfunktionalen Ich-Zustands wechseln und ihn dort die dysfunktionale Art seines Denkens und Fühlens unvermischt mit seinem gesunden Erwachsendenken leiblich-seelisch ausspielen. 6. Dieser Rollenwechsel macht den Stuhl für das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten frei, auf dem der Patient am Anfang der Therapiestunde gesessen hatte. Die Therapeutin deutet mit der Hand auf diesen Stuhl und nennt ihn den Stuhl für sein »gesundes Erwachsenendenken«. Dadurch macht sie dem Patienten die Differenz zwischen seinen zwei verschieden Arten, zu denken und zu fühlen leiblich-seelisch bewusst, zwischen seinem dysfunktionalen und seinem »gesunden Erwachsenendenken«. 7. Die Therapeutin lässt den Patienten wieder auf den Stuhl seines »gesunden Erwachsenendenkens« zurückwechseln und arbeitet mit ihm heraus, welche seiner Gedanken und Gefühle in seinem Konflikt zu seinem gesunden Erwachsenendenken gehören bzw. was er denken würde, wenn er gesund erwachsen dächte. 8. Wenn der Patient im weiteren Gespräch erneut dysfunktional denkt, weist sie mit der Hand jeweils auf den Stuhl, der diesen seinen dysfunktionalen Ich-Zustand repräsentiert, und verbalisiert als Hilfs-Ich dessen Arbeit in einem symbolischen Satz. Sie sagt zum Beispiel bei masochistischem Denken: »Für Ihren inneren Kritiker ist es völlig klar: Sie sind nichts und Sie können nichts!« 9. Wenn der Patient auch dadurch nicht in eine Ja-aber-Haltung zu seinem masochistischen Denken und Fühlen gelangt, lässt die Therapeutin ihn auf den Stuhl seines »selbstverletzenden Denkens« wechseln und den dysfunktionalen Ich-Zustand intensiv erkunden: »Ich glaube, Sie sind völlig mit Ihrem inneren Kritiker identifiziert. Setzen Sie sich deshalb doch bitte auf dessen Stuhl. Beschimpfen Sie sich bitte von dort aus selbst! Was finden Sie an sich alles schlecht?« Durch die getrennte Aufstellung des dysfunktionalen Ich-Zustands auf der Zimmerbühne mit einem leeren Stuhl und den Wechsel von einem Stuhl zum

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anderen sieht der Patient seinen jeweils gerade nicht agierten Ich-Zustand aus der Beobachterperspektive bzw. aus der Spiegelposition heraus außen im Behandlungszimmer als Stuhl real weiterhin präsent und so als seine andere Denkmöglichkeit gegenwärtig. Dadurch gewinnt er neu eine Wahlmöglichkeit. Er kann sich spielerisch in sein dysfunktionales Denkmuster hineinversetzen, er kann sich von diesem Ich-Zustand aber auch distanzieren und sein dysfunktionales Denken nach außen auf den anderen Stuhl verbannen. Zentraler Gedanke Der Als-ob-Modus des äußeren psychodramatischen Spiels und der äußere Rollenwechsel zwischen den verschiedenen Stühlen der Ich-Zustände ermöglichen es persönlichkeitsgestörten Patienten, innerlich bewusst zwischen ihren verschiedenen Ich-Zuständen hin und her zu wechseln, statt zwischen ihnen nur unbewusst hin und her zu »flippen« (siehe Kap 4.3 und Abb. 12). Der Patient lernt dadurch leiblich-seelisch, früher zu merken, dass er sich selbst gerade wieder dysfunktional steuert und entwickelt so Problembewusstsein für seine dysfunktionale psychische Selbstorganisation.

Er nimmt sich in seiner dysfunktionalen Selbstorganisation ganzheitlich wahr und versteht sich erstmals selbst. Das Repräsentieren des dominanten dysfunktionalen Ich-Zustands des Patienten außen auf der Zimmerbühne hilft aber auch der Therapeutin, denn es schützt sie davor, auf den dysfunktionalen IchZustand des Patienten konkordant oder komplementär mit einer Gegenübertragung zu reagieren. Übung 8 Erproben Sie als Leserin oder Leser dieses Vorgehen einmal selbst in Ihrer Praxis in der Behandlung eines persönlichkeitsgestörten Patienten! Sie werden merken: Das Repräsentieren eines dominanten dysfunktionalen Ich-Zustands eines Patienten als Stuhl wirkt sich auf die therapeutische Beziehung befreiend aus.

4.9 Der spezielle therapeutische Zugang zu Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung In der störungsspezifischen psychodramatischen Therapie von Patientinnen und Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung verwirklicht die Therapeutin die »stabile Instabilität« des Patienten, sein Alternieren zwischen den zwei konträren Ich-Zuständen (siehe Kap. 4.3), indem sie die beiden Ich-Zustände mit-

Die störungsspezifische Therapie einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

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hilfe von zwei leeren Stühlen im Therapiezimmer symbolisiert und den Patienten im Als-ob-Modus des Spiels zwischen dem einen und dem anderen, passend zu seinem jeweiligen Alternieren, hin und her wechseln lässt. Fallbeispiel 16: Eine 35-jährige Krankengymnastin, Frau M., litt durch eine Bor­ derline-Persönlichkeitsstörung an schweren Beziehungsproblemen. Sie kam zu fast jeder Gruppentherapiesitzung bis zu zwanzig Minuten zu spät. Oft »musste« sie als Alleinerziehende wegen ihrer Tochter früher gehen. Als die Gruppenteilnehmerinnen und Gruppenteilnehmer sich zu Hause einen »sicheren Ort« überlegen sollten, hatte sie sich »dafür nicht die Zeit genommen«. Auf Nachfragen reagierte sie oberflächlich schuldbewusst, sie änderte aber nichts. Die anderen Gruppenteilnehmerinnen machten inzwischen resigniert kleine Witze über ihr Verhalten. Weil sie die Willkür und Aggressivität von Frau M. fürchteten, verhielten sie sich ihr gegenüber aber insgesamt umso angepasster, je provokativer Frau M. in der Gruppe auftrat. Frau M. gewöhnte sich schließlich an, Verstöße gegen das Setting in der Gruppe gar nicht mehr zu begründen. Am ersten Abend eines schon ein Jahr vorher angekündigten Intensivwochenendes teilte Frau M. dem Therapeuten wie nebenbei mit, dass sie am folgenden Tag »leider den ganzen Morgen nicht da« sei. Auf Nachfrage ergänzte sie: »Ich muss arbeiten.« Der Therapeut merkte, dass er sich der Patientin gegenüber zunehmend hilflos und wütend fühlte und dass er sich zunehmend weniger auf die übrigen Gruppenmitlieder konzentrieren konnte. Um seine eigene innere Spannung zu vermindern und nachts besser schlafen zu können, hielt er zu Hause zur Selbstsupervision (siehe Kap. 2.2) einen fiktiven psychodramatischen Dialog mit Frau M. mit Rollentausch. Anders als sonst kam er aber auch dadurch nicht zu einer neuen Erkenntnis darüber, was die Beziehungsstörung mit Frau M. ausmachte. In dieser Situation kam ihm die Idee, Frau M. probatorisch ein Alternieren zwischen zwei konträren Ich-Zuständen zuzuschreiben und für sie deshalb zwei leere Stühle aufzustellen. Der erste Stuhl stand für die »anhängliche, bedürftige Frau M., die gern kommt und ernsthaft Fortschritte machen will«. Als diese war der Leiter für sie »der gute Therapeut, von dem sie lernen möchte«. Auf ihrem zweiten Stuhl aber saß »die selbstbestimmte, radikal autonome, willkürlich handelnde Frau M.«. In diesem Ich-Zustand erlebte der Therapeut in ihrer Rolle, dass Frau M. sich durch die Reibung, den Streit und die Auseinandersetzung mit ihm innerlich aktivierte und dass sie den Therapeuten ansah als »einen lächerlichen Korinthenkacker, der hier irgendwelche Regeln durchsetzen will, die er gelesen oder gelernt hat oder die er gerade gut findet!« Der Therapeut merkte als »anhängliche, bedürftige Frau M.«, dass die Patientin ihr provozierendes Verhalten ausblendete. Als autoritäre Frau M. erlebte er die eigene Bedürftigkeit aber als »Schnee von gestern« und die eigene Willkür als bloße Reaktion auf das Handeln

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des Therapeuten: »Ihre Kritik ist ja lächerlich! Ich habe für das Wochenende bezahlt. Dann kann ich hier auch selbst entscheiden, was ich mache und was nicht! Genau das sollen wir hier doch lernen!« In seiner eigenen Rolle antwortete der Therapeut in dem fiktiven Dialog: »Ich erlebe das als Willkür! Dabei verhalten Sie sich geschickterweise so, dass jede einzelne Handlung gar nicht so schlimm ist. Wenn Sie hier wirklich etwas lernen wollen, brauche ich von Ihnen aber auch eine gewisse Verlässlichkeit, zum Beispiel dass Sie versuchen, die Gruppenregeln einzuhalten!« Der Therapeut merkte am Tag nach der Selbstsupervision in der Gruppe: Er fühlte sich freier und gewann wieder Interesse an den anderen Gruppenmitgliedern. Erstaunlicherweise kam Frau M. zu den nächsten Sitzungen pünktlich, ohne dass er ihr seine neuen Erkenntnisse mitgeteilt hätte. In den Gruppensitzungen stellte der Therapeut sich vor, dass neben der Patientin ein zweiter Stuhl für ihren autoritär willkürlichen Ich-Zustand stehen würde und schrieb ihr in seiner Vorstellung abhängig von ihrem aktuellen Ich-Zustand jeweils den Stuhl für ihre autoritär, willkürliche Seite oder den Stuhl für ihre anhänglich bedürftige Seite zu. Sein Chaosgefühl war verschwunden. Er fühlte sich durch das Agieren von Frau M. nicht mehr verunsichert und konnte ihr gegenüber in akzeptierender Distanz bleiben: »Sie lebt einfach authentisch und ehrlich aus, was sie jeweils im Augenblick gerade fühlt und denkt, ohne sich an den eigenen Widersprüchen zu stören.« Frau M. hielt diese neue wohlwollende Distanz des Therapeuten aber nicht lange aus. Nach vier Wochen sprach sie in der Gruppensitzung von sich aus die Störung in der Beziehung zum Therapeuten an. In der daraus sich ergebenden Beziehungsklärung erklärte der Therapeut: »Ich habe mich entschieden, Ihnen voll zu glauben, dass Sie hier Vertrauen suchen und an sich arbeiten wollen. Aber es gibt in Ihnen auch eine willkürliche und autoritäre Seite, mit der Sie sich selbst dabei behindern! Ich stelle für diese willkürliche Seite in Ihnen hier einen zweiten leeren Stuhl neben Sie.« Der Therapeut und Frau M. arbeiteten miteinander heraus, dass ihr willkürliches Verhalten ein in der Kindheit gelerntes Selbstschutzverhalten war und dass ihre Wut ihr früher immer geholfen hatte, Gefühle von Verletzung und Traurigkeit wegzuschieben.

Die erste Therapiephase der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung lässt sich klassisch als eine Abfolge von sieben Therapieschritten darstellen: 1. Der Patient löst durch Verstöße gegen das Setting der Therapie oder Provokationen eine Störung in der therapeutischen Beziehung oder in den Gruppenbeziehungen aus. 2. Die Therapeutin fühlt sich von der von dem Patienten verhängten Doppelbindung zunehmend verwirrt, verärgert und hilflos.

Die störungsspezifische Therapie einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

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Empfehlung 3. Die Therapeutin gibt diesen Gefühlen Berechtigung und macht Selbstsupervision mit dem fiktiven psychodramatischen Dialog. Dabei stellt sie aber für den Patienten anders als sonst probatorisch zwei Stühle auf, einen für den anhänglich bedürftigen und einen anderen für den autoritär willkürlichen Ich-Zustand des Patienten. Wenn sich für die Therapeutin in der Selbstsupervision dadurch das Gefühl der Stimmigkeit einstellt, schließt sie daraus, dass bei dem Patienten, die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt. 4. Anschließend arbeitet die Therapeutin in der realen Begegnung mit dem Patienten zunächst »nur« in ihrer Vorstellung mit dem Konzept der zwei konträren Ich-Zustände und dem Bild der zwei Stühle für den Patienten. 5. Erst wenn der Patient von sich aus die Beziehungsstörung anspricht, repräsentiert sie seine alternierenden Ich-Zustände auch real äußerlich mit zwei leeren Stühlen auf der Zimmerbühne. Sie benennt diese ihm gegenüber dann als seine »anhängliche, bedürftige Seite« und als seine »willkürliche, autoritäre Seite«. 6. Immer wenn der Patient wieder zwischen seinen konträren Ich-Zuständen wechselt, nennt die Therapeutin dies einen »Rollenwechsel in den anderen Ich-Zustand« und zeigt mit der Hand auf den Stuhl des gerade neu agierten Ich-Zustands: »Ich glaube, Sie denken und fühlen jetzt gerade wieder aus Ihrem bedürftigen Ich heraus« bzw. »aus Ihrem zornigen, willkürlichen Ich heraus«. Zentraler Gedanke Die konkret sichtbare Anwesenheit des jeweils anderen konträren Ich-Zustandes als Stuhl lässt für den Patienten seine jeweils gegenteiligen Gefühle weiter gegenwärtig sein und hebt so deren unbewusste Verleugnung auf. Der Hinweis auf einen soeben unbewusst vollzogenen Rollenwechsel zwischen seinen beiden konträren Ich-Zuständen und bei Gelegenheit auch der konkrete Rollenwechsel auf den anderen Stuhl verflüssigen systematisch seine Abwehr durch Spaltung und lassen ihn die Widersprüchlichkeit seines Denkens, Fühlens, Handelns und Wollens erkennen.

Powell (1986) meint dazu: »Die neue Spaltung, psychodramatisch hervorgerufen, ermöglicht es, die früheren defensiven Spaltungen zu überwinden.« Die Arbeit mit den zwei Stühlen für die beiden konträren Ich-Zustände befreit die Therapeutin aus dem »Double Bind« des Patienten (siehe Kap. 4.3) und macht sie therapeutisch wieder handlungsfähig. Sie verharmlost dadurch nicht länger die Dramatik der Zerrissenheit des Patienten vor sich selbst und vor dem Patienten. Durch das Aussprechen dieser Wahrheit fühlt der Patient sich erstmals ernst genommen und so akzeptiert, wie er ist. Sein neues Problembewusstsein für

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seine eigene Widersprüchlichkeit ist die Grundlage für die weitere psychotherapeutische Arbeit und öffnet die Tür zur weiteren Bearbeitung der dysfunktionalen Selbstorganisation des Patienten mit der komplexeren Stühlearbeit, wie sie in den folgenden Kapiteln beschrieben wird. Auch bei häufigen schnellen Stimmungswechseln der Patientin oder des Patienten ist an die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung zu denken. Die Therapeutin kann den Patienten in einem sochen Fall seine gegensätzlichen Affekte mit zwei Stühlen auf der Zimmerbühne repräsentieren lassen und ihn auffordern, für jeden der beiden Affekte durch psychodramatisches Spiel nach einem lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhang zu suchen. Wichtig ist, dass die Therapeutin, wenn der Patient in den jeweils anderen Affekt wechselt, den Stuhl für den jeweils vorher ausgelebten Gefühlszustand auf der Bühne stehen lässt und ihn, anders als sonst üblich, nicht entfernt. Fallbeispiel 17 (Powell, 1986, zitiert nach Krüger, 1997, S. 101): »Jane teilt dem Direktor mit, dass sie sich durcheinander fühlt. Sie kann nicht beschreiben, was ist, weil ›es durcheinander ist‹. Aber sie weiß: Es geht um ihre Familie. Ihr Gesicht ist gerötet vor Aufregung. Sie sieht zornig aus und ist zugleich den Tränen nahe. Der Direktor schlägt ihr vor, ihre Gefühle eines nach dem anderen anzusehen. Diese Ermutigung, freundlich vorgebracht, bringt Jane dazu, loszuweinen. Sie meint, sie habe das Bedürfnis, traurig zu sein. Der Direktor stellt für sie einen ›traurigen Stuhl‹ hin und fordert sie auf, sich auf den Stuhl zu setzen. Er selbst entfernt sich einige Schritte von ihr. Jane setzt sich. Sie presst ihr Taschentuch zusammen und stellt fest: ›Das ist nicht gut so. Ich bin viel zu wütend.‹ Der Direktor lässt sie sich auf einen ›wütenden Stuhl‹ setzen und meint: ›Lass auf diesem Stuhl ruhig zu, was da ist. Sei so wütend, wie es nötig ist!‹ Jane fällt plötzlich ein, was sie sagen möchte und wo sie es sagen möchte: Ihre Familie hat Weihnachtsgeschenke eingekauft und steht vor Selfridges, die Straße ist voller Menschen. Jane sucht sich Gruppenmitglieder aus, um die Rollen ihrer Familie zu besetzen. Der Rest der Gruppe übernimmt die Rolle der Menschenmenge. Dann klagt Jane in voller Öffentlichkeit (dies ist wichtig, weil ihre Familie immer den Anspruch aufrechterhält, gut miteinander auszukommen) die Familie an, immer wieder zu heucheln und unehrlich zu sein. Jane macht einen Rollentausch mit ihrem Vater, der Mutter und so weiter. Es kommt heraus, dass diese alle ihr Verhalten in keiner Weise bereuen, sie schämen sich vielmehr nur für Janes Ausbruch und versuchen, sie zu beruhigen. Diesmal schreit Jane aber zurück. Sie teilt mit, warum sie froh ist, nicht wie der Vater zu sein, nicht wie die Mutter zu sein und so weiter. Sie verteidigt tapfer ihre Individualität. Aber dann zeigt sie dem Therapeuten an, dass sie den Stuhl verlassen möchte. Traurigkeit überflutet sie, und sie beginnt zu weinen. Jetzt auf dem ›traurigen Stuhl‹ offenbart Jane ihre Sehnsucht

Umwandlung der dysfunktionalen Selbstorganisation in einen frei-kreativen Prozess

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nach Liebe und Vertrautheit gegenüber ihrer Familie. Wieder fällt ihr eine Szene ein, die ihre Bedürfnisse widerspiegelt. Sie möchte nicht körperlich umarmt werden, das würde sie ersticken und verschlingen. Stattdessen wählt sie eine Szene an Weihnachten. Die Familie sitzt um den Weihnachtsbaum. Jane erlebt sich als Teil der ganzen Familie, kann dabei aber ihre Unabhängigkeit bewahren.«

4.10 Die Umwandlung der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation in einen frei-kreativen Prozess Empfehlung Die Therapeutin fragt den Patienten bei der Stühlearbeit nicht von Angesicht zu Angesicht, ob sie die Stühle aufstellen darf oder ob er sich ihr gegenüber im Augenblick vielleicht gerade wie ein verlassenes Kind fühlt. Sie handelt bei der Stühlearbeit vielmehr Schulter an Schulter als Hilfs-Ich oder Doppelgängerin des Patienten aus dem Impuls heraus »Ich selbst brauche das zu meiner Orientierung«. Dadurch hilft sie auch dem Patienten, sich selbst besser zu verstehen.

Denn Patientinnen und Patienten mit strukturellen Störungen können Spiel und Wirklichkeit meistens schwer unterscheiden und würden die Frage, ob sie sich gerade wie ein verlassenes Kind fühlen, dann als Kritik verstehen: »Sie verhalten sich mir gegenüber ziemlich bedürftig!« Hingegen kann der Patient eine Schulter an Schulter gemachte Aussage der Therapeutin leicht korrigieren. Bei dem Aufstellen der Ich-Zustände mit Stühlen handelt die Therapeutin zugleich verbal und psychodramatisch spielerisch: »Ich erlebe Sie gerade als sehr bedürftig, so als ob Sie sich hier jetzt gerade wieder so verlassen fühlen wie früher in Ihrer Kindheit. Ich stelle für das ›verlassene Kind‹, das Sie früher einmal waren, hier neben Sie diesen Stuhl hin!« Der Patient kann sich dann mit dem »verlassenen Kind« auf dem anderen Stuhl identifizieren, er muss es aber nicht. Wenn der Patient eine solche Aussage der Therapeutin unausgesprochen oder auch offen verbal zurückweist, nimmt sie den Stuhl für das »verlassene Kind« einfach wieder weg: »Ja, ich merke, Sie sehen das anders. Ich stelle den Stuhl für Ihr inneres ›bedürftiges Kind‹ wieder hier zurück zu den anderen Stühlen im Stuhlkreis! Ich probiere manchmal einfach etwas aus und denke laut, um mir selbst etwas klar zu machen.« Empfehlung Strukturell gestörte Patientinnen oder Patienten erleben wegen ihrer Defizite im Mentalisieren die leeren Stühle bei der Aufstellung bisweilen nicht als Sym-

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

bole für ihre dysfunktionalen Ich-Zustände, sondern konkretistisch einfach nur weiterhin als leere Stühle. Die Therapeutin kann in einem solchen Fall auf die entsprechenden Stühle passende Handpuppen oder Fingerpuppen stellen, zum Beispiel für das »verlassene Kind« die eines traurigen Mädchens mit einem zerrissenen Kleid, für das »sadistische Über-Ich« die Handpuppe eines Bürokraten, eines Teufels oder einer Hexe.

Die schwer strukturell gestörte Patientin des Fallbeispiels 15 reagierte darauf mit den Worten: »Sie haben das ja schon immer gesagt. Es wird durch diese Figuren aber so deutlich!« In der Kindheit traumatisierte Patienten fühlen sich oft bedroht, wenn die Therapeutin ihr inneres »traumatisiertes Kind« neben ihm mit einer Puppe auf einem leeren Stuhl repräsentiert, weil dies einer Traumaexposition gleichkommt. Die Therapeutin sollte diese Figur in einem solchen Fall gleich wieder aus dem Blickfeld des Patienten entfernen (siehe Kap. 5.8) und dieser Puppe dann stellvertretend für den Patienten wie eine gute Mutter oder ein guter Vater in einer Ecke des Therapieraums mit zwei Kissen ein kleines Bett machen und sie dort achtsam und liebevoll mit einem Tuch zudecken. Die mit Stühlen symbolisierten fünf Ich-Zustände von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind Prozessstrukturen ihrer dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation. Ihre strukturelle Störung kommt dadurch zustande, dass ihre Ich-Zustände im Sinne von Abwehrmechanismen miteinander destruktiv interagieren. Sie blockieren sich gegenseitig in ihrer Arbeit oder löschen sogar die Arbeit des jeweils vorhergehenden Ich-Zustandes wieder aus (siehe Fallbeispiel 7 in Kap. 2.9). Das ist so, als ob in einem Jazzorchester die einzelnen Instrumente ohne Bezug zu den anderen an ihrer einmal gefundenen Melodie und an ihrem Rhythmus festhalten würden. Ziel der therapeutischen Stühlearbeit ist es, den destruktiven Prozess der Selbstorganisation in einen konstruktiven Prozess umzuwandeln. Das gelingt in vier aufeinander aufbauenden Schritten: 1. Der Patient muss, wie im Kapitel 4.8 ausgeführt, zunächst Problembewusstsein für die strukturelle Störung seiner psychischen Selbstorganisation entwickeln. 2. Im zweiten Schritt der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.5) erarbeitet die Therapeutin mit dem Patienten zusammen den Sinn der Dysfunktionalität seiner Selbstorganisation. Sie verknüpft zusammen mit ihm dessen dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand nach dem Motto »Die Seele macht nichts umsonst!« aktiv mit der Arbeit des Gesamtsystems seiner Selbstorganisation und repräsentiert im Therapiezimmer mit Stühlen auch die anderen Ich-Zustände, die mit diesem dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand

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interagieren. Sie vollzieht mit ihm handlungsnah und szenisch als Hilfs-Ich die Dysfunktionalität der Arbeit seiner Ich-Zustände nach. Wenn indiziert, verknüpft sie die dysfunktionalen Ich-Zustände mit Lebenserfahrungen des Patienten aus seiner Kindheit oder mit Traumaerfahrungen. Die dysfunktionalen Ich-Zustände werden dadurch zu an dem damaligen Ort und zu der damaligen Zeit ursprünglich angemessenen Prozessmustern, die in der Gegenwart aber unangemessen als Abwehrprozesse wirksam sind. Zum Beispiel kann das »Selbstschutzverhalten« des Patienten auf diese Weise verstanden werden als eine für das innere »verlassenes Kind« des Patienten ursprünglich kreative Lösung, die ihm früher als Kind geholfen hatte, so zu tun, als ob nichts wäre, und nicht aufzufallen, wenn der Vater in alkoholisiertem Zustand wieder herumschrie. Durch diese Sinngebung verflüssigt die Therapeutin die in dem dysfunktionalen Ich-Zustand verfestigte Abwehr des Patienten, dadurch gewinnt der Patient wieder Zugang zur inneren Aktualisierungstendenz seines Selbst (siehe Kap. 8.1). Durch das Aufstellen der Ich-Zustände auf der Zimmerbühne mit Stühlen entsteht ein Interaktionsraum zwischen den destruktiv interagierenden Ich-Zuständen. 3. Die Therapeutin lässt den Patienten durch Ausspielen eines Ich-Zustands im Rollenspiel und durch Rollenwechsel in andere Ich-Zustände die Dysfunktionalität der Arbeit seiner verschiedenen Ich-Zustände spielerisch herausarbeiten. Dabei hilft sie dem Patienten als Hilfs-Ich. Sie geht innerlich mit in die starren Abwehrprozessen des Patienten hinein und wandelt ihr Erleben stellvertretend für ihn in szenische, prozesshafte Bilder um. Wenn der Patient sagt: »Ich hasse es, traurig zu sein«, formuliert sie das um in: »Sie tun dann so, als ob nichts wäre, und reißen sich zusammen« und ordnet dieses prozesshafte Bild einem der Ich-Zustände aus dem Gesamtsystem der Selbstorganisation zu (siehe Abb. 11). Sie benennt diesen zum Beispiel als »Selbstschutzverhalten« und weist mit der Hand auf den das Selbstschutzverhalten repräsentierenden Stuhl. Der Patient antwortet dann vielleicht: »Aber von der Traurigkeit will doch keiner etwas hören!« Statt einer solchen Aussage spontan zu widersprechen, vollzieht die Therapeutin erneut den in dieser Aussage enthaltenen Abwehrprozess des Patienten innerlich mit und formuliert den Satz in szenisch prozesshafte Bilder um: »Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es keinen interessiert hat, was Sie fühlen. – Und jetzt verbieten Sie sich Ihre Traurigkeit schon selbst und denken: ›Traurigkeit ist doch Quatsch!‹ Ich stelle diese innere Stimme, mit der Sie Ihre Gefühle entwerten, hier als Stuhl Ihnen gegenüber hin. Diese Stimme sagt zu Ihnen: ›Für Probleme haben wir hier keinen Platz!‹ Vielleicht gibt es in Ihnen aber auch noch das nicht gesehene traurige Kind, das Sie früher einmal waren? – Ja,

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gut, dann stelle ich auch dafür noch einen Stuhl hin.«Je schwerer gestört der Patient ist, umso aktiver handelt die Therapeutin als Hilfs-Ich. Sie kann die innere psychische Selbstorganisation des Patienten von ihrem eigenen Platz aus auch stellvertretend für ihn über die Realität hinaus weiter ausgestalten, ähnlich wie beim Doppeln: »Jetzt würde Ihr selbstverletzendes Denken, Ihr innerer blinder Kritiker, sagen: ›Ich glaube, jetzt ist es soweit! Jetzt wirst du total verrückt! Glaubst du etwa, du kannst dich besser erinnern als deine Mutter?‹« Und an den Patienten gewandt: »Stimmt das so? Und was antworten Sie dann Ihrem inneren Kritiker?« Bei Bedarf setzt die Therapeutin sich sogar auch selbst direkt auf den Stuhl eines dysfunktionalen Ich-Zustands, um dem Patienten das betreffende Denken als Hilfs-Ich vorzuspielen und ihm dessen destruktive Arbeitsweise so zu verdeutlichen. 4. Die Therapeutin lässt den Patienten die destruktive Interaktion zwischen seinen Ich-Zuständen durch psychodramatischen Dialog in einen konstruktiven, frei-kreativen Prozess umwandeln (siehe unten in diesem Kapitel). Zentraler Gedanke In der Therapie von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen erkennen die Therapeutin und der Patient den Sinn der strukturellen Störung seiner psychischen Selbstorganisation, indem sie zusammen die in der dysfunktionalen Zusammenarbeit seiner Ich-Zustände enthaltenen inneren Abwehrprozesse im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels nachvollziehen und bewusst erfassen (siehe Abb. 13).

Der Patient lernt dadurch die Wege seiner bisherigen dysfunktionalen Selbstorganisation kennen und kann sich neu verstehen. Karlfried Graf Dürckheim (1985, mündliche Mitteilung) beschrieb ein solches Umlernen einmal mit dem Satz: Zentraler Gedanke »Inneres Reifen ist die Fähigkeit, in immer kürzerer Zeit zu merken, dass ich auf dem falschen Weg bin.«

Anders als in psychoedukativen Therapieansätzen soll der Patient bei der systemisch prozessorientierten Stühlearbeit nicht lernen, das »Richtige« zu tun, sondern das »Falsche« wegzulassen. Ein Patient, der das Richtige tun will, ohne das Falsche zu kennen und in sich zu bemerken, denkt schnell in SchwarzWeiß-Mustern. Die Art seines dysfunktionalen Denkens, Fühlens und Handelns bleibt ihm aber unbekannt und ist für ihn gleichsam eine Blackbox. Der Patient weiß nicht, was bei seiner dysfunktionalen Selbstorganisation in ihm

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Umwandlung der dysfunktionalen Selbstorganisation in einen frei-kreativen Prozess

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Abbildung 13: Die vier dysfunktional zusammenarbeitenden Ich-Zustände der psychischen Selbstorganisation und die in ihnen enthaltenen Abwehrmechanismen

abläuft und kann diese deshalb, wenn sie gerade abläuft, nicht bemerken und unterbrechen. Therapeutisch hilfreicher ist es, wenn der Patient lernt, zu merken, wenn er wieder auf dem falschen Weg ist und zurzeit dysfunktional und eben nicht mehr »gesund erwachsen« denkt und fühlt. Denn dann kann er sich schon während des Prozesses seiner dysfunktionalen Selbstorganisation stoppen und ärgert sich nicht erst hinterher, dass er wieder in das alte Muster zurückgefallen war. Zentraler Gedanke Der Patient muss lernen, leiblich-seelisch zu erkennen, wenn er wieder in einem dysfunktionalen Ich-Zustand agiert. Die Therapeutin lässt ihn deshalb die in seiner dysfunktionalen Selbstorganisation enthaltenen Abwehrprozesse auf den Stühlen seiner dysfunktionalen Ich-Zustände im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels leiblich-seelisch nachvollziehen, begleitet ihn dabei als Hilfs-Ich Schulter an Schulter und übernimmt bei Bedarf, stellvertretend mentalisierend, die »Rollen« einzelner Ich-Zustände. Auf diese Weise lässt sie den Patienten im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels äußerlich genau den Prozess vollziehen, den er im Alltag innerlich praktizieren muss, um sich aus seiner dysfunktionalen Selbstorganisation zu befreien.

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Fallbeispiel 18: Eine 38-jährige kluge Patientin mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.31) hatte in ihrer achtwöchigen stationären Psychotherapie gelernt, dass sie »mehr auf sich und ihre Gefühle achten soll«. Bei der Wiedereingliederung in das Arbeitsleben geriet sie in einem relativ harmlosen Arbeitsplatzkonflikt in einen hohen psychophysischen Erregungszustand. Sie klagte in der Therapiesitzung: »Ich habe in der Auseinandersetzung mit meiner Kollegin wieder nicht ausreichend auf mich und mein inneres Kind geachtet. Ich ärgere mich über mich!« Der Therapeut arbeitete mit ihr heraus, dass ihr Hyperarousal-Zustand immer dann eintritt, wenn ihr innerer, »entwertender, blind agierender Bürokrat«, so benannten sie zusammen ihr »selbstverletzendes Denken«, ihr allein für alle Unzulänglichkeiten am Arbeitsplatz die Verantwortung zuschreibt und wenn ihre innere »Streberin«, ihr »Selbstschutzverhalten«, wieder in grandioser Weise versucht, alles zu tun, um die Erwartungen der anderen zu erfüllen: »Die beiden arbeiten wunderbar zusammen.« Die Patientin lernte, »an ihren Erregungszuständen zu merken, dass ihr ›entwertender Bürokrat‹ und ihre ›Streberin‹ in ihr schon wieder am Werk sind«. Die Patientin hielt es zunächst kaum aus, ihre mit Stühlen symbolisierte dysfunktionale Selbstorganisation von außen anzusehen, ohne sofort alles richtigzumachen: »Herr Krüger, sagen Sie mir die Lösung!« In der nächsten Therapiestunde zeigte sich aber, dass sie erkannt hatte, dass es nicht darum geht, das Richtige zu machen, sondern darum, die dysfunktionale Selbstorganisation in sich zu »stoppen«: »Ich bin innerlich beiseitegetreten und habe mir die Konfliktsituation von außen angesehen: ›Was wäre denn so schlimm daran, wenn ich den Bus nach Hause erst eine Stunde später erreiche? Nichts! Es würde nichts passieren! Trotzdem kann ich aber versuchen, die Kollegin noch einmal in Ruhe zu bitten, dass sie pünktlicher aufhört!‹« Das hatte die Patientin dann auch getan. Der Therapeut: »Wenn Sie sich in Ihrem Erregungszustand auf diese Weise stoppen, beiseitetreten und das Ganze von außen betrachten, ist das das »gesunde Erwachsenendenken, über das wir geredet haben!«

Bei dem Herausarbeiten des destruktiven Prozesses in der Interaktion zwischen den Ich-Zuständen zeigt sich, dass das »Selbstschutzverhalten« und das »selbstverletzende Denken« wie in dem Fallbeispiel 18 meistens gut zusammenarbeiten und sich im Sinne eines Abwehrsystems im Kampf gegen das »gesunde Erwachsenendenken« und gegen das »wütende Kind« gegenseitig stabilisieren. Das »selbstverletzende Denken« und das »wütende Kind« können nicht nebeneinander existieren. Auch der Ich-Zustand des »Selbstschutzverhaltens« und der des inneren »missbrauchten oder verlassenen Kindes« gehen in ihrer Arbeit destruktiv miteinander um: Das »Selbstschutzverhalten« handelt gegenüber dem »traumatisierten inneren Kind« überbeschützend, das »innere Kind« aber versteckt sich hinter dem »Selbstschutzverhalten« und nutzt es aus. Das »verlas-

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sene Kind« und das »wütende Kind« können sich zwar gegenseitig helfen, sie rivalisieren aber zum Beispiel bei Patienten mit Borderline-Organisation bisweilen auch destruktiv miteinander. Das »selbstverletzende Denken« und »das verlassene bzw. traumatisierte Kind« leben miteinander häufig in einer pathologischen Symbiose. In der Abbildung 13 sind die Ich-Zustände, die sich in ihrer dysfunktionalen Arbeit gegenseitig verstärken, jeweils in den nebeneinanderliegenden Kreissegmenten zu finden, die aber, die sich gegenseitig bekämpfen, auf den gegenüberliegenden Kreissegmenten. Im vierten Schritt der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.5) lässt die Therapeutin den Patienten die destruktive Interaktion zwischen seinen Ich-Zuständen in einen konstruktiven Prozess umwandeln. Beispielsweise war eine depressive Patientin beim Anblick ihres innerlich weggesperrten, seelisch fast verhungerten »verlassenen Kindes« so erschüttert, dass sie spontan die Handpuppe ergriff, eine sehr abgespielte Mädchenfigur, sie schluchzend an sich drückte, sich wieder auf ihren Stuhl des »gesunden Erwachsendenkens« setzte, dort die Puppe weinend lange streichelte und sich bei ihr entschuldigte. Ein anderer Patient suchte sich über lange Zeit am Anfang der Therapiestunde immer, wenn er in seinem Alltag wieder selbstverletzend gedacht oder gehandelt hatte, schon selbst spontan wieder die Handpuppe eines grinsenden roten Teufels aus dem Schrank heraus, positionierte diese auf dem gegenüberstehenden Stuhl des »selbstverletzenden Denkens« und teilte dem Therapeuten mit, dass er wieder masochistisch »weggekippt« war. Wenn Patienten auf die Stühlearbeit therapeutisch positiv reagieren und sich dadurch in ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation verstanden haben, ist es für sie hilfreich, sich für ihr »verlassenes Kind«, für ihr »selbstverletzendes Denken«, für ihren »Selbstschutz durch Grandiosität« und/oder für ihr »gesundes Erwachsenendenken« selbst Handpuppen oder Playmobilmännchen zu kaufen, sie sich zu Hause hinzustellen und mit ihnen zu reden, oder auch ihr »Kind-Ich« zu Hause in ein kleines »Bett« zu legen und mit Kissen zuzudecken. Eine Patientin ließ zum Beispiel ihr »traumatisiertes inneres Kind« als Puppe zu Hause mit in ihrem Bett schlafen. Wenn es ihr selbst schlecht ging, erzählte sie ihrer Puppe alles, drückte sie an sich und tröstete sie. Dadurch ging es der Patientin selbst wieder besser (siehe Kap. 5.8). Die Therapeutin kann den Patienten auch einen psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zwischen seinen Ich-Zuständen führen lassen, um die Beziehungsstörung zwischen ihnen aufzulösen. Dabei trägt der Patient die destruktive Zusammenarbeit zwischen zwei im Streit miteinander liegenden Ich-Zuständen psychodramatisch als Beziehungskonflikt auf der Zimmerbühne aus und verbessert durch Kompromissbildungen zwischen ihnen ihre Zusammen-

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arbeit (siehe Fallbeispiel 48 in Kap. 6.6). Jeder Ich-Zustand erhält dadurch im Arbeitssystem der psychischen Selbstorganisation ein eigenes Existenzrecht, ausgenommen ist lediglich der »Strafmodus« bzw. das »selbstverletzende Denken«. Durch den psychodramatischen Dialog entsteht neu eine Beziehung zwischen ihnen, und die spezielle Aufgabe jedes Ich-Zustands im Gesamtsystem der psychischen Selbstorganisation wird deutlich. Das ist ähnlich, wie wenn die Musiker des Jazzorchesters bei der Entwicklung von Melodie und Rhythmus, nachdem sie zunächst chaotisch durcheinander gespielt hatten, endlich wieder aufeinander hören und aufeinander bezogen spielen. Der destruktive Prozess in der Zusammenarbeit der Ich-Zustände wird konstruktiv. In dem psychodramatischen Dialog zwischen den Ich-Zuständen übernimmt die Therapeutin jeweils die Gegenrolle, spielt diese nach, so wie der Patient den jeweiligen Ich-Zustand vorgelebt hat, und geht dabei aber als Hilfs-Ich im Mentalisieren immer wieder auch einen kleinen Schritt über die von dem Patienten vorgegebene Realität hinaus. Zum Beispiel erarbeitet sich der Patient im Dialog zwischen seinem inneren »beschämten Kind« und seinem »gesunden Erwachsenendenken«, was sein Erwachsenen-Ich und sein inneres Kind sich gegenseitig mitzuteilen haben und was sie gegenseitig voneinander lernen können. Dabei erlebt der Patient meistens, dass er in der Rolle seines Kind-Ichs Kontakt bekommt zur Aktualisierungstendenz seines Selbst und seine Affekte unmittelbarer zulässt (siehe Fallbeispiel 48 in Kap. 6.6). Als »Kind-Ich« möchte der Patient von dem »Erwachsenen-Ich« gesehen werden und will seine Bedürfnisse sofort erfüllt haben. In der Rolle seines »Erwachsenen-Ichs« soll der Patient den Gefühlen und Wünschen seines inneren Kindes zwar Berechtigung geben, dabei aber auch den Überblick behalten und als lebenserfahrener Mensch zwischen den Erwartungen des Kindes und den Notwendigkeiten seines realen Lebens vermitteln. Bei dieser praktischen Arbeit wird das gesunde Erwachsenendenken im Sinne der Transaktionsanalyse als das »Erwachsenen-Ich« angesehen, das dem »Kind-Ich« gegenübersteht. Wenn Patienten in ihrer Kindheit traumatisiert wurden, haben sie häufig Probleme, als Erwachsener mit ihrem Kind-Ich Beziehung aufzunehmen. Der Anblick des Kind-Ichs wirkt auf den Patienten dann wie eine Traumaexposition. Beim Stühleaufstellen fragt die Therapeutin den Patienten deshalb immer sofort, was die Gegenwart des »traumatisierten Jungen« in ihm gefühlsmäßig auslöst. Bei einer Traumafolgestörung antwortet der Patient zum Beispiel: »Ich schäme mich seiner.« »Ich mag da gar nicht hingucken.« »Ich finde den blöd.« »Mir wird schwindelig.« Eine solche Reaktion ist ein diagnostisch wertvolles Zeichen. Der Therapeut sollte in einem solchen Fall die Abwehr des Patienten auf keinen Fall weiter labilisieren, stattdessen ergreift sie den Stuhl seines Kind-

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Ichs, stellt ihn in die hinterste Ecke des Raumes oder trägt ihn sogar aus dem Zimmer mit den Worten: »Ich glaube, Sie haben als Kind so schlimme, traumatisierende Erfahrungen gemacht, dass Sie die Nähe zu dem Kind, das sie einmal waren, gar nicht aushalten. Das muss auch nicht sein!« Anschließend geht der Therapeut über zum Therapiemodell der Traumatherapie und lässt den Patienten zum Beispiel einen »sicheren Ort« entwickeln (siehe Kap. 5.10.5). Zentraler Gedanke Das Ziel der Stühlearbeit mit den Ich-Zuständen ist, die in ihnen verborgenen Abwehrprozesse (siehe Abb. 13) im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels in ihrer Arbeit zu aktivieren und die Zusammenarbeit zwischen ihnen konstruktiv und kreativ werden zu lassen. Dabei hat das gesunde Erwachsenendenken als Ich-Zustand in dem hier dargestellten Therapiemodell einen Sonderstatus. Denn es ist in allen Abwehrprozessen und dysfunktionalen Ich-Zuständen schon mit enthalten und wird durch den Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels »nur« aus diesen befreit.

Schon allein das Aufstellen der Stühle für die Symptomszene wirkt bei Panikund Leidenszuständen des Patienten als Distanzierungstechnik (siehe Abb. 1 in Kap. 1) und erleichtert es ihm, aus der Metaposition des »gesunden Erwachsenendenkens« heraus sein Problem zu erzählen und über sich nachzudenken. Die Therapeutin kann das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten aber auch direkt coachen. Sie kann zum Beispiel das »Selbstschutzverhalten« dem Patienten gegenüber als eine selbst gefundene Lösung im Umgang mit seinem Konflikt würdigen (siehe Fallbeispiel 47 in Kap. 6.4) und mit ihm zusammen nach noch anderen, eventuell angemesseneren Lösungen im Umgang mit sich selbst in seinem Konflikt suchen. Die Therapeutin kann das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten auch dadurch aktivieren, dass sie neben den Stuhl des Patienten einen zweiten Stuhl für einen fiktiven unterstützenden Doppelgänger stellt. Sie bittet den Patienten, sich darauf einen guten Freund oder einen alten weisen Mann vorzustellen, und fordert ihn auf, in die Rolle des »Freundes« zu wechseln: »Was würde Ihr Freund Ihnen in dieser Situation raten?« Der Patient kann mit dem »Freund« dann in einen psychodramatischen Dialog eintreten, im Rollentausch in der Rolle des Freundes dessen gesund erwachsene Ideen in sich selbst spielerisch lebendig machen und sich aus dieser Rolle heraus selbst Ratschläge geben (Leutz, 1980, S. 17 ff.). Die Therapeutin kann den Patienten auch auffordern, auf den Stuhl des unterstützenden fiktiven inneren Doppelgängers eine passende Märchenfigur zu setzen. Diese Märchenfigur soll das Leid des Patienten selbst erfahren haben, und ihm jetzt mit seiner erworbenen

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Fähigkeit zur Konfliktbewältigung helfen, seine gewohnheitsmäßige Anpassung oder Abspaltung von Affekten infrage zu stellen: Aschenputtel zum Beispiel hat in ihrer Zeit der erzwungenen Anpassung an ihre Stiefmutter beim Schlafen in der Asche die Hoffnung nie aufgegeben, dass sie ihr Leben ändern könnte: Sie hat den Tauben ihr Leid geklagt, sie hat trotz ihres Leidenszustands den vom Vater mitgebrachten Zweig auf dem Grab der Mutter eingepflanzt und sie hat sich am Ende dann die Freiheit genommen, tanzen zu gehen. Oder der Therapeut erzählt Geschichten von anderen Patientinnen und Patienten, um aufzuzeigen, wie diese in ihrer Therapie zu sich selbst gefunden haben. Schwerer gestörte Patienten wissen oft nicht, wie es ist, »gesund« zu fühlen und zu denken. Die Therapeutin kann dann gleichsam als Doppelgängerin des Patienten stellvertretend für ihn in die Auseinandersetzung mit seinem sadistischen Über-Ich hineingehen, seinen »blinden überstrengen Kritiker« direkt ansprechen (Arntz und van Genderen, 2010, S. 53 ff.), diesen in die Schranken weisen und das sadistische Über-Ich bei Bedarf sogar mit seinem Stuhl aus dem Zimmer tragen: »Sehen sie nicht, wie Christa leidet? Warum quälen Sie sie so! Lassen Sie das! Sie hat als Kind schon genug gelitten, sie kann das nicht länger brauchen!« Die Therapeutin kann den »Strafmodus« des Patienten sogar verbal beschimpfen als »unnötig und überflüssig, als etwas, was abgeschafft gehört!« Meistens wundern sich die Patienten zwar über diese direkte Auseinandersetzung der Therapeutin mit dem »selbstverletzenden Denken«, sind irritiert und lachen ein wenig verlegen. In der Nachbesprechung antworten sie auf die Frage, wie es ihnen dabei ging, dann aber doch, dass sie plötzlich »freier atmen« konnten. Oft bekommt ein Patient durch eine solche Hilfestellung zum ersten Mal Kontakt zu der inneren Aktualisierungstendenz seines Selbst und merkt überhaupt erst, was gesundes Erwachsenendenken und eigenes Wünschen sind. Der Strafmodus ist nicht gleichzusetzen mit einem pathologischen Introjekt, also mit der inneren Objektrepräsentanz einer früheren schädigenden Bezugsperson. Ein pathologisches Introjekt darf man therapeutisch nicht »sterben« lassen, man kann es nur befrieden (siehe Kap 5.12). Der Strafmodus dagegen repräsentiert das Prinzip der Selbstzensur und Selbstbestrafung. Dieser Ich-Zustand ist tatsächlich überflüssig! Manchmal spielen Patienten die Auseinandersetzung mit ihrem sadistischen Über-Ich auch zu Hause gezielt immer wieder selbst durch. Eine Patientin symbolisierte, wenn sie abends nicht schlafen konnte, ihren inneren »Staatsanwalt« real mit der Handpuppe eines Räubers, stellte diesen vor sich hin, ließ den Anblick bewusst auf sich wirken, ergriff dann den Staatsanwalt-Räuber real mit ihrer Hand, trug ihn aus dem Zimmer, schloss ihn in der äußersten Ecke ihrer Wohnung in einen Schrank und legte sich dann ohne ihn wieder in ihr Bett. Sie lernte dadurch, ihr selbstverletzendes Denken zeitweise

Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Stühlearbeit in der Schematherapie

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aus ihrem Denken und Fühlen zu verbannen, und konnte so ihre nächtlichen psychosomatischen Krisen lindern.

4.11 Ähnlichkeiten der Stühlearbeit in der Schematherapie und Unterschiede Im Unterschied zu einer früheren Beschreibung der psychodramatische Aufstellungsarbeit von Ich-Zuständen (Krüger, 2007a) habe ich die damals verwendeten Benennungen der Ich-Zustände in diesem Buch geändert und lehne mich jetzt an die Namensgebung in der Schematherapie an (Arntz und van Genderen, 2010, S. 10 ff., Young, Klosko und Weishaar, 2008). Denn diese sind ichnäher und erleichtern es dadurch, mit den Patientinnen und Patienten über ihre dysfunktionale psychische Selbstorganisation zu kommunizieren. Auffallend ist, dass Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker ungefähr die Hälfte der Techniken der Schematherapie als originär psychodramatische Techniken ansehen würden, nämlich die Stühlearbeit mit den Ich-Zuständen bzw. den Modi des Patienten, den psychodramatischen Dialog mit Rollentausch mit Bezugspersonen aus der Kindheit, den psychodramatischen Dialog mit Konfliktpartnern aus der Gegenwart und die Doppelgänger-Technik, bei der die Therapeutin die Rolle einer fiktiven guten Mutter übernimmt. Tatsächlich bekunden die Therapeutinnen und Therapeuten, die die Schematherapie entwickelt haben, auch offen: Die Schematherapie »ist eine innovative, integrative Therapie. […] Sie verbindet Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie, der Bindungstheorie, der Gestalttherapie, der Objektbeziehungstheorie, der konstruktivistischen Psychotherapie und der psychoanalytischen Schulen zu einem facettenreichen Gesamtkonzept und Behandlungsmodell« (Young, Klosko und Weishaar, 2008, S. 29). Die hier dargestellte psychodramatische Stühlearbeit unterscheidet sich aber in manchem von der Stühlearbeit in der Schematherapie. Das in Kap. 4.7 beschriebene psychodramatische Aufstellen der Ich-Zustände erweitert die Stühlearbeit der Schematherapie gezielt um die Aufstellung der zwei Stühle für die Symptomszene (in Abbildung 11 die Stühle 3 und 4). Dadurch können die Therapeutin und der Patient ihre Arbeit an den Ich-Funktionen des Patienten besser auf das jeweils von dem Patienten vorgebrachte Problem zentrieren (siehe Abb. 1 in Kap 1). Auch empfiehlt es sich, hinter den Stuhl für das »selbstverletzende Denken« des Patienten bzw. seinen inneren »Strafmodus« (Stuhl 8) getrennt zusätzlich auch noch die innere Objektrepräsentanz der schädigenden Bezugsperson aus der Kindheit (Stuhl 9) zu stellen. Das erleichtert es dem Patienten, zu erkennen, dass er in der Gegenwart jetzt mit sich das macht, was früher in der

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

Kindheit seine schädigende Bezugsperson mit ihm gemacht hat. Ich beschränke mich bei dem Aufstellen der Ich-Zustände des Patienten auch auf nur fünf dysfunktionale Ich-Zustände, im Gegensatz zu den Schematherapeutinnen und -therapeuten, die zehn (Young, Klosko und Weishaar, 2008) oder sogar achtzehn verschiedene Modi (Jacob und Arntz, 2011, S. 44 ff., Roediger, 2011, S. 110 ff.) unterscheiden. Diese Beschränkung kommt dadurch zustande, dass ich von nur vier Abwehrprozessen ausgehe, die in den dysfunktionalen Ich-Zuständen von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen enthalten sein können (siehe Abb. 13), neben denen dann noch das gesunde, frei-kreative Erwachsenendenken existiert. Der Ich-Zustand des »verlassenen Kindes« umfasst den Abwehrprozess der Introjektion, der des »wütenden Kindes« die Selbststabilisierung durch den Abwehrprozess der Projektion. Das Selbstschutzverhalten enthält den Abwehrprozess der Verleugnung durch aktives Ausblenden der Realität. Das »selbstverletzende Denken«, der innere »Strafmodus«, vollzieht den Abwehrprozess der Identifizierung mit dem Angreifer, der das schädigende Denken und Fühlen von Bezugspersonen zu selbstschädigendem Denken und Fühlen werden lässt. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung wechseln zeitversetzt zwischen den Ich-Zuständen des »verlassenen Kindes« und des »wütenden Kindes« hin und her und vollziehen so aktiv den Abwehrprozess der Spaltung (siehe Kap. 4.3). Dabei können in dem autoritär wütenden Ich-Zustand eines Borderline-Patienten der Ich-Zustand des »wütenden Kindes«, der des »Selbstschutzverhaltens« und die Identifikation mit einem pathologischen Introjekt miteinander verschmolzen sein. Anders als in der Schematherapie schlage ich im Kap. 4.13 vor (Krüger, 2007a), in chaotisierenden therapeutischen Beziehungen mit Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung über die Ich-Zustände des Patienten hinaus auch drei Ich-Zustände der Therapeutin mit Stühlen zu repräsentieren. Bei dem Aufstellen der Ich-Zustände des Patienten entsteht durch die dabei im Raum positionierten Stühle (siehe Abb. 11) ein Interaktionsraum zwischen den verschiedenen Ich-Zuständen, und die Therapeutin kreiert so ein symbolisches Bild für das Gesamtsystem der psychischen Selbstorganisation des Patienten auf der Zimmerbühne. Dadurch erweisen sich die Ich-Zustände als Teile eines Ganzen, als Teile des Arbeitssystems der Selbstorganisation. Auch Schematherapeuten beschreiben die Notwendigkeit, die dysfunktionalen Ich-Zustände in ihrem Entstehungszusammenhang zu verstehen »und nachträglich in ein kohärentes Selbst zu integrieren« (Roediger, 2011, S. 55 ff.). »Man kann »zwischen den höheren, integrierten, reaktionsflexiblen Funktionsmustern des gesunden Erwachsenen und dem niedrigeren Funktionsniveau alter, desintegrierter Modi, die sich bei starker Anspannung isoliert zeigen und das Erleben und Verhalten dominieren, unterscheiden« (Roediger und Jacob, 2011, S. 35).

Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Stühlearbeit in der Schematherapie

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Zentraler Gedanke Bei der Stühlearbeit mit den Ich-Zuständen wird leicht übersehen, dass erst die Einordnung des jeweiligen Ich-Zustands in das Gesamtsystem der funktionellen Selbstorganisation die Arbeit des jeweiligen einzelnen Ich-Zustands erklärt.

Manche Therapeutinnen und Therapeuten lassen sich durch die Aufzählung der dysfunktionalen Ich-Zustände sogar dazu verführen, das »gesunde Erwachsendenken« als Gegensatz zu den dysfunktionalen Funktionsmustern zu verstehen. Sie lassen die Patienten das gesunde Erwachsenendenken lernen, indem sie üben, das Denken in dem dysfunktionalen Modus zu vermeiden. In einem systemischen Konzept der Selbstorganisation ist das »gesunde Erwachsenendenken« aber eine kreative Funktion der Selbstorganisation, die erst aus den dysfunktional agierenden Ich-Zuständen befreit werden muss und dann die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Ich-Zuständen der psychischen Selbstorganisation vermittelt. Bei strukturellen Störungen der Selbstorganisation hängt sie noch in den Abwehrprozessen fest und ist deshalb nur gering vorhanden. Empfehlung Potenziell hat jeder Ich-Zustand dem anderen etwas Wichtiges zu sagen. Ein dysfunktionaler Ich-Zustand soll nicht von der Bildfläche verschwinden, der Patient soll ihn vielmehr in seinem Sinn im Gesamtzusammenhang der psychischen Selbstorganisation erkennen und ihn darin integrieren. Das Wesen eines dysfunktionalen Ich-Zustandes ist nicht, dass er dysfunktional arbeitet, sondern dass er arbeitet! Zu einem dysfunktional arbeitenden Ich-Zustand wird er nur dadurch, dass er fragmentiert ohne konstruktive Beziehung zu den anderen Ich-Zuständen und ohne Bezug zum Ganzen der psychischen Selbstorganisation tätig ist.

Bei der Anwendung des psychodramatischen Dialogs zur Bearbeitung der Beziehungen zu Bezugspersonen der Kindheit gehen Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker anders vor als manche Schematherapeuten. Arntz und van Genderen (2010, S. 67 ff.) haben beschrieben, dass sie in der Schematherapie ihre Patienten die verletzenden Erfahrungen von damals zunächst mit Rollentausch psychodramatisch nachspielen lassen. Nach einer Zwischenbesprechung sollen die Patienten dann noch einmal in ihre Kindheitsszenen hineingehen und sich als Kind in der Szene mutiger verhalten. Der Therapeut übernimmt bei dieser »Überarbeitung der Situation« die Rolle der Bezugsperson und spielt dabei aber, anders als damals die reale Bezugsperson der Kindheit, eine ausreichend aufmerksame und zugewandte gute Mutter. Ein solches Vorgehen ist aus psycho-

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dramatischer Sicht problematisch. Gerade Patienten mit Persönlichkeitsstörungen folgern aus einer solchen Anweisung oft, dass der Therapeut meine, dass sie sich damals als Kind falsch verhalten hätten. Tatsächlich haben auch Arntz und van Genderen (2010, S. 70 f.) bemerkt, dass ihre Patienten nach einer solchen Arbeit oft mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben, »weil sie in der damaligen Situation nicht angemessen reagiert haben«. Kritisch zu sehen ist auch, dass der Therapeut durch eine solche therapeutische Veränderung der inneren Objektrepräsentanz der schädigenden Bezugsperson der Kindheit zum Guten in der inneren Vorstellung der Patientin künstlich ein realitätsfernes Mischbild entstehen lässt zwischen der realen schädigenden Bezugsperson der Kindheit und einer guten Elternfigur. Ein solches Vorgehen nimmt dem Leiden des Patienten in seiner Kindheit potenziell die Würde, verharmlost es und entwertet indirekt die Kreativität des Patienten beim Finden von Möglichkeiten zur Selbststabilisierung in der Kindheit: zum Beispiel seine Beziehungsaufnahme zu anderen real haltgebenden Bezugspersonen, zur Natur, zu religiösen Instanzen oder zur Kunst. Deshalb lassen Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten ihre Patienten ihre inneren Beziehungsbilder der Kindheit im psychodramatischen Dialog immer aus der Rolle der Erwachsenen heraus, die sie heute sind, verändern. Der Patient integriert dabei in der Gegenwart seine in der Therapie erarbeiteten neuen Einsichten in seine inneren Beziehungsbilder aus der Vergangenheit, erkennt im Rollentausch die innere Wirklichkeit seiner Objektrepräsentanz und kann sich so leichter von der damaligen Bezugsperson abgrenzen und ablösen (siehe Kap. 4.12, Schritte 7–10 und Kap. 8.4). Allerdings ist bei einer solchen Arbeit eine Auseinandersetzung mit einem Gewalttäter oder einer Täterin zu vermeiden, weil dies einer Traumaexposition gleichkäme (siehe Kap. 5.10.9). Auch Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten arbeiten therapeutisch mit »guten Eltern«, sie vermischen die Bilder von fiktiven guten Eltern aber nicht mit den inneren Objektrepräsentanzen der realen Eltern aus der Kindheit des Patienten (siehe Kap. 5.14 und 5.15). In den letzten Jahren sind auch die Schematherapeuten davon abgekommen, die innere Objektrepräsentanz der realen Eltern der Patienten aus der Kindheit willkürlich zum Guten hin zu verändern. Sie haben für die Bearbeitung von traumatischen Kindheitserfahrungen entdeckt, dass es therapeutisch fruchtbarer ist, wie im Psychodrama (siehe Kap. 5.14 und 5.15) in die Szene andere fiktive gute Eltern als unterstützende Doppelgänger einzuführen. Sie nennen dieses Vorgehen »imaginatives Umschreiben durch eine Hilfsperson« (Jacob und Arntz, 2011, S. 134 ff.).

Die weniger störungsspezifischen psychodramatischen Vorgehensweisen

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4.12 Die weniger störungsspezifischen Methoden der psychodramatischen Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und strukturellen Störungen lernen durch die therapeutische Arbeit an ihrer dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation, sich selbst zu verstehen, sie gewinnen Zugang zur Aktualisierungstendenz ihres Selbst und entwickeln so meistens Hoffnung und Motivation, sich zu ändern. Die Therapeutin setzt die Stühlearbeit im gesamten Verlauf der Therapie immer wieder einmal ein. Die Patienten brauchen aber, um ihre inneren Strukturen und ihr Mentalisieren nachzuentwickeln, therapeutische Unterstützung auch durch allgemeinere therapeutische Vorgehensweisen. Dabei haben sich die folgenden sechs Möglichkeiten bewährt: 1. Der Patient schreibt zu Hause in einer stressfreien Umgebung einer Bezugsperson aus seiner Kindheit einen fiktiven Brief. Er erklärt dieser Person darin, was er inzwischen über sich selbst und den Zusammenhang zwischen seinen gegenwärtigen Problemen und seinen Kindheitserfahrungen erkannt hat, und nennt die Dinge beim Namen. Er soll diesen Brief aber auf keinen Fall abschicken. Der Patient kann über die aktuelle Selbstreflexion hinaus in späteren Krisen in dem Brief auch die Gründe für seine innere Umstellung noch einmal nachlesen, sich ihrer vergewissern und so seine innere Umstellung wieder stabilisieren. 2. Beim Schreiben des fiktiven Briefes an eine frühere Bezugsperson erinnert sich der Patient natürlich auch an bestimmte leidvolle Erlebnisse aus seiner Kindheit. Empfehlung Damit der Patient nicht in den Defiziterfahrungen verharrt, arbeiten die Therapeutin und der Patient wie im Fallbeispiel 12 für jedes der Leidenserlebnisse in der Kindheit immer sofort heraus, was er als Kind in der damaligen Situation stattdessen gebraucht hätte (Sáfrán und Czáky-Pallavicini, 2013). Sie entwickeln zusammen innerlich zum Beispiel zusätzlich zu den realen Eltern auch noch gute innere Eltern (Kellermann, 2000, S. 31; Arntz und van Genderen, 2010, S. 29 ff.; Grimmer, 2013), die dem Patienten in seinen Konflikten als fiktive innere Doppelgänger innerlich Halt geben können.

Die Therapeutin und der Patient sollten dabei wie im Fallbeispiel 12 mithilfe von Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne exakt herausarbeiten, wie das Handeln der fiktiven guten Mutter bzw. anderer hilfreicher Personen hätte sein sollen und was der Patient dabei als Kind wirklich gefühlt hätte.

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3. Die Therapeutin lässt den Patienten ein Bewältigungsmärchen schreiben (Krüger, 2013a, Sáfrán und Csáky-Pallavicini, 2013). Darin soll der Patient in der dritten Person (»Die kleine Kathi, die …« »Der kleine Erwin, der …«) die Leidensgeschichte seiner Kindheit aufschreiben, sich an sehr leidvollen Stellen in Anlehnung an Märcheninhalte eine märchenhafte Umwandlung ausdenken hin zur Erfüllung der Sehnsucht des Kindes und in einem dritten Teil beschreiben, wie diese Sehnsucht sich dann in verschiedenen Erlebnisepisoden konkret erfüllen soll und was das Kind dabei fühlt. Die Arbeit mit dem Bewältigungsmärchen ist besonders dann indiziert, wenn der Patient nicht in der Lage ist, sich spontan das Recht auf eigene Wünsche zuzugestehen. Zentraler Gedanke Patienten mit strukturellen Störungen nehmen oft die schwierigsten Lebensumstände einfach klaglos hin, weil ihnen das Leben geschieht und sie in der Kindheit nichts anderes kennengelernt haben. Sie haben oft gar keine Vorstellungen von dem, was »normal« ist, und dass auch ihnen das Recht zusteht, sich ein zufriedeneres Leben zu wünschen.

Das spiegelt sich dann darin wider, dass diese Patienten beim Schreiben eines Bewältigungsmärchens oft zunächst nicht oder nur unzureichend in der Lage sind, das Märchen wirklich mit allen seinen drei Teilen zu schreiben (siehe Kap. 5.14). Sie brauchen dabei gegebenenfalls die begleitende Hilfe der Therapeutin. Die Technik des Bewältigungsmärchens kann bei Patienten mit Beziehungstraumata in der Kindheit helfen, zum ersten Mal zu spüren, was Wünschen eigentlich ist (siehe Fallbeispiel 32 in Kapitel 5.14). Das Schreiben seines solchen Märchens aktiviert therapeutisch das natürliche Selbstheilungssystem des Patienten (Hartmann, 1996). Der Patient entwickelt dabei eine persönliche, subjektive Wahrheit, die über die lebensgeschichtliche Wahrheit hinausgeht, diese aber doch mit einschließt. Empfehlung 4. Ein persönlichkeitsgestörter Patient kann sein in der Therapie gewonnenes neues Selbstverständnis durch einen fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch in das innere Beziehungsbild zu einer engen Bezugsperson aus seiner Kindheit integrieren. Er spricht dabei mit dieser Person als der Erwachsene, der er jetzt ist. Der Patient sollte dazu als Bezugsperson jemanden wählen, der mit ihm sein Schicksal in Ansätzen geteilt hat, zum Beispiel einen Bruder oder eine Großmutter. Diese Person darf aber auf keinen Fall der Täter oder die Täterin sein, die den Patienten traumatisiert hat.

Die weniger störungsspezifischen psychodramatischen Vorgehensweisen

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Denn der Rollentausch mit einem Täter ist in der Psychodramatherapie grundsätzlich kontraindiziert (Krüger, 2003, S. 111 f.). Der Patient verbalisiert dieser Bezugsperson gegenüber seine neuen Erkenntnisse über sich selbst und über seine Kindheit und erarbeitet sich im Rollentausch auch ein Wissen darüber, was die Sicht der Dinge und die Motive der jeweiligen Bezugsperson für deren gegebenenfalls unzureichende Unterstützung in der Kindheit waren. Die therapeutische Arbeit mit dem fiktiven psychodramatischen Dialog mit der Bezugsperson dauert oft mehrere Sitzungen und schließt immer wieder auch die Stühlearbeit mit den dysfunktionalen Ich-Zuständen mit ein. 5. Der Patient integriert sein neu erworbenes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein durch fiktive psychodramatische Dialoge jetzt auch in die Beziehungen zu gegenwärtigen Konfliktpartnern. Er lernt dabei im Schonraum der therapeutischen Beziehung mit viel Zeit und Achtsamkeit, in den Konflikten sich selbst und den anderen differenziert wahrzunehmen, das eigene Erleben und die eigene innere Wahrheit in der Beziehung verbal auszudrücken und im Rollentausch aber auch die innere Wahrheit der Konfliktpartner zu erkennen und ernst zu nehmen. Oft staunen die Patienten nach einer solchen Konfliktbearbeitung, wie verschieden die anderen Menschen »ticken« können. 6. Zur Unterstützung der inneren Umstellung kann die Therapeutin den Patienten auffordern, seine Wut als »Wutstein« oder sein »inneres Kind« als kleine Fingerpuppe in seinem Alltag real bei sich zu tragen. Ein solches gegenständliches Symbol dient dann als emotionaler Anker und Kompass. Es kann helfen, in Konfliktsituationen des Alltags nicht gleich wieder in den alten Selbstentwertungs- oder Anpassungsfilm hineinzurutschen oder aber sich daraus schneller wieder zu befreien. Dadurch wird die innere Umstellung zeitlich verstetigt und so die Entwicklung neuer Verschaltungen in den Gedächtniszentren des Gehirns gefördert. Das ist besonders wichtig für Patienten mit psychosomatischer Beschwerdebildung, die konflikthaften Auseinandersetzungen ausweichen und dabei in Ihrem Denken und Fühlen dann meistens auch ihren Affekt gleich mit verschwinden lassen. Wenn der Patient seine Wut aber mithilfe eines gegenständlichen, außen real vorhandenen Symbols existent hält und zum Beispiel sein inneres »wütendes Kind« dadurch nicht verrät, öffnet das in seinem Gehirn andere Türen, nämlich Wege zu Lösungen, die anders sind, als wenn er weiter in Angst- oder Beschämungsgefühlen verharren würde. Patientinnen und Patienten mit Defiziten des Mentalisierens brauchen lange Zeit, um zu lernen, Beziehungskonflikte in der Gegenwart offen und angemessen auszutragen. Sie können das im fortgeschrittenen Therapiestadium aber zu Hause mithilfe des fiktiven psychodramatischen Dialogs zur Selbstsupervision auch allein üben (siehe Kap. 2.2) (Krüger, 2011, 201 f.). Dadurch differenzieren

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und erweitern sie in Konflikten des gegenwärtigen Alltags in ihrem inneren Mentalisieren ihre innere Selbstrepräsentanz und ihre innere Objektrepräsentanz ihres Konfliktpartners und erkennen so im Konflikt klarer sich selbst und den anderen. Die Therapeutin sollte ihren Patienten die Methode der Selbstsupervision zunächst zeigen, ihm die 12 Regeln aus dem Kapitel 2.2 mitgeben, ihn die Methode zu Hause allein üben lassen und später überprüfen, ob er sie zu Hause auch wirklich so anwendet, wie in den Regeln im Kapitel 2.2 vorgegeben. Fallbeispiel 19: Eine in der Kindheit traumatisierte Frau benutzte die Selbstsupervision immer, wenn sie wieder Schwindelgefühle hatte. Diese traten immer dann auf, wenn sie sich in Beziehungen wieder einmal nicht ausreichend abgegrenzt hatte. Schon nach vier Wochen Arbeit mit der Selbstsupervision berichtete sie: »Das mit den Stühlen ist wirklich toll! Ich benutze das, um meine eigene Position zu klären. Ich bekomme meinen Schwindel jetzt deutlich seltener. Ich habe gemerkt: ›Die Menschen sind manchmal gar nicht gegen mich, die zentrieren ihre Aufmerksamkeit nur auf sich selbst!‹ Ich habe immer gedacht, ich bin spießig, wenn ich nicht großzügig bin. Bei der Arbeit mit dem leeren Stuhl lerne ich aber, dass es für mich wichtig ist, dem, was ich selbst fühle und denke, Berechtigung zu geben! Ich habe gemerkt, dass ich aus der Rolle des anderen heraus oft gar nicht verstehe, was ich, also der andere, will, und dass ich meine eigene Position viel deutlicher machen muss!«

4.13  Die Arbeit mit den Ich-Zuständen der Therapeutin in chaotisierenden Beziehungen Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen denken oft in SchwarzWeiß-Mustern, sind nicht ambivalenzfähig und verstehen in der therapeutischen Kommunikation eine Ja-aber-Aussage der Therapeutin als Entweder-oder. Weil sie innerlich im Äquivalenzmodus denken und den Konjunktiv einer Aussage nicht im Als-ob-Modus verstehen können, macht bei ihnen eine Relativierung einer Aussage durch die Therapeutin die Aussage zunichte: Sie werten zum Beispiel ein an Bedingungen geknüpftes Hilfsangebot als Ablehnung ihres Wunsches nach Hilfe. Empfehlung Das Denken von Patienten im Äquivalenzmodus macht die Therapeutin oft hilflos und handlungsunfähig (siehe Kap. 4.3). Bei einer durch Schwarz-Weiß-Denken enstehenden Kommunikationsblockade kann die Therapeutin sich in dem Fall dadurch helfen, dass sie die eigenen Ich-Zustände erfasst und mit leeren Stühlen im Therapiezimmer kenntlich macht (Krüger, 2007a) (siehe Abb. 14).

Die Arbeit mit den Ich-Zuständen der Therapeutin in chaotisierenden Beziehungen

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Fallbeispiel 10 (2. Fortsetzung, siehe Kap. 4.4 und 4.6): Herr A. kam ursprünglich mit 39 Jahren erstmals in die Praxis wegen schwerer Depressionen und Suizidgedanken. Der Therapeut diagnostizierte eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD F60.31) und chronischen Alkoholmissbrauch (ICD F10.2) bei einer schweren strukturellen Störung. Herr A. wurde im ersten Lebensjahr von seiner Mutter in ein katholisches Kinderheim gegeben, von Nonnen großgezogen und im 17. Lebensjahr zwangsweise aus dem Kinderheim entlassen wegen einer sexuell ausgelebten Liebesbeziehung. Bei aggressiven Durchbrüchen hatte er seine Ehefrau schon mehrfach körperlich verletzt. Zu Beginn der Therapie antwortet Herr A. auf die Frage nach seinem Therapieziel: »Ich komme ein bisschen bange hierher. Ich bin gar nicht therapierbar!« Er sieht sich selbst in der therapeutischen Beziehung als »Playmobilzwerg«, den Therapeuten aber als einen »zehn Meter hohen Riesen«. Der Patient wünscht sich von dem Therapeuten: »Sie sollen mich total durchschauen. Dann können Sie mich schnell reparieren! Ich möchte gern meine Kindheit aufarbeiten!« Der Therapeut erschrickt, weil er sich von den Erwartungen des Patienten überfordert fühlt. In dem folgenden Text sind die jeweiligen Reaktionen des Patienten aus Platzgründen nicht alle beschrieben: Der Therapeut stellt einen leeren Stuhl rechts neben sich: »Ich finde es freundlich von Ihnen, dass Sie mir so viel zutrauen. Aber als kompetenter Therapeut, ich stelle für mich als kompetenten Therapeuten hier neben mich zusätzlich noch diesen Stuhl hin, sage ich: »Es wird Ihnen gegen Ihre Depression nicht helfen, Ihre Kindheit aufzuarbeiten. Im Gegenteil, es wird Ihnen vermutlich sogar eher schaden. Eigentlich ist es eine große Leistung, dass Sie bei einer so schwierigen Kindheit so viel aus Ihrem Leben gemacht haben, beruflich und privat. Wenn wir in der Therapie zusammen Ihre Kindheit ansehen, werden in Ihnen aber alle früheren Mangelerfahrungen wieder lebendig werden. Das macht Sie dann wahrscheinlich nicht stabiler, sondern eher noch labiler.« Der Therapeut stellt einen zweiten leeren Stuhl links neben sich: »Das ist der Stuhl für mich als grandioser Therapeut. Ich würde Ihnen Ihren Wunsch, die Kindheit aufzuarbeiten, gern erfüllen. Warum nicht!« Er deutet mit der Hand auf sich selbst auf dem mittleren Stuhl: »Aber meine Erfahrung ist leider: Wenn ich als Therapeut zu viel wollte, bin ich gescheitert!« Der Therapeut setzt sich auf den Stuhl rechts neben sich: »Dabei sehe ich mich durchaus als kompetenten Therapeuten an! Als solcher meine ich: ›Lassen Sie uns doch bitte Ihre vielen Probleme eines nach dem anderen angehen!‹« Der Therapeut wechselt wieder auf den mittleren Stuhl. Herr A. ist irritiert: »Ich fühle einen richtigen depressiven Schub, da ist wieder ein Druck im Bauch, in meinem Kopf, in den Beinen! Ich fühle mich allein gelassen. Die Hilfe, die ich wollte, kriege ich nicht. Ich sehe schon: Ich bin Ihnen zu kompliziert, ich bin nicht therapierbar!« In dieser Situation stellt der Therapeut rechts neben den Stuhl des »kompetenten Therapeuten« noch einen dritten leeren

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Stuhl für die negative Übertragungsfigur: »Das ist der Stuhl für Ihre Mutter, die Sie in das Kinderheim weggegeben hat, und für die Lehrerin, die Sie nicht als Pflegekind annehmen wollte. Auch ich erfülle Ihre Erwartungen nicht so, wie Sie es sich wünschen. Aber anders als die Bezugspersonen in Ihrer Kindheit schiebe ich Sie nicht ab und lasse Sie nicht allein! Ich möchte mit Ihnen arbeiten. Ich will mit Ihnen aber an den Problemen arbeiten, die Sie in der Gegenwart haben, schrittweise nacheinander, erst an dem einen und dann an dem anderen!« Der Therapeut spricht mit dem Patienten in den letzten zwanzig Minuten der Therapiestunde über dessen Alkoholproblem: »Ich stelle hier neben Sie noch einmal zusätzlich einen Stuhl hin für Sie als jemand, der zu viel Alkohol trinkt. Vielleicht kommen Ihre Depressionen ja auch von Ihrem Trinken. Sie haben immer wieder Ihre guten Vorsätze nicht eingehalten und mehr getrunken, als Sie wollten. Das macht Schuldgefühle und Minderwertigkeitsgefühle und Sie werden dadurch depressiv!« Der Therapeut lässt den Patienten einen Fragebogen mit den 30 Jellinek’schen Fragen (siehe Kap. 10.4) ausfüllen. Beim Beantworten muss Herr A. 17 der 30 Fragen mit »Ja« ankreuzen. Fünf Zustimmungen reichen schon, um anzunehmen, dass man »wahrscheinlich Alkoholiker ist.« Herr A. ist zutiefst erschrocken. Er schließt sich einer Therapiegruppe für Suchtkranke an. Patient

negative Übertragungsfigur grandiose Therapeutin

Therapeutin als begegnender Mensch

Therapeutin als kompetente Fachkraft

Abbildung 14: Die drei verschiedenen Ich-Zustände der Therapeutin und der Stuhl für die negative Übertragungsfigur

Bei der Stühlearbeit mit den eigenen Ich-Zuständen ordnet die Therapeutin ihre Aussagen drei verschiedenen, sich systemisch ergänzenden Ich-Zuständen zu und repräsentiert diese mit leeren Stühlen (siehe Abb. 14). 1. Die Therapeutin ist der begegnende Mensch. 2. Sie ist mit all ihrem Wissen und ihren Erfahrun-

Die Arbeit mit den Ich-Zuständen der Therapeutin in chaotisierenden Beziehungen

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gen eine kompetente Fachkraft. 3. Sie hat Ideale und wäre gern eine grandiose Therapeutin. Daneben gibt es auch noch die von dem Patienten auf die Therapeutin projizierte negative Übertragungsfigur. Zentraler Gedanke Dadurch, dass die Therapeutin ihre drei verschiedenen Ich-Zustände außen im Therapiezimmer als Stühle sichtbar nebeneinander repräsentiert, gibt sie ihren Aussagen als »begegnender Menschen«, als »kompetente Fachkraft« und als »grandiose Heilerin« nebeneinander Existenzberechtigung. Sie kann durch Wechsel von einem Stuhl zum anderen jeden Ich-Zustand ganz leben, ohne dass der aktuell verwirklichte Ich-Zustand in ihrem eigenen Denken und im Denken des Patienten durch einen der anderen beiden Ich-Zustände relativiert oder sogar ausgelöscht wird.

Sie kann in der Rolle des »begegnenden Menschen« offen kommunizieren, dass sie sich ohnmächtig und überfordert fühlt, und erlebt sich aber durch den anderen Stuhl neben sich dabei selbst trotzdem weiter als »kompetente Therapeutin«. Die Aktivität der Therapeutin als »begegnender Mensch«, die die Gefühle, die die aktuelle Situation in ihr hervorruft, authentisch ausspricht, entspricht weitgehend dem »Prinzip Antwort«, das Psychoanalytiker bei suchtkranken und strukturell gestörten Patienten statt des »Prinzips Deutung« empfehlen (HeiglEvers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.). Die Therapeutin kann durch Rollenwechsel auf den Stuhl der »grandiosen Therapeutin« deutlich machen, dass sie durchaus ein Helfer- und Heiler-Ideal hat. Sie wird aber von dem Patienten nicht gleich als abgehoben erlebt, weil sie im nächsten Schritt ja wieder auf den Stuhl des »begegnenden Menschen« oder den der »kompetenten Fachkraft« zurückwechselt. Bei der Arbeit mit ihren drei Ich-Zuständen kann die Therapeutin dem Patienten während des Gesprächs jeweils kenntlich machen, wann sie selbst innerlich grade in einen anderen Ich-Zustand wechselt. Sie deutet dann mit der Hand auf den jeweiligen anderen Stuhl oder setzt sich tatsächlich real auf diesen anderen Stuhl. Die Arbeit mit den drei Stühlen für die drei eigenen Ich-Zuständen hilft der Therapeutin bei Blockaden der therapeutischen Beziehung, ihre Fähigkeit zum Mentalisieren wieder voll zu nutzen. Sie ist als einfühlsame Therapeutin weniger leicht verführt, die Ursache für die Störung in der therapeutischen Beziehung durch Introjektion allein bei sich selbst zu suchen und auf eine eigene persönliche Problematik zurückzuführen. Weniger depressiv strukturierte Therapeutinnen können sich durch dieses Vorgehen davor schützen, den Patienten zu entwerten oder sogar zu pathologisieren.

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

Übung 9 Erproben Sie als Leserin oder Leser in einer Übung, welche Wirkungen es auf sie selbst hat, wenn sie in einer chaotischen therapeutischen Beziehung sich in sich selbst durch Aufstellen ihrer eigenen Ich-Zustände mit Stühlen orientieren: Stellen Sie sich in Ihrem Therapieraum auf einem leeren Stuhl einen persönlichkeitsgestörten Patienten vor. Reden Sie mit dem »Patienten« einige Sätze. Ziehen Sie nun rechts neben sich einen leeren Stuhl heran für sich selbst als »kompetente Therapeutin«. Fassen Sie den Stuhl an und spüren Sie in die Begegnung mit dem vorgestellten »Patienten« hinein. Entfernen Sie jetzt diesen zweiten Therapeutenstuhl wieder und reden Sie mit dem Patienten einige Sätze. Spüren Sie nach, wie Sie sich als Therapeutin fühlen, ohne den »kompetenten Stuhl« neben sich zu haben, der Ihr theoretisches und praktisches Fachwissen repräsentiert. Stellen Sie jetzt den Stuhl der »kompetenten Therapeutin« wieder neben sich und spüren Sie erneut in die Situation hinein.

Sie werden merken: Es entspannt Sie, wenn Sie als Therapeutin auf dem Stuhl für den »begegnenden Menschen« den Stuhl für die »kompetente Therapeutin« neben sich stehen haben. Sie fühlen sich spontaner, kontaktfähiger, neugieriger und mitfühlender. Auch erlauben Sie sich eher, hilflos zu sein, auch einmal nicht zu wissen und bleiben aber trotzdem weiter handlungsfähig. – Im nächsten Schritt setzen Sie sich bitte auf den Stuhl der »kompetenten Therapeutin«. Entfernen Sie jetzt für eine Weile den Stuhl für die »Therapeutin als begegnender Mensch«. Sprechen Sie jetzt einige Sätze aus der Rolle der kompetenten Therapeutin heraus. Spüren Sie, wie es für Sie ohne den anderen Stuhl ist. Stellen Sie jetzt den Stuhl der »Therapeutin als Mensch« wieder neben sich. Spüren Sie neu. – Dasselbe Experiment können Sie auch mit dem »grandiosen Stuhl« neben sich machen. Sie werden merken: Wenn Sie nur grandios sind, ohne den Stuhl für die »Therapeutin als begegnender Mensch« und den für die »kompetente Therapeutin« rechts neben sich zu haben, fühlt sich das an wie eine Wanderung auf einem schmalen Grad im Hochgebirge. – Setzen Sie sich jetzt wieder auf den Stuhl der »Therapeutin als Mensch« und entfernen Sie den Stuhl für die »grandiose Therapeutin« neben sich. – Sie merken, auch dann fehlt etwas Wichtiges, nämlich Ihre eigene therapeutische Vision, Ihre im weiteren Sinne spirituelle Identität, der Grund, weshalb Sie Therapeutin geworden sind. Manche Therapeutinnen oder Therapeuten finden den Stuhl für die »grandiose Therapeutin« überflüssig. Meiner Erfahrung nach wird eine Therapeutin für den Patienten aber erst dann zu einem begegnenden Menschen mit Schwächen und Stärken, wenn sie sich auch ihrer eigenen Ideale bewusst ist und diese wertschätzt. Der Ich-Zustand der »grandiosen Therapeutin« steht für

Die Arbeit mit den Ich-Zuständen der Therapeutin in chaotisierenden Beziehungen

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die bewusste, spielerische Identifizierung mit dem Heilergott (Hillmann, 1980, S. 107), also für den Traum, eine ideale Therapeutin zu sein. Eine Therapeutin, die sich ihre grandiosen Fantasien nicht eingestehen kann, läuft meiner Ansicht nach Gefahr, diese unbewusst auszuagieren. Zentraler Gedanke Das Agieren schwer strukturell gestörter Patienten setzt die psychische Selbstorganisation der Therapeutin starken inneren Konfliktspannungen aus und kann sie chaotisieren. In einem solchen Fall verschränken sich in der therapeutischen Beziehung die chaotische psychische Selbstorganisation des Patienten und die psychische Selbstorganisation der Therapeutin. Die Arbeit mit den drei Ich-Zuständen der Therapeutin kann in einem solchen Fall die gegenseitige Verständigung erleichtern und macht diese oft überhaupt erst möglich.

In einer chaotisierenden therapeutischen Beziehung findet die Therapeutin die Orientierung nicht dadurch, dass sie sich empathisch in den Patienten einfühlt und mit ihm mitgeht. Sie muss zunächst ihren eigenen Gefühlen und der prozessualen Klärung ihrer eigenen Selbstorganisation in der Beziehung Berechtigung geben. Die Therapeutin kann einem desorientierten Patienten nicht helfen, Orientierung in sich selbst zu finden, wenn sie sich in der Beziehung zu ihm nicht Zeit und Raum nimmt, sich zunächst in sich selbst zu orientieren. Durch die Arbeit mit den drei Stühlen kann sie den Patienten bzw. die Gruppe an diesem Prozess der Selbstorientierung teilhaben lassen. Ihr Prozess der Selbstorientierung orientiert dann auch den Patienten. Es gibt ihm in der therapeutischen Beziehung Halt (Gneist, 2002, S. 221), wenn die Therapeutin in der Begegnung mit ihm durch die Trennung ihrer drei Ich-Zustände zunächst in sich selbst Halt und Orientierung zu gewinnen sucht. Fallbeispiel 20: In einer Lehrveranstaltung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten demonstrierte der Leiter die psychodramatische Stühlearbeit in chaotisierenden therapeutischen Beziehungen. Eine Teilnehmerin und ein Teilnehmer spielten beziehungsgestörte Patienten aus ihrer eigenen Patientenklientel. Um den Einfluss seiner inneren therapeutischen Haltung auf das Denken und Fühlen der Patienten zu demonstrieren, wechselte der Leiter im ersten Spiel in der Behandlung einer »Patientin« mehrfach zwischen den drei Stühlen und Haltungen auf seiner eigenen Seite hin und her und forderte die »Patientin«, gespielt von einer Therapeutin, auf, nachzuspüren, wie sie darauf jeweils innerlich reagierte. Auf dem »grandiosen Stuhl« äußerte der Leiter: »Als Therapeut kann ich Ihnen sagen: Wir werden das schon hinkriegen. Ich habe fünfundzwanzig Jahre Erfahrung als Suchttherapeut. Also,

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wo wollen Sie anfangen!« Die Kursteilnehmerin spürte in der Rolle der süchtigen Patientin: Das demonstrativ selbstbewusste Therapeutenverhalten entmächtigte sie als Frau und ließ sie in eine passive Haltung gehen. Sie wechselte spontan von dem Stuhl ihres »süchtigen Ichs« auf den des Ich-Zustands des »verlassenen Kindes« und meinte: »Als Patientin fühle ich mich plötzlich klein und habe Angst!« In der zweiten Demonstration animierte die gleiche Intervention des Leiters einen Therapeuten, der einen suchtkranken Mann spielte, als Patient spontan auf den Stuhl seines »Selbstschutzverhaltens durch Grandiosität« zu wechseln und mit dem Therapeuten aktiv zu rivalisieren: »Na, nicht schlecht! Versuchen Sie es doch! Bisher hat es allerdings noch keiner geschafft, mich zu knacken!«

Die Therapeutin wird für den Patienten durch ihre Orientierungsarbeit in ihrer eigenen psychischen Selbstorganisation mit den drei Stühlen implizit zum Vorbild für den Umgang mit sich selbst. Wenn die Therapeutin für ihre grandiosen Wünsche einen leeren Stuhl neben sich aufstellt, diesen als »Stuhl für ihre eigenen grandiosen Wünsche« bezeichnet und offen bekundet, dass sie immer wieder lernen musste, sich zu bescheiden, dann gibt sie ihren grandiosen Wünschen damit einerseits Berechtigung. Sie charakterisiert diese aber andererseits doch auch als Wunschfantasien, die in der Realität zu relativieren waren. Damit zeigt sie einem Patienten, der einen grandiosen Anspruch an sich selbst hat, dass er durchaus grandiose Wünsche haben kann und darf, dass es aber gut wäre, diese angemessen in die Realität zu integrieren. Zentraler Gedanke Die Stühlearbeit der Therapeutin mit ihren eigenen Ich-Zuständen kann durch die Verschränkung ihrer psychischen Selbstorganisation mit der des Patienten helfen, die Konfliktspannungen in der dysfunktionalen Selbstorganisation des Patienten zu vergrößern, und es ihm so erleichtern, die Dysfunktionalität der Arbeit seiner Ich-Zustände zu merken.

4.14 Der psychodramatische Umgang mit Störungen in der therapeutischen Beziehung In der störungsspezifischen Therapie von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und strukturellen Störungen hat die Beziehung zwischen der Therapeutin und dem Patienten eine existenzielle Dimension. Die Therapeutin handelt aus der Grundhaltung heraus: Es gibt kein Falsch und kein Richtig, kein Entweder-oder, nicht Sieg oder Niederlage, es gibt nur die Suche nach Wahrheit und

Der psychodramatische Umgang mit Störungen in der therapeutischen Beziehung

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Stimmigkeit auf dem Weg der gemeinsamen Beziehungsgestaltung. Mit der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7 und 4.13) können die Therapeutin und der Patient die Verschränkung ihrer psychischen Selbstorganisationen in der therapeutischen Beziehung spielerisch erfassen. Sie gehen diesen Weg gemeinsam. Der Ort der Veränderung und des Spiels in der Therapie von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen ist viel mehr als sonst im Psychodrama die Bühne der realen Beziehung zwischen dem Patienten und der Therapeutin. Ausgangspunkt und Endpunkt des therapeutischen Handelns ist der Stuhl für die »Therapeutin als begegnender Mensch«. Denn strukturell gestörte Patienten brauchen eine Therapeutin, die den Mut hat, auch einmal nicht weiterzuwissen, die, wenn erforderlich, ihre eigene Ohnmacht und Traurigkeit annimmt und andererseits in der Beziehung zu dem Patienten doch auch standhält und ihn nicht allein lässt. Das Ziel der Therapie ist nicht, dass der strukturell gestörte Patient seine Konflikte löst, sondern dass er lernt, in seinen Konflikten seine psychische Selbstorganisation angemessener zu steuern. Das Aufstellen der verschiedenen Ich-Zustände ist für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und für die Therapeutin ein komplexer und anstrengender Prozess. Strukturell schwer gestörte Patienten reagieren darauf oft zunächst mit Unwillen. Denn diese Arbeit löst ihre Abwehr durch Verleugnung auf. Es ist aber ein für beide sehr berührender Moment, wenn dadurch dann der Abstimmungsund Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin gelingt. Zentraler Gedanke Durch das Repräsentieren der Ich-Zustände mit Stühlen und die Stühlearbeit entsteht für den Patienten in seinem Konflikt real Zeit und auch ein ganz konkreter Raum zum Mentalisieren der Prozesse seiner psychischen Selbstorganisation. Der Patient merkt plötzlich, worum es in seiner Therapie eigentlich geht.

Je schwerer Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen strukturell gestört sind, desto stärker agieren sie die strukturelle Störung ihrer psychischen Selbstorganisation auch in der therapeutischen Beziehung aus. Die Therapeutin wird durch die ständig neuen Katastrophen des Patienten in seinem Alltag leicht verführt, seinem »Flippen« einfach immer nur hinterherzulaufen (siehe Fallbeispiel 8). Das kann so weit gehen, dass sie trotz ihres Wissens um störungsspezifische Vorgehensweisen in der Therapie von Persönlichkeitsstörungen »vergisst«, die verschiedenen dysfunktionalen Ich-Zustände des Patienten mit Stühlen auf der Zimmerbühne oder mit Steinen auf der Tischbühne zu symbolisieren.

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

Fallbeispiel 15 (Fortsetzung von Kap. 4.8): Die 52-jährige Frau F., eine Patientin mit einer schweren strukturellen Störung, war durch eine fristlose Kündigung durch ihren Arbeitgeber retraumatisiert worden und erneut in eine schwere Depression dekompensiert und lange krankgeschrieben worden. Der Therapeut hatte die Stühlearbeit zwar eingesetzt, er hatte diese aufgrund mangelnder Resonanz bei der Patientin, wie sich später herausstellte, aber nicht konsequent genug gehandhabt. Erst durch eine begonnene Suizidhandlung der Patientin und ihre drohende Frühberentung merkte er, dass er empathisch mitfühlend und mitleidend den schnellen Wechseln der Ich-Zustände der Patientin einfach immer nur gefolgt war. In einer ruhigen Stunde erarbeitete er sich noch einmal neu ein Konzept ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation und stellte die dazugehörigen Ich-Zustände in den folgenden Therapiesitzungen immer wieder mit Stühlen im Behandlungszimmer neben der Patientin auf: 1. Rechts neben der Patientin stand der Stuhl für die Patientin in ihrem kompensatorischen Selbstschutz, mit dem sie sich zeitlebens stabilisiert hatte, symbolisiert durch die Handpuppe einer hübschen Frau. Dieser Stuhl stand für ihre Rollen der guten Sozialpädagogin, der guten Mutter und der guten Partnerin. 2. Den immer wieder auftauchenden »präverbalen Panikzustand« der Patientin repräsentierte der Therapeut weit entfernt davon mit einem anderen Stuhl und positionierte darauf die zerschlissene Handpuppe eines feinsinnigen Mädchens. 3. Gegenüber davon stand ein dritter Stuhl mit der Handpuppe eines Wolfs mit großen scharfen Zähnen für das Gefühl einer »diffusen Bedrohung«. Diese neue Aufstellung half der Patientin in den folgenden Sitzungen, ihre inneren Panikzustände als »ganz diffuse Angst« zu benennen und sie ihrer Kindheit zuzuordnen: »Der Wolf rutscht bei mir aber immer wieder in die Gegenwart!« Der Therapeut hatte das erste Mal in der schon drei Jahre laufenden Psychotherapie dauerhaft das Gefühl, die Grundproblematik der Patientin und ihre eigentliche Not wirklich erfasst zu haben.

Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen leiden zentral an einer Störung ihrer psychischen Selbstorganisation. Sie agieren ihren dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand auch in der therapeutischen Beziehung aus und verführen dadurch die Therapeutin, komplementär zu reagieren, zum Beispiel bei abhängigem Agieren des Patienten mit »gesundem Erwachsendenken«, bei masochistischer Selbstverletzung mit dem Ich-Zustand des »wütenden Kindes«, bei Agieren im Selbstschutzverhalten mit dem Ich-Zustand des »verlassenen Kindes« usw. Persönlichkeitsgestörte Patienten ziehen die Therapeutin auf diese Weise durch projektive Identifizierung (siehe Kap 4.15) in ihre eigene dysfunktionale psychische Selbstorganisation mit hinein. Oft lässt die Therapeutin sich zunächst verführen, reaktiv tatsächlich in dem auf sie delegierten Ich-Zustand mitzuagieren und wird so gleichsam zu einem Teil des Selbst des

Der psychodramatische Umgang mit Störungen in der therapeutischen Beziehung

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Patienten. Dadurch kommt es in der therapeutischen Beziehung leicht zu einer gemeinsamen Blockade der Beziehung und des Fortschritts in der Therapie. Empfehlung Die Therapeutin sollte bei der Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen immer darauf achten, dass es ihr in der Beziehung zu dem Patienten auch selbst gut geht. Wichtig ist, die eigene Irritation, Resignation, Verwirrtheit, Ohnmacht oder Wut spielerisch als zur psychischen Selbstorganisation des Patienten gehörig zu verstehen und den eigenen Gefühlen in der Beziehung Berechtigung geben.

Das gelingt dadurch, dass sie 1. bewusst als Hilfs-Ich dem Abwehrprozess des Patienten folgt (siehe Kap 4.5) und die an der dysfunktionale Selbstorganisation des Patienten beteiligten Ich-Zustände mit Stühlen aufstellt (siehe Kap. 4.7, 4.8. und 4.9), 2. Übertragungs- und Realbeziehung in der therapeutischen Beziehung differenziert (siehe unten Fallbeispiel 10, 3. Fortsetzung), 3. die eigene psychische Selbstorganisation in der therapeutischen Beziehung durch das Aufstellen ihrer drei eigenen Ich-Zustände differenziert (siehe Kap. 4.13.) oder 4. das verbale »Prinzip Antwort« statt des »Prinzips Deutung« anwendet (siehe unten Kap. 4.15). Zentraler Gedanke Die Kenntnis der störungsspezifischen praktischen Vorgehensweisen in der Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ermutigt die Therapeutin erfahrungsgemäß, ihren eigenen Gefühlen in der Beziehung mehr Berechtigung zu geben. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es der Therapeutin gelingt, persönlichkeitsgestörten Patienten in der therapeutischen Beziehung angemessen standzuhalten.

Patientinnen und Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickeln oft wie aus heiterem Himmel eine negative Übertragung auf den Therapeuten, wenn die Therapeutin ihre Erwartungen nicht gleich erfüllt, und machen die Therapeutin durch eine Doppelbindung hilflos und handlungsunfähig (siehe Kap. 4.3). Solche negativen Übertragungen sollten immer möglichst früh therapeutisch bearbeitet werden (siehe Fallbeispiel 10, 2. Fortsetzung in Kap. 4.13 und unten 3. Fortsetzung).

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

Zentraler Gedanke Für die Auflösung einer negativen Übertragung ist entscheidend, dass die Therapeutin aktiv immer auch den Realanteil an der Beziehungsstörung herausarbeitet und diesen dem Übertragungsanteil gegenüberstellt (siehe Kap. 2.5): »Wo habe ich mich als Therapeutin entgegen meinem Selbstverständnis vielleicht doch ähnlich wie die Mutter des Patienten verhalten? Wo bin ich aber auch anders gewesen?« Jede Übertragung hat nämlich auch einen kleinen realen Anteil, und jede Realbeziehung hat auch einen Übertragungsanteil.

Die Therapeutin kann die von dem Patienten auf sie übertragene Objektrepräsentanz der schädigenden Bezugsperson aus seiner Kindheit ihm gegenüber mit einem leeren Stuhl im Zimmer äußerlich repräsentieren und deren äußeres Bild für den Vergleich nutzen (siehe Abb. 11 und Kap. 4.7). Dazu weist sie bei der Beziehungsklärung abhängig davon, ob sie gerade über die Beziehung des Patienten zu seiner Mutter redet oder über seine Beziehung zu ihr selbst als Therapeutin, jeweils mit der Hand entweder auf die Übertragungsfigur aus der Kindheit oder auf ihre eigene Person. Sie versteht die negativen Affekte des Patienten ihr gegenüber als lebensgeschichtlich bedingte »allergische Reaktion« und erlaubt dem Patienten, zu fühlen, was er fühlt. Der Patient erlebt dadurch, dass die Therapeutin ihn in seinen Gefühlen wahrnimmt und ernst nimmt. Fallbeispiel 10 (3. Fortsetzung, siehe Kap. 4.4, 4.6 und 4.13): Herr A. hatte schon fünf Jahre vor der jetzigen Behandlung eine 50-stündige Therapie bei demselben Therapeuten gemacht. Er war danach als Alkoholkranker rückfällig geworden und hatte infolge Frühberentung vorübergehend seine Arbeitsstelle verloren. Nach einer Rehabilitation arbeitete er aber seit einem halben Jahr wieder in seiner alten Dienststelle. Jetzt will Herr A. auch die zweite Therapie wieder nach fünfzig Stunden beenden: »Es bringt mir nichts mehr, die weite Anfahrt ist unbequem. Ich will auch nicht abhängig von Ihnen werden.« Der Therapeut bietet Herrn A. eine Verlängerung der Therapie an, um weiter an seinen strukturell bedingten schweren Beziehungsstörungen zu arbeiten: »Ich habe den Eindruck, dass Sie eine Therapie schon vorsorglich immer dann beenden, wenn das Ende der Beziehung droht.« Der Therapeut deutet mit der Hand auf den leeren Stuhl der schädigenden Bezugsperson aus der Kindheit: »Sie erleben das dann zwar selbst als freie Entscheidung. Ich glaube aber, dass Sie mit dieser Entscheidung ein altes Muster wiederholen und sich selbst davor schützen wollen, so wie in der Kindheit wieder ein nicht gewolltes Kind zu sein. Damals wurden Sie ja von Ihrer Mutter in das Kinderheim gegeben!« Der Therapeut deutet mit der Hand auf sich selbst: »Sie vollziehen dann hier in der Beziehung zu mir schon selbst das, was früher mit Ihnen gemacht worden ist.« Der Therapeut zeigt mit der Hand

Der psychodramatische Umgang mit Störungen in der therapeutischen Beziehung

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auf den Stuhl für »das selbstverletzende Denken«: »Sie bestimmen jetzt vorsorglich selbst, wann Sie gehen! Dann müssen Sie nicht wieder das Gefühl erleben, nicht gewollt zu sein. Sie haben dann ja selbst entschieden, unsere Beziehung zu beenden!« Der Patient fängt an zu weinen, er ist sehr berührt: »Oh, jetzt weiterzumachen, das würde aber hart! Ich wüsste dann nicht, wie ich mit meinen Gefühlen von Alleinsein umgehen sollte!« Therapeut: »Genau darum ginge es in einer Fortsetzung der Therapie, dass Sie lernen, auch diesen Gefühlen Berechtigung zu geben und damit umzugehen! Überlegen Sie sich doch, ob Sie das lernen wollen!«

Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Beziehungstraumata oder Defiziterfahrungen in der Kindheit reagieren manchmal therapeutisch negativ auf die Empathie der Therapeutin und dekompensieren durch einen Zusammenbruch ihrer Abwehr sogar in eine psychotische Episode. Empfehlung Auch wenn die Therapeutin sich subjektiv in der Therapie alle erdenkliche Mühe gegeben hat, sollte sie bei einer negativen therapeutischen Reaktion des Patienten nach dem Motto »die Seele des Patienten macht nichts umsonst« die Ursache auch in der therapeutischen Beziehung suchen. Fallbeispiel 21 (Krüger, 1997, S. 97 f., 103 f.): Eine 32-jährige Hausfrau mit einem Borderline-Syndrom, Frau L., war vor der Psychotherapie zweimal kurz in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen wegen einer »Psychose«. Sie ist deutlich kontaktgestört und wirkt in ihrem Verhalten insgesamt künstlich und marionettenhaft. Etwa nach einem Jahr Gruppentherapie spielt Frau L. zum ersten Mal ein protagonistzentriertes Spiel. Sie bearbeitet den Konflikt mit ihrer Schwiegermutter, die mit in ihrem Haus bei ihrer Familie wohnt. Dieser Konflikt erweist sich als ganz gewöhnlicher Familienkonflikt ohne besondere Brisanz. Die Gruppenmitglieder ermutigen sie in der Nachbesprechung, gegenüber der Schwiegermutter ihre Rechte ernst zu nehmen und sich mit ihren eigenen Wünschen zu behaupten. Auch die Nöte der Schwiegermutter werden besprochen. Drei Tage später aber wird Frau L. von ihrem Ehemann notfallmäßig in die Praxis gebracht. Sie ist hochpsychotisch, im Denken völlig zerfahren, schwankend zwischen Krankheitseinsicht, absolutem Misstrauen und aber auch kindlichem Vertrauen gegenüber dem Therapeuten. Was war der Grund für diese psychotische Dekompensation? Frau L. hatte sich vor dem Psychodramaspiel offenbar stabilisiert mithilfe der Abwehr durch Spaltung. In den vorhergehenden psychotischen Episoden war sie ihrem Ehemann gegenüber massiv aggressiv und entwertend gewesen. Wieder »gesund« diente ihr aber die »böse« Schwiegermutter dazu, den Ehemann zu idealisieren nach dem Motto:

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

»Wenn die Schwiegermutter nicht da wäre, wäre er der ideale Ehemann.« So konnte Frau L. sich in der Beziehung zu ihrem Ehemann die Sehnsucht nach dem Paradies als heimliche Hoffnung aufrechterhalten und damit auch ihr von Harmonieidealen geprägtes »gutes« Selbstbild bewahren: Sie war das gutwillige Opfer der »bösen« Schwiegermutter. Solange sie »Opfer« war und klagte und von dem recht harmoniebedürftigen Ehemann für ihre Anpassung narzisstische Gratifikationen bekam, konnte sie die Spaltung aufrechterhalten und ihre »böse« Seite vor sich selbst verleugnen und abspalten. In dem Psychodramaspiel blieb Frau L. aber nicht nur »Opfer.« In ihr wurden auch Ärger und Abgrenzungswünsche gegenüber der Schwiegermutter lebendig. Die Aufhebung der Abspaltung ihrer Gefühle rief in ihr innerlich offenbar das pathologische Introjekt ihres gewalttätigen Vaters auf den Plan und ließ sie agieren, als ob ihr Vater anwesend wäre. Frau L. war aufgewachsen mit einem schwer alkoholkranken Vater und einer dem Vater gegenüber total gefügigen Mutter. Die Beziehungen in der Familie waren geprägt von Beziehungsabbrüchen und Gewaltsituationen. Abgrenzungs- oder Durchsetzungswünsche mussten deshalb von Frau L. um ihres seelischen Überlebens willen abgespalten werden. Der Therapeut deutete in der Krisensitzung der psychotischen Patientin gegenüber seine eigene wohlmeinende Anteilnahme und die Unterstützung der Gruppenteilnehmer nach dem Spiel in der letzten Gruppensitzung konsequent als zwar gut gemeint, für die Patientin aber doch auch verhängnisvoll und böse: »Für andere Menschen wäre eine solche Unterstützung in Ordnung. Sie aber haben als Kind viel Verlassenheit und Gewalt erlebt und hatten gelernt, ihre Sehnsucht nach Verständnis zur Seite zu schieben. Wenn sich jetzt in der Gruppe Ihre Sehnsucht auf einmal erfüllt, dann ist das gefährlich für Sie. Sie halten das nicht aus. Denn die Erfüllung der Sehnsucht, ich stelle für die sehnsüchtige Seite in Ihnen hier neben Sie einen zweiten Stuhl hin, lässt Sie auch wieder die schlimmen Erfahrungen von früher spüren, und diese überschwemmen Sie dann. Auch wenn ich und die Gruppenmitglieder es in der Therapiesitzung mit Ihnen gut meinten, haben wir deshalb doch böse an Ihnen gehandelt.« Der Therapeut stellt auch neben sich selbst einen zweiten leeren Stuhl: »Das ist der Stuhl für den bösen Therapeuten, der Sie durch seine Zuwendung und sein Verständnis überfordert hat.« Der Therapeut hat im Therapiezimmer mit leeren Stühlen also nebeneinander das »gute Ich« und das »böse Ich« der Patientin repräsentiert, dazu auch die »gute« Seite des Therapeuten und die »böse« Seite des Therapeuten, und erklärte die beiden konträren Ich-Zustände der Patienten als berechtigt, sich gegenseitig ergänzend und sinnvoll. Offenbar konnte die Patientin diese Aufstellungsarbeit mit leeren Stühlen für ihre beiden konträren Ich-Zustände gut nutzen, um ihre widersprüchlichen inneren Strukturen zu verstehen und zu integrieren. Denn nach einer medikamentösen neuroleptischen Behandlung von insgesamt nur einer Woche war die psychotische

Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychoanalytischen »Prinzip Antwort«

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Desintegration von Frau L. verschwunden. Als sie vierzehn Tage später nach einem Urlaub wieder in die Gruppe kam, hatte sie sich auffallend verändert, dies war auch für den Therapeuten überraschend: Frau L. wirkte weicher, authentischer und viel mehr eins mit ihren Gefühlen. Die marionettenhafte, distanzierte Ausstrahlung war verschwunden und stellte sich auch im weiteren Verlauf der Therapie nicht wieder ein.

4.15 Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychoanalytischen »Prinzip Antwort« und zum »komplementären Antworten« von Schacht Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen agieren in Beziehungen ihren jeweils dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand und delegieren dadurch die zu einer angemessenen Selbstorganisation gehörigen anderen IchZustände auf ihre Interaktionspartner, beispielsweise auch auf ihre Therapeutin. Durch Interaktion bringen sie ihre Therapeutin dazu, den systemisch fehlenden Ich-Zustand in sich aktiv werden zu lassen, als ob es der der Therapeutin wäre. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker nennen diese Art der Delegation von Ich-Zuständen »projektive Identifizierung«. Nach Ermann (2004, S. 64) werden bei Abwehr durch projektive Identifizierung »andere Personen durch Manipulation dazu gebracht, sich so zu fühlen, wie man sich selbst fühlt«. Heigl-Evers, Heigl, Ott, und Rüger (1997, S. 176 ff.) haben für diese Beziehungsdynamik in der therapeutischen Beziehung die therapeutische Interventionstechnik »Prinzip Antwort« entwickelt, die das »Prinzip Deutung« bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen ersetzt bzw. ergänzt. Bei dem »therapeutischen Prinzip Antwort« besteht die Kunst der Therapeutin darin, in der Interaktion mit ihrem persönlichkeitsgestörten Patienten bewusst zu erfassen, was sie fühlt, und diesen eigenen inneren Gefühlszustand dem Patienten als Ich-Aussage mitzuteilen im Wissen darum, dass sie etwas fühlt, was der Patient auf sie delegiert. Zentraler Gedanke Bei dem »Prinzip Antwort« identifiziert sich die Therapeutin als Hilfs-Ich mit dem Gesamtsystem der aktuellen psychischen Selbstorganisation des Patienten in seinem Konflikt. Wegen der Fragmentierung seiner Selbstorganisation wird in der Interaktion aber gewöhnlich der von ihm selbst nicht gelebte Ich-Zustand in ihr lebendig. Sie spürt diesen in sich selbst stellvertretend für ihn. Wenn sie dann offen und wahr als Ich-Aussage verbalisiert, was sie in sich selbst empfindet und fühlt, mentalisiert sie stellvertretend für den Patienten (siehe Kap. 4.6) seine eigenen abgewehrten Gefühle zum Mitfühlen in verdauter Form und ermöglicht

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

ihm so, den von ihm abgewehrten Ich-Zustand in den Prozess seiner psychischen Selbstorganisation in seinem Konflikt zu integrieren. Fallbeispiel 22: Eine 45-jährige Patientin mit sozialer Phobie und Beziehungstraumata in der Kindheit berichtet im Erstgespräch ohne emotionale Beteiligung von schwierigen Kindheitserlebnissen. Eines ist erschreckender als das andere. Plötzlich unterbricht sie ihren Redefluss und fragt lächelnd: »Ich kann Ihnen noch viel mehr solche Geschichten erzählen, soll ich?!« Der Therapeut vermeidet an dieser Stelle bewusst, sich an dem dysfunktionalen Prozess ihrer Selbstorganisation zu beteiligen, sich also Gesicht zu Gesicht gegen ihr Selbstschutzverhalten zu stellen und sie auf die emotionslose Art ihrer Mitteilung aufmerksam zu machen. Stattdessen bleibt er seiner Identifikation mit dem Gesamtsystem ihrer Selbstorganisation treu, lässt in sich den von der Patientin durch ihr Selbstschutzverhalten abgewehrten Ich-Zustand des »verlassenen, nicht gesehenen Kindes« zu und stellt dieses innere Erleben der Patienten Schulter an Schulter nach dem »Prinzip Antwort« als Ich-Aussage zur Verfügung: »Nein, bitte nicht, ich kann nicht mehr! Ich stelle mir das, was sie erzählen, ja wirklich vor und fühle mit Ihnen mit!« Zur Überraschung des Therapeuten fängt jetzt die Patientin selbst an zu weinen: »Mir wird das auch zu viel!« Erst die Antwort des Therapeuten hat die Patientin ihre eigenen abgewehrten Gefühle in sich spüren lassen.

Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten sollten das »Prinzip Antwort« als Möglichkeit zur verbalen Intervention in ihre Arbeit mit Patienten mit Persönlichkeitsstörungen integrieren. Dabei zeigt sich, dass sich das »Prinzip Antwort« leichter anzuwenden ist, wenn die Therapeutin es im Zusammenhang mit der Methode der Aufstellung ihrer eigenen drei Ich-Zustände mit Stühlen nutzt (siehe Kap. 4.13). Denn die Antwort der Therapeutin aus ihrem Ich-Zustand als »begegnender Mensch« verwirklicht eben dieses psychoanalytische »Prinzip Antwort«. Für die Therapeutin ist es aber leichter, das »Prinzip Antwort« einzusetzen, wenn sie ihre Ich-Zustände »kompetente Fachtherapeutin« und »grandiose Therapeutin« neben sich auch äußerlich existent repräsentiert hat. Schon die Differenzierung zwischen nur der »Therapeutin als begegnendem Menschen« und der »Therapeutin als kompetente Fachkraft« mit zwei Stühlen kann dafür hilfreich sein. Fallbeispiel 23: Eine Schulpsychologin arbeitete mit in einem Kriseninterventionsteam und hatte nach einem Amoklauf in einer Schule mit von der Gewalterfahrung betroffenen Kindern gearbeitet. In einer Supervisionsstunde berichtet sie: »Ich habe das Problem, dass ich in der Begegnung mit den Kindern und Jugendlichen öfter selbst weinen muss. Das stört mich!« Im psychodramatischen Nachspielen einer

Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychoanalytischen »Prinzip Antwort«

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Begegnung mit einer 10. Klasse hört die Psychologin den Schülerinnen und Schülern zu. Sie ist dabei den Tränen nahe. Der Supervisor fordert sie auf, ihre Gefühle im Spiel zuzulassen, anders als sie es in der realen Begebenheit getan hatte. Die Psychologin im Spiel: »Es tut mir so leid, dass ihr das erleben musstet. Eigentlich seid ihr für solche Gewalterfahrungen, Terror und Tod noch viel zu jung!« Die Psychologin reagiert auf diesen fiktiven Versuch verunsichert und meint: »Ich kann in der Situation doch aber nicht einfach als Mensch handeln, ich bin doch als Psychologin dahin gerufen worden.« Der Supervisor bietet an: »Darf ich einmal eine Alternative probieren, wie Sie mit Ihrer Erschütterung vielleicht anders umgehen könnten?« Die Psychologin wechselt in die Rolle eines 16-jährigen Schülers, während der Supervisor die Rolle der Beraterin ausspielt: »Das macht mich sehr traurig, dass ihr solche Gewalt erleben musstet. Wenn ich euch da sitzen sehe, so jung, gerade erst auf dem Weg ins Leben, und dann dieser Terror und diese Gewalt, mich nimmt das sehr mit!« Der Supervisor lässt ähnlich wie vorher auch die Psychologin seine Erschütterung im Spiel innerlich voll zu. Dann aber stellt er einen zweiten leeren Stuhl rechts neben sich und fasst diesen an: »Aber ich bin hier auch als Fachkraft zur Krisenintervention hergekommen, um euch zu helfen, wo ihr mich braucht.« Er setzt sich auf diesen anderen Stuhl: »Als Fachkraft würde ich gern von euch wissen, wie ihr mit dieser schlimmen Erfahrung bisher umgegangen seid. Der eine oder andere von euch hat sicher schon selbst eine Möglichkeit gefunden, um sich zu beruhigen und von dem Ganzen Abstand zu gewinnen. Wie habt ihr gestern den Nachmittag verbracht? Wir können einmal sammeln, was für Möglichkeiten der Selbststabilisierung ihr bisher schon gefunden und genutzt habt. Danach kann ich euch bei Bedarf auch noch über zusätzliche Möglichkeiten informieren, wie man mit sich nach einer solchen Gewalterfahrung umgehen kann.« Im Rollenfeedback meint die Psychologin: »So geht das tatsächlich. Ich war zwar etwas verwundert, Sie als Psychologen so erschüttert zu sehen. Aber das hat mit gut getan. Und ich fand das auch gar nicht komisch. Sie haben ja als Berater mit dem zweiten Stuhl Ihren Job doch noch gemacht!« Der Supervisor: »Ich bin sicher, dass Ihr Weinen das Kostbarste ist, was Sie den Schülern geben können. Wenn Sie Ihre Gefühle authentisch verbalisieren und benennen, machen Sie das ja auch stellvertretend für die Jungen und Mädchen, die sich cool geben müssen. Gerade durch Ihre Gefühlsreaktion sind Sie aber ein Vorbild und helfen den Schülerinnen, sich selbst wiederzufinden und ihr Chaos gefühlsmäßig zu ordnen. Versuchen Sie doch bitte bei einer erneuten Krisenintervention einmal, diesen zweiten Stuhl für sich selbst als ›kompetente Fachkraft‹ wirklich real neben sich hinzustellen, und probieren Sie aus, ob das nicht etwas für Sie verändert!« Der Supervisor lässt die Psychologin in einem weiteren Rollenspiel erkunden, wie es sich für sie in der Rolle der Beraterin anfühlt, wenn sie den zweiten Stuhl für die »kompetente Therapeutin« tatsächlich neben sich

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Persönlichkeitsstörungen und strukturelle Störungen

stellen würde, und wie es für sie aber auch ohne diesen Stuhl ist. Am Ende meint die Therapeutin erstaunt: »Dass das so einfach ist!« Der Supervisor: »Das erscheint nur äußerlich einfach. Eigentlich ist das eine sehr komplexe Methode. Durch das Aufstellen Ihrer beiden Ich-Zustände nebeneinander mit Stühlen beziehen Sie Ihre eigene Konfliktverarbeitung in ihre therapeutische Intervention mit ein und werden zum Vorbild für die Kinder.«

Auch Schacht (2009) hat das verbale »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.) aus der Psychoanalyse schon in die Psychodramatherapie von Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen integriert. Er empfiehlt, sich als Therapeut in der therapeutischen Kommunikation dem Strukturniveau des Patienten anzupassen und diesem auf seinem jeweiligen Strukturniveau zu antworten (Schacht, 2009, S. 253 ff.). Sein Prinzip des »komplementären Antwortens« macht Schacht (2009, S. 273 f.) an einem Fallbeispiel deutlich: Eine Patientin verfiel beim Erzählen von ausgesprochen schmerzlichen Kindheitserinnerungen häufig »in eine ironisch distanzierte Haltung. Im Duktus einer psychiatrisch geschulten Fachfrau berichtete sie über ihre Erfahrungen, während schmerzliche […] Affekte nicht spürbar wurden. […] Anfangs […] spiegelte ich die Berichte über äußerst schmerzliche Erfahrungen mit der affektiv passenden Mimik und Gestik, zunächst ohne dies verbal zu kommentieren. Dies ähnelt dem Vorgehen von Eltern, die Mimik und Gestik ihres Säuglings spielerisch spiegeln. Einige Zeit später ergänzte ich mein Vorgehen durch verbale Kommentare. Dabei achtete ich zunächst sorgsam darauf, dies entweder in unpersönlich-allgemeiner Form zu tun oder Aussagen darüber zu machen, wie ich mich in den jeweiligen Situationen gefühlt hätte.« Als die Patientin »darüber sprach, wie sie mit einem Pflaster vor dem Mund im dunklen Keller gesessen hätte, meinte ich: ›Da fühlt man sich ja schrecklich.‹ Und etwas später: ›Wenn ich als kleines Kind in einem Keller gesessen hätte, hätte ich mich fürchterlich einsam und alleingelassen gefühlt.‹« Das komplementäre Antworten nach Schacht lässt den Patienten seine starre Fixierung an seinen dominanten dysfunktionalen Ich-Zustand aufheben und so, wie Schacht (2009, S. 270) es nennt, »Rollendistanz« gewinnen. Das verschafft dem Patienten neue Wahlmöglichkeiten in seiner psychischen Selbstorganisation im Konflikt. Ich schlage vor, die verbalen Interventionstechniken »Prinzip Antwort« und »komplementäres Antworten« nicht statt der psychodramatischen Vorgehensweisen zu nutzen, sondern als Ergänzung. Die Therapeutin sollte bei Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen die inneren dysfunktional zusammenarbeitenden IchZustände ihrer psychischen Selbstorganisation mit der Stühlearbeit außen auf der Zimmerbühne repräsentieren und die Zusammenarbeit zwischen ihnen

Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychoanalytischen »Prinzip Antwort«

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zusammen mit den Patienten mithilfe des Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels in einen konstruktiven, frei-kreativen Prozess der psychischen Selbstorganisation umwandeln.

5 Traumafolgestörungen

5.1  Das Besondere an der Traumatherapie Psychische Traumata können zur Entwicklung von ganz verschiedenen Krankheitsbildern führen, zu posttraumatischen Belastungsstörungen, Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, dabei insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörungen, zu psychosomatischer Beschwerdebildung, Suchterkrankungen oder sogar zu kurzen psychotischen Episoden (siehe Kap. 5.3). In die Therapie dieser Krankheitsbilder sind deshalb gegebenenfalls immer auch Elemente der Traumatherapie zu integrieren. Zentraler Gedanke »Alle Fachleute auf dem Gebiet der Traumatherapie sind sich einig, dass die herkömmlichen psychotherapeutischen Methoden den Erfordernissen, die sich durch traumatischen Stress ergeben, angepasst werden müssen. […] Das heißt, eine herkömmliche psychoanalytische oder Verhaltenstherapie entspricht nicht den Erfordernissen, aber auch keine herkömmliche Familientherapie, Gestalttherapie, Körpertherapie usw.« (Reddemann und Dehner-Rau, 2004, S. 77).

Das hat folgende Gründe: 1. Menschen mit Traumafolgestörungen dissoziieren, sobald durch äußere Auslöser ihre Trau­ma­erfahrung »angetriggert« wird. Die Betroffenen erleben dann die traumatisierende Situation als gegenwärtig stattfindend. 2. In der Behandlung führen Flashbacks immer wieder zu Krisen, die die bis dahin erreichten therapeutischen Fortschritte wieder infrage stellen. 3. Solche »Rückschläge« in der Therapie entmutigen die Therapeutinnen und Therapeuten, aber auch die Patienten, und führen, wenn man sie nicht als Symptom einer Traumafolgestörung versteht, zu negativen Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen. 4. Patienten mit Traumafolgestörungen leiden zwar unter den Folgen ihrer Traumatisierung, sie geben ihrem Trauma aber oft nicht die angemessene Bedeutung

Das Besondere an der Traumatherapie

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in ihrer Krankheitsentwicklung. 5. Manche scheinbar merkwürdigen Verhaltensund Denkweisen sind für Traumapatienten anders als für neurotisch Erkrankte als durchaus sinnvoll und hilfreich anzusehen, weil sie ihr Selbst stabilisieren. Flashbacks können schon ausgelöst werden durch sehr kleine, aber spezifische, zu der ursprünglich traumatisierenden Situation gehörige szenische Reize, zum Beispiel schon allein durch den Anblick eines Mannes in einem weißen Arztkittel. Fallbeispiel 24: Ein 67-jähriger Mann, Herr A., ist nach einer Schilddrüsenentfernung wegen Krebserkrankung seit zwei Jahren wegen rezidivierender depressiver Episoden mittleren Grades (F33.1) in ambulanter Psychotherapie. Vier Wochen vor jedem Kontrolltermin in der Universitätsklinik geht es ihm wieder schlecht. Gequält stöhnt er: »Den ganzen Sommer über war es gut! Ich konnte die Zeit richtig genießen! Aber jetzt bin ich wieder kraftlos, resigniert und hilflos. Ich habe Angst!« Der Therapeut versteht die Depressionen des Patienten als Folge einer Retraumatisierung: Der Patient war im vierten Lebensjahr wegen einer Meningitis bei Kinderlähmung acht Monate lang im Krankenhaus allein in einem Isolierzimmer eingesperrt gewesen. Seine Familie hatte ihn nicht besuchen dürfen. In regelmäßigen Abständen wurde er von weiß bekittelten Ärzten und Pflegern »überfallen« und gewaltsam festgehalten, um ihn in den Rücken zu stechen und ihm zu Untersuchungszwecken Nervenwasser aus dem Wirbelkanal zu entziehen. Auch jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, braucht Herr A. nur einen Mann in weißem Kittel zu sehen, dann gerät er wieder in seinen alten »Traumafilm«. Er hasst sich dann selbst wegen seiner »Schwäche«. Dass es sich dabei um einen Flashback handelt, erkennt der Therapeut daran, dass der auslösende szenische Reiz sehr spezifisch ist: Der Traumafilm tritt nicht auf, wenn der Arzt einen grünen Kittel anhat, den Kittel auszieht, oder wenn eine Frau einen weißen Kittel trägt. Auch Herr A. versteht die erneute jetzige Krise inzwischen als Flashback: »Ich bin wieder folgsam.« Der Therapeut wundert sich, dass Herr A. angesichts seiner Krankenhausphobie die Nachuntersuchungen wegen der Krebserkrankung nach jetzt fünf Jahren ohne Metastasierung nicht einfach beendet. Angesichts des Leidens des Patienten fühlt er sich hilflos und konfrontiert ihn: »Ich finde es gut, wenn Sie jetzt so stark leiden! Dann merken Sie wenigstens, dass Sie den falschen Weg gehen, wenn Sie durch Ihre Folgsamkeit die von den Ärzten angebotenen Kontrolltermine gefügig einfach immer wieder annehmen!« Fünf Wochen später berichtet Herr A.: »Ich habe die Untersuchung doch noch abgesagt, aber wegen einer Grippe. Meine Frau hat mich darin bestärkt, ich selbst habe mich hilflos und abhängig gefühlt wie ein Kind! Ich brauchte jemand, der mir das erlaubte!« Erst jetzt erkennt der Therapeut, dass der Patient sich in der letzten

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Traumafolgestörungen

Therapiesitzung so wie der kleine Junge von vier Jahren gefühlt und verhalten hatte. Er war im Traumafilm unfähig gewesen, gesund erwachsen (siehe Kap. 4.7) zu denken. Der Therapeut entschuldigt sich deshalb: »Es tut mir leid! Es war von mir ungerecht, dass ich ärgerlich geworden bin und von Ihnen verlangte, dass Sie angemessen handeln und den Termin absagen würden. Sie konnten gar nicht anders! Wenn Sie in Ihrem Traumafilm sind, haben Sie gar nicht die Wahlmöglichkeit, von der ich ausging. Sie sind dann eher wie ein Schlafwandler unter Hypnose.« Der Therapeut stellt einen zweiten leeren Stuhl neben den Patienten und deutet mit der Hand darauf: »Wenn Sie wieder in Ihren Traumafilm geraten, woran könnten Sie Ihrer Erfahrung nach merken, dass Sie wieder der vierjährige Junge sind?« Zusammen arbeiten der Therapeut und der Patient Hinweise für das Einspringen des Traumafilms heraus: 1. »Wenn ich mich wieder wie ein Kind fühle.« 2. »Wenn ich wieder lethargisch bin.« 3. »Wenn ich innerlich fühle: Du musst lieb sein!« (Fortsetzungen in Kap. 5.5 und 5.8).

5.2 Definitionen einer Traumafolgestörung und einer traumatisierenden Situation Eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) (PTBS) entsteht nach der ICD-10 (2004, S. 187) »als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. […] Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. […] In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsveränderung über (F62.0).« Die Folgen von traumatisierenden Ereignissen sind abhängig vom Lebensalter, in dem das traumatisierende Ereignis auftrat, von der Schwere und Dauer der traumatisierenden Ereignisse und von der Zahl der Traumata, die der Einzelne erleben musste. Psychische Vorerkrankungen können die Schwelle für die Entwicklung einer Traumafolgestörung senken. Wichtige protektive Faktoren sind die persönliche psychische Belastbarkeit und die individuell vorhandene Resilienz. Zentraler Gedanke Entsprechend den zwei Hauptformen der Bewältigung von seelischen Traumata, der Internalisierung und der Dissoziation, kann man bei Traumafolgestörungen zwei Grundformen unterscheiden, Beziehungstraumata in der Kindheit und die posttraumatische Belastungsstörung im Erwachsenenalter.

Definitionen einer Traumafolgestörung und einer traumatisierenden Situation

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1. Bei lang dauernden komplexen Beziehungstraumata in der Kindheit, meist in der Familie, versuchen die Betroffenen eher, die Traumata durch Internalisierung zu bewältigen (Hirsch, 2004, S. 2). Bei diesen Patientinnen und Patienten können die Beziehungserfahrungen der Kindheit das Selbst nicht durch assimilierende Identifikation bereichern und erweitern, »sondern es persistiert ein traumatisches Introjekt, das wie ein feindliches, archaisches Über-Ich sein Unwesen treibt (Symptome und pathologisches Verhalten verursacht) und nur partiell durch verschiedene Formen der Identifikation mit dem Aggressor (primär verschmelzende und sekundär imitierende) notdürftig in Schach gehalten wird« (Hirsch, 2004, S. 1). 2. Die andere Hauptform der Bewältigung ist die »Dissoziation von Selbstanteilen, Abspaltung von Affekten und des Körper-Selbst infolge Extremtraumatisierungen, die […] durch Gewalteinwirkung eintritt. Die unmittelbaren Folgen der plötzlichen, extremen Gewalteinwirkung, die den psychischen Apparat gleichsam überrollen […], sind der posttraumatischen Belastungsstörung […] zuzuordnen« (Hirsch, 2004, S. 2). Beziehungstraumata treten auf, wenn in der Kindheit Missbrauch, Gewalt, Nichtgewolltsein oder schwere Verlusterlebnisse erfahren werden und/oder, wenn ein Elternteil selbst schwer psychisch krank oder traumatisiert war und der andere nicht ausreichend zur Verfügung stand. Die Betroffenen können dann die Fähigkeiten zur inneren Konfliktverarbeitung, die dazu erforderlichen Werkzeuge des Mentalisierens, erst gar nicht entwickeln. Wegen ihrer Defizite beim Mentalisieren leiden sie als Erwachsene oft an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Mentzos, 2011, S. 170), anderen Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Angstzuständen. Diese Symptome entstehen durch reaktive defensive und kompensatorische Mechanismen (Mentzos, 2011, S. 39). Zentraler Gedanke Zu einer traumatisierenden Situation gehört, dass der Betroffene in der seelisch überwältigenden Situation nicht kämpfen und nicht fliehen und also nicht handeln kann, um sich selbst zu bewahren. Fallbeispiel 25: Kurt Lewin (Hans-Ulrich Wolf, 1999, mündliche Mitteilung) berichtete von Kindern einer Schulklasse, die bei einer Höhlenbesichtigung ohne Lehrerin in einer Höhle eingeschlossen wurden. Der Eingang der Höhle war eingestürzt. Alle Kinder litten hinterher unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, nur ein Junge nicht. Als man untersuchte, warum dieses Kind das Ereignis anders verarbeitet hatte als die anderen Kinder, fand man heraus: Dieser Junge hatte sich nicht wie die anderen von

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Traumafolgestörungen

Panik überwältigt hingesetzt und nur passiv gewartet. Er hatte ständig weiter nach einem Ausgang aus der Höhle gesucht und schließlich sogar einen Ausgang gefunden und die anderen Kinder aus der Höhle herausgeführt. Dies, kurz bevor die Höhle komplett einstürzte. Der Junge war also nicht vor Schreck erstarrt, sondern hatte immer weiter gehandelt. Ähnlich erging es bei einem Banküberfall einem Kassierer, der die ganze Zeit mit dem Täter über die Geldübergabe verhandelte und damit Einfluss auf die Situation nahm. Er hatte hinterher keine Traumafolgestörung, im Gegensatz zu seiner Kollegin, die sich panisch unter einem Tisch verkrochen und befürchtet hatte, der Täter würde sie jeden Augenblick entdecken und auf sie schießen.

Um einzelne Situationen als traumatisierend zu werten, sollte die Therapeutin oder der Therapeut wissen, welche Ereignisse einen Menschen potenziell traumatisieren können. Gunkel (1999, S. 54 ff.) hat dazu auf der Basis der internationalen Literatur eine Aufstellung gemacht: Holocaust-Opfer sind zu 46–78 % traumatisiert. Soldaten, die Kampfeinsätze miterlebten, leiden im Nachhinein zu 30 % an einer Traumafolgestörung, Soldaten ohne Kampfeinsatz zu 12 %, Vietnamveteranen zu 16–35 %, kanadische UNO-Soldaten zu 10–20 %, Flüchtlinge zu 25–50 %, Opfer von staatlicher Repression oder Gewalt zu 31 %, politische Häftlinge aus Vietnam, die Folter erlebt haben, zu 90 %. Drei Monate nach einem sexuellen Missbrauch oder einer Vergewaltigung besteht bei 48–80 % der Betroffenen eine Traumafolgestörung, bei sexuell missbrauchten Kindern viermal so häufig wie bei physisch missbrauchten Kindern. 10–23 % der Busfahrer, die im Fahrdienst angegriffen wurden, leiden unter einer Traumafolgestörung. Auch bei Polizisten entstehen nach entsprechenden Erfahrungen zu 7–34 % Traumafolgestörungen, zum Beispiel bei 31 % der beim Einsturz einer Zuschauertribüne eingesetzten Polizisten. Nach einem Herzinfarkt bilden 16 % der Betreffenden eine posttraumatische Belastungsstörung aus, nach Herztransplantationen sind es 13 % und nach einer Blutkrebsbehandlung etwa 10 %. Nach Behandlung eines krebskranken Kindes leiden zwischen 30 und 40 % der Eltern an einer Traumafolgestörung, nach Verkehrsunfällen zwischen 18 und 23 %, nach einem Flugzeugabsturz 22 %, nach Naturkatastrophen wie Erdbeben 5–42 %, nach Verlust einer nahestehenden Bezugsperson 14 %. Ein hohes traumatisierendes Potenzial birgt auch, als Kind nicht gewollt gewesen zu sein, eine eigene Krebserkrankung erleben zu müssen oder die langjährige Pflege einer schwer kranken Bezugsperson. Traumaerfahrungen durch Gewaltausübung von Menschen führen wegen der daraus entstehenden Beziehungs- und Vertrauensprobleme deutlich häufiger zu einer PTSB als zum Beispiel Naturkatastrophen. Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung haben oft nicht nur ein einzelnes Trauma erlebt, sondern sind häufig mehrfach traumatisiert.

Symptome bei Traumafolgestörungen

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An den Prozentzahlen in der Liste wird deutlich, dass nicht jeder Mensch durch ein potenziell traumatisierendes Ereignis real traumatisiert wird. Die Auswirkungen einer seelisch schwer belastenden Situation sind abhängig von der Intensität, der Länge und der Häufigkeit des Ausgeliefertseins und der Vulnerabilität der Persönlichkeit. Ichschwache Menschen werden leichter traumatisiert als ichstarke. Aber oft lassen sich leider gerade ichschwache Menschen oder Menschen mit einer schon vorher bestehenden PTBS aufgrund einer hohen Anpassungsbereitschaft relativ blind oder gleichgültig auf potenziell traumatisierende Situationen ein. Fallbeispiel 26: Eine Studentin, die immer wieder einmal monatelang depressiv war, suchte Hilfe in einer esoterischen Gruppierung, in der man »Rückführungen« durchführte. Die Hilfesuchenden hatten unter der Anleitung einer offenbar selbst traumatisierten »Gurufrau« in ihrem »früheren Leben« nach eigenen Gewalterfahrungen zu suchen. Wer bei den »Rückführungen« nicht mitmachte oder ausscherte, galt in der Gruppe als »böse und teuflisch«. Nach einem halben Jahr in dieser Gemeinschaft dekompensierte die Studentin in eine paranoide Psychose, in der sie überzeugt war, die Führerin der Sekte sei beeinflusst durch Außerirdische und dadurch »böse« geworden. Das war eigentlich eine stimmige Metapher für das Geschehen in der Sekte. Die Studentin verstand dieses Bild jedoch konkretistisch als real und nicht symbolisch im Als-ob-Modus. Die junge Frau hatte mit ihrem schwachen Ich die Konfliktspannung zu der idealisierten »Meisterin« nicht aushalten können und war seelisch zusammengebrochen.

5.3  Symptome bei Traumafolgestörungen Nach Gunkels Literaturübersicht (1999, S. 54 ff.) entwickeln etwa 5 % der männlichen und 10 % aller weiblichen Amerikaner irgendwann einmal in ihrem Leben infolge eines traumatischen Ereignisses eine posttraumatische Belastungsstörung. Etwa 26 % der Bulimie-Patientinnen haben eine Vergewaltigung erlebt und leiden unter einer Traumafolgestörung, ebenso 68 % der Prostituierten und insgesamt 52 % der Patientinnen und Patienten mit Essstörungen. Bei Psychotikern leiden 35–52 % 4–11 Monate nach einer akuten Krankheitsphase unter einer Traumafolgestörung, unter anderem auch durch »invasive psychiatrische Behandlungen«. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sind je nach Studie zu 30–90 % traumatisiert. Nach einer neueren Übersichtsarbeit (über 53 Studien) von Simpson und Miller (2002) (zitiert nach Schäfer und Reddemann, 2005) sind 27–67 % der suchtkranken Frauen in der Kindheit sexuell

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Traumafolgestörungen

missbraucht worden und 9–29 % der Männer, 33 % der Frauen wurden in der Kindheit körperlich misshandelt, 24–33 % der Männer. In einer holländischen Studie an alkoholkranken Patienten wurde nachgewiesen, dass 28 % der Männer und 46 % der Frauen in der Kindheit körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben bzw. körperliche und sexuelle Gewalt. Traumatisierte Menschen leiden nach Reddemann (1999, S. 88) unter einer ständigen Übererregung (DSM-IV-Kriterium D: »hyperarousal«), Schlafstörungen, sie sind leicht verletzlich, übermäßig schreckhaft und können sich schlecht beruhigen. Sie stehen ständig unter Angstdruck, sind leicht kränkbar und wenig konfliktfähig, das insbesondere dann, wenn Themen der traumatischen Erfahrung berührt werden. »Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (DSM-IV-Kriterium B: Intrusionen) […] vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein« (ICD-10). Im Flashback ist »das Broca-Sprachzentrum nicht oder nicht ausreichend aktiviert, d. h., Sprache steht dann nicht oder kaum zur Verfügung« (van der Kolk und Fisher, 1995). Traumatisierte Menschen zeigen eines oder mehrere der folgenden Symptome: akute Angstzustände, Depressionen, multiple psychosomatische Symptombildungen, Somatisierungsstörungen, phobisches oder zwanghaftes Verhalten, ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, wiederkehrende Albträume und Flashbacks, Wutausbrüche, Gleichgültigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen und die Unfähigkeit zu lieben, magisches Verhalten, Medikamenten- oder Alkoholabusus, reizintensive, ablenkende, »sensation-seeking« Lebensführung und/oder dissoziative Zustände mit Depersonalisation und Derealisation bis hin zu Minipsychosen. Ausgeprägt ist auch das Vermeiden (DSM-IV-Kriterium C) von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Suizidgedanken sind nicht selten. Oft besteht der unbewusste Wunsch, alles kontrollieren zu wollen, um nur nicht wieder einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein.

5.4 Das Dissoziieren als zentrales Kennzeichen von Traumafolgestörungen Wichtige Definition Nach van der Kolk und Fisher (1995) ist die »Natur des Traumas, dissoziativ zu sein«. Das trifft auf Beziehungstraumata in der Kindheit ebenso zu wie auf Traumata im Erwachsenenalter. Bei einem Flashback kann der Patient sein gegenwärtiges Erleben nicht seiner vergangenen Traumaerfahrung zuordnen. Er ist sich selbst fremd. Sein aktuelles Mentalisieren ist im Schockzustand ein-

Das Dissoziieren als zentrales Kennzeichen von Traumafolgestörungen

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gefroren, er funktioniert nach außen, so gut er kann, im Selbstschutzmodus und versucht so zu tun, als ob nichts wäre.

Wenn das »Funktionieren« nach außen bei einem Flashback nicht mehr gelingt, reagiert der Patient oft entweder aggressiv oder selbstverletzend masochistisch und entwertet sich selbst in vorauseilender Identifikation mit dem Befremden seiner Beziehungspartnerinnen oder Beziehungspartner. Die Therapeutin reagiert darauf leicht mit einer Gegenübertragung, erlebt das Denken und Handeln des Patienten in dem Fall als unpassend, macht ihn auf die Unangemessenheit seines Fühlens und Handelns aufmerksam und wird ärgerlich, wenn sie damit bei dem Patienten nichts erreicht. Sie verhält sich dann ungewollt ganz ähnlich wie Bezugspersonen des Patienten in seiner Vergangenheit, die sich ebenfalls nicht ausreichend in den Patienten einfühlen konnten. Der Patient reagiert daraufhin seinerseits oft wieder mit einer negativen Übertragung auf die Therapeutin. Durch die Gegenübertragung der Therapeutin und die negative Übertragung des Patienten kommt es zu einem unbewussten, nicht beabsichtigten, gemeinsamen systemischen Widerstand gegen den Fortschritt in der Therapie. Was aber ist unter Dissoziieren zu verstehen? Zentraler Gedanke Das Dissoziieren ist für traumatisierte Menschen wie »alles, was wir später als Pathologie beschreiben können, […] zunächst normales Traumacoping« (Reddemann, 1999, S. 87). Es half den Betroffenen in der ursprünglichen traumatisierenden Situation, sich von dem überwältigten Selbstempfinden und den vernichtenden Affekten loszulösen und das Trauma zu erleben, als ob das Trauma jemand anderem geschieht (Putnam, 1988, S. 53).

»Wenn die physiologischen Mechanismen von Kampf und Flucht nicht mehr greifen, bleibt dem Menschen nur noch die Dissoziation als quasi psychischer Fluchtmechanismus. […] Traumatisierte beschreiben diese Erfahrungen häufig damit, dass sie berichten, sie hätten ihren Körper in der traumatischen Situation verlassen« (Reddemann, 1999, S. 87). Die Betroffenen können dadurch in der traumatisierenden Situation äußerlich noch weiter funktionieren und zum Beispiel ihr Leben retten (siehe Fallbeispiel Jill in Kap. 5.16.2). Problematisch wird es erst, wenn die Gefahr vorbei ist. Die Traumaüberlebenden befinden sich dann in einem unauflösbaren Dilemma: »Dissoziation führt dazu, dass Erinnerungen an das Trauma […] als sensorische Fragmente und als intensive emotionale Zustände […] organisiert« (van der Kolk, McFarlane und Weisaeth, 1996) und nicht verarbeitet werden. Wenn die traumatischen Erinnerungen in einer neuen,

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geschützten Umgebung ins Bewusstsein treten und die Betroffenen anfangen, sie zu verarbeiten, geraten sie aber in den Strudel ihrer Traumaerinnerungen und werden von ihren Traumabildern, von Intrusionen, gequält. Dadurch, dass sie ihre Traumaerinnerungen nicht verarbeiten können, verselbstständigt sich aber das Dissoziieren und wird bei entsprechenden Auslösern zum Symptom »Dissoziation«. Das Quälende an den zum Flashback dazugehörigen Bildern ist nach Reddemann (1999, S. 89), »dass sie erlebt werden, als seien sie jetzt, d. h. das Wiedererleben traumatischer Zustände ist kein Erinnern, sondern eine Retraumatisierung.« »Ausgelöst durch eine Erinnerung kann das Vergangene mit solch einer plötzlichen sensorischen und emotionalen Intensität lebendig werden, dass das Opfer sich so fühlt, als ob das gesamte Ereignis wieder stattfände. Patienten mit PTSD scheinen in ihrem Trauma gefangen zu sein und können es nicht von der Gegenwart unterscheiden« (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 58 f.). Die Dissoziation ist ein »komplexer psycho-physiologischer Prozess, bei dem es zu einer Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins und […] des Gedächtnisses, der Identität und der Wahrnehmung von sich selbst und der Umwelt kommt« (Gast, 2000, S. 170). Nach Gast unterscheidet man fünf dissoziative Hauptsymptome: Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätsunsicherheit und Identitätswechsel. Das Dissoziieren führt zu einer unkontrollierbaren full-blown-Stressreaktion. Bei unkontrollierbarer Angst fängt der Hippocampus im Gehirn des Menschen an, Fortsätze seiner Nervenzellen einzuziehen (Hüther, 2002, mündliche Mitteilung). Bei Menschen mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen kann sich sogar das HippocampusVolumen um 8–22 % verringern (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 69). Das führt leicht zu Übererregbarkeit und Enthemmung des Verhaltens, weil emotional erregende Informationen bei verringertem Hippocampus-Volumen schwerer aufgenommen und verarbeitet werden können. Eine solche biologische Veränderung macht dafür anfällig, neue Erregungsreize pauschal als Bedrohung einzuschätzen und sofort mit Aggression oder Rückzug zu reagieren (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 72).

5.5  Der Therapeut als Zeuge der Wahrheit Viele Patienten mit Traumafolgestörungen, zum Beispiel Patienten mit Beziehungstraumata in der Kindheit oder seelisch traumatisierte Soldaten, schreiben den traumatisierenden Ereignissen in ihrer eigenen seelischen Selbstorganisation keine Bedeutung zu und sprechen nicht darüber. Denn wenn sie dem Trauma

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Bedeutung geben würden und darüber redeten, würde das in ihnen wieder die unverarbeiteten Panik-, Horror- und/oder Entfremdungsgefühle wachrufen, die sie bei dem Traumaereignis erlebt haben, und sie würden innerlich in ihre Traumabilder und einen Flashback hineingeraten. Traumatisierte Patientinnen und Patienten haben bei einem Flashback oft Angst, verrückt zu werden, und schämen sich wegen ihres »unnormalen« Fühlens und Denkens. Sie merken, dass sie anders sind als andere, fürchten, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, oder wollen »andere Menschen mit ihren Problemen nicht belasten«. Soldaten der deutschen Bundeswehr leiden nach einem Einsatz in Afghanistan angeblich nur zu 2,9 % an einer posttraumatischen Belastungsstörung (Schulte-Herbrüggen und Heinz, 2012, S. 557), amerikanische Soldaten entwickelten nach Afghanistan-Einsätzen hingegen zu 9 bis über 20 % eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsstörung (Wittchen, Schönfeld, Kirschbaum, Thurau et al., 2012, S. 559), 14 % davon erkrankten sogar schwer (Süddeutsche Zeitung vom 20.12.2011, S. 9). Viele Arbeitgeber in den USA zögern mit der Einstellung von Veteranen aus den Irakkriegen, weil denen der Ruf seelischer Instabilität vorauseilt. Vermutlich sprechen deutsche Afghanistanveteranen auch deshalb nicht über ihre Traumaerfahrungen, weil sie zu Recht bei Beförderungen in der Bundeswehr Nachteile befürchten. Empfehlung Therapeutisch ist es wichtig, eine Depression im Rahmen einer Traumafolgestörung nicht als neurotische Depression oder Gehemmtheit misszuverstehen und den Patienten zum Beispiel aufzufordern, sich selbst mehr Raum zu nehmen. Stattdessen sollte die Therapeutin dem Patienten gegenüber aktiv seine Krankheitssymptomatik mit seiner Traumaerfahrung verknüpfen und ihm als Zeugin der Wahrheit offen sagen, dass er in einem Traumafilm ist und dass er deshalb gar nicht anders denken, fühlen und handeln kann. Das ruft bei Patienten zwar einen seelischen Schmerz hervor, diese Interpretation ist aber stimmig, gibt dem Patienten seine Würde als Mensch zurück und öffnet den therapeutischen Zugang zu dem Patienten. Fallbeispiel 24 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 5.1): Im Erstgespräch hatte Herr A. sich wegen seiner inneren Gelähmtheit massiv selbst entwertet: »Eigentlich will ich nur meine Ruhe haben! Aber meine Frau macht mir immer Vorwürfe, dass ich so kontaktarm bin. Ich soll Sport machen, Hobbys nachgehen. Ich will das ja, aber es geht nicht! Wir streiten uns ganz oft.« Bei der weiteren Anamneseerhebung entdeckte der Therapeut die Traumaerfahrung des Patienten in dessen viertem Lebensjahr und stellte einen zweiten Stuhl neben ihn: »Herr A., das ist der kleine Junge in Ihnen, der mit vier

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Jahren im Kinderkrankenhaus acht Monate in ›Isolationshaft‹ war. Ich vermute, Sie sind durch diese schlimme Erfahrung als Kind traumatisiert worden! Wenn Sie jetzt zur Nachuntersuchung in die Klinik gehen und die weißen Kittel sehen, dann rutschen Sie in Ihren alten Traumafilm hinein und fühlen und denken so wie damals mit vier Jahren! Lesen Sie doch einmal im Internet nach, was ein Trauma und was ein Flashback ist!« Herr A. zweifelte zunächst. Er erzählte dann aber Einzelheiten über seine Erlebnisse im Alter von vier Jahren. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam und sich nichts sehnlicher wünschte als Geborgenheit und Sicherheit, schickte seine Mutter ihn mit der Großmutter in den Schwarzwald, »damit er nach der Kinderlähmung wieder laufen lernt!«. Für die starr auf alte Werte aus dem Zweiten Weltkrieg fixierten Eltern zählte nur Leistung. Der Junge sollte in seinem Leben heldenhafte Taten vollbringen wie sein Vater im Krieg. Nach zwei Jahren Einzeltherapie verstand der Patient sich endlich auch selbst als »traumatisiert.« Obwohl nie eine Traumaexposition durchgeführt und die Krankenhausszene nie psychodramatisch nachgespielt worden war, waren die »Depressionen« des Patienten mit Ausnahme jeweils der Woche, in der er zu medizinischen Nachuntersuchungen wegen seines Schilddrüsenkrebses ging, verschwunden. Herr A. konnte sein Leben über lange Zeitperioden genießen und zum Beispiel kreativ mit seinen Enkeln spielen. Seine Frau, eine frühere Krankenschwester, verstand ihn jetzt ebenfalls als »traumatisiert« und konnte ihre Appelle »Du musst üben!« weglassen. Sie gestand ihm jetzt zu, anders zu sein und sich bei Bedarf mehr zurückzuziehen. Der Patient entwertete sich nicht mehr masochistisch, sondern hatte angemessenes Mitgefühl mit seinem inneren traumatisierten kleinen Jungen. Das wirkte sich so aus, dass Herr A. jetzt auch Einfluss darauf nahm, wie die Nachuntersuchungen abliefen: Er handelte mit den Ärzten Sonderbedingungen aus. Er setzte zum Beispiel durch, dass er nicht wie sonst in der Ambulanz fünf Stunden auf die Untersuchung warten und dabei vielen Männern in weißen Kitteln begegnen musste, sondern konnte gleich morgens um acht Uhr als erster Patient zum Arzt hineingehen. Auch bot der Arzt ihm von sich aus an, seinen weißen Kittel auszuziehen, nachdem Herr A. ihm von seiner Traumaerkrankung berichtet hatte. Der Patient musste sich wegen der zur Bekämpfung von möglichen Metastasen vorsorglich gespritzten radioaktiven Substanzen zwar wie sonst auch wieder drei Tage allein in einem Krankenhauszimmer aufhalten, er bekam aber ein Zimmer einen Stock höher als sonst zugewiesen mit einem weiten Ausblick. Auch durfte er am dritten Tag im Park spazieren gehen, wenn er sich wegen seiner Strahlung nur anderen Menschen nicht näherte. Der Patient hatte also anders als in der Kindheit eine gewisse Kontrolle über die ihn retraumatisierende Krankenhaussituation gewonnen (Fortsetzung in Kap. 5.9).

Mit dem Benennen des Traumafilms als »Traumafilm« würdigt die Therapeutin die existenzielle Not des Patienten. Sie wird zur Zeugin der Wahrheit und kon-

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frontiert den Patienten mit seinem Dilemma, das Traumaereignis verarbeiten zu wollen, das aber nicht zu können, weil das einen Flashback und eine Retraumatisierung auslösen würde. Andererseits ermöglicht aber erst das Benennen des Traumafilms als »Einspringen eines Flashbacks« dem Patienten, sich selbst in seiner Andersartigkeit zu verstehen, und gibt ihm so seine Würde als Mensch zurück. Mit der Benennung handelt die Therapeutin hier in der Gegenwart nachträglich so, wie nahe Bezugspersonen des Patienten in der Vergangenheit hätten handeln sollen. Denn während oder nach dem Traumaereignis fehlt oft eine Zeugin oder ein Zeuge der Wahrheit. Wenn nicht alle Menschen wegsehen und es eine einzige Zeugin der Wahrheit gibt, die hinguckt, die die Gewalt »Gewalt« nennt und dem Opfer zur Seite steht, dann vermindert das bei Betroffenen erfahrungsgemäß die Folgen der Traumatisierung (Mentzos, 2011, S. 38 f.). Das klassische negative Beispiel ist die Mutter, die wegguckt und aktiv ausblendet, wenn ihre Tochter vom Vater sexuell missbraucht wird. Das Unrecht muss nach der Traumaerfahrung von jemandem »Unrecht« genannt werden, der stattgefundene Missbrauch »Missbrauch« und die erlebte Gewalt »Gewalt«, jemand muss die Gefühle der Angst und Scham als berechtigt anerkennen und den eventuell vorhandenen unberechtigten Schuldgefühlen entgegentreten. Sonst geht das Alltagsleben einfach so weiter, als ob nichts geschehen wäre, und das missbrauchte Mädchen fängt an zu zweifeln, ob die Tat überhaupt stattgefunden hat. Oder es glaubt, dass sie den sexuellen Übergriff vielleicht »selbst gewollt« oder provoziert hat, so wie der Täter es ihr weismachen will, und gerät in eine Ichkonfusion. Die Therapeutin versucht deshalb anders als die Bezugspersonen in der Kindheit, die Traumatisierung des Patienten aktiv zu bezeugen. Zentraler Gedanke Wenn die Therapeutin in der Behandlung als Zeugin der Wahrheit die Dinge beim Namen nennt, hebt das die Verwirrung und Verunsicherung der Patientin wenigstens nachträglich auf. Fallbeispiel 27: Eine 42-jährige Patientin gab dem Therapeuten im Abschlussgespräch der Therapie die Rückmeldung: »Die Arbeit an der Beziehung zu meinem Partner am Anfang war eigentlich Geplänkel. In der Therapie trat für mich aber eine Zäsur ein, als Sie zu mir sagten, dass meine Erfahrungen als Kind mit meinem Vater ein Trauma waren. Da wurden meine Erfahrungen für mich erst wirklich und ich habe mich in meinen Gefühlen ernst genommen. Das hat mir erst die Berechtigung gegeben, zu fühlen, was ich fühle, und dass meine Todesangst (bei dem körperlichen Missbrauch durch den Vater) wirklich Todesangst war. Dass das stimmte! Und dass es nicht stimmte, was ich vorher geglaubt hatte: ›Du musst beten! Anderen ergeht es

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noch schlimmer!‹ Mit der Mitteilung ›Trauma‹ haben Sie mich an die Hand genommen und sind ein Stück mit mir mitgegangen. Das war ein entscheidender Moment. Das hat mir gut getan. Auch wenn es wehgetan hat! Ich bin dadurch bei mir an den Kern gekommen. Ich habe die Tür zu meinem inneren Kind aufgemacht, das hinter der Tür sitzt: Erst machte ich die erste Tür auf, da war das Kind nicht. Dann machte ich die zweite auf, da war es auch nicht. Hinter der dritten Tür war es auch nicht. Hinter der vierten Tür saß es dann eingenässt und hatte Angst!« (Fortsetzung in Kap. 5.15).

5.6 Die sechs Phasen der psychodramatischen Traumatherapie Empfehlung »Trauma ist Chaos und Chaos braucht Struktur« (Reddemann, 2007, mündliche Mitteilung). Die einzelnen Schritte der Traumatherapie sind mit den Patienten deshalb besonders offen und klar abzusprechen.

Das therapeutische Vorgehen lässt sich idealtypisch in sechs aufeinander aufbauende Phasen unterteilen: 1. die Vorphase der Traumatherapie, 2. die traumaspezifische Diagnostik, 3. die traumaspezifische Krisenintervention, 4. das systematische Erlernen von Techniken zur Selbststabilisierung, 5. die Traumaverarbeitung mit Traumaexposition und 6. die Phase der Integration der inneren Umstellung in die Beziehungen der Kindheit und der Gegenwart (siehe Abb. 15). Viele Patientinnen und Patienten mit Traumafolgestörungen kommen mit symptombezogenen Diagnosen in die Therapie, der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, einer Angststörung, einer Depression oder einer Sucht. Wenn die Therapeutin dann während der Behandlung merkt, dass der Patient an einer Traumafolgestörung leidet, sollte sie zu einem geeigneten Zeitpunkt übergehen in die Phasen der traumaspezifischen Diagnostik, Krisenintervention und Selbststabilisierung (siehe Kap. 5.7, 5.8 und 5.9). Diese ersten vier Schritte der Traumatherapie erfordern gewöhnlich zehn bis fünfundzwanzig Einzelsitzungen und können bei entsprechender Weiterbildung eventuell auch von Beraterinnen und Beratern aus helfenden Berufen angewandt werden. Der fünfte und sechste Schritt, die Traumaverarbeitung und Integration der inneren Umstellung in die Beziehungen, sollten im Rahmen einer Langzeittherapie von mehr als 30 Sitzungen stattfinden. Traumaverarbeitung kann auch innerhalb einer Langzeitgruppentherapie geschehen, wenn der Patient parallel dazu Einzelsitzungen erhält. Die Therapeutin kann zur Traumaverarbeitung die Traumaexposition mit Unterstützung von Hilfs-Therapeutinnen (siehe Kap. 5.10.3–5.10.9), die Arbeit mit der

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Die sechs Phasen der psychodramatischen Traumatherapie

Tischbühne (siehe Kap. 5.10.10) und die Methode des Bewältigungsmärchens (siehe Kap. 5.14) benutzen. Diese letzten drei Therapieschritte setzen eine Weiterbildung im Psychodrama voraus. nicht störungsspezifische Therapie

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störungsspezifische Therapie, 10 - 30 Sitzungen

störungsspezifische Langzeittherapie, mehr als 30 Sitzungen

Abbildung 15: Die sechs Phasen der psychodramatischen Traumatherapie

Die Therapeutin nutzt als zentralen Wirkfaktor der Traumatherapie, den Patienten immer wieder neu zwischen seinem unbeabsichtigten Selbstverlust im Traumafilm und der Selbststabilisierung der Kräfte seines natürlichen Selbstheilungssystems hin und her wechseln zu lassen (siehe Kap. 5.14). Deshalb sollte sie die Übergänge zwischen den verschiedenen Phasen der Therapie fließend halten und bei Bedarf, wenn der Patient zum Beispiel einen neuen Brief von der Ausländerbehörde erhalten hat, vorübergehend auch wieder in die Phase der Selbststabilisierung zurückkehren. Nicht jeder Patient muss am Ende der Behandlung jede der fünf Phasen der Traumatherapie durchlaufen haben. Reddemann (1999, mündliche Mitteilung) sagt: »Traumatherapie ist Selbststabilisierung, Selbststabilisierung, Selbststabilisierung! Viele Traumapatienten kommen in ihrer Psychotherapie nicht über die Selbststabilisierungsphase hinaus.« Patienten, die in ihrer Kindheit Beziehungstraumata erlitten haben (siehe Fallbeispiel 24), dissoziieren bei entsprechenden Auslösern ebenso wie Menschen, die erst im Erwachsenenalter traumatisiert wurden. Sie entwickeln aber anders als diese früh und dauerhaft Abwehr- und Kompensationsmechanismen, um in ihrem Leben zurechtzukommen. Diese verfestigen sich im Laufe der Zeit, sodass die Patienten sie schließlich als Teil ihres Charakters empfinden, auch wenn ihre durch Abwehr geprägte dysfunktionale Selbstorganisation im Erwachsenenalter zu schweren Beziehungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, schweren Depressionen oder Angststörungen führt. Oft werten diese Patienten ihre traumatisierenden Kindheitserfahrungen selbst gar nicht als Traumata. Sie haben zwar in der Kindheit Vernachlässigung, Beziehungsabbrüche oder

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Traumafolgestörungen

Gewalt hinnehmen müssen, haben aber keine innere Vorstellung von wertschätzender Beziehungsgestaltung entwickeln können und verstehen deshalb unglückliche Lebensumstände in der Gegenwart einfach als ihr »persönliches Schicksal«. Bei Patienten mit Beziehungstraumata in der Kindheit sollte der Schwerpunkt der Arbeit deshalb zunächst darauf liegen, Problembewusstsein für ihre ichnahe Abwehr zu schaffen und die Defizite des Mentalisierens auszugleichen (siehe Kap. 4.4). Bei komplex traumatisierten Menschen, die viele Traumata erlebt haben, zum Beispiel bei Folteropfern unter Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, hat die Therapeutin oder der Therapeut während der Phase der Krisenintervention und Selbststabilisierung immer wieder oft ganz real als Hilfs-Ich und Begleiter im sozialen Umfeld des Patienten zu intervenieren, um überhaupt erst die Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Traumatherapie zu schaffen, nämlich ein Halt gebendes, in Beziehungen flexibles soziales Umfeld.

5.7  Traumaspezifische Diagnostik Das Wissen um Traumafolgestörungen hat sich in den letzten dreißig Jahren in der Gesellschaft so verbreitet, dass viele Patientinnen und Patienten heute die Therapeutin oder den Therapeuten schon mit der Diagnose »Trauma« aufsuchen und explizit eine Traumatherapie wünschen. Speziell Patientinnen und Patienten mit Beziehungstraumata in der Kindheit kommen aber häufig zunächst wegen Ängsten, Depressionen, Beziehungsstörungen oder einer Suchterkrankung und wissen gar nicht, dass sie an einer Traumafolgestörung leiden. Empfehlung Immer wenn bei der Therapeutin im Verlaufe einer Therapie der Verdacht aufkommt, dass die Symptome des Patienten eine Traumafolgestörung sein könnten, sollte sie die Arbeit an den von dem Patienten vorgebrachten Problemen unterbrechen, sich diagnostisch erneut orientieren und ihr Vorgehen bei Bedarf vorübergehend auf ein traumatherapeutisches Vorgehen umstellen.

Aber auch wenn die Therapeutin bei der Anamneseerhebung die traumatisierenden Lebensereignisse schon kognitiv als solche erkennt, passiert es relativ häufig, dass sie in die unbewusste Abwehr des Patienten durch Abspaltung seiner Traumaerfahrungen mit hineingezogen wird und als Ausdruck einer Gegenübertragung zusammen mit dem Patienten »vergisst«, seinen Traumaerfahrungen ausreichend Bedeutung zu geben. Das Weiterbestehen der Krankheitssymptome kann sie darauf aufmerksam machen, dass die dysfunktionale

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Selbstorganisation des Patienten möglicherweise durch die früheren Traumaerfahrungen bedingt ist. Hinweise auf eine Traumafolgestörung sind: 1. Der Patient dekompensiert wiederholt psychisch. 2. Die Einbrüche sind für die Therapeutin nach Art und Ausmaß schwer einfühlbar und passen nicht zum Kontext der auslösenden Umstände. 3. Der Patient zeigt Symptome einer Traumafolgestörung (siehe Kap. 5.3). 4. Er ist in der verbalen Kommunikation ungewohnt distanziert oder nicht wirklich erreichbar. 5. Die Therapeutin ist in der therapeutischen Beziehung befremdet und fühlt sich in ihrer Gegenübertragungsreaktion als Therapeutin unfähig und hilflos. Empfehlung Wichtig ist, dass die Therapeutin sich bei der Diagnosestellung »Traumafolgestörung« nicht von der Zustimmung des Patienten abhängig macht. Denn oft geben die Patienten ihrer Traumaerfahrung, um sich selbst zu stabilisieren, keine Bedeutung. Die Therapeutin muss selbst entscheiden, ob sie bei entsprechenden Hinweisen den Patienten als traumatisiert ansehen will oder nicht.

Bei der Diagnose »Traumafolgestörung« sind manche Verhaltensweisen des Patienten anders zu interpretieren als gewöhnlich: Zum Beispiel wird die Therapeutin eine aus dem Rahmen des Normalen fallende 90-Stunden-Arbeitswoche bei einem Neurotiker kritisch sehen, sie bei einem Traumapatienten aber zunächst wertschätzend positiv verstehen als eine »selbst gefundene Technik der Selbststabilisierung bei einer Traumaerkrankung«. Bei der Diagnostik kann die Arbeit mit der Tischbühne (siehe Kap. 5.10.10) helfen, einen Überblick über das Zusammenspiel der vorhandenen Konflikte zu gewinnen. Mit der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7) orientiert sich die Therapeutin hingegen in der dysfunktionalen Selbstorganisation des Patienten. Die Technik des Selbststeuerungskreises (Krüger, 2010a) kann speziell helfen, die Selbstregulation des Patienten in sich wiederholenden Konflikten zu erfassen und dabei auftretende Flashbacks zu erkennen. Diese Technik bezieht über die von Robson (2000, S. 144) in der Arbeit mit jugendlichen Sexualstraftätern entwickelten »cycles of offending« hinaus auch das Denken und Fühlen des Protagonisten in die Selbstexploration mit ein: 1. Die Therapeutin malt auf ein auf der Tischbühne liegendes Papier von der Größe DIN A3 einen großen Kreis. 2. Sie kennzeichnet auf diesem mit einem Pfeil die Richtung, in der das zeitliche Nacheinander der Ereignisse der Konfliktentwicklung auf dem Papier gelesen werden soll, im Uhrzeigersinn oder in der entgegengesetzten Richtung, und markiert auf dem Kreis rechts mit einem Minuszeichen die Krise und links mit einem

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Pluszeichen das Wohlbefinden. 3. Sie arbeitet mit dem Patienten im Gespräch den Gegensatz zwischen Krise und Wohlbefinden heraus und lässt ihn in ichnahen Formulierungen das Denken, Fühlen, Handeln und Wollen in der Krise auf der einen Seite des Kreises und das im Wohlbefinden auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises notieren. 4. Die Therapeutin lässt den Patienten danach entlang der Kreislinie prozesshaft Schritt für Schritt entlang dem roten Faden der Zeit die Wege aufschreiben, wie er immer wieder in diegleiche Krise hineingerät und wie er sich aber auch immer wieder aus einer solchen Krise herausarbeitet. Dazu fragt die Therapeutin ihn: »Was haben Sie getan? Was haben Sie dabei gefühlt? Was haben Sie gedacht? Was wollten Sie dann? Was ist dann geschehen? Was haben Sie dann getan? … gefühlt? … gedacht? … usw.« Mit dem Selbststeuerungskreis hat der Patient auf dem Papier am Ende ein verdichtetes symbolisches Bild für seine Selbststeuerung in seinem Wiederholungskonflikt in der Hand. Fallbeispiel 28: Eine 28-jährige, in Kindheit und Jugend traumatisierte Verkäuferin mit der Diagnose Borderline-Syndrom mit reaktiv psychotischen Episoden (F63.1), Frau A., kommt in die Sprechstunde zur Krisenintervention, weil es ihr »wieder schlecht geht«. Die kleine, apart wirkende Frau scheint erschöpft und depressiv. Sie berichtet: »Ich habe 14 Tage lang fast nicht geschlafen. Bei der Arbeit musste ich gestern nach Hause gehen. Ich brachte alles durcheinander. Alle Leute zeigen mit dem Finger auf mich. Die wollen mich testen!« Der Therapeut bietet ihr an: »Wir könnten zusammen das Geschehen bei ihren wiederholten Stimmungsschwankungen einmal untersuchen und in einem Selbststeuerungskreis aufschreiben.« Am Ende der gemeinsamen Arbeit steht auf dem Papier vom positiven Pol angefangen auf dem Weg zum negativen Pol: 1. »Wir fahren unangemeldet zu meiner Oma. 2. Die freut sich. (Die Großmutter war für die Patientin in ihrer Kindheit so etwas wie ein sicherer Ort gewesen.) 3. Ehemann ist nett, Oma geht es gut. Mir geht es gut. 4. Der Urlaub ist zu Ende. Wir fahren nach Hause. 5. Ich habe Angst, dass die auf der Arbeit mich nicht haben wollen. 6. Ich habe Schlafstörungen, Magenkrämpfe, Panik. 7. Ich habe Angst zu versagen, eine schlechte Mutter zu sein für meinen Sohn, Durchfall. 8. Angst, als faul zu gelten. 9. Ich habe ständig Angst, dass andere Leute sehen, was mit mir ist, und dass die sich über mich amüsieren. 10. Ich spiele allen etwas vor, dass die nichts merken. 11. Zu Hause geht nichts mehr. 12. Bei der Arbeit geht nichts mehr. 13. Ich glaube, die anderen Leute testen mich.« Auf dem Weg zum Wohlergehen notiert die Patientin: 17. »Die Scham spornt mich an, Leistung zu bringen. 18. Ich habe Angst, als böse zu gelten. Ich bemühe mich deshalb, gut zu sein. 19. Ich arbeite viel, mache ohne Bezahlung Überstunden, bin lieb zu Hause, eine gute Mutter. 20. Mein Selbstwertgefühl steigt. Es geht mir gut. 21. Wenn ich nichts zu tun habe, geht es mir aber

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schlecht.« Der Therapeut interpretiert die eigentlich etwas hilflosen Lösungen der Patientin positiv um in »selbst gefundene Selbststabilisierungstechniken«. Das wirkt sich auf die Patientin deutlich stabilisierend aus. Sie fühlt sich verstanden und gewinnt Distanz zu ihrem Handeln und Fühlen in der Krise. Am Ende kann sie sogar ein wenig gelöst lächeln. Sie nimmt das Papier mit dem Selbststeuerungskreis mit nach Hause. In der folgenden Therapiesitzung fünf Tage später berichtet Frau A. spontan von einer »Entdeckung«, die sie gemacht habe: »Da fehlt noch etwas in dem Kreis: Als mein Mann und ich aus dem Urlaub zurückkamen, waren in unserer Wohnung im Hausflur die Laminatfliesen hochgekommen. Mein Mann hat mir vorgeworfen, dass ich beim Aufwischen Wasser darauf geschüttet hätte. Ich wusste genau, dass das nicht stimmte. Ich habe ihm das auch gesagt. Aber er glaubte mir nicht. Hinterher stellte sich heraus, dass da ein Wasserrohrbruch gewesen war. Das ist total oft, dass ich mich rechtfertigen muss für Sachen, für die ich gar nichts kann.« Der Therapeut und die Patientin fügen in den »Selbststeuerungskreis« zwischen den Schritten 4 und 5 noch vier zusätzliche Schritte ein und ergänzen: 4 A. »Mein Ehemann oder andere, in der Kindheit der Vater, glauben mir nicht. Was ich denke und fühle, zählt nicht. 4 B. Einspringen des Traumafilmes: Ich denke, ich tauge nichts. 4 C. Ich bin verunsichert, entwerte mich selbst. 4 D. Ich fühle, ich werde manipuliert.« Das ist ein Gefühl, das die Patientin aus ihrer Kindheit aus der Beziehung zu ihrem alkoholkrankem Vater und ihrer Mutter real kennt, die sie narzisstisch missbrauchten.

Bei der Erarbeitung des Selbststeuerungskreises vermeidet der Therapeut jede Bewertung nach den Kategorien falsch-richtig oder neurotisch-gesund und hält sich strikt an die Überzeugung: »Die Seele macht nichts umsonst.« An dem Ausmaß der Inkongruenz zwischen dem Denken und Fühlen der Patientin und der geschilderten Realität des Konflikts ist relativ leicht zu erkennen, ob es sich bei den auf dem Papier notierten Reaktionen der Patientin um einen Traumafilm handelt. Wenn vorhanden, benennt der Therapeut das Trauma als solches, erkundet zusammen mit der Patientin, was den Traumafilm ausgelöst hat, und exploriert die alte Traumaerfahrung dann aber zunächst nicht weiter, um die Patientin nicht noch zusätzlich zu labilisieren. Er interpretiert stattdessen das von der Patientin auf ihr Dissoziieren reaktiv entwickelte Abwehrverhalten konsequent positiv um als von ihr selbst gefundene »Lösungen« oder »Selbststabilisierungstechniken«, auch wenn diese Lösungen zunächst vielleicht fremd oder grotesk erscheinen (siehe im Fallbeispiel 28 die Schritte 17, 18 und19). Die Arbeit mit dem Selbststeuerungskreis lässt die Patientin in die Metaperspektive zu sich selbst gehen und stärkt ihre Kognition. Der Therapeut begleitet sie bei der Ausarbeitung Schulter an Schulter, mentalisiert bei Bedarf für sie stellvertretend, hilft ihr doppelnd, ihre Affekte zu differenzieren, aktiviert dadurch das

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innere Mentalisieren der Patientin in ihrem Wiederholungskonflikt und fördert ihre Konfliktverarbeitung. Die Arbeit mit dem Selbststeuerungskreis verbessert das Selbstverstehen der Patientin und wirkt ichstärkend, weil sie dabei mithilfe der Therapeutin lernt, ihren Konflikt im Als-ob-Modus zu denken. Es erwärmt das Herz, als Therapeut miterleben zu können, wie Patienten durch diese Methode in Krisensituationen mutiger, hoffnungsvoller und in der Begegnung lebendiger werden. Übung 10 Erstellen Sie als Leserin oder Leser einmal für einen eigenen Wiederholungskonflikt einen solchen Selbststeuerungskreis. Unterstreichen Sie mit Rot darin die persönlich bedeutsamen Aussagen und die Handlungen, bei denen Sie zu sich sagen: »Aber so kann es doch nicht bleiben!« Sie werden merken: Das Bild Ihres aufgemalten Selbststeuerungskreises verändert Ihre bipolare Wahrnehmung des Wiederholungskonflikts. Der Gegensatz zwischen »Es geht es mir schlecht, dann geht es mir wieder gut, anschließend wieder schlecht« usw. wird zu einem im Kreis laufenden Selbstorganisationsprozess. Sie erkennen dadurch klarer als bisher die eigene Beteiligung an dem Entstehen Ihres Konfliktes und aber auch Ihre eigene Beteiligung an dessen Bewältigung.

5.8  Traumaspezifische Krisenintervention Die Diagnostik einer Traumafolgestörung und die Phase der Krisenintervention sind nicht voneinander zu trennen. Denn Anlass für eine traumaspezifische Diagnostik ist ja oft eine Krise des Patienten in seinem Alltag oder in der therapeutischen Beziehung, die die Therapeutin überhaupt erst auf die Idee bringt, dass der Patient traumatisiert sein könnte. Nicht selten löst schon allein das therapeutische Gespräch über eine Traumaerfahrung bei einem Patienten einen Flashback aus, und die Symptomatik verstärkt sich. Zentraler Gedanke Im Erstgespräch oder in der Krisenintervention bei Patienten mit einer Traumafolgestörung gilt es, ein therapeutisches Dilemma aufzulösen: Der Patient mag oft aus Angst vor einem Flashback nicht über seine Traumaerfahrung reden oder er gerät dadurch in eine pathologische Regression. Gleichzeitig gibt er der Therapeutin aber implizit den Auftrag, seine Traumafolgestörung zu behandeln.

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Die Therapeutin kann dieses Dilemma auflösen mit dem folgenden Vorgehen: 1. Die Therapeutin entscheidet sich, dass sie die Symptomatik des Patienten selbst als traumabedingt verstehen will. 2. Sie interpretiert als Zeuge der Wahrheit dem Patienten gegenüber seine Symptomatik explizit als ursächlich durch eine »Traumaerfahrung« bedingt. 3. Die Therapeutin konkretisiert die IchSpaltung des Patienten mit zwei Stühlen und stellt für ihn im Therapieraum neben den Stuhl für sein »gesundes Erwachsenendenken«, auf dem er sitzt, einen zweiten Stuhl für sein »traumatisiertes Ich«: »Ich sehe es so, dass Sie durch den Krankenhausaufenthalt damals als Kind traumatisiert wurden. Ich stelle hier für Ihr inneres traumatisiertes Kind einmal diesen leeren Stuhl hin. Sie sitzen hier jetzt somit als der Erwachsene, der Sie sind, und aber auch als der kleine Simon, der Sie damals als Kind waren.« 4. Das Konkretisieren der Traumaerfahrung als Stuhl aktualisiert in dem Patienten seine Traumaerinnerung und führt oft ansatzweise zu einem Flashback. Die Therapeutin nutzt diese Erfahrung diagnostisch. Sie fragt den Patienten nach dem Aufstellen des zweiten Stuhls immer sofort: »Wenn Sie den seelisch verletzten, kleinen Jungen da auf dem Stuhl sitzen sehen, was löst das in Ihnen gefühlsmäßig aus?« Je schwerer die Traumatisierung ist und je stärker der Patient strukturell gestört ist, desto mehr wird er sich hilfesuchend an die Therapeutin wenden: »Das macht mir Angst!« »Ich kann den nicht ab, ich ekele mich vor ihm!« Gesündere und ichstärkere Patienten antworten eher: »Der macht mich traurig.« »Ich habe ein bisschen Mitleid mit ihm.« Im ersten Fall sollte die Therapeutin die Abwehr des Patienten sofort wieder stabilisieren: Sie ergreift den zweiten Stuhl des »traumatisierten Ichs« des Patienten und positioniert diesen in Abstimmung mit ihm probeweise im Zimmer an einen anderen Platz, je stärker der Patient auf sein »traumatisiertes Ich« mit Entsetzen reagiert, desto weiter entfernt von ihm: »Gut, ich stelle den Stuhl weiter weg von Ihnen. Soll er vielleicht hier am anderen Ende des Raumes zwischen den Pflanzen stehen? Reicht das?« 5. Obwohl der Patient dadurch meistens erleichtert ist und sich »wieder wohler« fühlt, achtet die Therapeutin bei diesem Vorgehen auch auf ihre eigene Reaktion in der therapeutischen Beziehung (siehe Kap. 5.15). Wenn sie sich hinsetzt und sich selbst durch die Anwesenheit des »traumatisierten Ichs« des Patienten im Raum blockiert fühlt, steht sie von sich aus auf und trägt den Stuhl ganz aus dem Therapiezimmer hinaus in den Flur. 6. Oft atmet der Patient dann tief durch und merkt erst jetzt, dass er diese größere Distanz zu seinem »traumatisierten Ich« braucht. Die Therapeutin bespricht mit ihm zusammen nachträglich sein Empfinden und Fühlen zu dem Zeitpunkt, als der Stuhl noch im Raum war. 7. Sie interpretiert die leibnahen Reaktionen des Patienten bei dem Anblick seines »traumatisierten Ichs« als »beginnenden Traumafilm«. Sie infor-

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miert den Patienten über die Definitionen einer posttraumatischen Belastungsstörung und eines Flashbacks und teilt ihm mit, dass er im Traumafilm wegen seiner existenziellen Affekte zwar anders denken, fühlen und handeln will, dass er das aber gar nicht kann. 8. Sie fragt den Patienten, implizit als Doppelgänger agierend, was er gerade braucht, damit es ihm besser geht, und wendet bei Bedarf eine Selbststabilisierungstechnik an. Übung 11 Wenn Sie als Leserin oder Leser traumatherapeutisch arbeiten wollen, können Sie die Zwei-Stühle-Technik in der Traumatherapie mit einer Kollegin oder einem Kollegen einmal üben: Informieren Sie den »Patienten« in einem ersten Übungsteil zunächst ohne den zweiten Stuhl über seine Traumatisierung und seinen Flashback. Sie werden feststellen: Ohne den zweiten Stuhl fühlt sich der Kollege als »Patient« durch Ihre Mitteilungen zum Objekt der Betrachtung gemacht und mehr oder weniger verunsichert und entwertet. Wenn Sie dann jedoch für sein »traumatisiertes Ich« den zweiten Stuhl hinstellen und nach dem oben beschriebenen Konzept vorgehen, fühlt der »Patient« sich, auch wenn er zunächst vielleicht stark abwehrt, tief verstanden. Dieses Vorgehen stellt implizit oft seine Würde als Mensch wieder her. Auch Sie selbst als Therapeutin sprechen spontan einfühlsamer und empathischer. Denn durch die Schulter-an-Schulter-Position werden Sie intuitiv zum Doppelgänger des Patienten; es gelingt Ihnen als Therapeutin leichter, sich gefühlsmäßig als Mensch erreichen zu lassen und mit dem existenziellen Leiden des Patienten mitzufühlen.

Die Inszenierung der Ich-Spaltung mit den zwei Stühlen für das »gesunde Erwachsendenken« und das »traumatisierte Ich« des Patienten kann auch zur Krisenintervention eingesetzt werden, um ein Dissoziieren zu unterbrechen, auch in der Gruppentherapie. Fallbeispiel 29: Eine 45-jährige Frau teilt am Ende einer Gruppentherapiesitzung gequält mit: »Ich stehe irgendwie neben mir. Ich wollte heute üben, mich nicht mehr zu schämen, wenn ich mich zeigen muss. Aber jetzt geht es mir schlecht!« Der Therapeut spürt bei der Patientin latent Panik. Er ergreift einen leeren Stuhl und stellt diesen neben sie: »Wenn Sie sagen, dass Sie neben sich stehen, dann symbolisiere ich Ihr gesundes Erwachsenendenken, die kompetente Margrit, die Sie sonst sind, hier einmal neben Ihnen als Stuhl! Als Sie sich gezwungen haben, durch Ihre Scham hindurchzugehen, sind Sie, so vermute ich, in einen Traumafilm hineingeraten. Wechseln Sie doch einmal auf diesen anderen Stuhl Ihres gesunden Erwachsenendenkens.« Die Patientin setzt sich auf den neben ihr stehenden anderen Stuhl. Der

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Therapeut: »Ich glaube, wenn Sie es vermeiden, sich zu zeigen, dann dient Ihnen das zur Selbststabilisierung und schützt Sie vor einer existenziellen Bedrohung. Das ist bei Ihnen keine neurotische Gehemmtheit!« Die Patientin bestätigt die existenzielle Qualität ihrer Angst. Sie ist erleichtert, ihre Angst, sich zu zeigen, als einen Schutz vor Selbstverlust verstehen zu dürfen.

Die Therapeutin kann für das traumaspezifische Erstgespräch auch die Tischbühne benutzen. Dabei repräsentiert sie zusammen mit dem Patienten auf dem Tisch mit Steinen und Holzklötzen sein Ich, die beteiligten Personen, seine Gefühle, seine Ideale und die beteiligten Institutionen und relevanten Gegenstände und lässt ihn so seine Seelenlandschaft kreieren. Dabei kann sie mit kleinen Steinen die zeitliche Entwicklung der Krise als Zeitlinie symbolisieren. Empfehlung Bei Patienten mit Traumafolgestörungen ergänzt die Therapeutin bei der Arbeit mit der Tischbühne den Ich-Stein des Patienten, der für sein »kompetentes Ich« steht, immer um einen zweiten Stein für sein »traumatisiertes Ich«.

Sie kann dem Patienten den Vorgang seines Abgleitens in den Traumafilm psychodramatisch auch in einer symbolischen Handlung widerspiegeln: »Ich lege hier zusätzlich zu Ihrem Ich-Stein noch diesen zweiten Stein auf den Tisch für Ihr traumatisiertes Ich. Ihr kompetentes Ich, mit dem Sie gewöhnlich gesund erwachsen denken und fühlen, ist gerade verschwunden.« Die Therapeutin nimmt den Stein für das »kompetente Ich« des Patienten von der Tischbühne, legt diesen unter den Tisch auf den Fußboden und ergreift auf dem Tisch den Stein seines traumatisierten Ichs: »Im Traumafilm fühlen Sie sich jetzt nur noch minderwertig. Die Gedanken blockieren. Nichts geht mehr. In der Psychotherapie nennen wir das einen Traumafilm oder Flashback!« Die Therapeutin deutet mit der Hand zwischen den beiden Steinen hin und her: »Ihr Traumafilm und Ihr kompetentes Ich existieren in Ihnen nebeneinander und wechseln sich zeitlich ab. Ich finde es wichtig, dass Sie lernen, in immer kürzerer Zeit zu erkennen, wann Sie sich gerade wieder im Traumafilm befinden und wann Sie aber auch gesund erwachsen denken. Und dass Sie wissen, dass Sie dann, wenn Sie in Ihren Traumafilm gerutscht sind, zu anderen Zeiten immer wieder auch fähig sind, Ihre Konflikte und Aufgaben gesund erwachsen zu bewältigen. Woran würden Sie eigentlich merken, dass Sie wieder in Ihrem Traumafilm sind?«

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Empfehlung Die Therapeutin kann einem Patienten mit einer weniger schweren Traumafolgestörung die beiden Steine für sein »kompetentes Ich« und für sein »traumatisiertes Ich« mit nach Hause geben und ihn auffordern, diese öfter einmal anzusehen. Dadurch kann dieser üben, sein Alternieren zwischen den beiden Ich-Zuständen als solches zu bemerken: »Stecken Sie sich diese Steine in Ihre Tasche oder legen Sie sie zu Hause auf Ihren Schreibtisch. Wenn Sie den Anblick Ihres ›traumatisierten Ichs‹ nicht ertragen, bringen sie es in den Keller!« Dieses Vorgehen kann helfen, die innere Ich-Konfusion des Patienten zu entwirren. Fallbeispiel 30: Die in der Kindheit traumatisierte 38-jährige Frau C. kommt aus 300 Kilometer Entfernung für ein Krisengespräch zum Therapeuten. Sie klagt: »Ich fühle mich an meiner Arbeitsstelle zum ersten Mal an dem richtigen Platz. Mein Arbeitsvertrag ist aber auf ein Jahr befristet. Er läuft in vier Wochen aus. Ich habe Angst, meinen Chef anzusprechen. Denn der ist als Mensch sehr unsicher und willkürlich. Wenn ich dem sage, dass ich einen neuen Arbeitsvertrag möchte, dann gibt er mir den sowieso nicht und kündigt mich sofort!« Der Therapeut lässt Frau C. ihr Anliegen an den Chef in einem fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch vorbringen. Dabei zeigt sich, dass der Chef wohl tatsächlich jemand ist, der stimmungsabhängig willkürlich handelt. In dem fiktiven Spiel reagiert Frau C. auf das willkürliche Verhalten des »Chefs« zunehmend verunsichert und aggressiv und »vergisst«, was sie will. Deshalb fragt der Therapeut sie: »Woher kennen Sie das noch, dass Sie so ins Chaos geraten und aggressiv werden, wenn sich jemand Ihnen gegenüber so willkürlich und stimmungsabhängig verhält?« Frau C.: »Das ist genau wie bei meiner Mutter. Bei der war das, was heute richtig war, morgen falsch! Wenn das Brett abends ins Spülbecken sollte, sollte es morgens nicht darin sein. Wenn ich sie daran erinnerte, sagte sie einfach: ›Das habe ich nie gesagt, das hast du geträumt‹.« In dem fiktiven psychodramatischen Spiel hat Frau C.s »Chef« tatsächlich Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter. Er sucht wie diese bei Frau C. nach persönlichen Schwächen und ist nicht verlässlich. Der Therapeut holt aus einem Schrank zwei Fingerpuppen und schlägt vor: »Besorgen Sie sich doch einmal zwei kleine Puppen wie diese, zum Beispiel Fingerpuppen oder Playmobilmännchen. Die eine soll Sie als Erwachsene symbolisieren, die andere soll Ihr Kind-Ich darstellen, das von der Mutter immer verrückt gemacht wurde. Die Puppen sollten so klein sein, dass Sie sie in die Hand nehmen können. Wenn Sie dann wegen Ihres Arbeitsvertrags real zu Ihrem Chef gehen, stecken Sie bitte die eine Puppe in Ihre rechte, die andere in Ihre linke Hosentasche. Wenn Sie Ihrem Chef dann gegenübertreten, sagen Sie als Erwachsene, die Sie sind, innerlich zu Ihrer Kind-Puppe: ›Ja, ich weiß, dass du Angst hast und durcheinander bist. Du hast recht, der Chef ist blöd! Aber jetzt geht

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es darum, dass ich hier als Erwachsene meine Interessen bewahre und mein Ziel erreiche!‹ Und dann sagen Sie dem Chef, was Sie sagen wollen!« Frau C. fährt nach Hause. Ein halbes Jahr später erzählt sie dem Therapeuten dankbar: »Das hat damals geklappt! Ich habe mit meinem Chef reden können und es ging gut! Ich hatte dabei die Puppe sogar in der Hand. Das hat mir sehr geholfen! Aber es war gut, dass ich auch die Puppe meines kompetenten Ichs mit dabei hatte! Einmal wurde die Puppe von meinem traumatisierten Ich für mich richtig bedrohlich, und ich konnte mich dann an der Puppe meines kompetenten Ichs festhalten.« Die Fingerpuppe für das kompetente Denken hat die Patientin offenbar davor bewahrt, in ihren Traumafilm hinein gezogen zu werden und pathologisch zu regredieren.

Patienten, die durch Beziehungstraumata in der Kindheit nachts unter Angstzuständen und Schlafstörungen leiden, können die Symbolisierung des Traumafilms auch als Distanzierungstechnik anwenden: Sie tragen die Puppe für ihr inneres traumatisiertes Kind nachts real aus ihrem Schlafzimmer in ihr Wohnzimmer, machen dieser dort in einem Schrank ein kleines Bett, legen sie hinein und gehen wieder zurück in ihr Schlafzimmer, um anschließend zu schlafen. Zentraler Gedanke Mit zunehmendem Fortschritt der Traumaverarbeitung können die Patienten eine größere Nähe zu ihrem inneren traumatisierten Kind zulassen und ihm eine »ausreichend gute Mutter« werden. Das »innere traumatisierte Kind«, das eigentlich ein Symbol für das Selbst ist, entwickelt sich im Verlaufe der Therapie progressiv. Der Patient kann sich später in Konflikten in kleinen Rollenspielen als »Erwachsener« von diesem sogar beraten lassen. Am Ende kann die Therapeutin an der Art des Umgangs des Patienten mit seinem »inneren Kind« diagnostisch ablesen, ob und wieweit die Therapie erfolgreich war.

Auch in den allgemein bekannten Distanzierungstechniken der Traumatherapie wird der Traumafilm oft als Gegenstand konkretisiert: Der Patient kann seine Traumaerfahrung zum Beispiel in Form eines passenden Symbols im Garten oder im Wald vergraben. Bei der Tresortechnik fordert die Therapeutin den Patienten auf, sich in der Imagination an einem nur für ihn zugänglichen Ort einen Tresor vorzustellen. Zu diesem hat nur er selbst einen Schlüssel. In der inneren Vorstellung bringt er das als Gegenstand symbolisierte »Trauma« zu dem Tresor, öffnet diesen mit seinem Schlüssel, legt sein »Trauma« hinein, schließt den Tresor wieder ab und versteckt den Schlüssel an einem Ort, den nur er selbst kennt. Danach kehrt er aus der Vorstellung wieder in die Realität zurück. Solche Distanzierungstechniken helfen, Krisen zu bewältigen, sie sind

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aber meist nur für einige Stunden oder Tage wirksam. Vermutlich sind sie therapeutisch wirksamer, wenn der Patient das Distanzieren nicht nur in der Vorstellung, sondern wirklich auch sensomotorisch handelnd vollzieht.

5.9  Selbststabilisierung und dazugehörige Techniken In der Phase der Selbststabilisierung lernen Patientinnen und Patienten mithilfe ihrer Therapeutinnen und Therapeuten, wie sie, wenn sie sich selbst im Flashback verloren haben, ihre Selbststeuerung wieder stabilisieren können. Viele traumatisierte Menschen finden dafür mit der Zeit schon autonom Möglichkeiten. Wegen der existenziellen Qualität des Leidens im Flashback ist alles gut, was ihnen hilft, aus dem dissoziativen Bewusstseinszustand herauszukommen oder nicht wieder in einen solchen hineinzurutschen. Dabei erweist sich manches, was bei neurotisch erkrankten Menschen ein Krankheitssymptom ist, bei traumatisierten Patienten als eine Möglichkeit zur Selbststabilisierung. Burge (2000, S. 315) meint, in der Traumatherapie sei manchmal sogar antisoziales Verhalten positiv als Maßnahme zur Selbststabilisierung zu interpretieren, zum Beispiel der Rückzug aus Beziehungen. Ein großes Kontrollbedüfnis zum Beispiel könne man verstehen als zwar schwierigen, aber eben subjektiv doch hilfreichen Versuch, anders zu handeln als während des Traumaereignisses und wenigstens jetzt die Übersicht zu behalten, alles unter Kontrolle zu haben und alles zu vermeiden, was an das Trauma erinnert. Um sich zu stabilisieren, versuchen viele Patienten auch einfach, sich abzulenken, zum Beispiel mit PCSpielen, etwas, was der Therapeut in anderen Zusammenhängen vielleicht eher kritisch sehen würde. Oder sie lesen Bücher oder setzen sich vor den Fernseher. Eine in der Kindheit traumatisierte Patientin las als Kind im Bett immer »Pukki«-Romane über die Tochter eines Försters und ihre Abenteuer. Als real vielfach verlassenes und von ihrem traumatisierten Vater terrorisiertes Kind stabilisierte sie ihre Seele in den positiven Gegenbildern der Abenteuer von »Pukki«. Darin siegte immer das Gute über das Böse, und die Patientin wurde als Kind so innerlich wieder handlungsfähig. Viele Patienten mit Traumafolgestörungen treiben auch Sport, um sich selbst zu stabilisieren, das bisweilen sogar suchtartig. In angemessener Weise ausgeübt sind sportliche Aktivitäten immer ein wichtiger Teil jeder Traumatherapie. Denn körperliche Aktivitäten stabilisieren auch die Seele. Ebenso hilft es, zu arbeiten. Denn bei der Arbeit muss der traumatisierte Patient sich auf den Gegenstand seiner Arbeit konzentrieren, das lenkt ihn ab. Auch integriert er sich durch seine Arbeit in soziale Bezüge. Er weiß in seiner Berufsrolle, was

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falsch und richtig ist, er bekommt Anerkennung, verbessert dadurch sein Selbstwertgefühl und erwirbt sich unter anderem eine gewisse Autonomie durch das Geld, das er verdient. Fallbeispiel 31: Eine 55-jährige Lehrerin kam wegen Erschöpfung und Migräne in die Therapie. Sie war in der Kindheit von ihren Eltern »nicht gewollt« und wuchs in absolut desolaten familiären Verhältnissen auf. Als sie mit sieben Jahren in der Schule darüber hinaus auch noch erlebte, dass ihre Lehrerin andere Schüler und Schülerinnen ungerecht behandelte, entschied sie sich: »Ich werde einmal eine gute Lehrerin!« Sie setzte alles daran und wurde es. Im höheren Lebensalter aber verlor sie allmählich die Kraft, in ihrer Arbeit weiterhin ihren eigenen hohen Idealen gerecht zu werden, und geriet dadurch in eine Identitätskrise.

Viel zu arbeiten, kann traumatisierte Menschen davor schützen, Nähe und Gefühle zulassen zu müssen, von anderen Menschen abhängig zu werden und sich dann wieder ausgeliefert zu fühlen. Oft entwickeln deshalb in der Kindheit traumatisierte Menschen erst nach ihrem 60. Lebensjahr nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit traumabedingte Angstzustände und Depressionen. Radebold (2004, S. 33, 41) fand bei seinen Untersuchungen im Jahr 2004, dass in Deutschland 20 % der damals über 60-Jährigen an Depressionen und Angstzuständen litten, in anderen Ländern »nur« 10 %, und führte das auf Kindheitstraumata im Zweiten Weltkrieg zurück. Diese Patientinnen und Patienten hatten in der Zeit ihres Berufslebens vor dem 60. Lebensjahr »keine auffälligen Symptome […]; sie funktionierten lebenslang aufgrund der Vorgabe durch die an sie delegierten Aufgaben unauffällig bis sogar gut« (Radebold, 2004, S. 12). Zentraler Gedanke Manche Menschen, die eine Traumaerfahrung gemacht haben, sind in der Lage, diese spontan auf der existenziellen Ebene von Leben und Tod und der Ebene der Würde des Menschen zu verarbeiten. Sie gelangen bisweilen ohne Therapie zu einer tieferen, transpersonalen Ebene des Fühlens und Denkens. Die Betroffene oder der Betroffene fühlt sich dann vielleicht unerwartet aufgehoben in etwas Überpersönlichem und erlebt eine neue transpersonale Verbindung.

»Von guten Mächten wunderbar geborgen […]« Diese tiefere Wahrheit ist dann nicht mehr die Ebene des Wohls und der Wellness, sondern öffnet das Tor zu etwas Neuem, Wesentlichen, zum eigenen »inneren Wesen« (Dürckheim,1984, S. 39 f., 168, 1985, mündliche Mitteilung) und zu einer neuen erweiterten Identität. Dieser bisweilen spontan auftretende Entwicklungs-

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schritt kann bei manchen Betroffenen zu einer besonderen Menschlichkeit und Weisheit führen, zu einer »posttraumatischen Reifung« (Fooken, 2009, S. 65 ff.). Die Therapeutin sollte in der Therapie von Patienten mit Traumafolgestörungen immer aktiv nach solchen transpersonalen Erfahrungen suchen und, wenn vorhanden, sie explizit als eine solche würdigen und den Patienten auffordern, sie als Ressource zu nutzen. Das bewirkt bei dem Patienten einen Perspektivwechsel in seiner Selbstinterpretation und verbessert seine Heilungschancen. Transpersonale Erfahrungen kann man nach Dürckheim (1995, mündliche Mitteilung) machen in den Bereichen der Natur, der Kunst, der Liebe und der Religion. Fallbeispiel 24 (2. Fortsetzung, siehe Kap. 5.1 und 5.2): Der im vierten Lebensjahr im Krankenhaus traumatisierte Patient zog sich während seiner gesamten Kindheit und Jugend gern zurück und baute sich mit den Holzresten einer nahen Zimmerei Baumhäuser, also gleichsam einen Schutzraum und »sicheren Ort« für sich selbst. Auch streifte er als Kind und Jugendlicher häufig allein durch die Felder und den Wald und beobachtete dort Tiere. Oft setzte er sich dabei allein an einen kleinen See, der rundherum von Wald umgeben war, für ihn ein »sicherer Ort.« Dort wollte keiner etwas von ihm, und keiner machte etwas mit ihm. Offensichtlich fühlte er sich dort eingebunden in die große Lebendigkeit der Natur. Fallbeispiel 32: Ein 40-jähriger Patient, der in einer Familie aufwuchs, die durch körperliche und sexualisierte Gewalt geprägt war, floh schon als Kind nachts real oft heimlich in den Wald, übte dort im Dunkeln so zu schreien wie Rabenvögel und wurde so Teil der Natur. In dem von ihm geschriebenen Bewältigungsmärchen (siehe Kap. 5.14) ließ er »in seiner Grundschulzeit die Lehrerin des kleinen Jungen merken, dass dieser in der Schule immer wieder völlig unkonzentriert war. Die Lehrerin gab dem Verhalten des Jungen Bedeutung, machte zwei Hausbesuche, entdeckte die blauen Flecken der vom Vater misshandelten Mutter und benachrichtige das Jugendamt. Der kleine Karl wurde mit seiner Schwester in eine fürsorgliche Pflegefamilie gegeben.« Der Patient erweiterte diese Bewältigungsfantasie wegen seines aufkommenden Misstrauens der fiktiven Pflegefamilie gegenüber dann aber noch einmal um eine Rabenwelt: »Bei Bedarf geht der Junge und später der Mann immer in den Wald zu seinem Rabenbaum. Er steigt auf den Baum und tritt dort durch eine Tür in das Innere des Baumes ein. Er kommt in einen Flur, in dem die Raben, wenn sie angeflogen kommen, sich in Menschen verwandeln und den Jungen als Mitglied ihres Clans herzlich begrüßen. In dem großen Flur in dem Rabenbaum gibt es sechs Türen, durch die man in verschiedene Zimmer gelangen kann, in ein Zimmer nur zum Spielen, in ein anderes zum Schlafen usw. Der Junge kann jeweils in das Zimmer gehen,

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das er gerade braucht. Tags kehrt er immer wieder in seine Pflegefamilie zurück.« Der Patient erfindet bis heute bei Bedarf zur Selbststabilisierung immer wieder neue Episoden aus seinem fiktiven Leben in der Pflegefamilie und in der Rabenwelt und erlebt dabei: »Ich bekomme dann Tiefe, in mir entsteht Seele und ich bin nicht mehr so abhängig von anderen« (Fortsetzung in Kap. 5.14). Fallbeispiel 33: Eine beziehungstraumatisierte Frau, die als Kind »nicht gewollt war« und in ihrer Familie kein ausreichendes Echo auf ihre eigene Existenz bekam, fand als fünfjähriges Mädchen dieses Echo in religiösen Sinnzusammenhängen: Sie half sich, indem sie immer wieder in die Kirche ging, sich vor den Altar setzte und zu Gott betete: »Da hatte ich jemanden zum Reden.«

In der therapeutischen Phase der Selbststabilisierung erfasst die Therapeutin zusammen mit dem Patienten zuerst die Selbststabilisierungsfähigkeiten und -techniken, die der Patient bisher schon von allein gefunden und angewandt hat. Sie benennt sie als solche und repräsentiert jede von ihnen gegenständlich mit Steinen oder Holzklötzen vor dem Patienten auf dem Tisch. Dadurch gibt sie ihnen qualitativ Bedeutung. »Tatsächlich sind wir zunächst durch unsere PatientInnen auf diese Möglichkeiten, in sich einen inneren sicheren Ort oder hilfreiche Wesen zu erschaffen, gekommen« (Reddemann, 1999, S. 90). Wenn ein Patient akut dissoziiert, kann es hilfreich sein, den Patienten sich konzentrieren zu lassen auf das, was er hier jetzt im Raum sieht, körperlich empfindet, riecht und hört, und ihn dann gezielt seine Körperhaltung verändern zu lassen (Christine Rost, 2013, mündliche Mitteilung). Denn beim Dissoziieren nehmen die Patienten unwillkürlich in der Gegenwart oft wieder die Körperhaltung ein, in der sie sich während des ursprünglichen Traumaereignisses befunden haben, einschließlich der dazugehörigen Mimik und Gestik. Der Patient soll dann ausgiebig seine Glieder strecken, seine Atmung verändern und seine Körperhaltung korrigieren hin zu einer Haltung, die er aus Situationen des Wohlgefühls, der Freude oder des sportlich lustvollen Wettkampfes kennt. Das bringt ihn sensomotorisch oft erstaunlich schnell in sein gesundes Mentalisieren zurück. Die Selbststabilisierungstechnik »sicherer Ort« wird im Kapitel 5.10.5 beschrieben. Sie führt den Patienten aus dem Zustand des Flashbacks heraus in einen fiktiven Erlebnisraum, in dem er seinen Selbstverlust auflösen und sein Selbst handelnd stabilisieren kann. Einzelne Elemente der Technik des »sicheren Ortes« finden sich wieder in den Techniken der Einführung von inneren Helfern und fiktiven, ausreichend guten Eltern (Grimmer, 2013, S. 194 f.), wie sie im Psychodrama schon seit Moreno zum Standardrepertoire der Therapie von Menschen mit Traumafol-

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gestörungen gehören. Der Psychodramatherapeut lässt in traumatisierenden Situationen hilfreiche fiktive Doppelgänger mit in das Spiel der Protagonisten eintreten, die im Sinne der Surplus Reality in der Spielszene mitagieren, um das Selbst der Patienten vor Desintegration zu bewahren, ihrem Selbst Halt zu geben und dieses zu differenzieren und zu erweitern (Kellermann, 2000, S. 31). Das hilft den Patienten, sich emotional zu vergewissern, 1. dass ihr Trauma für sie eine große Bedeutung hat und haben darf und 2. dass sie fühlen dürfen, was sie fühlen (Kellermann, 2000, S. 27 f.). Fallbeispiel 34: Eine 26-jährige, intelligente, durch einen Krankenhausaufenthalt im zweiten Lebensjahr traumatisierte Studentin, Frau E., teilt in der Gruppentherapie wiederholt ängstlich mit: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass meine Mutter oder mein Vater einmal sterben. Ich kann das überhaupt nicht denken!« Der Therapeut bietet der Patientin an, diese Angst ihrer Mutter gegenüber einmal im protagonistzentrierten Spiel zu äußern. In der fiktiven Begegnung mit der Mutter gerät Frau E. wieder in die von ihr geschilderte Panik, als sie im Rollentausch die Mutter zu sich sagen lässt: »Irgendwann werde auch ich einmal sterben müssen. So ist das nun mal!« Die Patientin versteht ihre Angst selbst zunächst als Panik vor der Unausweichlichkeit des Todes. Der Therapeut: »Was macht Ihnen daran eigentlich am meisten Angst?« Frau E. mit leiser Stimme: »Dann bin ich allein!« Der Therapeut: »Sie haben Angst vor dem Alleinsein!« Frau E.: »Ja!« Der Therapeut: »Dabei hilft es Ihnen auch nicht, dass Sie einen Freund haben und bald heiraten wollen!« Frau E.: »Nein.« Der Therapeut: »Haben Sie es einmal erlebt, dass Sie sehr allein waren und dass Ihre Mutter und Ihr Vater für Sie nicht erreichbar waren?« Frau E. zögernd: »Eigentlich nicht!« Doch dann fällt ihr ein: »Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass ich, als ich zwei Jahre alt war, mit einer Lungenentzündung drei Wochen im Krankenhaus sein musste. Es ging bei mir um Leben und Tod. Meine Mutter sagte, dass ich damals als Kleinkind im Krankenhaus, wenn sie mich besuchte, mich immer die ganze Zeit mit dem Gesicht von ihr weggedreht habe zur Wand. Meine Mutter ist dadurch sehr verunsichert gewesen. Sie wusste nicht mehr, ob ich als Kind sie überhaupt noch mochte.« Im Nachspielen der von der Mutter berichteten Geschichte liegt die erwachsene Studentin als eineinhalbjähriges Mädchen schwer krank im Krankenhausbett. Bei dem Besuch der »Mutter« wendet sie sich entsprechend der Erzählung ihrer Mutter von dieser weg und dreht ihr den Rücken zu. Anders als in der Geschichte der Mutter sprechen aber die von Gruppenmitgliedern gespielte »Mutter« und der »Vater« der »kleinen Sabine« gut zu, streicheln ihr den Rücken und hören nicht auf, ihr sanft Nähe und Liebe zu zeigen. Trotzdem liegt die Protagonistin bis zum Ende des Spiels als Kind immer weiter im »Bett« mit dem Gesicht zur Wand und weint nicht. Im Rol-

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lenfeedback aber berichtet Frau E. glücklich und erleichtert: »Das war so schön! Ich habe mich zwar nicht umgedreht, aber ich habe die Nähe und Liebe von euch als Eltern gespürt! Und vor allem, ich selbst habe gemerkt, wie sehr ich meine Mutter liebe, total! Bisher war ich immer ganz verunsichert, weil meine Mutter das so anders erzählt hat. Aber das stimmt überhaupt nicht!« Ein halbes Jahr später erkrankte die Mutter der Patientin tragischerweise tatsächlich an Krebs und starb. Frau E., die sich jetzt sicher war, dass sie ihre Mutter immer geliebt hat, konnte diese im Sterben in guter Weise begleiten, ohne selbst neu zu dekompensieren.

Hilfreich zur Selbststabilisierung sind auch imaginative Vorgehensweisen wie das Schreiben eines Bewältigungsmärchens (Krüger, 2013), die Imaginary Rehearsal Therapy (Krakow, 2007) oder das Entwickeln eines positiven Gegenbildes zu negativen Affekten (Reddemann, 1999, S. 90), wie sie im Kap. 5.14 beschrieben werden. In einer erfolgreichen Behandlung entwickeln Patienten bisweilen auch symbolische Handlungsabläufe, die ihnen in Krisen helfen, sich wieder zu stabilisieren. Zum Beispiel benutzte der Patient des Fallbeispiels 12 (siehe Kap. 4.6) immer dann, wenn er wieder in Sinnlosigkeitsgefühle regrediert war, das Symbol seiner in der Kindheit gegen seine Mutter mühsam erworbenen Puppenstube real äußerlich handelnd als »Zauberkiste«, stellte sich diese auf seinen Schoß, spielte darin und gewann durch das äußere Handeln in der Puppenstube wieder Zugang zur Aktualisierungstendenz seines Selbst und zu seinen eigenen Wünschen.

5.10  Die Traumaverarbeitung 5.10.1 Die Traumaerfahrung durch Handeln zu einer Geschichte verarbeiten Normalerweise synthetisieren Menschen, »wenn sie Informationen aufnehmen, […] diese […] automatisch mit ihrem Vorwissen. Wenn das Ereignis persönlich bedeutsam ist, dann schreiben sie diese Empfindungen zu einer Geschichte um, ohne sich der Prozesse dieses Umschreibens […] bewusst zu sein«(van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 72). Aus dem Sinn der Geschichte ergibt sich dann, welche Elemente des Ereignisses für die Konfliktbewältigung wichtig sind und welche nicht. Die unwichtigen können vergessen werden und in den neuronalen Verschaltungen des Gedächtnisses untergehen. Das spart im Gehirn Speicherplatz. Die zentrale Pathologie von traumatisierten Menschen ist aber das Dissoziieren.

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Zentraler Gedanke Durch das Dissoziieren bleibt das Traumaereignis »in isolierten Bildern, Körperempfindungen, Gerüchen und Geräuschen […] gespeichert. […] Offenbar versagen die integrativen Funktionen, sodass die räumliche und zeitliche Zuordnung von eingehender Information gestört ist« (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 72). Traumatisierte Menschen sind nicht in der Lage, ihre Erinnerungen an das Trauma mit dem Vorwissen zu synthetisieren, sie zu kategorisieren und in eine die Erinnerungsbruchstücke integrierende persönliche Geschichte umzuschreiben. Zum Beispiel werden unabgeschlossene Bewegungen, wie das Bremsen eines Autos vor einem Unfall, im Körpergedächtnis eingefroren und in ähnlichen Situationen unwillkürlich aktiviert.

Oder der Betroffene empfindet intensive Gefühle, kann sich aber nicht an das dazugehörige Ereignis erinnern. Die Sinnesempfindungen und Gefühle der Traumaerfahrung bleiben über die Zeit hinweg unverändert und treten in Flashbacks als scheinbar sinnlose Fragmente in das gegenwärtige Erleben ein. Es bedarf, »damit eine traumatische Erfahrung verarbeitet, wir sagen auch synthetisiert oder integriert werden kann, […] einer Integration von Kognition, Affekt, Körpererleben und Handlungserfahrungen« (Reddemann, 1997, S. 666). Zentraler Gedanke Traumatherapie hat immer zum Ziel, über die Arbeit an der Dissoziation hinaus das Traumaereignis entlang dem roten Faden der Zeit Schritt für Schritt auch in Sprache zu fassen und zu einer in sich stimmigen Traumageschichte zu entwickeln. Dazu passt der Befund, dass während eines Flashbacks das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte nicht oder nicht ausreichend aktiviert ist, das heißt, Sprache steht dann nicht oder kaum zur Verfügung. Traumaverarbeitung beginnt deshalb schon damit, dass die Patientinnen und Patienten das Traumaereignis immer wieder neu erzählen (Kellermann, 2000, S. 28).

Scheinbar unsinnige Gefühle und Reaktionen erschweren die Bewältigung des Alltags und binden Energien. Wenn ein Patient sich nur noch bruchstückhaft an ein traumatisierendes Ereignis erinnert, sollte die Therapeutin ihn die vorhandenen Puzzleteile zu einer fiktiven ganzheitlichen Geschichte weiterentwickeln lassen, die ihm stimmig erscheint und in der die Erinnerungsfragmente subjektiv wahr Sinn ergeben. Das gibt dem Patienten innerlich Orientierung und Halt. Fallbeispiel 35: Eine 48-jährige Patientin mit einer Bulimie (F50.2) erzählte wiederholt von einem Ereignis in ihrem fünften Lebensjahr. Sie war damals vom Einkaufen

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nach Hause gekommen und drei Tage völlig verwirrt gewesen. Den besorgten Eltern habe sie nur etwas von einem ›roten Auto‹ sagen können. Es sei bis heute unklar, was ihr damals passiert ist. Der Therapeut verabredet mit der Patientin, das Ereignis im fünften Lebensjahr fiktiv zu einer in sich stimmigen, ganzheitlichen Geschichte weiterzuentwickeln. Er setzt sich dazu mit der Patientin vor einen fiktiven Bildschirm und lässt das Ereignis nach dem Prinzip der Videotechnik als Geschichte ablaufen. Die Patientin hat die Fernbedienung für den »Videoapparat« in der Hand, kann den imaginierten »Film« vorlaufen lassen und zurückspulen und legt dabei fest, was damals gewesen sein soll: Sie geht als Fünfjährige durch das Dorf zum Schlachter einkaufen. Ein rotes Auto hält neben ihr auf der Straße. Der Fahrer, ein mittelalter Mann, bietet ihr an, sie in die Stadtmitte mitzunehmen. Sie will erst nicht mitfahren, steigt dann aber zögernd ein. Der Mann fährt mit ihr aber aus der Stadt hinaus auf einen Feldweg, zieht das Mädchen dort eine Böschung hinunter, zieht sich vor ihr aus und zwingt sie, ihn oral zu befriedigen. Dann droht er dem Mädchen bei Strafe, sie dürfe keinem Menschen etwas davon erzählen, kümmert sich nicht weiter um sie, fährt weg und lässt sie dort zurück. Das Mädchen geht völlig verstört nach Hause und kann den Eltern nichts erzählen, obwohl diese fragen und sehr zugewandt und achtsam mit ihr umgehen. Der Mann seinerseits, so die fiktive Geschichte, fährt mit seinem Auto in eine 40 Kilometer entfernte Stadt. Er ist Vertreter für Staubsauger und wohnt dort als ganz normaler Familienvater mit seiner Frau und zwei eigenen Kindern. Zentraler Gedanke In der Behandlung von Patienten mit Traumafolgestörungen ist häufig Reden und Imagieren nicht ausreichend. Van der Kolk, McFarlane und Weisaeth (1996, S. 195) meinen: »Mit ihrer Neigung zum Handeln und ihrem Mangel an Wörtern können diese Patienten ihre inneren Zustände oft deutlicher in körperlichen Bewegungen oder in Bildern ausdrücken als in Sprache. Das Malen von Bildern und Psychodrama können ihnen helfen, eine Sprache zu entwickeln, die essenziell ist für wirksame Kommunikation und für das Symbolisieren, das sich in der Psychotherapie ereignet.«

Gerade traumatisierte Patienten bestätigen den sonst nur mit Einschränkung gültigen (Krüger, 1997, S. 71) Satz Morenos »Handeln ist heilender als Reden« (Pörtner, 1972, zitiert nach Leutz, 1974, S. 145). Zum Beispiel berichtet die Patientin Jill in dem Fallbeispiel von Karp (2000, S. 77 f.): »Im Krankenhaus hatte ich zwei Sitzungen pro Woche […], aber es war ein immerwährendes Rezitieren […], wie das Erzählen einer Story, während man es im Psychodrama wiedererlebt. […] Man geht durch die Emotionen. Wenn man darüber redet, ist es, wie wenn man aus einem Buch vorliest […], aber wenn man es nachspielt,

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muss man sich selbst steuern, weil man sagen muss: Gut, wenn ich eine Wahl gehabt hätte, das ist es, was ich getan hätte.« Die Patientin Maria im Fallbeispiel von Roine (2000, S. 86) äußert sich ganz ähnlich: »Ich […] ging zu einem Psychologen über viele Jahre. Ich redete und redete, aber ich kam nie hinter die Worte und meine Gefühle, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich es als Kind gut gelernt hatte, wie ich vor meinen Gefühlen weglaufen konnte […]« 5.10.2  Die vier funktionellen Arbeitsräume der Traumaverarbeitung Zentraler Gedanke Nach van der Kolk, van der Hart und Burbridge (1995) ist es die »Natur des Traumas«, dissoziativ zu sein. Traumapatienten müssen durch das Dissoziieren hindurchgehen, um ihr Trauma zu verarbeiten. Das Problem ist nur, dass im Zustand des Dissoziierens die Traumaverarbeitung eingefroren ist. Die Traumaverarbeitung kann aber gelingen, wenn die Therapeutin den Patienten mit einem speziellen Arrangement (siehe unten) den Prozess des Dissoziierens auf der äußeren Bühne im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels nachvollziehen und diesen so in einen kreativen Prozess der Traumaverarbeitung umwandeln lässt (siehe Kap. 2.2).

Wurmser hat eine Definition des Dissoziierens entwickelt, die den Vorgang des Dissoziierens als Prozess erfasst. Diese Definition ist der Ausgangspunkt für das hier vorgelegte Konzept der störungsspezifischen psychodramatischen Traumaverarbeitung. Wichtige Definition Wurmser (1998, S. 425 f.) verstand Dissoziation als »eine Form der Spaltung zwischen beobachtendem und handelndem Teil des Ichs und mit Depersonalisation als wichtigem Ereignis. Diese Spaltung oder Verdoppelung beinhaltet eine massive Verleugnung der inneren Realität, namentlich die der überwältigenden Affekte (als Affektblockierung). Andere Abwehrformen spielen mit, verblassen aber im Vergleich mit der Abwehr durch Verleugnung/Affektblockierung. Dazu gehört aber auch eine die Verleugnung unterstützende Gegenfantasie, welche die Realitätswahrnehmung entkräften soll«.

Diese Definition macht es möglich, den Prozess des Dissoziierens als einen Prozess mit vier verschiedenen, aufeinander aufbauenden funktionellen Schritten zu beschreiben: 1. Der Patient spaltet, wenn er dissoziiert, unbewusst sein beobachtendes Ich von seinem handelnden Ich ab. 2. Er wechselt dabei unbe-

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wusst aus seinem handelnden Ich in sein beobachtendes Ich und lässt seinen Panikaffekt in seinem handelnden Ich zurück. Dadurch entsteht das Gefühl der Depersonalisation: Der Patient »steht neben sich«, er erlebt alles als »unwirklich, wie in einem Film«. 3. Um in der Situation nicht aufzufallen und weiter einigermaßen angemessen handeln zu können, tut er nach außen so, als ob nichts wäre. Er stabilisiert diese Verleugnung seines fehlenden Identitätsgefühls durch eine kompensatorische Fantasie. 4. Der Patient achtet darauf und kontrolliert, dass seine kompensatorische Fantasie sich in seinem Alltag verwirklicht und dass auch seine gegenwärtigen Beziehungspartner seine dazugehörigen Erwartungen einhalten. Er meidet alle Situationen, die bei ihm selbst durch szenische Reize einen Traumafilm auslösen könnten, er fährt zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall nicht wieder Auto. Auch achtet er sehr genau darauf, dass kein Mensch in seinem Umfeld in eine Situation gerät, in der diesem anderen das widerfahren könnte, was er selbst in seiner Traumaerfahrung erleben musste. So lassen sich zum Beispiel grotesk übertriebene Ängste einer Mutter gegenüber ihrem Kind erklären. Diese können manchmal dazu führen, dass eine selbst sexuell missbrauchte Mutter ihrem Ehemann, der die gemeinsame Tochter ganz normal lieb hat, ungerecht vorwirft, die Tochter sexuell zu missbrauchen, und dass sie sich von ihm deshalb trennt. Dieser vierte Schritt der vorbeugenden und übertriebenen Kontrolle ist in Wurmsers Definition des Dissoziierens noch nicht enthalten. In der psychodramatischen Traumaverarbeitung wandelt die Therapeutin oder der Therapeut diese vier funktionellen Schritte des Dissoziierens gezielt in kreatives therapeutisches Handeln um und verwirklicht die jeweils dazugehörige innere Arbeit kreativ in vier verschiedenen äußeren »Arbeitsräumen« (Krüger, 2002, S. 133 ff., Bender und Stadler, 2012, S. 100 ff.): 1. Aus dem handelnden Ich wird der Interaktionsraum zwischen Opfer und Täter. 2. Aus dem beobachtenden Ich wird der Beobachtungs- und Erzählraum, 3. aus der kompensatorischen Gegenfantasie der »sichere Ort« und 4. aus dem kontrollierenden Ich der Informations- und Regieraum (siehe Abb. 16). Übung 12 Sie verstehen als Leserin oder Leser das Konzept der vier Arbeitsräume der Traumatherapie (siehe Abb. 16) leichter, wenn Sie diese Räume in Ihrem Therapiezimmer einmal für einen Ihrer Patienten konkret aufstellen: 1. Teilen Sie Ihr Zimmer entsprechend der Abbildung 16 mit einem Seil in vier Arbeitsräume auf. 2. Denken Sie an eine Ihrer Traumapatientinnen oder einen Ihrer Traumapatienten und stellen Sie für diese oder diesen in den Interaktionsraum zwei einander zugewandte leere Stühle hin für den Protagonisten und für dessen Täter bzw. das traumatisierende Ereignis.

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Traumafolgestörungen 3DW 3DWLHQWLQ 7K 7KHUDSHXWLQ +, +LOIV,FK

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Abbildung 16: Die vier Arbeitsräume der störungsspezifischen psychodramatischen Traumatherapie

3. Stellen Sie für den Patienten einen Stuhl in seinen Beobachtungs- und Erzählraum mit Blick auf sein Traumageschehen, 4. dazu in den dritten Quadranten noch einen Stuhl für seinen sicheren Ort. 5. Nehmen Sie sich zwei weitere Stühle und setzen Sie sich mit dem »Patienten« zusammen in den Informations- und Regieraum. Imaginieren Sie dort und spüren Sie nach, was Ihr Patient in seinen vier Arbeitsräumen tun würde. Mit dieser Übung gewinnen Sie erlebnisnah ein Gefühl für das, was Ihr Patient bei einer Traumaverarbeitung erleben könnte und soll. Nehmen Sie diese Übung vielleicht zum Anlass, auch für sich selbst einen sicheren Ort zu entwickeln, falls Sie das bisher noch nicht getan haben. Wenden Sie diese Technik vielleicht einmal für sich selbst an, wenn Sie sich nach der Behandlung eines traumatisierten Patienten etwas Gutes tun wollen.

Bei der psychodramatischen Traumaverarbeitung lässt die Therapeutin den Patienten stimmig zwischen den vier äußeren Arbeitsräumen hin und her wechseln und so seine defizitäre innere Traumaverarbeitung im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels bewusst vollziehen. Dadurch gewinnt der Patient den Aspekt des Schöpfers zu seiner unbewussten dysfunktionalen Selbstorga-

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nisation (siehe Abb. 6) und hebt sein Dissoziieren auf: Die Verleugnung, die die Spaltung zwischen dem handelnden Ich und dem beobachtenden Ich absichert, wird aufgelöst durch das Aufstellen eines leeren Stuhls für das handelnde Ich im Handlungsraum der Traumaszene und eines zweiten Stuhls für das beobachtende Ich im Beobachtungs- und Erzählraum. Dadurch nimmt der Patient, wenn er sich im Beobachtungsraum aufhält, sein handelndes Ich außen im Interaktionsraum real wahr, kann es nicht mehr ausblenden und mentalisiert seine beiden Ichs auch innerlich als real nebeneinander existent. Die Spaltung selbst, das unbewusste Alternieren zwischen den beiden konträren Ich-Zuständen, wird aufgehoben dadurch, dass die Therapeutin den Patienten zwischen seinem beobachtenden Ich im Erzählraum und seinem handelnden Ich im Interaktionsraum bewusst hin und her die Rollen wechseln lässt. Dadurch entsteht im inneren Mentalisieren des Patienten eine Beziehung zwischen seinem beobachtenden Ich und seinem handelnden Ich, aus dem Entweder-oder der beiden Ichs wird ein sich ergänzendes Miteinander. Die Therapeutin geht bei der Traumaverarbeitung auf der Zimmerbühne äußerlich und auch innerlich in ihrem Fühlen und Denken als Doppelgängerin Schulter an Schulter mit dem Patienten jeweils in die vier verschiedenen Arbeitsräume mit hinein, wird dadurch zum Hilfs-Ich des Patienten in dem jeweils gerade defizitären Anteil seines Mentalisierens und steuert dieses mit ihrem gesunden Erwachsenendenken mit. Empfehlung Das Konzept der vier Arbeitsräume hilft der Therapeutin, zu merken, in welchem dieser Arbeitsräume sie sich in der Therapie mit ihrem Patienten gerade befindet, und zu erkennen, welche therapeutischen Möglichkeiten sie bisher vielleicht noch vernachlässigt hat. Das gibt der Therapeutin Halt und Orientierung und zeigt ihr Handlungsmöglichkeiten für das weitere therapeutische Vorgehen auf.

Die vier Arbeitsräume der Traumaverarbeitung können in drei verschiedenen Settings genutzt werden: 1. zur psychodramatischen Traumaexposition mithilfe von Hilfs-Therapeuten in der Einzeltherapie, 2. In der psychodramatischen Traumaverarbeitung in der Gruppentherapie (siehe Kap. 5.10.11) und 3. für die psychodramatische Traumaverarbeitung mithilfe der Tischbühne in der Einzeltherapie (siehe Kap. 5.10.10). Eine Methode der Traumaverarbeitung ist auch das Schreiben eines Bewältigungsmärchens für ein Traumaereignis, wie es im Kapitel 5.14 dargestellt wird.

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5.10.3  Traumaverarbeitung mithilfe von Hilfs-Therapeuten Eine psychodramatische Traumaverarbeitung mithilfe von Hilfs-Therapeutinnen und Hilfs-Therapeuten in der Einzeltherapie ist ein ganzheitlicher therapeutischer Prozess in acht Schritten, der insgesamt 7 bis 15 Sitzungen Einzeltherapie erfordert: 1. Traumatisierte Patienten reagieren empfindlich, wenn sie die Kontrolle über die Situation verlieren. Die Therapie wird deshalb umso erfolgreicher verlaufen, je klarer der Patient an der Planung des Geschehens während seiner Traumaverarbeitung beteiligt ist. Empfehlung Wenn die Therapeutin gemeinsam mit dem Patienten eine Traumaexpositionssitzung plant, stellt sie auf der Zimmerbühne leere Stühle für die vier verschiedenen Arbeitsräume auf, und wechselt mit ihm vom einen in den anderen Arbeitsraum. Dadurch werden dem Patienten die Denk-, Fühl- und Handlungsweisen erlebbar, die er in der Traumaverarbeitungssitzung nutzen kann und soll. Dabei geht sie mit dem Patienten von einem der Arbeitsräume zum nächsten und setzt sich mit ihm am Ende auf die Stühle im Informations- und Regieraum.

2. In 3 bis 6 Einzelsitzungen erarbeiten die Therapeutin und der Patient die erforderlichen Selbststabilisierungstechniken, dabei auf jeden Fall auch den »sicheren Ort« des Patienten (siehe Kap. 5.10.5). 3. Zusammen legen sie dabei fest, was der Patient beim Nachspielen der traumatisierenden Situation jetzt brauchen würde, damit jetzt das geschieht, was damals nicht geschehen war, oder aber damit jetzt das nicht geschieht, was damals geschehen war. 4. Sie planen den genauen Ablauf der eigentlichen Traumaexpositionssitzung. Dabei legen sie fest, welche Mitspieler und Gegenstände in der Traumaexpositionssitzung benötigt werden und was dabei alles geschehen soll und darf. 5. Der Therapeut engagiert für die Traumaexpositionssitzung die erforderlichen Hilfs-Therapeutinnen und -therapeuten. 6. In der drei bis vier Stunden dauernden Traumaexpositionssitzung geschieht mit zeitlich offenem Ende das Folgende: a. Der Patient und die Hilfs-Therapeuten lernen sich kennen. b. Die Haupttherapeutin unterteilt die Zimmerbühne und richtet zusammen mit dem Patienten den Regieraum, den sicheren Ort, den Beobachtungsund Erzählraum und den Handlungsraum zwischen Täter und Opfer entsprechend der Vorplanung ein.

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c. Die Mitspieler übernehmen in diesen Arbeitsräumen die ihnen vom Patienten zugewiesenen Rollen. d. Der Patient erzählt der Therapeutin im Erzähl- und Beobachtungsraum, jeweils unterbrochen durch das Playback-Spiel der Hilfs-Therapeuten, abschnittsweise die Ereignisse und sein Erleben während seiner Traumatisierung in ihrem zeitlichen Ablauf. e. Die Hilfs-Therapeutinnen und -therapeuten spielen währenddessen die Traumageschichte im Handlungsraum der Traumaszene Interaktionssequenz für Interaktionssequenz nach. Ein Hilfs-Therapeut übernimmt dabei als Doppelgänger die Rolle des Patienten im Handlungsraum der Traumaszene. f. Die Therapeutin lässt den Patienten aus dem Erzählraum heraus immer wieder einmal an seinen »sicheren Ort« wechseln, um ein eventuell vorhandenes Dissoziieren aufzulösen (siehe Kap. 5.10.5). g. Wenigstens einmal, je nach Bedarf eventuell nur 20 Sekunden lang, soll der Patient auch selbst in seine Rolle als Traumaopfer in den Handlungsraum seiner Traumaszene gehen, an den Ort und in die Zeit seiner Traumaerfahrung. Er tauscht dort niemals mit dem Täter die Rollen (siehe Kap. 5.10.9), bei Bedarf nur mit einem eventuell vorhandenen Mitopfer. h. Das Nachspielen der Traumaerfahrung wird in jedem Fall ergänzt um das Ausspielen der Bewältigungsfantasie des Patienten, die er zusammen mit der Therapeutin in den vorbereitenden Sitzungen erarbeitet hat. i. Am Ende der Traumaexpositionssitzung geht der Patient noch einmal an seinen »sicheren Ort« und bleibt dort so lange wie nötig, um zur Ruhe zu kommen und in einem voll stabilisierten Zustand nach Hause gehen zu können. j. Es folgt eine Nachbesprechung aller an der Traumaexpositionssitzung Beteiligten mit Sharing und Rollenfeedback. Dabei macht die Therapeutin auf neue Perspektiven und Erkenntnisse aufmerksam, die der Patient selbst oder die Mitspieler bei der Traumaverarbeitung gewonnen haben. 7. Der Patient wird von einem Angehörigen oder einem Freund in der Praxis abgeholt und von diesem nach Hause begleitet. Die Bezugsperson bleibt bei dem Patienten auch über Nacht, damit dieser bei Bedarf mit ihr reden kann. 8. In zwei bis drei weiteren Einzelsitzungen verarbeiten der Patient und die Therapeutin zusammen die Reaktionen des Patienten auf die Traumaexpositionssitzung (siehe Kap. 5.10.8).

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5.10.4  Der Informations- und Regieraum Menschen mit Traumafolgestörungen sind wegen der neurophysiologischen Veränderungen ihrer Hirnprozesse und wegen hormoneller Veränderungen dafür anfällig, Erregungsreize pauschal als Bedrohung einzuschätzen und sofort mit Aggression oder Rückzug zu reagieren (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 72). In der psychodramatischen Arbeit sollen sie deshalb soweit wie möglich die Kontrolle über die Therapiesituation behalten und behalten dürfen. Das gelingt durch eine genaue gemeinsame Planung des Ablaufes der Traumaverarbeitungssitzung. Die Therapeutin ist während der Traumaexpositionssitzung dafür verantwortlich, dass die getroffenen Vereinbarungen auch eingehalten werden. »Being in control was the key, because when it happened I was not in control with anything«, sagte die Traumaüberlebende Jill in dem Fallbeispiel von Karp (2000, S. 82) sechzehn Jahre nach ihrer erfolgreichen psychodramatischen Traumatherapie. Dayton (2000, S. 120) meint: »Psychodrama kann dem Einzelnen verhelfen, […] die Oberhand und Kontrolle über seine Umgebung zu gewinnen.« Roine (2000, S. 94) sagt: »Durch das Wiederherstellen der traumatischen Ereignisse im Psychodrama wird der Protagonist ermutigt, die Situation auf eine neue Weise zu kontrollieren.« Burmeister (2000, S. 212) begründet sein Vorgehen in der Traumaarbeit mit Verkehrsopfern zusammenfassend ganz ähnlich: »Der Protagonist soll ermächtigt werden, die Traumaexposition auf der Bühne zu kontrollieren. Sonst könnte eine Retraumatisierung die […] heilende Wirkung der Arbeit zerstören.« Der Patient soll und darf zusammen mit der Therapeutin festlegen, was bei der Traumaexposition geschehen soll und was nicht, zum Beispiel ob er, wenn nötig, auch einmal selbst kurz in den Interaktionsraum zwischen Täter und Opfer hineingehen mag. Während der eigentlichen Traumaexposition steht symbolisch ein Stuhl in dem Regie- und Informationsraum für die Planung und Selbstkontrolle des Patienten. Bei Bedarf kehren der Patient und die Therapeutin zusammen in diesen Regieraum zurück, um den weiteren Ablauf der Sitzung zu planen. Empfehlung »Der Psychodramaleiter sollte wirklich alles unternehmen und sich dafür auch Zeit nehmen, um dem Traumaüberlebenden zu erklären, was in jedem Abschnitt des Prozesses geschehen soll, und um für jeden Teil der Arbeit das Einverständnis des Protagonisten einzuholen« (Kellermann, 2000, S. 35). Fallbeispiel 36: Eine 35-jährige Lehrerin war in der Kindheit traumatisiert worden, unter anderem durch einen Krankenhausaufenthalt im fünften Lebensjahr wegen

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einer notfallmäßigen Blinddarmoperation. Sie kann sich an keinen Besuch ihrer Eltern im Krankenhaus erinnern. Die Krankenschwestern hatten ihr verboten, zu weinen, sonst dürfe sie nicht nach Hause. Sie war als Kind nicht informiert worden, was mit ihr geschieht und hatte ernsthaft geglaubt, dass sie verkauft worden sei. Bei der Planung der Traumaexpositionssitzung wünschte die Patientin sich als positive Veränderung der traumatisierenden Situation, dass eine »gute Mutter« während ihres gesamten Krankenhausaufenthaltes bei ihr bleibt, sie über alles informiert, was geschehen soll, sie tröstet, sich bei Bedarf bei dem Arzt erkundigt und sie beschützt. Die Hilfs-Therapeuten spielten zunächst die Krankenhausszene so nach, wie die Patientin sie erinnerte. Dabei übernahm eine Doppelgängerin die Rolle der Patientin. Erst in der Wunschszene übernahm die Patientin selbst ihre Rolle im Handlungsraum der Traumaszene. In der Nachbesprechung erkannte die Patientin staunend: »Das ist ja komisch: Ich hatte gedacht, das ist völlig übertrieben und irreal, wenn ich mir wünsche, dass meine Mutter bei mir bleibt. Jetzt im Spiel habe ich aber gemerkt: Das, was ich mir gewünscht habe, ist heute in Krankenhäusern mit dem Rooming-in völlig normal und standardmäßige Praxis!« (Fortsetzung in Kap. 5.11).

5.10.5  Der sichere Ort Um aus den Gefühlen der Ohnmacht, der Verwirrung oder der Beziehungslosigkeit zu sich selbst und zu anderen herauszukommen, entwickeln Menschen in traumatisierenden Situationen oft schon spontan kompensatorische Gegenfantasien von einer harmonischen Welt, in der die Gewalt oder der Schrecken nicht auftreten: Zum Beispiel stellen sich vernachlässigte Kinder oft vor, dass ihre Eltern nicht ihre wirklichen Eltern sind und dass ihre leiblichen Eltern irgendwann kommen und sie nach Hause holen. Dann können sie die Gewalt oder Vernachlässigung durch ihre gegenwärtigen Eltern leichter ertragen. In der psychodramatischen Traumatherapie lässt die Therapeutin den Patienten die von Wurmser (1998, S. 425 f.) erwähnte »die Verleugnung unterstützende Gegenfantasie, welche die Realitätswahrnehmung entkräften soll«, im Therapieraum mit einem Seil als abgegrenzten »sicheren Ort« konkret verwirklichen und bei Bedarf in diesen hineingehen, damit er dort in einer Halt und Sicherheit gebenden Umgebung die ersehnte Geborgenheit erfährt und »wieder zu sich kommt«. Das verflüssigt sein eventuell durch Dissoziieren blockiertes Mentalisieren. Fallbeispiel 37: Frau D., eine Patientin mittleren Alters mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1), litt nachts unter massiven Schlafstörungen, Panikattacken mit Herzrasen und Todesfantasien. Diese Symptome waren zu verstehen als Flashbacks infolge eines zwanzig Jahre zuvor erlebten Vergewaltigungsversuchs, bei dem

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der Täter ihr ein Messer an den Hals gesetzt und sie verbal mit dem Tod bedroht hatte. Vor ihrer Traumaexpositionssitzung erarbeitet der Therapeut mit ihr ihren »sicheren Ort«. Er trennt dazu im Gruppenraum mit einem Seil einen Bereich ab. Am Ende hat Frau D. darin einen CD-Player installiert, aus dem bei Bedarf die von ihr geliebte meditative Musik erklingt, eine sehr einfache, melodiöse Kantate von Bach. Außerdem steht dort ein von der Patientin imaginierter Schutzengel. Dieser soll sie mit seinen Flügeln schützend einhüllen, wenn sie bei der Traumaverarbeitung dorthin fliehen wird. Als Frau D. drei Wochen später am Ende ihrer Traumaexpositionssitzung noch einmal in diesen geschützten Arbeitsraum hineinwechselt, beginnt sie in den Armen ihres Schutzengels unkontrollierbar körperlich zu zucken. Ihr Zucken wird allmählich immer häufiger und heftiger und geht in ein erschütterndes, aus ihrer tiefsten Seele kommendes Weinen über, das den über Jahre eingefrorenen Affekt des Grauens auflöst (Fortsetzungen in Kap. 5.10.6, 5.10.7, 5.10.8 und 5.16). Wichtige Definition Der sichere Ort ist ein fiktiver Fantasieraum auf der Bühne und in der inneren Vorstellung, der absoluten Halt und Geborgenheit gibt und in dem das Wünschen noch hilft. Er soll deshalb für die gegenwärtigen oder früheren Bezugspersonen des Patienten nicht erreichbar sein. Denn reale Bezugspersonen aus der Gegenwart oder Vergangenheit haben immer auch eine Schattenseite, zum Beispiel schon allein dadurch, dass ihre Macht begrenzt ist oder war.

Die Therapeutin lässt den Patienten seinen »sicheren Ort« immer als Gegenbild zu einer leidvollen Erfahrung entwickeln. Sie geht dabei folgendermaßen vor: 1. Sie grenzt zunächst in ihrem Praxisraum durch ein Seil die »Welt des sicheren Ortes« konkret ab und stellt in diesem Bereich für den Patienten einen leeren Stuhl auf: »Das dort ist eine Welt, in der Sie absolut sicher und geborgen sind.« 2. Sie fragt ihn nach einem Leidensereignis, in dem er diese Sicherheit und Geborgenheit gebraucht hätte. 3. Sie arbeitet mit ihm das spezielle Leidensgefühl in der damaligen Situation heraus, und benennt es: »Sie haben sich total ohnmächtig gefühlt«, »… total verlassen.« »Sie fühlten sich nicht mehr.« »Sie standen neben sich …«. 4. Sie sucht mit dem Patienten zusammen aktiv nach einer fiktiven Situation, die den entgegengesetzten Affekt auslösen würde: »In dieser anderen Welt fühlen Sie sich absolut sicher und geborgen.« »Sie können sich dort wieder fühlen und kommen zu sich.« 5. Die Therapeutin fordert den Patienten auf: »Stellen Sie sich da hinten in dem anderen Teil des Zimmers einen Ort vor, wo Sie dieses entgegengesetzte Gefühl haben, wo sich dieser Wunsch erfüllt. Was soll da alles sein, was würden Sie in dieser anderen Welt brauchen, damit das auch eintritt?« 6. Die Therapeutin und der Patient

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entwickeln Schulter an Schulter nebeneinander sitzend zusammen Fantasien, was in diesem anderen Raum des »sicheren Ortes« alles vorhanden sein soll und was dort geschehen soll, damit sich seine Vorstellung auch wirklich erfüllt. 7. Sie geht mit dem Patienten konkret in den abgetrennten Raum des »sicheren Ortes« hinein und fragt ihn nach Erfahrungen von Halt und Geborgenheit, die er selbst schon real erlebt hat, unter anderem auch nach transpersonalen Erfahrungen in der Natur, Kunst, Religion oder Liebe (siehe Fallbeispiele 24 (2. Forts.), 32, 33 und 34). 8. Sie symbolisiert diese Erfahrungen mit Gegenständen und platziert diese im Raum des »sicheren Ortes«. 9. In einem zweiten Schritt ergänzt sie die Konstruktion des »sicheren Ortes« mit dem Patienten zusammen um noch fehlende Elemente, zum Beispiel um unterstützende lebendige Wesen, fiktive gute Bezugspersonen oder fiktive Doppelgänger des Patienten. 10. Dann lässt die Therapeutin ihn dort handelnd das dazugehörige interaktionelle Geschehen erkunden. Er soll im Spiel zum Beispiel die imaginierten Seevögel hören, das Meer ansehen und riechen oder die tröstende oder beschützende Geste der weisen alten Frau körperlich fühlen. 11. Oft spürt die Therapeutin dabei intuitiv, dass die Wünsche des Patienten zu bescheiden sind. Sie informiert den Patienten, dass sich in »der Fantasiewelt seines sicheren Ortes« seine Wünsche klar und eindeutig erfüllen sollen: »Wenn der weise alte Mann Sie tröstet, sitzt er dann wirklich nur neben Ihnen und hört zu, oder streicht er Ihnen vielleicht auch fürsorglich über den Rücken?« 12. Eventuell auftauchende Schuld- oder Schamgefühle werden gegenständlich symbolisiert und außerhalb des »sicheren Ortes« in seine mit dem Seil abgetrennte »reale Welt« gelegt. 13. Am Ende der Entwicklung des »sicheren Ortes« geht die Therapeutin im Therapiezimmer aus dem »sicheren Ort« wieder zurück in die »reale Welt« und fordert den Patienten auf, sich an seinem »sicheren Ort« noch einige Zeit für sich allein zu orientieren und alles zu spüren. 14. Dann bittet Sie ihn, auch seinerseits wieder in den Raum der Realität zurückzukehren. 15. Sie bespricht mit ihm zusammen seine Erfahrung am sicheren Ort nach und benennt mit ihm zusammen die dabei aufgetretenen Körperempfindungen und Gefühle. 16. Sie fordert ihn auf: »Schreiben Sie sich in den nächsten zwei Stunden auf, was alles zu Ihrem sicheren Ort gehört und was dort alles geschieht. Sonst werden Sie wichtige Elemente davon vergessen.« 17. Der Patient soll die Erfahrung seines »sicheren Ortes« zu Hause in der Imagination nachvollziehen und als Selbststabilisierungstechnik einüben: »Vollziehen Sie dabei in Ihrer Vorstellung Ihre Spielhandlungen an Ihrem sicheren Ort nach und erfinden Sie neue dazu!«

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Empfehlung Wenn Sie als Leserin oder Leser zusammen mit einem Patienten dessen »sicheren Ort« entwickeln wollen, fotokopieren Sie sich die folgende Liste der geeigneten Elemente eines »sicheren Ortes« und orientieren Sie sich an ihr während der Arbeit. Elemente des sicheren Ortes können sein.

1. Elemente, die im inneren Denken des Patienten seine innere Selbstrepräsentanz stabilisieren: 1a Dazu gehören die eigenen Fähigkeiten und Stärken des Patienten. Die Therapeutin konkretisiert diese einzeln mit Steinen oder Holzklötzen und legt sie in einer Ecke des sicheren Ortes hin. Wenn der Patient dabei Mühe hat, was oft der Fall ist, fragt die Therapeutin: »Was findet denn Ihr Freund an Ihnen gut, Ihre Tochter oder Ihre Mitarbeiterin?« Der Patient soll sich am sicheren Ort auf den Boden setzen und jede seiner »Fähigkeiten« in die Hand nehmen und sich ihrer aktiv handelnd vergewissern. 1b Der Patient kann auch sein eigenes inneres gesundes Kind, das er vor seiner Traumatisierung eventuell war, durch einen Hilfs-Therapeuten oder eine Handpuppe an seinem »sicheren Ort« gegenwärtig werden lassen. 1c Wenn der Patient Erfahrungen damit hat, sich durch handwerkliche oder künstlerische Aktivitäten zu stabilisieren und selbstwirksam und kreativ zu sein, soll er die entsprechenden Werkzeuge, zum Beispiel die Säge, die Violine oder das Malbrett ebenfalls am »sicheren Ort« aufstellen. Fallbeispiel 38: Ein 52-jähriger Patient erinnert sich bei der Entwicklung seines sicheren Ortes an seine Fähigkeit, Neuerungen beim Modellflugzeugbau zu erfinden, und an das absolut geborgene Gefühl, das er hatte, als er im vierten Lebensjahr auf den Treppenstufen seines Elternhauses saß und dem Wettstreit von zwei Kirchenglocken zuhörte: »Die eine war viel melodischer und am Ende gewann sie immer. Sie war zwar langsamer, läutete dafür aber länger als die andere.« Der Patient lächelt bei dieser Erinnerung gelöst: »Daran habe ich mich früher öfter mal erinnert, jetzt habe ich aber schon drei Jahre lang nicht mehr daran gedacht.« Für seine psychodramatische Traumaexpositionssitzung bringt der Patient eines seiner Modellflugzeuge mit und einen Fernseher mit einer Videoaufnahme seines Modellflugzeugs beim Fliegen. Dazu auch eine Tonbandaufnahme der Kirchenglocken aus seiner Kindheit, die er an seinem sicheren Ort im Gruppenraum bei Bedarf erklingen lässt. Er war extra in die 200 Kilometer entfernte Heimatstadt gefahren und hatte dort das Läuten der immer noch vorhandenen Kirchenglocken aufgenommen: »Als morgens um 10 Uhr zu viele Autos das Läuten störten, habe ich noch eine Stunde gewartet. Um 11 Uhr gelangen die Aufnahmen dann« (Fortsetzung in Kap. 5.10.8).

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2. Fiktive Personen, Lebewesen und Symbole, die dem Patienten an seinem sicheren Ort als Beziehungsobjekt Halt geben: 2a Das können transpersonale Rollen aus der Natur sein, ein Baum, ein Wald oder ein Fluss. Oder Figuren aus der Religion, zum Beispiel ein Schutzengel. Oder eine Gestalt aus der Literatur, aus Mythen oder aus Märchen, zum Beispiel die sieben Zwerge von »Schneewittchen« oder der Zauberer Gandalf. Oder Personen aus einem Film, Meister Yoda oder E.T. Oder symbolische Personen aus der Geschichte, Martin Luther King, Gandhi oder ähnliche. 2b Der Patient soll sich auch ein geliebtes Musikstück aussuchen, er kann dieses auf eine CD brennen und es bei Bedarf an seinem sicheren Ort in einer Endlosschleife immer wieder erklingen lassen. 2c Auch »Tiere« können am sicheren Ort auf den Patienten warten, um ihm zu helfen, so wie die Tauben im Märchen von Aschenputtel, die sieben Tiere in dem grimmschen Märchen »zwei Brüder« oder der geliebte Hund, den der Patient des Fallbeispiels 1 in der Kindheit hatte. 2d Der Patient kann am sicheren Ort auch die fiktive Gestalt einer alten weisen Frau oder eines alten weisen Mannes auf einen Stuhl setzen. Oder eine Person, die eine Idealfigur repräsentiert, weil sie ein eigenes seelisches Trauma überlebte und ihr Schicksal gut verarbeitet hat und dadurch weise geworden ist. 3. Elemente, die eine eigene heilsame, existenzielle Erfahrungen repräsentieren: Wenn der Patient in der Kunst, in der Natur, der Religion oder der Liebe eine tief gehende heilsame Erfahrung gemacht hat, lässt die Therapeutin ihn auch diese Erfahrung im Raum des sicheren Ortes durch ein passendes Symbol repräsentieren, zum Beispiel durch einen Baum, einen Wald, einen Fluss, einen Schutzengel oder durch Maria, die Mutter von Jesus.   Die Therapeutin hilft dem Patienten bei der Entwicklung seines sicheren Ortes Schulter an Schulter als Kokreatorin und Doppelgängerin. Sie darf als solche ihrerseits auch aktiv eigene Einfälle äußern. Wenn diese Schulter an Schulter ausgesprochen werden, wirken sie nicht direktiv, sondern regen den Patienten »nur« an, öffnen den potenziellen Raum seiner Fantasie und aktivieren ihn, seinerseits kreativ zu sein und eigene Ideen zu finden. Dabei ist der Weg das Ziel. Zentraler Gedanke Je schwerer es einem traumatisierten Patienten fällt, seinen sicheren Ort zu entwickeln, desto heilsamer ist diese Technik für ihn, desto geduldiger und kleinschrittiger sollte die Therapeutin diesen mit ihm entwickeln. Störungsspe-

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zifische psychodramatische Traumatherapie ist kleinschrittige und geduldige Arbeit an der richtigen Stelle.

Die Selbststabilisierungstechnik »sicherer Ort« ist in sich sehr komplex, sie umfasst potenziell wichtige andere Selbststabilisierungstechniken: Wenn der Patient seinen sicheren Ort aufsucht, distanziert er sich gleichzeitig von seiner Traumaerinnerung. Am sicheren Ort befinden sich »innere Helfer« oder Symbole der Natur, der alte Baum oder andere transpersonale Gestalten. Der Patient kann sich dort durch Tanzen zu seiner persönlichen Musik oder durch andere körperliche Aktivitäten aus seinem Traumafilm auch sensomotorisch befreien. Das Aufbauen des sicheren Ortes auf der Zimmerbühne ermöglicht es ihm, die Elemente seiner Imagination handelnd zu nutzen und den dort lebenden Personen, Wesen oder Tieren handelnd zu begegnen. Das macht die psychodramatische Arbeit mit dem sicheren Ort zu einer auch leiblichen Erfahrung und lässt zum Beispiel Patienten, die schlecht mentalisieren können, bei dieser Übung ein Gefühl größerer Gewissheit erleben, als wenn sie ihren sicheren Ort »nur« in der Imagination besuchen. Die Anwendung der Technik des sicheren Ortes in der Gruppentherapie wird im Kap. 5.10.11 beschrieben. 5.10.6  Der Beobachtungs- und Erzählraum Bei der psychodramatischen Traumaverarbeitung nutzen Therapeutinnen und Therapeuten den dysfunktionalen Prozess des Dissoziierens zur Heilung und geben ihm damit seine ursprüngliche Funktion zurück, die Distanzierung von dem unerträglichen Empfinden und Fühlen durch »Spaltung zwischen beobachtendem und handelndem Teil des Ichs« (Wurmser, 1998, S. 425): »Das ursprüngliche Traumacoping verfestigt sich immer mehr zu Symptomen. […] Die lebensrettende Dissoziation wird zum Symptom dissoziative Störung. Da der Organismus versucht hat, mit diesen Copingstrategien sich selbst zu heilen, gehen wir davon aus, dass man diese Copingstrategien nutzen kann« (Reddemann, 1999, S. 89). Zentraler Gedanke Bei der Traumaexposition lässt die Therapeutin den Patienten sein handelndes Ich und sein beobachtendes Ich im Therapiezimmer räumlich trennen: Das handelnde Ich des Patienten wird zu seiner Selbstrepräsentanz im Interaktionsraum zwischen Täter und Opfer, es wird während der Traumaverarbeitung die meiste Zeit von einem Doppelgänger dargestellt. Sein beobachtendes Ich wird zu seiner Selbstrepräsentanz im Erzähl- und Beobachtungsraum. Durch die Beziehungsaufnahme zwischen diesen beiden Ich-Zuständen der Selbstorganisation und

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durch den bewussten Rollenwechsel zwischen ihnen im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels kann der Patient seinen in der Trennung von Handeln und Beobachten fixierten Prozess des Dissoziierens verflüssigen und sein inneres Mentalisieren aus den Fesseln des Dissoziierens befreien.

Kellermann (2000, S. 29) und Karp (2000, S. 68 ff.) lassen Traumapatienten im Psychodrama immer dann aus dem Interaktionsraum in den Erzähl- und Beobachtungsraum wechseln, wenn es indiziert ist, dass sie »sehen, was wirklich passierte […], dass sie […] Details erkennen, ohne überwältigt zu werden, […] und dass sie beginnen, die erhaltenen Informationen kognitiv durchzuarbeiten […]« Dieses Vorgehen »ermöglicht es […] den traumatisierten Menschen, der Welt wieder einen Sinn zu geben, wenn diese Welt für sie vorübergehend jede Struktur und Bedeutung verloren hatte« (Kellermann, 2000, S. 29). Zum Beispiel klagte ein Patient, der ein terroristisches Bombenattentat mit vielen Toten miterlebt hatte: »Alles scheint so unwirklich zu sein, als ob ich in einem Traum wäre oder in einem Film.« Der Wechsel heraus aus seinem handelnden Ich in den Beobachtungsraum half ihm, seine Traumaerfahrung tatsächlich wie in einem Film von außen anzusehen und so aus seinem dissoziativen Zustand der Derealisation herauszukommen. Karp (2000, S. 79) machte bei ihrer Patientin Jill die gleiche Erfahrung: »Die Distanz sorgte für Sicherheit. Die Protagonistin instruierte und beobachtete die Gruppenmitglieder, die ihre Szenen ausspielten, und betrat gelegentlich die Szene, um die Aktion zu korrigieren. Zum Beispiel, […] weil eine zerbrochene Flasche, die ihren Nacken berührte, […] an dem falschen Platz gehalten wurde. […] Es musste genauso dargestellt werden, wie es geschehen war, und mit ihr als derjenigen, die die Informationen kontrollierte.« Während der Traumaexpositionssitzung halten sich die Therapeutin und der Patient vor allem im Beobachtungs- und Erzählraum auf. Der Patient wechselt nur selten in seine Rolle im Interaktionsraum der Traumaszene. Die Therapeutin lässt den Patienten aus dem Beobachtungsraum heraus seine Traumaerfahrung erzählen. Währenddessen spielen die Hilfs-Therapeuten im Interaktionsraum als seine Doppelgänger das Traumaereignis Szene für Szene im Playback-Verfahren nach. Zentraler Gedanke Die Therapeutin sitzt oder steht während der Traumaverarbeitung zunächst Schulter an Schulter neben dem Patienten im Beobachtungsraum in der Beobachter- bzw. Spiegelposition zum Interaktionsraum der Traumaszene und hilft ihm als Doppelgängerin, die Dinge mit gesundem Erwachsenendenken beim Namen zu nennen. Sie bezeichnet zum Beispiel Gewalt in dem Handlungsraum

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der Traumaszene als »Gewalt« und Missbrauch als »Missbrauch«. Das aktiviert und erweitert seine Kognition. Der Patient differenziert, erweitert, vervollständigt und integriert dabei mithilfe des Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels den Prozess der Geschehnisse und seines Handelns, Fühlens, Denkens und Empfindens in seiner Traumaerinnerung, erarbeitet sich ein Verständnis von Ursache und Wirkung in dem Traumaereignis und entwickelt seine Traumaerfahrung so auch in seinem inneren Mentalisieren zu einer in sich stimmigen Geschichte weiter.

Dadurch werden bestehende Widersprüche zwischen der Interpretation, die der Patient sich von seiner Traumaerfahrung gemacht hat und die oft die Logik des Geschehens zu seinen Ungunsten verfälscht, und der im Spiel erarbeiteten Logik des Traumageschehens aufgedeckt. Zum Beispiel sind die Patienten oft sehr erstaunt zu merken, dass sie sich in der traumatisierenden Situation eigentlich angemessen und klug verhalten haben. Eine solche Erkenntnis stabilisiert das Selbstwertgefühl. Fallbeispiel 37 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.5): Frau D. erzählt aus dem Beobachtungsraum heraus entlang dem roten Faden der Zeit die Geschichte einer versuchten Vergewaltigung: was sie als Opfer tut, was der Täter sagt und wie sie versucht, sein Messer von ihrem Hals wegzuziehen und dabei in das scharfe Messer fasst. Wie sie mit dem Täter, dessen Rolle in diesem Fall nicht von einem Hilfs-Ich nachgespielt wurde, eine subjektiv unendliche Zeit ringt und dabei Schnittverletzungen am Hals und an den Händen erleidet. Die Hilfs-Therapeutin, die die Rolle der Patientin als Doppelgängerin übernimmt, spielt jeweils die gerade erzählten Interaktionssequenzen im Handlungsraum nach. Sie wehrt sich als Doppelgängerin auf der Bühne genauso, wie die Patientin es im Erzählraum berichtet und schreit in »Todesangst« so laut um Hilfe, dass alle Beteiligten die Todesangst wahrhaftig spüren. Der Therapeut steht dabei im Beobachtungsraum Schulter an Schulter neben der Patientin und verbalisiert als Doppelgänger aktiv, was er sieht: »Sie haben sich gewehrt! Und wie! Was sagen Sie? Eine dreiviertel Stunde haben Sie so gekämpft und gerungen und sogar in das Messer hineingefasst! Woher haben Sie so viel Kraft gehabt!« In der Nachbesprechung meint Frau D. ganz erstaunt: »Ich habe gar nicht mehr gewusst, dass ich so gekämpft habe. In meinen Albträumen bin ich immer ganz erstarrt und kann mich gar nicht wehren!« Sie erzählt weiter, dass sie, auf dem Autositz hinter dem Steuer nach einer Dreiviertelstunde des Kampfes mit dem Täter so erschöpft war, dass sie tatsächlich mit der Gegenwehr aufhörte: »Ich habe ihn dann gefragt: ›Was soll ich tun? Was soll jetzt geschehen?‹« Der Therapeut interpretiert auch dieses Handeln der Patientin als in der Situation durchaus mutiges,

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angemessenes Handeln: »Als Sie nicht mehr konnten, haben Sie immer noch nicht resigniert, sondern Sie haben nach einer anderen Lösung gesucht!« Acht Wochen nach der Traumaverarbeitung stellt die Patientin fest: »Ich hatte immer gedacht, der Täter konnte mit mir machen, was er wollte, ich wäre wie ein Spielball gewesen. Jetzt weiß ich, dass ich mich gewehrt habe, eigentlich war ich sogar tapfer und mutig! Das weiß ich jetzt auch nachts. Ich kann mich wehren! Das war immer das schlimmste Gefühl gewesen, gelähmt zu sein!« Die Patientin hat durch das Handeln im Spiel Anschluss an die Aktualisierungstendenz ihres Selbst gewonnen. Das lässt sie jetzt auch in ihrem Alltag mutiger werden: »Ich habe es jetzt endlich gewagt, einem langjährigen Freund offen zu sagen, dass mich seine anmaßende Selbstüberschätzung stört. Nach dem Telefonat ging es mir aber gar nicht gut. Ich muss aufpassen, dass ich nicht überschießend bin« (Fortsetzung in Kap. 5.10.7, 5.10.8 und 5.16).

5.10.7  Der Handlungsraum zwischen Opfer und Täter Im Interaktionsraum spielen die Hilfs-Therapeutinnen und Hilfs-Thera­peu­ ten das von dem Patienten erzählte traumatisierende Ereignis schrittweise nach. Sie sollen dem Patienten möglichst nicht aus anderen Lebenszusammenhängen bekannt sein. Überraschend viele Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker sind gern bereit, diese Aufgabe gegen einen nur geringen Stundenlohn zu übernehmen. Die Traumaexposition macht den Beteiligten zwar Angst, offenbar fasziniert eine solche gemeinsame Arbeit sie aber auch durch die existenzielle Dimension der Arbeit. Die Therapeutin informiert die Hilfs-Therapeuten mit Zustimmung des Patienten schon vor der eigentlichen Traumaexpositionssitzung über die zu spielende Traumageschichte und vereinbart mit ihnen, welche der definitionsgemäß oft recht schwierigen Rollen sie übernehmen werden. Empfehlung Die Therapeutin sollte sich zu der Traumaverarbeitung wirklich entscheiden. Denn sie muss mit dem Patienten durch das Herz des Traumas, das Dissoziieren, hindurchzugehen. Wenn sie das aus Angst vermeidet, kann eine Traumaexposition die Krankheitssymptomatik des Patienten verstärken, statt sie zu lindern!

Der Patient spürt dann intuitiv, dass nicht einmal die Therapeutin den Horror seiner Traumaerfahrung ertragen kann, und wird dadurch in seiner Erfahrung bestätigt, dass er eigentlich eine Zumutung für die Welt ist.

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Zentraler Gedanke Während der Traumaverarbeitung begibt sich der Protagonist bzw. die Protagonistin wenigstens einmal für kurze Zeit auch selbst in den Interaktionsraum der Traumaszene an den damaligen Ort und in die damalige Zeit, damit sich bei ihm dort im Handeln seine blockierten motorischen und sensorischen Erinnerungsfragmente aktualisieren, und er diese im Als-ob-Modus des Spiels und durch die anschließende Selbststabilisierung am sicheren Ort und die Nachbesprechung zu einer vollständigeren Narration verarbeiten kann.

Dabei braucht er dem »Täter« gar nicht unbedingt begegnen. So ließ zum Beispiel Karp (2000, S. 71 f.) ihre Patientin Jill im psychodramatischen Spiel erst dann in den räumlich abgetrennten Raum ihrer Gewalterfahrung hineingehen, als in dem Spiel alle ihre Familienmitglieder schon gerettet waren und die Gewalttäter, die von Gruppenmitgliedern gespielt wurden, den Ort des Überfalls und der Vergewaltigung schon verlassen hatten. Die Protagonistin sollte sich in der afrikanischen Stadt »nur« noch von ihren Bediensteten verabschieden, bevor sie mit ihrer Familie nach England ging. Schon allein das Betreten des Handlungsraums der Traumaszene und diese »kleine« Handlungssequenz führten bei der Protagonistin »geschützt durch die sichere Umgebung der Gruppe« zu einem einstündigen schweren kathartischen Zittern mit einem darauf folgenden ununterbrochenen Schlaf von dreißig Zeitstunden nach vorher bestehenden schweren Schlafstörungen. Eine Traumaexpositionssitzung kann drei bis vier Zeitstunden dauern und hat zeitlich ein offenes Ende. Fallbeispiel 37 (2. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.5 und 5.10.6): Die Traumaverarbeitung von Frau D. erfolgte mehr als zwanzig Jahre nach dem Traumaereignis. Eine Hilfs-Therapeutin spielte als Doppelgängerin das Handeln der Patientin bei der versuchten Vergewaltigung nach den Vorgaben der Patientin nach. Frau D. kam im Erzähl- und Beobachtungsraum zunächst noch nicht ausreichend in das affektive und sensomotorische Erleben ihrer Traumaerinnerung hinein. Der Therapeut ließ sie deshalb, nachdem der Täter schon geflohen war, für etwa zwanzig Sekunden in den Handlungsraum ihrer Traumaszene hineinwechseln. Frau D. merkte schon bei den wenigen Schritten vom Beobachtungsraum in den Handlungsraum der Traumaszene, dass in ihr Panik hochstieg. Als sie in ihrem von zwei Stühlen repräsentierten »Auto« Platz nahm, in dem der Vergewaltigungsversuch stattgefunden hatte, dissoziierte sie prompt. Ihr wurde »schwindelig« und sie bekam Herzrasen und Todesangst, ganz ähnlich, so berichtete sie später, wie bei ihren nächtlichen Flashbacks. Der Therapeut ließ die Patientin sofort an ihren »sicheren Ort« wechseln, wo sich ihr Dissoziieren in den Armen ihres von einer Hilfs-Therapeutin gespielten »Schutzengels« und bei

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der Musik der von ihr ausgesuchten Bachkantate in einer intensiven integrativen Katharsis auflöste. In den folgenden Wochen wiederholten sich bei der Patientin die Panik und die anschließenden kathartischen Zustände zu Hause autonom noch dreimal, zweimal nachts und einmal beim Hören eines bestimmten Musikstückes. Sie habe dabei aber »anders als vorher immer schon gewusst, dass es am Ende gut ausgeht.« Die Flashbacks, die die Patientin zwanzig Jahre lang jede Nacht gequält hatten, tauchten acht Wochen lang nicht mehr auf, sie kamen dann für einige Tage wieder hervor, verschwanden aber auch gleich wieder nach angemessener Verarbeitung der sie auslösenden Konflikte (Fortsetzung in Kap. 5.10.8 und 5.16).

Eine Traumafolgestörung führt durch die im Flashback auftauchenden, nicht verarbeiteten Gefühle von Gelähmtheit und Entfremdung oft zum Verlust an Selbstachtung, zu Scham und als Reaktion darauf zu Schuldgefühlen und zur Entwicklung eines unrealistischen Selbstbildes. So glaubte die Patientin des Fallbeispiels wegen ihrer in ihren nächtlichen Albträumen auftretenden seelischen Gelähmtheit, dass sie sich bei dem Vergewaltigungsversuch nicht gewehrt habe. In Wahrheit hatte sie durch ihre vielfältige Gegenwehr aber sogar ihr Leben gefährdet. Die Traumaexposition aber ließ die Patientin ihre Traumaerinnerungen um die »vergessenen« Elemente ergänzen. Das veränderte ihr Selbstbild: Sie sah sich nicht mehr als »Spielball« des Täters, sondern als »tapfer und mutig« und wurde auch in ihrem Alltagsbeziehungen spontan durchsetzungsfähiger. Ganz ähnlich wusste die Patientin Jill in dem Fallbeispiel von Karp (2000, S. 63 ff.) ebenfalls natürlich schon vor der Traumaexpositionssitzung kognitiv, dass ihre Tochter und ihr Mann den Überfall und die Vergewaltigung in Afrika real überlebt hatten. Denn die Familie lebte ja vor der Traumatherapie schon wieder zusammen in England. Trotzdem konnte sie diese Tatsache erst nach der psychodramatischen Traumaexposition tatsächlich auch fühlen. Auch der Patient des Fallbeispiels 32 meinte zwei Jahre nach seiner Traumaexpositionssitzung: »Vor der Traumasitzung habe ich mich immer falsch und verkehrt gefühlt und gedacht: ›Du hast nichts hingekriegt‹. In der Traumasitzung habe ich erfahren, wie schlau und klug ich als Kind eigentlich war. Der kleine Junge in mir ist wertvoll!« Durch Traumaverarbeitung erweitern die Patienten ihr nur deklarierendes Sachwissen um ein prozessuales, emotionales Wissen (Markowitsch, 2001, S. 75). Zentraler Gedanke Beim Erinnern des Traumas werden durch das Dissoziieren im Gedächtnis Affekt, Handeln und Empfinden getrennt. Die entsprechenden Informationen sind zwar durchaus in der linken Gehirnhälfte als Sachwissen gespeichert, finden aber durch das beim Erinnern des Ereignisses prompt eintretende Dissoziieren kei-

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nen Zugang zum Selbstempfinden, zu den Emotionen und zum rechtshirnigen prozeduralen Gedächtnis und deshalb auch nicht zum autobiographisch-episodischen oder kontextbezogenen Gedächtnis (Markowitsch, 2001, S. 75, 84 f.). Die Lücken in der Traumaerinnerung bleiben ohne Traumaverarbeitung oft auf Dauer bestehen und werden, um der fragmentierten Erfahrung Sinn zu geben, mit selbstverletzenden Annahmen gefüllt.

Bei einer Krisenintervention zeitlich direkt nach einem Traumaereignis ist es kontraindiziert, die Patienten psychodramatisch in den Handlungsraum ihrer Traumaszene wechseln zu lassen. So ließ zum Beispiel Kellermann (2000, S. 29) einen bei einem Bombenattentat traumatisierten Patienten im Spiel auf der Bühne ganz bewusst nicht in den Handlungsraum des Traumaereignisses gehen und dort seine eigene Rolle nachspielen, sondern ihn nur im Erzählraum von dem Traumaereignis berichten und seine Traumaerinnerungen, die von Gruppenmitgliedern nachgespielt wurden, von außen beobachten. Durch die dadurch vollzogene Beziehungsaufnahme seines beobachtenden Ichs mit seinem handelnden Ich in der Traumaszene kam der Patient aus seinem dissoziierten Bewusstseinszustand heraus und gewann wieder Zugang zu seinen Affekten. Bisweilen erreicht die Therapeutin die gleiche therapeutische Wirkung auch dadurch, dass sie den Patienten im Handlungsraum die Rolle eines Mitopfers einnehmen lässt (Karp, 2000, S. 70; Leutz, 2000, S. 194). Auch dadurch nimmt sein beobachtendes Ich im Spiel Beziehung auf zu seinem handelnden Ich. 5.10.8  Die Verarbeitung der Traumaexpositionssitzung Die Therapeutin begleitet den Patienten nach seiner Traumaexpositionssitzung noch mindestens acht Wochen, damit er die neuen Erfahrungen dauerhaft in sein Gedächtnis einprägt und in sein Selbstbild integriert. Es gilt, der Gefahr vorzubeugen, dass er bei erneuten Flashbacks alle positiven Erfahrungen während der Traumaexpositionssitzung wieder infrage stellt. Fallbeispiel 37 (3. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.5, 5.10.6 und 5.10.7): Frau D. erwog eine Woche nach ihrer Traumaexpositionssitzung, die Therapie abzubrechen, weil sie sich »wie im Himmel fühlte und sich dieses Gefühl erhalten wollte«. Umso mehr erschrak sie, als acht Wochen nach der Traumaexposition die nächtlichen Flashbacks wieder auftauchten, ausgelöst durch einen Ausflug mit Freundinnen mit auswärtigen Übernachtungen. Frau D. fühlte sich als Versagerin. Der Therapeut arbeitete zusammen mit ihr heraus: Die Freundinnen hatten sich zwar dafür interessiert, als Frau D. ihnen von ihrer Traumaverarbeitung erzählte, sie hatten dabei aber offensichtlich die

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existenzielle Tiefe der Erfahrung der Patientin nicht wirklich würdigen können. Ihre oberflächliche Reaktion hatte bei der Patientin wieder das Gefühl ausgelöst, anders zu sein als andere, eine Gezeichnete zu sein, und das trotz der Traumaverarbeitung für immer zu bleiben. Die Patientin hatte zu lernen, dass die existenzielle Dimension ihrer Erfahrung sie ganz real zu einer im positiven Sinne besonderen Persönlichkeit machte. Der Therapeut: »Sie dürfen die anderen Menschen nicht überfordern! Ihre Freundinnen haben Ihre Traumaverarbeitung nicht selbst miterlebt wie die Hilfs-Therapeuten und ich. Meiner Erfahrung nach haben aber nur etwa 10–20 % der Menschen aufgrund eines eigenen existenziellen Erlebnisses überhaupt ein Gespür für die im weiteren Sinne spirituelle Dimension einer solchen Erfahrung. Nur diese Menschen können verstehen, worüber Sie reden! Das bedeutet, dass Sie sich manchmal vielleicht entscheiden müssen, eine nahe Bezugsperson für oberflächlich und unwissend zu halten!« Eine Woche nach der Klärung dieser Zusammenhänge berichtete Frau D., dass die Flashbacks verschwunden waren. Auf Anraten des Therapeuten symbolisierte sie ihre erfolgreiche Traumaverarbeitung auch gegenständlich. Sie suchte sich einen kleinen, hübschen Kasten, legte symbolisch die kostbare Erfahrung der Traumaexpositionssitzung dort hinein, band das Kästchen mit einem Wollband zu und stellte es auf ihren Schreibtisch: »Vor der Traumasitzung habe ich mich sehr viel allein gefühlt. Das Gefühl habe ich jetzt eigentlich gar nicht mehr, obwohl ich merke, dass ich einsamer werde« (Fortsetzung siehe Kap. 5.16). Zentraler Gedanke Traumaüberlebende haben ihr ganzes Leben lang die Harry-Potter-Narbe auf der Stirn. Erfolgreiche Traumaverarbeitung ist ein Gewinn und auch eine Last. Sie führt zwar oft zu einer mehr oder weniger starken posttraumatischen Reifung. Wegen der darin verborgenen transpersonalen Wahrheit fühlen sich die Betroffenen aber zeitweise mit einem Teil ihrer Seele fremd in der Welt und befremden auch andere Menschen.

Je länger bei die Traumaerfahrung zeitlich zurückliegt, desto stärker entwickeln die Patienten gegen das Dissoziieren Schutzmechanismen und kompensatorische Reaktionsbildungen. Diese verfestigen sich im Laufe des Lebens. Das geschieht zum Beispiel bei Traumatisierungen in der Kindheit. Bisweilen ist das Abwehrsystem eines Patienten so starr, dass bei einer Traumaverarbeitung Bruchstücke der Traumaerinnerung erst Tage nach der eigentlichen Traumaexposition ins Bewusstsein treten. Es ist dann wichtig, diese in den darauffolgenden Sitzungen als Elemente der Traumaszene zu erkennen und sie angemessen mit der Traumageschichte zu verknüpfen.

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Fallbeispiel 38 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.5): Die Traumaexpositionssitzung des 40-jährigen an einer Dysthymie (F34.1) erkrankten Herrn B. dauerte drei Stunden. Es ging bei seiner Traumaerinnerung um die operative Entfernung eines Auges in seinem fünften Lebensjahr wegen Krebsverdacht, die angeblich ohne Narkose durchgeführt worden war. Drei Tage nach der Traumaverarbeitungssitzung bekam der Patient erstmals Angstzustände, wenn er zu Hause entspannte. Diese schossen plötzlich für jeweils eine Minute »vom Rücken her hoch und schnürten seinen Hals zu«. Bei dem psychodramatischen Nachspielen dieser Angstanfälle bat der Therapeut den Patienten, in seiner Erinnerung nach einem zu der Angst gehörigen Bild zu suchen. Herr B. fand ein szenisches Bild, das trotz der fünfunddreißig Jahre Zeitdifferenz wie der fehlende Stein eines Puzzles exakt zu seiner Erinnerung an den Krankenhausaufenthalt im fünften Lebensjahr passte: Herr B. befindet sich als Fünfjähriger in einem langen Flur in der Kinderklinik. Rechts und links sind die Wände kahl. Der Gang ist mit einem beigen Linoleumfußboden ausgelegt. Der Flur ist dunkel, nur an seinem Ende ist ein helles Fenster zu sehen. Herr B. steht als kleiner Junge im Flur. Er fühlt sich verloren, ausgeliefert und allein. Er weiß nicht, was mit ihm passiert ist und was man mit ihm vielleicht noch vorhat. Während der Traumaexpositionssitzung hatte der Patient schon überlegt, ob ihm die intensive Arbeit überhaupt etwas gebracht hätte, weil bei ihm keine kathartische Reaktion aufgetreten war. Die Verknüpfung der erst danach aufgetretenen Angstzustände mit seiner Traumaerfahrung und ihre Interpretation als Flashback befreite den Patienten jedoch aus seinen Selbstzweifeln. In der folgenden Therapiesitzung berichtete er, dass er angefangen habe, seine völlig verwahrloste Wohnung (»die sah genauso aus wie mein Inneres«) aufzuräumen. Er wirkte erstmals seit Monaten nicht mehr depressiv, sondern lebendig und optimistisch. Empfehlung Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten, die Traumapatientinnen und Traumapatienten behandeln wollen, sollten wenigstens ein einziges Mal selbst eine Traumaexpositionssitzung von Patienten leiten oder bei einer solchen als Hilfs-Therapeutin mitwirken. Denn der spielerische Umgang mit den vier Arbeitsräumen der psychodramatischen Traumaverarbeitung (siehe Abb. 16) erweitert und schult das intuitive Gespür der Therapeutin oder des Therapeuten für die inneren Prozesse von traumatisierten Menschen und macht es dadurch leichter, sich nicht in Gegenübertragungsreaktionen zu verfangen.

5.10.9  Zur Kontraindikation des Rollentausches mit dem Täter Ein Rollentausch mit dem Täter ist für traumatisierte Menschen höchst problematisch und deshalb im Allgemeinen kontraindiziert. Die neunzehn Autoren

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des Buchs »Psychodrama with Traumasurvivors« (Kellermann und Hudgins, 2000) berichten in keiner einzigen ihrer vierzig Falldarstellungen von einem Rollentausch mit einer Täterin oder einem Täter. Dieser ist für eine erfolgreiche Traumatherapie nicht erforderlich und sogar kontraindiziert (Kellermann, 2000, S. 37; Burmeister, 2000, S. 213, Pruckner, 2002, S. 106 f.). Im Gegensatz zu diesem Befund halten viele Autoren (Karp, 2000, S. 70; Leutz, 2000, S. 190, 195 und Burge, 2000, S. 307) den Rollentausch für eine »wichtige Technik« in der Arbeit mit traumatisierten Menschen. Dabei fällt aber auf, dass sie dann als Autorinnen in ihren Fallbeispielen gar nicht den Rollentausch mit dem Täter beschreiben, sondern »nur« den Rollentausch mit einer in dem Traumaereignis anwesenden dritten Person, einem Mitopfer. Auch Burge (2000, S. 307) spekuliert nur kognitiv, wenn er meint, dass ein Protagonist, wenn er im Rollentausch den Sadismus und die Wut eines Täters leiblich-seelisch erlebe, die Gelegenheit habe, den Zugang zu seiner eigenen Wut wiederzugewinnen. Denn er lässt in seinen beiden Falldarstellungen seine traumatisierten Patienten im Spiel ihren »Tätern« noch nicht einmal im psychodramatischen Spiel auch nur begegnen, ein Rollentausch mit dem Täter war also gar nicht möglich, weil kein »Täter« im Spiel anwesend war. Eine andere Autorin, Bannister (2000, S. 103), spricht zwar vom Rollentausch, sie benutzt das Wort »Rollentausch« aber ganz allgemein und undifferenziert für Rollenspiele in der Rolle anderer Menschen, die nicht Täter oder Täterin sind. Roine (2000, S. 95 f.) argumentiert, im Rollentausch mit dem Täter würden traumatisierte Menschen »mit einem geringen Rollenrepertoire […] eine erweiterte Realität erfahren und anschließend besser in der Lage sein, ihr eigenes authentisches Selbst wiederzugewinnen«. Diese Behauptung trifft zwar für Neurotiker zu (siehe Kap. 8.4.1), aber nicht für traumatisierte Menschen. Wenn eine Patientin oder ein Patient ihrem Täter psychodramatisch begegnet, ist das definitionsgemäß immer eine Traumaexposition, führt zu mehr oder weniger starkem Dissoziieren und retraumatisiert potenziell den Patienten. Auch verstehen Traumapatienten die Anweisung, mit dem Täter die Rolle zu tauschen, oft falsch als subtile Botschaft der Therapeutin und glauben, sie sollten lernen, die Motive des Täters besser zu verstehen und diese vielleicht sogar zu akzeptieren (Kellermann, 2000, S. 37). Dadurch verstärken sich aber ihre Autoaggression, ihre Scham und ihre Schuldgefühle. Bei der Begegnung mit dem »Täter« im Spiel beginnen die Patienten gewöhnlich, zu dissoziieren. Durch das Dissoziieren reißt bei ihnen unbemerkt der Faden zwischen ihrem inneren Mentalisieren und ihrer äußeren Spielproduktion auf der Bühne. Sie funktionieren dann vielleicht noch äußerlich, sie befinden sich aber durch die Blockade ihres Mentalisierens im Zustand der Derealisation und erleben nur,

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dass die Therapeutin sich um sie bemüht (siehe Fallbeispiel 5 in Kap. 2.6.2). Sie spalten dabei aber ihren Affekt ab und sind seelisch gar nicht anwesend. Lesemann (1993, S. 83, 95) ist der einzige mir bekannte Autor, der in einer eigenen Falldarstellung beschreibt, wie er in einer langen erfolgreichen Therapie am Ende eine traumatisierte Patientin dazu brachte, im Spiel wirklich mit ihrem Täter die Rollen zu tauschen. Bei dem ersten Versuch lief die Patientin, als sie den Interaktionsraum betreten und das Spiel beginnen sollte, aber einfach aus dem Gruppenraum. Beim zweiten Versuch einige Wochen später war sie dann folgsam. Dies wirkte sich aber, wie sich zeigt, wenn man das Fallbeispiel genau liest, therapeutisch nicht zusätzlich positiv auf die Entwicklung der Patientin aus. Zum Glück hat der Rollentausch mit dem Täter der Patientin auch nicht geschadet! 5.10.10 Die Traumaverarbeitung mithilfe der Tischbühne in der Einzeltherapie In der Einzeltherapie können Psychodramatherapeutinnen oder Psychodramatherapeuten das Konzept der in den Kapiteln 5.10.3 bis 5.10.8 dargestellten Traumaverarbeitung mithilfe von Kotherapeuten auf die Arbeit mit Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne übertragen. Dabei wirkt das therapeutische Handeln der Therapeutin zwar einfach und stimmig, es ist in Wahrheit aber hoch komplex und gelingt nur, wenn die Therapeutin auch hier bewusst die vier Arbeitsräume der psychodramatischen Traumaverarbeitung (siehe Kap. 5.10.2) trennt und zusammen mit dem Patienten zwischen ihnen hin und her wechselt, um die jeweils defizitäre Ich-Funktion zu stärken. Wegen der hohen Komplexität wird diese Arbeit im Folgenden kleinschrittig dargestellt: 1. Die Therapeutin und der Patient gehen zusammen in 10–25 Sitzungen durch die ersten drei Phasen der Traumatherapie, die Phase der traumaspezifischen Diagnostik, der Krisenintervention und der Selbststabilisierung. Dabei entwickelt der Patient auch einen eigenen sicheren Ort. 2. Die Therapeutin plant mit dem Patienten in 1–3 Sitzungen die eigentliche Traumaverarbeitung mit der Tischbühne in allen dazugehörigen Handlungsschritten. Sie informiert ihn über die dabei benutzten voneinander getrennten Handlungsräume und zeigt ihm, wo im Zimmer diese sich befinden werden: der Interaktionsraum der Traumaszene auf dem Tisch, der Erzählraum auf dem Fensterbrett und getrennt davon der Raum für den sicheren Ort im Therapiezimmer. Sie teilt ihm mit, dass er im Allgemeinen am Fensterbrett stehen und von dort aus seine Traumageschichte erzählen wird. Sie selbst werde das, was er erzählt, für ihn stellvertretend auf der Tischbühne mit Steinen und Holzklötzen im Playback-Verfahren symbolisch nachspielen.

Die Traumaverarbeitung

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Empfehlung Bei der Traumaverarbeitung mit der Tischbühne begrenzt die Therapeutin die Inhalte der Traumaverarbeitung in einer Sitzung bewusst auf ein einziges Traumaereignis, um die Gefahr zu verringern, dass der Patient pathologisch regrediert.

Der Patient kann andere Traumata später in anderen Sitzungen verarbeiten. 4. Die Therapeutin und der Patient arbeiten zusammen schon vor der eigentlichen Traumaexpositionssitzung heraus, was bei dem traumatisierenden Ereignis nicht hätte geschehen sollen oder was der Patient stattdessen gebraucht hätte. 5. In der eigentlichen Sitzung der Traumaverarbeitung baut der Patient am Anfang auf der Zimmerbühne seinen »sicheren Ort« auf. 6. Die Therapeutin legt für den Patienten auf das Fensterbrett eine kleine Figur oder einen Stein, der sein beobachtendes Ich und den Patienten als Erzähler seiner Geschichte repräsentiert (Fuhr, 1995, mündliche Mitteilung). Daneben positioniert sie noch einen zweiten Stein: »Das bin ich als Therapeutin. Von hier aus helfe ich Ihnen, Ihre Geschichte zu erzählen und immer wieder auch zu beschreiben, was Sie sehen, wenn ich Ihre Geschichte dann dort auf dem Tisch nachspiele. Versuchen Sie, Ihre Figur auf dem Fensterbrett anzufassen. Blicken Sie von dort aus auf den Stein hier auf dem Tisch, der Ihr Ich in Ihrem Traumaereignis repräsentiert. Wie geht es Ihnen dabei? Halten Sie einmal ein Selbstgespräch in Ihrer Beobachterrolle!« Der Therapeut stellt sich neben den Patienten und fasst sein eigenes »Ich« auf dem Fensterbrett an: »Wenn ich von hier aus auf das Geschehen damals in der Schule blicke, sehe ich den neunjährigen Rolf, der …« 8. Der Patient soll während der Traumaverarbeitung seine Geschichte nicht in der IchForm erzählen, sondern in der 3. Person. Er spricht zusammen mit der Therapeutin also über den »kleinen Rolf, der …«, über »den Mann, der …«, »das Kind, das …«, Patientinnen reden über »das kleine Mädchen« oder »die Frau«, die das und das erlebt hat. Das hilft dem Patienten und der Therapeutin, sich von dem Sog der Traumaerfahrung innerlich zu distanzieren, und schützt vor einer pathologischen Regression. 9. In der Traumaverarbeitungssitzung fasst der Patient seine Figur auf dem Fensterbrett an und berichtet von dort aus kleinschrittig über das Geschehen und das Handeln, Fühlen und Denken des kleinen Jungen während des Traumaereignisses entlang dem roten Faden der Zeit. 10. Dabei repräsentiert die Therapeutin stellvertretend für ihn auf dem Tisch mit Steinen und Holzklötzen sein handelndes Ich, seine Gefühle, die beteiligten Personen und die wichtigen Gegenstände seiner Traumageschichte und spielt den Handlungsablauf des Traumaereignisses mit Empathie und Fantasie nach, ähnlich wie bei dem Spiel mit einer Puppenstube oder dem Szenokasten. 11. Sie arbeitet, implizit doppelnd, mit dem Patienten zusammen wiederholt

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Traumafolgestörungen

heraus, was der kleine Junge auf dem Tisch in der Traumaszene fühlt, denkt und tut. 12. Die Therapeutin unterbricht ihr Spiel auf der Tischbühne immer wieder einmal, geht zum Fensterbrett, fasst dort ihren eigenen Stein im Beobachtungs- und Erzählraum an, blickt mit dem Patienten zusammen Schulter an Schulter auf die Tischbühne und kommentiert das dortige Geschehen aus der Beobachter- und Spiegelposition heraus: »Das ist Gewalt! Dafür gibt es in Schulen heute Programme der Gewaltprävention.« »Das ist gemein und hinterhältig.« 13. Lieber einmal zu viel als zu wenig lässt sie den Patienten an seinen vorher im Therapieraum aufgebauten »sicheren Ort« wechseln und bei Bedarf auch andere Selbststabilisierungstechniken anwenden, um mögliches Dissoziieren aufzulösen. 14. Wenigstens einmal soll der Patient kurz den Ich-Stein für sein »handelndes Ich« in der Traumaszene auf der Tischbühne anfassen und in dieser Rolle ein Selbstgespräch halten. Dabei benennt die Therapeutin mit dem Patienten zusammen seinen zentralen Affekt in seinem Traumaereignis. 15. Sie lässt ihn danach aber gleich wieder an den im Zimmer aufgebauten »sicheren Ort« wechseln, um ein eventuelles Dissoziieren aufzufangen. 16. Anschließend nimmt die Therapeutin den Ich-Stein des Patienten zusammen mit den Steinen der »Täter« von der Tischbühne, legt sie auf einen danebenstehenden Stuhl und kreiert hier die Wunschszene, wie sie vorher geplant worden war. Sie führt dazu neue Symbole für die Helfer bzw. Retter in das Traumaereignis ein und verändert in Absprache mit dem Patienten im Spiel die Traumageschichte hin zu dem geplanten guten Ausgang. 17. Dabei verstärkt die Therapeutin im Spiel auf der Tischbühne die Affekte und korrigierenden Handlungen, ihren eigenen spontanen Impulsen folgend, um etwa 20 %: Als unterstützender Doppelgänger schimpft sie laut, sie lässt den »Täter« sich erschrecken und spielt die vorher geplanten Handlungen, die die Traumaszene verändern sollen, überdeutlich. Immer wieder einmal erkundigt sie sich: »Geht das für Sie? Oder ist es Ihnen zu viel?« 18. Auch für das Spiel in der Wunschszene arbeitet sie mit dem Patienten differenziert heraus, was er als der kleine Junge fühlt und denkt. 19. Es folgt die Nachbesprechung des Spielgeschehens in der Therapiesitzung. 20. Der Patient soll zu Hause die in der Sitzung gespielte Traumageschichte einschließlich der wunschgemäßen Veränderung in seinem Selbsterfahrungs- und Traumbuch aufschreiben (siehe Kap. 5.14). Fallbeispiel 39: Bei einer Patientin, die als Kind von ihrem gewalttätigen Vater oft geschlagen wurde, spielte die Therapeutin stellvertretend für sie mit Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne ein Leidensereignis aus der Schule nach: Das achtjährige Mädchen wird von anderen Schülern gehänselt und geschlagen. Entsprechend der vorher abgesprochenen Veränderung der Traumageschichte führt die Therapeu-

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tin während der Traumaexposition aber zwei Helfer als fiktive Doppelgänger in das Geschehen der Traumaszene mit ein, zwei größere Schüler. Diese schützen das Mädchen, damit das nicht geschieht, was geschehen war, und damit das geschieht, was nicht geschehen war.

Es wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert, zu prüfen, ob und bei welchen Patienten eine Traumaverarbeitung mit der Tischbühne die Traumaverarbeitung mit Hilfs-Therapeuten auf der Zimmerbühne ersetzen kann. Die Arbeit auf der Zimmerbühne ist vermutlich eher anzuwenden bei einer einzelnen schweren Traumaerfahrung. Die Arbeit mit der Tischbühne mag eher indiziert sein bei mehrfach traumatisierten Menschen. Das Prinzip der Trennung zwischen dem »handelndem Ich« und dem »beobachtendem Ich« wird in der Traumatherapie auch in der bekannten Bildschirm- oder Videotechnik (siehe Fallbeispiel 35) verwirklicht. Allerdings wechseln die Patienten dabei nicht in ihre eigene Rolle in den Handlungsraum ihrer Traumaerfahrung hinein (siehe oben 14. Schritt). Auch hier wäre es interessant, die therapeutische Wirksamkeit der Methoden zu vergleichen und eventuelle Unterschiede in den Indikationen der Methoden zu erfassen. 5.10.11  Traumaverarbeitung in der Gruppentherapie In Selbsterfahrungs- oder Therapiegruppen geraten Therapeuten, wenn sie ihre Gruppenteilnehmerinnen oder Gruppenteilnehmer in protagonistzentrierten Spielen Kindheitsszenen spielen lassen, nicht selten unerwartet in eine Traumageschichte des Patienten hinein. Deshalb sollten Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter ihre Gruppenmitglieder schon zu Beginn der Gruppenselbsterfahrung oder Gruppentherapie in einer Sitzung ihren jeweils persönlichen »sicheren Ort« entwickeln lassen. Dazu lässt die Leiterin zunächst einen einzelnen Patienten seinen sicheren Ort protagonistzentriert ausarbeiten. Dann sollen die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach den dabei erlebten Vorgaben jeder zu Hause für sich allein eine Fantasie für ihren sicheren Ort entwickeln. In der darauf folgenden Sitzung werden die Ergebnisse in der Gruppe miteinander besprochen und um fehlende Elemente ergänzt. Wenn später in einem protagonistzentrierten Spiel unvermutet eine traumatisierende Situation auftritt, kann die Therapeutin ähnlich vorgehen wie bei der Traumaverarbeitung in der Einzeltherapie (siehe Kap. 5.10.3–5.10.8 und Abb. 16): 1. Sie unterbricht das Spiel, geht mit dem Patienten in die Beobachterposition zur Spielszene, blickt von dort mit ihm auf die traumatisierende Kindheitsszene und bezeichnet die dortige Interaktion aktiv als »Traumaerfahrung« des Patienten. 2. Sie lässt den Protagonisten auf der Zimmerbühne neben der

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Traumafolgestörungen

Traumaszene zusätzlich seinen in einer früheren Sitzung schon erarbeiteten »sicheren Ort« aufbauen. 3. Noch außerhalb der Spielszene stehend überlegen die Therapeutin und der Patient zusammen, was der Patient in der traumatisierenden Situation damals gebraucht hätte und wie das Spiel der Traumaerinnerung jetzt anders und positiv ausgehen soll. 5. Ein Gruppenteilnehmer übernimmt als Doppelgänger die Rolle des Protagonisten im Interaktionsraum der Traumaszene und spielt an seiner Stelle die vom Patienten im Erzählraum berichtete Traumageschichte zusammen mit den anderen Mitspielern ohne Rollentausch nach. 6. Der Protagonist wechselt wenigstens einmal kurz auch selbst wieder in die Traumaszene. Er tauscht dort aber niemals die Rolle mit dem Täter. 7. Während dieser Arbeit lässt die Therapeutin den Patienten gelegentlich auch an seinen sicheren Ort wechseln, damit er dort ein eventuell eingetretenes Dissoziieren auflöst und so seine Traumaerfahrung wirklich verarbeiten kann. Dieses strukturierte Vorgehen und die Arbeit mit dem sicheren Ort sind wichtig. Denn traumatisierte Menschen sind Weltmeister im »So tun als ob«. Die Therapeutin merkt nur selten, wenn der Patient dissoziiert. Dissoziieren blockiert aber sein Mentalisieren und unterbricht seine Traumaverarbeitung während des psychodramatischen Spiels (siehe Fallbeispiel 5 in Kap. 2.6.2).

5.11 Die Integration der inneren Umstellung in die Beziehungen Menschen mit Traumafolgestörungen haben existenzielle Not erfahren und leiden unter Flashbacks. Sie verstehen sich selbst nicht in ihrer Andersartigkeit und machen deshalb leicht die Interpretationen ihrer Konfliktgegner zu ihren eigenen. So identifizierte sich der Patient des Fallbeispiels 24 nach seinem acht Monate langen Krankenhausaufenthalt im vierten Lebensjahr mit den Erwartungen seiner Mutter und seines Vaters. Bei diesen zählte nur Leistung und Erfolg. Der Patient lernte, seine eigenen Wünsche als Schwäche zu tabuisieren und seine eigenen Gefühle masochistisch selbstverletzend als »falsch« zu entwerten. Das hatte zur Folge, dass er sich auch im Erwachsenenalter noch abmühte, einem perfektionistischen Leistungsideal zu entsprechen. Er konnte seine Erfolge aber nie genießen. So verkaufte er zum Beispiel ohne Not sein geliebtes Ferienhaus, nachdem er es jahrelang mit viel Mühe restauriert hatte. Auch zog er sich bei drohenden Beziehungskonflikten oft in vorauseilendem Gehorsam selbstschädigend zurück, noch bevor er von seinen Konfliktgegnern angegriffen wurde, das auch am Arbeitsplatz. Mehrfach traumatisierte Patienten oder solche mit Beziehungstraumata in

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der Kindheit fühlen sich in Beziehungskonflikten durch ihre hohe emotionale Erregbarkeit schnell bedroht (van der Kolk, Burbridge und Suzuki, 1998, S. 72) und werden in ihr altes inneres »Täter-Opfer«-Interaktionsmuster hineingezogen. Sie erleben zum Beispiel Kritik schon als Schläge. Oder sie projizieren, wenn sie sich angemessen abgrenzen oder durchsetzen wollen, ihre eigene Opferrolle auf ihre Konfliktpartner und interpretieren ihr eigenes Fühlen und Wollen als »böse«, als ob sie selbst ein Täter oder eine Täterin wären. Sie neigen deshalb dazu, Beziehungskonflikten aus dem Weg zu gehen, passen sich den Erwartungen ihres jeweiligen sozialen Umfeldes an und funktionieren gut im Sinne der Erwartungen des Beziehungssystems. Ihre grandiose Leistungsbereitschaft schützt sie am Arbeitsplatz vor Vorwürfen, Schuld- oder Schamgefühlen und mindert ihre Angst, eine Zumutung für die Welt zu sein. Zentraler Gedanke Traumaverarbeitung verbessert aber die Konfliktfähigkeit der Patienten. Sie verstehen sich neu und merken durch ihr verbessertes Selbstwertgefühl, dass sie die Erwartungen anderer immer automatisch erfüllen, dass sie sich ausnutzen lassen und/oder dass sie sich überfordern. Weil die Bezugspersonen die Patienten nur angepasst und pflegeleicht kennen, führt das zu Beziehungskonflikten bei der Arbeit und im privaten Bereich.

Um den therapeutischen Fortschritt nicht wieder zu gefährden, ist es in dieser Therapiephase wichtig, die innere Umstellung der Patienten mit dem psychodramatischen Dialog mit Rollentausch in die Beziehungen der Gegenwart zu integrieren. Reddemann (1999, S. 91) nennt diese Phase der Traumatherapie die Phase der »Trauer und Neuorientierung«. Fallbeispiel 36 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.4): Die 35-jährige Frau F. wurde durch ihre Traumaverarbeitung in ihren Beziehungen konfliktfähiger. Dadurch lernte sie die Menschen in ihrem sozialen Umfeld erst wirklich kennen. Viele ihrer Bezugspersonen waren dankbar, dass sie jetzt ihre Wünsche aussprach und gingen sogar gern darauf ein. So beteiligten sich zum Beispiel auf ihre verschämte Bitte hin die Frauen aus ihrer Frauengruppe bei ihren Treffen erleichtert und voller Freude an der regelmäßig großzügigen Bewirtung in ihrem Haus. Einige Arbeitskolleginnen gingen in Konflikten »nur« pragmatisch sachlich auf ihre Forderungen ein und waren aber zu Kompromisslösungen durchaus bereit. Bei drei Frauen aber erkannte Frau F. erst jetzt, dass diese in Konflikten oft egoistisch, unangemessen und willkürlich ihre Interessen durchsetzten. Frau F. führte für sich allein zu Hause zur Selbstsupervision auch fiktive psychodramatische Dialoge mit ihren Konfliktpartnerinnen mit Rollentausch (siehe Kap. 2.2). Dabei

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Traumafolgestörungen

erkannte sie, dass die hinter dem Handeln der Konfliktpartner stehenden Motivationen unglaublich verschieden sein konnten. Zum Beispiel hatten diese »manchmal nur noch nicht nachgedacht«. Ein anderes Mal war »die Distanzierung des anderen Selbstschutz gewesen«. Neu war auch, dass Frau F. dabei im Rollentausch sich selbst mit den Augen ihrer Konfliktpartner sah und merkte, dass sie ihre eigenen Wünsche oft sehr unklar ausdrückte: »Die anderen verstehen dann gar nicht, was ich eigentlich will.«

Die innere Umstellung der Patienten ist auch in die inneren Beziehungsbilder zu Bezugspersonen aus der Vergangenheit zu integrieren. Denn bei der inneren Konfliktverarbeitung des Menschen in der Gegenwart besteht bei Fixierungen oder Blockaden des Mentalisierens die Tendenz, das dynamische Gleichgewicht in den Beziehungsbildern der Gegenwart dem der alten Beziehungsbilder aus der Vergangenheit anzugleichen. Die innere Umstellung des Patienten wird dadurch von alten Beziehungsdynamiken gleichsam immer wieder aufgefressen und geht verloren (Dieckmann, 1991). Zum Beispiel verändert ein inneres Täter-Opfer-Schema aus der Kindheit leicht auch die inneren Beziehungsbilder der Gegenwart im Sinne dieses Täter-Opfer-Schemas. Die Therapeutin kann die Integration der neuen Selbstentwicklung des Patienten in seine inneren Beziehungsbilder der Vergangenheit ebenfalls mit dem fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch erleichtern. Der Patient schreibt zunächst als Vorbereitung dazu einen fiktiven Brief an die Bezugsperson aus seiner Vergangenheit (siehe Fallbeispiel 48 in Kap. 6.6). Bei einer solchen Arbeit soll der Patient sich nicht direkt mit der Täterin oder dem Täter auseinandersetzen, sondern nur mit anderen Bezugspersonen seiner Kindheit, zum Beispiel mit einer Schwester oder einem Bruder, die oder der auch mit in der Familie war. Erst anschließend teilt der Patient als der Erwachsene, der er jetzt ist, auch im psychodramatischen Dialog dieser Bezugsperson mit, wie er das, was er als Kind erlebt hat, jetzt neu versteht, und spricht über die alte Realität hinaus alles das aus, was er schon immer einmal sagen wollte, bzw. er fragt, was er schon immer einmal fragen wollte. Zentraler Gedanke Im psychodramatischen Dialog mit einer Bezugsperson aus der Kindheit differenziert der Patient im Rollentausch auch die innere Objektrepräsentanz der früheren Bezugsperson und erweitert diese. Zum Beispiel kann es geschehen, dass er im Rollentausch in der Rolle seiner Schwester merkt, dass diese von seiner neuen Wahrheit nichts wissen will, um sich selbst vor einem seelischen Zusammenbruch zu schützen. Diese Erfahrung hilft ihm, anschließend in der realen gegenwärtigen Beziehung der Schwester gegenüber vorsichtig zu sein.

Sekundäre Traumatisierung und die Befriedung eines pathologischen Introjekts

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Oft motiviert eine solche fiktive psychodramatische Beziehungsaufnahme den Patienten, mit seiner Tante oder seiner Schwester auch real wieder Kontakt aufzunehmen, mit ihr über seine Erfahrungen in der Kindheit zu sprechen und nach Familiengeheimnissen zu forschen. Nicht selten bekommt der Patient dabei von der Bezugsperson der Kindheit jetzt nachträglich doch noch Mitgefühl und erhält neue Informationen, die sein Selbstbild in der Kindheit und seine innere Objektrepräsentanz der Täterin oder des Täters erweitern, seine eigene Position dem Täter gegenüber stärken und so seine innere Ablösung erleichtern.

5.12  Sekundäre Traumatisierung Bei lang dauernden komplexen Beziehungstraumata in der Kindheit bewältigen die Patienten Konflikte eher durch Internalisierung als durch Dissoziation (Hirsch, 2004, S. 1 f.). Bei diesen Patienten »persistiert ein traumatisches Introjekt, das wie ein feindliches, archaisches Über-Ich sein Unwesen treibt (Symptome und pathologisches Verhalten verursacht)«. Fallbeispiel 40: Frau G. kam durch ihre guten therapeutischen Fortschritte in ihrer Traumatherapie in ein Dilemma: Ihre nächtlichen psychosomatischen Beschwerden, Ängste und Schlafstörungen verstärkten sich, wenn sie sich von Beziehungspartnern wieder wie früher hatte unangemessen einengen lassen. Fatalerweise reagierte die Patientin aber andererseits genauso mit einer Verstärkung ihrer Symptome, wenn sie sich tagsüber jetzt neu angemessen durchsetzte und versuchte, ihre Beziehungen gerechter zu gestalten. Der Therapeut und die Patientin erkannten zusammen, dass die Ursache dafür die Existenz eines inneren persistierenden pathologischen Vaterintrojekts war. Der im Krieg als Soldat traumatisierte Vater hatte in den Familienbeziehungen Nähe nicht zulassen können, die Beziehungen in der Familie aber autoritär bestimmt. Er hatte durch sein distanzierendes Selbstschutzverhalten und seine Konfliktunfähigkeit immer wieder archaisch bedrohlich gewirkt, auch wenn er nie real körperlich gewalttätig geworden war. Dieses pathologische Täterintrojekt behinderte als inneres feindliches archaisches Über-Ich die seelische Weiterentwicklung der Patientin. Um sich von dem pathologischen Introjekt ihres Vaters zu befreien, erkundete Frau G. völlig neu die Vorgeschichte ihrer Eltern, insbesondere die ihres im Zweiten Weltkrieg kriegstraumatisierten Vaters, und deckte dabei Familiengeheimnisse auf. Anschließend suchte sie zusammen mit dem Therapeuten, wie sie in ihrem inneren Beziehungsbild ihrem bedrohlichen Vater gegenüber handlungsfähig werden könnte. Der Therapeut: »Wichtig ist, dass der Vater Ihnen ein Lebensrecht zugesteht. Er kann

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als Vater nicht wollen, dass Sie als seine Tochter kaputt gehen! Wichtig ist aber auch, dass Sie umgekehrt Ihrem inneren Vater ein Lebensrecht zugestehen. Vielleicht müssen Sie dabei auch transpersonale Elemente zu Hilfe nehmen, die mächtiger sind als Ihr Vater.« Frau G. erfand das folgende Vorgehen: Sie gab ihrem traumatisierten inneren »Vater« die Verantwortung für sein Leiden zurück. Dann kreierte sie für den naturliebenden »Vater« eine Art sicheren Ort am Meer, wo er Ruhe findet und das bekommt, was er braucht: »Dort steht für ihn eine Hütte. Nicht weit entfernt zu der Hütte lebt eine alte weise Frau in ihrem Haus, eine Heilerin, zu der der Vater gehen kann, wenn er das braucht. Der Vater darf aber meine Welt nicht betreten, er soll sich an seinem sicheren Ort selbst ein Zuhause einrichten.« Drei Tage nach dieser Arbeit konnte die Patientin erstmals seit Langem wieder nachts durchschlafen. Sie schrieb einen fiktiven Brief an ihren schon lange verstorbenen Vater, in dem sie ihm den beschriebenen sicheren Ort am Meer »schenkte« und ihm ankündigte, einen Stein, der sein Leiden symbolisieren soll, ihm zurückgeben zu wollen. Vierzehn Tage später erkannte die Patientin mit Hilfe eines nächtlichen Traums: »Es gibt inzwischen zwei Wege, wie ich mich mit meinem Vater fühle, einen Vater, der bedrohlich ist, aber auch einen anderen, wo er Mensch ist und eine eigene Lebens- und Leidensgeschichte hat!« Die Patientin schlief in den nächsten Wochen einmal gut, dann wieder schlecht: »Ich werde nachts manchmal von Angst überflutet und muss mich wieder herauskämpfen! Es macht mich aber wütend, dass ich so leide! Das hilft mir. Ich schicke meinen Vater dann weg oder bringe den bedrohlichen Teil um und schlage mit einem Aktenordner auf den Stuhl. Dadurch komme ich aus dem Traumafilm heraus. Ich finde, mein inneres Vaterbild ist ein von mir in der Kindheit selbst gemachtes Gespenst.« Die Patientin ging auch real zum Grab des Vaters, wo sie nach seiner Beerdigung nie mehr gewesen war, und legte ihm, wie angekündigt, den Leidensstein auf sein Grab. Ein halbes Jahr nach dieser intensiven Arbeit konnte sie im Allgemeinen gut schlafen. Gelegentlich aber musste sie sich, wenn wieder nächtliche Angstzustände auftraten, eine neue kleine Erlebnisepisode für ihren »Vater« an seinem sicheren Ort am Meer ausdenken, um ihn dort wieder einzuwurzeln und sich so von »ihm« zu befreien. Zentraler Gedanke Menschen mit Beziehungstraumata in der Kindheit sind, wenn ein Elternteil an einer Traumafolgestörung gelitten hat, oft durch Mitleid an diesen Elternteil gebunden. Sie können sich dann schwerer als andere Menschen innerlich von ihren Eltern ablösen. Ein solches Mitleid ist zwar eine große menschliche Fähigkeit, die therapeutisch zu würdigen ist. Wichtig ist aber, dass die Patienten die in ihrer Kindheit durch Empathie in ihre eigene Seele aufgenommenen »Gespenster« ihrer traumatisierten Eltern, die sie fälschlich als ihre eigenen

Sekundäre Traumatisierung und die Befriedung eines pathologischen Introjekts

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erleben, an diese zurückgeben. Denn pathologische Introjekte blockieren die Aktualisierungstendenz des Selbst der Patienten. Dazu müssen sie eine Lösung kreieren, die die traumatisierte Elternfigur befriedet.

Eine andere sekundär traumatisierte Patientin fand zur Befriedung ihres pathologischen Introjekts eine ähnliche Lösung wie die Patientin des Fallbeispiels 41. Sie hatte in ihrer Gruppentherapie eine Erinnerung aus der Kindheit nachgespielt: Sie steht als Kind nachts im Dunkeln mit ihrem Teddybär im Arm voller Angst vor der Tür zum Elternschlafzimmer, sie hört ihren ebenfalls kriegstraumatisierten Vater schreien und die Mutter ihn beruhigen. In dieser Situation der Ohnmacht und Angst erdachte die Patientin für sich die folgende Lösung: Sie wollte sich real einen Teddybären kaufen, diesen bei sich zu Hause mehrere Monate an ihrem Leben teilhaben lassen und ihn dann zusammen mit ihrer Freundin heimlich nachts im Grab des Vaters begraben: »Er braucht etwas von mir, um meine Liebe zu spüren, aber das muss nicht ich selbst sein! Ich kann und will das nicht mehr!« Eine dritte Patientin schrieb in ihrem Bewältigungsmärchen (siehe Kap. 5.14) zur Überraschung des Therapeuten zunächst eine Bewältigungsfantasie für ihre Mutter: Die Mutter heiratet in dieser fiktiven Geschichte in ihrem jungen Erwachsenenalter ihre Jungendliebe und wird glücklich: »Ich musste es erst ihr gut gehen lassen, vorher konnte ich den Weg zu meinen eigenen Wunschfantasien nicht finden.« Eine Befriedung des pathologischen Introjekts ist therapeutisch nicht in einer einzigen Sitzung zu erreichen. Eine Patientin braucht manchmal Wochen und Monate, bis eine solche neue Lösung sich in die Strukturen ihres Selbst integriert hat. Auch wenn eine nahe Bezugsperson erst im Erwachsenenalter eine Traumafolgestörung entwickelt, zum Beispiel ein Soldat nach Kriegseinsätzen, kann eine Patientin oder ein Patient in der Interaktion mit diesem kranken Menschen eine sekundäre Traumatisierung entwickeln. Ähnlich wie bei einem KoAbhängigen (siehe Kap. 10.13) tritt dann bei dem Patienten eine Ich-Spaltung ein zwischen einem liebenden Ich-Zustand und einem resignierten, latent hassenden Ich-Zustand. Diese beiden konträren Ich-Zustände wechseln einander zeitversetzt ab, weil der Konflikt zwischen Bindung und Selbstbewahrung bzw. Autonomie nicht gelöst werden kann. Therapeutisch hilfreich ist es, wenn der Patient dann im fiktiven psychodramatischen Dialog mit der inneren Objektrepräsentanz seines traumatisierten Konfliktpartners seine Selbstrepräsentanz mit zwei Stühlen repräsentiert, mit einem für den liebenden und einem Stuhl für den hassenden Ich-Zustand. Er kann dann diese beiden konträren Ich-Zuständen durch psychodramatischen Dialog und Rollentausch interagieren und miteinander eine Beziehung entwickeln lassen, die ihm dann hilft, herauszu-

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Traumafolgestörungen

finden, wie er sich der Bezugsperson gegenüber verhalten will, und dabei doch auch seinen beiden widersprüchlichen Seiten gerecht zu werden. Fallbeispiel 41: Eine 35-jährige, in ihrer Kindheit traumatisierte Patientin hatte sich nach jahrelangem vergeblichen Mühen innerhalb einer Therapie entschieden, sich von ihrem ebenfalls in der Kindheit traumatisierten, in Konfliktsituationen absolut autoritären und entwertenden Lebenspartner zu trennen. Aus Angst vor ihm verließ sie die Wohnung heimlich, zog zu Freunden, litt dort aber unter massiven Schlafstörungen: »Ich grübele und werfe mir vor, vielleicht doch nicht alles versucht zu haben.« Der Therapeut stellte für sie zwei Stühle auf, einen für »die liebende Christa« und einen für die »resignierte Christa« und ließ sie zwischen diesen psychodramatisch einen Dialog führen. Er selbst spielte dabei jeweils die Gegenrolle. Die Patientin warf aus der Rolle ihres »liebenden Ichs« heraus der »Resignierten« blind vor, versagt zu haben, das allein deshalb, weil die Beziehung nicht gelungen war: »Du hättest dich anpassen sollen und dich mit dem zufriedengeben sollen, was er geben kann!« Der Therapeut erlebte als Hilfs-Ich in dieser Rolle »einen Sog zu dem Partner hin wie bei einer Sucht«. In der Rolle der »Resignierten« verteidigte die Patientin sich gegen ihr eigenes sehnsüchtiges, selbstverletzendes Fühlen: Sie hatte dem Partner ungewöhnlich viele Chancen gegeben. Zum Beispiel hatte sie ein Jahr zuvor ihn in einem »roten Brief« gebeten, mit ihr zusammen zu üben, über Probleme zu reden. Der Partner hatte ihr als Antwort darauf aber nur ichbezogenes Verhalten vorgeworfen. Niemals hatte er sein eigenes Verhalten infrage gestellt, sich entschuldigt oder sich eventuell sogar selbst psychotherapeutisch beraten lassen. Die Patientin begründete ihrem eigenen »liebenden Ich« gegenüber die Trennung von dem Partner zunächst nur mit Argumenten der Wellness: »Ich halte das nicht aus«, »Ich bin doch auch wichtig« und ähnlichen Argumenten. Der Therapeut, der in der Identifikation mit Selbstorganisation der Patientin in ihrem Konflikt ihre innere Not spürte, stellte klar: »Es geht bei ihnen nicht nur um Wohlfühlargumente, sondern um eine existenzielle Not!« Da erst erinnerte sich die Patientin, dass ihr der Gedanke an die Trennung erstmals gekommen war, nachdem sie nach einem entwürdigenden Streit mit dem Partner auf einem Bahnhof ernsthaft überlegt hatte, vor den nächsten Zug auf die Gleise zu springen. Das Verhalten des Partners war durch seine Projektionen auf sie »oft grausam gewesen«, zumal er wusste, dass er damit bei ihr alte Ängste aus ihrer eigenen Kindheit wieder aktualisierte. Der Therapeut bekräftigte der Patientin gegenüber, dass sie »nach der Charta der Vereinten Nationen für Menschenrechte das Recht auf eigene Unversehrtheit, auf die eigene Würde als Mensch und auf das eigene Leben« habe: »Das sind absolute Gründe, die man nicht relativieren kann und über die man anders als bei Argumenten der Wellness nicht diskutieren muss. Darüber brauchen Sie und dürfen Sie nicht hinweggehen! Wenn Sie durch

Das natürliche Selbstheilungssystem des Menschen

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Selbsttötung enden würden, wäre auch die liebende, masochistische Christa tot!« Am Ende der Sitzung gab die Patientin sich aus Rolle der »liebenden, resignierten Christa« die Erlaubnis zur Trennung: »Der Preis ist sonst zu hoch.«

5.13  Das natürliche Selbstheilungssystem des Menschen Zentraler Gedanke Hartmann (1996) hat anhand langer nächtlicher Traumserien nachgewiesen, dass es in der Traumarbeit von gesunden Menschen, die ein akutes Trauma erlitten hatten, offenbar ein natürliches, unbewusst arbeitendes Selbstheilungssystem gibt, das ihnen hilft, ein psychisches Trauma autonom zu verarbeiten. Tatsächlich entwickelt nicht jeder Mensch nach einem potenziell traumatisierenden Ereignis eine posttraumatische Belastungsstörung.

Hartmann berichtet, dass diesen Menschen das traumatische Ereignis in den Traumbildern zuerst zwar so erscheint, wie es war. In einem zweiten Schritt verschiebt die Traumarbeit von Gesunden dann aber den Affekt, zum Beispiel die Panik, in andere Bilder mit emotional verwandtem Material. Das können Dinge sein, die in ihrer Kindheit anderen passiert sind, Brüdern, Schwestern oder auch Freundinnen oder Tieren, vielleicht auch Menschen in Geschichten aus Bilderbüchern. Eine Frau, die vergewaltigt worden war, träumte in den folgenden Wochen zum Beispiel: »Ich ging die Straße entlang mit einer Freundin und ihrer vierjährigen Tochter. Eine männliche Jugendbande in schwarzem Leder fing an, das Kind anzugreifen. Meine Freundin lief weg. Ich versuchte, das Kind zu befreien, aber ich merkte, dass mir meine Kleider heruntergerissen wurden. Ich erwachte voller Entsetzen« (Hartmann, 1996, S. 3). In diesem Traum wird die real vergewaltigte Frau durch den Wechsel in eine Helferrolle in einer Situation, die ihrer eigenen Traumaszene analog ist, zum Teil wieder handlungsfähig und versucht, mit dem Kind als Stellvertreter gleichsam sich selbst zu retten. In einem nächsten Schritt verschiebt die Traumarbeit den traumatischen Affekt oft in ein das Traumaereignis symbolisierendes Bild, zum Beispiel überfluten bei einer Sturmflut ungeheure, sturmgepeitschte Wellen den Patienten. Oder nach dem seelischen Zusammenbruch durch eine schwere Mobbingsituation bricht im Traum über der Betroffenen das Haus zusammen und begräbt sie. Oft werde auch klar, dass nicht der Patient an allem schuld ist. Bei der nächtlichen Verarbeitung des Traumas stelle die dominante Emotion des Träumers zwischen dem verschiedenen Gedächtnismaterial Verbindungen her, sie werde dadurch allmählich weniger intensiv und verändere ihren Charakter.

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Traumafolgestörungen

Bei gesunden Menschen spielt nach Hartmann (1996, S. 5) in den nächtlichen Träumen nach einigen Wochen oder Monaten das Trauma eine »immer […] kleinere Rolle und die Träume kehren zurück zu dem vortraumatischen Stand«. Dabei nutze die nächtliche Traumarbeit bei gesunden Menschen Techniken, wie sie eine gute Traumatherapeutin in der Traumatherapie anwendet. Sie löst, psychodramatisch gedacht, durch Perspektivwechsel den Affekt des Patienten auf, der sein Mentalisieren blockiert, und lässt ihn so in seinen inneren Bildern wieder handlungsfähig werden. Die Traumarbeit ähnelt dabei der Arbeit der Psychodramatechniken (Krüger, 1978). Der Betroffene geht im Traum zum Beispiel in die Beobachterposition zu seinem eigenen handelnden Ich in der Traumaerfahrung und sieht sich wie im Spiegel von außen, so oben in dem Fallbeispiel der vergewaltigten Frau von Hartmann. Er wechselt in die Rolle eines Mitopfers oder er verarbeitet die Emotion durch Szenenwechsel in andere analoge Bilder. Diese Perspektivwechsel scheinen wichtig zu sein, damit die zur Traumaszene zugehörigen Affekte »verträumt« werden, ihre hohen Energiepotenziale sich in die verschiedenen Hirnregionen verteilen und das im traumatischen Affekt erstarrte Mentalisieren wieder in Gang kommt. Die Arbeit des natürlichen inneren Selbstheilungssystems ist abhängig von einer gut ausgebildeten Fähigkeit zum Mentalisieren. Viele religiöse und gesellschaftliche Rituale haben die Funktion, bei Menschen in Krisen ihr natürliches inneres Selbstheilungssystem und so ihr Mentalisieren und ihre Konfliktverarbeitung zu aktivieren. Diese betten die eventuell bei Beerdigungen, bei Hochzeiten oder bei der Taufe von Kindern auftretenden Ängste in den haltgebenden größeren Rahmen der Religion und der menschlichen Gemeinschaft ein. Auch die Verarbeitung von Traumata durch die künstlerische Entwicklung von Narrationen und Mythen in der Literatur, durch Musik oder das Malen von Bildern belebt das innere natürliche Selbstheilungssystem. Mario Vargas Llosa, der 2010 als spanisch-peruanischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhielt, hat einmal auf die Frage »Wurde Schreiben zur Rettung für Sie?« geantwortet: »Beim Schreiben konnte ich mich meinem Leben stellen, allen Enttäuschungen, dem Scheitern. Ich denke, für einen Künstler ist das wunderbar: Du kannst alles, was schiefgeht in deinem Leben, benutzen und in Fiktion verwandeln. Das ist eine große Befreiung« (Die Zeit, Beilage, Oktober 2011). Auch die Anonymen Alkoholiker aktivieren in ihren zwölf Schritten implizit das unbewusste natürliche Selbstheilungssystem (Krüger, 2004b, S. 184 f.). Am Anfang postulieren sie zunächst die Existenz eines Heilungssystems, sie benennen dieses mit dem in der Gesellschaft bekannten Begriff »Gott«. In vier weiteren der zwölf Schritte sollen die Betroffenen sich mit »Gott«, also ihrem inneren, bisher defizitären Selbstheilungssystem, in Beziehung setzen, ihm gegenüber ihre Ver-

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fehlungen bekennen und ihn um Hilfe bei ihrer Heilung bitten. Am Ende aber bitten sie im 11. Schritt »Gott«, dass er sie befähigt, dass sie selbst an sich das tun können, was er, »Gott«, bis dahin für sie gemacht hat. Sie bitten ihn, selbst die Verantwortung für ihre Heilung übernehmen zu können. Aus dem Blickwinkel von Selbstverlust, Selbstermächtigung und Selbstheilung sind die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker für Betroffene eine geniale Möglichkeit, ein nicht entwickeltes natürliches Selbstheilungssystem in die Seele einzupflanzen oder/ und dieses wachsen zu lassen (siehe Kap. 10.7).

5.14 Die therapeutische Nachentwicklung des natürlichen Selbstheilungssystems Bei Patienten mit Traumafolgestörungen arbeiten die Funktionen des natürlichen Selbstheilungssystems und die Funktionen des halb bewussten, halb unbewussten Mentalisierens zumindest zeitweise dysfunktional oder defizitär, weil sie anders als bei gesunden Menschen zu stark geschädigt wurden oder eventuell auch schon in der Kindheit zu gering ausgebildet worden waren (siehe Abb. 17). Sáfrán und Csáky-Pallavicini (2013, S. 271) haben ausgeführt, dass »der hoch komplexe Prozess des Mentalisierens nicht aktiv sein kann, wenn das Bindungssystem alarmiert ist«, was beim Erinnern an ein unverarbeitetes Trauma oder bei einem Flashback immer der Fall ist: »Aus Erkenntnissen der Bindungsforschung weiß man, dass in gefühlsmäßig schwer belastenden […] Situationen das Bindungssystem […] gestresst wird.« Dieses ist gleichsam ein neurophysiologisch angelegtes »Warnsystem: Wenn die Beziehung durch etwas gefährdet ist, wird es aktiviert.« Das führt zum Beispiel »beim Kind zu Bindungsverhalten, es weint, schreit laut« oder klammert sich an die Mutter an. Neuropsychologische Untersuchungen zeigen, dass die Aktivierung des Bindungssystems im Gehirn andere Prozesse blockiert.

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Abbildung 17: Die Entwicklung des Mentalisierens und des natürlichen Selbstheilungssystem durch Traumatherapie

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Traumafolgestörungen

Zentraler Gedanke In der Traumatherapie lässt die Therapeutin den Patienten immer wieder neu zwischen seiner Traumaerinnerung einerseits und andererseits Aktivitäten, die seine Selbstheilung anregen, hin und her wechseln. Die haltgebende therapeutische Beziehung und die Techniken der Traumatherapie sind gleichsam ein Gefäß, in dem das zu gering entwickelte natürliche Selbstheilungssystem von Patienten mit Traumafolgestörungen und ihre Fähigkeit zum Mentalisieren sich nachentwickeln können (siehe Abb. 17).

1. Die Therapeutin mentalisiert als Doppelgängerin bzw. Hilfs-Ich stellvertretend für den Patienten sein Denken und Fühlen (siehe Kap. 5.15). 2. Sie konstruiert mit ihm seinen sicheren Ort und lässt ihn diesen bei Bedarf zur Selbststabilisierung nutzen (siehe Kap. 5.10.5). 3. Bei der Traumaverarbeitung trennt sie die vier diffundierenden, fragmentiert arbeitenden inneren Arbeitsräume des Patienten voneinander, lässt ihn zwischen diesen Arbeitsräumen hin und her wechseln und fördert als Doppelgängerin seine Arbeit in jeweils dem inneren Raum, der bei ihm gerade defizitär ist (siehe Kap. 5.10.2). 4. Sie sucht mit dem Patienten zusammen bei der Traumaverarbeitung nach fiktiven hilfreichen Doppelgängerinnen und Doppelgängern, die ihn bei Flashbacks in seiner inneren Vorstellung unterstützen und retten können, und anderes mehr. Das traumatherapeutische Grundprinzip des Wechselns zwischen Traumaerinnerung und Selbstheilung wird auch bei der Methode des Bewältigungsmärchens, bei der Imaginary Rehearsal Therapy (Krakow, 2007) und bei dem Entwickeln positiver Gegenbilder nach Reddemann (1999, S. 90) angewandt. Das Schreiben von Bewältigungsmärchen (Krüger, 2013, Sáfrán und CzákyPallavicini, 2013) ähnelt in seinem praktischen Vorgehen der Traumaverarbeitung mit der Tischbühne (siehe Kap. 5.10.10). Das Ziel ist, dass der Patient eine Märchengeschichte entwickelt, in der er für eine Traumaerfahrung einen guten Ausgang erfindet, und dass er diese Narration schriftlich festhält. Ein Bewältigungsmärchen hat drei verschiedene Abschnitte, die Beschreibung eines Leidensereignisses, die märchenhafte Umwandlung des Leidensweges hin zur Verwirklichung dessen, was der Patient stattdessen gebraucht hätte, und die Erfüllung seiner Sehnsucht. Die Wunscherfüllung soll in konkreten Interaktionssequenzen zum Ausdruck kommen. In der praktischen Arbeit geht die Therapeutin folgendermaßen vor: 1. Sie empfiehlt dem Patienten, für ein traumatisierendes Ereignis seines Lebens ein Bewältigungsmärchen zu schreiben. 2. Sie erklärt ihm das Konzept, indem sie auf der Tischbühne die drei Abschnitte des Märchens mit je einem Stein markiert: das Leidensereignis, die märchenhafte Umwandlung und die Erfüllung seiner Sehnsucht. 3. Sie legt zusätzlich

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für das Ich des Patienten einen Stein auf den Tisch und fordert ihn auf, hier im Gespräch und auch zu Hause beim Schreiben des Märchens immer in der 3. Person zu reden und zu sprechen, also über »den kleinen Manfred, der …« oder »das kleine Mädchen Renate, das …« (siehe Fallbeispiel 32). 4. Die Therapeutin und der Patient legen zusammen das Traumaereignis fest. 5. Sie arbeiten den Gegensatz heraus zwischen dem eigentlichen Leidensgefühl während der Traumaerfahrung und der Erfüllung der eigentlichen Sehnsucht: »Was war das schlimmste Gefühl? Was hätten Sie stattdessen gebraucht?« 6. Während der gemeinsamen Entwicklung des Märchens konkretisiert die Therapeutin wie bei der Traumaverarbeitung im Kapitel 5.10.10 auf der Tischbühne mit Steinen und Holzklötzen alle im Märchen beteiligten Personen, das Ich des Patienten, seine Gefühle, wichtige Gegenstände und anderes und spielt gemeinsam mit ihm und in ständiger Abstimmung die Handlungsabläufe in seiner Geschichte wie bei dem Spiel mit einer Puppenstube. 7. Je schwerer die Erkrankung des Patienten ist, desto wichtiger ist es, dass der Patient sich zuerst die Heilungs- und Bewältigungsfantasie ausdenkt (Sáfrán und Czáky-Pallavicini, 2013, S. 276). 8. Die Therapeutin achtet darauf, dass der Patient sich in seiner Leidensgeschichte nicht verliert und stoppt ihn bei Bedarf: »Halt, lassen Sie uns bitte nur das eine Leidensereignis anschauen. Sonst wird mir das zu viel.« 9. Der zweite Teil des Bewältigungsmärchens, der Teil der märchenhaften Umwandlung, wird meistens erst zuletzt entwickelt. Die Selbstrepräsentanz des Patienten im Märchen soll aber nicht passiv auf die Wunscherfüllung warten, der kleine Junge soll vorher die »gute Fee« oder andere Helfer oder Retter wenigstens durch ein kleines Zeichen auf sich aufmerksam gemacht haben, zum Beispiel dadurch, dass er weint. In irgendeiner Weise muss er sich als hilfsbedürftig zu erkennen geben. Der Patient erfährt dadurch symbolisch, dass andere Menschen erst hilfreich auf ihn reagieren können, wenn er nicht mehr so tut, als ob nichts wäre, sondern sein Selbstschutzverhalten ablegt und zum Beispiel seine Gefühle zeigt. 10. Das Vollenden eines Märchens erfordert manchmal mehrere Wochen. Der Patient schreibt den Märchentext zu Hause schrittweise auf. 11. Das fertiggestellte Bewältigungsmärchen dient dem Patienten auf seinem weiteren Lebensweg bei Entscheidungen als Modell, um sich in Konflikten zu orientieren und sich daran zu erinnern, was er in seinem Leben »schon genug gehabt hat, was er deshalb nicht noch einmal braucht« und was er aber stattdessen eigentlich brauchen würde. 12. Am Ende sollen die Therapeutin und der Patient mit den Inhalten der Geschichte einverstanden sein. Fallbeispiel 32 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 5.9): Für einen 40-jährigen Patienten mit Gewalterfahrungen in der Kindheit bestand gegen Ende seiner Therapie in sei-

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nem Bewältigungsmärchen die Erfüllung seiner Sehnsucht zunächst darin, dass er mit 19 Jahren ganz so, wie es in seinem realen Leben gewesen war, aus seinem gewalttätigen Elternhaus auszog. Der Therapeut intervenierte: »Das ist aber keine Wunscherfüllung im Sinne eines Märchens!« Erst die gemeinsame Arbeit ermutigte den Patienten, für das Märchen eine andere Lösung zu finden: Die Lehrerin seiner Grundschulklasse machte in seiner Fantasiegeschichte einen Hausbesuch in seiner Familie und benachrichtigte daraufhin das Jugendamt. Das Jugendamt brachte den Patienten zusammen mit seiner Schwester in einer netten Pflegefamilie unter. Der Patient war von dieser selbst ausgedachten Erfüllung seiner eigentlichen Sehnsucht völlig überwältigt und meinte in der folgenden Therapiestunde: »Ich habe für mich ganz neu gemerkt, dass ich gar nicht wusste, was der Als-ob-Modus ist. Jetzt weiß ich erst, was die Menschen meinen, wenn sie davon sprechen, dass sie sich etwas wünschen!«

Durch das Entwickeln eines Bewältigungsmärchens schreibt der Patient seine innere Realität um. Er gewinnt Zugang zu seinem Kern-Selbst-Empfinden (Stern, 1992, S. 106) und zur Aktualisierungstendenz seines Selbst. Das führt manchmal unmittelbar zur Änderung seines äußeren Verhaltens. Zum Beispiel verwandelte ein Patient in seinem Bewältigungsmärchen seine gewalttätigen Eltern in Raben. In der nächsten Gruppensitzung berichtete er, dass er in seinem Alltag plötzlich »griffiger« geworden sei: »Früher habe ich immer überlegt, bevor ich etwas gesagt habe. Jetzt merke ich, dass ich auf andere einfach spontan reagiere, ohne vorher nachzudenken. Das kenne ich gar nicht von mir.« Das Schreiben eines Bewältigungsmärchens hilft dem Patienten, sich selbst besser zu verstehen und Selbstempathie zu entwickeln. Die Patientinnen und Patienten gestehen sich in der Bewältigungsfantasie die Berechtigung zu, zu fühlen, was sie fühlen: Wenn das Kind traurig ist, darf es weinen und wird getröstet. Wenn es Angst hat, wird es in den Arm genommen und erfährt Geborgenheit und Sicherheit. Wenn es einer chronisch bedrohlichen Gewaltsituation oder einer entwürdigenden Situation ausgesetzt ist, tritt eine gute Mutter in die bedrohliche Situation aktiv mit ein und kämpft für das Kind gegen den Gewalttäter. Oder sie rettet sich zusammen mit dem Kind aus der Gewaltsituation heraus an einen sicheren Ort. Die Therapeutin ist für den Patienten Hilfs-Ich bei der Entwicklung des Märchens, je weniger Zugang er zu seinen eigenen Wünschen hat, umso mehr. Diagnostisch wird eine noch mangelhafte Traumaverarbeitung unter anderem daran deutlich, dass der Patient beim Schreiben seines Märchens von der Erfüllung der klar strukturierten Aufgaben abweicht. Zum Beispiel schieben manche Patienten das Schreiben ihres Märchens lange auf oder vergessen es ganz. Andere lassen einen Teil des Märchens einfach weg. So hatte ein 50-jähriger

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Sozialarbeiter mehr als ein Jahr lang zwar ein Bewältigungsmärchen schreiben wollen, war aber immer wieder »nicht dazu gekommen«. Als er es dann kurz vor Therapieende mitbrachte, war die Therapeutin sehr überrascht: Denn sein Märchen bestand nur aus dem zweiten Teil, der märchenhaften Umwandlung. Sie erkannte daran, dass es für den im Leistungsbereich sehr erfolgreichen, traumatisierten Patienten offensichtlich bedrohlich gewesen wäre, sich Episoden aus seinem Leidensweg als Kind oder eine Wunschfantasie zu vergegenwärtigen, weil das eine Retraumatisierung ausgelöst hätte. Sie begrenzte daraufhin für die verbleibenden wenigen Therapiestunden vor seinem Umzug in eine andere Stadt das Therapieziel. Sáfrán und Czáky-Pallavicini (2013) haben gezeigt, dass die Methode des Bewältigungsmärchens mit viel Erfolg auch in einer Gruppentherapie in einer psychosomatischen Klinik in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsorganisation eingesetzt werden kann. Die Methode ermöglichte einerseits ein strukturiertes Vorgehen und förderte aber gleichzeitig die Introspektion und Selbstempathie der Patienten. Der Schlafforscher Barry Krakow (2007) hat in den 1990er-Jahren zur Behandlung von chronischen Albträumen die Imaginary Rehearsal Therapy (IRT) entwickelt. Er fordert seine Patienten auf, ihre Träume aufzuschreiben und sich dann für das Ende ihres jeweiligen Traumes einen positiven Ausgang zu überlegen. Die Patienten gewinnen dadurch in ihren Albträumen ihre eigene Handlungsfähigkeit zurück, und ihre Konfliktverarbeitung wird aktiviert. Das wird deutlich an einem Fallbeispiel: Der Therapeut gab einer Patientin den Auftrag, über vier Wochen ein Traumtagebuch zu führen. Sie sollte aber für jeden ihrer Albträume eine neue und positive Wendung des Traumgeschehens dazuerfinden. Diese neuen, positiven Verläufe sollte sie sich einen Monat lang täglich eine Viertelstunde lang vorlesen und verinnerlichen. »Die Albträume traten danach signifikant seltener auf und Traumasymptome wie Depressionen oder Angstzustände gingen ebenfalls zurück« (Die Zeit, Nr. 32, S. 28, 4.8.2011). Reddemann (1999, S. 90) lässt ihre traumatisierten Patientinnen und Patienten ihr unbewusstes natürliches Selbstheilungssystem durch die Entwicklung positiver Gegenbilder zu negativen Affekten aktivieren: »Es ist uns […] wichtig geworden, Patientinnen anzuregen – wenn sie es nicht ohnehin tun –, für ihre Gefühlszustände und Befindlichkeiten bildhafte Beschreibungen zu finden und anschließend auch hierzu wieder Gegenbilder. Zum Beispiel könnte eine Patientin erzählen, sie fühle sich ›wie in einem Gefängnis‹. Wir würden ihr dann vorschlagen, zu schauen, was ein Gegenbild dazu ist, und wir würden sie dann einladen, dieses Gegenbild auf sich wirken zu lassen. Insbesondere auf ihren Körper wirken zu lassen und wahrzunehmen, wie es ihrem Körper damit geht. Ein Gegenbild könnte zum Beispiel sein, ›Ich fühle mich wie ein Vogel‹,

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und wir könnten die Patientin einladen, dieses sehr genau in ihrem Körper zu spüren, vielleicht sogar sich dementsprechend zu bewegen. Dann würden wir ihr empfehlen, jedes Mal, wenn sie sich wie in einem Gefängnis fühlt – und wir würden sie darauf hinweisen, dass das immer wieder der Fall sein könne – das Gegenbild in sich wachzurufen, und wir würden ihr erläutern, dass es möglich ist, zwischen diesen beiden Bildern hin und her zu pendeln, sie quasi wie einen Tanz zu gestalten. […] Zahlreiche Interventionen im Alltag, im Umgang mit Alltagsbildern und -gefühlen zielen immer wieder darauf ab, diese Pendelbewegung herzustellen, ein Gefühl für die Gegengewichte entstehen zu lassen.« Bei dieser Übung sucht der Patient in dem symbolischen Bild für seinen negativen Gefühlszustand also nicht sofort nach einer Handlungsmöglichkeit, sondern er entwickelt zuerst ein positives Gegenbild dazu und spürt nach, was dieses positive Gegenbild in seinem Körperempfinden verändert. Bei der Anwendung dieses Vorgehens kann der Patient seinen negativen Gefühlszustand und sein positives Gegenbild auch mit zwei Stühlen nebeneinander im Zimmer repräsentieren. Der innere Übergang vom negativen Bild zum positiven Gegenbild fällt dann leichter, weil er dabei real äußerlich handelnd vom »negativen Stuhl« zum »positiven Stuhl« wechseln kann.

5.15  Die therapeutische Beziehung Patientinnen und Patienten mit Traumafolgestörungen ziehen ihre Therapeutinnen und Therapeuten interaktionell immer wieder in ihre dysfunktionale Selbstorganisation mit hinein. Ihr Leiden kann die Therapeutin zu Gegenübertragungsreaktionen verführen, zum Beispiel zum Agieren als Helferin oder Erlöserin. Davon profitieren die Patienten aber meistens nicht dauerhaft. Fallbeispiel 27 (Fortsetzung, siehe Kap. 5.5): Eine 42-jährige, in der Kindheit von ihrem Vater bis zum 16. Lebensjahr physisch missbrauchte Patientin kommt aus der Kur zurück in die ambulante Psychotherapie und klagt mit Tränen in den Augen: »Vor der Kur habe ich jeden Tag ums Überleben gekämpft. Jetzt bin ich noch erschöpfter.« Sie berichtet, dass sie sich in der Kur unbelastet und frei, zufrieden, weiblich und schön gefühlt habe, mit »einigen heiligen Momenten«. Das sei auch »Folge von einer Übung« gewesen: »Ich habe das Schlüsselerlebnis aus meinem siebenten Lebensjahr nachgespielt: Ich liege im Bett, draußen donnert und blitzt es. Ich habe Angst, dass Jesus kommt und meine Eltern und meine Schwester mitnimmt, und ich ganz allein bleibe.« Die Familie gehörte einer Sekte an. »Mein Therapeut hat dann in dem Nachspielen aber meine ›gesunde Erwachsene‹ kommen lassen, die gucken sollte,

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was ich brauche, und mir das geben sollte! Auf dem langen Weg als Kind von meinem Zimmer zum Schlafzimmer meiner Eltern hat meine ›gesunde Erwachsene‹ neben mir aber selbst Angst gehabt. Deshalb brauchte ich dann doch den Therapeuten, damit der an die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern klopfte. Ich musste mich zwingen, die Tür aufzumachen und auszusprechen, was ich sagen wollte: ›Mama, Papa, das geht so nicht. Ich muss mit euch reden‹. Meine ›gesunde Erwachsene‹ (die Patientin hat in der Übung die Rolle mit ihr gewechselt) hat dann zu meinen Eltern gesagt: ›Sie dürfen Ihrer Tochter nicht weiter einreden, dass sie ein böses Kind ist!‹ Danach war ich sehr stolz auf die ›Erwachsene‹ in mir. Die Konfrontation mit den Eltern war wichtig, ich habe als kleines Kind gemerkt: Ich brauchte meine Eltern gar nicht mehr! Das Kind ist lieber mit seiner ›Erwachsenen‹ zurück in sein Zimmer gegangen. Die Eltern taten dabei gar nichts. Meine Mutter ist nur das gewesen, was sie auch heute noch ist, eine graue Maus! Das wirklich einmal real auszusprechen, fühlte sich sehr lebendig an und gab mir das Gefühl: Ja, die ›Erwachsene‹ in mir kann mich beschützen! Ich brauche meine Eltern nicht mehr!« Real sitzt die Patientin nach der Kur jetzt aber in der ambulanten Therapie vor dem Therapeuten an ihrem Heimatort und leidet an einer depressiven Episode mittleren Grades.

Wunscherfüllung allein heilt nicht. In diesem Fallbeispiel agierte der Therapeut in einer Gegenübertragung als grandioser Heiler: Er kombinierte in seinem Vorgehen in einer einzigen Sitzung die Differenzierung von dysfunktionalen Ich-Zuständen aus der Schematherapie (siehe Kap. 4.7), die Traumaexposition durch direkte Begegnung mit dem Täter-Vater (siehe Kap. 5.10.7) und die Integration ihrer inneren Umstellung in die Beziehungen zu Bezugspersonen der Kindheit (siehe Kap. 5.11). Die Patientin hatte diese innere Umstellung selbst aber noch gar nicht vollzogen! Empfehlung Wenn der Patient von einem anderen Therapeuten oder in einer Klinik traumatherapeutisch vorbehandelt wurde, ist es wichtig, dass die Therapeutin zusammen mit dem Patienten prüft, in welcher der sechs Phasen der Traumatherapie (siehe Kap. 5.6) der Patient sich befindet, und mit ihm kleinschrittig jeweils »nur« den nächsten Schritt der Therapie geht.

Die Patientin des Fallbeispiels 27 war vor ihrer stationären Therapie noch in der Phase der Selbststabilisierung gewesen und hatte für sich in der ambulanten Therapie noch nicht einmal einen »sicheren Ort« entwickelt. Diesen fand sie in der Kur nicht in einer eigenen inneren Imagination, sondern außen in der Beziehung zu dem Therapeuten und zu der Kurklinik. Bei der Heimreise von

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der Kur konnte sie diesen äußeren »sicheren Ort« aber nicht mit nach Hause nehmen. Das aktualisierte in ihr alte Verlassenheits- und Minderwertigkeitserfahrungen aus der Kindheit und ließ sie in eine Depression dekompensieren. Traumatherapie verlangt wegen der existenziellen Qualität der dabei durchlebten Traumaerfahrungen, dass die Therapeutin versucht, dem Patienten gerecht zu werden und aber auch sich selbst gerecht zu werden! Zentraler Gedanke Die Therapeutin soll darauf achten, dass es ihr selbst gut geht und dass sie bei Bedarf Wege nutzt, um selbst wieder in ein gutes seelisches Gleichgewicht zu kommen! Das tut sie dann nicht nur für sich selbst und ihre eigene Psychohygiene, sondern auch für den Patienten. Wichtig ist, dass ihre eigenen seelischen Vorgänge immer wieder ins Fließen kommen und dass sie sich erholt. Denn ihre Seele ist der Resonanzboden für das Geschehen in der Therapie.

Traumatisierte Patienten ziehen durch unbewusste Verleugnung und Abspaltung ihrer Affekte unbeabsichtigt ihre Therapeuten interaktionell mit in ihre chaotische Selbstorganisation hinein. In der Psychoanalyse wird dieses Phänomen als Abwehr durch »projektive Identifizierung« beschrieben (siehe Kap. 4.15). Dabei wird nach König (1984, zitiert nach Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 351) die Therapeutin oder der Therapeut mithilfe »unbewusster Manipulation« dazu gebracht, den vom Patienten übertragenen Selbstanteilen ähnlich zu werden. Die Therapeutin nimmt durch das systemische Interagieren mit dem traumatisierten Patienten, ohne es zu merken, die von ihm abgespaltene Selbstanteile in ihr Fühlen und Empfinden auf und ist verführt, sie als Gegenübertragung zu agieren. Zentraler Gedanke Wenn die Therapeutin in der Interaktion mit einem traumatisierten Patienten Hilflosigkeit, Ohnmacht, Überforderung, Wut, Übelkeit, Schwindelgefühle oder Angst spürt, sind ihre Gefühle deshalb oft nicht Ausdruck ihrer eigenen Konflikte oder ihrer therapeutischen Unerfahrenheit. Ihre Wut ist oft nicht Wut auf den Patienten, sondern die Wut des Patienten, die dieser abspaltet. Ebenso ist ihre Angst oft nicht die Angst vor dem Patienten, sondern die vom Patienten abgespaltene Angst. Die Therapeutin spürt in der Identifikation mit der Selbstorganisation des Patienten unbewusst gleichsam als sein Hilfs-Ich in sich selbst das, was dieser bei sich selbst durch seine Abwehr nicht zulässt.

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Fallbeispiel 42: Eine 40-jährige in der Kindheit körperlich gewalttätig missbrauchte Patientin arbeitete in der achten Therapiestunde an ihrem Bewältigungsmärchen. Sie erzählte ein Ereignis, in dem sich ihr eigentliches Leiden widerspiegelte: Sie war gleichsam einen kleinen Tod gestorben, als sie in ihrem Zimmer Mittagsschlaf zu halten hatte. Sie hatte dringend auf die Toilette gehen müssen, durfte das aber nicht, weil sie dabei die Mutter in ihrer Mittagsruhe gestört hätte. Die Mutter hätte das mit Schlägen und Beziehungsabbruch geahndet. Der Therapeut ließ die Patientin überlegen, was sie in der Situation eigentlich gebraucht hätte: Es entstand eine kleine Fantasiegeschichte mit einer »ausreichend guten Mutter«. Im weiteren Verlauf der Stunde erzählte die Patientin aber immer mehr und noch mehr traumatisierende Erlebnisse aus ihrer Kindheit, wie sie geschlagen wurde von ihrem Vater, von Mitschülerinnen, von ihrem Großvater: »Jeder durfte mich schlagen!« Der Therapeut merkte zu spät, dass er durch sein Mitgefühl in die Leidenszustände der Patientin mit hineingezogen wird. Er spürte einen Anflug von Übelkeit. Dieses Gefühl machte ihn darauf aufmerksam, dass die Patientin gerade dabei war, ihn mit ihren Leidenserfahrungen zu überschwemmen. Er unterbrach sie vorsichtig und äußerte: »Mir wird das zu viel, mir wird ein bisschen übel. Es ist unglaublich, mit welchem Durchhaltevermögen Sie das in Ihrer Kindheit und Jugend alles überstanden haben. Als Kind mussten Sie damals Ihre Gefühle abstellen und funktionieren. Denn sonst hätten Sie die Menschen in Ihrer Familie nur noch mehr gestört. Ich stelle hier einmal einen Stuhl neben Sie für Ihr perfektes Funktionieren als Kind, für Ihr Selbstschutzverhalten, dazu aber da hinten in die Ecke des Zimmers auch noch einen Stuhl für das traumatisierte Kind, das Sie damals waren. Zunächst möchte ich jetzt aber mit Ihnen zusammen für Sie nach einer positiven Gegenfantasie suchen, nach einem ›sicheren Ort‹. Das ist in der Traumatherapie eine Selbststabilisierungstechnik, die Ihnen hilft, dass Sie nach der Stunde hier wieder in guter Verfassung aus dem Raum gehen können!«

Die Therapeutin achtet in ihrer Funktion als Resonanzkörper der therapeutischen Beziehung bewusst auf ihre eigenen emotionalen und körperlichen Reaktionen in der Interaktion mit dem Patienten. Wenn sie meint, dass ihr Affekt zu der Selbstorganisation des Patienten gehört, teilt sie ihn bei Gelegenheit als ihre »eigene Gefühlsreaktion auf seine Mitteilungen« dem Patienten offen mit. Mit solchen Ich-Aussagen verwirklicht die Therapeutin das, was Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger (1997, S. 176 ff.) als »Prinzip Antwort« bezeichnen (siehe Kap. 4.15). Mit einem Protagonisten bei der psychodramatischen Traumaverarbeitung durch das Zentrum seiner Traumaerfahrung hindurchzugehen, berührt die Therapeutin und gegebenenfalls die Mitspielerinnen und die Gruppe zutiefst, sie nehmen als Mensch teil an seinem Schicksal. Trotzdem gilt:

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Traumafolgestörungen

Zentraler Gedanke Traumaverarbeitung macht auch Angst. Es ist wichtig, als Therapeutin diese Angst mutig in sich zuzulassen. Denn nur dann ist sie in der Lage, zu erfassen, um was es bei einer Traumaverarbeitung in Wahrheit geht, nämlich um die Verarbeitung einer existenziellen Erfahrung.

Wenn die Hilfs-Therapeuten, die Therapeutin und gegebenenfalls die Gruppenmitglieder sich in vollem Wissen um die existenzielle Dimension der Traumaverarbeitung entscheiden, mit der Patientin oder dem Patienten durch sein Leiden hindurchzugehen, werden sie zu den Begleitern und Zeugen der Wahrheit, die der traumatisierte Patient in der Vergangenheit nicht hatte, aber schon immer gebraucht hätte. Der Patient fühlt sich dadurch wieder in die Gemeinschaft der Menschen aufgenommen. Traumaverarbeitung kostet die Therapeutin Kraft, sie gibt ihr aber auch etwas. Miterleben zu können, wie ein jahrelang eingefrorener psychosomatischer Schockzustand sich löst, reinigt auch die Seele der Therapeutin und die der Gruppenmitglieder und ist eine große Erfahrung des Heilens.

5.16 Sekundäre Traumatisierung und Burn-out der Therapeutin Empfehlung Therapeutinnen und Therapeuten, die Traumatherapien durchführen, sollten selbst seelisch ausreichend belastbar sein, eigene Psychohygiene betreiben und die eigenen körperlichen, psychischen und sozialen Ressourcen pflegen.

Hilfreich ist, sich von Patienten immer wieder einmal abzugrenzen und »Nein« zu sagen, in der Imagination bei Bedarf seinen eigenen inneren »sicheren Ort« aufzusuchen und lieber einmal mehr als zu wenig Supervision oder Intervision zu machen. Es ist gut, immer nur so viele Patienten mit Traumafolgestörungen zu behandeln, wie man zu begleiten in der Lage ist, ohne »selbst daran kaputt zu gehen«. Traumatherapeutische Arbeit aktualisiert bei Therapeutinnen und Therapeuten durch das empathische Begleiten der Patienten auch eigene Konflikte und Traumata und gibt dadurch den Anstoß, sich selbst innerlich weiterzuentwickeln und nach Antworten auf existenzielle Fragen zu suchen. Deshalb ziehen sich viele Therapeutinnen oder Therapeuten einmal im Jahr an einen Ort zu Menschen zurück, mit denen sie selbst neue innere Bilder und neue Kräfte entwickeln können. Sie öffnen sich durch Meditation transpersonalen Erfahrungen oder holen sich bei Bedarf Hilfe, um eigene Konflikte zu verarbeiten. Es

Sekundäre Traumatisierung und Burn-out der Therapeutin

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geht darum, innerlich selbst in Bewegung zu bleiben, sonst besteht die Gefahr, mit der Zeit ein rigides Selbstschutzverhalten zu entwickeln. Zu viel Mitleiden kann die Therapeutin oder den Therapeuten sekundär traumatisieren oder zu einem Burn-out führen. Denn die Therapeutin wird immer wieder in die Traumaerfahrung ihrer Patienten mit hineingezogen, sie muss das merken und sich dann daraus wieder befreien. Fallbeispiel 37 (4. Fortsetzung, siehe Kap. 5.10.5, 5.10.6, 5.10.7 und 5.10.8): Am Tag nach der mehr als drei Stunden dauernden Traumaexpositionssitzung von Frau D., es ging um den lebensgefährdenden Vergewaltigungsversuch, merkte der Therapeut abends beim Abschließen der Praxistür, dass er sich umdrehte und nachsah, ob da irgendwo ein Gewalttäter auf ihn zukam. Er entdeckte verwundert an sich selbst die Dunkelangst, unter der die Patientin, Frau D., vor der Traumaexpositionssitzung gelitten hatte. Am nächsten Tag suchte der Therapeut in seiner Fantasie aktiv nach einer Handlungsmöglichkeit, die ihn in Zukunft aus der Angst vor der Dunkelheit befreien könnte. Ihm fiel ein, dass die Patientin in ihrer Traumaexpositionssitzung gar nicht das Holzschwert benutzt hatte, das sie an ihrem »sicheren Ort« dem »Heiligen Georg« in die Hand gegeben hatte, der von einer Hilfs-Therapeutin gespielt worden war. Der Therapeut imaginierte, dass die Protagonistin in einer zusätzlichen zweiten Traumaexpositions-Sitzung den Täter, repräsentiert durch ein großes Schaumstoffkissen, real mit ihrem Schwert durchbohren und dass er selbst mit einem eigenen Schwert dann prüfen würde, ob der Stich auch wirklich durch das ganze Kissen hindurchgeht. Der Therapeut entdeckte erstaunt, dass diese seine Handlung auf der Fantasieebene sein inneres Bild des Täters, bis dahin ein schreckenerregendes Gespenst, zu einem lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelte, der leidensfähig war. Seine Dunkelangst war nach dieser inneren Arbeit verschwunden und tauchte nicht wieder auf. Zentraler Gedanke Wenn nach einer praktischen traumatherapeutischen Arbeit bei der Therapeutin ungute Gefühle auftreten, versucht sie, auch selbst aktiv zwischen Selbstverlust und Selbststabilisierung hin und her zu wechseln und die von dem Patienten auf sie delegierten Probleme stellvertretend weiter und sich selbst ermächtigend zu Ende zu denken. Anschließend kann sie bei entsprechender Indikation dem Patienten das Ergebnis ihrer weiteren Verarbeitung seines Traumas als eine Art Sharing in verdauter Form zur Verfügung stellen.

Therapeutinnen und Therapeuten, die selbst Traumaerfahrungen haben, sind besonders geeignet, Traumatherapien durchzuführen, weil sie erfahren sind

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im angemessenen Umgang mit solchen Leidenszuständen und deren Bewältigung und weil sie die existenzielle Dimension von Traumaerfahrungen kennen. Andererseits besteht aber gerade bei ihnen die Gefahr, dass sie ihr eigenes inneres »verlassenes oder traumatisiertes Kind« auf diese Patienten projizieren und sich dann mit der Zeit als Helferin und Retterin überfordern. Fallbeispiel 43: Eine 40-jährige Psychotherapeutin, die in ihrer frühen Kindheit durch einen langen Krankenhausaufenthalt in ihrem Verhalten für ihre Familie »schwierig« geworden war, arbeitete in einer psychosomatischen Klinik. Sie war dort bekannt für ihr großes Herz für schwer beziehungsgestörte und destruktiv agierende Patientinnen und Patienten. Immer wieder protestierte sie gegen disziplinarische Maßnahmen, die gegen diese verhängt wurden, und schaffte es auch, den Kolleginnen die schwierigen interaktionellen Beziehungsdynamiken dieser Patienten zu erklären. Die Folge war aber, dass sie diese problematischen Patienten oft selbst behandeln musste und dass sie regelmäßig mehr Patienten zu betreuen hatte als ihre Kolleginnen und Kollegen. Nach einigen Jahren verließ sie die Klinik wegen eines drohenden Burn-outs. Zentraler Gedanke Die Therapeutinnen und Therapeuten, die selbst Traumaerfahrungen haben, entwickeln leicht, weil sie ihr eigenes Mitgefühl mit den traumatisierten Patienten für »normal« halten, negative Übertragungen gegenüber den Kollegen, die sich nicht ähnlich stark engagieren. Es kann dadurch zu destruktiven Teamkonflikten kommen, in denen die traumaerfahrene Therapeutin gruppendynamisch in die Omega-Position gerät.

Damit eine solche Therapeutin nicht verzweifelt, sich nicht überfordert und sich nicht nur destruktiv verhalten muss, sollte das Team die besonderen Fähigkeiten von traumaerfahrenen Therapeuten immer wieder konstruktiv als Korrektur nutzen und würdigen. Denn diese Therapeuten können besser als andere das tiefe Leiden der schwierigen Patienten spüren, Zeuge der Wahrheit sein und bei eventuellen Konflikten mit dem therapeutischen Setting für ihre Würde als Mensch eintreten. Andererseits dürfen die Ansprüche traumaerfahrener Therapeuten aber auch die Organisation des Teams und der Klinik nicht überfordern und müssen in die Realität der Klinik integriert werden.

Traumatherapeutische Konzepte anderer Psychodramatiker

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5.17 Konzepte der psychodramatischen Traumatherapie bei anderen Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern Einen Überblick über die psychodramatische Traumatherapie gibt das Buch »Psychodrama with Trauma Survivors« mit 21 Autorinnen und Autoren aus neun verschiedenen Ländern (Kellermann und Hudgins, 2000). Im Folgenden werden aus dem Buch die wichtigsten therapeutischen Erfahrungen dargestellt und die Aussagen von sechs Autorinnen und Autoren speziell zusammengefasst. Immer wieder betonen die Patientinnen und Patienten in den Fallbeispielen des Buchs nach dem Ende ihrer Therapie, dass für sie Handeln heilender war als Reden und dass vorhergehende rein verbale Therapien ihnen nicht weitergeholfen hätten (Kellermann und Hudgins, 2000, S. 78, 86, 221). Kellermann (2000, S. 14) weist andererseits darauf hin, dass für die Traumaverarbeitung oft mehr als nur ein einzelnes Psychodramaspiel erforderlich ist: »Die meisten Kliniker und Forscher glauben heute, dass zur vollen Heilung das Zentrum des Traumas mehrfach wieder aufgesucht werden muss, um dissoziierte Emotionen zu befreien und traumabedingte Kognitionen zu verändern.« Das Setting der Gruppentherapie gewinnt in der psychodramatischen Traumatherapie eine ganz neue Bedeutung und ein neues Recht (Karp, 2000, S. 69 ff.; Kellermann, 2000, S. 33; Roine, 2000, S. 83–91; Baim, 2000, S. 165 ff.; Hudgins, 2000, S. 236 ff.; Burmeister, 2000, S. 218 ff.). Denn die Gruppenmitglieder bezeugen dabei das Trauma als Trauma (Dayton, 2000, S. 119 f.), sie geben durch ihre Sharings intensive Zuwendung (Kellermann und Hudgins, 2000, S. 67, 177, 194, 196, 218), helfen so, Schuld und Scham abzubauen, und nehmen die Protagonistin stellvertretend auch für alle anderen Menschen wieder in die menschliche Gemeinschaft auf. Trotzdem arbeiten viele Psychodramatherapeutinnen auch einzeltherapeutisch (Burge, 2000, S. 299–316; Burmeister, 2000, S. 198–223; Roine, 2000, S. 90, 92). Bannister (2000, S. 101) benutzt in der Therapie von schwer missbrauchten Kindern anfangs Einzeltherapie und erst später Gruppentherapie, weil die Kinder zunächst lernen müssen, mit einem Erwachsenen erstmals überhaupt eine vertrauensvolle Beziehung aufzunehmen. 5.17.1 Peter Felix Kellermann (2000, S. 23–40): The Therapeutic Aspects of Psychodrama with Traumatized People Kellermann meint sehr entschieden: »Traumatherapie erfordert die Re-Insze­ nierung der Traumaszene, das re-enactment.« Er warnt aber auch: 1. Es besteht bei einem unprofessionellen Durchgang durch die Traumaszene das Risiko einer Retraumatisierung. 2. Auch verführen traumatisierte Menschen unerfahrene

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Therapeuten leicht dazu, der zentralen traumatisierenden Situation auszuweichen, weil sie ein »starkes Bedürfnis nach Freundlichkeit« haben. Traumaarbeit bedürfe der Sicherheit, des Halts und des Schutzes (siehe auch Roine, 2000, S. 88, 93, 95). Der Therapeut hat den Patienten sehr gut vorzubereiten, indem er jeden Schritt während des Spiels, der gegangen werden soll, vorher mit ihm bespricht und sich von ihm das Einverständnis für das Vorgehen holt. Kellermann (2000, S. 26 f.) unterteilt die psychodramatische Traumaverarbeitung in sechs Schritte, die auch jeder einzeln schon therapeutisch wirksam sein können: 1. Die Reinszenierung des Traumas in einer sicheren Umgebung: Ein Mädchen (Kellermann, 2000, S. 27 f.), das durch einen tragischen Autounfall seine Mutter verloren hatte, spielte die traumatische Szene immer wieder neu, um der Gruppe ihre Gefühle zu zeigen. Kellermann meint, dass Protagonisten manchmal eine Traumaszene scheinbar endlos wiederholen müssen, um sich durch die Teilhabe der Gruppe zu vergewissern, dass sie fühlen, was sie fühlen. Allein schon das Zeigen einer traumatischen Erfahrung in der Öffentlichkeit der Gruppe kann einer Patientin helfen, die emotionale Auswirkung des Ereignisses nicht mehr zu unterdrücken und Kontrolle über die emotionale Antwort auf das Trauma zu gewinnen. 2. Das Nachholen der kognitiven Wahrnehmung des Ereignisses: Ein Mann (Kellermann, 2000, S. 29 f.) litt unter sich wiederholenden Flashbacks von Bildern einer schrecklichen Szene eines terroristischen Bombenangriffes. Das Leben schien ihm nur noch wie in einem Traum oder wie in einem Kino. Kellermann forderte die Gruppenmitglieder auf, den Terrorangriff in ein Rollenspiel umzusetzen, und bat den Protagonisten, sich das Geschehen während des Spiels von außen wie in einem Spiegel anzusehen. Dieses Vorgehen integriert nach Kellermann, Leutz (2000, S. 190, 194) und Karp (2000, S. 68 ff.) die rein sensorischen Erinnerungen des Traumas mit den kognitiven Informationen über das Trauma zu einer vollständigen Geschichte von dem, was passierte, und sei speziell bei einer Tendenz zum Dissoziieren indiziert. 3. Die emotionale Katharsis: In der Behandlung eines Mannes, der von seinem alkoholkranken Vater gewalttätig körperlich missbraucht worden war und Schlägereien zwischen Mutter und Vater miterlebt hatte, stellte sich beim Nachspielen einer Szene eine Katharsis mit Weinen, Krämpfen und Erbrechen ein und dem Gefühl, aufgeben zu wollen. Ein Mann aus der Gruppe nahm als guter Vater den Patienten in den Arm und hielt ihn lange Zeit, bis er sich ausreichend beruhigt hatte und in die Gruppe zurückkehren konnte (Kellermann, 2000, S. 30). Kellermann wertete die zunächst vorhandene Hoffnungslosigkeit des Patienten als alte, eingefrorene Antwort auf die frühere Bedrohung. Diese müsse durch Auftauchen eines guten Objektes und

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die Gegenwart hilfreicher Zeugen in der Traumaszene auftauen, damit das seelische Trauma geheilt wird. 4. Elemente der Surplus Reality werden eingeführt: Ein Vietnamveteran war besessen von Schuldgefühlen, seinen Freund getötet zu haben (Kellermann, 2000, S. 31 f.). Er hatte aus einem Versteck heraus bei einem plötzlichen Überfall der Vietkong mit ansehen müssen, wie sein verwundeter Freund gefangen und später erschossen worden war. Der Patient wünschte sich, ebenfalls zu sterben. Der Therapeut forderte den Patienten auf, zuerst die traumatisierende Kriegsszene so zu spielen, wie sie wirklich gewesen war, dann im Spiel aber so zu handeln, wie er sich wünschte, dass er gehandelt hätte. Der Protagonist rettete daraufhin im Spiel seinen Freund wider alle Befehle und wider alle Vernunft, brachte ihn an einen sicheren Platz, hielt ihn in den Armen und brach in ein kathartisches Weinen aus. Der Mitspieler, der die Rolle seines Freundes übernommen hatte, äußerte jedoch spontan, als der Protagonist sich beruhigt hatte, dass das, was der Soldat in der Kriegssituation real getan hatte, genau das Richtige gewesen sei, sonst wären sie beide gestorben. Der Protagonist solle jetzt für sie beide leben! Kellermann (2000, S. 31) meint, dass es bei Scham und Schuldgefühlen wichtig sei, im Spiel die erwogenen anderen Handlungsmöglichkeiten in dem Traumaereignis über die Realität hinaus zu spielen, das helfe, die Trauma­erinnerungen zu verarbeiten. Der Therapeut solle in der Traumatherapie die Protagonisten im psychodramatischen Spiel unter anderem immer auch »das ungetan machen lassen, was getan wurde, und das tun lassen, was hätte getan werden sollen«. 5. Korrigieren von alten Beziehungserfahrungen durch die Gruppe: In der Behandlung einer stark übergewichtigen, sich masochistisch selbst entwertenden Frau ließ der Therapeut charakteristische Szenen ihres Missbrauchs in der Kindheit inszenieren. Am Ende sah die Frau als verlorenes Kind inmitten eines chaotischen Universums unerwartet in ganz neuer Weise schön aus, zumal zufällig ein Sonnenstrahl sie durch das Fenster des Gruppenraumes beschien. Die Gruppe bemerkte das und feierte diese Veränderung und ihre neue Innerlichkeit in einem Ritual: »Es war wie ein Neugeborenwerden.« Bei Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, helfen nach Kellermann speziell interpersonelle Erfahrungen in der Gruppe, um durch das Erleben von Vertrauen, Sicherheit und Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft die Selbstachtung wiederherzustellen. 6. und 7.: Therapeutische Rituale, die dem Traumaereignis im Leben eine Bedeutung geben (Kellermann, 2000, S. 35 f.): Wenn das traumatisierende Ereignis eine ganze Gemeinschaft getroffen hat, kann der Therapeut deren Mitglieder in einer Kriseninterventionssitzung zu einem gemeinschaftlichen

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Soziodrama auffordern. Sechs Monate nach einem mehrfachen Mord in einer Institution arbeitete Kellermann therapeutisch mit den überlebenden Angestellten. Dabei benutzte er ein altes Indianerritual, den »sprechenden Stab«. Dieser wird in der Gruppe herumgereicht. Jeder, der den Stab in der Hand hält, darf alles sagen, was er will. Die anderen müssen schweigen, können aber mit dem Wort »Hau!« Zustimmung äußern. Wenn man auf diese Weise universale Prinzipien der »Mutter Natur« und Symbole und Geschichten aus der Mythologie benutzt, gelinge es, die eingefrorenen Affekte zu verflüssigen und dann auch zu einer das Gruppenthema erfassenden protagonistzentrierten Arbeit überzugehen. In dem Fallbeispiel drückte eine der Teilnehmerinnen als Protagonistin stellvertretend für die anderen gegenüber einem der Terroropfer auf der Bühne kathartisch ihre Trauer und Ohnmacht aus und gab damit den anderen Gruppenmitgliedern die Möglichkeit, im Sharing auch ihr eigenes Erleben mitzuteilen und so ihre Gefühlsblockade aufzulösen. 5.17.2 Marcia Karp (2000, S. 63–82): Psychodrama of Rape and Torture: A Sixteen-year Follow-up Case Study Karp beschreibt ausführlich die Behandlung einer 48-jährigen Frau, die zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Afrika von acht Männern überfallen und vergewaltigt worden war. Die selbstständige und von der Persönlichkeit her starke Jill hatte nach dem Traumaereignis in den ersten Tagen noch aktiv selbst die erforderliche medizinische Versorgung der Familie und die Rückreise von Afrika nach England organisiert. Danach regredierte die Klientin aber für zwei Jahre in einen chronischen dissoziativen Zustand und war »völlig gefügig, ein Nichts« (Karp, 2000, S. 75). Sie war depressiv und konnte das Haus nicht verlassen trotz psychiatrischer ambulanter und stationärer Behandlung und einer hohen Medikation mit Psychopharmaka. Karp behandelte die Patientin nur in einer Kurztherapie mit einer einzigen vorbereitenden Einzelsitzung und dazu nur noch zwei Gruppenwochenenden im Abstand von vier Wochen. Die Gruppenmitglieder spielten bei der psychodramatischen Arbeit der Patientin auf der Bühne zunächst als Realitätsprobe ihre fiktiven Grübeleien und Selbstbeschuldigungen der Patientin: »Wenn ich das getan hätte, wäre es anders gekommen.« »Wenn ich meine Tochter oder meinen Ehemann oder die von den Tätern erschossenen Hunde vorher versteckt hätte […]« Das Vorspielen der vielen »Wenns« ließ die Protagonistin die Vergeblichkeit der nachträglich erdachten alternativen Handlungsmöglichkeiten erkennen: Was auch immer sie anders gemacht hätte, sie wäre sofort getötet worden. Danach ließen

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die Therapeutin und die Protagonistin die Ereignisse ihrer Traumaerfahrung von Gruppenmitgliedern in ihrer zeitlichen Abfolge auf der Bühne nachspielen. In der dreistündigen Psychodrama-Sitzung entwirrte die Protagonistin erstmals die Geschehnisse des ganzen Ereignisses in ihrer Abfolge und vervollständigte ihre bis dahin fragmentierten Erinnerungen. Die Protagonistin steuerte dabei das Spielgeschehen meistens aus dem Erzähl- und Beobachtungsraum heraus. Nur einmal übernahm sie in der Traumaszene die Rolle ihrer 17-jährigen Tochter. In dieser Rolle entdeckte sie, dass für ihre Tochter das Wichtigste war, dass ihre Mutter nicht durch ihr Verhalten sich selbst gefährde und sterbe. Die Tochter erwartete nicht mehr und nichts anderes, obwohl sie selbst auch Opfer einer Vergewaltigung wurde. Auch erkannte die Protagonistin in der Rolle der Tochter erstmals, dass die »Mutter«, als die »Täter« für kurze Zeit den Raum verließen, geistesgegenwärtig diese Gelegenheit sofort nutzte, um mit der Tochter zu fliehen und beide am Leben zu erhalten. Die Protagonistin wechselte im Spiel erst dann in ihre eigene Rolle im Interaktionsraum, das heißt an den »Ort« des Traumaereignisses, als die »Täter schon wegefahren« waren. Sie verabschiedete sich dort fiktiv von ihren Angestellten in Afrika. Dabei begann sie nicht beherrschbar stark zu zittern, der eingefrorene Schockzustand der Traumaerfahrung löste sich. Die Therapeutin, die Gruppe und im Hotel der Ehemann der Patientin sorgten für eine sichere, haltgebende Umgebung. Nachdem die sensomotorische Blockade der Patientin sich gelöst hatte, schlief sie trotz vorher massiver Schlafstörungen 30 Stunden hintereinander. Erstmals glaubte die Protagonistin jetzt auch emotional, dass ihr Mann und ihre Tochter, anders als die Täter es ihr gegenüber in der Gewaltsituation gesagt hatten, am Leben geblieben waren. Auch merkte sie, dass sie bei dem Traumaereignis »zwar außer Kontrolle gewesen«, aber dass sie nicht passiv geblieben war. Sie hatte, wie sie jetzt erst realisierte, sogar ausgesprochen angemessen gehandelt. Therapeutisch wichtig war, dass die Gruppe und die Therapeutin dies bezeugten. Ihre Scham- und Schuldgefühle, oft eine schwere Last von Vergewaltigungsopfern, wurden so aufgehoben. 5.17.3 Eva Roine (2000, S. 83–96): The Use of Psychodrama with Trauma Victims Roine beschreibt die Behandlung einer Frau, die als Mädchen von ihrem Onkel einmalig sexuell missbraucht worden war, dazu die Behandlung eines Mannes, der als Junge im Alter von zehn Jahren von einem Onkel vergewaltigt wurde, die Behandlung eines traumatisierten pädophilen Mannes und die eines Folteropfers. Sie ist davon überzeugt, dass die Befreiung vom Trauma durch Handeln

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geschehen muss, weil die Protagonisten nur über das Handeln die erforderliche Kontrolle über die Situation gewinnen können (Roine, 2000, S. 86, 94). Über das Handeln werde die im Stadium der Hilflosigkeit eingefrorene Energie frei. Die Therapeutin solle den Patienten sogar direktiv in das »Herz des Traumas« hinein führen, wenn dieser auf halbem Wege stecken zu bleiben droht. Roine zitiert Ildri Ginn, den Direktor des Bostoner Psychodrama-Instituts, der meint: »Wenn man solche Patienten behandelt, ist es gefährlicher, auf halbem Wege anzuhalten, als den ganzen Weg zu gehen« (Roine, 2000, S. 88). »Der Therapeut muss den Mut haben, die ganze emotionale Tiefe des Themas zu berühren« (Roine, 2000, S. 95). »Wenn Therapeuten die Traumata ihres eigenen Lebens nicht verstanden und erfahren haben, werden sie nicht wagen, auch in die Tiefen des Leidens der Patienten hinabzusteigen« (Roine, 2000, S. 88). »Missglückte Versuche können den Protagonisten im Trauma fixieren« (Roine, 2000, S. 93). 5.17.4 Anne Bannister (2000, S. 97–113): Prisoners of the Familiy: Psychodrama with Abused Children Bannister beschreibt auf dem Hintergrund einer zwanzigjährigen Erfahrung ihre psychodramatherapeutische Arbeit mit schwer sexuell missbrauchten achtbis neunjährigen Jungen und Mädchen. Vor Beginn der sechsmonatigen Gruppentherapie bleibe das Kind solange in Einzeltherapie, bis es sich so weit entwickelt hat, dass es zu wenigstens einem nicht missbrauchenden Erwachsenen eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen kann (Bannister, 2000, S. 101). Ziel der Therapie ist es, durch Symbolspiele oder direktes Spielen der Traumaerfahrungen die Entwicklungsstörungen, die durch die Traumatisierung entstanden sind, aufzuheben und die Beziehungsfähigkeit zu fördern (Bannister, 2000, S. 102). Bannister integriert Psychodramatherapie, Puppenspiel, Arbeiten mit Ton, Malen und Musik zu einer kreativen Spieltherapie, die geeignet ist, einen spontanen Zugang zu Elementen der Traumageschichte herzustellen und darin aber auch neue, Selbstvertrauen und Selbstkontrolle fördernde Lösungen zu finden. Weil gerade Kinder es schwer haben, ihren Missbrauchserfahrungen die angemessene Bedeutung zu geben, sei es besonders wichtig, dass sie über das Symbolspiel in einer sicheren Umgebung diese Bedeutung unmittelbar erfahren. Bannister (2000, S. 105 ff.) benutzt für die einzelnen Gruppensitzungen ein stark strukturiertes Vorgehen: 1. Am Anfang jeder Sitzung spielen die Kinder mit Handpuppen das Anwärmspiel »Der Wolf versucht, die Schafe zu fangen.« Das Spiel wird mit der Zeit variiert und es werden Regeln aufgestellt wie zum Beispiel die, dass es vor dem Wolf »sichere Orte« gibt. 2. Das Kind berichtet über seine aktuelle Befindlichkeit, indem es eingeladen wird, zu erzählen, wie

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die Handpuppen aus dem vorherigen Spiel sich in dem Gruppenraum fühlen. 3. Es folgt eine Pause mit Essen und Trinken. 4. Dann kommt das Arbeiten mit Tonerde, Malen, Handpuppenspiel oder Rollenspiel mit Verkleiden, also die eigentliche Spielphase. 5. Der von den Therapeuten vorgegebene Gruppenslogan wird gesprochen und agiert: »Ich bin gut, ich bin stolz auf mich, ich habe viel erlebt, guck mich an, wie stark ich geworden bin!« 6. In der Nachbesprechung werfen die Kinder einem anderen aus der Gruppe einen Ball zu und danken dieser Person für etwas, das sie während der Sitzung an ihr geschätzt haben. Auffällig ist an dem Vorgehen Bannisters: 1. Der Therapeut-Patient-Schlüssel ist auch in der Gruppe 1:1. 2. Die Therapeutin arbeitet mit vielfältigen Materialien und lässt auch in der Gruppentherapie sehr viel mit Handpuppen spielen. Das Spiel mit Handpuppen (Bannister, 2000, S. 103) helfe, die Handlung auf Distanz zu halten. Auch mache die Verkleinerung der Personen durch Handpuppen die Handlung für die Kinder leichter beherrschbar, zumal schwer missbrauchte Kinder dazu neigen, Tätern magische Kräfte zuzuschreiben. Bannister beschreibt mit dieser Gruppentherapie ein personell und zeitlich aufwendiges Vorgehen, schildert die Praxis recht anschaulich und kann die positive Entwicklung der Kinder, ihr gestiegenes Selbstvertrauen und ihre verbesserte Selbstkontrolle, durch entsprechende wissenschaftliche Begleituntersuchungen nachweisen. 5.17.5 Clark Baim (2000, S. 155–175): Time’s Distorted Mirror: Trauma Work with Adult Male Sex Offenders Baim berichtet über die Traumatherapie von erwachsenen Sexualstraftätern. Seine Arbeit fußt auf der Überzeugung, dass sexuelle Gewalttaten in den meisten Fällen ein Symptom sind, das sich »weitgehend entwickelt hat als Antwort auf ein eigenes früheres Trauma« (Baim, 2000, S. 157). Verschiedene Studien zeigten nämlich, dass sexuelle Gewalttäter zu 18–93 % in der Kindheit selbst sexuell missbraucht und/oder in ausgesprochen brutaler Form geschlagen bzw. vernachlässigt worden sind, ohne dass je darüber geredet wurde und auch ohne dass die Patienten selbst dem je Bedeutung gegeben hätten. Baim meint: Durch Dissoziation bleiben die Erfahrungen unverarbeitet auf sensomotorischem Niveau im Gedächtnis gespeichert. Bei missbrauchten Kindern sei unter anderem das limbische System, das zuständig ist für die emotionale Regulation und Bindungsfähigkeit, um 20–30 % kleiner als bei anderen Kindern (Baim, 2000, S. 160). Bei diesen Menschen führt deshalb schon der kleinste Stress zu Überreaktionen und zum Verlust der Selbstkontrolle. Deshalb gewöhnen sich viele Traumaüberlebende an, Gefühle vollkommen zu vermeiden, sie werden dadurch aber psychisch taub. Diese dysfunktionale Selbstorganisation

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ist nach Baim der Grund dafür, dass sexuelle Gewalttäter zum Zeitpunkt ihrer Gewalttaten oft auf der kognitiven Ebene durchaus wissen, dass sie etwas Falsches tun, sich aber auf der emotionalen Ebene nicht steuern können. Es sei deshalb überflüssig, Gewalttäter kognitiv zu belehren, warum sexuelle Gewaltausübung falsch ist. Denn die Fehlregulation werde damit nicht verändert. In der kognitiven Verhaltenstherapie, der meist angewandten Therapiemethode, lernen die Täter nach Baim nur »die Sprache des Therapeuten zu sprechen […], um dann weiterzumachen als Wiederholungstäter« (Baim, 2000, S. 163). Baim sieht es als einen Kunstfehler an, wenn man in dieser Weise die Ursachen einer Krankheit kennt, diese Ursachen dann nicht zu behandeln (Baim, 2000, S. 164). Die kognitive Verhaltenstherapie müsse deshalb ergänzt werden durch eine Traumatherapie, die hilft, das energetische Potenzial des Gewaltzyklus zu vermindern. Das gelinge durch psychodramatisches emotionales Durcharbeiten ihrer eigenen Traumaerfahrungen in der Kindheit. Baim arbeitet gern mit gegensätzlichen Bildern. So lässt er die Patienten als Anwärmübung Skulpturen aufstellen, einerseits von einer Familie, in der Zorn und Angst immer präsent sind, und andererseits von einer hypothetischen Familie, die kommuniziert und in der jeder dem anderen hilft. Die Gruppenmitglieder können eingreifen, verändern und sehen, was hilft und was Kinder schädigt. Dadurch entstehen für die Klienten Verbindungen zu eigenem Verhalten als Erwachsene und auch als Kind. In der psychodramatischen Arbeit soll am Ende der Therapie auf jeden Fall stattgefunden haben »1. ein Gespräch zwischen mir als Missbrauchsopfer und denen, die mir Gewalt antaten, 2. ein Gespräch zwischen mir als sexuellem Gewalttäter und denen, die mir Gewalt angetan haben, und 3. ein Gespräch zwischen mir als Missbrauchsopfer und den Opfern, denen ich Gewalt angetan habe« (Baim, 2000, S. 166). Baim geht davon aus, dass der wirksamste Schlüssel zu dem darunter liegenden Trauma meistens in der Rolle des Täters verborgen ist. Deshalb lässt er den Täter-Klienten zunächst kognitiv seine Rolle als Täter prozesshaft erfassen, indem er ihn schriftlich seinen Gewaltzirkel erarbeiten und eine Idee entwickeln lässt, wie er diesen Kreis stoppen könnte. Bei der dann folgenden psychodramatischen Arbeit benutzt Baim ein konsequent strukturiertes Vorgehen, um zu vermeiden, dass der Klient bei dem Ausspielen der eigenen Täterrolle dissoziiert: Er lässt den Patienten 1. auf der Bühne symbolisch seine intrapsychischen Stärken repräsentieren und dazu eine mit ihm interagierende transpersonale Kontaktperson. 2. Ein Halt gebendes Doppel begleitet den Klienten durch die ganze Spielphase. 3. Ein Hilfs-Ich übernimmt die Rolle des Täters in der Spielszene. Der Protagonist beschreibt sein Denken, Fühlen und Verhalten während der Gewalttat selbst von außen. 4. Er berichtet von außen über den Ort,

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an dem das Ganze stattgefunden hat, und über seine eigene Position und seine Handlungen an diesem Ort. 5. Mit einem Symbol markiert er in der Situation die Stelle, an der er sich bei seiner Tat befand. 6. Er wiederholt die Worte, die er damals benutzt hat, steht aber immer noch außerhalb der Szene. 7. Erst danach nimmt er in der Szene seine eigene Rolle ein und spielt diese. Er tauscht dabei aber immer wieder die Rolle mit seinen vorher festgelegten internen und externen stabilisierenden Hilfs-Ichs und auch mit seinem Opfer, um die Dynamik in der Täterrolle zu vermindern und eine bessere Balance herzustellen. Baim hat gute Erfahrungen damit gemacht, den Täter während der Therapie in seinem Alltag wiederholt für längere Zeit die Rolle eines fiktiven »Mr. Self-Aware« einnehmen zu lassen, eines fiktiven ehemaligen Täters, der das Therapieprogramm erfolgreich durchlaufen hat, sich in einer angemessenen Balance hält und nicht rückfällig wird. Bei der Traumaverarbeitung eines eigenen Kindheitstraumas arbeitet Baim ganz ähnlich wie bei der Aufarbeitung der Straftaten: Er ließ zum Beispiel seinen Klienten Adrian, der ein mit ihm verwandtes Mädchen zwischen dem 9. und 11. Lebensjahr kontinuierlich sexuell missbraucht hatte, die folgenden Dinge auf der Bühne symbolisch repräsentieren 1. die Fähigkeit des Klienten, für andere zu sorgen, seine Fähigkeit, zuzuhören und Ähnliches. Dazu dann 2. eine gute Mutter, die anders als seine eigene Mutter aktiv eingreift und ihn als Kind gegenüber seinem Vater beschützt, der ihn früher in brutalster Weise misshandelte. 3. Dazu wählte der Klient ein Gruppenmitglied aus, das die transpersonale schützende Figur von Martin Luther King spielte. 4. Der Klient wurde von einem haltgebenden Doppelgänger begleitet. 5. In dem Fallbeispiel spielten zwei Hilfs-Ichs die Gewaltszene zunächst vor. Der Therapeut, der Klient selbst und auch die Gruppenmitglieder beobachteten aus der Spiegelposition von außen die Handlungen des brutalen Vaters und bewerteten sie als »unglaubliche Gewalttätigkeit«. Es folgte eine Begegnung mit der fiktiven hilfreichen guten Mutter, die in eine Katharsis des Protagonisten mündete. Trotzdem musste der Klient einmal auch selbst in die Missbrauchszene hineingehen, in seine eigene Rolle als Opfer, um diese in sich sensomotorisch lebendig zu machen, jetzt aber anders als früher in einer »haltgebenden Weise«. Denn mitten in der Gewaltszene rettete die neue, starke und gerechte Mutter den achtjährigen Jungen. Dies führte bei dem Patienten zu einer erneuten zweiten intensiven kathartischen Erfahrung. Nach Baim hat sich sein Klient Adrian auch nach der Entlassung auf Bewährung in dem Beobachtungszeitraum von mehr als einem Jahr weiter positiv entwickelt und weitere Fortschritte gemacht. Er wurde zumindest in diesem Zeitraum nicht rückfällig.

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5.17.6 Jörg Burmeister (2000, S. 198–225): Psychodrama with Survivors of Traffic Accidents In der Bundesrepublik werden nach Burmeister bei Verkehrsunfällen jedes Jahr 500.000 Menschen verletzt, 100.000 davon schwer. Davon entwickeln 10–30 % eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) unabhängig von der Schwere der körperlichen Verletzung (Burmeister, 2000, S. 202 f.). Handlungsmethoden wie Psychodrama beziehen nach Burmeister (2000, S. 200, 206) in die Therapie spezifisch die motorischen, sensorischen und affektiven Teile des Gehirns mit ein und aktivieren so auch das Traumagedächtnis in der rechten Gehirnhälfte. Burmeister arbeitet vorwiegend im Einzelsetting. Er nimmt gegenüber den Traumaopfern die therapeutische Haltung eines Doppelgängers und Geburtshelfers ein, um das eigenbestimmte, spontan-kreative Handeln seiner Patienten zu fördern. Er unterteilt sein »integratives Behandlungsmodell für PTSD« in vier Phasen: 1. In der Vorbereitungsphase informiert der Therapeut ausführlich über das Krankheitsbild der PTSD. Denn oft würden die Betroffenen auf ihre Symptomatik sekundär mit Scham, Schuld, Angstzuständen und Depressionen reagieren (Burmeister, 2000, S. 207). Er lässt die Protagonistin Imaginationsübungen durchführen und mit seiner Hilfe durch Doppeln Erinnerungen oder Szenen aus Mythen, Märchen oder der Fantasie finden, »die die Fähigkeit fördern, zu wählen, zu entscheiden […] und wieder wirksam zu sein« (Burmeister, 2000, S. 209). 2. Er lässt die Protagonistin diese psychisch stabilisierenden Erinnerungen und Szenen psychodramatisch konkret als »sicheren Ort« im Therapieraum szenisch aufbauen (Burmeister, 2000, S. 210 ff.). In der 3. Phase der Traumaverarbeitung soll der Betreffende seine Traumageschichte handelnd wiedererleben und dabei aber verändern (Burmeister, 2000, S. 212 ff.). Das findet jedoch anders als früher im beschützenden Rahmen der therapeutischen Beziehung statt. Dabei stabilisiert Burmeister die Protagonistin immer wieder psychisch durch angemessene Selbststabilisierungstechniken, zum Beispiel durch den »sicheren Ort«, Atemübungen oder den Teddybären aus der Kindheit (Burmeister, 2000, S. 214). Auch soll die Patientin nicht stehen bleiben im Moment des größten Schreckens, sondern, ausgehend von ihren eigenen Impulsen, die Geschichte mutig auch anders enden lassen. 4. Es folgt die Phase der Einbindung in die Welt, unter anderem durch die Technik des »sozialen NetzwerkInventars« (Burmeister, 2000, S. 215).

6 Angststörungen

6.1  Die gesellschaftlichen Bedingungen von Ängsten In unseren modernen Gesellschaften nehmen trotz immer weiter zunehmenden Wohlstands und nach außen gelebten demonstrativen Selbstbewusstseins die Ängste zu. Twenge (zitiert nach Wilkinson und Picket, 2010, S. 48 ff.) hat in einer Zusammenfassung von 269 Studien festgestellt: »Ob Studenten oder Kinder die Befragten waren, das Ergebnis war immer das Gleiche. Am Ende des Befragungszeitraumes hatte ein Student im Durchschnitt 85 % mehr Ängste als der Bevölkerungsdurchschnitt zu Beginn der Periode, und in den späten 1980erJahren waren die Ängste bei Kindern höher als bei Psychiatriepatienten in den 1950er-Jahren. […] Dieser Trend zur Verschlechterung findet sich auch in verwandten Bereichen, etwa bei Depressionen. […] So zeigte sich in Großbritannien […], dass bei Menschen Mitte zwanzig, die 1970 geboren sind, Depressionserkrankungen bereits doppelt so häufig auftreten wie bei einer früheren Befragung von Menschen dieser Altersgruppe, die 1958 geboren sind. […] Bei den Jugendlichen ist dieses Phänomen begleitet von zunehmenden Verhaltensstörungen – bis hin zu Straftaten, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Das betrifft junge Männer und Frauen.« Die Entwicklung hin zu mehr Ängsten werde von den Jugendlichen aber nach außen durch eine betont selbstbewusste kompensatorische Haltung verdeckt. Das zeige sich daran, dass »in den 1950er-Jahren 12 % der Teenager der Behauptung zustimmten: ›Ich bin eine wichtige Person‹. Ende der 1980er-Jahre bejahten das 80 %« (Wilkinson und Picket, 2010, S. 51 f.). »Diese Art Selbstbewusstsein war (und ist) offenbar fragil und muss jede Kritik zurückweisen – eine Art Pfeifen im dunklen Wald. […] Man fasst diese Ausprägungen auch in Begriffen wie ›krankhafter Egoismus‹, ›unsicheres Selbstbewusstsein‹ oder ›Narzissmus‹ zusammen. […] 2006 lagen die Werte von zwei Dritteln der amerikanischen College-Studenten über dem Durchschnittswert für Narzissmus von 1982.«

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Angststörungen

Zentraler Gedanke Wilkinson und Picket wiesen nach, dass die zunehmenden Einkommensunterschiede in einer Gesellschaft die Trends zu mehr Ängsten verstärken (Wilkinson und Picket, 2010, S. 50). Sie führen das darauf zurück, dass in den Gesellschaften mit hohen Einkommensunterschieden die psychosozialen Stressfaktoren größer sind.

Die Menschen haben Angst um ihren sozialen Status, es gibt weniger soziale Bindungen, und Kinder sind in der frühen Kindheit häufiger Stress ausgesetzt: »Die entscheidende Erkenntnis besteht darin, dass Sterblichkeit und Gesundheit in einer Gesellschaft weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums. Je gleicher der Reichtum verteilt ist, desto besser die Volksgesundheit« (Wilkinson und Picket, 2010, S. 101). Eine Verringerung der Ungleichheit im Einkommen schlägt sich unmittelbar in besserer Volksgesundheit nieder, wie an den Beispielen Großbritannien vorübergehend in den beiden Weltkriegen (Wilkinson und Picket, 2010, S. 104) und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg (Wilkinson und Picket, 2010, S. 107) zu sehen ist. Das Besondere ist, dass in den wohlhabenden Industriestaaten auch bei den reichen Menschen mit zunehmender Ungleichheit des Einkommens der Gesellschaft die gesundheitlichen Risiken steigen und die Lebenserwartung abnimmt (Wilkinson und Picket, 2010, S. 95). Zum Beispiel sind »in den USA, wo die soziale Spreizung zwischen Arm und Reich sehr groß ist, die Zahl der schweren psychischen Erkrankungen fünfmal höher […] als in den skandinavischen Ländern, […] das aber jeweils in allen Einkommensgruppen. […] Das angeblich bequeme Millionärsdasein schützt nicht vor Ängsten. […] Die Reichen mauern sich ein. Das verschafft vielleicht ein vermeintliches Gefühl der Geborgenheit. Doch die Leute bemerken nicht, dass ihre soziale Umgebung nicht mehr funktioniert. Der Stress kommt sozusagen durch die Hintertür wieder herein. Es ist die Angst, etwas zu verlieren. […] Die USA, Singapur, Portugal und Großbritannien rangieren am unteren Ende der Rangliste. In diesen Staaten erzielen die 20 % Topverdiener das Sieben-, Acht- oder sogar Neunfache des Einkommens, das den 20 % am unteren Ende zur Verfügung steht. […] In Japan und Schweden […] übertreffen die Topverdiener den Durchschnittsverdienst ihrer ärmeren Landsleute nur um das Zwei- bis Dreifache. […] Diese Länder nehmen bei Lebenserwartung und allgemeiner Gesundheit einen Spitzenplatz ein« (Süddeutsche Zeitung vom 2.11.2009). Zu diesen Befunden passt, dass »das Risiko für Angststörungen in den Städten um 21 % […] höher ist als auf dem Land« (Christian Weber, SZ, Bericht vom 24.6.2011 über eine Studie des Mannheimer Zentralinstituts für seelische Gesundheit von Florian Lederbogen und Andreas Meyer-Lindenberg).

Was sind Angststörungen?

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Die allgemeine Angstbereitschaft der Menschen wird zusätzlich durch noch andere reale Bedrohungen gefördert: Staaten zerfallen, weltweit steigen die Flüchtlingszahlen, und der Terrorismus und seine Abwehr erreicht die Industrieländer. Der Klimawandel nimmt zu, ohne dass die Staatengemeinschaft bisher ausreichend gegensteuert. Die Verschuldung der Industriestaaten steigt immer weiter in astronomische Höhen. Die Regierungen der Industriestaaten, die verantwortlich dafür wären, die Spannungen zwischen Arm und Reich auszugleichen, haben gegenüber den Finanzmärkten politisch weitgehend kapituliert. Sie verlagern die Lösung der Probleme auf die zukünftigen Generationen. Gleichzeitig werden aber die seelisch protektiven Faktoren in den Gesellschaften schwächer: Die Beziehungen der Menschen untereinander und die Beziehung zur Natur werden durch zunehmende Urbanisierung und die Cybertechnologien ausgedünnt. Religiöse Werte und Normen werden zunehmend durch die der kapitalistischen Marktwirtschaft ersetzt.

6.2  Was sind Angststörungen? Das Gemeinsame bei Menschen mit Angststörungen ist der Affekt der Angst. Dabei fällt auf, dass der Begriff »Angst« im allgemeinen Sprachgebrauch für unterschiedliche Arten der Angst benutzt wird. Zunächst ist zwischen real begründeten Ängsten und krankhaften Ängsten zu unterscheiden (siehe Abb. 18). Eine real begründete Angst ist nicht krankhaft, sie ist eine Signalangst und warnt vor einer realen Gefahr. Real begründete Ängste entstehen zum Beispiel bei drohendem Arbeitsplatzverlust, bei einer Prüfung, bei einer Krebserkrankung oder bei einem real drohenden Verlust einer Bezugsperson. Sie sind deshalb oft bei akuten Belastungsreaktionen (F43.0) zu finden. Bei einer real begründeten Angst ist es therapeutisch hilfreich, wenn der Therapeut sich mit der Patientin zusammen einen Überblick über die Qualität und das Ausmaß der realen Bedrohung im Konflikt der Patientin verschafft. Das kann psychodramatisch mithilfe der Tischbühne geschehen oder bei Beziehungskonflikten mit dem psychodramatischen Dialog. In einem zweiten Schritt entwickeln beide zusammen Ideen, wie die Patientin mit dem, was ihr Angst macht, angemessen umgehen kann. Sie erproben zum Beispiel psychodramatisch in einem Zukunftsspiel, wie sie sich in der ängstigenden Situation klug verhalten könnte. Auch versuchen sie zusammen, die Folgen zu erfassen, die eintreten würden, wenn die Patientin abwarten würde und nichts gegen ihre Angst täte.

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Angststörungen

Zentraler Gedanke Real begründete Ängste vermindern sich nur, wenn der oder die Betroffene gegen die real drohende Gefahr ganz real äußerlich handelnd etwas tut. Wenn jemand über die Straße geht und es unterlässt, sich umzuschauen und zu prüfen, ob ein Auto kommt, bleibt die Angst solange erhalten, bis er dann doch nach links und rechts sieht.

Angstaffekt

gesunde Realangst

übertriebene Ängste

krankhafte Ängste

verdrängte Ängste bei Phobien

Panikattacken Abwehrängste

sekundäre Angst vor Panikattacken

Abbildung 18: Die diagnostische Differenzierung des Angstaffekts

Wichtige Definition Krankhaft sind Ängste, wenn sie unangemessen stark oder aus der Situation selbst heraus nicht begründbar sind. Um die spezifische Selbstorganisation von Patientinnen und Patienten mit Angststörungen zu erfassen, ist es hilfreich, bei den krankhaften Ängsten diagnostisch zwischen übertriebenen Ängsten, verdrängten Ängsten und Panikattacken zu unterscheiden (siehe Abb. 18).

1. Bei übertriebenen Ängsten ist die Angst im Kern noch eine situationsbezogene Realangst. Die Patienten haben aber aufgrund einer allgemeinen IchSchwäche, von Selbstwertproblemen oder von selbstverletzendem Denken und Handeln Mühe, sich in der real bedrohlichen Situation zu behaupten. Das trifft zum Beispiel zu auf Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung (F60.7) oder einer ängstlichen Depression mit Versagensangst

Was sind Angststörungen?

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(F41.2). Patienten mit übertriebenen Ängsten sollten störungsspezifisch behandelt werden nach dem Therapiemodell der Behandlung von Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung (siehe Kap. 4.7–4.10) oder dem der Behandlung von depressiven Neurosen (siehe Kap. 8.4). Sie werden oft von einem überkritischen oder sogar sadistischen Über-Ich gequält. Es kann hilfreich sein, das sadistische Über-Ich mit einem leeren Stuhl im Therapiezimmer zu konkretisieren und die Patientin in die Rolle ihres sadistischen Über-Ichs wechseln und im Rollenspiel dessen Appelle und Vorschriften erkunden zu lassen. 2. Verdrängte Ängste sind bei isolierten Phobien (F40.2) zu finden. Patienten mit isolierten Phobien verdrängen unbewusst den Konflikt, der in der Vergangenheit ursprünglich die Angst erzeugte, und verschieben den Affekt der Angst auf ein relativ belangloses anderes äußeres Objekt (Mentzos, 2011, S. 110). Das Ergebnis ist dann zum Beispiel eine Spinnenphobie oder eine Hundephobie. Die Behandlung wird im Kapitel 6.9.2 beschrieben. 3. Panikattacken. Wichtige Definition Panikattacken sind primär nicht objektbezogen. Sie sind vielmehr Abwehrängste, also eine Reaktion der Patientin auf den drohenden Zusammenbruch ihrer intrapsychischen Selbstorganisation. »Es geht um unbewusste, intrapsychische Gefährdung« durch Zusammenbruch eines alten Abwehrsystems der Patienten (Mentzos, 2011, S. 117) (siehe Kap. 6.3). Panikattacken sind nach der ICD-10 schwere Angstzustände, »die sich nicht auf eine spezifische Situation beschränken […] und deshalb auch nicht vorhersehbar sind«.

 anikattacken sind begleitet von »plötzlich auftretendem Herzklopfen, BrustP schmerz, Erstickungsgefühlen, Schwindel und Entfremdungsgefühlen. […] Oft entsteht sekundär auch die Furcht zu sterben, vor Kontrollverlust oder die Angst, wahnsinnig zu werden«. Das Abwehrsystem von Patienten mit Panikattacken ist geprägt durch eine in der Kindheit entwickelte Anpassungshaltung oder/und durch mehr oder weniger starkes Kompensieren durch Leistung oder Grandiosität. Für Patienten mit Panikattacken besteht intrapsychisch die Notwendigkeit, ihr altes Abwehrsystem und ihre perfekten Ziele (Schacht, 2009, S. 92 ff.) auch bei latenten realen Bedrohungen blind aufrechtzuerhalten (siehe Fallbeispiele 45, 46, 47 und 48). Diese Patienten haben nach Mentzos (2011, S. 117) keine Angst vor dem realen körperlichen Tod, »sondern vor dem psychischen Tod, […] Angst vor dem Selbstverlust oder in anderen Fällen Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die

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Angststörungen

eigenen […] Impulse«. Sie erleben den drohenden Zusammenbruch ihres Abwehrsystems oft körperlich als vegetative Erscheinungen und suchen für ihre diffuse Angst vor dem Kontrollverlust oder Selbstverlust sekundär eine scheinbar rationale Erklärung. So wird zum Beispiel die diffuse, von Herzrasen begleitete Angst bei einer Herzphobie zur Angst, an einem Herzinfarkt zu sterben. Eine Panikstörung (F41.0) kann Teil einer Traumafolgestörung, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer Agoraphobie (F40.0) sein. 4. Die sekundäre Angst vor Panikattacken. Als Reaktion auf das Gefühl der existenziellen Bedrohung bei Panikattacken entwickeln die Patienten gewöhnlich eine sekundäre Angst vor ihren Angstanfällen und versuchen, die Situationen, die ihre Panikattacken auslösen, wenn möglich, zu vermeiden. »Rund 25 % aller Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Angststörung: 6 % eine Agoraphobie, 3 % eine Panikstörung, 5 % eine generalisierte Angststörung, 11 % eine spezifische Phobie, 13 % eine soziale Phobie« (Morschitzky, 1998, S. 130). Menschen mit einer Agoraphobie (F40.0) haben nach der ICD-10 »Befürchtungen, das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein, allein mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen«. Bei ihnen sind häufig eine Panikstörung, depressive oder zwanghafte Symptome vorhanden. Patienten mit einer sozialen Phobie (F40.1) haben »Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zur Vermeidung sozialer Situationen führt«, ein niedriges Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik. Das kann sich »in Beschwerden wie Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen äußern«. Bei Menschen mit isolierten Phobien (F40.2) ist die Phobie »auf eng umschriebene Situationen wie Nähe von bestimmten Tieren, Höhen, Dunkelheit, Fliegen, geschlossene Räume, Urinieren […] auf öffentlichen Toiletten, […] oder auf den Anblick von Blut […] beschränkt«. Panikstörungen (F41.0) sind durch »wiederkehrende, schwere Angstattacken […] gekennzeichnet, die sich nicht auf eine spezifische Situation beschränken«. Bei einer generalisierten Angststörung (F41.1) ist die Angst »anhaltend und nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt, […] sie ist vielmehr ›frei flottierend‹. Die […] Symptome sind variabel, […] ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden gehören zu diesem Bild«, aber auch eigene Krankheitsängste oder die »Befürchtung, […] ein Angehöriger könnte demnächst erkranken oder einen Unfall haben«.

Die besondere Psychodynamik von Patienten mit Panikattacken

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6.3 Die besondere Psychodynamik von Patienten mit Panikattacken als Hindernis in der Therapie Wegen der besonderen Probleme in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Panikattacken wird die Behandlung dieser Patientengruppe im Folgenden besonders ausführlich beschrieben. Fallbeispiel 44: Ein 32-jähriger Patient erzählte bei der Anamneseerhebung, dass seine Panikattacken (F40.0) in seinem 23. Lebensjahr angefangen hatten. Zusammen mit dem Psychotherapeuten arbeitet er heraus, dass das der Zeitpunkt war, an dem er sich entschlossen hatte, fortan nach dem Motto zu leben »Geht nicht, gibt es nicht!« Er hatte sich damit in seiner Selbstorganisation einseitig auf ein Konfliktlösungsmuster festgelegt, das sich als kontraproduktiv erwies in Situationen, in denen es wichtig gewesen wäre, mit sich selbst fehlerfreundlich umzugehen. Fallbeispiel 45: Ein Ingenieur kam wegen massiver Panikattacken (ICD F41.0) in Psychotherapie. Der Therapeut und der Patient suchten zusammen nach realen Gründen für seine Ängste. Es stellte sich heraus: Der Patient hatte in einer nahen Kleinstadt jetzt das vierte Geschäft aufgemacht und wollte noch weitere eröffnen. Es ging ihm darum, »reich zu werden«. Zusammen erkannten der Therapeut und der Patient: Bei einem Scheitern auch nur eines der Geschäfte würden auch die anderen insolvent werden, weil immer ein Geschäft durch das andere finanziert war. Der Patient, Herr C., sah ein, dass seine Existenz finanziell real gefährdet war, und entschied sich, zunächst kein weiteres Geschäft mehr anzumieten. Die Panikattacken traten aber weiterhin auf, weil die Intervention des Therapeuten an seiner Abwehr durch Grandiosität nichts verändert hatte. Zwei Jahre später kam Herr C. in die Praxis und berichtete dem Therapeuten, dass seine Angstzustände verschwunden seien. Er hatte stattdessen »nur« eine ganz real begründete Existenzangst. Er war jetzt arbeitslos, geschieden, arbeitete trotz eines Ingenieurstudiums als Hilfsarbeiter für 10 DM die Stunde schwarz auf dem Bau und hatte 70 000 DM Schulden. Was war geschehen? Herr C. hatte in allen seinen Läden ausgerechnet seine Frau als Geschäftsführerin eingesetzt, von der er eigentlich schon seit seiner Heirat wusste, dass sie immer wieder Tausende Deutsche Mark heimlich beiseitegeschafft hatte. Als seine Geschäfte pleitegingen und er seine Schulden abzahlen musste, wechselte er naiv den Arbeitgeber wegen eines um 1000 DM höheren Monatsgehaltes. Er nahm seinen Kundenstamm in die neue Firma mit, wurde dort aber nach einem halben Jahr wieder entlassen. Weil der Patient kein Projekt mehr am Laufen hatte, mit dem er versuchen konnte, als Held die Grenzen des Menschen zu erweitern, und weil er, demütig geworden, gegen die reale finanzielle Bedrohung seiner Existenz tat, was er tun konnte, hatte er jetzt auch

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Angststörungen

keine Panikattacken mehr. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands baute er sich in den neuen Bundesländern eine neue berufliche Existenz auf. Fallbeispiel 46: Ein 35-jähriger Kaufmann litt seit drei Jahren unter einer Agoraphobie (ICD F40.0) mit Panikattacken. Diese traten typischerweise auf im Bus, in der Bahn, beim Friseur oder im Auto auf der Autobahn, also überall, wo er nicht frei über sich bestimmen konnte, ohne anderen Menschen gleich aufzufallen oder diese zu stören. Erst nach einem Jahr Gruppentherapie erkannten der Therapeut und der Patient, dass die Angstzustände ausgelöst worden waren durch einen Besuch seiner Ehefrau bei einem Orthopäden. Der Arzt hatte seiner Frau in Gegenwart des Patienten gesagt: »Wenn Sie nichts dagegen tun, dann sitzen Sie in zehn Jahren im Rollstuhl!« Der Patient war durch diese reale Bedrohung latent retraumatisiert worden. Denn er hatte eine schwierige Kindheit und eine noch schwierigere Jugend erlebt, in der er nach der Ehetrennung der Eltern für den lange suizidalen Vater sorgen musste, mit diesem im Ehebett geschlafen und diesen ständig bewacht hatte. Erst durch seine Ehe und seine zwei Kinder hatte er ein freieres und glücklicheres Leben führen können. Solange er sich an seine Halt gebende, warmherzige Ehefrau anpassen und bei ihr nachholen konnte, was er als Kind vermisst hatte, wurde seine Anpassungshaltung von außen positiv bestätigt. Als seine Ehefrau aber chronisch erkrankte, drohte seine ich-syntone Anpassungshaltung zusammenzubrechen und er reagierte mit Panikattacken.

Eine Agoraphobie mit Panikattacken entwickelt sich in vier Schritten: 1. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine […] Angststörung entsteht, ist dort groß, wo ein Sicherheit bietendes benignes internalisiertes Objekt (= die Summe der Niederschläge positiver Beziehungserfahrungen in der Kindheit) im Laufe der Entwicklung des Patienten nicht gebildet werden konnte« (Mentzos, 2011, S. 118, Grimmer, 2007, 2013, S. 190 f.). 2. Die Patienten haben in ihrer Kindheit als Reaktion auf narzisstische Kränkungen, Schamsituationen, auf mangelnden Halt oder drohenden Verlust von Bezugspersonen, als Reaktion auf Entwertungen oder körperliche oder sexuelle Gewalt ein Abwehrsystem aufgebaut: Sie haben als Kind gelernt, sich durch Anpassung an die herrschenden Umstände oder durch Kompensieren durch Grandiosität vor nicht zu bewältigenden Affekten zu schützen, die ihnen von den Bezugspersonen zugewiesene Rolle zu spielen und ihren leidvollen Affekten keine Berechtigung zu geben. Wenn jemand als Kind seine Affekte nicht zulassen darf und kann, lernt er aber auch nicht, mit seinen Affekten angemessen umzugehen, er bleibt darin gleichsam ein Analphabet und hat als Folge davon auch in Beziehungen oft Schwierigkeiten. Je stär-

Die besondere Psychodynamik von Patienten mit Panikattacken

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ker Angstpatienten in der Gegenwart ihre Affekte durch Anpassung oder Grandiosität abwehren, desto schwerer ist erfahrungsgemäß die hinter der Angststörung stehende Grunderkrankung und desto wahrscheinlicher ist es, dass die Angststörung der Ausdruck einer strukturellen Störung oder Teil einer Traumafolgestörung ist. 3. Eine Agoraphobie beginnt typischerweise, wenn in einem realen äußeren Konflikt eine innere Umstellung nötig wäre, die Abwehr durch Anpassung oder die Kompensation durch Grandiosität diese Umstellung aber verhindert. Zentraler Gedanke Patienten, die eine Agoraphobie entwickeln, sitzen in der Falle: Die alte Lösung der Anpassung oder Kompensation führt nicht zu dem gewünschten Erfolg. Die neue Lösung, Gefühle von Scham, Unsicherheit, Entwertung oder Verlassenheit zuzulassen und die latente reale Bedrohung wahrzunehmen, würde bei den Patienten aber zu Panikattacken führen, weil diese neue Lösung sie gerade in die Affekte hineinführt, mit denen sie schon in der Kindheit nicht umgehen konnten. Ihr altes Abwehrsystem würde zusammenbrechen, Selbstverlust oder Kontrollverlust träten auf.

4. Aufgrund ihrer Abwehr entsteht bei den Patienten eine Inkongruenz zwischen der Realität der Konfliktsituation und ihrer Wahrnehmung dieser Realität. Ganz nach dem Motto »… und so schloss er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf«, blenden sie die Realität aus und versuchen, den Konflikt mit ihren alten Mitteln zu lösen: Sie halten weiter an ihrem Wunsch fest, wichtig zu sein, und versuchen, cool zu bleiben, keine Unsicherheit oder Schwäche zuzulassen und weiterhin zu funktionieren, als ob nichts wäre. Sie verkennen wie der Patient im Fallbeispiel 45, um ihr Selbstbild aufrechtzuerhalten, in teils grotesker Weise die Realität ihrer Lebenssituation. Ihre durch Verleugnung verfälschte Wahrnehmung ihrer inneren und äußeren Realität hindert sie an einer angemessenen Konfliktbewältigung. Es kommt zu inneren Spannungen, die sich dann schon bei kleinen spezifischen Reizen als Panikattacken entladen. 5. Als Reaktion auf die Panikattacken entwickeln die Betroffenen eine sekundäre Angst vor dem nächsten Angstanfall und versuchen, die spezifischen Situationen, die bei ihnen Panikattacken auslösen, möglichst zu vermeiden. Die alte Lösung, keine »Schwächen« zu zeigen, führt bei Patienten mit Panikattacken oft zu einem grotesken Ausblenden einer realen Bedrohung (siehe Fallbeispiele 44, 45 und 46). Typischerweise litt zum Beispiel ein Patient unter Panik-

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attacken, der durch einen Sehfehler nur noch 15 % Sehfähigkeit hatte und trotz allmählicher Verschlechterung seiner Sehfähigkeit den ganzen Tag am Computer-Bildschirm arbeitete. Bei einem anderen Mann verschwand eine Agoraphobie trotz dreijähriger Psychotherapie erst, als er sich zur Überraschung des Therapeuten als alkoholkrank bekannt hatte, eine Suchtkrankengruppe besuchte und abstinent lebte (siehe Fallbeispiel 94 in Kap. 10.6.2). Eine Lehrerin entwickelte Panikattacken, als sie wegen einer fortschreitenden Multiplen Sklerose Sehstörungen bekam, aber tapfer weiter im Dunkeln Auto fuhr. Eine Werbekauffrau, die befürchtete, durch ihre Panikattacken ihren Arbeitsplatz zu verlieren, organisierte mit ihrem ebenfalls berufstätigen Ehemann die Betreuung ihres Kleinkindes zeitlich so eng, dass an ihrer Arbeitsstelle in ihrem Zeitplan nicht die kleinste Störung auftreten durfte. Das gelang natürlich nicht immer. Ein Jahr später trennte sie sich von ihrem Ehemann. Ihr Anpassungsdruck wurde geringer. Sie organisierte ihr ganzes Leben neu, und ihre Panikattacken verschwanden. Zentraler Gedanke Tiefenpsychologisch orientiert arbeitende Therapeutinnen und Therapeuten versuchen oft, mit ihren Angstpatienten schon am Anfang der Therapie die latenten Konflikte zu bearbeiten, deren Wahrnehmung die Patienten durch ihre Abwehr ausblenden. Der Therapeut wendet sich dadurch aber gegen die durch Abwehr geprägte Selbstorganisation der Patienten. Es kommt über kurz oder lang in der therapeutischen Beziehung zu einem versteckten Machtkampf, der weitere Fortschritte in der Therapie verhindert.

Das führt dazu, dass viele tiefenpsychologisch orientiert arbeitende Therapeutinnen und Therapeuten nur ungern Patienten mit Panikattacken in Therapie nehmen. Seminarteilnehmer berichteten, dass sie bei Angstpatienten zögern, ihnen am Telefon einen Termin für ein Erstgespräch zu geben, oder sie verweisen sie »zunächst« an einen Verhaltenstherapeuten.

6.4 Die Einleitung der Behandlung von Patienten mit Panikattacken Zentraler Gedanke In einer an der Selbstorganisation der Patienten orientierten Therapie von Menschen mit Panikattacken gibt der Therapeut, wie unten im Fallbeispiel 47 dargestellt, der Panik der Patientin nach dem Motto »Die Seele der Patientin macht nichts umsonst!« radikal Berechtigung. Er identifiziert sich nicht mit

Die Einleitung der Behandlung von Patienten mit Panikattacken

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der verhinderten Aktualisierung des Selbst der Patientin, sondern denkt genau andersherum: Der Therapeut identifiziert sich spielerisch mit der Abwehr der Patientin und bestätigt ihr dadurch unausgesprochen, dass er ihre Angst vor einer erneuten Panikattacke als existenzielle Angst vor einem in der Gegenwart real drohenden Selbstverlust oder Kontrollverlust versteht. Aus diesem Verständnis der Psychodynamik folgt eine spezielle Behandlungstechnik.

Das praktische Vorgehen lässt sich als Abfolge von zwölf Schritten beschreiben. In dem Fallbeispiel 47 markiere ich diese Schritte und erkläre sie gleich im Anschluss. Die Abfolge der Schritte lehnt sich an die Stühlearbeit bei strukturellen Störungen im Kapitel 4.7 an (siehe Abb. 11). Fallbeispiel 47: Eine 45-jährige Patientin mit einer Agoraphobie (F40.0), Frau A., berichtet im Erstgespräch, dass sie seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren unter Panikattacken leidet: »Ich werde die wohl nie mehr los!« Sie ist seit zwei Jahren arbeitslos, nachdem sie an ihrem Arbeitsplatz zweimal einen Anfall mit Herzrasen, Schweißausbrüchen und Hyperventilation erlitten hatte. Ihre Panikattacken fangen an in Situationen, in denen es auffallen würde, wenn sie sich anders verhält als die Menschen um sie herum, zum Beispiel an der Kasse im Supermarkt: »Ich werde dann immer unruhiger, das Herz jagt. Wenn ich dann am Ziel bin und vor der Kasse stehe, kriege ich nichts mehr hin. Ich habe schon wildfremden Menschen meine Geldbörse in die Hand gedrückt, damit die für mich bezahlen. Man ist dann nicht mehr Herr seiner selbst. Das begleitet mich jetzt schon so lange, das ist inzwischen fast wie ein guter Freund, den man nicht mehr missen will […] Ich bin dann out of control.« Der Therapeut stellt etwas entfernt von der Patientin zwei Stühle für die Symptomszene auf (2. Schritt) und deutet auf den ersten Stuhl: »Der eine Stuhl ist für Sie selbst in der Situation, wenn Sie in der Schlange im Supermarkt Panik bekommen. Der andere ist für die Leute, die in der Schlange stehen, vor denen Sie sich nicht blamieren wollen!« Der Therapeut positioniert Frau A. gegenüber noch einen zusätzlichen leeren Stuhl: »Das ist der Stuhl für Ihr inneres selbstverletzendes Denken, Ihr strenges Über-Ich (3. Schritt). Das sagt zu Ihnen: ›Pass auf, dass du hier nicht andere Leute belästigst! Nerve hier nicht herum. Die anderen Menschen in der Schlange haben auch noch was anderes vor!« Der Therapeut stellt neben Frau A. noch einen weiteren leeren Stuhl, den Stuhl für ihr Selbstschutzverhalten (4. Schritt): »Und Sie versuchen dann zunächst wie eine tapfere Heldin mit aller Kraft, sich nichts anmerken zu lassen und halten stand.« Frau A.: »Ja, das erfordert so viel Kraft, die fehlt mir!« (Sie weint). Therapeut (8. Schritt): »Welche Lösungen haben Sie denn bisher gefunden, um bei einem Angstanfall mit sich umzugehen?« Frau A.: »Inzwischen sage ich es den anderen. Als ich jetzt beim Arbeitsamt im Warteraum einen Anfall bekam und die einen Krankenwagen holen

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wollten, habe ich denen gesagt: ›Ich kenne das schon, so einen Anfall, Sie brauchen keinen Krankenwagen zu holen.‹ Ich weiß ja, es geht dann irgendwann auch wieder weg! Auch wenn ich Angst habe, einen Herzinfarkt zu bekommen.« Der Therapeut: »Und als Sie das dann gesagt hatten, war es dann besser?« Frau A.: »Ja, dann wurde mir leichter.« Der Therapeut: »Wenn Sie Ihre Angst nicht verheimlichen, sondern sich anderen mitteilen, wird die Angst weniger. Sie haben da eine Lösung entdeckt, die erfahrungsgemäß auch anderen Angstpatienten hilft, die Angst zu vermindern.« Er deutet auf die Patientin: »Die Lösung kommt aus Ihrem gesunden Erwachsenendenken heraus. Dafür steht der Stuhl, auf dem Sie sitzen.« Frau A.: »Das ist mir aber unheimlich peinlich, das zu sagen, dass ich eine Panikattacke habe. Zuerst versuche ich immer, mich normal zu verhalten, so wie man sich in unserer Gesellschaft verhält, und nicht aufzufallen.« Therapeut (3. Schritt): »Sie tun dann so als ob und wollen die anderen Menschen nicht nerven.« Er deutet mit der Hand auf den Stuhl des Über-Ichs: »Das ist wieder das Denken Ihres Über-Ichs, Ihrer inneren Gouvernante! Die sagt: ›So etwas tut man nicht!‹« Therapeut (7. und 8. Schritt): »Sie haben also selbst schon drei Lösungen gefunden im Umgang mit Ihren Angstzuständen. Einmal sind Sie die Heldin und tun so, als ob Sie keine Angst hätten.« Der Therapeut ergreift einige bunte Bauklötze und legt für jede Lösung einen davon auf den Tisch vor die Patientin: »Dann vermeiden Sie aber auch Situationen, die bei Ihnen Panikanfälle auslösen. Das ist auch eine Lösung, wenn man existenzielle Angst hat. Manchmal aber teilen Sie anderen Personen auch etwas von Ihrer Not mit. Dadurch werden die Angstzustände dann weniger und Sie müssen nicht ins Krankenhaus!« Frau A.: »Zu Hause ist meistens alles okay. Aber als mein Sohn 14 Jahre alt wurde, ist es wieder so extrem geworden. Bei der letzten Arbeitsstelle haben die Kollegen mich dreimal nach Hause gebracht. Der Chef hatte noch Verständnis, aber die meisten denken, wenn man so etwas hat, die spinnt!« Der Therapeut deutet auf den Stuhl ihr gegenüber (3. Schritt): »Ihre innere Gouvernante sagt dann: »Das geht auch wieder weg! Reiß dich zusammen! Und dann versuchen Sie, nicht aufzufallen!« Er deutet auf den Stuhl des »Selbstschutzverhaltens« (5. Schritt): »Wie alt ist dieses Selbstschutzverhalten eigentlich, das Sie als Lösung gefunden haben?« Frau A.: »Auffallen wollte ich noch nie, auch als Kind schon. Das war fremden Menschen gegenüber immer schon so. Als ich Kind war, bin ich mit meinen Füßen immer über den großen Onkel gegangen. Meine Mutter wollte aber, dass ich zum Ballettunterricht gehe. Da habe ich mich dann auf den Boden geschmissen und geschrien. Ich hatte das Gefühl, ich würde zum Henker gebracht, weil ich so komisch gehe. Ich hatte richtige Angst davor. Wegen meiner Schreiereien musste ich dann da nicht hin! Das war als Kind immer so: Alles, wo ich den schützenden Kokon verlassen musste, war schwer. Meine Mutter hatte nicht viel Zeit. Als ich in der Schule in mehreren Diktaten eine Fünf schrieb, hat meine Mutter mir den Hintern verhauen.«

Die Einleitung der Behandlung von Patienten mit Panikattacken

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Der Therapeut positioniert hinter den Stuhl für das Selbstschutzverhalten zwei weitere leere Stühle (7. und 10. Schritt): »Der erste Stuhl hier steht für Sie, als das von der Mutter nicht gesehene Kind, das geschlagen wurde, der andere Stuhl für das wütende Kind, das sich auf den Boden geworfen hat, als es nicht zum Ballett wollte.« Frau A.: »Die Schläge waren natürlich auch nicht förderlich. Das ist heute noch so. Beim Schreiben habe ich diese Unsicherheit, den Tick, in den Duden zu gucken, es muss alles hundertprozentig sein, wenn ich etwas schreibe!« Frau A. berichtet weiter: »Meine Mutter hat dreißig Stunden in der Woche gearbeitet. Ab meinem 11. Lebensjahr ging sie alle zwei Jahre zur Kur. Sie litt unter einer Colitis ulcerosa. Seit acht Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Meine Mutter hat den Kontakt abgebrochen, als ich sie gefragt habe, ob sie ab und zu meinen achtjährigen Sohn von der Schule abholen könnte. Ich arbeitete damals halbtags. Sie lehnte aber jede Hilfe ab. Ich sagte ihr: ›Aber ich war doch auch immer bei Oma, das war bei der damals doch auch kein Problem!‹ Aber meine Mutter wollte das nicht.« Die Patientin ergänzt auf Nachfrage des Therapeuten: »Ich war gern bei meiner Oma, die gab mir Sicherheit und Stabilität. Ich habe mich bei meiner Mutter nicht so wohlgefühlt, ich war in der Beziehung unsicher. Die war nur mit ihrer Psychoanalyse beschäftigt und behauptete immer, die Oma hätte sie und ihre Geschwister zu eng an sich gebunden, oder der Vater sei schuld an ihrem Leiden. Bei ihr hatten immer alle anderen Schuld, nur sie selbst nicht! Meine Mutter hatte immer ganz schlimme Depressionen und gesagt, sie will sich umzubringen. Sie hat sogar gedroht, auch uns Kinder gleich mit zu vergiften. Beim Essen der Suppe war ich immer misstrauisch und hatte Angst!« Die Patientin lacht bei diesen Mitteilungen fröhlich. Der Therapeut deutet auf den Stuhl des »nicht gesehenen Kindes« (6. Schritt): »Sie sind als Kind körperlich geschlagen und seelisch missbraucht worden. Das nennt man seelische Traumatisierung!« Um die Patientin nicht zu sehr in ihr Traumaerleben hinein regredieren zu lassen, wendet der Therapeut seine Aufmerksamkeit jetzt auf ihr Selbstschutzverhalten und interpretiert dieses aktiv positiv um in eine in der Kindheit von der Patientin selbst entwickelte Selbststabilisierungstechnik (5. Schritt): »Damals war es in Ihrem Leben wichtig gewesen, sich nichts anmerken zu lassen. Sonst wäre Ihre Mutter nur noch wütender geworden.« Frau A.: »Ich denke manchmal an meine Kindheit, wenn ich jetzt in der Zeitung lese, dass eine Mutter sich selbst und ihre Kinder umgebracht hat.« Frau A. lächelt und fragt fast fröhlich: »Soll ich noch mehr erzählen? Ich habe noch mehr Horrorgeschichten!« Der Therapeut erwidert ernst (12. Schritt): »Nein, das wird mir zu viel!« Da fängt die Patientin plötzlich an zu weinen. Erst durch diese Rückmeldung spürt sie überhaupt ihre eigene Überforderung. Frau A.: »Ja, das habe ich gelernt, ich musste immer tapfer zu sein, immer die Zähne zusammenbeißen und durch!« Therapeut (8. Schritt): »Das stimmt, das ist damals sicher sehr sinnvoll gewesen. Eigentlich müsste das für Sie

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dann aber besonders schwer sein, anderen Menschen mitzuteilen, dass Sie einen Angstanfall haben, das ist für Sie eine große Leistung!« Frau A.: »Ich wurde von meiner Mutter immer sehr gelobt, wenn ich ganz still und lieb war: ›Oh, Sabine war sehr lieb, ich habe sie überhaupt nicht gehört.‹« Frau A. weint: »Das Kind in mir findet das überhaupt nicht gut! Es war dann immer mein Ziel, möglichst leise zu sein, weil ich dann ja gelobt wurde: je leiser, desto besser!« Frau A. weint kathartisch: »Das ist sehr schmerzhaft, darüber zu reden. Ich war immer völlig verzweifelt, wenn meine Mutter aufgebracht war, und habe mir vorgenommen: ›Das mache ich nie wieder! Ich muss versuchen, noch lieber zu sein.‹« Der Therapeut bestärkt die Patientin in ihrem gesunden Erwachsenendenken (8. Schritt): »Sie haben als Kind gelernt, immer so zu tun, als ob nichts wäre, und tapfer zu sein. Aber merken Sie eigentlich, dass Sie inzwischen auch eine andere, neue Lösung gefunden haben? Sie erzählen jetzt Menschen in Ihrer Umgebung manchmal von Ihren Ängsten und machen dabei die Erfahrung: Wenn Sie sich anderen mitteilen, bekommen Sie Hilfe, ganz anders als in Ihrer Kindheit bei Ihrer Mutter!« In der therapeutischen Beziehung entsteht eine große, satte Stille. Der Therapeut: »Ich finde das sehr, sehr viel, was wir heute zusammen erarbeitet haben.« Frau A.: »Ich war zwischendurch heute in der Stunde wieder total aufgeregt in meinem Bauch, als ich das über meine Mutter erzählt habe! Ich habe schon gedacht, ich schreibe das alles einmal auf!« Therapeut: »Ja, aber schreiben Sie das bitte in der 3. Person auf und bitte zunächst nur ein einziges Leidensereignis aus dem Leben der kleinen Sabine […] Und überlegen Sie dann bitte sofort und schreiben Sie dazu, was das Kind in der Situation stattdessen eigentlich gebraucht hätte! Sie können mir, wenn Sie mögen, diese kleinen Geschichten auch mitbringen.« Der Therapeut und die Patientin vereinbaren zunächst drei weitere Stunden zur Planung und Einleitung einer Therapie.

Bei einer Angststörung erfassen die Patientin und der Therapeut am Beginn der Behandlung mithilfe der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7–4.10) zunächst die dysfunktionale Selbstorganisation der Patientin. Die zwölf Schritte sind die folgenden: 1. Die Patientin und der Therapeut sitzen sich im therapeutischen Gespräch gegenüber auf zwei Stühlen. 2. Die Patientin berichtet von ihren Angstzuständen. Der Therapeut symbolisiert die Szene, die bei der Patientin den Panikanfall ausgelöst hat, im Therapieraum mit zwei leeren Stühlen als Symptomszene. Der eine Stuhl steht für die Selbstrepräsentanz der Patientin, also für sie als die von dem Angstanfall Betroffene. Der andere Stuhl symbolisiert das Angstmachende oder Einengende in der Situation, zum Beispiel die Schlange im Supermarkt, die

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Straßenbahn oder ein bedrohliches Objekt, zum Beispiel einen Hund. Durch das Symbolisieren der Symptomszene außen im Therapiezimmer gelangt sie wie bei der Spiegeltechnik in die Beobachterposition zu der die Panik auslösenden Situation. Sie gewinnt dadurch auch innerlich Distanz zu der Angstszene ganz ähnlich wie bei der pychodramatischen Traumaexposition (Krüger, 2002, S. 137 ff., siehe Kap. 5.10.2–5.10.7), bei der die Patientin sich vorwiegend im »Beobachtungs- und Erzählraum« aufhält und von dort auf ihre Traumaszene blickt. Die Patientin gelangt dadurch implizit in ihr »gesundes Erwachsenendenken«. 3. Der Therapeut stellt der Patientin gegenüber einen Stuhl auf für ihr selbstverletzendes Denken, ihre innere Gouvernante, oder ihren inneren blinden Kritiker, die oder der Anpassung fordert. 4. Der Therapeut konkretisiert durch einen weiteren Stuhl direkt neben der Patientin ihr Selbstschutzverhalten. Im Selbstschutzverhalten versucht die Patientin, keine »Schwächen« zuzulassen, weiter zu funktionieren, als ob nichts wäre, und erweitert dabei oft, ohne es zu merken, heldenhaft die Grenzen des Menschen. Oder sie vollbringt großartige Leistungen, die sie ablenken, sie für ihr soziales Umfeld wertvoll machen und helfen, Kritik von außen zu vermeiden. Der Therapeut bestätigt der Patientin ausdrücklich die selbststabilisierende Funktion ihrer Abwehr: »Sie sind eine Heldin! Sie halten tapfer stand und tun so, als ob nichts wäre, auch wenn Sie eine Panikattacke haben!« 5. Der Therapeut erkundet zusammen mit der Patientin die Entstehungsgeschichte ihres Selbstschutzverhaltens: »Wie alt ist eigentlich Ihr Selbstschutzverhalten? Woher kennen Sie das noch, dass Sie weiter funktionieren, dass Sie so tun, als ob nichts wäre, und dass Sie sich mit aller Kraft bemühen, Ihre Not nicht zu zeigen und nicht aufzufallen?« Meistens ergibt sich, dass das Selbstschutzverhalten durch Anpassung oder die Kompensation durch Grandiosität »schon immer« da war und in der Kindheit entstanden ist. Die Patientin entwickelt auf diese Weise Problembewusstsein für ihre spezielle Abwehr: Das Selbstschutzverhalten war damals in der Kindheit eine sinnvolle und angemessene Lösung, um seelisch zu überleben, es ist jetzt in der Gegenwart in dieser rigiden Form aber meist nicht mehr erforderlich. Zentraler Gedanke Bei Patienten mit Panikattacken öffnet die Arbeit an dem Selbstschutzverhalten die Eingangstür zur therapeutischen Kommunikation über den ursprünglichen Sinn des Abwehrverhaltens der Patienten. Das lässt sie von sich aus eine primäre Motivation entwickeln, an ihren tieferen Konflikten zu arbeiten.

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6. Über die Frage nach dem Alter des Selbstschutzverhaltens gelangen der Therapeut und die Patientin in leidvolle Erinnerungen aus der Vergangenheit der Patientin. Der Therapeut stellt für das verlassene, missbrauchte oder beschämte Kind einen zusätzlichen leeren Stuhl auf. Er würdigt die pathogene Qualität ihrer Kindheitserfahrungen und nennt zum Beispiel eine traumatisierende Situation explizit eine »Traumaerfahrung«. 7. Der Therapeut bestätigt der Patientin ausdrücklich, dass ihre sekundäre Angst vor den Panikattacken eine berechtigte Realangst vor Kontrollverlust bzw. Selbstverlust ist. Er weist mit der Hand auf die Patientin: »Bei der existenziellen Qualität des Bedrohungsgefühls ist Ihre Angst vor Panikattacken eine gesunde, erwachsene Reaktion und gehört zu dem Stuhl ihres ›gesunden Erwachsenendenkens‹. Sie sind eine tapfere Kämpferin gegen Ihre Angstzustände!« Er würdigt auch ihr Vermeidungsverhalten paradox als zwar nicht beste, aber für sie doch bestmögliche Lösung, »weil die Angst existenziell ist«. 8. Er fragt die Patientin, ob sie über das Standhalten im Selbstschutzverhalten und die Flucht in das Vermeidungsverhalten hinaus eventuell auch noch andere Möglichkeiten der Angstbewältigung entwickelt hat, zum Beispiel auch solche, die der inneren Strafinstanz bzw. »Gouvernante« zuwiderhandeln. Es kann zum Beispiel sein, dass sie bei einer Panikattacke schon anderen Menschen mitgeteilt hat, dass sie einen Angstanfall hat, und ihr Angstzustand dann schwächer wurde: »Das ist ein neues Verhalten im Sinne des gesunden Erwachsenendenkens!« Jede der Lösungen konkretisiert er mit Steinen oder Holzklötzen und legt diese vor die Patientin auf den Tisch. 9. Bei Bedarf informiert der Therapeut die Patientin über zusätzliche andere Lösungen, die schon anderen Patienten, die unter Angstzuständen leiden, im Kampf gegen ihre Ängste geholfen haben. 10. Er würdigt widerständiges Verhalten oder spontanen Ärger der Patientin in Beziehungen als Ausdruck des Handelns aus dem Ich-Zustand des »wütenden Kindes« heraus und konkretisiert diesen mit einem zusätzlichen Stuhl. 11. Der Therapeut sucht bei Bedarf zusammen mit der Patientin für ihre individuelle Selbstorganisation nach Heldenfiguren aus Märchen, Mythen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen, die Ähnliches erlebt haben. Der Therapeut erzählt zum Beispiel Patienten, die Angst vor Nähe haben und Panik kriegen, wenn sie sich binden wollen, das Grimm’sche Märchen »Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen«. Bezeichnenderweise gruselt es den Helden in dem Märchen nicht während seiner vielen schauerlichen Begegnungen mit Gehenkten, Unholden und Gespenstern. Stattdessen spürt er die von ihm ersehnte Angst erst, als er am Ende des Märchens mit der Prinzessin zusammen im Bett liegt! Der Held war vorher offenbar unfähig gewesen,

Die Einleitung der Behandlung von Patienten mit Panikattacken

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Nähe zuzulassen und zu lieben (Horst Eberhard Richter, mündliche Mitteilung 1992). Er hatte aber immerhin Problembewusstsein für seine fehlende Angst und stellte sich seinem Problem, um zu lernen. Damit handelte er anders als die Wildwest-Helden, die nach der Eroberung der Liebe einer Frau immer mit unbewegtem Gesicht wieder davonreiten. Andere Patienten, die sich in der Kindheit aus Mitgefühl mit einem traumatisierten Elternteil absolut angepasst und ihr Selbst nicht entwickelt haben, erkennen sich wieder in dem grimmschen Märchen »Das Mädchen ohne Hände«. Dieses Mädchen opfert ihre Hände, um ihren Vater vor dem Teufel zu retten. Sie geht dann aber von zu Hause fort und heiratet einen König, sie wird also geehrt wegen ihrer edlen Haltung. Als sie mit diesem König ein Kind bekommt, als also die Wertschätzung von außen doch noch ihr Selbst zur Geburt bringt, flieht sie in Panik vor den dadurch ausgelösten Konflikten mit ihrem Kind in den Wald. Sie verweilt dort in der Natur sieben Jahre, bis ihre Hände nachgewachsen sind und sie also gelernt hat, sich mit ihren Händen das für sie Notwendige zu nehmen. Dann kehrt sie geheilt zu dem König zurück. Der Therapeut kann für die Heldin eines Märchens, die die Not der Patientin aus eigener Erfahrung kennt und diese überwunden hat, neben den Stuhl des »gesunden Erwachsenendenkens« der Patientin einen weiteren leeren Stuhl aufstellen und sie auffordern, sich im psychodramatischen Dialog mit dieser Figur als ihrer fiktiven Doppelgängerin zu beraten. 12. Bei Bedarf stoppt der Therapeut die Mitteilungen der Patientin über ihre Kindheit nach dem »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff., siehe Kap. 4.15), um eine pathologische Regression bzw. Retraumatisierung der Patientin zu vermeiden. Übung 13 Üben Sie als Leserin oder Leser einmal mit Kollegen, bei einer ihrer Angstpatientinnen oder Angstpatienten im Rollenspiel den hier vorgeschlagenen Zugang zu der dysfunktionalen Selbstorganisation der Patientin anzuwenden. Versuchen Sie dabei, den Weg in die Kindheitskonflikte über die Abwehr zu gehen, also über das Selbstschutzverhalten. Sie werden merken, dass jeder Weg, bei dem Sie als Therapeut nicht zuerst das tapfere Standhalten ihrer Patientin im Kampf gegen ihre Angstzustände als Selbstschutz würdigen, bei der Patientin innerlich sofort den Angstpegel steigen lässt und die gemeinsame therapeutische Arbeit konfus macht. Zentraler Gedanke Die Grundstörung von Patienten mit Panikattacken ist ein in der Gegenwart nicht mehr erfolgreiches, altes Abwehrverhalten ist. Die positive Würdigung dieser

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Abwehr als Selbstschutz, der in der Vergangenheit sinnvoll war, verflüssigt diese Abwehr und öffnet die Eingangstür hin zu dem speziellen Affekt, den die Patientin in der Kindheit abzuwehren hatte. Es kann sich dabei um die Angst vor einer damals realen Bedrohung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit handeln, oft findet die Patientin dabei aber auch Zugang zu alten Gefühlen der Beschämung, des Alleinseins, der Ohnmacht, des Verrats, des Verlassenseins, des Ausgeliefertseins oder der Verwirrung.

Die hier beschriebene Suche nach dem Zugang zur dysfunktionalen Selbstorganisation von Angstpatienten mit der Stühlearbeit dauert gewöhnlich 10–15 Sitzungen. Bei dem Aufstellen der Ich-Zustände sind die Namen der Ich-Zustände zunächst nur Worthülsen. Sie müssen sich mit dem personalen Erleben der Patientin verbinden und deshalb in der Namensgebung bei Bedarf variiert werden, ohne den Sinn des dahinterstehenden Abwehrprozesses zu verfälschen (siehe Abb. 13). Erst dadurch gewinnt die Stühlearbeit für die Patientin Bedeutung. Bei der Symbolisierung arbeitet der Therapeut als Hilf-Ich und Übersetzer zwischen der Sprache der Patientin und dem Theoriemodell der Selbstorganisation (siehe Kapitel 4.7). Er erfasst, wie in den Abbildungen 11 und 13 schematisch dargestellt, den Prozess des Mentalisierens der Patientin (siehe Kap. 1) in seiner jeweils speziellen Abwehr, verdichtet das dazugehörige innere Erleben der Patientin symbolisch in einigen wenigen Sätzen, wechselt dann die Perspektive und benennt es von außen aus der Beobachterposition mit dem Namen des jeweiligen Ich-Zustands. Der Therapeut notiert sich am Ende der Sitzung jeweils das Bild der Aufstellung der Stühle im Therapieraum in seinen Patientenunterlagen mit den individuell für die Ich-Zustände gewählten Namen. Allerdings habe ich als Therapeut die Erfahrung gemacht, dass ich mich in der folgenden Therapiesitzung nicht selten wundere, dass das Bild der Selbstorganisation der Patientin auf dem Papier, das mir in der Sitzung zuvor noch hoch bedeutsam und persönlich erschien, mit kleinen Variationen eigentlich ganz ähnlich ist wie das von anderen Patientinnen und Patienten. Das Gefühl der hohen Bedeutsamkeit des Bildes am Ende einer Therapiestunde ist aber ein diagnostisches Zeichen dafür, dass die gemeinsame Arbeit der Symbolisierung der Dysfunktionalität der Selbstorganisation gelungen ist.

Die sieben Phasen der Therapie von Menschen mit Panikattacken

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6.5 Die sieben Phasen der Therapie von Menschen mit Panikattacken In der störungsspezifischen Therapie von Menschen mit Panikattacken ist es hilfreich, sieben aufeinander aufbauende Phasen zu unterscheiden. Anhand dieser Reihenfolge weiß der Therapeut, wo er sich in der Behandlung seiner Patientin gerade befindet und welche Therapieschritte eventuell noch nicht vollzogen sind. Wegen der relativ starren Abwehr der Patientinnen und Patienten mit Angststörungen ähneln diese weitgehend den Schritten der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und strukturellen Störungen, wie sie in den Kapiteln 4.5 und 4.12 schon beschrieben wurden. Die praktische Ausführung der Therapiephasen wird im Kapitel 6.6 in dem Fallbeispiel 48 eines Patienten mit einer sozialen Phobie (F40.1) dargestellt. 1. Am Beginn der Behandlung (1. Therapiephase) versucht der Therapeut mit der Patientin, wie im Kapitel 6.4 ausgeführt, mithilfe der Stühlearbeit die spezielle Art der dysfunktionalen Selbstorganisation der Patientin zu erfassen. Dabei arbeitet er nicht gegen das Selbstschutzverhalten an, sondern benennt dieses als solches. Er hilft der Patientin aktiv, einen Sinnzusammenhang herzustellen zwischen seinem gegenwärtigen Selbstschutzverhalten und ihren Kindheitserfahrungen. Dadurch kann sie ihr Abwehrverhalten als damals sinnvolles und heute aber veraltetes Konfliktlösungsmuster verstehen und verflüssigt ihre starre Abwehr. Sie entwickelt Problembewusstsein für ihre dysfunktionale Selbstorganisation und gewinnt Zugang zur Aktualisierungstendenz ihres Selbst. Das vermindert ihre sekundäre Angst vor ihren Panikattacken. Bei etwa einem Drittel der Patienten stellt sich in dieser ersten Therapiephase heraus, dass ihre Angststörung Teil einer Traumafolgestörung ist. In solchen Fällen integriert der Therapeut in die Behandlung der Angststörung Elemente der Traumatherapie, wie sie im Kapitel 5.10 beschrieben wurden. 2. Von besonderer Bedeutung ist in der Behandlung von Angststörungen der psychodramatische Dialog zwischen den Ich-Zuständen (siehe Kap. 4.10). Empfehlung Das spezifische Problem von Menschen mit Angststörungen ist oft, dass sie als Kind durch entsprechende Lebensumstände nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse und Wünsche zuzulassen. Deshalb haben diese Patienten während der gesamten Therapie daran zu arbeiten, die Beziehung zu den abgewehrten Bedürfnissen ihres »inneren Kindes«, also zu dem Kind, das sie einmal gewesen waren, zu verbessern. Das gelingt dadurch, dass die Patientin vom Stuhl ihres »Erwach-

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senen-Ichs« aus Beziehung aufnimmt zu ihrem als leerer Stuhl repräsentierten Ich-Zustand des »verlassenen oder beschämten Kindes« (siehe Fallbeispiel 48 in Kap. 6.6).

Zu empfehlen ist, dass der Therapeut auf den Stuhl des »verlassenen Kindes« die Handpuppe oder Fingerpuppe eines kleinen Mädchens setzt und die Patientin auffordert: »Schauen Sie einmal das Kind an, das Sie waren! Was löst das kleine Mädchen in Ihnen gefühlsmäßig aus?« Wenn die Patientin den Anblick ihres Kind-Ichs nicht erträgt, ist das diagnostisch ein wertvolles Zeichen dafür, dass die Patientin in ihrer Kindheit traumatisiert wurde. Denn dann wirkt der Anblick des »Kindes« auf die Patientin wie eine Traumaexposition. Der in Kapitel 4.10 beschriebene spezielle Umgang mit dem Kind-Ich und die Integration traumatherapeutischer Elemente in die Behandlung werden erforderlich. Oft fühlen Angstpatienten bei dem Blick auf ihr Kind-Ich aber auch »Mitgefühl« oder »Trauer«. In einem solchen Fall fordert der Therapeut die Patientin auf: »Sagen Sie das bitte Ihrem inneren Kind!« Wenn möglich, lässt er sie mit ihrem Kind-Ich einen psychodramatischen Dialog mit Rollentausch führen. Dabei übernimmt der Therapeut als Hilfs-Ich jeweils die Gegenrolle, also die Rolle des Erwachsenen-Ichs der Patientin, wenn diese die Rolle ihres Kind-Ichs spielt, oder im Rollentausch dann die Rolle ihres Kind-Ichs, wenn die Patientin sich in der Rolle ihres Erwachsenen-Ichs befindet. Er integriert in sein Spiel in diesen Rollen auch Informationen, die er schon vorher von der Patientin bekommen hat, und arbeitet mit ihr zusammen die Gegensätzlichkeit zwischen ihrem Erwachsenen-Denken und ihrem kindlichem Denken heraus. Es soll deutlich werden, dass das Erwachsenen-Ich und das Kind-Ich der Patientin jeweils eigene Interessen und eigene Lebenserfahrungen haben. In der Nachbesprechung des Spiels macht der Therapeut die Patientin wertschätzend aufmerksam auf eventuelle neue Schritte im Umgang mit sich selbst: »Ich bin sehr davon berührt, dass Sie traurig geworden sind beim Anblick Ihres inneren Kindes. Offenbar entwickeln Sie jetzt neu Mitgefühl mit sich selbst! Sie hatten keine ausreichend gute Mutter und keinen ausreichend guten Vater. Da ist es wichtig, dass Sie lernen, wenigstens selbst mit sich ausreichend liebevoll und fürsorglich umzugehen!« Um die Beziehungsaufnahme der Patientin zu ihrem inneren Kind zeitlich zu verstetigen, kann der Therapeut ihr empfehlen, sich auch selbst eine Puppe für ihr Kind-Ich zu besorgen und den Dialog zwischen ihrem ErwachsenenIch und dem Kind-Ich zu Hause als regelmäßige Übung fortzusetzen: »Reden Sie zu Hause jeden Tag oder wenigstens jede Woche einmal mit Ihrem inneren Kind und fragen Sie es, wie es ihm geht!« Die Patientin soll durch die Bezie-

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hungsaufnahme zu dem kleinen Mädchen, das sie in der Kindheit war, mit der Zeit Selbstempathie entwickeln. Zentraler Gedanke Im Verlauf der Therapie ist die Veränderung der Qualität der Beziehung der Patientin zu ihrem Kind-Ich diagnostisch ein Zeichen dafür, ob die Patientin in ihrer Beziehung zu sich selbst Fortschritte macht. Das Erwachsenen-Ich wird am Ende idealerweise zu einer guten Mutter oder einem guten Vater für das KindIch und das Kind-Ich zu einem Symbol für das Selbst. Am Ende können beide sich gegenseitig beraten und helfen, das auch noch nach der Beendigung der Behandlung. Das gute Miteinander in der Beziehung zwischen dem Erwachsenen-Ich und dem Kind-Ich muss aber in der Therapie schrittweise erst erarbeitet werden und braucht Zeit.

3. Der Therapeut lässt die Patientin auch zwischen anderen Ich-Zuständen durch psychodramatischen Dialog eine Beziehung entwickeln und vorhandene Konflikte zwischen ihnen mit Rollentausch austragen, zum Beispiel kann die Patientin wie im Fallbeispiel 48 in Kapitel 6.6 aus ihrem »gesunden Erwachsenendenken« heraus ihre Selbstrepräsentanz in der Symptomszene coachen. Auch müssen das »wütende Kind« und das »Selbstschutzverhalten« erst lernen, sich gegenseitig ein Existenzrecht zuzugestehen. 4. Die Patientin erinnert sich in den Therapieschritten 1–3 immer wieder an einzelne schmerzhafte oder traumatisierende Erlebnisse aus der Kindheit. Der Therapeut arbeitet für jedes einzelne dieser leidvollen Erlebnisse mit der Patientin zusammen jeweils über die damalige Realität hinaus heraus, was sie als Kind in der jeweiligen Situation als Unterstützung und Halt gebraucht hätte (siehe Kap. 5.14). Dieses Vorgehen nimmt Morenos Idee der Surplus Reality mithilfe guter Objekte auf. Es verwirklicht das Konzept der Entwicklung von »guten inneren Eltern« bei Angstpatienten von Grimmer (2007, S. 25, S. 37) und ähnelt einem wichtigen Arbeitsschritt in der Pesso-Therapie (Schrenker, 2008, S. 143, S. 204 f.). 5. Die Patientin schreibt einen fiktiven Brief an eine Bezugsperson aus der Kindheit (siehe Kap. 5.11). Sie erklärt dieser Person in dem Brief wie im Fallbeispiel 48 unten, was sie inzwischen über sich selbst und die Gründe für ihre Angsterkrankung erkannt hat. Dieser Brief soll auf keinen Fall abgeschickt werden. Denn nur dann ist die Patientin beim Schreiben des Briefes frei, wirklich ihre eigene subjektive Perspektive in ihren Lebensereignissen zu entwickeln. 6. Nach dieser Vorarbeit lässt der Therapeut die Patientin als die Erwachsene, die sie jetzt ist, ihre Bezugsperson aus der Kindheit in einem fiktiven psy-

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chodramatischen Dialog mit Rollentausch mit den Inhalten des Briefes konfrontieren und so ihr neues Selbstverständnis in ihr inneres Beziehungsbild zu dieser Person integrieren (siehe Fallbeispiel 48 und Kap. 5.11). 7. Durch ihr neues Selbstverständnis entwickelt die Patientin gewöhnlich neues Selbstbewusstsein. Das führt oft zu Beziehungskonflikten mit Bezugspersonen in der Gegenwart. Diese werden immer wieder mithilfe von psychodramatischen Dialogen mit Rollentausch geklärt. Dadurch wird die innere Umstellung der Patientin auch in ihre inneren Beziehungsbilder zu Bezugspersonen der Gegenwart integriert. Die Patientin erweitert dabei ihre inneren Objektrepräsentanzen dieser Bezugspersonen und lernt sie anschließend im Alltag oft überhaupt erst richtig kennen.

6.6 Die störungsspezifische Therapie eines Patienten mit sozialer Phobie Bei Patienten mit einer sozialen Phobie (F40.1) führt nach der ICD-10 »die Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen […] zur Vermeidung sozialer Situationen«. Sie kann mit niedrigem Selbstwertgefühl, der Angst vor Kritik und Beschwerden wie Erröten, Händezittern, Übelkeit und Drang zum Wasserlassen verbunden sein und sich bis zu Panikattacken steigern. Ihr Vermeidungsverhalten hindert diese Patienten oft, an Gruppentherapien teilzunehmen, oder lässt sie zunächst von einer Gruppentherapie wenig profitieren. Deshalb sollten diese Patienten, anders als Grimmer (2007, S. 21) es empfiehlt, zunächst in 10–15 Sitzungen Einzeltherapie lernen, Problembewusstsein für ihre gewohnheitsmäßige Anpassung und selbstverletzende Selbstkritik zu entwickeln. Dadurch merken die Patienten, dass nicht die sekundären Manifestationen der Angst das primäre Problem darstellen, entwickeln eine primäre Motivation, die alten dysfunktionalen Lösungen wegzulassen, und können anschließend auch von einer Gruppentherapie profitieren. Die störungsspezifische Therapie folgt demselben Therapiemodell wie die Behandlung von Patienten mit Panikattacken (siehe Kap. 6.5). Fallbeispiel 48: Herr B. kommt in die Therapie, weil er sich nach seinem Staatsexamen schon ein Jahr lang nicht um eine Arbeitsstelle beworben hatte. In dem Erstgespräch stellt sich heraus, dass er an einer alle Lebensbereiche umfassenden sozialen Phobie (F40.1) leidet: In allen Situationen, die neu sind, ist er »sicherheitssüchtig« und überlegt vorher, wie er sich vor einer Beschämung absichern könnte. Er vermeidet deshalb, sich Herausforderungen zu stellen, seien sie auch noch

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so klein. Schon, wenn er sich vorstellt, im Urlaub in Frankreich abends in einem Hotel auf Französisch nach einem Zimmer fragen zu müssen, gerät er in Panik. Er lebt in Partnerschaft mit einer berufstätigen Ärztin, die ihn in keiner Weise unter Druck setzt. Das Aufstellen von zwei leeren Stühlen für seine ängstigenden Situationen und einem dritten Stuhl für sein Selbstschutzverhalten (1. Therapiephase) (siehe Abb. 11 in Kap. 4.7) hilft dem Patienten, sein Vermeidungsverhalten als seine gesund erwachsene, persönliche Lösung im Kampf gegen seine Angstzustände zu verstehen. Herr B. informiert sich im Internet über »soziale Phobien«, sammelt Wissen an und analysiert sich. Das viele Wissen ändert aber nichts an seinem Vermeidungsverhalten. Als seine Freundin schwanger wird, entscheidet er sich immerhin, ihr von sich aus aktiv die Heirat anzubieten, eine Handlung, die er vorher auf einer Liste von Angst auslösenden Situationen als absolut schwierig bewertet hatte. Seine Partnerin freut sich sehr und das Paar heiratet. Wie schon oft macht Herr B. die Erfahrung: »Wenn ich erst einmal etwas zugesagt habe, dann geht alles wie bei anderen Menschen auch. Dann muss ich ja!« In der fünfzehnten Therapiestunde berichtet er zufrieden, dass er, weil seine Frau jetzt hochschwanger ist, viele Situationen, die eigentlich auf seine Problemliste gehören, bewältigt habe: »Das ging auch. Ich verstehe mich so, dass meine Ängste ein ganzes Wollknäuel sind: Ich muss da jetzt einen Faden nach dem anderen herausziehen und abarbeiten!« Der Therapeut hat bei diesem Plan des Patienten aber ein ungutes Gefühl, weil er mit ihm die Erfahrung gemacht hat, dass sich an seinem Vermeidungsverhalten, auch wenn er einzelne Situationen erfolgreich meistert, insgesamt wenig verändert. Er fragt den Patienten deshalb: »Wie alt ist eigentlich Ihr Selbstschutzverhalten, dass Sie in Angst auslösenden Situationen so tun, als ob nichts wäre, und Situationen, in denen Sie möglicherweise beschämt werden könnten, vermeiden?« Herr B.: »Das war schon immer so, auch schon als Kind!« Der Therapeut stellt einen vierten leeren Stuhl hinter den Stuhl für das Selbstschutzverhalten »für den kleinen Jungen«, der der Patient war. Es entwickelt sich ein Gespräch über Demütigungen des Patienten in seiner Kindheit. Herr B.: »Mein zwei Jahre älterer Bruder und meine Mutter hatten den kürzeren Weg zueinander, die sind sich ähnlich! Meine Mutter ist auch ein Machertyp und packt alles an.« Therapeut: »Sie hatten als ›der Sensible‹ offenbar die minderwertige Funktion in der Familie!« Herr B.: »Das stimmt, mein Bruder musste immer der Größte sein, der hat mich dauernd gedeckelt: Als ich einmal in der Grundschule in meinem Zeugnis sechs Einsen hatte, hat der in mein Zeugnis neben meine Zensuren an all den Stellen, wo er selbst in den letzten sechs Jahren schon einmal eine Eins gehabt hatte, mit Bleistift seine eins daneben geschrieben. Das waren dann natürlich mehr als die sechs Einsen von mir. Nur hatte er die nie alle auf einmal gehabt!«

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Der Therapeut stellt dem Patienten gegenüber einen fünften leeren Stuhl hin »für den Bruder« und spricht als Doppelgänger für das »gesunde Erwachsenendenken« des Patienten den Stuhl des Bruders direkt an: »Karl, ich finde, Sie hätten Ihrem kleinen Bruder Rolf ruhig einmal gönnen können, dass er besser ist als Sie! Ja, gucken Sie nicht so! Ich finde das nicht in Ordnung, dass Sie ihm damals die sechs Einser madiggemacht haben! Was würde denn Ihr Bruder Karl jetzt antworten?« Herr B.: »Na, der würde widersprechen und sagen: ›Das stimmt doch aber, der soll sich hier nicht so aufführen.‹« Der Therapeut wird als Doppelgänger ärgerlich: »Karl, lassen Sie jetzt Rolf in Ruhe!« Der Therapeut steht auf und dreht den Stuhl des Bruders um: »Gehen Sie jetzt raus aus diesem Raum oder drehen Sie sich wenigstens um! Es reicht!« Herr B.: »Der würde nicht gehen, er würde noch einmal zu mir kommen, auf mich zeigen und grinsen.« Der Therapeut wendet sich ärgerlich an den »Bruder«: »Gut, dann bringe ich Sie jetzt hinaus!« Er nimmt den Stuhl des »Bruders« und stellt ihn real vor die Tür. Herr B. lacht: »Der geht, aber jetzt ruft er von draußen noch dumme Sprüche!« Der Therapeut: »Ich sehe es so, dass Sie in Ihrer Kindheit durch Ihren Bruder traumatisiert worden sind. Der hat Sie in Ihrem Denken immer wieder völlig verwirrt. Immer wenn Sie jetzt verunsichert sind, springt bei Ihnen der Traumafilm ein, die Beschämung durch Ihren Bruder!« In der nächsten Therapiesitzung berichtet Herr B.: »In einer für mich ziemlich problematischen Situation habe ich gemerkt, wie ich wieder dabei war, in die Vermeidung wegzukippen. Dann habe ich mich wieder fangen können. In einer anderen Situation aber gelang mir das nicht. Ich habe mich geärgert über mich, dass ich wieder allem so ausgewichen bin.« Herr B. war im Baumarkt unsicher geworden, weil seine Idee für die Konstruktion eines Wickelkommodenaufsatzes wohl real nicht gut war. Es entstand ein Teufelskreis: Aus der angemessenen Unsicherheit wurde durch das selbstverletzende Denken das Gefühl: »Ich bin unfähig!« Er war verwirrt und schaffte es nicht, einen Verkäufer nach dem »richtigen Holz« zu fragen. So ging er unverrichteter Dinge aus dem Geschäft. Der Patient und der Therapeut erkunden zusammen seine dysfunktionale Selbstorganisation im Baumarkt erneut mithilfe der Aufstellung von leeren Stühlen für seine Ich-Zustände. Am Ende kommentiert Herr B. sein Selbstschutzverhalten sarkastisch: »Es geht darum, unfehlbar zu sein und unfehlbar aufzutreten. Nur dann werde ich nicht beschämt.« Der Therapeut stellt vor den Stuhl des »Bruders« noch einen zusätzlichen Stuhl: »Das ist ein Stuhl für Ihr selbstverletzendes Denken, für Ihren inneren sadistischen Kritiker. Der sagt: ›Das sage ich doch schon immer! Du bist nichts! Und du kannst nichts!‹ Gesund erwachsen gedacht war Ihre Unsicherheit wegen der Wickelkommode ja eigentlich angemessen. Ihr Problem ist aber zurzeit noch, dass Sie immer dann, wenn Sie sich unsicher fühlen, gleich in Ihr selbstverletzendes Denken und Fühlen wegrutschen.« Herr B.: »Das ist bei meiner Arbeitssuche auch so. Da glaube ich auch, unfehlbar auftreten zu müssen!«

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Nach sieben Sitzungen mit der Stühlearbeit schlägt der Therapeut vor: »Vielleicht könnten Sie einmal Ihrem Bruder einen Brief schreiben, ohne ihn abzuschicken, und ihm darin mitteilen, wie Sie inzwischen den Zusammenhang Ihrer Angststörung mit Ihrer Kindheit sehen?« (4. Therapiephase) In der folgenden Therapiestunde berichtet der Patient gleich am Anfang zufrieden: »Den Brief zu schreiben, das hat geholfen. In dem ersten Teil habe ich einen Teil Synopse geschrieben in prägnanter klarer Form. Das ist ein Fazit und eine Zusammenfassung von dem, was ich hier gelernt habe. Ich habe mich auch klar für die Diagnose ›soziale Phobie‹ entschieden. Im zweiten Teil, wo ich meinen Bruder persönlich einbeziehe, war das schwieriger, ich habe noch Unbehagen, Schuldzuweisungen zu machen!« Der Therapeut (1. Therapiephase): »Ich stelle hier Ihnen gegenüber wieder den Stuhl für Ihr selbstverletzendes Denken hin. Sie brauchen Ihren Bruder jetzt offensichtlich gar nicht mehr, um sich zu verbieten, Sie selbst zu sein!« Herr B.: »Ja. Aber ich habe bei dem Brief ja auch genau das Gegenteil von dem gemacht, was ich in meinem Leben gelernt habe! Bei dem Briefschreiben wurde ich schon regelrecht skeptisch, wie sich das alles ineinanderfügte, meine Kindheit, die Familie und meine jetzige Situation!« Der Brief von Herrn B. an seinen Bruder hat im zweiten Teil den folgenden Wortlaut: »Bei meinen Nachforschungen darüber, woher meine Angststörung stammt und wann sie entstand, bin ich soweit wie möglich in meine Kindheit zurückgegangen, denn sie existiert schon, solange ich mich erinnern kann. Du weißt ja, dass zwischen uns als kleinen Kindern immer auch schon Konkurrenz herrschte, und sei es nur um die Aufmerksamkeit von Mama. Als Jüngerer hatte ich es bestimmt nicht leicht, Dich in etwas zu überflügeln, und Du hast alles unternommen, das zu verhindern. Du hast die ›soziale Norm‹, die es zu erfüllen galt, definiert. So wie Du es sagst, war es gut, sonst nicht. Meine Erfolge hast Du überboten, lächerlich gemacht oder in etwas ganz Normales umgedeutet. Sollte ich doch einmal etwas geleistet haben, das Du nicht in dieser Weise niedermachen konntest, hast Du Deiner Unzufriedenheit freien Lauf gelassen. Das beinhaltete das Stören des Familienfriedens ebenso wie schlicht, mich zu ärgern. Ich denke, Du hast mir frühzeitig gründlich beigebracht, dass ich niemals schaffen kann, erfolgreich zu sein. Und wenn doch, dann nur mit leidvollen Konsequenzen. Daraus habe ich abgeleitet, wie ich mich zu verhalten habe, um Lob und Anerkennung zu bekommen. Anstatt einen sowieso schon verlorenen Kampf aufzunehmen, war es für mich besser, mich Dir unterzuordnen und Deine Positionen zu unterstützen, statt eine eigene einzunehmen. Zu warten, was Du tust, und mich dann zu fügen, anstatt selbst voranzugehen. Gewissermaßen als Kompass für das in der jeweiligen Situation erforderliche Verhalten habe ich mir die fein justierte soziale Angst zugelegt, die mir jetzt als Angststörung solche Probleme macht. Auf diese Weise konnte ich sowohl schändliche Niederlagen gegen Dich vermeiden, als auch den Frieden sichern und dafür Lob erhalten. Der Preis dafür ist, dass ich nie Autonomie

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erlernt habe, nie lernte, einen eigenen Willen und eigene Wünsche zu entwickeln und diese auch gegen Widerstände durchzusetzen. Es liegt auf der Hand, dass man so kein Erwachsenenleben führen kann.« Der Therapeut fragt den Patienten: Was haben Sie bei dem Schreiben Ihres Briefes selbst erlebt?« Herr B.: »In dem Brief habe ich alle Kommentare zu der Rolle meiner Eltern weggelassen!« Therapeut: »Was hätte denn darin gestanden?« Herr B.: »Die hätten die Pflicht gehabt, einzugreifen. Ich habe meinen Vater geliebt, aber der kommt in meiner Kindheit viel zu wenig vor. Mein Vater ist morgens immer erst aufgestanden, wenn wir schon zur Schule losgegangen waren. Ich bin eigentlich nicht enttäuscht von ihm. Denn er hat ja nicht irgendetwas gemacht, sondern er hat ›nur‹ nichts gemacht! Ich war schon schüchtern, als ich im Kindergarten war. Einmal habe ich mich getraut, auf dem Teppich, der da zum Bauen lag, zu spielen. Das habe ich dann zu Hause erzählt. Da hat mein Vater sich riesig gefreut! Er hat mir spontan eine Mark geschenkt! Mein Bruder stand daneben und verstand das nicht. Er hatte im Kindergarten keine Probleme! Wenn das öfter gewesen wäre, das wäre gut gewesen! Mein Vater war viel zu wenig anwesend, körperlich und seelisch. Dafür war meine Mutter ganz zu Hause. Aber mein Bruder hatte meine Mutter mit seiner einnehmenden Art völlig in der Tasche. Er hat als kleines Kind angeblich sofort geschrien, wenn sie mit dem Kinderwagen nur zwei Sekunden lang anhielt. Das war immer so. Es ist erstaunlich, was für eine Meinungsgewalt mein Bruder über meine Mutter auch heute noch hat. Wenn mein Bruder eine andere Meinung hat, ändert sie ihre Meinung ganz leicht!« Der Therapeut stellt, um den inneren Fortschritt des Patienten zu würdigen, einen neuen leeren Stuhl neben den für das beschämte Kind (1. Therapiephase): »Sie äußern heute zum ersten Mal ernsthaft Vorbehalte gegen Ihre Eltern und berichten, dass diese Sie als jüngeren der Brüder im Stich gelassen haben. Ich glaube, Ihr wütendes Kind kommt zum Vorschein! Dafür ist dieser neue Stuhl.« Herr B.: »Ja, aber da kommt auch sofort mein selbstverletzendes Denken hoch: ›Ich habe nicht gelernt, autark zu sein, selbst zu definieren, was Erfolg ist, und ärgerlich zu werden, wenn das durchkreuzt wird. Das ist beschämend, dass ich jetzt in meinem Alter die Aufgaben eines Dreijährigen lernen soll!‹« Der Therapeut: »Stimmt, das gehört zu Ihrem selbstverletzendem Denken!« Er fordert den Patienten auf (2. Therapiephase): »Können Sie bitte einmal zu dem Kind, das Sie früher waren, hinsehen? Was fühlen Sie dem Kind gegenüber?« Herr B.: »Ich schäme mich, dass ich als Kind so feige war!« Der Therapeut: »Sagen Sie das bitte Ihrem Kind-Ich!« Herr B. folgt der Aufforderung. Danach wechselt er in die Rolle des »beschämten Kindes«, und der Therapeut übernimmt die Rolle des erwachsenen Patienten: »Das ist beschämend, dass ich jetzt noch die Aufgaben eines Dreijährigen lernen soll!« Herr B. in der Rolle des Kindes: »Ist das denn nötig, das mit dem Bruder zu klären?« Herr B. tauscht wieder zurück in die Rolle des Erwachsenen: »Ja,

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das ist jetzt dran!« In der Rolle des Kindes: »Meinst du denn, wir schaffen das?« In der Erwachsenenrolle: »Ja klar! Es ist schwer, aber wir schaffen das, wirst schon sehen!« Therapeut: »Nach Ihrer schwierigen Kindheit müssen Sie jetzt selbst für sich ein guter Vater werden!« Herr B.: »Ja, ich hätte mehr gebraucht, als ich bekommen habe! Pech, dass ich mit meinem Charakter in einer Familie war, die anders ist: Leise Töne sind bei denen nicht so da, das wird auch nicht so gebraucht! Mein Bruder und meine Mutter, die machen ihr Ding, schieben Probleme zur Seite!« Therapeut: »Merken Sie eigentlich, dass Sie sich heute selbst zum ersten Mal in der Beziehung zu Ihrer Familie positiv definieren? Das ist neu, dass Sie sich verstehen als ›Der mit den leisen Tönen‹!« Der Therapeut wechselt in die Rolle des Erwachsenen-Ichs des Patienten und wiederholt dessen letzte Sätze. Herr B. in der Rolle des beschämten Kindes: »Ich werde ganz traurig, ich bekomme Isolationsangst! Ich will das gar nicht hören, Hauptsache ich gehöre dazu! Lieber verstelle ich mich und gehe wie die anderen auch über die Dinge weg!« Therapeut (3. Therapieschritt): »Jetzt sind Sie in Ihrem Traumafilm! Sie merken, dass Sie früher als Kind absolut einsam und verlassen waren! Gehen Sie einmal in die Rolle des wütenden Kindes? Was fühlen Sie da?« In der Rolle des wütenden Kindes blüht Herr B. förmlich auf, er unterbricht den Therapeuten, der seine Erwachsenenrolle übernommen hat, spontan und fordert vehement: »Fang endlich an, dich zu wehren!« In der Nachbesprechung des Spiels meint Herr B.: »Ich habe gemerkt, ich brauchte gar nicht zu warten, bis Sie in meiner Rolle ausgeredet hatten. Das machte richtig Spaß, handlungsfähig zu sein!« Der Therapeut und der Patient vereinbaren, dass er zu Hause den Brief an den Bruder noch um die kritischen Kommentare zu den Eltern ergänzt. In der darauffolgenden Therapiesitzung fragt der Therapeut gleich am Anfang: »Was haben Sie dabei erlebt, als Sie in den Brief an Ihren Bruder auch das Kritische über Ihre Eltern geschrieben haben?« Herr B.: »Es war schwierig. Ich habe mich zum Beispiel gefragt, warum mein Vater sich mir nicht mehr zugewandt hat. Ob er zu wenig Empathie hatte oder ob er sich für mich einfach nicht interessierte.« Der Vater ist vor zehn Jahren gestorben. Der Therapeut ergreift die Gelegenheit für eine fiktive Beziehungsklärung mit dem Vater beim Schopf (6. Therapieschritt): »Sie könnten ihn das hier einmal im Rollenspiel fragen!« Herr B. ist dazu bereit. Er stellt für sich und für seinen Vater je einen leeren Stuhl im Zimmer auf und erklärt dem »Vater«: »Ich habe mir wegen meiner Angststörung viele Gedanken gemacht und sehe in meiner Kindheit Ursachen dafür. Warum hast du dich mir eigentlich nicht öfter zugewandt und warst mehr für mich da?!« Im Rollentausch in der Rolle seines Vaters versteht Herr B. nicht, was der Junge meint: »Ich liebe dich, auch deinen Bruder Karl, aber auch dich!« Wieder in seiner eigenen Rolle meint Herr B. unsicher: »Ja das stimmt. Aber ich hätte mehr Liebe gebraucht!« Er wirkt verwirrt und wendet sich an den Therapeuten: »Vielleicht stimmt das ja auch alles gar nicht so, wie ich mir das gedacht habe!«

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Der Therapeut (1. Therapiephase): »Das ist jetzt, glaube ich, wieder das selbstverletzende Denken in Ihnen, die Stimme Ihres Bruders, der zu Ihnen sagt: ›Rolf, das bildest du dir alles nur ein!‹ Herr B., können Sie einmal auf den Stuhl Ihres Erwachsenendenkens zurückgehen und von dort den Rolf in dem Gespräch mit seinem Vater beraten? Coachen Sie sich einmal selbst! Eigentlich weiß der Rolf doch, dass er von seinem Vater mehr Unterstützung gebraucht hätte. Der Rolf dort ist aber blockiert, das zu denken und offen zu sagen!« Herr B. wechselt auf den Stuhl seines gesunden Erwachsenendenkens und meint: »Der sollte mehr sagen, was er fühlt!« Therapeut: »Ja, und vielleicht an einem Beispiel klar machen, was er eigentlich meint!« Herr B.: »Ja, das ist gut, das Beispiel mit der Schokolade!« Der Therapeut: »Sagen Sie es dem Rolf!« Herr B. fordert sich selbst, den Rolf, der fiktiv mit seinem Vater redet, auf: »Sprich mehr von Deinen Gefühlen und erkläre ihm das an einem Beispiel!« Herr B. wechselt zurück in seine Rolle als Protagonist auf der Bühne und sagt zu seinem Vater: »Du verstehst mich nicht richtig. Es geht darum, dass du hättest einschreiten sollen! Zum Beispiel als wir einmal Auto fuhren, da bekamen Karl und ich jeder eine halbe Tafel Schokolade. Ich hatte Angst, dass Karl Streit macht, weil er nur genauso viel Schokolade hatte wie ich, und habe ihm dann von mir aus gleich ein Stück von meiner gegeben, damit er mehr hat. Mama hat mich da gelobt wegen meiner Großzügigkeit! An der Stelle hättest du einschreiten sollen!« Herr B. wechselt im Rollentausch in die Rolle des Vaters, der Therapeut übernimmt die Rolle von Rolf und erweitert dessen Rolle als Doppelgänger im Sinne der gerechten Beziehungsverwirklichung über die Realität hinaus: »Ja, aber in Wahrheit war ich gar nicht großzügig, denn ich tat das in Wirklichkeit nur aus Angst vor einem Streit mit Karl, aus Angst, dass Karl mich wieder demütigt und dass ich dann ganz allein bin!« Herr B. als Vater: »Ja, das war nicht gerecht! Du hättest dich wehren sollen!« Therapeut als Rolf: »Das ist gut! Das konnte ich doch gerade nicht! Mama fand mein Verhalten doch auch gut! Ich hatte gegen Karl doch gar keine Chance! Der hat mich doch immer klein gemacht! Und dann noch mit Mutter im Rücken! Die tut doch heute noch, was er will!« Herr B. als Vater: »Ja, das tut mir leid!« Therapeut als Rolf: »Aber warum hast du denn nichts gesagt! Warst du feige?« Herr B. als Vater: »Naja, später habe ich mich ja von deiner Mutter getrennt, und davor gab es viel Streit zwischen uns. Aber das stimmt: In den ersten fünfzehn Jahren unserer Ehe habe ich mich immer untergeordnet, viel zu lange vielleicht. Und ich hätte dich unterstützen sollen, dass es gerechter zugeht.« Therapeut als Rolf: »Dann bist du ein bisschen so wie ich und bist immer ausgewichen?!« In der Nachbesprechung meint Herr B.: »Wichtig ist mir in dem Spiel gewesen: Ich habe in der Rolle meines Vaters meinen Söhnen gegenüber eine rückhaltlose Zuneigung gespürt und den Willen, sie ernst zu nehmen. Aber als Vater war ich ungelenk und wusste nicht, wie ich es machen sollte. Mein Vater hatte sich vorgenommen, anders zu sein als sein eigener Vater, der spät aus dem Krieg kam und mit dem er

Krisenintervention bei Prüfungsangst

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dann ständig im Streit gelegen hatte, weil der immer nur autoritär bestimmen wollte. Mein Vater hat mich nicht im Stich lassen wollen. Aber er war meiner Mutter einfach nicht gewachsen! Da ist zwischen meiner Mutter und ihm etwas ähnlich abgelaufen wie zwischen meinem Bruder und mir. Mein Vater bekam kein Bein an den Boden und ist ausgewichen in die Arbeit: Er war ein Workoholic und hat neben seiner Arbeit noch ständig für das Rote Kreuz gearbeitet.« Der Patient hat in dem fiktiven psychodramatischen Dialog mit dem Vater durch den wiederholten Rollentausch seine auf den Vater projizierte Ablehnung aufgelöst, die innere Realität seines Vater neu erkannt und in seinem inneren Beziehungsbild zu ihm das Bild seines Vaters und auch sein eigenes Selbstbild erweitert. Nach der Geburt seines ersten Kindes übernahm Herr B. die Betreuung des Kindes und die Rolle des Hausmannes, während seine Frau ganztags arbeitete, und beendete daraufhin die Behandlung. Das Angebot, die Therapie in einer Gruppentherapie fortzusetzen, lehnte er ab.

Der Patient hatte am Anfang das Therapieziel gehabt, fähig zu werden, sich nach seinem Studium in das Arbeitsleben zu integrieren. Deshalb war das Behandlungsergebnis kein voller Therapieerfolg. Im Nachhinein wurde mir als Therapeut bei der Durcharbeitung des Fallbeispiels klar: Ich hätte die Symptomatik des Patienten viel eindeutiger als Ausdruck einer Traumafolgestörung verstehen und bearbeiten sollen. Darauf weist die plötzliche »Isolationsangst« bei der psychodramatischen Begegnung mit dem »Täter«, dem Bruder hin. Die Aufforderung, an den Bruder einen fiktiven Brief zu schreiben, war unter diesem Blickwinkel eine Traumaexposition. Der Patient selbst war als Mensch mit einer Traumafolgestörung typischerweise nicht in der Lage gewesen, seinen Beziehungstraumata in der Kindheit selbst ausreichend Bedeutung zu geben (siehe Kap. 5.5).

6.7  Krisenintervention bei Prüfungsangst Das beschriebene Therapiemodell der störungsspezifischen Therapie bei Angststörungen ist auch zur Krisenintervention anwendbar: Fallbeispiel 49: Eine Therapeutin berichtet in der Supervision von der Krisenintervention bei einer 48-jährigen Frau mit einer langjährigen Prüfungsangst (ICD F40.2) und einer strukturellen Störung (siehe Kap. 4.4). Diese hatte geklagt, dass sie schon eine Woche nach dem Erstgespräch eine Prüfung im pädagogischen Bereich machen müsse, in der sie vor anderen Menschen ihre praktischen Fähigkeiten zu demonstrieren hatte. Für sie sei das subjektiv ein Horrorszenario schlechthin. Die Therapeutin berichtet in der Supervision, dass sie das oben beschriebene störungsspezifische

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Therapiemodell der Therapie bei Angststörungen angewandt hatte: »Die Patientin hat vorher schon zwanzig Jahre Therapie bei anderen Therapeuten gemacht, jetzt aber hat sie nach nur einer Therapiestunde zum ersten Mal in ihrem Leben eine Prüfung geschafft. Sie hatte zwar Angst, aber sie ist nicht wie sonst aus der Prüfung weggelaufen oder gar nicht erst hingegangen! Geholfen hat ihr, glaube ich, dass ihr die Stühlearbeit in ihrem Denken und Fühlen eine Struktur gegeben hat, dazu aber auch, dass ich die Heldin im Kampf gegen die Angstzustände als Stuhl symbolisiert habe und das Coaching der Heldin. Das strukturierte Bild der Selbstorganisation bei der Stühlearbeit hat ihre Angst entmystifiziert! Das Ordnen war wichtig: ›Das gehört hierhin, das dahin!‹ Ich habe als Therapeutin immer mit der Hand darauf gezeigt. Im Selbstcoaching konnte die Patientin alle ihre vorhergehenden Therapieerfahrungen bündeln und sie mir berichten. Ich glaube, besonders wichtig war, die Heldin zu würdigen und nicht nur auf die Defizite zu schauen. In der realen Prüfung hat sie sich dann an ihren Selbstcoachingfähigkeiten festgehalten. Heilend war für die Patientin in der Stunde auch, glaube ich, dass sie sich verstanden fühlte! Es tat aber auch mir als Therapeutin gut, die Patientin zu verstehen und selbst auch handeln zu können. Direkt handeln zu können durch das Aufstellen der Stühle und zusammen in eine Metaposition zu gehen, das hat mich entlastet und auch bei mir als Therapeutin innere Spannungen abgebaut. Bei mir entstand dabei eine tiefe Freude, weil ich an diesen tiefen Prozessen der Patientin teilnehmen durfte! Das holte mich aus meiner üblichen Haltung der immer Aufnehmenden heraus und war befreiend.« Supervisor: »Ja, sonst muss man als Therapeut im Erstgespräch immer alle Informationen in seinem Körper und seiner Seele speichern und neigt dazu, Störungen in der Beziehung wegzudrücken. Bei der Stühlearbeit aber wird alles nach außen auf die Bühne gebracht und bleibt dort gegenwärtig, die Bühne ist dann das Gedächtnis! Dadurch wird das eigene innere Denken und Fühlen freier und man selbst wird wieder offen und neugierig für das, was geschieht.« Zentraler Gedanke Wenn der Therapeut zusammen mit der Patientin über ihr Selbstschutzverhalten in die Genese geht, öffnet sich der Zugang zu ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation und den hinter den Angstzuständen stehenden Konflikten wie von allein. Der Therapeut versteht dadurch ihre zunächst unbegründet erscheinenden Ängste und reagiert spontan haltgebend und seltener mit einer negativen Gegenübertragung. Sein Mitgefühl hilft der Patientin, wie eine gute innere Mutter oder ein guter Vater mit sich selbst mitzufühlen.

Das Verstehen des Therapeuten wird im Laufe der Therapie zum Selbstverstehen der Patientin, sodass diese den Sinn ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation

Die Therapie von Angststörungen in der Gruppentherapie

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innerlich im Als-ob-Modus erfassen kann. Die Patientin entwickelt dadurch neu eine positive Beziehung zu sich selbst. Das hier geschilderte Vorgehen ist geeignet für alle Angstpatienten, bei denen Panikattacken im Vordergrund stehen, bei akuten Angststörungen und auch bei chronischen, bei denen die Angst vor den Panikattacken und das Vermeidungsverhalten schon lebensbestimmend geworden sind.

6.8  Die Therapie von Angststörungen in der Gruppentherapie Bei Realängsten, übertriebenen Ängsten und verdrängten Ängsten kann der Therapeut in der Gruppentherapie noch ganz normal mit der Patientin oder dem Patienten psychodramatisch in ihre Angstszenen hineingehen und störungsspezifisch psychodramatisch arbeiten (siehe Kap. 6.3). Bei Patienten mit Panikattacken ist dieses Vorgehen aber problematisch, weil Panikattacken im Spiel die innere Konfliktverarbeitung der Patienten blockieren (siehe Kap. 6.3). Ihre Panikattacken haben eine Abwehrfunktion und schützen sie in der Gegenwart vor Kontrollverlust oder Selbstverlust durch den Zusammenbruch ihres Abwehrsystems. Der Therapeut kann deshalb Patienten, bevor sie in die Gruppe gehen, zunächst 10–15 Sitzungen lang im Einzelsetting mit der Stühlearbeit Problembewusstsein für ihr intrapsychisches Abwehrverhalten entwickeln lassen (siehe Kap. 6.4). Ohne diese Vorarbeit sollte der Therapeut in der Gruppentherapie in Situationen, die bei den Patienten Panikattacken auslösen, aber Elemente des im Kapitel 5.6 dargestellen Vorgehens bei der Traumaverarbeitung einsetzen und sie die Panik auslösende Situation aus dem »Erzähl- und Beobachtungsraum« heraus beschreiben lassen, während ein Gruppenmitglied als ihre Doppelgängerin und andere als Hilfs-Ichs diese Situation im Playback-Verfahren nachspielen. Die Gruppe diskutiert anschließend themenzentriert die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit des Verhaltens der Patientin und erprobt im Spiel andere Möglichkeiten. Bei Bedarf kann die Patientin räumlich getrennt von der Angstszene zur Selbststabilisierung einen eigenen »sicheren Ort« aufbauen und diesen nutzen. Der Therapeut kann natürlich auch in der Gruppentherapie die Stühlearbeit anwenden, wie sie oben beschrieben ist (siehe Kap. 6.4). Auf diese Weise gewinnt die Patientin leichter Problembewusstsein für ihr Selbstschutzverhalten und dadurch Zugang zur Aktualisierung ihres Selbst im Umgang mit der die Panik auslösenden Situation. Die Gruppenmitglieder übernehmen dabei als Hilfs-Ichs die Rollen des »verlassenen kleinen Mädchens«, des »selbstverletzenden Denkens« und anderer Ich-Zustände und spielen diese aus. Patienten mit Panikattacken geraten durch ihre starre Abwehr in der Interak-

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tion in der Gruppe leicht in die Omega-Position (siehe Kap. 2.5 und 2.6.5), entwickeln Übertragungen und agieren diese als Widerstand gegen den Fortschritt der Gruppe aus. Der Therapeut kann einen solchen Widerstand auflösen, indem er die Gruppenmitglieder die dadurch entstandenen Beziehungsstörungen auf der Beziehungsebene klären und den Realanteil und den Übertragungsanteil an dem Beziehungskonflikt herausarbeiten lässt (siehe Kap. 2.5). Dabei ist hilfreich, wenn die Patientin das aus ihrer Kindheit in die gegenwärtige Beziehung übertragene Beziehungsmuster protagonistzentriert nachspielt, um zusammen mit der Gruppe anschließend die Defiziterfahrung ihrer Kindheit mit der Defiziterfahrung in ihren Gruppenbeziehungen zu vergleichen und Ähnlichkeiten und aber auch Unterschiede festzustellen. Das gilt auch für negative Übertragungen auf den Therapeuten. Auch auf diese Weise können die Angstpatienten den ursprünglichen Sinn ihres Abwehrverhaltens erkennen und dieses in der Gegenwart relativieren.

6.9 Das Vorgehen anderer Psychodramatherapeuten in der Therapie von Angststörungen 6.9.1  Die Therapie eines Patienten mit sozialer Phobie durch Moreno Moreno (1945b, S. 11 ff., 1959, S. 221 ff.) hat 1936 in einer 27 Seiten langen Falldarstellung die Behandlung eines »Falls von Angstneurose« beschrieben, die Therapie des Patienten Robert, der unter Arbeitsstörungen, ständigem Harndrang, Schmerzen in der Herzgegend und der ständigen Angst litt, nicht vollenden zu können, was er sich vorgenommen hatte. Der Patient hatte zwanghafte Angst, in seinem sozialen Umfeld aufzufallen. Er fürchtete, dass er zu spät kommen würde, dass seine Schuhe nicht geputzt wären, dass seine Krawatte veraltet sei, dass sein Auto stehen bleiben könnte, weil es an der Tankstelle nicht kontrolliert worden war, und anderes. Die Symptome würde man heute wohl am ehesten als einer sozialen Phobie (ICD F40.1) zuordnen. Moreno zentrierte damals in den Anfängen des Psychodramas als Psychotherapiemethode seine Arbeit noch ganz auf die »Psychopathologie der interpersonellen Beziehungen«, so lautet der Titel der entsprechenden Erstveröffentlichung. Als Grund für die Störung des Patienten sah Moreno die unbewusste Identifizierung des Patienten mit sowohl seinem Vater als auch seiner Mutter an, die sich gehasst und sich ständig gestritten und sich schließlich getrennt hatten (Moreno, 1959, S. 225): Der Patient versuchte »offensichtlich […], in einer originellen Weise zwischen seinem Vater und seiner Mutter das Gleichgewicht herzustellen, indem

Das Vorgehen anderer Psychodramatherapeuten bei Angststörungen

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er die hervorstechende Sonderlichkeit eines jeden zu einem Teil seines Selbst machte«. Moreno kannte damals noch nicht den psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zwischen dem Protagonisten und dessen von einem Hilfs-Ich gespielten Konfliktgegner. Er ließ seinen Patienten Robert deshalb zunächst in Rollenspielen »nur« sich selbst »porträtieren«, dann aber in anderen Sitzungen auch die Rollen seines Vaters und seiner Mutter spielen. In den Rollen seiner Eltern erkannte der Patient schnell: »Das ist nicht mein Vater, das bin ich.« »Ach, das bin ich, das ist nicht meine Mutter« (Moreno, 1959, S. 224 f.). »Als er seinen Vater spielte, entdeckte er, dass er die gleichen Gefühle gegen die Mutter hatte wie der Vater, und wenn er die Mutter spielte, merkte er, dass er in mancher Hinsicht genau wie die Mutter empfand« (Moreno, 1959, S. 226). Moreno (1959, S. 238) ließ den Patienten in Fantasiespielen die Rollen von einengenden Autoritätspersonen spielen, die Rolle eines Richters gegenüber einer Ladendiebin, die eines Staatsanwaltes gegenüber einer Verbrecherin und die eines Mephisto. Moreno erkannte damals noch nicht die potenziell therapeutisch positive Wirkung seines Vorgehens und wunderte sich über den Genuss des Patienten an dem Spiel in diesen Rollen. Er meinte, sein Patient Robert bevorzuge Rollen, »die ihn in die Lage versetzen, andere zu quälen. […] Das therapeutische Theater gibt ihm eine […] Entschuldigung, sich gehen zu lassen; vielleicht gibt der Genuss […] einen Hinweis auf die Rolle, die er gern im Leben gespielt hätte.« Eine zutreffendere Interpretation ist, dass der Patient durch diese Spiele vielleicht eine gewisse Kontrolle über die strengen Forderungen seines Über-Ichs gewinnen und diese dadurch relativieren konnte. Moreno ließ den Patienten in seiner eigenen Rolle ohne Rollentausch auch Konfliktszenen aus dem Alltag seines Arbeitslebens und seiner Ehe nachspielen. Dabei erfand Moreno die Technik des Selbstgesprächs: Er ließ den Patienten während des Nachspielens seiner Konfliktsituationen laut aussprechen, was er dachte und fühlte, wenn er in der Situation handelte und reagierte. Moreno (1959, S. 231) merkte: »Durch die Methode des Selbstgespräches wurde das Erlebnis der ganzen Situation viel klarer, als es zur Zeit des wirklichen Ereignisses war.« Auch hier wieder begegnete Moreno der Spiellust seines Patienten Robert mit einer nach heutigem Wissensstand unberechtigten Skepsis und monierte: Im Psychodrama haben »die anderen […] sich ihm nach seinem Belieben anzupassen, […] dem Wechsel von einem Zustand in den anderen, seiner Änderung seiner Position im Raum, seinen Wendungen im Dialog und seinem Impuls, aufzuhören, wenn er es wünschenswert findet«. Am Ende der Therapie arbeitete Moreno verhaltenstherapeutisch orientiert mit einer Art Desensibilisierungstechnik weiter: Er baute in die Fantasiespiele des Patienten zunehmend Komplikationen ein, die die Spielszenen den Situationen des Patienten in seinem All-

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tag ähnlich machten: »Gegenstände, Ereignisse und Personen wurden sorgfältig seinem unbegrenzten Drang, sich selbst zu erklären und zur Schau zu stellen, in den Weg gestellt« (Moreno, 1959, S. 347). Moreno hat entgegen seiner sonstigen Gewohnheit in diesem Fallbeispiel nichts darüber geschrieben, ob und wieweit sich die Symptomatik des Patienten durch das von ihm beschriebene Vorgehen verbessert hat. 6.9.2  Die Behandlung von isolierten Phobien Patientinnen und Patienten mit isolierten Phobien (ICD F40.2) haben den ursprünglichen Konflikt, der in der Vergangenheit die Angst erzeugte, verdrängt und den Affekt der Angst auf ein relativ belangloses anderes äußeres Objekt verschoben (Mentzos, 2011, S. 110). Je länger eine isolierte Phobie besteht, desto stärker vermeiden die Betroffenen vorbeugend die ängstigende Situation (Mentzos, 2011, S. 110), die Ängste führen zu einem allgemeinen Vermeidungsverhalten und es entsteht wie bei Patienten mit einer Agoraphobie eine sekundäre Angst vor Angstanfällen, die nach dem im Kapitel 6.5 beschriebenen Vorgehen zu behandeln ist. Wenn die phobische Symptomatik erst kurze Zeit besteht, hat sich das Vermeidungsverhalten noch nicht in die Selbstorganisation eingebrannt, und der Therapeut kann folgendermaßen vorgehen: 1. Er lässt die Patientin ganz »normal« die Situation, die ihren Angstzustand in der Gegenwart auslöste, auf der Bühne psychodramatisch nachspielen. 2. Er fragt die Patientin, wie alt ihre Angst ist. 3. Er lässt sie durch Szenenwechsel in die Zeit des ersten Auftretens der Angst gehen und die damalige Konfliktsituation ausspielen. Von dort ergibt sich oft ein Zusammenhang mit einer problematischen Kindheitserfahrung. 4. Der Therapeut bearbeitet mit ihr die Szene aus der Kindheit klassisch psychodramatisch und kann so die »Ursachen der Angststörung« auflösen (Leutz, 1974, S. 147). Man kann in der Behandlung von isolierten Phobien als Therapeut aber auch verhaltenstherapeutisch orientiert vorgehen. Straub (Straub, 1972, S. 72, S. 178 ff.) hat dazu ein Konzept ausgearbeitet. Sie integrierte dabei die Ideen der Desensibilisierung und Konditionierung aus der Verhaltenstherapie in das Psychodrama. Sie ließ ihre Patienten sich jeweils eine ihnen bekannte Bezugsperson aussuchen, die in der ängstigenden Situation keine Schwierigkeiten haben würde. Dabei wählte zum Beispiel eine Frau mit Katzenphobie ihren Sohn aus. Die Patientin sollte dann ihren Sohn in seinem Umgang mit Katzen genau beobachten, sich sein Verhalten einprägen und seine Mimik und Gestik für sich allein im Rollenspiel üben, ohne sich eine Katze vorzustellen. Im nächsten Schritt sollte die Patientin sich im Rollenspiel die Begegnung mit einer Katze vorstellen, dabei aber fiktiv psychodramatisch »die Rolle ihres Sohnes spielen und sich als Sohn

Die Behandlung isolierter Phobien

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dem Tier genauso zuwenden, wie er es zu tun pflegte«. Danach sollte die Patientin zu Hause die Rolle ihres Sohnes einnehmen und in dieser Rolle ihre wirkliche Katze, genau wie ihr Sohn, streicheln. Straub (1972, S. 178 ff.) berichtet, dass ihre Patientin das ohne Wissen der Familie heimlich übte: »Schritt für Schritt lernte die Patientin nun, auf dem Weg über das Rollenspiel […] mit der Katze umzugehen. Nach sieben Monaten war sie soweit, die Katze nicht nur völlig angstfrei streicheln zu können. […] Die Patientin empfand schließlich sogar regelrechte Zuneigung für die Katze.« Straub meint, dass die Übernahme von Rollen anderer Personen, also »die Technik des Rollenwechsels, der entscheidende Wirkungsfaktor in dieser Behandlung war. Beim Hineindenken in die Rolle ihres Sohnes und beim Nachahmen seines Verhaltens gegenüber der Katze wurde die Patientin wahrscheinlich von ihrer phobischen Angst so stark abgelenkt, dass sie entspannt genug war, um die an ihrem Sohn beobachteten Bewegungsabläufe […] mit der erforderlichen Ruhe […] durchführen zu können.« Auch in der Therapie einer »schweren Examensphobie einer Zwanzigjährigen […] vor dem Abitur« und in anderen Fällen mit Phobien arbeitete Straub auf ähnliche Weise verhaltenstherapeutisch (1972, S. 179): »Jeweils wurde ein Behandlungsplan mit den Patienten ausgearbeitet und ihnen gesagt, sie sollten bei der Durchführung dieses Planes die Rolle einer ihnen bekannten Person einnehmen, von der sie wüssten, dass sie die Situationen, in denen die Patienten phobisch reagierten, angstfrei meisterten. Der Rollenwechsel wurde mit den Patienten in der Regel in einigen Sitzungen eingeübt; danach führten die Patienten ihre Behandlung entsprechend dem Plan weitgehend selbstständig durch« im Sinne der »verhaltenstherapeutischen Technik der ›selfregulation‹«. Bei einer Patientin mit einer Bakteriophobie und schweren Zwangshandlungen (siehe Kap. 7.4, Fallbeispiel 52) zentrierte Straub (1972, S. 180 ff.) die Behandlung zunächst auf die Beseitigung der Bakteriophobie. Bei den Rollenspielen spielte die Patientin die Rolle eines jungen Mädchens, einer Schulfreundin von früher. Die Therapeutin übernahm dabei als Doppelgängerin in den Rollenspielen der Patientin die Rolle eines anderen jungen Mädchens. Beide machten in diesen Rollen zusammen real »ein halbes Dutzend« Ausflüge in die Stadt, benutzten öffentliche Verkehrsmittel, kauften ein, »trugen keine Handschuhe (was die Patientin sonst zu tun pflegte) und fassten alles Mögliche an«, zuerst immer die Therapeutin in ihrer Mädchenrolle, dann erst die Patientin selbst, später auch zuerst die Patientin und dann erst die Therapeutin. Zu Hause verringerten sich dadurch die phobischen Reaktionen der Patientin radikal, »wobei sie auch daheim zunächst für sich allein weiter die Rolle ihrer ehemaligen Schulfreundin spielte« »im Sinne der fixed role-therapy«, erst später konnte sie auf das Spiel in der Rolle der Schulfreundin verzichten.

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6.9.3 Der therapeutische Umgang mit Panikattacken bei anderen Psychodramatikern Viele Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker (Leutz, 1974, S. 147, Grimmer, 2007, S. 31 f.) versuchen, in der Therapie von Patienten mit Panikattacken das Problem des drohenden Zusammenbruchs des Abwehrsystems zu umgehen, indem sie bei dem psychodramatischen Nachspielen der Situation, die den Angstzustand ausgelöst hatte, die Panik durch Kunstgriffe vermindern. 1. Der Therapeut lässt die Patientin im Spiel zwar in die Panik auslösende Situation hineingehen, sie dann aber ihre »Angst« außerhalb von sich selbst als Beziehungsobjekt konkretisieren. Ein Gruppenmitglied übernimmt anschließend als Hilfs-Ich die »Rolle der Angst« im weiteren Spiel. Das ermöglicht es der Patientin, mit ihrer »Angst« in einen fiktiven psychodramatischen Dialog einzutreten und für den Umgang miteinander eine für beide Seiten erträgliche Kompromisslösung auszuhandeln. 2. Oder der Therapeut fordert das Hilfs-Ich, das die Rolle der Angst spielt, auf, der Protagonistin den Brustkorb so zusammenzudrücken, »wie die Angst es bei der Patientin macht«. Die Protagonistin beginnt dann meistens spontan, mit der Mitpatientin, die als Hilfs-Ich die »Angst« spielt, körperlich zu kämpfen, und drängt die »Angst« zum Beispiel durch die Tür aus dem Gruppenraum hinaus. Bei diesem Vorgehen handelt es sich um Wunscherfüllung. Der therapeutische Gedanke dabei ist, dass die Patientin die Erfahrung ihres erfolgreichen psychodramatischen Kampfes gegen ihre »Angst« als Handlungsmodell in ihre innere Selbstorganisation integrieren und als solches auch in ihrem Alltag innerlich anwenden soll. Dieses Vorgehen verharmlost aber die existenzielle Angst vor dem Selbstverlust oder Kontrollverlust (siehe Kap. 6.3), und der Panikanfall bleibt ein nicht fassbares Phantom, das in seinem Sinn weder von dem Therapeuten noch von der Patientin verstanden wird. Karl Grimmer (2007) hat in seiner Magisterarbeit ein Konzept der störungsspezifischen Psychodramatherapie von Angststörungen ausgearbeitet, dessen zentrales Anliegen es ist, dass die Patienten gute innere Elternrollen entwickeln, und so ihre Selbstempathie, die bei Angstpatienten bekanntermaßen defizitär ist, verbessern (Grimmer, 2007, S. 25, 37, Grimmer, 2013, S. 194 f.). Der Therapeut erreiche das zum Beispiel dadurch, dass er die Patienten beim Nachspielen von Kindheitsszenen aktiv frühere positive und hilfreiche Bezugspersonen suchen lässt. Wenn diese nicht vorhanden waren, führt der Therapeut fiktive positive Gestalten als neue Ressourcen und selbststabilisierende innere Objekte ein. Die therapeutische Beziehung sei durchweg haltgebend zu gestalten. Entgegen dem in Kapitel 6.5 beschriebenen Therapiemodell (siehe Kap. 6.5) empfiehlt Grimmer (2007, S. 23) am Anfang der Therapie aber eine »Angstkonfrontation

Die Therapie von Panikattacken bei anderen Psychodramatikern

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mithilfe von Surplus Reality«, eine »systematische, behutsame Begegnung mit den gefürchteten Angstgefühlen. Dadurch soll die ständige Selbstbeobachtung der Patienten vermindert werden. Potenziell Angst auslösende Szenen werden gezielt ausgewählt und inszeniert« (Grimmer, 2007, S. 23). Um dabei zu vermeiden, dass die Patienten von Panik überflutet werden, lässt Grimmer sie ihre Panik, wie eben beschrieben, auf der Bühne auf der Objektebene mithilfe eines Hilfs-Ichs als »Rolle der Angst« konkretisieren (Grimmer, 2007, S. 31 f., S. 35, 40 ff.). Die Patienten sollen dann mit der »Angst« einen psychodramatischen Dialog mit Rollentausch führen. Dabei lässt Grimmer die Protagonistin im Rollentausch auch selbst die Rolle der Angst übernehmen, doppelt sie dann aber und suggeriert der Patientin, als »Angst« ihr gegenüber hilfreiche Absichten zu haben: »Eigentlich will ich dir doch nur helfen!« Er interpretiert die Angst um zur »überengagierten Helferin« oder zum »tollpatschigen, ungeschickten Helfer«. Nach Grimmer lernt die Patientin dadurch, »den unsichtbaren Feind«, ihre Panik, zum Helfer umzuwandeln, eigene Interessen gegen sie durchzusetzen und durch das Ausspielen der »Rolle« der Angst Kontrolle über ihre Angst zu gewinnen. Eine solche positive Umdeutung in einen »Helfer« blendet die Signalfunktion des Panikanfalls aus, die die Patientin auf einen drohenden Selbstverlust oder Kontrollverlust in ihrer Selbstorganisation hinweist. Die Panik bleibt für die Patientin und den Therapeuten auch hier wieder ein nicht fassbares Phänomen und wird in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht verstanden. Ein Angstanfall kann zwar tatsächlich zum »Helfer« werden, das aber »nur« im Sinne einer Signalangst, die sie darauf hinweist, dass sie in der Gegenwart in ihrer Selbstorganisation wieder auf eine alte neurotische Weise ihre eigenen Gefühle und die Aktualisierung ihres Selbst verleugnet oder verdrängt. Fallbeispiel 50: Ein 34-jähriger Patient mit einer Herzphobie beginnt gegen Ende der Behandlung eine Therapiesitzung mit der Feststellung: »Mein bester Freund hat sich wieder gemeldet!« Der Therapeut ist verwundert: »Welcher beste Freund?« Der Patient klopft sich auf die linke Brustseite: »Na hier, mein Herz!« Er berichtet weiter: »Da habe ich dann gesucht: Wo ist der Feind! Ich merkte, was los war, und habe mich gewehrt, bumm, bumm, bumm!« Der Patient imitiert bei diesen Worten mit seinen Armen einen Boxkampf. Er hatte in seiner Therapie erkannt, dass seine Herzbeschwerden immer dann auftraten, wenn er sich in Konflikten zu sehr anpasste und seinen Ärger nicht zuließ. Jetzt setzte er beim Auftreten seines Symptoms diese Erkenntnis in neues Handeln um: Er suchte innerlich nach dem ausgeblendeten Konflikt, der sein Herzrasen ausgelöst hatte, fand den Konflikt und ging innerlich aktiv in die Auseinandersetzung mit seinem Konfliktpartner hinein. Das gelang ihm bei seiner insgesamt guten Beziehungsfähigkeit relativ leicht.

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Zum »Helfer« wird in der Behandlung von Panikattacken eigentlich nicht das Symptom Angst, sondern das in der Therapie erarbeitete Wissen der Patientin darüber, wie sie sich selbst in alter Weise dysfunktional steuern müsste, damit der Angstanfall auch wirklich auftritt. In dem hier vorgeschlagenen Therapiemodell (siehe Kap. 6.5) erfasst die Patientin mithilfe des Therapeuten deshalb zunächst den inneren Prozess ihrer dysfunktionalen Selbststeuerung, der zu ihren Panikattacken führt. Dann merkt sie nämlich am erneuten Auftreten eines Angstanfalls, dass sie wieder auf dem alten »falschen« Weg der dysfunktionalen Selbstorganisation ist, und kann diesen alten Weg bewusst stoppen und inzwischen in der Therapie erarbeitete neue Wege erproben. Übung 14 Sie können als Leserin oder Leser den Unterschied zwischen dem Vorgehen nach Grimmer in der Behandlung von Angststörungen und dem hier vorgeschlagenen Therapiemodell klarer erkennen, wenn Sie zusammen mit Kollegen einmal versuchen, das Vorgehen nach Grimmer experimentell nachzuspielen. Sie werden merken: 1. Dadurch, dass der Therapeut dabei in seiner Arbeit psychodramatisch den Weg der dysfunktionalen Selbstorganisation der Patientin nicht mitgeht, bleibt die Bedeutung der Angst für die Patientin unklar. 2. Schwerer gestörte Angstpatienten geraten bei dem psychodramatischen Dialog mit der »Rolle« ihrer Angst oft in eine Rollenkonfusion. Zentraler Gedanke Der psychodramatische Dialog mit der »Angst« als Beziehungsobjekt nach Grimmer setzt die Fähigkeit voraus, im Als-ob-Modus mentalisieren zu können. Diese Fähigkeit ist aber bei mindestens der Hälfte der Patienten mit Panikattacken in der Angst auslösenden Situation nicht vorhanden. Die Patienten folgen im psychodramatischen Nachspielen der die Panik auslösenden Situation dann zwar den Anweisungen des Therapeuten, sie können von der gemeinsamen Arbeit aber nicht wirklich profitieren.

Es wäre interessant, eine vergleichende Studie zu erstellen, in der wissenschaftlich untersucht wird, ob die Vorgehensweisen nach Grimmer und nach dem im Kapitel 6.5 vorgeschlagenen Therapiemodell in der Behandlung von Angststörungen therapeutisch ähnlich erfolgreich sind oder nicht.

7 Zwangsstörungen

7.1 Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und ihre psychodynamische Funktion Nach der ICD (F42.-) sind »Zwangsgedanken […] Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die den Patienten immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, der Patient versucht häufig erfolglos, Widerstand zu leisten […]. Zwangshandlungen […] sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden. Sie werden weder als angenehm erlebt, noch dienen sie dazu, an sich nützliche Aufgaben zu erfüllen. Der Patient erlebt sie oft als Vorbeugung gegen ein objektiv unwahrscheinliches Ereignis, das ihm Schaden bringen oder bei dem er selbst Unheil anrichten könnte. […] Angst ist meistens ständig vorhanden. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt sich die Angst deutlich.« Zwangssymptome haben nach Mentzos (2011, S. 104) die Funktion von Sicherungsmaßnahmen. Bei Patienten mit reiferer Persönlichkeitsstruktur sind die Symptome »Kompromissbildungen zwischen Impulsen, die nicht zugelassen werden dürfen, und der Abwehr gegen diese Impulse. Im manifesten Bild überwiegt mal der Impuls […] und mal (häufiger) die Abwehr« (Mentzos, 2011, S. 102). Zentraler Gedanke Ein Zwang hat meistens die »Funktion der Versöhnung des strengen Über-Ichs« (Mentzos, 2011, S. 106). Bei schwereren psychischen Störungen, »die bis an die Grenzen der Psychose reichen«, dient die ständige Wiederholung magischer Handlungen aber »der Stabilisierung des Selbst bzw. der Abwehr tieferer innerer und äußerer Gefahren« (Mentzos, 2011, S. 103).

Es handele sich bei den zunächst rätselhaft erscheinenden magischen Aktionen und Ritualen »um eine in der Not regressive Mobilisierung von früheren Verhaltensmustern […], die uns aus der Welt des Kindes, aber auch aus der Welt der Völker sehr gut bekannt sind«. Das Auftreten eines Zwangs signalisiert nach

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Zwangsstörungen

Mentzos, »nicht nur einen […] dahinterstehenden schwierigen Konflikt, sondern auch die Tatsache, dass es sich um ein zu schützendes und zu stärkendes Ich (Selbst) handelt«.

7.2 Die Behandlung der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation in den Zwangssymptomen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden von den Betroffenen als ichfremd erlebt und irritieren sie in ihrem Selbstbild. Die Therapeutin wird durch ihr Mitgefühl leicht verführt, nach den hinter den Zwangssymptomen stehenden Konflikten zu suchen, sich mit dem unterdrückten Selbst des Patienten zu identifizieren und zu versuchen, dieses gegen die strengen Über-Ich-Verbote zu stärken. Dabei arbeitet sie aber gegen die Abwehr des Patienten. Oft weiß dieser am Ende seiner Behandlung dann vieles über die Genese seiner Konflikte, die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sind aber weiterhin vorhanden. Das enttäuscht den Patienten und die Therapeutin und führt zu entsprechenden negativen Übertragungen und Gegenübertragungen. Nach Mentzos (2011, S. 105) kann dem Patienten aber »weniger durch Vermittlung von Einsicht in die Dynamik des Symptoms […] geholfen werden […], sondern mehr durch neue positive Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Therapie, […] Beziehungserfahrungen, die sein Selbst kohäsiver, stärker und freier machen«. Störungsspezifisch sinnvoller ist es deshalb, wenn die Therapeutin den Patienten zunächst da abholt, wo er ist, in seinen Symptomen, und mit ihm zusammen seine gegenwärtige psychische Selbstorganisation beim Agieren seiner Symptome erfasst und bearbeitet. So gewinnt der Patient in seiner Selbstorganisation Zugang zur Aktualisierungstendenz seines Selbst. Dazu repräsentiert die Therapeutin die Zwangsgedanken auf der Zimmerbühne mit einem gegenüberstehenden leeren Stuhl als »inneren sadistischen Quälgeist«, der dem Patienten die bedrohlichen Gedanken eingibt. Bei schweren psychischen Störungen, bei denen die Zwänge das Selbst des Patienten stabilisieren, benennt sie diesen Stuhl neutraler als »inneren Boten, der vor kommendem Unheil warnt«. Die Zwangshandlungen hingegen werden von der Therapeutin radikal positiv uminterpretiert als sinnvolle Reaktion auf die Drohungen des »sadistischen Quälgeists« und deshalb mithilfe eines Stuhls als Ich-Zustand des »Selbstschutzverhaltens« (siehe Kap. 4.7) neben dem Patienten symbolisiert. Denn Zwangshandlungen haben selbstorganisatorisch die Funktion, durch äußeres Handeln die durch die Zwangsgedanken bzw. den Quälgeist imaginierte Bedrohung abzuwenden oder zu überprüfen, ob das vermutete schlimme Ereignis wirklich eingetreten

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ist. Das Agieren der Zwangshandlungen entlastet den Patienten von seinem Angstdruck, auch wenn ihm dabei durchaus bewusst ist, dass seine Ängste unangemessen und irreal sind. Empfehlung Es erleichtert den Patienten sehr, wenn die Therapeutin nicht nur das Absurde seiner Zwänge sieht, sondern seine Einsicht in die Irrealität seiner Ängste würdigt, indem sie diese als sein »durchaus vorhandenes gesundes Erwachsenendenken« mit einem zusätzlichen leeren Stuhl im Therapiezimmer repräsentiert. Das wirkt auf den Patienten ichstärkend. Fallbeispiel 7 (Fortsetzung aus Kapitel 2.9): Ein 20-jähriger Patient, Herr B., litt seit zehn Jahren und im letzten halben Jahr wieder verstärkt unter Zwangsgedanken, Zwangshandlungen und »starken Aggressionen«, obwohl er sich eigentlich als »supersozialen Menschen« erlebte. In einer vorhergehenden Therapie bei einem anderen Therapeuten war viel über seine Aggressionen und die schwierige Beziehung zu seiner drei Jahre älteren Schwester gesprochen worden. Er berichtete im Erstgespräch, dass er Angst habe, sich mit Aids anzustecken, wenn er eine Türklinke anfasst. Oder dass er, wenn er durch ein Schlagloch gefahren war, Angst hatte, mit dem Auto einen Fußgänger überfahren zu haben. Er blicke dann in den Rückspiegel und kehre mit dem Auto öfter auch um, um die Straße zu überprüfen und seine Befürchtung zu entkräften: »Eigentlich weiß ich, dass das Überfahren von einem Passanten sich anders anfühlen müsste. Ich hätte die Person ja auch gesehen.« Er habe sich haarklein ausgerechnet, dass eine solche Katastrophe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,000001 % auftreten könnte. Wegen seiner Angst vor Aids hatte er sich ausführlich informiert, dass eine Infektion normalerweise nur durch Körperkontakt zustande kommt. In der Folge entwickelte er aber die Angst, dass jemand ihn in der Fußgängerzone vielleicht unbemerkt mit einer Spritze stechen und mit Aids infizieren könnte. Er besorgte sich deshalb vorsorglich Spritzen und stach sich damit, um »zu wissen, wie sich das anfühlen würde«, damit er das dann leichter merken könne. Der Therapeut konkretisierte zunächst mit leeren Stühlen die drei alternierenden Ich-Zustände, die an der Selbstorganisation des Patienten in seinem Symptom beteiligt waren: Dem Patient gegenüber positionierte er einen »sadistischen Quälgeist, der ihm die Bedrohungsgedanken eingibt«, und stellte für diesen in Abstimmung mit dem Patienten die Handpuppe eines aggressiv blickenden roten Teufels auf den Stuhl. Herr B. war sehr bewegt, seine inneren Zwangsgedanken so fassbar vor sich zu haben und fotografierte den »Quälgeist« sofort mit seinem Handy. Links neben ihn stellte der Therapeut mit Blickrichtung zum »Quälgeist« einen zweiten leeren Stuhl auf: »Das ist der Stuhl für Ihr Selbstschutzverhalten, für Ihre Fähigkeit, den

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von dem Quälgeist angekündigten Gefahren vorzubeugen und sich klug verschiedene Vorsichtsmaßnahmen auszudenken und durchzuführen, zum Beispiel indem Sie mit dem Auto umkehren oder sich mit Kanülen stechen.« Zusätzlich benannte der Therapeut den Stuhl, auf dem Herr B. ihm gegenübersaß, zum Stuhl für sein gesundes Erwachsenendenken, mit dem er durchaus wisse, dass seine Ängste irreal sind und sich zum Beispiel die geringe Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse vorrechnet. Herr B. war erstaunt und fühlte sich sehr erleichtert, dass der Therapeut sein von ihm selbst als nutzlos erlebtes Wissen um die Irrealität seiner Ängste so positiv würdigte. Im weiteren Verlauf der Sitzung sprach der Therapeut stellvertretend für den Patienten den »Quälgeist« direkt an und beschwerte sich bei dem Therapeut, dass er dem jungen Mann »das Leben so schwer macht« (siehe Kap. 4.10). In der darauffolgenden Sitzung hatte Herr B. sein von einem Psychiater verordnetes Neuroleptikum Seroquel abgesetzt und berichtete: »Nach der Stunde ging es mir schon gleich viel besser! Jetzt sage ich mir einfach: ›Wenn etwas passiert, dann ist es eben so, Pech gehabt!‹ Das als Teufel zu sehen, hat mir geholfen. Auch dass Sie den Teufel ›Quälgeist‹ genannt und ihn nicht so ernst genommen haben. Jetzt kann ich über mich schon etwas lachen! Im Prinzip will ich diese Angst auch gar nicht völlig loswerden. Als Kind war ich sehr mutig, habe vor nichts Angst gehabt, aber ganz ohne Angst, das ist ja auch nicht richtig.« Therapeut: »Ich glaube, wichtig ist, dass Sie den sadistischen Quälgeist immer wieder aus sich heraus nach draußen bringen. Dann haben Sie ihn besser unter Kontrolle. Kaufen Sie sich doch für den Quälgeist eine ähnliche Handpuppe und stellen Sie sich diese zu Hause hin!« In der insgesamt nur 15 Sitzungen umfassenden Psychotherapie ließ der Therapeut den Patienten seine dysfunktionale psychische Selbstorganisation immer wieder im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels nachvollziehen und den Konflikt zwischen seinen Ich-Zuständen in psychodramatischen Dialogen austragen. Schon in der zweiten Therapiestunde stellte Herr B. spontan einen Bezug her zwischen dem »Quälgeist« und sadistischen Demütigungen seitens seiner älteren Schwester in seiner Kindheit. Therapeut: »Sie sind als Kind von Ihrer Schwester traumatisiert worden. In dem Konflikt mit dem ›Quälgeist‹ spiegelt sich Ihr Schwesterkonflikt wider. Wenn Sie als Kind wütend waren, dann war das eine gesunde Reaktion!« Nach dem Konzept der Stühlearbeit (siehe Abb. 11) repräsentierte der Therapeut die »ältere Schwester« hinter dem Stuhl des »Quälgeistes« und zeigte mit der Hand auf den Stuhl für das Selbstschutzverhalten: »Sie haben als Kind gelernt, sich in selbstverletzender Weise vorsorglich schon selbst zu disziplinieren. Das hat Sie geschützt vor realen äußeren Bedrohungen durch Ihre Schwester. Als kleiner Rivale sind Sie Ihrer älteren Schwester dadurch weniger in die Quere gekommen.« Der Therapeut stellte zusätzlich hinter das »Selbstschutzverhalten« auf die Zimmerbühne leere Stühle hin für das »traumatisierte Kind« und das »wütende Kind«. Ein halbes Jahr später

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berichtete der Vater von Herrn B. dem Therapeuten in einem Telefonat dankbar, dass dieser seine Gesellenprüfung geschafft habe und dass es ihm seit der Behandlung sehr viel besser gehe. Zentraler Gedanke Patienten mit Zwangsstörungen agieren in ihren Zwängen schnell wechselnd nebeneinander drei verschiedene Ich-Zustände, das selbstverletzende Denken, das Selbstschutzverhalten und das gesunde Erwachsenendenken. Das geschieht im Äquivalenzmodus (siehe Kap. 2.2), als ob die durch die Zwangsgedanken vorgegebene Bedrohung tatsächlich äußere Wirklichkeit wäre.

Die Therapeutin symbolisiert im Therapiezimmer die Zwangsgedanken des Patienten ihm gegenüber mit einem leeren Stuhl als sein »selbstverletzendes Denken« und seine Zwangshandlungen mit einem zweiten Stuhl neben ihm als sein »Selbstschutzverhalten« und stellt auf die beiden Stühle passende Handpuppen. Darüber hinaus benennt sie den Stuhl, auf dem er gerade sitzt, als sein »gesundes Erwachsenendenken« (siehe Kap. 4.7). Dadurch erlebt der Patient zum ersten Mal den interaktionellen Konfliktraum zwischen diesen drei Ich-Zuständen. Anschließend lässt der Therapeut den Patienten den Konflikt zwischen diesen Ich-Zuständen interaktionell im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels mit Rollentausch konstruktiv austragen (siehe Kap. 4.10). Der äußerlich vorhandene Konfliktraum zwischen den Stühlen für die Zwangsgedanken und die Zwangshandlungen ermöglicht es dem Patienten zum Beispiel, sich im Spiel aus der Rolle seines gesunden Erwachsenendenkens, unterstützt von dem Therapeuten als Doppelgänger, interaktionell handelnd gegen den »Quälgeist« zur Wehr zu setzen. Zentraler Gedanke Zwangsneurotische Patienten integrieren durch das äußere Repräsentieren ihrer Ich-Zustände mit Stühlen und die darauf folgende Stühlearbeit den Als-obModus des Spiels in ihr inneres Denken (siehe Kap. 2.2) und erleben dadurch ihre Zwänge subjektiv neu als von ihnen selbst steuerbar (siehe Abb. 6). Das wirkt ichstärkend und gibt ihnen vor sich selbst ihre Würde als Mensch zurück.

Bei diesem Vorgehen arbeitet der Therapeut zunächst gezielt an der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation des Patienten in der Gegenwart und deckt zunächst nicht dessen hinter den Zwangssymptomen stehende Konflikte auf, also zum Beispiel Konflikte aus seiner Kindheit. Der psychodramatische Dialog zwischen seinen Ich-Zuständen mit Rollentausch, insbesondere das Ausspielen

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der konflikthaften Beziehung zwischen dem sadistischen Über-Ich und dem gefügigem Selbstschutzverhalten, lässt ihn später nämlich meistens von sich aus nach Ursache und Wirkung in seinem intrapsychischen Gleichgewicht suchen. Er fragt sich irgendwann spontan, wie seine dysfunktionale Selbstorganisation ursprünglich einmal entstanden ist. Das Interaktionsmuster zwischen seinem »sadistischen Über-Ich« und seinem »Selbstschutzverhalten« schreit gleichsam nach Erklärung, und der Patient und der Therapeut finden zusammen, gerade weil Ursache und Wirkung in der Interaktion zwischen ihnen nicht zu erkennen sind, meistens schnell analoge Interaktionsmuster in der Vorgeschichte des Patienten, die seine Panikreaktion erklären, zum Beispiel ein Beziehungstrauma in seiner Kindheit. Das psychodramatherapeutische Vorgehen in der Behandlung von Zwangsstörungen lässt sich zusammenfassend als eine Abfolge von fünf Schritten beschreiben: 1. Der Therapeut erfasst mit der Stühlearbeit mit dem Patienten zusammen das in den Zwängen des Patienten enthaltene interaktionelle Konfliktsystem der dysfunktionalen Selbstorganisation. 2. Er lässt den Patienten diesen Konflikt mit Rollentausch psychodramatisch austragen. 3. Er sucht mit ihm nach Zusammenhängen mit analogen Interaktionsmustern des Patienten aus seiner Vorgeschichte. Dadurch werden frühere Traumata oder die Genese einer strukturellen Störung aufgedeckt. 4. Abhängig vom Therapieziel kann eine störungsspezifische Weiterbehandlung der Traumafolgestörung oder der strukturellen Störung (siehe Kap. 4.4) folgen. 5. Am Ende der Behandlung ist die innere Umstellung des Patienten auch in die inneren Beziehungsbilder der Gegenwart und der Vergangenheit zu integrieren (siehe Kap. 4.12).

7.3 Die Behandlung von Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen Zwangsgedanken, die ohne Zwangshandlungen (F42.0) auftreten, können zwar ängstigende Vorstellungen reproduzieren und sind dann auf der Objektebene interaktionell dem Stuhl des »selbstverletzenden Denkens« zuzuordnen. Sie können aber auch sexuelle oder aggressive Ideen oder Impulse des Patienten ausdrücken, die zwar als ichfremd erlebt werden, die aber der inneren Selbstrepräsentanz zuzurechnen sind, den Patienten in seiner von einengenden ÜberIch-Verboten bestimmten psychischen Selbstorganisation bedrohen und ihn in seinem Selbstbild irritieren. Therapeutisch hilfreich ist in diesen Fällen die Technik der kreativen Projektion eines Selbstanteils. 1. Der Therapeut lässt den Patienten seine innere Distanzierung von seinen Zwangsgedanken durch das Aufstel-

Die Behandlung von Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen

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len eines leeren Stuhls äußerlich real vollziehen: »Ich stelle für Ihre belastenden Gedanken und Gefühle hier diesen Stuhl hin!« 2. Er lässt den Patienten die von ihm abgelehnten eigenen Impulse und Gefühle, die Zwangsgedanken, einer fiktiven anderen Person zuschreiben, die solche Gedanken und Gefühle ganz normal ausleben würde. 3. Der Patient schreibt in den nächsten zehn Wochen zehn kleine Geschichten aus dem Leben dieser anderen Person auf, in denen die fiktive Person die Impulse, Gedanken und Gefühle seiner Zwangsgedanken wie selbstverständlich agiert, und bringt diese in die Therapiesitzungen mit. Fallbeispiel 51: Eine 28-jährige Patientin, Frau A., litt unter einer Zwangsneurose, wegen der sie auch schon stationär psychiatrisch behandelt worden war. Am Ende einer zweijährigen Gruppentherapie hatte sie im Allgemeinen gute Fortschritte gemacht, war aber immer noch gequält von den sich in ihrem Kopf stereotyp wiederholenden Gedanken »Ficken, bumsen, blasen«. Der Therapeut forderte die eigentlich eher bieder wirkende junge Frau auf, eine Gestalt zu suchen oder eine Person, die diese Gassenworte real benutzen würde. Frau A. nannte nach einigem Überlegen die »rote Zora« aus dem gleichnamigen Buch von Kurt Held und wandelte die Geschichte aber ab. Ihre »rote Zora« war ein 14-jähriges Mädchen, das im 17. Jahrhundert vor den Mauern einer mittelalterlichen Stadt allein im Wald in einer selbst gebauten Hütte lebt. Tagsüber geht sie in die Stadt und stiehlt dort an den Marktständen Dinge zum Essen. Wenn Kinder und insbesondere Jungen sie hänseln, verprügelt sie diese, flucht dabei, beschimpft sie und benutzt dabei die oben genannten zotigen Wörter. In den Kämpfen siegt sie immer! Abends geht sie wieder zurück in ihr »Zuhause«. Der Therapeut vereinbarte mit der Patientin, dass sie zu den nächsten zehn Sitzungen jeweils schriftlich eine Episode aus dem Leben der »roten Zora« ausarbeiten sollte. Sie brachte die ein bis zwei Seiten langen, einfachen, aber lebendigen Geschichten jeweils in die Therapiestunden mit. Die »rote Zora« war darin zunächst allein, sammelte dann aber um sich herum eine Bande. Beim Vorlesen der letzten der zehn Geschichten staunte der Therapeut und freute sich: Die Patientin hatte darin geschrieben, dass sie selbst die Welt der »roten Zora« aufsucht und bei dieser »in die Lehre geht«. Zehn Jahre später berichtete Frau A., dass die Zwangsgedanken zwei Jahre nach Beendigung der Therapie verschwunden und auch keine anderen Zwangssymptome mehr aufgetreten waren. Sie kommentierte die damalige Arbeit: »Ich wusste gar nicht, dass ich so kreativ sein konnte! Das Freche, das hatte mir gefehlt!«

Carmen Kollenbaum (2014, mündliche Mitteilung) berichtete, dass bei einer von ihr behandelten 30-jährigen Patientin die Zwangsgedanken mit der Technik der kreativen Projektion eines Selbstanteils schon nach wenigen Wochen verschwunden waren. Die Patientin war drei Jahre zuvor schon einmal wegen

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schwer destruktiver Zwangsgedanken in Therapie gewesen, die sich gegen ihren kleinen Sohn gerichtet hatten. Damals hatte die Methode der In-vivo-Konfrontation und -Habituation geholfen: Sie hatte auftragsgemäß ihre schlimmsten Zwangsgedanken aufgeschrieben und im Detail die Folgen ausformuliert, auch die negativen. Diese endeten in ihrer Fantasie jeweils damit, dass sie von der Welt geächtet und ausgeschlossen in der Psychiatrie lebte und einsam und allein starb. Sie hatte diese Niederschriften regelmäßig lesen müssen, bis sie ihr »langweilig« wurden. Dadurch hatten diese Gedanken jeweils im Laufe von einer Woche ihre Kraft verloren, und die Patienten hatte sich ihrem Kind wieder zuwenden können. Jetzt hatten sich bei ihr erneut Zwangsgedanken eingestellt, nachdem sie bei einem Streit mit ihrem Ehemann spontan einen Orgasmus gehabt hatte: Sie konnte »nichts anderes mehr denken, als dass sie masturbieren« müsse, und konnte sich wegen der quälenden Gedanken nicht mehr entspannen, obwohl die sexuelle Beziehung zu ihrem Mann eigentlich sehr befriedigend war. Die Gedanken störten das sexuelle Zusammensein, sie war allgemein sehr verunsichert. Das schon bekannte Vorgehen mit der In-vivo-Konfrontation und -Habituation brachte dieses Mal keine dauerhafte Entlastung. Bei der Anwendung der Technik der kreativen Projektion eines Selbstanteils erfand die Patientin drei fiktive Personen, denen sie ihre Gedanken und Gefühle zuschrieb: 1. eine »Frau im tristen Alltag, die durch Masturbation ein völlig erfülltes, nie mehr ödes Leben führt«, 2. eine sterbende Frau, die durch Masturbation für kurze Zeit ihren Tumor besiegt und 3. eine Prostituierte, die es aufregend und spannend findet, an der Straße zu stehen und Freier zu haben. Wenige Wochen nach dieser Arbeit entschied sich die Patientin, die Pille abzusetzen und ein zweites Kind zu haben. Die Zwangsgedanken waren verschwunden, und die Patientin wirkte wieder lebendig und war voller Energie. Bei der Verschiebung der Zwangsgedanken durch kreative Projektion eines Selbstanteils auf eine andere Person in eine andere Zeit an einen anderen Ort schreibt die Patientin ihre eigenen sexuellen oder aggressiven Impulse aktiv dem Lebenszusammenhang einer anderen Person zu und legt mit dem Therapeuten zusammen die Bedingungen für das Leben dieser anderen Person fest. Durch die Verschiebung der ichfremden eigenen Impulse auf eine andere Person entlastet die Patientin ihr Gewissen gegenüber ihren strengen Über-Ich-Verboten, arbeitet die Impulse verschoben auf die andere Person in der Fantasie aber trotzdem weiter aus und kreiert für sie in den Geschichten einen sinngebenden Rahmen. Die Differenz zu ihren eigenen Lebensumständen lässt die Patientin festlegen, in welchen anderen Lebenszusammenhängen sie diese abgewehrten Impulse durchaus als stimmig erleben würde. Andererseits wird ihr dadurch ihre eigene Sehnsucht nach einer triebfreundlicheren Haltung ichnah bewusst.

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Bei dieser Arbeit sollte der Therapeut mit der Patientin nicht tiefenpsychologisch aufdeckend in die Genese gehen, sondern immer weiter ichstärkend auf der Symbolebene arbeiten. Er kann die Patientin zum Beispiel auffordern, die fiktive andere Person als Handpuppe oder Fingerpuppe zu symbolisieren und diese als inneren Doppelgänger in ihrem Alltag bei sich zu tragen, um sich von diesem beraten zu lassen. Auf diese Weise muss die Patientin das ichferne Denken, Fühlen und Wollen ihrer Zwangsgedanken, weil diese auf die andere fiktive Person delegiert sind, nicht als ihre eigenen Gedanken ansehen. Sie kann die Ratschläge der anderen Person »blöd« finden und sie ablehnen. Trotzdem wird die Existenz des fiktiven Doppelgängers die Fantasien der Patientin aus ihren Fixierungen befreien und die Aktualisierungstendenz ihres Selbst fördern. Der Gegensatz zwischen der Patientin und dieser anderen Figur soll also durchaus erhalten bleiben. Die Patientin soll mit diesen Gedanken aber immer wieder neugierig Kontakt aufnehmen. Das hilft ihr, sich allmählich mit ihren verleugneten eigenen Impulsen anzufreunden.

7.4  Selbststabilisierung und Ich-Stärkung durch Rollenspiele Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen dienen nicht selten der Selbststabilisierung bei einer schweren psychischen Störung (Mentzos, 2011, S. 103). Straub (1972, S. 181) betonte deshalb ebenso wie Mentzos (2011, S. 105), dass es bei Patientinnen und Patienten mit Zwangsstörungen wichtig ist, ichstärkend vorzugehen, weil das »Bewusstmachen von verdrängten Konflikten und von deren Ursachen bei Zwangsneurotikern Symptomverstärkung bzw. Symptomverschiebung bewirken kann«. Sie verstand die Zwangshandlungen ihrer Patienten entsprechend dem Motto »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst« als unbewusste Rollenspiele. Tatsächlich sind die Rituale in den Zwangshandlungen ja inhaltlich immer dieselben, ähnlich wie sich wiederholende Albträume, die nicht verstanden werden. Wenn die Therapeutin aber, wie Straub (1972) es praktizierte, mit psychodramatischen Rollenspielen und Stegreifspielen ichstärkend arbeitet, gelingt es, das Denken der Patienten aus seinen eingeengten Bahnen zu lösen, die nicht verarbeiteten Affekte in den Rahmen von zu ihnen passenden Konfliktbildern zu integrieren und so die Patienten aus der ständigen Wiederholung ihrer Zwangshandlungen zu befreien. Straub (1972, S. 182) nutze ihre Erfahrungen in der Kindertherapie und ließ auch ihre erwachsenen Patienten in Rollenspielen oder in Handpuppen-Spielen ihr gesundes inneres Kind nachentwickeln. Das gelang ihr durch einen wunderbar kreativen Einfall: Sie forderte ihre Patienten auf, sie sollten sich vorstellen,

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Zwangsstörungen

sie seien beim Fernsehen angestellt, um Kindersendungen zu gestalten. Alle in diesen »Sendungen« vorkommenden Rollen sollten sie selbst spielen mit der Therapeutin als Partnerin. Den Patienten wurde aufgetragen, »sich möglichst selbst auszudenken, welche Szenen in den ›Fernsehsendungen‹ gespielt werden sollten; und diese Szenen sollten sie dann nicht vom moralisierenden Standpunkt der Erwachsenen aus gestalten, sondern gewissermaßen Kinder für Kinder spielen lassen«. Zentraler Gedanke Wenn Patienten mit Zwangsstörungen beim Handpuppenspiel oder in Rollenspielen nach der Empfehlung von Straub Geschichten für das Kinderfernsehen kreieren, erfinden sie unausgesprochen Geschichten, in denen das Gute über das Böse siegt. Die Therapeutin weist den Patienten bei Bedarf darauf hin: »Sonst würden die Kinder diese Sendungen nicht gern ansehen«. Wie in einem Märchen soll der Patient in der von ihm erfundenen Geschichte am Anfang einen Konflikt beschreiben, dieser wird in der Geschichte ausgetragen und muss am Ende gut ausgehen. Es soll das eintreten, was das Kind bzw. das innere Kind des Patienten braucht und wünscht. Dann wird die Geschichte psychodramatisch gespielt. Die Konfliktpartner in den Rollenspielen sollen das Kind bzw. den Protagonisten sehen und lernen, es ernst zu nehmen. Solche Rollenspiele für das Kinderfernsehen stärken ähnlich wie die Arbeit mit dem Bewältigungsmärchen und mit positiven Gegenbildern in der Traumatherapie das innere natürliche Selbstheilungssystem der Patienten (siehe Kap. 5.14).

Straub behandelte ihre zwangskranken Patienten im Allgemeinen in Einzeltherapie, »weil dann der Patient in jeder Sitzung intensiver aktiviert werden kann als in der Gruppe« (Straub, 1972, S. 182). Fallbeispiel 52 (Straub, 1972, S. 182  ff.): Eine Patientin mit einer schweren Zwangsneurose »erfand […] für sich die Rolle vom ›kleinen Gernegroß‹, einem etwa siebenjährigen Buben, der sich selbstsicher an alle möglichen Unternehmungen heranwagt«. Zuerst machte die Therapeutin Vorschläge für Szenen, »deren Gestaltung sie für die Patientin für wichtig erachtete«. »In einer solchen Szene bewegte zum Beispiel der kleine Gernegroß seinen Lehrer dazu, wegen des guten Wetters keine Hausaufgaben zu geben.« In einer anderen setzte er sich »zugunsten seines Freundes energisch mit dessen Mutter auseinander«, die überängstlich war und diesen nicht auf dem Spielplatz spielen lassen wollte. Bald erfand die Patientin »ähnliche Szeneninhalte selbst und übernahm […] einen Teil der dazugehörigen Rollen«. Sie spielte die Kinderrollen zunehmend unbekümmert und war auch in den Erwachsenrollen spontaner und

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engte die »Kinder« weniger durch Bedenken ein. Parallel dazu fühlte sie sich auch in ihrem Alltag »selbstsicherer und unbekümmerter«, »verhörte ihre eigenen Kindern kaum noch beim Heimkommen« und veranlasste sie »auch nicht mehr ständig […] zum Umkleiden«. Nach etwa einem Jahr Einzeltherapie wollte die Patientin eines Tages »eine ganz andere Szene« spielen als sonst: »Sie wolle spielen, wie ein Kind von einem Mann entführt werde. […] Sie würde die Rolle des Mannes spielen und das Kind werde sie sich ›einfach‹ dazudenken.« Die Therapeutin sollte nicht mitspielen. So geschah es. Die Patientin »sprach in der Rolle des Entführers ein Kind an, […] lockte das Kind mit den Worten an sich: ›Komm, komm, ich zeige dir etwas Schönes‹, und zog es an der Hand mit sich fort. ›Komm nur mit, komm nur mit. […] Jetzt sind wir im Wald. […] Bald zeige ich’s dir. Da schau, da ist eine Höhle, da gehen wir rein.‹ Die Patientin stieß das ›Kind‹ vor sich her und fuhr in drohendem Ton fort: ›So jetzt habe ich dich!‹ Sie kniete sich auf den Boden, beugte sich über das ›Kind‹, drückte mit den Händen auf ihm herum, beugte sich tiefer herunter und stöhnte: ›Ah, jetzt habe ich dich, so, ah, so!‹« Nach dem Spiel war die Patientin blass und erregt und meinte unsicher: »So was muss man doch in Kindersendungen auch mal zeigen.« Die Therapeutin antwortete: »Darum haben Sie es ja wohl auch getan.« Eine Woche später meinte die Patientin spontan, »es sei doch merkwürdig, was man für Einfälle habe. […] Es beschäftige sie sehr, wie sie darauf gekommen sei.« Die Therapeutin antwortete der von Schuldgefühlen geplagten Frau, »dass es jedem Menschen mitunter so gehe, dass ihm Vorstellungen kämen, die ihn beunruhigten […], ohne dass wir ihren Ursprung noch klar erkennen könnten«. Auf ihre Frage hin musste die Therapeutin »der Patientin dann noch ausdrücklich bestätigen, dass auch ihr gelegentlich ›unmögliches Zeug‹ einfalle«. Das »schien die Patientin zu erleichtern«. Sie wechselte das Thema und erfand neuerlich eine Fernsehsendung: Diesmal war sie ein neunjähriger Junge, der, weil die Eltern nicht mitkommen wollen, allein eine Flugreise zu den Verwandten ins Ausland macht. Er erlebt auf seiner Reise viel Interessantes und wird von allen ob seiner Selbstständigkeit sehr bewundert. In ihrem Alltag wurde ihr Verhalten »nun auch in Bezug auf ihre Kinder ›immer normaler‹. Sie könne sie jetzt […] ohne […] innere Unruhe auch außerhalb des eigenen Hauses und Gartens spielen lassen«. »Im weiteren Gespräch kritisierte die Patientin erstmals ihre Mutter, die sie bis dahin immer nur als liebe- und verständnisvoll geschildert hatte.« Die Mutter habe sie manchmal im Stich gelassen, »wenn sie zum Beispiel in der Schule von einem Lehrer ungerecht behandelt worden« war, und »habe nur geäußert, Lehrer hätten immer recht«. Sie selbst wolle ihre eigene Unterwerfung und innere Unsicherheit nicht an ihre Kinder weitergeben und sei deshalb froh, dass sie ihre Kinder nicht mehr einenge. Auch fünf Jahre nach Behandlungsabschluss war die Patientin noch »in einem guten psychischen Zustand frei von anankastischen Symptomen« gewesen (Straub, 1972, S. 185).

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Straub (1972, S. 184 f.) vermutet, dass das »ichstärkende Rollenspiel die Verdrängungstendenz bei der Patientin reduziert hatte und dass auf diese Weise der Weg zu einer eruptiven Entladung vormals verdrängter Affekte (in der Rolle des Kindesentführers) freigeworden war«. Straub vermutete, »dass die Patientin u. a. auch aufgrund unbewusster Ablehnung ihrer Kinder die Kindesentführungsszene erfand und sich dazu gedrängt fühlte, die massiv aggressive Entführerrolle zu spielen.« Einleuchtender wäre es meiner Ansicht nach, in diesem Fall die Handlungen des Entführers einer inneren Objektrepräsentanz zuzuschreiben und als Therapeutin als Zeuge der Wahrheit (siehe Kap. 5.5) die Patientin direkt zu fragen, ob sie als Kind ein ähnliches traumatisierendes Ereignis erlebt habe. Gegebenenfalls hätte die Therapeutin dann traumatherapeutisch weiterarbeiten können. Für eine Traumafolgestörung der Patientin spricht, dass sie sich bei der Therapeutin beschwerte, dass ihre Mutter sie manchmal im Stich gelassen hätte und dass »es ein furchtbarer Schock für sie gewesen sei, als sie als 14-Jährige bei Kriegsende erfahren habe, dass vielerorts Frauen und Mädchen vergewaltigt worden seien. Sie hätte in diesem Zusammenhang auch gehört, dass ein Teil der Vergewaltigten geschlechtskrank geworden seien.« Das hätte sie damals veranlasst, »für sich selbst überall Ansteckungsgefahr zu befürchten« (Straub, 1972, S. 181). Das Fallbeispiel von Straub stammt allerdings aus dem Jahr 1972, also aus einer Zeit, in der die Erkenntnisse der heutigen Traumatherapie noch nicht vorlagen. Bemerkenswert ist, dass Straubs Vorgehen trotzdem zur Symptomfreiheit der Patientin geführt hat. Offenbar hat es der Patientin ähnlich wie der Patientin im Fallbeispiel 35 schon ausreichend geholfen, ihre Ängste zu konkretisieren, ihnen einen stimmigen Rahmen in einer Geschichte zu geben und von der Therapeutin die Berechtigung zu erhalten, solche destruktiven Fantasien zu denken.

8 Depressionen

8.1  Was ist eine Depression? Mit »Depression« bezeichnen wir »die epidemiologisch betrachtet bei Weitem größte Gruppe psychischer Störungen« (Mentzos, 2011, S. 125). Die ­ICD-10 unterteilt diese in depressive Phasen bei einer bipolaren affektiven Störung ­(F31,-), einmalig auftretende depressive Episoden (F32.-), rezidivierend auftretende depressive Episoden (F33.-) und die anhaltende Dysthymia bei einer neurotischen Depression oder einer depressiven Persönlichkeitsstörung (F34.1). Die depressiven Episoden können leichten oder mittleren Grades sein oder auch Episoden schweren Grades ohne psychotische Symptome oder mit psychotischen Symptomen, also mit Halluzinationen, Wahnideen, psychomotorischer Hemmung oder Stupor. Eine anhaltende Dysthymia ist gekennzeichnet durch eine wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung. Die Vielfalt der in diesen Symptomkomplexen enthaltenen klinischen psychopathologischen Bilder ist nach Mentzos (2011, S. 125) »so groß, dass es sinnvoller wäre, nicht von der Depression, sondern von der Gruppe der Depressionen zu sprechen. […] Tatsächlich ist die gedrückte Stimmungslage, der depressive Affekt der gemeinsame Nenner aller Variationen der Depression«. Andere Symptome können sein: die psychomotorische Hemmung, die Antriebslosigkeit, ausgeprägte Müdigkeit nach jeder kleinsten Anstrengung, Schlafstörungen, die Minderung des Appetits und der Konzentrationsfähigkeit, die Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, die Anhedonie, das ist die Unfähigkeit, Lust zu empfinden, die Herabsetzung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens, Schuldgefühle bis zum Versündigungswahn, der Kleinheits- und Verarmungswahn, Früherwachen, Morgentief, hilflose Anklammerungstendenzen, Selbstdestruktivität und Suizidalität (Mentzos, 2011, S. 125 und ICD-10).

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Depressionen

Zentraler Gedanke Das psychodramatische Menschenbild des kreativen Menschen legt nahe, depressive Zustände ganz wie Mentzos (2011, S. 126) als aktive Reaktionen zu verstehen und als Indikator »aktiver – wenn auch pathologischer Verarbeitung von Konflikten, Traumata und anderer Belastungen«. Der depressive Affekt signalisiert die hoffnungslose Verstrickung in unlösbar scheinende Konflikte und einen drohenden Stillstand der fortlaufenden halb bewussten, halb unbewussten Konfliktverarbeitung (Mentzos, 2011, S. 126). Den Betroffenen fehlt in dem immerwährenden Konflikt zwischen Aktualisierung ihres Selbst und Anpassung (siehe Kap. 3.2) die Fähigkeit oder die Möglichkeit zur angemessenen Aktualisierung ihres Selbst. Bei Patienten mit einer schweren Depression ist darüber hinaus die Fähigkeit zur ausreichenden Anpassung verloren gegangen. Wichtige Definition Rogers (2009, S. 26 f.) bezeichnet als Aktualisierungstendenz »die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen. Diese Tendenz beinhaltet nicht nur […] die Grundbedürfnisse […], sondern darüber hinausgehend auch […] die Tendenz des Organismus zur Differenzierung seiner Selbst und seiner Funktionen, dies beinhaltet Erweiterung im Sinne von Wachstum.« Die Aktualisierungstendenz bezieht die aktuellen Erfahrungen im Augenblick angemessen mit ein. Die tatsächliche aktuelle, organismische Erfahrung kann aber im Widerspruch stehen zu dem »Willen« des Individuums, wenn es sein »Selbst« aktualisiert, also der in sich geschlossene Gestalt dessen, wie eine Person sich selbst versteht (Rogers, 2009, S. 31). Dann befindet sich das Individuum in einem Zustand der Inkongruenz von Selbst und Erfahrung, und das individuelle Verhalten wird »hinsichtlich einiger Aspekte […] durch die Aktualisierungstendenz, bezüglich anderer Aspekte jedoch durch die Selbstaktualisierungstendenz geregelt« Rogers (2009, S. 35).

Das Konzept der Aktualisierungstendenz des Selbst ähnelt dem Verständnis des Menschen bei Moreno als Kreator, der im psychodramatischen Spiel den Aspekt des Schöpfers zu seinem Leben gewinnt (Moreno, 1970, S. 78). Der ständige Konflikt zwischen Aktualisierungstendenz des Selbst und Anpassung hält den Menschen lebendig. Bei bewusster Anpassung hat der Betroffene innerlich noch ausreichend Zugang zu seinem Selbstempfinden, behält Distanz zum Anpassungszwang und steht diesem in einer Ja-aber-Haltung gegenüber. Bei unbewusster Anpassung merkt der Betroffene hingegen gar nicht, dass er sich anpasst. Er identifiziert sich nach Parin (1977) automatisch 1. mit der

Die verschiedenen Formen der Depression

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von dem Beziehungssystem oder der Institution ihm zugewiesenen Rolle, 2. mit den Planungen des Beziehungssystems, 3. mit den Erklärungen der Institution oder des Systems und 4. mit den Zielen des Systems. Der Betroffene blendet dabei, ohne es zu merken, den Konflikt zwischen der ihm angetragenen Rolle und seinem Selbst aus. Die Aktualisierung des Selbst kann einerseits eingeschränkt sein durch einen gegenwärtigen realen Anpassungszwang oder durch eine in der Kindheit entstandene, in der Gegenwart unangemessene, neurotische Anpassungshaltung. Zentraler Gedanke Der Mensch nimmt ebenso Schaden, wenn er sich zu wenig anpasst, wie wenn er sich zu stark anpasst. Eine zu starke Einschränkung der Aktualisierung des Selbst macht depressiv, der Patient kommt dann gleichsam in seinem eigenen Leben nicht mehr vor.

Andererseits können Menschen mit strukturellen Störungen durch Zusammenbruch eines alten intrapsychischen Gleichgewichts gänzlich unfähig werden, sich anzupassen und Rollenerwartungen zu erfüllen. Es kommt zur Depression, weil »nichts mehr geht«. Das Ziel der psychotherapeutischen Arbeit bei jeder Art einer depressiven Erkrankung ist deshalb, die Patientinnen und Patienten in ihren Konflikten ein angemesseneres Gleichgewicht zwischen der Aktualisierung ihres Selbst und ihrer Anpassung entwickeln zu lassen.

8.2  Die verschiedenen Formen der Depression Um Menschen mit Depressionen angemessen zu behandeln, ist es wichtig, diagnostisch den jeweiligen Konfliktraum (siehe Abb. 20) zu erfassen, der die Depression hervorruft. Denn die Therapeutin variiert ihr Vorgehen störungsspezifisch abhängig von der Art des jeweiligen Konfliktraums. Bei dem Verdacht einer Depression tritt die Therapeutin zur Diagnostik innerlich doppelnd (Krüger, 2013b, S. 220) mit in das Leidensgefühl und den depressiven Affekt des Patienten ein, sucht gleichsam Schulter an Schulter mit ihm zusammen nach dem Konfliktraum, der aktuell die psychischen Prozesse des Patienten lähmt und seine Depression auslöst (siehe Kap. 3.3 und Abb. 20), und orientiert sich in diesem Konfliktraum.

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Depressionen

psychosenahe Depression

Kapitel 8.6

Depression bei Persönlichkeitsstörung

Kapitel 4

Depression bei Traumafolgestörung

Kapitel 5

Depression bei struktureller Störung Depression bei deviantem Verhalten neurotische Depression Depression bei Suchterkrankung Depression bei Aktualkonflikt

Kapitel 8.5 Kapitel 11 Kapitel 8.4 Kapitel 10 Kapitel 8.3

depressiver Affekt

Abbildung 19: Ausschlussverfahren bei der Diagnostik von Depressionen

Die Therapeutin geht intuitiv nach dem Ausschlussverfahren vor (siehe Abb. 19): Sie versucht zuerst, das Leidensgefühl des Patienten in Beziehung zu setzen zu gegenwärtigen Konflikten, also zu Aktualkonflikten (siehe Kap. 8.3). Wenn sich die Depression nicht allein aus einem Gegenwartskonflikt heraus erklären lässt, fragt die Therapeutin den Patienten nach dem Alter seines Symptoms: »Wie lange sehen Sie sich selbst schon als minderwertig an? Wann war das zum ersten Mal?« Die Therapeutin sucht auf diese Weise zusätzlich nach eventuell vorhandenen alten neurotischen Konfliktfeldern, die die gegenwärtigen Konflikte mitbedingen (siehe Kap 8.4). Zentraler Gedanke Wenn die Therapeutin mit dem Patienten bei der Suche nach auslösenden Konflikten scheitert oder die entwickelten Hypothesen immer wieder schnell in sich zusammenbrechen und sie sich trotz ihren Bemühens weiter orientierungslos fühlt, liegt das oft nicht daran, dass sie keine gute Therapeutin wäre. Ein solches Scheitern kann vielmehr ein wichtiger diagnostischer Hinweis dafür sein, dass bei dem Patienten ein Identitätskonflikt bei einer strukturellen Störung vorliegt (siehe Kap. 8.5).

Bei einer strukturellen Störung ist der Patient aufgrund von Defiziten seines Mentalisierens (siehe Kap. 4.4) unfähig, seinen für die Depression ursächlichen Konflikt zu erkennen, er kann diesen deshalb der Therapeutin auch gar nicht

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Die verschiedenen Formen der Depression

mitteilen, und die Therapeutin kann diesen trotz guter Empathie deshalb auch nicht erfassen.Mit dem Begriff »Mentalisieren« benenne ich die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der wir uns selbst und andere verstehen, mit der wir etwas der Realität angemessen planen und durchführen und mit der wir Konflikte verarbeiten und lösen (siehe Kap. 2.2). Bei besonders schweren Formen von psychosenahen Depressionen (siehe Kap. 8.6), wie sie zum Beispiel bei Traumafolgestörungen auftreten, sind das Mentalisieren und die psychische Selbstorganisation des Patienten zusammengebrochen. Sein Ich ist nur noch in der Steuerung seiner Depression zu finden. Eine therapeutische Arbeit an Beziehungskonflikten wäre vergeblich, weil das Ich des Patienten diese im inneren Mentalisieren gar nicht repräsentieren kann.

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Abbildung 20: Die drei verschiedenen Konflikträume bei depressiven Erkrankungen

Das Vorgehen bei Aktualkonflikten (siehe Kap. 8.3) unterscheidet sich von dem bei Depressionen infolge neurotischer Konflikte (siehe Kap. 8.4). Dieses ist wiederum anders als das Vorgehen bei Depressionen infolge von Identitätskonflikten bei strukturellen Störungen (siehe Kap. 8.5) oder bei psychosenahen Depressionen (siehe Kap. 8.6). Für den Prozess der Diagnostik kann die Therapeutin die psychodramatische Tischbühne (siehe Kap. 5.10.10) oder die psychodramatische Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7) anwenden. Bei der Arbeit mit der Tischbühne nutzt die Therapeutin in dem Abstimmungs- und Einigungsprozess mit dem Patienten neben der verbalen Sprache die Sprache von Bildern und Symbolen und verschafft sich einen Überblick über das System seiner Konflikte. Sie baut während des Gesprächs zusammen mit dem Patienten auf dem Tisch das symbolische Bild seiner »Seelenlandschaft« auf (Krüger, 2005, S. 266 ff.). Dazu reprä-

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Depressionen

sentieren sie auf dem Tisch mit Steinen und Holzklötzen 1. das Ich des Patienten, 2. seine Gefühle, 3. die an seinen Konflikten beteiligten anderen Personen, 4. die Institutionen, 5. wichtige Gegenstände wie zum Beispiel das Bett und 6. seine Ideale und Werte. 7. In einem zweiten Schritt markiert sie die zeitliche Entwicklung des Konfliktes als Zeitlinie mit einem Stein für den Anfang des Konfliktes, einem für die gegenwärtige Situation und einem für die zukünftige Entwicklung und bewegt einzelne Symbole der Seelenlandschaft, zum Beispiel den IchStein, während der Schilderung des Konfliktgeschehens entlang dieser Zeitlinie. Sie benennt empathisch die Affekte des Patienten, differenziert diese mit ihm zusammen verbal und repräsentiert sie auf dem Tisch mit Steinen. Dabei blicken die Therapeutin und der Patient zusammen aus der Metaperspektive Schulter an Schulter auf die auf dem Tisch repräsentierte symbolische Seelenlandschaft des Patienten. Die gemeinsame Arbeit mit der Tischbühne aktiviert die innere Konfliktwahrnehmung und Konfliktverarbeitung des Patienten. Mit der Hand auf das symbolische Bild deutend kann die Therapeutin den Patienten fragen: »Und wenn Sie das mit sich machen lassen, warum ist das für Sie die beste Lösung? Haben Sie vor etwas Angst?« Oder: »Machen Sie das immer so?« Bei Identitätskonflikten und mit der Persönlichkeitsstruktur des Patienten verbundenen Konflikten hilft die Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7 und 4.8), die verschiedenen an ihrer dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation im Konflikt beteiligten Ich-Zustände und so die spezielle Art und Weise ihrer Konfliktverarbeitung zu erfassen. Fallbeispiel 53: Die 42-jährige Frau A. berichtet im Erstgespräch: »Ich habe schon länger Probleme, mehr als zehn Jahre. Mein Problem ist, dass ich mich immer entschuldigen muss dafür, dass ich Platz einnehme, dass ich da bin!« Therapeut: »Sie gehen mit sich also überkritisch um? Ich stelle hier Ihnen gegenüber einmal einen Stuhl hin für diesen Ihren inneren Zensor.« Frau A.: »Ja, ich muss alles hundertprozentig machen, alles ist nicht gut genug!« Therapeut: »Wie alt ist dieser Ihr innerer Zensor eigentlich?« Frau A.: »Der ist schon immer da, schon seit der Schulzeit.« Die Patientin arbeitet nach einer langen Kinderpause jetzt Teilzeit in einem Altenheim. Therapeut: »Aber dort lassen Sie sich nichts anmerken? Ich stelle für Ihr Tun als ob, für Ihr Selbstschutzdenken, hier noch einen anderen Stuhl neben Sie.« Frau A.: »Stimmt. Einmal, als ich etwas fragen musste, da sagte die Stationsschwester schon: ›Du brauchst dich nicht so anschleichen, sag doch einfach offen, was du willst!‹ Da ist mir das klar geworden. Ich habe schon vor zehn Jahren mit Depressionen zu tun gehabt, ich habe das aber erst im Nachherein erkannt.« Der Therapeut bestätigt das damals neu entstandene Problembewusstsein der Patientin positiv: »Da haben Sie sich dann mit anderen Augen gesehen und das erkannt.« Frau A.: »Vor zehn Jahren

Die Therapie von Depressionen bei Aktualkonflikten

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sind wir umgezogen aus einer schönen kleinen Wohnung in der Stadt in ein eigenes Haus am Stadtrand. Das war aber nur ein Rohbau, wir saßen noch zu Weihnachten auf nicht ausgepackten Kartons. Ich habe da von der ersten Nacht an nicht schlafen können und wachte morgens um vier auf wie elektrisiert. Da gingen mir dann destruktive Zwangsgedanken im Kopf herum. Ein Jahr lang war ich depressiv, saß meistens zu Hause und habe nur geweint!« Der Therapeut deutet auf den Stuhl für das Selbstschutzdenken: »Heimlich!« Frau A.: »Ja, das kann ich sehr gut!« Therapeut: »Was sind denn diese zerstörerischen Zwangsgedanken gewesen?« Frau A.: »Ach, ich dachte: ›Wärst du nur nicht hier eingezogen! Wenn ich bloß krank werden dürfte.‹ Oder: ›Wenn mein Mann krank wird und stirbt, dann würde ich hier ausziehen!‹« Therapeut: »Oh, da gab es in Ihnen dann auch Wut auf Ihren Mann, das wütende Kind in Ihnen hat sich gemeldet! Ich stelle auch dafür noch einen zusätzlichen Stuhl hin. Aber solche Gedanken vertragen sich natürlich nicht mit Ihrem strengen Gewissen! Gibt es eigentlich in Ihrer Vorgeschichte Menschen, die früher so streng mit Ihnen umgegangen sind, wie Sie das jetzt mit sich selbst machen?« Frau A.: »Ja, meine Eltern, die waren Lehrer. Mein Vater war oft schlecht gelaunt und cholerisch, er verlangte immer, dass man in allem die Beste in der Klasse war. Ich habe ihm alles nicht gut genug gemacht. Zum Beispiel durfte ich den Rasen nicht mähen, weil ich dabei die Kanten nicht gerade genug geschnitten habe. Auch meine Mutter war ungeduldig, die nahm mir immer gleich alles ab. Wenn man helfen wollte, durfte man das nicht. Wir hatten zur Betreuung immer Praktikantinnen im Alter von 16 Jahren, die jedes Jahr wechselten.«

8.3  Die Therapie von Depressionen bei Aktualkonflikten Aktualkonflikte sind zu finden bei Patientinnen und Patienten, bei denen die Aktualisierung ihres Selbst eingeschränkt ist durch eine in der Gegenwart real vorhandene akute Belastung oder einen aktuellen Anpassungszwang (ICD-10 F32.-, F43.0, F43.2). Das trifft zu bei zum Beispiel einem Burn-out, einer schweren Erschöpfung, bei schweren körperlichen Erkrankungen und Schmerzsyndromen, bei schweren Beziehungskonflikten oder Ablösungskonflikten, bei einer Trauerreaktion nach dem Tod oder Verlust einer nahen Bezugsperson oder bei einem Verlust des Arbeitsplatzes. Depressive Patienten mit Aktualkonflikten können ihre aktuellen Konflikte nicht oder nicht ausreichend bewältigen. Therapeutisch ist es deshalb wichtig, mit ihnen die realen Bedingungen in ihrem Konflikt und das reale Ausmaß des aktuellen Anpassungsdrucks differenziert herauszuarbeiten, von ihnen schon selbst gefundene Bewältigungsmöglichkeiten zu erfassen, diese angemessen zu würdigen und ihre gesund erwachsenen Konfliktlösungskompetenzen zu aktivieren.

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Depressionen

Fallbeispiel 54: Ein 54-jähriger Mann, Herr B., mit einer chronischen reaktiven Depression (ICD F32.2) befindet sich wegen einer chronischen Lungenerkrankung in einem Sanatorium. Bei der Diagnostik mithilfe der Tischbühne wird deutlich: Seine Frau ist vor neun Jahren gestorben. Er hat vor sechs Jahren durch die Lungenerkrankung seine Arbeit als Lastwagenfahrer verloren. Seine Kinder leben in einer anderen Stadt. Herr B. fristet sein Dasein in ärmlichen Verhältnissen als Frührentner. Bei dem eigentlich ichstarken Mann scheint durch den Anpassungszwang an die schwere Lungenerkrankung und schnell auftretende Luftnot jede Umstellung hin zu einer besseren Aktualisierung seines Selbst blockiert zu sein. Die Therapeutin legt neben seinen zwei Zentimeter großen Ich-Stein einen vier Zentimeter großen Stein für seine »Lungenerkrankung«. Sie lässt sich zunächst empathisch in die Hoffnungslosigkeit des Patienten mit hineinziehen. Dann wehrt sie sich innerlich gegen die Lähmung, greift entschlossen nach einem Papierkorb und stellt diesen statt des kleinen Steins für die »Lungenerkrankung« auf den Tisch, um das Drama seiner aktuellen krisenhaften psychischen Selbstorganisation zu kennzeichnen: »Das ist Ihre Lungenerkrankung. Sie haben keine Wahl, Sie müssen sich Ihrer Lungenerkrankung fügen. – Scheiße! Scheiße! Scheiße! – Ist der Papierkorb dafür groß genug? Wie machen Sie das eigentlich, dass Sie mit dieser schweren Erkrankung doch noch zurechtkommen? Welche Lösungsmöglichkeiten haben Sie da entwickelt?« In dem weiteren Gespräch benennt die Therapeutin zusammen mit dem Patienten die vielen kleinen Lösungen, die dieser bisher schon selbst gefunden hat, um in seinem Leben zurechtzukommen, und würdigt sie. Durch die Symbolisierung der Lungenkrankheit mit dem Papierkorb hat die Therapeutin die existenzielle Qualität der Erkrankung verdeutlicht. Durch die Arbeit mit der Tischbühne liegt am Ende alles, was für den Patienten in seiner aktuellen psychischen Selbstorganisation von Bedeutung ist, repräsentiert durch Steine nebeneinander real sichtbar auf dem Tisch und wird von dem im Denken eingeengten Patienten dadurch in seiner Fülle und Vielfältigkeit wahrgenommen, seine Konfliktfelder und seine Ressourcen werden nebeneinander sichtbar. Das aktiviert und stärkt das Ich des Patienten mehr, als es bei rein verbaler Arbeit möglich wäre.

Patientinnen und Patienten, deren Depressionen allein durch Aktualkonflikte bedingt sind, haben definitionsgemäß eine gute Fähigkeit zum Mentalisieren. Die Ursachen des Konflikts sind leicht zu erfassen. Die Patienten sind spielfähig und rollentauschfähig. Die Therapeutin arbeitet mit dem Patienten zunächst die zeitliche Entwicklung des Konflikts heraus, in der Einzeltherapie wie in dem Fallbeispiel 54 mithilfe der Tischbühne, in der Gruppentherapie durch ein protagonistzentriertes Spiel des Konflikts. Sie nutzt dazu sowohl in der Gruppentherapie wie auch im Einzelsetting den psychodramatischen Dialog und den Rollentausch. Dabei doppelt oder interviewt die Therapeutin den Patien-

Die Therapie von Depressionen bei Aktualkonflikten

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ten während der Spielphase bei Bedarf in jeder der beiden komplementär interagierenden Rollen und hilft ihm so, eine eventuell vorhandene Abwehr durch Introjektion oder Projektion aufzulösen (siehe Kap. 8.4.1). Während des Spiels kann der Patient durch ein Selbstgespräch das innere Mentalisieren seines Konflikts verbessern. Die Aktualisierung seines Selbst wird in der Nachbesprechung zusätzlich durch Sharings oder amplifikatorische Deutungen gestärkt. Amplifikationen sind Interaktionen und Narrationen aus Märchen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, deren Sinn dem Konflikt des Patienten gleicht. Der Patient erkennt sich in dem Helden oder der Heldin der Geschichte wieder. Das hilft ihm, in seinem Konflikt innerlich die Perspektive zu wechseln, sich mit seinem individuellen Konflikt nicht aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen und auf diese Weise seinen eigenen Gefühlen und Wünschen leichter Berechtigung zu geben. Bei Bedarf können die Therapeutin oder Gruppenmitglieder als Doppelgänger die Rolle des Patienten übernehmen, um nach dem Prinzip der probatorischen, systemisch gerechten Beziehungsverwirklichung den Protagonisten aus seinen inneren Blockaden zu befreien (siehe Kap. 8.4.3). Im Rollenfeedback verankert der Protagonist in seinem inneren Mentalisieren, was für ihn in seinem Spiel neu war oder was ihm deutlicher geworden ist als bisher. Dabei ist auch die Spiegelfunktion des Rollentausches (Krüger, 1997, S. 146) zu nutzen, mit der Differenzen zwischen seiner Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung herausgearbeitet werden können: »Wie haben Sie sich im Rollentausch in der Rolle Ihres Konfliktpartners selbst von außen gesehen und erlebt?« Einmal nahm sich eine Patientin durch die Augen ihrer Konfliktpartnerin im Spiel als »Trauerkloß« wahr. Der Therapeut bestätigte ihr, dass sie sich tatsächlich so verhalten hatte. Diese Wahrnehmung ihrer selbst führte bei ihr zu einer Umstellung ihres Verhaltens in allen ihren privaten Beziehungen. Ziehm-Kossatz (2013, S. 264 f.) schilderte, wie bei einem aktuellen Konflikt eine psychodramatische Einzeltherapie in nur zwei Sitzungen von 20 Minuten Dauer zu einem vollen Therapieerfolg führen kann. Fallbeispiel 55: »Ein 36-jähriger, leicht übergewichtiger orthopädischer Schuhmacher erscheint das erste Mal in meiner allgemeinmedizinischen Sprechstunde. Er sprudelt sofort los: ›Ich habe seit drei Monaten einen neuen Job in meiner Firma. Einem Vorgänger wurde gekündigt, weil er sich verzettelt und einige wichtige Aufträge liegen gelassen hatte. Ich mache jetzt die Arbeit von eineinhalb Leuten. […] Ich fühle mich überfordert. Ich schlafe schlecht. Ich kann nicht mehr.‹ Ich frage ihn, wie er glaubt, dass ich ihm helfen könne. Er: ›Ich hätte gern einen gelben Schein.‹ Mir scheint das nach dem Gehörten keine gute Lösung, und ich frage ihn, wie es wohl für ihn sein wird, wenn er aus der Krankschreibung zurück an den Arbeitsplatz käme. Der Patient:

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›Dann wäre wohl mein Stapel auf das Doppelte angewachsen, denn keiner kann meine Arbeit mitmachen. Eine gute Lösung wäre das nicht!‹ Ich bestätige ihn und stelle einen Stuhl neben den Patienten […] : ›Dieser Stuhl steht für einen Persönlichkeitsanteil in Ihnen, der eine Art Anwalt Ihrer persönlichen Interessen darstellt und Sie vor Überlastung und letzten Endes vor dem Krankwerden beschützt« (Die Therapeutin nutzte hier die Technik eines fiktiven Doppelgängers, der das gesunde Erwachsenendenken des Patienten unterstützt. Erg. vom Verf.). »Dieser Anteil hat auch dafür gesorgt, dass Sie sich einen Termin bei mir geholt haben. Sie sitzen jetzt selbst aber gerade auf dem Stuhl des gut funktionierenden Arbeitnehmers […]. Diesem Anteil kann ich leider nicht helfen, da ich selbst immer richtig krank werde, wenn ich mich überlaste.« (Die Therapeutin gibt selbst ein Sharing, Erg. vom Verf.) ›Aber Ihren persönlichen Anwalt könnte ich unterstützen! Wollen Sie bitte mal auf dem Anwaltsstuhl Platz nehmen und mir sagen, was Ihr Mandant wirklich braucht?‹ Der Patient geht auf den Anwaltsstuhl und berichtet: ›In diesem Jahr (es ist jetzt Anfang November) hatte ich erst fünf Tage Ferien. Eigentlich bräuchte ich dringend Urlaub!‹ Therapeutin […]: ›Könnten Sie Ihren Mandanten bei der Durchsetzung des gesetzlich garantierten Rechts auf Urlaub unterstützen?‹ Patient als Anwalt: ›Ich kann es versuchen.‹ Als Therapeutin stelle ich einen zusätzlichen Stuhl für den Chef auf. Dieser wird vom Patienten als jung, selbstbewusst und dynamisch beschrieben. Der Patient bringt in der Rolle des Anwaltes sein Anliegen vor: ›Ich möchte zwei Wochen Urlaub beantragen.‹ Der Patient wechselt auf meine Anweisung hin in die Rolle seines Chefs und […] antwortet […]: ›Es muss aber erst noch der neue Kollege eingearbeitet werden.‹ Es erfolgt wieder ein Rollentausch. Patient: ›Das müssen andere übernehmen, ich fühle mich ausgelaugt und fürchte, krank zu werden. Ich brauche dringend Erholung, damit ich meinen Job auch gut schaffen kann.‹ Im weiteren Spiel genehmigt ›der Chef‹ den Urlaub. Zwei Wochen später kommt der Patient wieder und hat […] einen Flug nach Gran Canaria gebucht. Er berichtet, dass es ihn sehr gestärkt habe, ›einen Anwalt an seiner Seite‹ zu haben. Er konnte dem Chef gut klar machen, dass er dringend Urlaub brauche. Wir arbeiten wieder zwanzig Minuten lang psychodramatisch und erkunden mithilfe der Tischbühne, von welchen Arbeiten er dringend entlastet werden möchte und was mit den Überstunden werden soll. Kurz vor Weihnachten habe ich den Patienten wieder gesehen. In seinem Urlaub seien die Arbeitsgebiete neu verteilt worden. Er sei jetzt nur noch im Außendienst und damit völlig zufrieden. […] Er könne seine Arbeit gut schaffen.« Die Therapeutin hat in dieser Therapie die Erschöpfungssymptome des Patienten als Ausdruck des Arbeitsplatzkonflikts verstanden, sie als Beziehungskonflikt zwischen dem Patienten und seinem Arbeitgeber definiert, diesen Konflikt fiktiv als psychodramatischen Dialog austragen lassen und dem Patienten mit der Figur des »persönlichen Anwalts« einen inneren fiktiven Doppelgänger an die Seite gestellt, der ihm half, die Aktualisierung seines Selbst in dem Konflikt mit dem Chef zu verbessern.

Die Therapie von Depressionen infolge neurotischer Konflikte

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8.4 Die Therapie von Depressionen infolge neurotischer Konflikte Patientinnen oder Patienten mit einer neurotischen Depression (ICD F34.-, oft auch F32.-, F33.-) haben schon in ihrer Kindheit durch äußere Anpassungszwänge gelernt, in Auseinandersetzungen mit Bezugspersonen durch unbewusste Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer die innere und äußere Aktualisierung ihres Selbst einzuengen. Wichtige Definition Anna Freud (1984, S. 88) verstand die von ihr so genannte Abwehr durch »Identifizierung mit dem Angreifer« als Kombination der Abwehr durch Introjektion und Projektion.

Wenn ein Patient abwehrt durch Identifizierung mit dem Angreifer, kann er in seinen Beziehungskonflikten Ursache und Wirkung nicht angemessen erfassen, verhält sich eher gefügig, pflegeleicht, hergabebereit und hilfreich und findet in Auseinandersetzungen mit seinen Konfliktpartnern rationalisierend innerlich viele Gründe, um deren dominantes oder destruktives Verhalten zu entschuldigen. Es gibt in seinen Beziehungen kein angemessenes Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen. Der Patient kann seine Beziehungskonflikte nicht angemessen austragen, sich seinen Konfliktpartnern gegenüber nicht angemessen behaupten, er fühlt sich hilflos, ausgeliefert und für den Konflikt verantwortlich. Er wehrt im Konflikt ab durch Introjektion (Ferenczi, 1970, S. 100), er entwertet sich selbst und rechtfertigt das Verhalten seines Konfliktpartners so, wie sein Konfliktpartner ihn entwertet und sein Verhalten rechtfertigt. Zusätzlich blendet der Patient aktiv das aggressive Verhalten seines Konfliktpartners aus seiner Wahrnehmung aus, projiziert seine eigene Ablehnung auf ihn und verdrängt seine eigenen Affekte. Bei Beziehungskonflikten blockiert das innere Mentalisieren des Patienten und hängt fest im Zustand des unbewussten »Austausches zwischen Angreifer und Angegriffenem«, so sagt Anna Freud (1984, S. 92) wörtlich, also im Zustand des inneren Rollentauschs. Zu einer Dekompensation in eine Depression kommt es dann, wenn bei dem Betroffenen das schon seit der Kindheit vorhandene Ungleichgewicht zwischen Aktualisierung des Selbst und Anpassung über das erträgliche Maß hinaus noch stärker aus der Balance gerät. Die Ursache dafür können sein: 1. Der Anpassungsdruck erhöht sich in einer Versagungssituation noch weiter. 2. Die Gratifikationen für eine unter Mühen vollzogene gewohnheitsmäßige Anpassung bleiben aus, zum Beispiel die Gratifikationen für eine gewohnheitsmäßige Gefügigkeit oder Helferhaltung. 3. Der

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Depressionen

Patient wird sich in einer Versuchungssituation seiner freudlosen Lebenssituation in neuer Weise bewusst, meint aber, daran durch äußere Zwänge nichts ändern zu können. Fallbeispiel 56 (Krüger, 2003, S. 95 ff., gekürzt): Die 49-jährige Frau C. hatte als Kind »nie etwas Verbotenes gemacht«. Sie lernte ihren Ehemann schon mit sechzehn Jahren kennen und fühlte sich zu ihm emotional hingezogen, weil er zuverlässig war. In der knapp dreißigjährigen Ehe entfernte sich das Paar aber zunehmend voneinander. Der Ehemann kaufte sich ein Motorrad, fuhr damit durch die USA, wollte zelten, Dinge, die die Patientin nicht mitmachen mochte oder zuletzt auch nicht mitmachen konnte aufgrund von Rückenbeschwerden. Frau C. hatte schon ein Jahr lang gemerkt, dass in der Beziehung etwas nicht stimmte, aber der Ehemann »wollte nicht reden«. Trotzdem war die Patientin völlig schockiert, als er sich plötzlich von ihr trennte und ihr mitteilte: »Ich will dieses Leben so nicht führen!« Sie brach psychisch und physisch zusammen, reagierte mit einer massiven, länger dauernden Depression und Suizidfantasien (ICD F32.2) und wurde nervenärztlich medikamentös behandelt. Frau C. hatte vor der Trennung ihrem Ehemann immer seine Freiheiten gelassen, um Streitigkeiten zu entgehen: »Er durfte alles, und ich durfte nichts!« Sie hatte sich ihm zunehmend gefügt und seine Entwertungen ihrer Person in ihr Selbstbild übernommen. Das hatte den Bruch in der Beziehung aber nicht verhindert. Eine Kur stabilisierte die Patientin ein wenig. In der anschließenden ambulanten Psychotherapie dekompensierte die etwas füllige, kluge Frau aber immer wieder sofort und weinte hilflos, wenn sie das Thema »Ehemann« ansprach (Fortsetzungen in Kap. 8.4.2, 8.4.3 und 8.4.4). Übung 15 Versuchen Sie als Leserin oder Leser einmal, auf die gleiche Weise wie die Patientin des Fallbeispiels depressiv zu werden: Denken Sie innerlich an einen Beziehungskonflikt, den Sie inzwischen schon gelöst haben. Spielen Sie fiktiv in einem psychodramatischen Dialog mit Rollentausch (siehe Kap. 2.2) eine Auseinandersetzung mit ihrem Konfliktgegner oder ihrer Konfliktgegnerin nach. Anders als in der Realität passen Sie sich dabei aber bitte an die Erwartungen Ihres Konfliktpartners an, indem Sie innerlich vermuten, dass Ihr Gegner »natürlich« real nicht anders handeln, fühlen und denken kann und dass er auch selbst unter seinem Handeln Ihnen gegenüber leidet. Machen Sie die Erklärungsmuster, mit denen er sein Handeln Ihnen gegenüber begründet, zu Ihren eigenen. Blenden Sie aus Ihrer Wahrnehmung die Verhaltensweisen Ihres Konfliktpartners aus, die bei Ihnen Aggressionen auslösen. Übernehmen Sie allein die Verantwortung für die Probleme in Ihrem Beziehungskonflikt und überlegen Sie, wie Sie die Störung in der Beziehung beseitigen können, »ohne Ihrem Beziehungspartner wehzutun«. Sie werden merken, Sie geraten in einen depressiven Affekt.

Die Therapie von Depressionen infolge neurotischer Konflikte

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8.4.1 Das Grundprinzip der psychodramatischen Therapie von Menschen mit neurotischer Depression Zentraler Gedanke In der störungsspezifischen Psychodramatherapie von Menschen mit einer neurotischen Depression ist der psychodramatische Dialog mit Rollentausch die zentrale therapeutische Interventionstechnik. Denn der bewusste wiederholte Rollentausch verflüssigt systematisch die Fixierung des Patienten in die Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer, die von Anna Freud (1984, S. 92) als unbewusster »Austausch zwischen Angreifer und Angegriffenem« definiert wird.

Moreno hat bei seiner Entwicklung der Psychodramatherapie ab 1936 in seinem Sanatorium zunächst »nur« mit Rollenspielen gearbeitet (siehe Kap. 6.9.1) und den direkten Rollentausch zwischen dem Patienten und einem Hilfs-Ich, das den Konfliktgegner spielte, noch nicht gekannt (Moreno, 1945b, S. 11 ff.; 1985, S. 185 ff.; 1959, S. 221 ff.). Er erwähnte in seinen mir zugänglichen Schriften den Rollentausch zwischen einem Patienten und seinem Hilfs-Ich im protagonistzentrierten Spiel erstmals im Jahr 1959 (Moreno, 1959, S. 248. ff.) in einem Fallbeispiel, in dem er über eine von Robert Drews (Group Psychotherapy VI, 1952, zitiert nach Moreno, 1959, S. 248) beschriebenen Behandlung berichtete, die 1946 erfolgt war. Fallbeispiel 57: Der Therapeut heilte in nur drei Therapiesitzungen einen Patienten, Herrn Rath, der seit 15 Monaten an einem Schreibkrampf und Arbeitsunfähigkeit litt. Drei Finger der Schreibhand des Patienten, »der Mittel-, Ring- und Kleinfinger waren in verschiedenen Stellungen gekrümmt«. Dadurch war der Patient als Gerichtsberichterstatter in seiner Arbeit behindert und sein Einkommen war unzureichend geworden. Herr Rath erzählte dem Therapeuten in der ersten Therapiestunde von einem Beziehungskonflikt mit seinem Vorgesetzten, einem Richter, dem er bei dessen durch Alkoholsucht bedingten Auffälligkeiten vor Gericht zunächst oft kollegial geholfen habe. Der Richter seinerseits fing aber an, den Patienten zunehmend zu verachten und beendete dann sogar die Freundschaft. Der Patient hatte bis dahin »seine Gefühle weder dem Richter noch irgendeinem anderen gegenüber« gezeigt. In der ersten Therapiesitzung ließ der Therapeut ihn die Rolle des Richters übernehmen, spielte selbst die Rolle des Patienten, ahmte diesen bei seiner Schreibarbeit nach und gab sich unterwürfig und bescheiden. Unausgesprochen spiegelte er dadurch den Patienten. In der Rolle des Richters war Herr Rath zuerst humorvoll und witzig, dann aber zunehmend gespannt, wütend und feindselig, wurde schließlich rot vor Wut, tobte und beschimpfte den vom Therapeuten gespielten Herrn Rath. Dieser wisse zu

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viel, das würde reichen, um ihn, den Richter, an den Galgen zu bringen. Nach einem Rollentausch begann der Patient in seiner eigenen Rolle, der Therapeut selbst übernahm jetzt die Rolle des Richters, »den Richter […] in zusammenhängender, profaner und verletzender Sprache anzugreifen. Er ging dabei mit raschen Schritten im Zimmer umher, schwitzte, fluchte. […] Er ballte spontan seine rechte Faust mit den verkrampften Fingern und schlug mit solcher Kraft auf den Tisch, dass die Glasplatte krachte. Ungefähr fünf Minuten nach der Entlastung […] fing er an zu weinen und brüllte, weil er solch ein verdammter Feigling gewesen war, diese miserable Komödie so lange ertragen zu haben […]. Anschließend setzte er sich […] und weinte still vor sich hin. […] Danach stand der Patient wieder auf und bemerkte, dass seine ›gelähmten‹ Finger frei waren, beweglich und entspannt. Entzückt rief er aus: ›Mein Gott, ich bin geheilt!‹« und rief seine Frau an. Eine katamnestische Befragung 1952, also sieben Jahre nach der Behandlung, ergab, dass »seine Hand in perfekter Verfassung« war. Seine Beziehung zu dem Richter hatte sich geändert. Der Patient war auf dessen Empfehlung hin in eine juristische Firma aufgenommen worden und war »jetzt erfolgreicher Chef eines Stabes von Gerichtsberichterstattern«. Bemerkenswert an diesem Fallbeispiel ist, dass es für den Behandlungserfolg nicht erforderlich war, in Kindheitsszenen zu gehen und frühere Defiziterfahrungen aufzuarbeiten: Es gab bei dem Patienten »keine psychogenetische Durchdringung seiner Lebenserfahrung außerhalb der Patient-Richter-Beziehung«.

In diesem Fallbeispiel war der Patient fixiert gewesen in die Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer, die sich nach Anna Freud (1984, S. 88) aus der Abwehr durch Introjektion und Projektion zusammensetzt. Er hatte sich durch Abwehr durch Introjektion mit der Angst und dem Hass des Richters identifiziert und dadurch sich selbst gehasst und am Austragen des Konflikts gehindert. Auch hatte er seine eigene Ablehnung des Richters auf den Richter projiziert. Unbewusst hatte er dadurch allein die Verantwortung für den Beziehungskonflikt übernommen. Die Therapie war erfolgreich, weil der Patient im Rollentausch seine Projektion von Ablehnung auflöste, als er in der Rolle des Richters merkte, dass dieser ihn nur deshalb hasste, weil dieser Angst vor ihm hatte, und dass dessen Ablehnung also ein Selbstschutzverhalten gewesen war. Die Abwehr durch Introjektion wurde aufgelöst, als er aus der Rolle des Richters heraus sich selbst, gespielt von dem ihn spiegelnden Therapeuten, als gefügigen Feigling erkannte und nicht als gutmütigen Helfer, als der er sich bis dahin gesehen hatte. Durch die Selbstkonfrontation im Rollentausch konnte der Patient die Abwehr durch Introjektion auflösen, die Aktualisierung seines Selbst in der Beziehung verbessern, den vorher verdrängten heiligen Zorn auf den Richter zulassen, diesen in seiner eigenen Rolle kathartisch ausleben und so seinen Schreibkrampf

Die neun Schritte der Therapie bei einer neurotischen Depression

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auflösen. Durch das psychodramatische Spiel entwickelte der Patient eine neue Hypothese für Ursache und Wirkung in dem Beziehungskonflikt, überprüfte diese später auch in der Realität, trat im Alltag dem Richter gegenüber mutiger auf und wurde von diesem dadurch wieder geachtet oder zumindest mehr gefürchtet, sodass der Richter ihm Karrierechancen eröffnete. Zentraler Gedanke In der Behandlung eines Patienten mit einer neurotischen Depression verbessert sich die Aktualisierung des Selbst des Patienten in seinem Beziehungskonflikt oft wie von selbst, wenn dieser in seinem inneren Beziehungsbild die Abwehr durch Projektion abbaut dadurch, dass er im Rollentausch die innere Realität seiner inneren Objektrepräsentanz neu erkennt (siehe Kap. 8.4.8).

8.4.2 Die neun Schritte der Therapie bei einer neurotischen Depression Eine neurotische Depression entwickelt sich nur bei einer unangemessenen, in der Kindheit erworbenen Anpassungsbereitschaft. In der Kindheit war es für den Patienten aus Selbstschutz erforderlich, sich mit dem Angreifer zu identifizieren und er wurde allmählich fixiert in der Abwehr durch Introjektion und Projektion. Das heißt, dass diese Abwehr auch noch in der Gegenwart seine inneren Beziehungsbilder prägt. Dadurch engt der Patient auch noch in Konflikten der Gegenwart bei Anpassungsdruck die Aktualisierung seines Selbst immer wieder über das erträgliche Maß hinaus ein. Diese Patientinnen und Patienten müssen deshalb in ihren inneren Beziehungsbildern speziell ihre in der Kindheit gelernte Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer, ihre Abwehr durch Introjektion und Projektion, auflösen. Das gelingt mit dem psychodramatischen Dialog mit Rollentausch. Dieser umfasst aufeinander aufbauend die folgenden Schritte: 1. Nachspielen der Erinnerung an eine Auseinandersetzung, 2. fiktiver psychodramatischer Dialog des Patienten, wobei die Hilfs-Ichs sich noch an die Vorgaben des Patienten halten, 3. stellvertretendes Mentalisieren der Therapeutin oder eines Gruppenmitglieds als Doppelgängerin im fiktiven Dialog mit der Konfliktpartnerin des Patienten über die von dem Patienten vorgegebene Realität hinaus. Der Patient übernimmt dabei die Gegenrolle. 4. Die Therapeutin oder ein Gruppenmitglied führt stellvertretend für den Patienten Vertragsverhandlungen mit seiner Konfliktpartnerin, deren Rolle dabei vom Patienten eingenommen wird, und versucht, mit dieser probatorisch ein gerechteres Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen auszuhandeln. Bei relativ gesunden Menschen kann diese Arbeit manchmal innerhalb einer Sitzung gelingen, bei depressiv

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neurotischen Patienten braucht sie oft 5–10 Sitzungen und erfolgt in den folgenden neun aufeinander aufbauenden Therapieschritten: 1. Die Therapeutin und der Patient erfassen zusammen den zu dem depressiven Affekt des Patienten gehörigen auslösenden Beziehungskonflikt. 2. Der Patient bringt das innere Beziehungsbild seines Konflikts im psychodramatischen Dialog mit Rollentausch nach außen auf die Zimmerbühne und spielt den Interaktionsablauf einer erinnerten Auseinandersetzung mit seiner Konfliktpartnerin bzw. mit seinem Konfliktpartner nach. Die Therapeutin oder ein Gruppenmitglied übernimmt dabei als Hilfs-Ich die jeweilige Gegenrolle. 3. Wenn der Patient sich am Beginn der Therapie vor der Auseinandersetzung mit seiner Konfliktpartnerin im Rollenspiel scheut, zieht die Therapeutin den Schritt des stellvertretenden Mentalisierens vor, übernimmt selbst als seine Doppelgängerin seine Rolle oder lässt diese durch ein Gruppenmitglied übernehmen und spielt diese entsprechend den Vorgaben des Patienten. Der Patient spielt dabei die Rolle seiner Konfliktpartnerin. Als Doppelgängerin spricht die Therapeutin der von dem Patienten gespielten Konfliktgegnerin gegenüber über die Realität hinaus aus, was sie bei der Interaktion mit seiner »Konfliktgegnerin« in seiner Rolle denkt, fühlt und empfindet. Sie mentalisiert also stellvertretend für den Patienten seine Konfliktwahrnehmung und Konfliktverarbeitung, ähnlich wie sie es in einem Selbstgespräch tun würde. Dabei äußert sie Handlungwünsche nur im Konjunktiv »Am liebsten würde ich …«, aber noch nicht wie bei dem Schritt 7 der probatorischen gerechten Beziehungsverwirklichung im Indikativ: »Ich wünsche mir von dir, dass du …« Das Spiel endet, ohne dass der Patient in seine eigene Rolle zurückgewechselt ist. Zentraler Gedanke Das stellvertretende Mentalisieren der Therapeutin in der Rolle des Patienten aktiviert die Aktualisierungstendenz des Selbst des Patienten in seinem Konflikt und hilft, seine Abwehr durch Introjektion aufzulösen.

4. Die Therapeutin und der Patient, gegebenenfalls auch die Gruppe, besprechen das Spiel miteinander nach. Sie geben Rollenfeedback und versuchen, zu erfassen, was in dem Beziehungskonflikt Ursache und was Wirkung ist. Sie beziehen in das therapeutische Gespräch auch andere Beziehungskonflikte des Patienten mit ein und suchen zusammen nach einem Interaktionsmuster, das sich in seinen verschiedenen Konflikten wiederholt. 5. Die Therapeutin stellt sich in der Gesprächssituation innerlich immer wieder an die Seite des Patienten, benennt für ihn stellvertretend, was sie in der Iden-

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tifikation mit ihm in seinem Konflikt wahrnimmt. Zum Beispiel kennzeichnet sie die Handlungsweisen seiner Konfliktpartnerin mit passenden symbolischen Begriffen: »Die ist autoritär!« »Die ist feige!« Sie erzählt im Sinne von amplifikatorischen Deutungen von anderen Patienten, die Ähnliches erlebt haben und wie diese mit ihren Konflikten umgegangen sind, und sucht zusammen mit dem Patienten nach analogen Bildern in gesellschaftlichen Bezügen, Märchen und Lebensweisheiten, um zum Beispiel eine vorhandene Ungerechtigkeit in dem Beziehungskonflikt des Patienten als solche zu kennzeichnen. Der Patient lernt dadurch, seine eigenen Wahrnehmungen zutreffend beim Namen zu nennen. Das stärkt seine Position seiner Konfliktpartnerin gegenüber. In der Gruppentherapie haben die Sharings der Gruppenteilnehmer eine ähnliche Funktion wie die amplifikatorischen Deutungen im Einzelsetting. 6. Die Therapieschritte 1–5 aktivieren die Aktualisierungstendenz des Selbst des Patienten in seinem inneren Beziehungsbild und lassen ihn sich in seinem Konflikt anders verstehen. Zentraler Gedanke Der Patient teilt sein durch die ersten Therapieschritte neu gewonnenes Verständnis seiner selbst in einem fiktiven psychodramatischen Dialog seinem Konfliktpartner mit, bringt so die verbesserte Aktualisierung seines Selbst probatorisch in den Beziehungskonflikt ein und erkundet dann im Rollentausch, wie sein Konfliktpartner seiner Vermutung nach auf diese Konfrontation reagieren würde. Das hilft ihm, eine eventuell vorhandene Abwehr durch Projektion aufzulösen (siehe Kap. 8.4.3).

7. Die Therapeutin übernimmt bei Bedarf alternativ oder ergänzend zum Schritt 6 die Rolle des Patienten in dessen protagonistzentrierten Spiel, tritt in Vertragsverhandlungen ein und versucht, in seiner Rolle stellvertretend für ihn mit seiner Konfliktpartnerin in der Beziehung ein angemesseneres Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen und also eine systemisch gerechtere Beziehungsverwirklichung durchzusetzen (siehe Kap. 8.4.3). Dabei übernimmt der Patient die Rolle seiner Konfliktpartnerin und erkundet im Spiel, wie diese auf diese Forderung wohl reagieren würde. Dieses Vorgehen hilft dem Patienten, seine Abwehr durch Introjektion und Projektion noch weiter zu lockern. 8. Der Patient integriert seine innere Umstellung auch in andere Beziehungsbilder von Konflikten mit Bezugspersonen der Gegenwart und der Kindheit. Das geschieht oft schon spontan (siehe Kap. 8.4.4). Bei Bedarf nutzen der Patient und die Therapeutin dazu wieder die Methode des psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch.

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9. Der Patient lernt, sein altes neurotisches Handeln als solches zu erkennen und immer früher zu merken, wenn er in Beziehungskonflikten der Gegenwart gerade wieder auf alte Weise handelt und dadurch depressiv wird. Er versucht bewusst, in Beziehungskonflikten sein altes neurotisches Verhalten wegzulassen. Dadurch findet er in der Situation leichter Handlungsmöglichkeiten, die der realen Situation angemessen sind. Depressiv neurotische Patienten verschränken in Beziehungen Ich und Du miteinander durch Abwehr durch Introjektion und Projektion. Deshalb ist es therapeutisch hilfreich, auch in den Gesprächsphasen die Beziehungskonflikte des Patienten äußerlich im Therapiezimmer mit zwei leeren Stühlen zu repräsentieren (siehe Kap. 1 und Abb. 1). Zentraler Gedanke Der Patient nimmt durch die äußere Repräsentation seines inneren Beziehungskonflikts mit zwei Stühlen während des therapeutischen Gesprächs seine innere Selbstrepräsentanz und seine innere Objektrepräsentanz im Konflikt voneinander getrennt als zwei sich gegenüberstehende Stühle außen im Therapiezimmer wahr. Dadurch werden für ihn auch in seinem inneren Mentalisieren die beiden gegensätzlichen Perspektiven der Konfliktpartner und ihre beiden Wahrheiten im Konflikt nebeneinander existent und als Konflikt zwischen Ich und Du besser spürbar.

Das stellvertretende Mentalisieren, der dritte Therapieschritt, ist besonders wichtig bei Patienten, die sich die Ablehnung und Entwertungen ihrer Konfliktpartner durch Introjektion blind zu eigen machen. Das blockiert die Aktualisierungstendenz ihres Selbst im Konflikt. Oft reagiert ein solcher Patient schon dann mit Verunsicherung und Panik, wenn er sich im psychodramatischen Szenenaufbau in seiner eigenen Rolle seiner Konfliktpartnerin bzw. seinem Konfliktpartner gegenüber aufstellen soll. Fallbeispiel 56 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 8.4): Frau C. entscheidet sich in der Therapie zur psychodramatischen Bearbeitung ihres Ehekonflikts. Als sie dabei ihre eigene Rolle gegenüber ihrem »Ehemann« auf dem leeren Stuhl übernimmt, fängt sie an, hilflos zu weinen. Der Therapeut bittet sie (3. Schritt), in die Rolle des Ehemannes zu wechseln, und übernimmt selbst die Rolle der Patientin. Er nimmt ihre Körperhaltung ein und verbalisiert für sie stellvertretend ihre Gefühle und Gedanken ihrem Mann gegenüber so, wie diese sie vorher im Gespräch selbst geäußert hatte: »Ich kann so nicht leben. Ich weiß nichts von dir. Ich vertraue auf dein Versprechen. Aber wenn ich

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in Not bin, bist du nicht erreichbar. Ich bin enttäuscht, wahnsinnig enttäuscht!« Der Therapeut drückt dabei in Gestik, Mimik und innerer Haltung die innere Verzweiflung der Patientin aus. Frau C. ist zwar in die Rolle des Ehemannes gewechselt, bleibt aber eigentlich sie selbst: »Jetzt würde mein Mann schon aus dem Zimmer gehen. Er sagt immer, ich soll nicht so emotional sein!« Der Therapeut will nichts erzwingen, bricht deshalb das Spiel ab und geht in die Nachbesprechung über (4. Schritt): »Ich habe in Ihrer Rolle gemerkt, dass in meinem Bauch von ganz tief unten her eine elementare Wut aufsteigt. Ich habe richtig Angst vor dieser Wut bekommen und war davon aber auch fasziniert.« Frau C.: »Mir wird übel!« Der Therapeut deutet diese psychosomatische Reaktion (5. Schritt): »Das ist so, wie wenn Sie von Ihrem Mann ähnlich wie das Schneewittchen von seiner Stiefmutter einen vergifteten Apfel bekommen und davon einen Bissen geschluckt hätten« (Fortsetzung unten und im Kap. 8.4.3 und 8.4.4). Zentraler Gedanke Während des stellvertretenden Mentalisierens des Therapeuten soll die Protagonistin in der Rolle ihres Konfliktpartners versuchen, dessen Körperhaltung nachzuahmen. Denn darüber bekommt sie leichter Zugang zu dessen Denken und Fühlen (siehe Kap. 2.2). Die Patientin muss im Rollentausch die Rolle ihres Konfliktpartners nicht perfekt spielen, sie darf dabei sogar aus der Rolle herausfallen. Wichtig ist, dass der Therapeut als Doppelgänger in der Rolle der Selbstrepräsentanz der Patientin laut ausspricht, was er selbst empfindet, fühlt und denkt. Denn das aktiviert in der Patientin ihre Empathie mit sich selbst und die Aktualisierungstendenz ihres Selbst in ihrem inneren Beziehungsbild. Ihre Abwehr durch Introjektion löst sich auf.

Depressiv neurotische Patienten fühlen sich durch das stellvertretende Mentalisieren des Therapeuten meistens tief verstanden. Sie staunen, dass ein anderer Mensch ihr Leidensgefühl so gut nachvollziehen und so einfach in Worte fassen kann. Diese Erfahrung aktiviert ihre eigene innere Konfliktverarbeitung. Im vierten Therapieschritt erkunden der Therapeut und die Patientin im Gespräch zusammen, wie es zu dem Konflikt kam, was die Patientin in dem Konflikt bisher mit ihrem Konfliktpartner erlebt hat und was sie selbst im Nachherein jetzt als Ursache für den Konflikt ansieht. Der Therapeut weist dabei mit der Hand immer wieder auf den Stuhl der Selbstrepräsentanz der Patientin auf der Bühne oder auch auf den ihres Konfliktpartners und unterstützt sie im Verbalisieren ihrer Gefühle. Fallbeispiel 56 (2. Fortsetzung): Zwei Sitzungen später bemerkt Frau C. gleich zu Anfang der Stunde: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, eigentlich geht es mir

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inzwischen gut, viel besser als vor einem Jahr. Aber wenn das Gespräch auf meinen Mann kommt, muss ich immer wieder weinen.« Spontan fügt sie hinzu: »Ich habe in der Beziehung zu meinem Mann immer alle Reibungspunkte, wo es Streit hätte geben können, vermieden. Ich hatte immer das Gefühl, ich bin nicht normal. Ich habe bei Streitigkeiten immer zu hören gekriegt: ›Du spinnst! Dieses emotionale Gerede!‹ Aber wenn mein Mann selbst schlechte Laune hatte, zum Beispiel vom Büro her, konnte er das raushauen. Ich nicht!« Der Therapeut (5. Schritt): »Ihr Mann benimmt sich, finde ich, autoritär wie ein Tyrann. Aber schon Gandhi hat gesagt: ›An der Tyrannei sind nicht die Tyrannen schuld, sondern die Unterdrückten! Denn würden Sie sich nicht unterdrücken lassen, gäbe es keine Tyrannen‹« (Fortsetzung in Kap. 8.4.3).

8.4.3 Die probatorische, systemisch gerechte Beziehungs­ verwirklichung Depressiv neurotische Patientinnen und Patienten verhalten sich oft auch noch im psychodramatischen Spiel ihren Konfliktgegnern gegenüber gefügig und fühlen sich minderwertig. Dadurch bleibt im Spiel unklar, ob die Dominanz des Konfliktpartners der Patientin real keine Chance zur Aktualisierung ihres Selbst gegeben hat oder aber ob ihr Konfliktpartner sich nur so raumgreifend verhält, weil die Patientin durch ihre Bescheidenheit und Zurückhaltung ihm keinen Widerstand entgegensetzt. Anders als bei Aktualkonflikten ist in einem solchen Fall allein das psychodramatische Nachspielen der Erinnerung an eine Auseinandersetzung mit dem Konfliktgegner therapeutisch wenig hilfreich. Zentraler Gedanke Depressiv neurotische Patientinnen und Patienten sollen in der Therapie die Erfahrung machen, dass sie in ihren Beziehungskonflikten das Verhalten ihrer Konfliktpartner auch selbst mit steuern. Sie können die Möglichkeit dazu leiblich-seelisch erfahren, wenn sie in einem fiktiven psychodramatischen Dialog im Spiel ihres inneren Beziehungsbildes im Sinne der Surplus Reality ihre eigene Rolle und im Rollentausch auch die Rolle ihres Konfliktpartners probatorisch über die vorher bestehende Realität hinaus ausspielen.

Der Therapeut fordert die Patientin deshalb im sechsten Therapieschritt auf, dem Konfliktpartner ihr eigenes Denken und Fühlen im psychodramatischen Spiel in einem fiktiven Dialog anders als bisher offen mitzuteilen: »Wollen Sie das Ihrem Chef hier im Rollenspiel einmal sagen? – Es geht nicht darum, dass Sie das ihm gegenüber real tun! Das Spiel hier ist rein fiktiv, es soll nur Ihr inneres

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Nachdenken erweitern. – Es geht auch nicht darum, Ihrem Chef Schuld zuzuweisen! Es gibt die subjektive Wahrheit und die Notwendigkeiten Ihres Chefs, es gibt aber auch Ihre eigene subjektive Wahrheit und Ihre eigene Realität. Sie fühlen sich überfordert und können nicht mehr! Bringen Sie doch Ihre persönliche Wahrheit einmal fiktiv im Rollenspiel Ihrem Chef gegenüber zum Ausdruck!« Das eigentliche Ziel dieser Aufforderung ist nicht, dass die Patientin psychoedukativ übt, sich später in der Realität expansiver zu verhalten. Wichtiger ist, dass sie in dem inneren Beziehungsbild ihres Konflikts probatorisch ihre Abwehr durch Introjektion weglässt und sich ihrem Konfliktpartner gegenüber mit ihren Wünschen und Notwendigkeiten offen zeigt. Sie tritt im Rollentausch anschließend in das Fühlen, Denken und Handeln des Konfliktpartners ein, in seine innere Welt, in seine Lebensgeschichte und in seine Zukunftsfantasien, und erkundet, wie dieser auf die expansivere Aktualisierung ihres Selbst wohl reagieren würde. Die Veränderung des systemischen Gleichgewichts in der Beziehung gibt der Protagonistin die Gelegenheit, im Rollentausch in der Rolle ihres Konfliktpartners die hinter seinem zurückweisenden Verhalten stehenden Motivationen, inneren Notwendigkeiten und Verletzlichkeiten ihres Konfliktpartners zu erkennen. Sie kann zum Beispiel unterscheiden, ob sie im Spiel in der Rolle des Konfliktgegners die »Patientin« zurückweist, weil er diese wirklich innerlich ablehnt, oder ob er das »nur« macht, weil er sich selbst schützen muss. Durch dieses Vorgehen erkundet sie also Ursache und Wirkung in dem Beziehungskonflikt, löst eventuell vorhandene Projektionen auf und erweitert ihre innere Objektrepräsentanz des Konfliktpartners. Zentraler Gedanke Bei der probatorischen, gerechten Beziehungsverwirklichung erfährt die Patientin im fiktiven psychodramatischen Dialog durch den Rollentausch am eigenen Leib, ob in der Beziehung Spielraum für ihre Wünsche wäre oder nicht. Der Abbau der Abwehr durch Introjektion durch probatorische stärkere Aktualisierung ihres Selbst im Spiel und dazu der Abbau der Abwehr durch Projektion im Rollentausch lassen sie die Beziehungswirklichkeit neu erkennen (Krüger, 1997, S. 163 f.). Fallbeispiel 56 (3. Fortsetzung): Frau C. übernimmt erstmals auch ihre eigene Rolle im psychodramatischen Dialog mit ihrem Ehemann. Der Therapeut aber geht in die Rolle des Ehemannes und beschimpft Frau C. entsprechend ihren Vorgaben: »Du spinnst! Immer dieses emotionale Gerede!« Frau C. antwortet und lenkt das Gespräch auf ihren gemeinsamen Sohn Walter: »Dass du, wenn du mit ihm telefonierst, ihn nicht einmal fragst, wie es ihm geht.« Nach einem Rollentausch gibt sie in der Rolle ihres Mannes den Schwarzen Peter sofort an die Frau, sich selbst,

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zurück: »Walter will ja gar nicht mehr mit mir reden. Du erziehst ihn doch. Das ist dein Einfluss!« Wieder in ihrer eigenen Rolle verteidigt sich Frau C. dem Mann gegenüber verzweifelt: »Ich habe versucht, Walter zu beeinflussen, dass er dich anruft. Aber er wollte nicht. Jetzt halte ich mich da heraus!« Als der Therapeut in der Rolle von Frau C. ihre Aussagen wiederholt, bleibt sie in der Rolle ihres Ehemannes bei der Überzeugung: »Genau das ist dein Einfluss, deine Erziehung!« Der Therapeut erkennt: Anders als bei anderen Patienten scheint der Ehemann von Frau C. nicht oder nicht mehr bereit zu sein, über die Beziehung nachzudenken (Fortsetzung im Kap. 8.4.4).

Depressiv neurotische Patientinnen und Patienten wissen kognitiv oft sehr gut, wie sie sich in ihren Beziehungskonflikten angemessener verhalten sollten. Durch ihre Fixierung in ihre alte Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer tun sie das aber nicht, auch nicht im psychodramatischen Spiel. Das verführt dann den Therapeuten, weil er in den Beziehungskonflikten der Patientin die Ungerechtigkeit, das Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen und die Blockade der Aktualisierungstendenz ihres Selbst nicht aushält, die Patientin immer wieder zu ermuntern und psychoedukativ aufzufordern, sich mehr abzugrenzen oder sich mehr durchzusetzen. Empfehlung Wenn die Patientin im fiktiven psychodramatische Dialog noch nicht gewagt hat, von ihrem Konfliktgegner ein gerechtes Geben und Nehmen in der Beziehung einzufordern, kann der Therapeut sein stellvertretendes Mitleiden mit der Patientin, seine latente Ungeduld und seinen inneren Protest gegen ihren Konfliktgegner therapeutisch sinnvoll nutzen, indem er als Doppelgänger selbst stellvertretend für sie im Spiel in ihrer Rolle in ihrem Konflikt probatorisch versucht, durch Vertragsverhandlungen mit ihrem Konfliktpartner in der Beziehung eine systemisch gerechtere Beziehungsverwirklichung zu entwickeln: »Ich möchte von dir, dass du  …«. Das ist therapeutisch wirksamer als mehr oder weniger offene Aufforderungen zur besseren Abgrenzung und Durchsetzung. Realitätsnah ist dieser Versuch natürlich nur, wenn die Patientin dabei selbst die Rolle ihres Konfliktpartners übernimmt. Denn sie selbst kennt diesen am besten und kann im Spiel erkunden, wie dieser wahrscheinlich reagieren würde. Fallbeispiel 56 (4. Fortsetzung): Der Therapeut möchte prüfen, ob die mangelnde Kompromissbereitschaft des Ehemannes von Frau C. vielleicht auch durch ihr hilfloses, angepasstes Verhalten mitbedingt ist, und bittet die Patientin: »Ich würde gern einmal im Spiel probieren, Sie zu sein, und Sie anders spielen, und dass Sie

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dann zeigen, wie Ihr Mann darauf wohl reagieren würde!« Der Therapeut übernimmt die Rolle der Patientin und wendet sich an Frau C., die die Rolle ihres Ehemannes spielt: »Du hast dich so verändert: Früher konnte man sich auf dich verlassen. Wir haben geheiratet, ein Haus gebaut, eine Familie gegründet. Du hast das auch gut gefunden. Jetzt kenne ich dich gar nicht mehr! Du willst der Vater sein von Walter und lässt ihn links liegen. Was fühlst du eigentlich dabei?« Frau C. als ihr Ehemann: »Ich finde, dass Walter sich auch bemühen könnte!« Therapeut: »Nein, ich möchte nicht wissen, was du findest, ich möchte wissen, was du fühlst!« Frau C. fällt aus der Rolle: »Mein Mann wäre schon längst gegangen!« Der Therapeut: »Sie sind Ihr Mann. Gehen Sie als er!« Frau C. erhebt sich von dem Stuhl. Der Therapeut ist in der Rolle von Frau C. weiterhin enttäuscht und wütend, er schreit: »Du bist feige! Ein Feigling! Ein Motorradfahrer und so feige, haust einfach ab, wenn es eng für dich wird!« Im Rollenfeedback meint Frau C.: »Als mein Mann habe ich gar nichts gefühlt!« Der Therapeut bestätigt der Patientin im Nachherein offen: »Als ich vorhin selbst Ihren Mann spielte, habe ich in seiner Rolle auch nichts gefühlt. Ich habe nur einen Schild vor mich gehalten und aufgepasst, dass die Vorwürfe von meiner Frau mich nicht treffen. Ich war in Wahrheit ganz anderweitig interessiert. Ich habe gehofft, dass das Gespräch bald zu Ende ist, weil meine Freundin wartet.« Frau C.: »Eigentlich habe ich mich nach meiner Kur in der psychosomatischen Klinik entschieden: ›Ich will meinen Mann nicht mehr verstehen.‹ Muss ich ihn denn verstehen?« Der Therapeut: »Nein, Sie sollen ihn durch das Spiel in seiner Rolle nicht verstehen lernen. Es geht darum, dass Sie seine innere Wirklichkeit erkennen! Dass Sie wissen, wie er innerlich tickt! Denn wenn Sie sein Denken und sein Fühlen kennen, können Sie sich ihm gegenüber leichter behaupten!« Frau C.: »Früher bin ich einmal hinter ihm hergegangen und habe ihn gefragt, warum er eigentlich weggeht.« Der Therapeut: »Sie wissen eigentlich, warum er weggeht und brauchen ihn nicht mehr zu fragen! Er hat Angst! Es ist ihm unangenehm, sich von Ihnen infrage stellen zu lassen. Er ist feige! Es geht darum, dass Sie ihn erkennen und dass Sie es wagen, das Kind auch beim Namen zu nennen, wenigstens vor sich selbst.« Frau C.: »Vielleicht sollte ich ihm wirklich einmal sagen, dass er feige ist!«

Bei der probatorischen, systemisch gerechten Beziehungsverwirklichung folgt der Therapeut seiner Intuition und integriert in sein Spiel in der Rolle Patientin alle Informationen, die er von ihr hat. Er braucht nicht schon vor dem Spiel wissen, wie die gerechtere Beziehungsverwirklichung aussehen könnte. Er kann im Spiel als Patientin zunächst ein Selbstgespräch halten, um sich in ihrer Rolle zu finden (Krisztina Czáky-Pallavicini 2014, mündliche Mitteilung). Anschließend spricht er dem »Konfliktpartner« gegenüber direkt aus, was er vorher

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im Selbstgespräch gedacht hat, und erkundet im Spiel neugierig, ob es in der Beziehung die Möglichkeit gibt, Geben und Nehmen gerechter zu verteilen. Er versucht, probatorisch im Spiel eine Konfliktlösung herbeizuführen, bei der er als »Patientin« sowohl dem »Konfliktgegner« als auch sich selbst gerecht wird. Er tritt stellvertretend für die Patientin mit dem »Konfliktgegner in Vertragsverhandlungen über diese gerechtere Beziehungsverwirklichung ein: »Ich will und brauche von dir das und bin aber bereit, dir das und das zu geben.« Diese Doppelgänger-Arbeit tut der Patientin gut, sie hilft aber auch dem Therapeuten. Denn dieser bleibt nicht in seinem inneren Protest gegen das Ungleichgewicht in dem Beziehungskonflikt stecken oder trägt nur immer alles mit. Seine Gegenübertragung löst sich auf. Die Patientin spielt dabei bis zum Ende der Spielphase ohne jeden weiteren Rollentausch die Rolle ihres Konfliktgegners aus. Empfehlung Bei der Methode der probatorischen, gerechten Beziehungsverwirklichung soll die Patientin auf keinen Fall die von dem Therapeuten oder einem Gruppenmitglied gefundene andere Verhaltensmöglichkeit in ihrer eigenen Rolle in einem Rollenspiel einüben. Denn sie soll durch die Auflösung ihrer Abwehr durch Projektion »nur« ihre Spontaneität zurückgewinnen. Dann findet sie erfahrungsgemäß in der realen Beziehung zu ihrem Konfliktpartner schon von allein die für sie persönlich stimmigste Konfliktlösung.

Die Patientin des Fallbeispiels zum Beispiel hat ihren früheren Ehemann wahrscheinlich real nie direkt als »Feigling« beschimpft, sie hat ihn aber wahrscheinlich in ihrem inneren Denken oft einen »Feigling« genannt. Eine solche neue, realistischere Einschätzung von Ursache und Wirkung in einem Beziehungskonflikt öffnet im Gehirn aber andere Türen der Konfliktbewältigung, lässt die Patientin spontan werden und treibt sie »zu neuen Reaktionen auf eine alte Situation« (Moreno, 1974, S. 13). Zentraler Gedanke Die Methode der probatorischen, systemisch gerechten Beziehungsverwirklichung ist unabhängig von der Reaktion des von der Patientin gespielten »Konfliktpartners« in jedem Fall therapeutisch fruchtbar.

Wenn die Patientin in der Rolle ihres Konfliktpartners ein gerechteres Beziehungsgleichgewicht zulässt, löst das in ihrem inneren Beziehungsbild ihre Abwehr durch Projektion auf. Dadurch wird sie freier, in der nächsten Begegnung die Realität der Beziehung angemessener wahrzunehmen und sich deshalb

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selbst auch angemessener zu verhalten. Wenn der Therapeut oder das Gruppenmitglied gegenüber dem von der Patientin selbst gespielten »Konfliktgegner« aber keine gerechtere Konfliktlösung durchsetzen kann, weist das daraufhin, dass die Patientin ihren Konfliktgegner schon vor dem Spiel realistisch eingeschätzt hatte und nicht einer Projektion aufgesessen war. Das lässt den Therapeuten oder die Gruppe die Dramatik des Beziehungskonflikts der Patientin dann überhaupt erst richtig erkennen, und diese wird in ihrer Ohnmacht vielleicht zum ersten Mal wirklich verstanden. 8.4.4  Die Integration der inneren Umstellung in andere Beziehungen Die sieben bisher beschriebenen Schritte der Therapie helfen Patientinnen und Patienten mit einer neurotischen Depression, in einem wichtigen Beziehungskonflikt ihre Fixierung an die Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer zu lockern. Ihr neues Verständnis der Beziehungsdynamik in diesem einen Konflikt aktiviert aber die Aktualisierungstendenz des Selbst der Patientin auch in ihren anderen Konflikten und lässt sie im achten Therapieschritt (siehe Kap. 8.4.2) spontan nach den Ursachen für ihre hohe Anpassungsbereitschaft forschen. Fallbeispiel 56 (5. Fortsetzung): In der folgenden Einzelsitzung erzählt Frau C. gleich am Anfang: »Ich habe meinen Vater gefragt, ob er sich tatsächlich lieber einen Jungen gewünscht hat (Das hatte die Patientin bei der Anamneseerhebung vermutet). Da ist er richtig böse geworden! Er meinte, es war die Großmutter, die bei der Geburt gesagt hat: ›Schon wieder ein Mädchen!‹« Der Therapeut: »Dann haben Sie also einen festen Platz im Herzen Ihres Vaters!« Frau C. spontan: »Ja!« Sie strahlt bei diesem Gedanken innige Freude aus: »Ja, mein Vater mochte meinen Mann nicht so richtig, weil er so schnodderig und frech war. Meine Mutter hat mir erzählt, bis ich fünf Jahre alt war, bin ich für sie immer ein entzückendes Kind gewesen und habe immer gelacht. Auch der Mann meiner Cousine hat gesagt: ›Du warst immer so freundlich!‹ Irgendwie scheinen mich andere doch anders zu sehen, als ich mich selbst!« Frau C. ist auf dem Weg, sich selbst neu zu entdecken. Man sieht ihr an, wie sehr es in ihr arbeitet. Der Therapeut: »Sie staunen selbst darüber?« Frau C.: »Ja. Wenn ich das auf das beziehe, was mein Mann gesagt hat, dass ich nur herumkeife und nörgele, … ich hänge da noch ein bisschen fest, das wirkt noch nach. Manchmal komme ich mir nicht so wertvoll vor, aber manchmal komme ich schon wieder zum Vorschein!« Der Therapeut zentriert in den folgenden Sitzungen seine Arbeit weiter auf die Klärung von Ursache und Wirkung in der gescheiterten Ehebeziehung mithilfe der Methode der gerechten Beziehungsverwirklichung. Frau C.: »Ich habe in der Bezie-

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hung zu meinem Mann immer die Arschkarte genommen! Meine Mutter hat auch gesagt, er sei ja doch sehr dominant gewesen. Mit der Zeit kommt mir das jetzt auch so vor. Das hat sich in den letzten Jahren immer mehr herausgestellt. Ein Bekannter von uns hat schon vor Jahren gesagt, mein Mann sei ein Single mit Frau und Kind!« In der folgenden Therapiesitzung berichtet Frau C.: »Am Wochenende habe ich meine Eltern besucht, da haben wir auch über meinen Mann geredet. Ich habe gesagt: ›Eigentlich war er ein Arschloch!‹ Meine Mutter hat gelacht, aber mein Vater hat solche Stielaugen gemacht!« Sie hält ihre Hände spielerisch an ihre eigenen Augen und zeigt, wie sie sich Stielaugen vorstellt. Die Patientin, die als Kind nie etwas Verbotenes getan hat, empfindet jetzt offenbar Lust dabei, ihren kleinbürgerlich denkenden Vater mit ihrer Wortwahl zu schockieren. Nach einem vierwöchigen Urlaub überlegt Frau C., ob sie mit ihrem Sohn aus ihrem Haus ausziehen sollte: »Ich mag nicht, dass mein Mann einfach so hereinkommen kann, wie er will. Es geht mir gut. Ich bin richtig euphorisch. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht abhebe. Es kommt mir erst in den letzten Wochen so richtig zu Bewusstsein, dass die Leute, mit denen ich zusammen bin, mir Unterstützung geben und sagen: ›Mach das! Wir kommen und helfen.‹ Ich glaube, das haben die schon die ganze Zeit gemacht. Aber jetzt fällt mir das erst auf! Als ich neulich mit meinem Mann wegen einer Steuernachzahlung telefonieren musste, habe ich ihm erzählt, dass ich mir eine Wohnung suche und dass wir dann auch mal überlegen müssen in Richtung Scheidung. Er war dann ganz still und hat nur noch Ja oder Nein gesagt. Als ich auflegte, hatte ich nicht so ein einengendes, beklemmendes Gefühl wie sonst nach dem Telefonieren.« Der Therapeut: »Jetzt hat Ihr Mann den Schwarzen Peter, und er ist dran, sich zu entscheiden und zu reagieren.«

Viele Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker lassen ihre depressivneurotischen Patientinnen oder Patienten bei der psychodramatischen Bearbeitung von gegenwärtigen Beziehungskonflikten relativ schnell in Kindheitsszenen wechseln und zunächst in den inneren Beziehungsbildern zu Bezugspersonen der Kindheit nach den Ursachen für ihre hohe Anpassungsbereitschaft forschen und die Aktualisierung ihres Selbst verbessern. Dieses Vorgehen verführt die Patienten und den Therapeuten, die realen Anteile in den Gegenwartskonflikten, wie zum Beispiel Konkurrenz oder emotionale Ausbeutung, auszublenden und zu glauben, dass bei einer besseren Kindheit die Gegenwartskonflikte gar nicht erst aufgetreten wären. Empfehlung Das hier beschriebene störungsspezifische Therapiemodell fördert bei Patientinnen und Patienten mit einer depressiven Neurose zuerst ihre Fähigkeiten

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zur systemisch gerechten Konfliktlösung in ihren Gegenwartskonflikten. Die Patienten machen dadurch die Erfahrung, dass sie als Erwachsene anders als in der Kindheit das Verhalten ihrer Konfliktpartner selbst mit beeinflussen und verändern können. Sie gewinnen Zugang zu der Aktualisierungstendenz ihres Selbst und suchen daraufhin meist spontan nach Lebenserfahrungen in ihrer Vergangenheit, die erklären, warum sie sich vor der Therapie gewohnheitsmäßig immer so stark den Erwartungen anderer angepasst haben.

Der Therapeut kann bei seinen Patientinnen und Patienten die Veränderung der inneren Beziehungsbilder ihrer Kindheit bei Bedarf gezielt fördern, indem er sie nach dem Alter ihres Anpassungsverhaltens fragt (siehe Fallbeispiel 53). Diese Frage veranlasst die Patientin, durch inneren Szenenwechsel ihre neuen Erkenntnisse über sich selbst mit ihren Erfahrungen aus ihrer Kindheit zu verknüpfen: »Ich musste als Kind immer funktionieren. Mein Bruder war krank. Da wollte ich meine Eltern nicht noch mehr belasten!« Ohne die Integration der neuen Erfahrungen und Erkenntnisse in die inneren Beziehungsbilder aus der Kindheit, die bei neurotischen Störungen, wie gesagt, of spontan geschieht, besteht die Gefahr, dass die alte Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer in den inneren Beziehungsbildern aus der Kindheit immer wieder Eingang findet in die gegenwärtige Konfliktverarbeitung der Patientin. Bei Bedarf fördert der Therapeut diese Veränderung der inneren Beziehungsbilder der Kindheit aber auch psychodramatisch. Er lässt die Patientin zum Beispiel einen fiktiven Brief an eine Bezugsperson der Kindheit schreiben oder mit dieser Bezugsperson einen fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch führen (siehe Kap. 4.12, die Schritte 1 und 4). Dabei klärt die Patientin als die Erwachsene, die sie jetzt ist, die konflikthafte Beziehung mit ihrer Bezugsperson aus der Kindheit. Die Patientin soll am Ende ihrer Therapie möglichst eine stimmige Antwort wissen auf die Frage: »Was müsste ich tun, damit ich auf jeden Fall wieder depressiv werde?« Sie soll den alten Weg ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation, der sie in die Depression geführt hat und wieder führen könnte, differenziert beschreiben können und als solchen möglichst auch in ihr Traum- und Selbsterfahrungsbuch notieren. Denn dann kann sie leichter merken, wenn sie wieder auf dem falschen Weg ist. Es nützt den Patientinnen und Patienten wenig, wenn sie viel über die Zusammenhänge ihrer gegenwärtigen Probleme mit ihrer Kindheit wissen, ihre Fähigkeiten zur Konfliktlösung in der Gegenwart aber defizitär bleiben. Aus diesem Grund ist das hier beschriebene Vorgehen auch in Kurztherapien, in Beratungssettings oder in der Gruppentherapie zu empfehlen.

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Zentraler Gedanke Allgemein gilt die Regel: Je lärmender der Konflikt zwischen der Anpassungsbereitschaft und der Aktualisierung des Selbst in einem Beziehungskonflikt in der Gegenwart ist, desto mehr kann der Therapeut sich in seiner Arbeit allein auf den Gegenwartskonflikt beschränken. Umgekehrt gilt allerdings auch: Je weniger die Patienten unter einem massiven Ungleichgewicht zwischen Anpassung und Aktualisierung ihres Selbst in den Konflikten der Gegenwart leiden, desto mehr muss der Therapeut mit ihnen psychodramatisch auch in ihre inneren Beziehungsbilder der Kindheit hineingehen und diese verändern.

8.4.5  Systemisches Denken durch Rollentausch Wir Menschen denken meistens individuumzentriert. Eine systemische Sichtweise erfordert einen relativ schwierigen inneren Perspektivwechsel. Bei einer individuumzentrierten Sicht der Wirkungsweise des Rollentauschs geht die Therapeutin davon aus, dass der Patient im Rollentausch in die Rolle seines Konfliktpartners geht, um dessen Verhalten zu zeigen und die Perspektive des anderen zu erkunden. Nach diesem Verständnis würde der Patient im psychodramatischen Dialog durch Rollentausch zwar »Du-Erkenntnis« gewinnen (Leutz, 1974, S. 47, 98) und seine Projektionen abbauen, nicht aber auch die Abwehr durch Introjektion auflösen. Zentraler Gedanke Der Rollentausch vermittelt nicht nur »Du-Erkenntnis« durch Übernahme der Rolle der inneren Objektrepräsentanz, sondern durch den immer wiederkehrenden Wechsel zurück in die Rolle der eigenen inneren Selbstrepräsentanz im Konflikt auch »Ich-Erkenntnis« und insgesamt Beziehungserkenntnis (Krüger, 1997, S. 163 f.). Bei genauerer Betrachtung differenziert und erweitert der Patient im psychodramatischen Dialog mit Rollentausch das ganze System seines inneren Beziehungsbildes und führt die Konfliktverarbeitung darin probatorisch zu Ende (siehe Fallbeispiele 55, 56 und 57).

Der Patient arbeitet im Rollentausch immer beziehungsbezogen die inneren Wirklichkeiten beider komplementär interagierenden Konfliktpartner heraus, die Wirklichkeit seines Konfliktpartners und auch seine eigene, und erweitert beide systembezogen. Wenn er in seine eigene Rolle zurückkehrt, weiß er jeweils besser, wie sein Konfliktgegner »tickt«. Das hat aber zur Folge, dass er unwillkürlich auch das Handeln in seiner eigenen Rolle verändert, sodass es zu seiner jetzt veränderten inneren Objektrepräsentanz passt. Die systemische Sichtweise

Das systemische Denken durch Rollentausch

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der therapeutischen Wirkung des Rollentauschs hilft, die Lust eines Patienten oder einer Patientin am Spiel von destruktiven Gegenrollen nicht fälschlicherweise als eigene Lust des Patienten zu verstehen und als latente Neigung zu sadistischem Verhalten. Denn der Patient übernimmt im Spiel im Rollentausch ja die Rolle seiner inneren Objektrepräsentanz im Konflikt und nicht die seiner Selbstrepräsentanz. Anders, als Moreno (1959, S. 238) es meinte, kann der Patient durch das Spiel von aggressiven Gegenrollen sogar lernen, sich von inneren einengenden oder sadistischen Introjekten abzulösen. Der Patient erkundet in seinem Spiel in der Gegenrolle, wie sein Konfliktgegner innerlich »tickt«. Er lässt das Böse aber, wenn er wieder in seine eigene Rolle zurückwechselt, räumlich und dadurch auch innerlich leiblich-seelisch in der Rolle seiner Objektrepräsentanz zurück. Er bringt das Böse im Spiel durch Rollentausch also aus sich heraus und befreit sich dadurch tendenziell von inneren einengenden Introjekten. Im realen Alltag können unbewusste sadistische Züge des eigenen Über-Ichs oder eine Fixierung in ein Täter-Opfer-Schema einen Betroffenen in Versuchungssituationen zwar tatsächlich dazu verführen, sich unkontrolliert sadistisch zu verhalten. Bei der psychodramatischen Übernahme von sadistischen Gegenrollen spielt der Patient diese Rollen aber bewusst. Dadurch lernt er, die in der sadistischen Gegenrolle vorhandene Lust an Macht und Willkür in sich selbst bewusst wahrzunehmen, sie als solche zu erkennen, und gewinnt so Kontrolle über sie. Gandhi sagt sinngemäß: »Gewaltlos Widerstand leisten kann nur der, der in der Lage ist, Gewalt anzuwenden, und dann aber darauf verzichtet. Denn äußerlich scheinbar gewaltloses Verhalten ist manchmal auch einfach nur Ausdruck von Feigheit. Wenn aber ein feiger Mensch die Macht gewinnt, wird er leicht selbst zum Tyrannen.« Wer in der Lage ist, im Psychodrama einen Tyrannen oder eine archaische Hexe zu spielen, der ist gerade nicht ein Tyrann oder eine Hexe. Denn eine Rolle spielen zu können, heißt, die sadistischen Impulse dieser Rolle innerlich auch kontrollieren und steuern zu können (siehe Fallbeispiele 58 und 117). Ein echter Tyrann würde aber wegen seiner narzisstischen Selbstbezogenheit auf der Bühne nie einen Tyrannen spielen wollen und können. Für den Therapieerfolg von Menschen mit einer neurotischen Depression ist zentral, dass sie lernen, in Beziehungskonflikten nicht nur dem anderen gerecht zu werden, sondern auch sich selbst gerecht zu werden. Der Rollentausch verwirklicht im Spiel dieses systemische Entwicklungsprinzip prozesshaft (Krüger, 1997, S. 174). Dieses Prinzip ist in sich emanzipativ und hilft, dass die Stimmen derer, die unterdrückt, ausgeschlossen oder nicht gehört werden, als kreatives Potenzial Eingang finden in die Beziehungen und gesellschaftlichen Zusammenhänge.

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Depressionen

8.4.6 Das Mitspielen der Therapeutin als Hilfs-Ich im psychodramatischen Dialog Im psychodramatischen Dialog lässt die Therapeutin den Patienten im Spiel durch Rollentausch die inneren Wirklichkeiten seiner Selbstrepräsentanz und seiner Objektrepräsentanz in seinem inneren Beziehungsbild weiterentwickeln und so eine neue Hypothese über Ursache und Wirkung in seinem Konflikt entwickeln. Diese systemische Sichtweise eines Beziehungskonfliktes unterscheidet sich von einem psychoedukativen Vorgehen, bei dem die Therapeutin ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das Verhalten des Protagonisten konzentriert. Systemisch gesehen vermittelt die Therapeutin im psychodramatischen Spiel aus einer Ja-aber-Haltung heraus im Beziehungskonflikt zwischen dem Patienten und seiner Konfliktpartnerin bzw. seinem Konfliktpartner. In der Gruppentherapie übernehmen andere Gruppenmitglieder als Hilfs-Ichs die Gegenrollen im Spiel des Protagonisten. Im Einzelsetting spielt die Therapeutin selbst im psychodramatischen Dialog wechselnd in beiden Rollen des Beziehungskonflikts als Hilfs-Ich mit. Wenn Anfänger die Methode praktizieren, sind sie oft überrascht über die Komplexität dieser therapeutischen Arbeit. Sie lassen sich nicht selten in den Beziehungskonflikt des Patienten mit hineinziehen und verlieren den Überblick. Die Therapeutin kann die Mittlerrolle innerlich leichter einhalten, wenn sie während des psychodramatischen Spiels immer wieder einmal die therapeutische Standardposition einnimmt, sich im Therapiezimmer räumlich außerhalb der Spielszene des Patienten positioniert und das Spiel aus dieser Metaposition heraus leitet. Übung 16 Wenn Sie als Leserin oder Leser Anfänger in der Methode des Psychodramas sind, probieren Sie bitte einmal aus, ihren Patienten von einem Ort außerhalb der Spielszene in seinem Spiel zu begleiten. Dabei stellen Sie sich, wenn der Patient gerade in seiner eigenen Rolle ist, etwas mehr auf die Seite des Patienten, wenn er im Rollentausch die Rolle seines Konfliktpartners einnimmt, etwas mehr auf die Seite seines Konfliktpartners. Sie aktivieren durch das Einnehmen dieser verschiedenen Raumpositionen das Denken, Fühlen und Handeln Ihres Patienten in seiner jeweiligen Rolle energetisch. In der Metaposition außerhalb der Spielszene werden Sie merken, dass Sie durch die äußere Distanz zur Spielszene selbst innerlich mehr Abstand zu den beiden Konfliktpartnern auf der Bühne gewinnen, als wenn sie in den beiden komplementären Rollen mitspielen. Das hilft Ihnen, die Vermittlerrolle einzuhalten und die Aufforderung zum Rollentausch nicht zu vergessen.

Das Mitspielen der Therapeutin als Hilfs-Ich

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Üben Sie als Anfängerin oder Anfänger im Psychodrama Ihre Leiterfähigkeiten im Einzelsetting am besten schrittweise: 1. Zunächst leiten Sie den psychodramatischen Dialog von Patienten nur aus der Metaposition außerhalb der Spielszene heraus und übernehmen dabei selbst keine Rollen. 2. Im nächsten Schritt des Übens wechseln Sie, wenn der Protagonist im Rollentausch gerade die Rolle seiner Konfliktpartnerin spielt, immer wieder einmal in die Rolle des Protagonisten. 3. Erst wenn Sie sich in dieser Arbeit einigermaßen sicher fühlen, gehen Sie bei Bedarf auch in die Rolle seiner Konfliktpartnerin hinein und spielen diese nach, so wie der Protagonist es vorgegeben hat. Unter Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern wird kontrovers diskutiert, ob und wieweit die Therapeutin im Einzelsetting selbst als Hilfs-Ich im Spiel des Patienten Gegenrollen übernehmen darf. Die Erfahrung zeigt: Die Therapeutin kann jederzeit die Rolle der Selbstrepräsentanz des Patienten gegenüber seiner Konfliktpartnerin einnehmen, wenn dieser gerade im Rollentausch deren Rolle spielt. Das hilft diesem, in die Gegenrolle hineinzukommen. Weil die Therapeutin dabei im Spiel als Doppelgängerin seine Interessen vertritt und verbalisiert, fühlt der Patient sich dadurch in seiner eigenen Position gestärkt. Die Therapeutin kann aber auch in die Gegenrolle der Konfliktpartnerin des Patienten gehen. Moreno (1959, S. 248 ff.) selbst hat das legitimiert, als er in sein Lehrbuch das in Kap. 8.4.1 geschilderte Fallbeispiel, hier Fallbeispiel 57, aufnahm. Problematisch ist das Mitspielen in der Gegenrolle nur bei Patienten mit schweren strukturellen Störungen, weil diese Spiel und Wirklichkeit schwer unterscheiden können (siehe Fallbeispiel 10 in Kap. 4.6). Ein solcher Patient glaubt dann unter Umständen, dass die Aussage der Therapeutin in seiner Gegenrolle »Ich ärgere mich über dich!« die Meinung der Therapeutin selbst ist und macht, im Äquivalenzmodus denkend (siehe Kap. 2.2), keinen Unterschied zwischen einer gespielten Rolle und der Person, die die Rolle spielt. Am besten ist, die Therapeutin folgt ihrer Intuition, wenn sie entscheidet, ob sie als Hilfs-Ich eine Gegenrolle übernehmen will und, wenn ja, wie sie mitspielt. Es gibt bei der Übernahme der Gegenrolle verschiedene Stufen: 1. Die Therapeutin wiederholt außerhalb der Spielszene nur verbal, was der Patient in der Rolle seiner Konfliktpartnerin gesagt hat. 2. Sie wiederholt das stehend hinter dem Stuhl seiner Konfliktpartnerin. 3. Sie setzt sich dazu auf einen zweiten Stuhl neben den Stuhl seiner Konfliktpartnerin. 4. Sie nimmt den Stuhl der Konfliktpartnerin ein und spielt diese nach den Vorgaben des Patienten nach. Empfehlung Bei der Rollenübernahme der Therapeutin als Hilfs-Ich im Spiel des Patienten gilt die Regel: Je hitziger die Auseinandersetzung im Konflikt ist und je aktiver

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sich der Patient mit seiner Konfliktpartnerin auseinandersetzt, desto eher sollte die Therapeutin im Rollentausch die jeweils komplementäre Rolle übernehmen.

Denn auch für Patienten, die eine gute Vorstellungskraft haben, ist es schwer, sich mit einem leeren Stuhl zu streiten. In der direkten Interaktion mit einer Mitspielerin aber, die die Körperhaltung, Gestik und Mimik der Konfliktgegnerin nachahmt, wird der Patient in seiner jeweiligen Rolle ganzheitlicher in die Auseinandersetzung hineingezogen. Das stärkt die leiblich-seelische Erwärmung des Patienten in seinem Konflikt und steigert die Authentizität und Tiefe seiner Selbsterfahrung. Darüber hinaus hilft das Mitspielen der Therapeutin (siehe Fallbeispiel 56, 1. Fortsetzung), die zwei gegensätzlichen Positionen in dem Beziehungskonflikt des Patienten durch das leiblich-seelische Erleben in seinen beiden komplementären Rollen schneller und umfassender zu verstehen als bei bloßem Zuhören. 8.4.7  Die Behandlung in der Gruppentherapie Fallbeispiel 58 (Krüger, 1997, S. 86 f., 143, 226 f., verändert): Herr D., ein 27-jähriger Sozialarbeiter, war von einem Nervenarzt mit der Diagnose »endogene Depression« zum Psychotherapeuten überwiesen worden. Er litt an einer schweren Depression und zusätzlich an einem endogenen Ekzem an den Händen und Unterarmen und einem asthmatisch wirkenden Atemgeräusch. Bei der Anamneseerhebung erschrak der Therapeut über die Intensität des Vaterproblems des Patienten und dachte intuitiv: »Wenn Herr D. sein Vaterproblem erkennen würde, dann bringt er seinen Vater um.« Nach zwei Jahren Psychodrama-Gruppentherapie waren die Depressionen und die Körperbeschwerden des Patienten verschwunden. Er hatte an seinem Arbeitsplatz rebelliert, Gehör bei seinem obersten Chef gefunden und dort für die verschiedenen Berufsgruppen eine neue Aufgabenverteilung durchgesetzt. Außerdem hatte er seine pathogene Familiendynamik und die neurotischen Hintergründe seiner Depression erkannt. Übung 17 Wenn Sie als Leserin oder Leser Psychodramatherapeut sind, was meinen Sie? Welche Art von psychodramatischer Arbeit hat zu dem Behandlungserfolg von Herrn D. geführt? Wie oft hat der Patient sich in seinen 80 Gruppensitzungen beteiligt an Märchenspielen oder Stegreifspielen? Wie oft hat er in protagonistzentrierten Spielen Gegenwartskonflikte und wie oft Kindheitsprobleme bearbeitet? Bevor Sie weiterlesen, notieren Sie bitte auf einem Zettel die von Ihnen vermuteten Zahlen.

Die Behandlung in der Gruppentherapie

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Fallbeispiel 58 (Fortsetzung): Bei einem Mitarbeitertreffen des Moreno-Instituts Überlingen stellte der Therapeut den anwesenden Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern diese drei Fragen: Bei der soziometrisch geführten Abstimmung stellten sich 33 Kolleginnen und Kollegen auf den Platz »protagonistzentriertes psychodramatisches Spielen von Konflikten aus der Kindheit«, drei auf den Platz »Märchen- und Stegreifspiele« und vier auf Plätze für andere Vorgehensweisen. In der Realität hatte Herr D. in seiner zweijährigen Behandlung insgesamt nur zweimal protagonistzentriert ein eigenes Problem bearbeitet. Dabei wechselte er aber nie in eine Kindheitsszene. In dem ersten Spiel zeigte er lediglich, wie er drei Tage vor der Gruppensitzung mit der Eisenbahn von München nach Hause gefahren war. Er brach das Spiel aber von Panik ergriffen ab. In seinem zweiten protagonistzentrierten Spiel setzte er sich gegen Ende seiner Behandlung erfolgreich mit einem »Psychologen« aus seinem gegenwärtigen Arbeitsbereich auseinander. Wie kann man sich dann aber seinen Behandlungserfolg erklären? In den Gruppenprotokollen war zu lesen: 1. Herr D. hatte sich mehrfach fantasievoll an Stegreifspielen beteiligt. 2. Er wurde von anderen Gruppenmitgliedern in deren Spielen zwölfmal in die Rollen von »bösen« oder dominanten männlichen Gegenspielern gewählt. Anfangs behauptete er in den Nachbesprechungen noch: »Ich kann mich nicht streiten!« Er spielte aber als HilfsIch die ihm angetragenen Gegenrollen, um die Protagonistinnen und Protagonisten in ihrem Spiel zu unterstützen, zunehmend authentischer und differenzierter. 3. Er beschwerte sich nach protagonistzentrierten Spielen von anderen Gruppenmitgliedern immer wieder über die Unmenschlichkeit und den Egoismus von Autoritäten, forderte von den anderen Protagonisten zunehmend oft ein, dass diese sich in ihren Beziehungskonflikten besser behaupteten und mehr wehrten, und wurde dadurch in der Gruppe Aktionsführer für das Thema »Aktualisierung des Selbst im Konflikt«. 4. Wenn der Therapeut ihm dann anbot, versuchsweise als deren Doppelgänger seinen Protest nach dem Prinzip der gerechten Beziehungsverwirklichung in deren Spiel einzubringen, übernahm er gern deren Rollen. Er setzte sich in diesen Spielen, in denen die eigentlichen Protagonisten die Rollen ihrer Konfliktgegner übernahmen, offen mit deren autoritären Konfliktgegnern auseinander. Der Patient löste durch das häufige Spielen von »bösen«, dominanten Männerrollen offenbar seine Abwehr durch Projektion auf und entwickelte die innere Objektrepräsentanz seines Vaters auf ähnliche Weise weiter, wie Moreno (1959, S. 221 ff.) das schon im Fall »Robert« (siehe Kap. 6.9.1) gemacht hatte. Seine Neigung zur Abwehr durch Introjektion verlor Herr D. dadurch, dass er als Doppelgänger, stellvertretend für andere gehemmte Patienten, in deren Spielen eine bessere Aktualisierung seines Selbst in Autoritätskonflikten erprobte und dabei indirekt seine eigene innere Selbstrepräsentanz in der Beziehung zu seinem Vater erweiterte und progressiv veränderte. Ohne jemals seinen eigenen Vaterkonflikt psychodramatisch gespielt zu haben, erkannte er gegen

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Ende der Therapie spontan den Zusammenhang zwischen seinen Konflikten und der konflikthaften Beziehung zu seinem Vater und distanzierte sich innerlich bewusst von dessen patriarchalen Erwartungen. Zentraler Gedanke Es ist therapeutisch hilfreich, in der Gruppentherapie die Gruppe als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen (siehe Kap. 2.6.5), in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer spontan versuchen, ihre Beziehungen systemisch gerecht zu gestalten (Krüger, 2011). Die Therapeutin muss die spontanen Reaktionen der Gruppe nur zulassen.

Je unangemessener eine Protagonistin oder ein Protagonist sich im protagonistzentrierten Spiel verhält, desto eher wird in der Nachbesprechung jeweils gerade das Gruppenmitglied gegen die unangemessene Konfliktlösung im Spiel protestieren, das diese Unangemessenheit am wenigsten ertragen kann. Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten mühen sich oft ab, wenn ein Patient in seinem protagonistzentrierten Spiel in Gefügigkeit, Unterlegenheit oder Minderwertigkeit verharrt, diesen psychoedukativ entgegen seiner inneren Abwehr zu einem expansiveren Verhalten zu bewegen, und agieren damit unbewusst mit dem Patienten gemeinsam einen Widerstand aus, der den Fortschritt in der Therapie blockiert. Therapeutisch effektiver ist es, wenn die Therapeutin das festgefahrene Spiel des Protagonisten einfach beendet, in der Nachbesprechung auf systemisch ausgelöste Gegenimpulse von anderen Gruppenmitgliedern wartet und diese dann zur probatorischen, systemisch gerechten Beziehungsverwirklichung im Konflikt des Protagonisten nutzt. Sie fordert dann die Gruppenmitglieder, die spontan protestierten, auf: »Zeigen Sie doch selbst einmal in der Protagonistenrolle, wie Sie sich verhalten würden!« In einer solchen Alternativversion spielt der Protagonist selbst die Rolle seines Konfliktgegners: »Und Sie, Herr Z., gehen dabei in die Rolle Ihrer Ehefrau und spielen diese so, wie Sie glauben, dass diese auf das veränderte Verhalten reagieren würde! Sie kennen sie am besten!« Gemeinsam erproben die Gruppenmitglieder und der Patient im Spiel, ob und wie weit die Konfliktgegnerin des Patienten zu einer gerechteren Beziehungsgestaltung bereit wäre (siehe Kap. 8.4.3). Dieses Vorgehen würdigt das spontane Streben der anderen Gruppenmitglieder nach Aktualisierung ihres Selbst. Die Therapeutin nutzt aber gleichzeitig die zunächst vielleicht destruktiv wirkende Kritik von Gruppenmitgliedern konstruktiv zur Auflösung der Fixierung des Protagonisten in die Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer. Andererseits wird unangemessene Kritik am Verhalten des Protagonisten im Spiel aber erfahrungsgemäß durch den vom Protagonisten

Die Therapie von Depressionen bei Ablösungskonflikten

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gespielten »Konfliktgegner« schnell als Besserwisserei entlarvt. Das therapeutische Nutzen der Tendenz zur expansiveren Aktualisierung des Selbst bewirkt, dass trotz der Behandlung einer Depression mit Angst und Ohnmachtsgefühlen in der Gruppe viel gelacht wird. 8.4.8  Die Therapie von Depressionen bei Ablösungskonflikten Ablösungskonflikte treten dann auf, wenn eine Person ein altes Beziehungssystem verlässt oder wenn dieses zerbricht, zum Beispiel in der Pubertät. Die Identitätsentwicklung des Menschen vollzieht sich im Konflikt zwischen der Aktualisierung ihres Selbst und Anpassung. In der Kindheit gehen die Werte, Normen, Tabus, Abwehrhaltungen, Geheimnisse und Konflikte der nahen Bezugspersonen mit in die vielen Interaktionsprozesse mit dem Kind ein und werden so unbemerkt auch Teil der Konfliktlösungsmuster des Kindes. Dadurch sind vor der Pubertät das Selbst des Kindes und das Selbst seiner Bezugspersonen durch Delegationen, Introjektionen und Identifikationen mehr oder weniger eng miteinander verbunden. In der Pubertät machen die Jugendlichen aber körperliche und seelische Entwicklungsschübe, und sie orientieren sich neu. Wenn diese neue Entwicklung durch die Ursprungsfamilie behindert wird oder sie wegen einer neurotischen Anpassung oder Selbstunsicherheit des Jugendlichen nicht gelingt, kann es zu Depressionen kommen. Depressionen bei Ablösungskonflikten können aber auch bei Erwachsenen auftreten, zum Beispiel bei Ehetrennung, bei Aufgabe der Berufstätigkeit im Alter oder bei Auflösung einer engen Freundschaft. Von C. G. Jung (1985) ist bekannt, dass er von 1913 bis 1918 in eine schwere depressive Krise geriet, nachdem er sich von seinem Freund, Sigmund Freud, getrennt hatte. Zentraler Gedanke Die Ablösung eines Patienten von einem anderen Menschen oder einem Beziehungssystem bedarf über die äußere Trennung hinaus auch der Umstellung seiner inneren Beziehungsbilder. In diesen sind die in länger dauernden Beziehungen entstehenden Verschränkungen von Ich und Du durch Delegation, Introjektion, Projektion und Identifikation aufzulösen. Es reicht nicht, wenn der Betroffene sich bei der Ablösung von einer Bezugsperson nur äußerlich distanziert, er muss auch das Beziehungsgleichgewicht in seinem inneren Beziehungsbild der neuen Situation anpassen. Fallbeispiel 59: Der 35-jährige Herr E. kommt in die Gruppentherapie wegen einer reaktiven Depression und einer neurotischen Selbstwertproblematik. Eines Tages

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berichtet er: »Ich habe Probleme mit meiner Mutter. Vor sechs Wochen rief sie an. Da fragte sie auch, ob ich eine neue Beziehung habe. Ich habe mit ›Nein‹ geantwortet. Dabei habe ich seit drei Monaten einen neuen Freund und fühle mich da sehr wohl. Ich weiß gar nicht, warum ich da gelogen habe.« Herr E. klärt in einem protagonistzentrierten Spiel die Beziehung zu seiner Mutter: Er sitzt auf seinem Stuhl und sieht die Mutter an, die abweisend zum Fenster blickt. Herr E.: »Wir sind so weit entfernt voneinander, ich verstehe das gar nicht!« Herr E. im Rollentausch in der Rolle seiner Mutter: »Du kommst ja auch gar nicht mehr so wie früher, alles ist anders geworden! Bei den Nachbarn, da kommen die Kinder immer zu Besuch, da gibt es Enkelkinder. Bei uns, da weiß ich gar nicht, wie das werden soll.« Herr E. ist schwul. Der Therapeut fragt Herrn E. deshalb in der Rolle seiner Mutter: »Frau E., haben Sie sich eigentlich einmal mit dem Thema Homosexualität beschäftigt, wissen Sie, was das ist?« Herr E. als Mutter: »Ja, schon. Ich möchte aber, dass wenigstens nach außen hin das Bild einer ›normalen‹ Familie aufrechterhalten wird. Ich möchte, dass Jörg mich regelmäßig besucht und regelmäßig anruft.« Wieder in seiner eigenen Rolle protestiert Herr E.: »Eigentlich willst du doch gar nicht, dass ich mit meinem Freund komme. Ich muss immer so sein, wie du mich haben willst. Ich komme dann ja auch immer solo. Du selbst stellst eine Distanz her, nicht ich!« Herr E. in der Rolle der Mutter: »Ich habe schon nachgelesen und im Fernsehen Filme gesehen über Homosexualität. Aber es ist einfach schwer für mich, mir vorzustellen, dass du mit einem Mann zusammen bist, so wie ich mit Papa zusammen bin. Ich kann mir das nicht vorstellen! Und außerdem: Kinder besuchen eben ihre Eltern!« Herr E. wechselt zurück in seine eigene Rolle. Die Mitspielerin wiederholt als Hilfs-Ich die Sätze der »Mutter«. Der Therapeut tritt neben Herrn E.: »Was fühlen Sie eigentlich gerade in Ihrer eigenen Rolle körperlich-gefühlsmäßig?« Herr E.: »Ich fühle mich bedrängt.« Der Therapeut: »Wo fühlen Sie diese Bedrängung, im Kopf, in der Brust, im Bauch?« Herr E.: »Eher im Hals, da ist es eng, ich fühle da einen Kloß.« Der Therapeut verstärkt gezielt die Aktualisierung des Selbst des Patienten (6. Schritt der Therapie, siehe Kap. 8.4.2): »Können Sie der Mutter einmal sagen, dass das Gespräch bei Ihnen einen Kloß im Hals hervorruft?« Herr E. zur »Mutter«: »Ich verstehe gar nicht, dass du das nicht akzeptierst. Du weißt jetzt schon fünf Jahre, dass ich schwul bin. Du sagst immer, du hast das akzeptiert. Ich merke das aber nicht.« In der Nachbesprechung fordert ein Gruppenteilnehmer Herrn E. auf: »Rede doch mit deiner Mutter einmal Klartext!« Der Therapeut fordert diesen Gruppenteilnehmer auf, das in der Rolle von Herrn E. selbst zu probieren und bittet Herrn E., im Spiel in der Rolle seiner Mutter zu »zeigen, wie diese darauf reagieren würde« (7. Therapieschritt). Der Gruppenteilnehmer als Doppelgänger von Herrn E.: »Wenn du davon redest, dass ich so sein soll wie andere, dann geht mir der Hals zu. Ich finde die Distanz zwischen uns eigentlich ganz richtig, da gibt es zurzeit gar keine

Die Therapie von Depressionen bei Ablösungskonflikten

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andere Möglichkeit!« In der Antwort darauf reagiert Herr E. in der Rolle seiner Mutter überraschend übergriffig: »Aber warum sagst du mir dann nicht, dass du einen Freund hast! Du weißt doch, dass ich sowieso alles merke und sowieso alles von dir weiß! Du bist doch mein Sohn! Und ich bin doch deine Mutter! Du kannst doch sowieso nichts vor mir verbergen!« In der Nachbesprechung meint Herr E. spontan: »Ich habe gemerkt, dass meine Mutter mich nur so will, wie ich als Kind war, nicht so, wie ich jetzt bin. Die versteht nichts. Ich glaube, dass die Distanz vielleicht ganz gut ist.« Die Gruppenteilnehmerin, die die Rolle der Mutter übernommen hatte: »Als Mutter war das für mich auch ganz klar. Ich war enttäuscht, keine Enkel zu kriegen!« Der Therapeut: »Ich glaube, Ihr Schwulsein reißt zwischen Ihnen beiden eine existenzielle Kluft auf, die nicht zu überbrücken ist! Das ist für Sie beide eine Frage der Identität. Ein solche Kluft kann man nur überwinden, indem man sie anerkennt. Für Sie selbst ist aber, glaube ich, wichtig, dass Sie Ihre Mutter nicht anlügen. Denn das Lügen führt bei Ihnen zu Minderwertigkeitsgefühlen und macht Sie depressiv!« Zwei Gruppensitzungen später meint Herr E. spontan: »Ich möchte die Beziehung zu meiner Schwester wieder aufnehmen und mit ihr ein Gespräch über meine Familie führen. Meine Schwester lebt 500 Kilometer entfernt. Die hat sich mit meiner Mutter schon vor langer Zeit zerstritten. Ich möchte gern einmal wissen, wie es meiner Schwester jetzt damit geht.«

Wenn ein Patient in einem Ablösungskonflikt im psychodramatischen Dialog seine neue oder erweiterte Aktualisierung seines Selbst ohne Rollentausch in die problematische Beziehung einbringt, löst er dabei nicht die in seinem inneren Beziehungsbild vorhandenen Projektionen auf. Eine wirkliche Ablösung gelingt nur, wenn der Patient weiß, wer die Bezugsperson ist oder war, von der er sich ablöst. Er muss im Rollentausch erkunden, wie die nahe Bezugsperson innerlich »tickt« und sie in ihrem Lebenssinn und ihrem Lebensmythos erkennen. Oft haben Eltern einen Teil ihrer Identität durch Abwehr abgespalten oder verdrängt oder sich diesen Identitätsanteil nur als Fantasie bewahrt. Bei dem Erkunden der Identität der Bezugsperson im Rollentausch integriert der Protagonist in seine innere Objektrepräsentanz der Mutter alle Informationen, die er über sie hat, erweitert diese oft sogar über das hinaus, was die Mutter selbst innerlich über ihre eigene Person jemals zusammenhängend gedacht hat und sucht Antworten auf die Frage: »Wer war die Mutter wirklich? Wer hätte sie sein wollen? Wer hätte sie bei anderen Lebensumständen werden können? Was hat dies verhindert?«

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Zentraler Gedanke Bei einem Ablösungskonflikt soll der Patient durch seine psychodramatische Arbeit mit Rollentausch die Werte, Normen, Aufträge, Konflikte und Abwehrmuster seiner Bezugsperson, seiner Mutter oder seines Vaters, erkennen und sie von seinen eigenen unterscheiden lernen. Das hilft ihm, in seinen realen Beziehungen frei zu werden und nicht mehr automatisch das zu tun, was sein Mutterintrojekt oder Vaterintrojekt von ihm verlangen, oder aus Protest »nur« das Gegenteil zu machen. Der Patient wird dadurch frei, die Wertvorstellungen und Aufträge seiner Eltern bewusst zu übernehmen. Er kann sich aber auch bewusst dagegen entscheiden, sich von den Abwehrmustern seiner Eltern distanzieren und seine eigenen ideellen Werte, die eigenen Normen und seinen eigenen Lebenssinn entwickeln (siehe Fallbeispiel 60). »Wahre Emanzipation setzt immer auch eine Weiterentwicklung des inneren Bildes der Bezugsperson voraus« (Krüger, 1997, S. 232).

Das Thema »Ablösung« liegt auch der Arbeit mit Familiengeheimnissen zugrunde: Ablösung gelingt leichter, wenn man ein vorhandenes Familiengeheimnis kennt und nicht mehr, ohne es zu wissen, die zu dem Familiengeheimnis gehörenden Tabus, Schuldkomplexe, Abwehrmuster oder Verletzlichkeiten mitagiert. Ein Familiengeheimnis zu erfahren, kann bei einem Betroffenen einen Entwicklungsschub auslösen, weil er der Bezugsperson zurückgeben kann, was zu der Bezugsperson gehört. So kommentiert zum Beispiel Bode (2009, S. 55 f.) einen Bericht von einem Mann, der sich mit der Lebensgeschichte seiner Eltern auseinandergesetzt hatte: »Der Enkel begriff, dass die hartnäckigen Schuldgefühle, die ihn selbst immer wieder befielen, von seinem Großvater stammten.« Der Betroffene hatte der Autorin erzählt: »In unserer Familie gibt es den Spruch: ›Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben!‹« Der Großvater war Landwirt in Ostdeutschland gewesen und hatte gezögert, vor der russischen Armee zu fliehen, weil er auf das Vorrücken der amerikanischen Armee gehofft hatte: »Es war der entscheidende Fehler seines Lebens. Nicht nur, dass er alles verlor, was er besaß – er wurde gezwungen anzusehen, wie seine Frau und seine Mutter von Sowjetsoldaten vergewaltigt wurden. […] Ich weiß, die meisten Menschen denken: Mit den Kriegserlebnissen meiner Eltern will ich mich nicht belasten. Für mich aber war es eine Befreiung, als ich endlich die Wahrheit kannte. Es sind Zentner von mir abgefallen! […] Erst danach, als ich die Geheimnisse kannte, habe ich ganz viel verstanden: Warum bei uns immer so große Angst war, warum mein Vater sich so angepasst verhielt, sein extremes Sicherheitsdenken, sein Sparen, Sparen, Sparen.« Die Autorin schreibt: »Seit er seine Eltern als Menschen sehen kann, die durch den Krieg gebrochen waren, gelingt es ihm,

Die Therapie von verlängerten Trauerreaktionen

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sonderbare Verhaltensweisen seiner Mutter, die ihn schnell aufregten, besser zu ertragen.« Der Mann berichtet selbst: »Das zeigt sich unter anderem darin, dass ich mehr Respekt vor der Lebensleistung meiner Eltern habe und ich sie nicht mehr wegen ihrer Ängstlichkeit und ihrer Anpasserei verurteile. […] Ich kann mich einfach abgrenzen […]« Die Mutter dieses Mannes hat sich nach Bode (2009, S. 56) durch die Erkenntnisse ihres Sohnes und die Auseinandersetzung mit ihm neu kennengelernt und könne jetzt manchmal auch einfach genießen. 8.4.9  Die Therapie verlängerter Trauerreaktionen Bei dem Verlust einer Bezugsperson, eines geliebten Tieres oder eines Berufes ist jeder Betroffene gezwungen, sich innerlich und äußerlich auf ein neues Gleichgewicht zwischen Anpassung und Aktualisierung des Selbst umzustellen. Denn in jeder länger dauernden Beziehung verschränkt sich im Laufe der Zeit das Selbst des Einzelnen mehr oder weniger mit dem Selbst seiner Bezugsperson. Das geschieht durch viele Empathie-, Interaktions- und Einigungsprozesse und die damit verbundenen Delegationen, Introjektionen und Projektionen. Bei verlängerten oder schweren Trauerreaktionen hält die oder der Hinterbliebene an der alten systemischen Beziehungsverschränkung mit dem Verstorbenen oder dem Beziehungspartner, der sich getrennt hat, fest. Vermeintliche Erwartungen des Toten müssen erfüllt werden. Zentraler Gedanke Bei Verlust einer Bezugsperson durch Tod wird das alte Beziehungsgleichgewicht nicht mehr von außen bestätigt. Die alten systemischen Verschränkungen in der Beziehung zerfallen. Trauerarbeit ist deshalb Beziehungsarbeit (Krüger, 2003, S. 102  ff.).

In der Beratung oder Therapie lassen sich die Verschränkungen zwischen dem Selbst des Hinterbliebenen und dem Selbst des Verstorbenen am besten auflösen mit der Methode des fiktiven psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch. Dieses Vorgehen aktiviert die Trauerarbeit störungsspezifisch und verflüssigt eventuell vorhandene Blockaden. Der Betroffene integriert dabei die Realität des Todes in sein inneres Bild der Beziehung zu der Bezugsperson. Blatner (2001, S. 41 ff.) schlug für die Beratung Trauernder und für die therapeutische Unterstützung der Trauerarbeit ein strukturiertes Vorgehen vor, das er die »letzte Begegnung« nannte: Die Therapeutin lässt den Patienten in vier Schritten im psychodramatischen Dialog 1. aus der eigenen Rolle heraus der Toten mitteilen, was er mit ihr erlebt und geteilt hat, und 2. im Rollentausch aus der Rolle der

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Verstorbenen heraus auch nach deren Erinnerungen suchen, die diese an den Patienten hat, und diese aussprechen. 3. Anschließend arbeitet der Patient für seine Beziehung zu der Verstorbenen Antworten auf die Fragen heraus: »Was hast du für mich bedeutet?« und 4. im Rollentausch: »Was hat der Protagonist für die Verstorbene bedeutet?« 5. Wenn die Beziehung zu der Toten durch Konflikte gestört war, was sie häufig ist, fordert die Therapeutin den Patienten darüber hinaus auch zu einer letzten fiktiven psychodramatischen Beziehungsklärung mit der Verstorbenen auf: »Gibt es etwas, was Sie Ihrer Mutter gern noch sagen wollen oder was Sie sie noch fragen möchten?« Bisweilen hat der Hinterbliebene unangemessene Schuldgefühle. Oder er hat noch nie gewagt, seiner Mutter zu sagen, dass er sie lieb hat. Solche unvollendeten Geschäfte können und sollten in der »letzten Begegnung« trotz des inzwischen eingetretenen Todes noch nachträglich vollzogen werden, damit die Konflikte und Blockaden im inneren Beziehungsbild sich nicht in die Beziehungsgestaltung auch zu anderen Bezugspersonen ausbreiten. Die fünf Schritte der Trauerarbeit müssen zeitlich nicht in der oben beschriebenen Reihenfolge geschehen. Meistens brauchen die Therapeutin und der Patient dafür mehr als eine Sitzung. Zum Beispiel fällt es einem siebzig Jahre alten Mann, der gerade seine Ehefrau verloren hat, oft schon schwer, sich dem leeren Stuhl seiner »Ehefrau« überhaupt gegenüberzusetzen, den ersten Schritt der Trauerarbeit zu gehen und ihr mitzuteilen, was er mit ihr erlebt hat. Manchmal erzählt der Patient das zunächst auch nur der Therapeutin und wendet sich dabei nicht seiner »Ehefrau« auf dem leeren Stuhl zu. Als Vorbereitung auf den eigentlichen psychodramatischen Dialog kann der Betroffene seine Erinnerungen an die Ehefrau zunächst in einem fiktiven Brief an sie aufschreiben. Es hilft aber der Therapeutin, die angegebenen fünf Schritte der therapeutischen Trauerarbeit als Prozessmodell im Kopf zu haben. Denn dann merkt sie leichter, dass einer oder mehrere dieser Schritte fehlen, und weiß gegebenenfalls, dass die Trauerarbeit noch nicht vollendet ist. Fallbeispiel 60: Der 50-jährige Herr F. fragt im fiktiven psychodramatischen Dialog seinen vor vier Jahren verstorbenen Vater (5. Schritt der Trauerarbeit): »Du bist mir gegenüber immer so distanziert gewesen. Warum hast du mit mir eigentlich nie über persönliche Dinge geredet?« Herr F. in der Rolle des Vaters: »Ich konnte nicht!« Herr F. als Sohn (1. Schritt): »Aber ich habe mich immer so bemüht. Ich habe immer versucht, in der Schule besonders gut zu sein, nur damit du dich freust.« Als Vater: »Ja, ich habe das gemerkt. Ich war stolz auf dich!« Herr F. als Sohn, lauter werdend: »Aber warum hast du mir das nie gesagt!« Herr F. antwortet in der Rolle seines »Vaters« emotionslos, aber deutlich leidend (2. Schritt): »Ich konnte nicht, ich bin

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anders!« Herr F. hatte sich in seiner Kindheit immer stark an den Vater angepasst und seine eigenen Wünsche nach Anerkennung und offener Zuneigung zurückgestellt. Er erzählt: »Zuerst habe ich meinen Vater lange Jahre idealisiert, später habe ich ihn dann entwertet!« Herr F. äußert im Selbstgespräch zwar Zorn, er agiert in der Beziehung zu seinem Vater aber weiterhin sehr verhalten. Deshalb verstärkt der Therapeut, als er im Rollentausch die Rolle von Herrn F. übernimmt, bewusst seinen affektiven Ausdruck in der Rolle. Trotzdem bleibt Herr F. in der Rolle des Vaters weiter sehr distanziert. In einer Zwischenbesprechung teilt der Therapeut dem Protagonisten sein Erleben mit: »Als Sie als Vater sagten ›Ich kann das nicht!‹, da wurde ich in Ihrer Rolle wütend. Ich glaube aber, das war ich, Reinhard! Ich merkte, als ich ähnlich wie Sie die Wut nicht zuließ, wurde ich ganz taub im Gesicht.« Der Therapeut spielt die Rolle von Herrn F. in der Fortsetzung des Dialogs mit dem Vater über die Vorgaben des Patienten hinaus weiter aus: »Was habe ich dir eigentlich bedeutet?« Herr F. sucht in der Rolle seines Vaters lange nach einer Antwort (4. Schritt), dann sagt er mit warmem, intensivem Blick und fester Stimme: »Du bist mein Sohn!« Herr F. und der Therapeut tauschen wieder die Rollen. Der Therapeut spürt in der Rolle des Vaters innerlich in die hohe Intensität der Aussage »des Vaters« hinein und versucht, diese auszudrücken, als er dem Sohn antwortet: »Du bist mein Sohn!« Herr F. ist sehr berührt und antwortet von Herzen kommend (3. Schritt): »Und du bist mein Vater! – Ich würde Sie jetzt am liebsten in den Arm nehmen!« In der Nachbesprechung fragt der Therapeut den Patienten: »Wissen Sie eigentlich, warum Ihr Vater so distanziert war?« Herr F. erzählt aus dem Leben seines Vaters. Dieser war ein fleißiger, sehr angesehener Mann, der sich aber gegenüber allen Menschen distanziert verhielt. Aus dem weiteren Bericht von Herr F. geht hervor, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg als Soldat offensichtlich traumatisiert wurde. Der Therapeut: »Bei traumatisierten Menschen ist das ein häufiges Symptom: Solche Menschen können ihre Gefühle nicht mehr zulassen. Sie haben in der traumatisierenden Situation gelernt, ihre Gefühle abzustellen, um zu funktionieren und handlungsfähig zu bleiben. Wenn sie später dann positive Gefühle wie Liebe zulassen wollen, kommen aber tragischerweise alle nicht verarbeiteten Gefühle aus der Traumasituation auch mit hoch. Die würden den Betroffenen die Kontrolle über sich verlieren lassen, Panik hervorrufen und ihn potenziell unfähig machen, seinen Lebensalltag zu bewältigen und zum Beispiel zu arbeiten. Deshalb stellen viele traumatisierte Menschen unbewusst ihre Gefühle auf Dauer ab, sie leiden dann in der Folge allerdings an mehr oder weniger schweren Beziehungsstörungen.«

In dem Fallbeispiel halfen die Fragen »Was habe ich dir bedeutet?« und die Frage »Was ich dir immer noch sagen wollte …?«, aufzudecken, dass der Patient das

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Depressionen

Abwehrsystem seines traumatisierten Vaters und dessen Kompensation durch Leistung teilweise übernommen hatte. Der Patient konnte durch diese psychodramatische Arbeit das distanzierte Verhalten seines Vaters aber als dessen Selbstschutz vor Kontrollverlust verstehen, er musste sich von ihm nicht mehr abgelehnt fühlen. Das erleichterte es ihm, sein Gleichgewicht zwischen Anpassung und Aktualisierung seines Selbst nicht mehr an dem des Vaters auszurichten, er durfte in seinem eigenen Leben selbst offener und beziehungsfähiger leben als sein Vater. Die »Begegnung« mit einem »Verstorbenen« im psychodramatischen Dialog erfordert, weil es die letzte Begegnung ist, von der Therapeutin oder dem HilfsIch, das die Rolle der oder des Verstorbenen übernimmt, eine hohe Sensibilität und Achtsamkeit. In der Gruppe übernimmt die Therapeutin diese Rolle deshalb oft selbst. Der Protagonist darf sich im Rollentausch auf den leeren Stuhl der verstorbenen Bezugsperson setzen, er soll dort im Spiel auch deren Körperhaltung einnehmen. Die Therapeutin aber setzt sich, wenn sie die Rolle des Verstorbenen übernimmt, meistens auf einen Stuhl neben dem leeren Stuhl des Toten. Dadurch würdigt sie achtsam die existenzielle Ebene der »letzten Begegnung«. Bisweilen tritt sie auch »nur« hinter den Stuhl des Verstorbenen und wiederholt in dessen Rolle die letzten Sätze des Protagonisten, um dann wieder in die Metaposition zur Spielszene zu wechseln. Je intensiver die Auseinandersetzung zwischen dem Protagonisten und dem Verstorbenen wird, desto wichtiger ist es, dass jemand als Hilfs-Ich die Rolle des Verstorbenen auch wirklich ausspielt. Das aktiviert das Denken, Fühlen, Handeln und Wollen des Protagonisten in seiner jeweiligen Rolle ganzheitlicher (siehe Kap. 8.4.6). In der fiktiven Auseinandersetzung mit dem Toten handeln der Protagonist und die Therapeutin wegen der existenziellen Dimension des Themas »Tod« gewöhnlich von allein achtsam, authentisch, stimmig und intersubjektiv wahr, und die Gruppenmitglieder reagieren mit intensiven Sharings, die dem Betroffenen in der Gemeinschaft Halt und Geborgenheit geben. Die 1. Frage und die 2. Frage: »Was habe ich mit dir erlebt und geteilt?« »Was hast du mit mir erlebt?« öffnen in der Trauerarbeit gezielt die Gedächtnisspeicher für die alten Beziehungserfahrungen mit dem Toten. Der Klient oder Patient arbeitet bei der Beantwortung dieser Fragen verdichtet die Geschichte der Beziehung heraus mit ihrer systemischen Aufgabenverteilung, der beidseitigen Aktualisierung des Selbst und der gegenseitigen Anpassung. In dem psychodramatischen Dialog erfasst der Patient durch Rollentausch in beiden Rollen das jeweilige Selbstbild und Fremdbild in der Beziehung und die je eigenen Werte und Normen der Beziehungspartner. Gegebenenfalls kann er Erwartungen, die die verstorbene Bezugsperson auf ihn delegiert hat, an diese zurückgeben oder er nimmt Erwartungen, die er auf den Verstorbenen delegiert hat, in sein eigenes Selbst zurück.

Die Therapie von verlängerten Trauerreaktionen

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Die 3. Frage »Was hast du für mich bedeutet?« und die 4. Frage »Was habe ich für dich bedeutet?« regen den Protagonisten speziell an, die ganzheitliche Bedeutung der Bezugsperson für das eigene Leben und aber auch die ganzheitliche Bedeutung der eigenen Person für das Leben des Verstorbenen zu erfassen und in einem symbolischen Satz zu verdichten. Welche Bedeutung hat der jeweils andere für die eigene Entwicklung gehabt? Bei dieser Symbolisierungsarbeit braucht der Protagonist die einfühlsame Begleitung der Therapeutin. Denn es verlangt eine große kreative Verdichtungsarbeit, um das, was in der Beziehung gewesen ist, innerlich in einem symbolischen Satz oder Bild mit Worten stimmig auszudrücken. In der Therapie einer pathologischen Trauerreaktion besteht manchmal die Indikation, zusätzlich auch Elemente der Traumatherapie anzuwenden. Zum Beispiel kann die Therapeutin den Interaktionsraum zwischen dem Patienten und dem Toten auf der Zimmerbühne mit zwei leeren Stühlen konkretisieren, anschließend zusammen mit dem Patienten in einen davon abgegrenzten Erzähloder Beobachtungsraum gehen, Schulter an Schulter aus dieser Metaposition (siehe Kap. 5.10.6 und Abb. 16) auf den Interaktionsraum des Patienten mit dem Toten blicken und den Protagonisten über die Beziehung sprechen lassen. Dieses Vorgehen verschafft dem Patienten Distanz von seinem Affekt und aktiviert seine Kognition. Bei Bedarf kann die Therapeutin auch Selbststabilisierungstechniken einsetzen und den Patienten zum Beispiel seinen »sicheren Ort« entwickeln lassen (siehe Kap. 5.10.5). Sie kann ihn auch einen leeren Stuhl aufstellen lassen für sein »kompetentes Alltags-Ich« und ihn zwischen diesem und seinem »trauernden Ich« hin und her wechseln lassen, um eine pathologische Regression zu unterbrechen. Je älter die Hinterbliebenen sind, desto mehr schließt die Trauerarbeit bei dem Tod einer Bezugsperson auch immer Gedanken und Ängste vor dem irgendwann einmal eintretenden eigenen Tod mit ein. In einem solchen Fall kann die Therapeutin den Patienten bei Bedarf einen psychodramatischen »Dialog mit dem Tod« (Frede, 2009, S. 35) führen lassen. Dazu wendet sie sich an den Patienten: »Ich stelle mir gerade vor, der Tod säße hier bei uns – vielleicht auf diesem Stuhl. […] Was würden Sie ihm vielleicht sagen wollen?« Die Therapeutin kann den Patienten bei diesem Dialog doppeln und auch zum Rollentausch auffordern: »Wenn der Tod antworten könnte, was würde er sagen?« Nach Frede (2009, S. 36) hat jeder Mensch »bestimmte Vorstellungen über den Tod. Im Dialog mit ihm werden diese Vorstellungsbilder konkretisiert und in Beziehung zur eigenen Situation gesetzt«. Man kann diese Arbeit weiter ausdifferenzieren durch ein »Assoziationssoziogramm« zum Tod (Frede, 2009, S. 36). Die Therapeutin lässt den Patienten dazu auf ein Blatt Papier einen Kreis malen: »Bitte

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schreiben Sie das Wort Tod hinein! Wenn sie an den Tod denken, was kommt Ihnen in den Sinn? […] Machen sie um jeden Einfall einen Kreis und verbinden Sie ihn mit dem Mittelpunkt. […] Stellen Sie sich nun einmal vor, der Tod könnte sich an unserem Gespräch beteiligen. […] Aus welcher dieser Eigenschaften heraus würde er Ihnen etwas sagen?« Dadurch, dass »der Protagonist sich mit den unterschiedlichen Aspekten seiner Todesvorstellung vertraut« macht, »verlieren diese etwas von ihrer lähmenden Macht über ihn«. Das Erstellen des Diagramms und das therapeutische Kommunizieren über die Todesvorstellungen des Patienten »schafft einen gewissen Abstand, der es erleichtert, die mit der eigenen Todesvorstellung verbundenen Gedanken und Gefühle zu beobachten […], ohne sie zu beurteilen, ohne sie festzuhalten oder ihnen auszuweichen. […] Das Ich ist nicht mehr identifiziert mit der Angst, der Trauer, der Sorge um die Zukunft: Ich habe bestimmte Gefühle, aber ich bin nicht diese Gefühle. […] Denn es gibt einen Teil von mir, der diese Gefühle beobachtet (Wilber, 2006, S. 113)« (Frede, 2009, S. 36). Durch eine solche Arbeit entwickelt der Mensch »nicht nur sein eigenes Todesbild, sondern auch seine persönlichen Reaktionen darauf. Manchen Befürchtungen kann er zumindest ansatzweise begegnen. […] Die offene Auseinandersetzung damit in der Therapie trägt dazu bei, dass der Betroffene zumindest die Angst vor diesen Ängsten verliert und er sie zum menschlichen Dasein gehörend anzunehmen lernt: ›Alles was lebt, wird einmal aufhören zu sein – auch ich‹. Im Dialog sehen viele PatientInnen den Tod nicht länger als Feind, sondern als Verbündeten für das Leben […], der ihnen zeigt, was wirklich wichtig ist« (Frede, 2009, S. 36).

8.5 Die Therapie von Depressionen bei Menschen mit Identitätskonflikten bei strukturellen Störungen Anders als bei neurotischen Depressionen ist bei depressiven Patienten mit strukturellen Störungen (siehe Kap. 4.4) ein labiles intrapsychisches Gleichgewicht zusammengebrochen. Als Folge davon ist bei ihnen nicht nur die Aktualisierung des Selbst im Konflikt behindert, sondern auch die Fähigkeit, sich anzupassen und äußere Rollenerwartungen zu erfüllen. Sie geraten in Identitätskonflikte, die auch die Ebene der neurotischen Konflikte und der Aktualkonflikte mit einschließen (siehe Abb. 20). Aufgrund ihrer Defizite im Mentalisierens fehlen Patientinnen und Patienten mit strukturellen Störungen mehr oder weniger stark die inneren Werkzeuge, um ihre Konflikte ausreichend zu verarbeiten. Sie bleiben mit ihrer Seele gleichsam in ihrer inneren Konfliktverarbeitung hängen und entwickeln Selbstwertregulationsstörungen und De-

Die Therapie von Depressionen bei Menschen mit strukturellen Störungen

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pressionen. Oft wird die strukturelle Störung eines depressiven Patienten erst während der Behandlung erkennbar. Eine solche Depression kann Teil einer Persönlichkeitsstörung sein (siehe Kap. 4), einer Traumafolgestörung (siehe Kap. 5), einer Suchterkrankung (siehe Kap. 10), Teil eines krankheitswertigen, abweichenden Verhaltens (siehe Kap. 11), einer Sexualstörung (siehe Kap. 11) oder auch einer chronischen Schmerzstörung. Depressionen mit Identitätskonflikten bei einer strukturellen Störung sind zu erkennen an den folgenden Hinweisen: 1. Je klagloser ein Patient ein auffälliges Ungleichgewicht zwischen Anpassung und Aktualisierung seines Selbst hinnimmt und je weniger Problembewusstsein er für dieses Ungleichgewicht hat, desto wahrscheinlicher ist er strukturell gestört (siehe unten Fallbeispiel 61). 2. Bei rezidivierenden schweren depressiven Episoden ist die Wahrscheinlichkeit einer strukturellen Störung größer als bei einer einmaligen depressiven Episode. 3. In der Phase der Diagnostik gelingt es der Therapeutin trotz allen Bemühens nicht, den Konflikt zu erfassen, der den depressiven Affekt hervorruft. Denn die Patienten haben es aufgrund von Defiziten des Mentalisierens definitionsgemäß schwer, ihren Konflikt zu erkennen. In ihren Beziehungen wechseln sie, ohne es zu bemerken, zwischen verschiedenen inneren Ich-Zuständen (siehe Fallbeispiele 7 und 13) hin und her. Dadurch gerät die Therapeutin bei ihrer Suche nach dem aktuellen inneren Konflikt des Patienten über kurz oder lang immer wieder desorientiert ins Nirgendwo. 4. Weil der Patient wegen der Defizite seines Mentalisierens die Dysfunktionalität seiner Selbstorganisation und Konfliktverarbeitung nicht erkennen kann, innerlich kein symbolisches Bild seines Konfliktes entwickelt hat, kann er bei der Arbeit mit der Tischbühne seinen Konflikt auch nicht mit Steinen auf dem Tisch symbolisieren. Oft legt er diese einfach linear in einer Reihe nebeneinander auf den Tisch. Zentraler Gedanke Je stärker der Patient strukturell gestört ist, desto mehr muss die Therapeutin bei der Arbeit mit der Tischbühne das Aufstellen seiner Seelenlandschaft mit Steinen und Holzklötzen für ihn stellvertretend vollziehen, und desto weniger wird er sie dabei korrigieren. Der Patient kann durch seine Störung für seine Konflikte innerlich keine symbolischen Bilder entwickeln und erlebt deshalb auch keine Differenz zwischen seiner inneren Vorstellung und der äußeren Symbolisierung seiner Seelenlandschaft durch die Therapeutin. Fallbeispiel 61: Die 53-jährige Frau Z. ist seit sechs Jahren frühberentet wegen Depressionen und Erschöpfung und leidet ungefähr dreizehn Tage im Monat unter Migräne (F34.-, G43.0). Frau Z. verbringt ihr Leben weitgehend zu Hause. Ihr Mann

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ist übergewichtig und leidet an einem Stresssyndrom und erhöhtem Blutdruck. Wenn er oft erst um 22 Uhr oder später nach Hause kommt, liest er erst seine E-Mails, bevor das Paar noch »gemütlich ein bis zwei Stunden zusammen« sitzt und nachts um 1.30 Uhr ins Bett geht. Viele der Aktivitäten des Ehemannes sind beruflich nicht erforderlich. Frau Z. meint: »Es hat sich so ergeben.« Als der Therapeut die intelligente Patientin mit der Absurdität dieser systemisch gegensätzlichen Aufgabenverteilung konfrontiert, stellt sich heraus: Frau Z. glaubt, ihren Ehemann in seinen vielen Aktivitäten nicht einschränken zu dürfen, auch wenn sie selbst innerlich schon »immer ganz atemlos« wird, wenn er mittags irgendwann für zwanzig Minuten zum Essen nach Hause kommt. Sie hat als Kind bei ihren traumatisierten Eltern erfahren, dass eigene Wünsche sinnlos waren, und verknüpft entsprechend auch jetzt noch mit über fünfzig Lebensjahren einen eigenen Wunsch sofort mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. Dieses Sinnlosigkeitsgefühl stellt sich bei ihr schon ein, bevor sie einen Wunsch als solchen kognitiv überhaupt wahrnimmt. In den Therapiesitzungen weint sie oft verzweifelt, weil sie hier Zeit und Raum für sich selbst hat und nicht wie üblich angepasst funktionieren muss. Der Therapeut möchte sie in Beziehung bringen mit der Aktualisierungstendenz ihres Selbst und fordert die Patientin auf, für ein Leidensereignis aus der Kindheit ein Bewältigungsmärchen zu schreiben mit einer dazugehörigen märchenhaften Umwandlung, in der sich ihre Wünsche erfüllen würden (siehe Kap. 5.14). In der darauf folgenden Therapiestunde klagt Frau Z.: »Es war unglaublich mühsam, mich überhaupt zu erinnern. Da ist in meinem Kopf wie eine Denkblockade. So als ob da ein Türsteher steht und sagt: ›Da kommst du nicht rein!‹«

Patientinnen und Patienten mit Depressionen als Folge einer strukturellen Störung sind mit der Stühlearbeit (siehe Kap. 4, Fallbeispiele 12, 13, 14, 15, 16), bei einer Traumafolgestörung mit Traumatherapie (siehe Kap. 5, Fallbeispiele 24, 27 28, 31, 35, 39, 40) oder bei einer Suchterkrankung zunächst mit Suchttherapie zu behandeln. Sie können durch Selbstverlust allerdings auch in psychosenahe Depressionen dekompensieren. Dann sind zunächst die im folgenden Kapitel beschriebenen Vorgehensweisen anzuwenden.

8.6  Die Therapie von psychosenahen Depressionen Auslöser für das Auftreten von schweren psychosenahen Depressionen (ICD F31.4, F32.3, F33.3) sind oft der Zusammenbruch eines alten Abwehrsystems oder der Zusammenbruch der Persönlichkeitsstruktur. Das Ich, die Fähigkeit zur Konfliktverarbeitung und das Mentalisieren brechen zusammen. Das Ich

Die Therapie von psychosenahen Depressionen

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ist »ein metapsychologisches Konstrukt, das […] es […] als solches nicht gibt, […] außer wenn es funktioniert, […] es hat weder Gestalt noch Ort – nur Funktion« (Blanck und Blanck, 1980, S. 32). Bei Patienten mit psychosenahen Depressionen ist der innere Fantasieraum in sich zusammengefallen, das Mentalisieren ist tiefgehend gelähmt und defizitär. Die Patienten können ihren depressiven Affekt nicht mit Konflikten der Gegenwart oder Vergangenheit in Verbindung bringen, sie verstehen sich selbst nicht und verstehen auch keine tiefenpsychologischen Deutungen. In ihrem Mentalisieren repräsentieren sie ihr Selbst nicht mehr als autonome Selbstrepräsentanz, die sich innerlich in Konflikten einem Konfliktpartner gegenüberstellen könnte (Krüger, 2012, S. 301). Wegen der Schwere ihrer Depression sind diese Patienten psychotherapeutisch schwer zu erreichen, auch nicht durch Traumatherapie oder die bei strukturellen Störungen sonst hilfreiche Stühlearbeit. Fallbeispiel 62 (Krüger, 2004a, S. 257 ff., überarbeitet): Eine 48-jährige Sozialpädagogin, Frau H., kommt vierzehn Tage nach einer sieben Monate langen (!) Behandlung in einer psychiatrischen Klinik mit der Entlassungsdiagnose ›Depression und psychosenahes Zustandsbild‹ (F32.3) in das Erstgespräch. Es geht ihr schon »wieder genau so schlecht wie vor dem Klinikaufenthalt.« Sie nimmt als Medikamente Antidepressiva, Sedativa und Neuroleptika. Frau H. war ein Jahr zuvor seelisch zusammengebrochen, ausgelöst durch eine Mobbingsituation am Arbeitsplatz (Aktualkonflikt). Sie geht langsam, mit schleppendem Gang und hängenden Schultern in den Raum. Schon bei kleinen Irritationen schreckt sie zusammen. Sie ist unfähig, ihre Depression innerlich mit der Mobbingsituation an ihrem Arbeitsplatz in Zusammenhang zu bringen. Sie will trotz ihrer schweren Depression sofort wieder arbeiten gehen. Das, obwohl sie erkrankt war, weil sie sich durch eine alte neurotische Anpassungshaltung (neurotischer Konfliktraum) viel zu lange an ihrem Arbeitsplatz den real unsinnigen Anweisungen ihrer offensichtlich persönlichkeitsgestörten Chefin gefügt hatte. Wie sich in der Behandlung später herausstellte, war Frau H. eine eigentlich kreativ begabte Frau. Sie hatte als Kind ein gutes intuitives Gespür für Unstimmigkeiten und war, wie sie selbst später sagte, »immer offen und ehrlich«. Tragischerweise führten gerade diese Eigenschaften in der Familie, in der viel abgewehrt werden musste, zu Konflikten. So galt Frau H. als Kind in ihrer Familie immer als »die Schwierige«. Sie war »schwierig« in einer Familie, in der der Vater kriegstraumatisiert war und die Mutter an einer Colitis ulcerosa litt, beides Krankheiten, die mit Abspaltung der Gefühlswelt einhergehen. Konflikte und Störungen wurden durch Rollenzuschreibungen und ein christlich begründetes Liebesgebot blockiert. Frau H. wurde als Kind in ihrer Familie wegen ihrer Ehrlichkeit und Neugier nicht

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geachtet, sondern immer wieder entwertet und latent beschämt, so zum Beispiel, als der Vater ihr einmal in einem Brief schrieb: »Unter vier oder fünf Geschwistern muss es auch ein schwarzes Schaf geben. Aber ein schwarzes Schaf kann man auch lieb haben.« Für die Patientin war die Etikettierung als »schwieriges Kind« mit der Zeit so belastend, dass sie sich im neunzehnten Lebensjahr »entschloss, nicht mehr schwierig zu sein«. Sie wollte nicht immer »komisch sein« oder »dramatisieren«. Denn das hasste sie. Tragischerweise entschied sie sich dadurch, ohne das bewusst anzustreben, sich noch stärker als bisher anzupassen. Die Folge war: Sie hatte immer wieder das Gefühl, »nicht richtig zu sein«. Wörtlich sagte sie später: »Ich zweifle so oft. Andere fühlen sich immer so sicher. Das ist meine tiefste eigene Frage.« Ihre Anpassungshaltung führte nach ihrer Heirat, die ihre persönliche Freiheit durch zusätzliche Verpflichtungen noch stärker einschränkte, zu psychosomatischen Beschwerden. In den ersten beiden Therapiestunden versuchte der Therapeut vergeblich, den massiven Aktualkonflikt zu bearbeiten und mit ihr über den Arbeitsplatzkonflikt zu sprechen, der ihre Depression ausgelöst hatte. Der Therapeut und die Patientin redeten und redeten, sie konnten sich trotz aller Anstrengungen miteinander aber nicht verständigen. Die intelligente Patientin konnte wegen ihres seelischen Zusammenbruchs ihre Konflikte in ihrem inneren Mentalisieren nicht mehr angemessen repräsentieren und miteinander verknüpfen und sie deshalb als solche nicht wahrnehmen. Das zeigte sich zum Beispiel darin, dass sie gegen den Rat des Therapeuten schwer depressiv zur Arbeit ging. Sie wurde von ihrem Arbeitgeber sofort wieder nach Hause geschickt und war voller Scham wegen ihres Zusammenbruchs (Fortsetzungen siehe Kap. 8.6.1–8.6.6). Zentraler Gedanke In der Psychotherapie einer Patienten mit einer psychosenahen Depression muss die Therapeutin oder der Therapeut die Patientin anfangs da abholen, wo ihr Ich ist, in dem Zusammenbruch ihres Ichs. Der Therapeut geht dazu innerlich Schulter an Schulter als Doppelgänger mit in die defizitäre Selbstorganisation des Patienten hinein, aktiviert und strukturiert dort stellvertretend das Mentalisieren der Patientin und hilft ihr, durch Repräsentieren des Erlebten im Als-ob-Modus Realität und Fantasie wieder zu unterscheiden (siehe Kap. 2.2).

Mentalisieren ist die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere situationsbezogen versteht, mit der er Konflikte verarbeitet, nach angemessenen bzw. neuen Konfliktlösungen sucht und seine Handlungen plant.

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8.6.1 Die therapeutische Verständigung durch stellvertretendes Mentalisieren Fallbeispiel 62 (1. Fortsetzung, siehe Kap. 8.6): Um mit der schwer depressiven Frau H. überhaupt in Beziehung zu kommen, bat der Therapeut sie: »Darf ich einmal in Ihre Rolle wechseln? Ich möchte gern wissen, wie es ist, Sie zu sein und so zu fühlen und zu denken wie Sie.« Die Patientin und der Therapeut wechselten die Plätze. Der Therapeut nahm ihre zusammengesunkene Haltung ein, spielte sie nach in dem, was sie gesagt hatte, ließ in sich dabei stellvertretend als ihr Doppelgänger leiblich, seelisch und kognitiv über die innere Realität der Patientin hinaus sein Erleben in ihrer Rolle zu und verbalisierte dieses. Dabei entdeckte er, dass die von der Patientin geäußerten massiven »Panikgefühle« in seinem eigenen subjektiven Erleben »Schuldgefühle waren, nicht zu funktionieren«. Er spürte: »Das Schuldgefühl und die Alarmstimmung gehen bei mir durch Arme und Brust bis zum Nabel hinunter.« Frau H: »Ich fühle das als Krampf bis in den Unterbauch.« Die Patientin machte bei diesem stellvertretenden Mentalisieren des Therapeuten, das im Kapitel 4.6 als Technik ausführlicher beschrieben ist, die Erfahrung, dass ihr leiblich-seelisches Erleben verbal ausgedrückt und von dem Therapeuten verstanden werden konnte. Dieses Vorgehen löste die Blockade der therapeutischen Beziehung auf: In der nächsten Therapiestunde war Frau H. in der Lage, erstmals offen von schon seit mehreren Wochen bestehenden Suizidgedanken zu berichten (Fortsetzung in Kap. 8.6.2–8.6.6).

8.6.2 Die imaginative probatorische Verwirklichung von Suizidfantasien Wenn ein Patient in seinem Denken auf unrealistische Konfliktlösungen oder eine destruktive Krankheitsbewältigung eingeengt ist, ist es therapeutisch hilfreich, wenn die Therapeutin ihn seine Fantasien in einer Art innerem Rollenspiel Schritt für Schritt mit allen Konsequenzen zu Ende denken lässt. Wenn er die realen Folgen seines Handelns erkennt, unterscheidet er wieder Fantasie und Wirklichkeit und integriert dadurch in sein Denken im Äquivalenzmodus das Denken im Als-ob-Modus (siehe Kap. 2.2). Das aktiviert sein Ich und wirkt ichstärkend. Fallbeispiel 62 (2. Fortsetzung): Nachdem Frau H. von ihren Suizidideen berichtet hatte, ließ der Therapeut die in ihrem Mentalisieren eingeengte Patientin über die möglichen Folgen einer eventuellen Suizidhandlung nachdenken. Er ging mit ihr zusammen auf der Ebene der Vorstellung in ihre Symptomsteuerung hinein, ließ sie innerlich ihre Selbstmordfantasien ausgestalten und diese in einer Art innerem

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Rollenspiel mit allen Konsequenzen zu Ende denken. Ihre Fantasie bestand darin, aus der Wohnung ihrer Freundin, bei der sie »zur Strukturierung ihres Alltags« ohne Bezahlung putzen ging, im 23. Stock des Hochhauses aus dem Fenster zu springen. Im Vollzug dieser Fantasie auf der Vorstellungsebene erkannten die Patientin und der Therapeut gemeinsam: Es ging darum zu fliegen und dabei das Gefühl der Freiheit zu spüren, wenn man das Leiden hinter sich lässt. Der Therapeut ließ die Patientin diese Vorstellung aber noch weiter ausgestalten und zu Ende denken: »Und wenn Sie dann unten auf der Erde ankommen würden, was glauben Sie, wie es weitergeht? Was würde dann passieren?« Jetzt erst erkannte Frau H., dass eine solche Suizidhandlung sie körperlich zerstören und ihre Freundin und ihre nahen Bezugspersonen seelisch verletzen würde, und erschrak erstmals bei dieser grausamen Vorstellung (Fortsetzung in Kap. 8.6.3–8.6.6).

Die imaginative probatorische Verwirklichung der Suizidfantasie war therapeutisch, aber auch diagnostisch wertvoll. Denn wäre die Patientin am Ende nicht vor sich selbst erschrocken, dann hätte der Therapeut sie notfallmäßig in eine psychiatrische Klinik einweisen müssen. Das Zu-Ende-Denken der Suizidfantasie im inneren Rollenspiel ließ Frau H. aber die Diskrepanz zwischen ihrer Fantasie und der wahrscheinlichen Realität der Suizidhandlung erkennen. Dadurch gewann sie eine gewisse Distanz zu ihren Suizidgedanken. 8.6.3 Das gemeinsame therapeutische Mentalisieren des Handelns im Alltag Fallbeispiel 62 (3. Fortsetzung): Ab der sechsten Therapiestunde ließ der Therapeut die suizidale Patientin immer wieder gezielt aus ihrem gegenwärtigen Alltag berichten und sie das gerade Erlebte in ihrer Vorstellung in inneren Rollenspielen Schritt für Schritt minutiös nachvollziehen: »Was haben Sie getan? Was haben Sie dabei gedacht? Was haben Sie gefühlt? Was haben Sie dann getan? …« Der Therapeut repräsentierte dabei mit der Patientin zusammen alles, was sie berichtete, mit verschiedenen Steinen und Holzklötzen auf der Tischbühne: ihr »Ich«, ihr »Schuldgefühl«, ihr »Pflichtgefühl«, ihr Bett, ihren »Ehemann« und andere Bezugspersonen. Er ließ sich wie ein naives, neugieriges Kind von der Patientin den Weg durch ihren Alltag zeigen und half ihr, indirekt doppelnd, ihre Gefühle und ihr Denken in Worte zu fassen. Dabei machte er sie jeweils darauf aufmerksam, wenn sie Wahlen getroffen hatte, und stellte zum Beispiel fest: »Ah ja, Sie haben zum Frühstück Tee getrunken, aber nichts gegessen.« Einmal hatte Frau H. zwei Tage nur im Bett gelegen, bis ihr Mann sie überredete, doch noch aufzustehen. Sie erlebte sich für andere »als Zumutung«. Das Bett war für sie eine Höhle gewesen, in der sie sich mit ihrem Schmusekissen

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geborgen fühlte. Haltgebend kommentierte der Therapeut: »Wenn es sich für Sie gemütlicher anfühlte, sich im Bett auf die linke Seite zu drehen, dann war das für Sie die beste Lösung!« In diesem Zusammenhang erwähnte Frau H., dass sie auf dem Weg zur Therapiestunde im Auto »daran gedacht hatte, gegen einen Lastwagen zu fahren«. Der Therapeut erschrak, aber er sah Frau H. ja lebendig vor sich sitzen. Deshalb ließ er sich genau berichten, was sie nach diesem Einfall als Nächstes gedacht und gefühlt hatte: »Irgendein Gedanke hat Sie ja von dieser Vorstellung wieder Abstand nehmen lassen!« Frau H.: »Ich hatte daran gedacht, dass Sie auf mich warten.« Der Therapeut spürte in diesem Moment eine gute Verbundenheit, vertraute ihr intuitiv, gestaltete aber doch das therapeutische Setting mit zwei bis drei Therapiestunden pro Woche noch haltgebender als vorher. Er veranlasste also keine Einweisung in eine psychiatrische Klinik, nachdem sie dort gerade sieben Monate lang behandelt worden war, ohne dass sich ihr Leiden gebessert hatte (Fortsetzung in Kap. 8.6.4–8.6.6).

Wenn es darum geht, zu leben, gibt es kein Richtig oder Falsch. Jedes Handeln einer schwer depressiven Patientin bzw. eines schwer depressiven Patienten ist eine Lösung. Die Lösung ist vielleicht keine gute Lösung, aber es ist die zurzeit für sie bestmögliche. Denn die Seele der Patientin macht nichts umsonst. Bei dem gemeinsamen Mentalisieren des Handelns im Alltag zentriert der Therapeut seine Aufmerksamkeit auf den Umgang der Patientin mit ihren Symptomen und begleitet sie innerlich Schulter an Schulter im Prozess ihres Mentalisierens wie beim Doppeln. Das stärkt das Ich der Patientin und gleicht ihre narzisstischen Defizite und Wunden ein wenig aus. Durch das Repräsentieren jedes einzelnen Denkinhaltes auf der Tischbühne gibt der Therapeut diesem jeweils Bedeutung, auch wenn es nur um die Handlungen im Alltag geht. Jeder Denkinhalt wird im gemeinsamen Mentalisieren in eine kleine, konkrete Erlebnisepisode integriert. Empfehlung Je kränker eine Patientin ist, desto mehr übernimmt der Therapeut bei der Arbeit mit der Tischbühne selbst die Aufgabe, ihre Erlebnisepisoden mit Steinen außen auf dem Tisch zu repräsentieren und nachzuspielen.

Bei der Arbeit mit der Tischbühne symbolisiert der Ich-Stein der Patientin in ihrer Seelenlandschaft das Zentrum für ihr Empfinden der eigenen Existenz und der eigenen Selbststeuerung, er ist zum Beispiel »das Ich, das Schuld empfindet«. Die Existenz dieses Ich-Steins auf dem Tisch aktiviert bei der Patientin die Aktualisierungstendenz ihres Selbst und das Empfinden der Selbsturheberschaft in ihrem eigenen Handeln. Das äußere Symbolspiel mit den Steinen auf

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dem Tisch verbessert über den Regelkreis zwischen der äußeren psychodramatischen Spielproduktion und dem inneren Mentalisieren (siehe Kap. 2.2) die innere Spielfähigkeit der Patientin und richtet so ihren inneren Fantasieraum wieder auf. Der Blick aus der Metaperspektive auf das symbolische Bild ihrer Selbststeuerung stärkt ihre Kognition. Am Ende der Therapie würdigte Frau H. diese kleinschrittige Arbeit des gemeinsamen Mentalisierens einmal mit der Bemerkung: »Wenn ich früher gesagt habe, es geht mir nicht so gut, dann haben Sie mich immer so genau gefragt. Da habe ich dann erst wahrgenommen, was ich wirklich fühle.« 8.6.4 Das Aktivieren des Mentalisierens durch die Arbeit mit nächtlichen Träumen Patienten mit psychosenahen depressiven Episoden können ihre Konflikte erstaunlicherweise trotz ihres seelischen Zusammenbruchs oft weiterhin in nächtlichen Träumen verarbeiten. Das allerdings nur, wenn die Traumarbeit nicht zu stark durch eine hohe Medikation mit Psychopharmaka beeinträchtigt ist. Das »Traum-Ich« der Patientin ist im Gegensatz zu ihrem depressiven »Alltags-Ich« oft sogar sehr aktiv und erlebnisfähig. Der Therapeut kann das nächtliche Mentalisieren der Patientin in Träumen therapeutisch nutzen, um ihre darin vorhandene innere Kreativität zu würdigen, um ihre tagsüber geringe Erlebnisfähigkeit zu aktivieren, um Zugang zu finden zu ihren Konflikten und um diese Konflikte auch der therapeutischen Kommunikation zugänglich zu machen. Fallbeispiel 62 (4. Fortsetzung): Ein erster Fortschritt in der zunächst als Probebehandlung geplanten Therapie von Frau H. wurde in der 10. Sitzung deutlich. Sie berichtete von einem Traum, in dem ein Haus über ihr zusammengebrochen war. Die Trümmer waren auf sie gefallen. Eine Woche später träumte sie nachts sogar von einer großen Kirche, die über ihr zusammengefallen war. Sie wertete diese Traumbilder resignativ als symbolische Bilder für den Zusammenbruch ihrer Hoffnung auf Heilung. Der Therapeut wusste aber: Wenn ein Patient sein seelisches Krankheitssymptom symbolisch in ein szenisches Traumbild umwandelt, ist das in einer Psychotherapie als Fortschritt zu werten (Plassmann, 1999). Die von Frau H. geschilderten Albträume ließen ihn deshalb Vertrauen fassen, dass Frau H. von einer psychotherapeutischen Behandlung profitieren könnte. Er teilte diese Einschätzung der Patientin in einer »Raumdeutung« (Plassmann, 1999) mit: »Ich sehe es so, dass Ihre kreativen Kräfte zumindest in Ihrem Unbewussten wieder stärker werden. Denn Ihr Unbewusstes ist schon wieder in der Lage, Ihren seelischen Zusammenbruch in einem Bild symbolisch darzustellen und sich damit auseinanderzusetzen.«

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Die Würdigung der wieder wachsenden kreativen Kräfte ihres Unbewussten bewirkte bei der Patientin einen weiteren Fortschritt. Das zeigte sich in der darauffolgenden Therapiestunde, wenn auch in etwas grotesker Weise. Frau H. berichtete von einem neuen Traum: »Mein Schwager gab mir eine Pistole in die Hand. Ich hielt diese im Traum an meinen Kopf und drückte ab. Es passierte aber nichts. Ich meinte auch noch im Traum ganz enttäuscht: ›Das geht ja gar nicht!‹« Anders als in den Traumbildern vom Zusammenbrechen des Hauses und der Kirche brach der Tod in diesem Traum nicht mehr »nur« schicksalsmäßig über die Patientin herein. Sie versuchte im Traum jetzt selbst, sich zu töten. Mit dem wieder auftauchenden Empfinden der Selbsturheberschaft in der Steuerung des Symptomhandelns spürte Frau H. jetzt offenbar deutlicher die Verantwortung für sich selbst: Ihr Unbewusstes ließ die Pistole ohne Munition sein und somit den Selbsttötungsversuch misslingen. Allerdings hatte bis dahin die Möglichkeit des Suizids der Patientin ein Gefühl der Freiheit gegeben. Deshalb stöhnte sie jetzt: »Wenn das nun nicht mehr gehen sollte mit dem Umbringen, was ist denn dann? Dann wird es wirklich schwer!« (Fortsetzung in Kap. 8.6.5 und 8.6.6).

8.6.5  Die Geburt des Ichs Bei Patienten mit einer psychosenahen Depression können die in den Kapiteln 8.6.1–8.6.4 geschilderten Therapieschritte helfen, ihr Mentalisieren und ihre Aktualisierungstendenz des Selbst zu aktivieren. Auch Menschen mit einer psychosenahen Depression sind aber nicht ohne Grund depressiv geworden. Deshalb kann die Verbesserung des Mentalisierens einer Patientin ihre Depression scheinbar paradox verstärken. Denn die Patientin nimmt dadurch ja die Dramatik ihrer dysfunktionalen Selbstorganisation klarer wahr. Bei einer psychose­ nahen Depression erhöht die Befreiung des Mentalisierens aus seiner Blockade nicht selten den Leidensdruck. Fallbeispiel 62 (5. Fortsetzung): In der folgenden 14. Therapiestunde erreichte das Leidensgefühl von Frau H. einen Höhepunkt. Gleich zu Beginn berichtete sie: »Es war für mich heute sehr schwer, überhaupt herzukommen. Schon im Bett war das ein Albdruck für mich. Nur mein Mann hat dafür gesorgt, dass das überhaupt geklappt hat.« Die Patientin strahlte tiefes Leiden aus. Der Therapeut nahm zwar ihre Depression wahr, er erkannte aber, dass die Patientin ihr Leiden mehr als bisher innerlich wirklich auch spürte. Er ließ sie deshalb ihr Empfinden des »Albdrucks« wie beim Focusing (Gendlin, 1998) symbolisieren: »Wo fühlen Sie den Albdruck? Welche Farbe hat er? Welche Form? Welche Konsistenz?« Frau H. beschrieb den Albdruck als einen viereckigen, braun-schwarzen, etwa zehn Kilogramm schweren Stein, der

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ihr auf der Brust liegt. Da erinnerte der Therapeut sich: Hinter ihm auf der Ablage lag tatsächlich ein ganz ähnlicher Stein. Er holte ihn hervor und legte ihn auf den Tisch: »Ist der Stein so?« Frau H. wurde weiß im Gesicht und starrte den Stein an: »Dass Sie so einen Stein haben! – Ich kann den gar nicht angucken!« Der Therapeut: »Möchten Sie etwas tun?« Die Patientin: »Am liebsten würde ich ihn nehmen und wegwerfen.« Therapeut: »Machen Sie das!« Frau H. zögerte: »Nein, das geht nicht. Ich müsste ihn durch das Fenster hinauswerfen.« Der Therapeut überlegte ernsthaft, er scheute dann aber doch die Mühe, das Fenster reparieren zu lassen. Er sah den Stein vor der Patientin auf dem Tisch liegen. Da fühlte er: Er konnte den Anblick des schweren Albdruck-Steins vor sich auf dem Tisch selbst nicht mehr aushalten. Er ergriff als Doppelgänger der Patientin für sie stellvertretend den Stein und hielt ihn in seinen Händen: »Wir können den Stein ja auch fortschaffen. Wie weit muss er entfernt sein?« Der Therapeut stand auf, ging mit dem Stein in die hinterste Ecke des Zimmers und legte ihn dort auf den Boden: »Ist das gut so?« Frau H.: »Ja, so ist das in Ordnung. Ich kann ihn jetzt nicht mehr sehen!« Der Therapeut ging zurück auf seinen Platz. Er setzte sich. Er spürte, die Situation hatte sich für ihn entspannt. Aber er fühlte: Der Albdruck bedrohte ihn immer noch aus der Zimmerecke heraus und lähmte ihn in seinem inneren Kontakt mit der Patientin. Er entschied sich, seinem Impuls zu folgen und stand auf: »Ich halte das nicht aus!« Er ging los, holte sich den Stein aus der Ecke des Zimmers und trug ihn aus dem Raum durch den Flur in das Untersuchungszimmer seiner Praxis. Dort legte er ihn in die hinterste Ecke auf den Boden und ging dann zurück in den Therapieraum. Er erklärte der Patientin sein Handeln: »Es geht hier nicht nur darum zu arbeiten, sondern auch darum, sich wohlzufühlen.« Er setzte sich auf seinen Stuhl und spürte neu in die veränderte Situation hinein: »Ja, so ist es besser.« In der therapeutischen Beziehung entstand eine gute Stille. Der Therapeut fühlte sich wohl. Plötzlich sah er, dass Frau H. tief aus ihrem Körper heraus anfing, kathartisch zu weinen. Ihre Atmung verkrampfte sich ähnlich wie bei einem Asthma-Anfall und sie stöhnte: »Das ist so leer in mir, so leer, so leer!« Der Therapeut ließ ihr viel Zeit. Dann teilte er ihr mit, was er erlebte: »Ich habe große Achtung vor der Tiefe Ihrer Gefühle. Sie arbeiten viel, wenn Sie diese hier so zulassen. Ich glaube, dass einen das sehr erschöpfen kann.« Frau H.: »Ich fühle mich immer so schuldig, dass ich hier in der Stunde gar nichts mache!« Langsam, langsam entspannte sich die Patientin. Dann meinte sie spontan: »Ich habe bei meiner Stieftochter immer gegen mein Gefühl gelebt, immer versucht, alles in Ordnung zu bringen und alles zu machen. Meine Stieftochter aber hat mich nicht gemocht. Die wollte immer nur ihre tote Mutter. Mit meinem Mann habe ich über diese Gefühle nie reden können.« In diesen Äußerungen verknüpfte die Patientin in der Therapie zum ersten Mal spontan ihr Leidensgefühl mit einem eigenen inneren Konflikt. Der Therapeut bestätigte diese Mitteilung der

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Patientin als einen bedeutsamen therapeutischen Schritt: »Die Verknüpfung Ihres Leeregefühls mit der Erkenntnis, immer gegen die eigenen Gefühle gehandelt zu haben, macht sehr viel Sinn.« Bei dieser Rückmeldung hielt er sich an eine für die Psychotherapie wichtige Erkenntnis aus der Chaos-Theorie (siehe Kap. 3.2, Abb. 7): In Krisen spontan auftauchende neue Lösungen müssen von außen positiv bestätigt werden, damit der Betroffene sie als solche in seine Selbstorganisation integriert und sie so existent bleibt und nicht wieder im Chaos verloren geht (Schacht, 1992, S. 125) (Fortsetzung in Kap. 8.6.6). Zentraler Gedanke Bei Patientinnen oder Patienten mit psychosenahen Depressionen kann sich in der Therapie durch die Verbesserung des Mentalisierens das Leidensgefühl unter der depressiven Symptomatik verstärken. Wichtig ist, dies gegebenenfalls als Fortschritt in der Selbstentwicklung der Patientin zu verstehen und zu nutzen.

Das gelingt durch die folgenden therapeutischen Interventionen: 1. Der Therapeut interpretiert die Verstärkung des Leidensgefühls explizit als positive Veränderung: »Ihre Beziehung zu sich selbst hat sich verbessert. Das ruft in Ihnen aber alte Gegenkräfte hervor, die Sie wieder einengen und Ihren Fortschritt verhindern wollen.« 2. Er benennt diese inneren Gegenkräfte wie bei dem Erfassen der dysfunktionalen Ich-Zustände mit der Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7) als »übergroßes Schuldgefühl«, als »inneren Ankläger«, als sadistisches Über-Ich oder mit einem anderen ähnlichen Begriff. 3. Er repräsentiert diesen Gegenimpuls mit einem Stuhl oder Stein auf der Zimmerbühne oder Tischbühne auf der Objektebene, bringt ihn so aus dem inneren Erleben der Patientin heraus nach außen und macht ihn dadurch der äußeren Wahrnehmung und dem äußeren Handeln zugänglich. In dem Fallbeispiel geschah das durch das Symbolisieren des »Albdrucks« als großer Stein. 4. Bei Patienten mit einer psychosenahen Depression und einem Zusammenbruch des Ichs kann der Therapeut wie in dem Fallbeispiel als Doppelgänger stellvertretend für die Patientin gegen die Impulse des sadistischen Über-Ichs angehen und dieses aktiv in seine Schranken weisen (siehe Kap. 4.10). Er folgt dabei ganz seiner Intuition und setzt sich hier und jetzt für das Selbst der Patientin so ein wie ein guter Vater, der seinem Kind in einer Notsituation aktiv handelnd aus der Not heraus hilft. Dadurch wird bei der Patientin tendenziell das natürliche innere Selbstheilungssystem aktiviert (siehe Kap. 5.14). Das Selbst der Patientin und ihre Fähigkeit zur inneren Konfliktverarbeitung werden gleichsam neu geboren. Die Patientin gewinnt Problembewusstsein für ihre Anpassungshaltung und ihr masochistisches, selbstverletzendes Denken und Fühlen, ihren »inneren Ankläger«. Sie gelangt dadurch in

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der Therapie aus der Phase der Arbeit an der Symptomsteuerung in die nächste Phase der Arbeit an ihren strukturellen Konflikten. 8.6.6 Die Integration der inneren Umstellung in die inneren Beziehungsbilder Fallbeispiel 62 (6. Fortsetzung): Völlig unerwartet wirkte Frau H. am Anfang der nächsten Therapiestunde stimmungsmäßig wieder sehr bedrückt und keineswegs erleichtert. Sie stöhnte: »Ich fühle mich so schlecht und schuldig, weil ich hier in der Therapie meinen Mann so negativ dargestellt habe.« Der Therapeut war enttäuscht. Er identifizierte sich spontan mit der unterdrückten Aktualisierungstendenz des Selbst der Patientin. Er nutzte seinen inneren Protest aber therapeutisch und wandelte ihn in ein symbolisches Bild um. Er legte den fünf Kilogramm schweren Albdruck-Stein aus der 14. Therapiesitzung vor sich auf den Tisch und klemmte einen nur kirschgroßen, grünen Halbedelstein darunter: »Der große Stein hier ist Ihr Schuldgefühl, das Sie niederdrückt!« Durch das Symbolisieren ihres Schuldkonflikts auf der Tischbühne gelangte die Patientin zu ihrem inneren Konflikt in die Metaperspektive. Das half ihr, ihn auch in ihrem inneren Mentalisieren zu repräsentieren und zu denken. Ihr Schuldkomplex wurde in der therapeutischen Beziehung kommunizierbar. Empfehlung Bei der Symbolisierung eines sadistischen oder strafenden Über-Ichs auf der Tischbühne mit einem Gegenstand sollte der Therapeut in intuitiver Abstimmung mit der Patientin diesen so lange immer wieder durch einen größeren Gegenstand ersetzen, bis die Patientin protestiert: »Nein, der vorige Stein ist groß genug!« Es gilt die Regel: Je größer und gewaltiger der Über-Ich-Stein oder der negative Affekt im Verhältnis zu dem kleinen Ich-Stein der Patientin aussieht, desto eher entwickelt sie Mitgefühl mit ihrem unterdrückten oder geängstigten Ich. Fallbeispiel 62 (7. Fortsetzung): In den folgenden zwölf Therapiestunden symbolisierte der Therapeut den Schuldkomplex von Frau H. geduldig und konsequent immer wieder mit denselben zwei Steinen auf dem Tisch. Das half, die therapeutischen Gespräche thematisch zu zentrieren und energetisch zu dynamisieren. Wenn die Patientin über ihre aktuellen negativen Gefühle und Körperempfindungen sprach, sah sie auf dem Tisch das Bild ihres Schuldkonfliktes vor sich und assoziierte dann spontan Beziehungsproblematiken aus ihrer Lebensgeschichte, in denen sie sich schuldig gefühlt hatte. Anders als zu Beginn der Therapie war dabei die Aktualisierung ihres Selbst im Mentalisieren ihrer inneren Beziehungsbilder jetzt aber existent als ein »Ich«, das sich jemand anderem gegenüber schuldig fühlt.

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Der Therapeut lernte an diesem Fallbeispiel, dass innere strukturelle Umstellungen viel Zeit brauchen, um in den Gedächtnisstrukturen dauerhaft verschaltet zu werden und sich einzunisten. Denn erst nach sechs Wochen dieser konsequenten »Verknüpfungsarbeit« (Fuhr, 1994, mündliche Mitteilung) meinte Frau H. in der 25. Therapiesitzung plötzlich: »In der letzten Stunde habe ich beim Hinausgehen das erste Mal das innere Gefühl von etwas Leichtem in mir gespürt.« Der immer wieder neue Blick auf ihren riesigen Schuldstein auf dem kleinen Ich-Stein ermöglichte es der Patientin, sich im Nachdenken über ihre Konflikte innerlich als ein Gegenüber von ihren Konfliktpartnern wahrzunehmen. Sie hatte bis dahin mit keinem Menschen über die auslösende Mobbingsituation an ihrem Arbeitsplatz gesprochen. Jetzt aber verknüpfte sie ihre Gefühle von Ohnmacht, Alleinsein und Ausgeliefertsein von allein mit diesem traumatisierenden Konflikt. Sie erzählte dem Therapeuten, wie sie damals als Sozialpädagogin bei ihrer Arbeit mit Behinderten mit ihrem kreativen, engagierten Arbeitsstil gescheitert war: In ihrer Gruppe hatte sie die Behinderten, wenn sie eingenässt hatten, neu einkleiden müssen. Sie war von schwerbehinderten, verhaltensgestörten Jugendlichen wiederholt geschlagen worden. Die zweite in der Gruppe mit eingesetzte Arbeitskollegin floh immer für eine Stunde auf die Toilette, wenn es schwierig wurde. In dieser Notsituation bat Frau H. ihre Chefin, die einige Jahre später wegen einer psychischen Erkrankung frühberentet wurde, um Hilfe. Dieser fiel aber nichts Besseres ein, als Frau H. absurderweise vorzuschreiben, dass sie mit den Jugendlichen in Zukunft fachliche Übungseinheiten in Rechnen, Biologie und anderen Fächern praktizieren sollte von jeweils einer Viertelstunde Dauer. Sie sollte ihre Arbeit und deren Erfolge genauestens protokollieren und ihr diese Aufzeichnungen jeden Tag zur Kontrolle vorlegen. Regungslos meinte Frau H. jetzt: »Die anderen in der Einrichtung haben sich nicht um die Chefin gekümmert. Die haben das nur irgendwie mitgemacht! Ich hatte nur Angst!« Nach drei Monaten der Arbeit an ihrem »Schuldkonflikt« benannte Frau H. den kleinen grünen Ich-Stein, der auf der Tischbühne von dem großen Schuld-Stein so unerträglich belastet wurde, mit dem Begriff »Gefühls-Ich«: »Das ist mein eigener Wille, der bei mir verschüttet gewesen war.« Sie ergänzte das äußere symbolische Bild ihrer inneren psychischen Selbstorganisation noch um einen dritten Stein für ihr »angepasstes Ich« und meinte: »Ich habe das früher gar nicht alles gemerkt. Ich habe das einfach immer alles gemacht.« Dieses äußere symbolische Bild auf dem Tisch half der Patientin zu erkennen, in welchem der drei Ich-Zustände sie sich bei dem Nachdenken über Beziehungskonflikte jeweils gerade befand, in ihrem strafenden Über-Ich, in ihrem Selbstschutz durch Anpassung oder in ihrem gesunden Denken und Fühlen. Durch das Verstehen ihrer speziellen dysfunktionalen Selbstorganisation (siehe Kap. 4.8) konnte sie sich jetzt auch im Alltag in Konflikten leichter selbst behaupten. So berichtete sie zum Beispiel in der 81. Therapiestunde, ihr Ehemann

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habe ihr geraten, »wegen ihrer Selbstwertprobleme wieder arbeiten zu gehen«. Sie habe aber sofort protestiert: »Ich langweile mich aber gar nicht, ich bin ausgefüllt. Ich entdecke für mich so viele Sachen ganz neu: Ich male, ich mache Englisch, und zum ersten Mal machen mir die Dinge im Haushalt richtig Spaß. Ich habe Interessen entwickelt! Ich will nicht, dass mir jemand sagt, was ich tun muss!« Als der Therapeut dies als »persönlichen Fortschritt« würdigte, reagierte die Patientin sehr betroffen und meinte: »Die Arbeit in der Behinderteneinrichtung damals hat mein Selbst völlig infrage gestellt!« Unerwartet brach sie in ein erschütterndes kathartisches Weinen aus, das ihren ganzen Körper ergriff und stöhnte: »Nie genüge ich! Ich will das nicht mehr! Ich will mich nicht mehr bestimmen lassen von Idioten!« Dieser Satz: »Ich will es nicht mehr! Ich will mich nicht mehr bestimmen lassen von Idioten!« wurde in der weiteren Psychotherapie zum Schlüssel und Fokus für ihre weitere Entwicklung. Zwei Monate später träumte die Patientin nachts von einem neu gebauten Haus, in das sie einzieht. Frau H. war durch ihre schwere Depression drei Jahre lang frühberentet. Auf ihren eigenen Wunsch hin ging sie zwei Jahre vor Ende der niederfrequent auslaufenden fünfjährigen Therapie wieder in ihre alte Institution arbeiten. Dort setzte sie gegen alle Widerstände durch, dass sie nicht mehr in Gruppen tätig sein musste und nur noch in der Einzelförderung zu arbeiten hatte. In ihrem letzten nächtlichen Traum am Ende der Psychotherapie steht Frau H. zusammen mit ihrem »Therapeuten« auf einer Bergwiese und unterhält sich. Dann verabschiedet sie sich aus eigenem Entschluss und »fährt in ihrem Triumph-Sportauto davon.« Früher gab es einen solchen Sportwagen mit dem Namen »Triumph«. Frau H. steuerte im Traum ihr Auto selbst, sie konnte sich also wieder selbst steuern und verließ den Therapeuten im übertragenen Sinn »im Triumph«. In der Fortsetzung des Traumes steigt sie dann aber doch noch auf ein Fahrrad um und denkt: »Jetzt brauchst du aber viel Zeit!« Im therapeutischen Gespräch meinte Frau H.: »Ich will mir jetzt auch in meinem Lebensalltag Zeit lassen.« Die Patientin war auch zehn Jahre nach dem Ende ihrer psychotherapeutischen Behandlung noch nicht wieder psychisch erkrankt.

Die Behandlung von Frau H. fand vor mehr als 20 Jahren statt zu einer Zeit, als ich die in den Kapiteln 4 und 5 dieses Buchs dargestellten Modelle der störungsspezifischen Therapie von Menschen mit Traumafolgestörungen und strukturellen Störungen noch nicht entwickelt hatte. Die ersten 25 Sitzungen ihrer Behandlung würde ich auch heute noch nach dem hier beschriebenen Prozessmodell der Therapie von psychosenahen Depressionen durchführen. Ab dem Zeitpunkt, an dem Frau H. ihre Depression von sich aus mit auslösenden Beziehungskonflikten in Zusammenhang bringen konnte, würde ich heute aber Elemente der Traumatherapie und die Stühlearbeit (siehe Kap. 4.7) einsetzen und die Patientin ab etwa der 50. Sitzung noch viel häufiger mit dem psycho-

Die Grenzen der Therapie bei psychosenahen Depressionen

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dramatischen Dialog und Rollentausch an den inneren Beziehungsbildern zu Bezugspersonen aus der Gegenwart und der Kindheit arbeiten lassen. 8.6.7  Grenzen der Therapie bei psychosenahen Depressionen In der Psychotherapie von Patienten mit psychosenahen Depressionen ist alles gut, was diesen schwer leidenden Menschen hilft. Einmal war eine Patientin, eine 48-jährige Hausfrau, im Rahmen einer schizoaffektiven Psychose (F25.1) lange Zeit tief depressiv in einer fast stuporösen Hilflosigkeit gefangen. Ihr sehr fürsorglicher Ehemann nahm ihr die gesamte Arbeit im Haushalt ab. Erst als der Therapeut von ihr forderte, sie solle jeden Tag nach dem Mittagessen wenigstens einen Löffel, nur einen einzigen, aus dem Esszimmer in die Küche tragen, und als sie das zu Hause dann auch wirklich tat, tauchte sie allmählich aus ihrer Depression auf. Die dysfunktionale Selbstorganisation von Patientinnen und Patienten mit psychosenahen Depressionen ist, auch wenn der Therapeut die Patienten geduldig und achtsam psychiatrisch-psychotherapeutisch begleitet, in einigen Fällen psychotherapeutisch wenig beeinflussbar. Aber manchmal bessert sich die Symptomatik dann überraschend doch noch, zum Beispiel dadurch, dass der Therapeut nach langem Mittragen des Leidens der Patientin nach dem »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.) explizit seine eigene Überforderung und Hilflosigkeit mitteilt und sie aber trotzdem nicht allein lässt oder in eine Klinik einweist. Fallbeispiel 63: Frau I., eine Krankenschwester mittleren Alters, war schwer depressiv erkrankt und kam nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in die ambulante Psychotherapie. Sie war nach zwei Operationen schon drei Jahre lang arbeitsunfähig. In diesen drei Jahren ihrer Depression hatte sie alle ihre Therapeuten stationär und ambulant zur Verzweiflung gebracht mit dem wie ein Mantra immer wieder tief leidend vorgetragenen Satz: »Ich kann nicht denken, ich bin verblödet!« Ein halbes Jahr lang erprobte der Therapeut verschiedene stützende Therapieansätze. Durch die vorbehaltlose, gutelterliche Zuwendung entstand eine tragfähige therapeutische Beziehung. Der Neubeginn trat bei der Patientin aber erst ein, nachdem der Therapeut voller Verzweiflung seine Helferhaltung aufgab, ihren »Spruch« ernst nahm, und der Patientin offen mitteilte: »Ich weiß auch nicht mehr weiter. Ich glaube, es stimmt: Vielleicht haben Sie ja wirklich einen Hirnschaden!« Diese Kapitulation des Therapeuten führte bei der Patientin zur inneren Wende und zum Neubeginn ihrer Denkfähigkeit. Erst später erkannte der Therapeut, dass ihre Aussage in einem übertragenen Sinne tatsächlich zutraf! Die Patientin war durch zwei notfallmäßige Operationen, durch eine nachfolgende chronische körperliche

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Erkrankung und durch dadurch erforderliche, demütigende pflegerische Manipulationen seelisch traumatisiert worden. Sie hatte offensichtlich unter einer dissoziativen Störung gelitten. Die Aussage der Patientin »Ich kann nicht denken, ich bin verblödet!« schilderte sehr zutreffend den eingefrorenen Zustand ihres Mentalisierens.

In diesem Buch wird die Therapie von Depressionen im Rahmen einer früher sogenannten endogenen depressiven Erkrankung oder einer bipolaren affektiven Störung (ICD-10 F31.-), bei der manische und depressive Krankheitsepisoden einander abwechseln, nicht beschrieben. Die Manie ist nach Mentzos (2011, S. 213) »als antidepressive Abwehr aufzufassen. […] Die Abfolge von Depressionen und Manien entspricht sich wiederholenden Sequenzen einer sich selbst erniedrigenden Unterwerfung gegenüber dem Über-Ich und dem Schicksal einerseits und der illusionären, manischen Verleugnung und exzessiven Selbstüberschätzung, die aber nur kurz dauern kann, andererseits«. Auch depressive und manische Psychosen »brechen oft nicht aus heiterem Himmel aus, sie werden zumindest teilweise durch schwere Trennungen, Erkrankungen, Verluste ausgelöst« (Mentzos, 2011, S. 312) bei schon vorher vorhandenen fragilen Störungen der Selbstwertregulation. Bei diesen Patienten haben »in der Kindheit erlittene Traumatisierungen, Enttäuschungen und Frustrationen eine Überempfindlichkeit gegenüber den genannten Auslösern hinterlassen«, die bei entsprechenden neuen Auslösern zum Ausbruch von depressiven oder manischen Phasen führen. Die Diagnose »bipolare Störung« wird von Psychiatern meiner Erfahrung nach zu häufig gegeben. Auch wenn bei bipolar erkrankten Patienten eine gewisse organisch bedingte Übererregung bzw. eine biologische Labilität (Mentzos, 2011, S. 212 und 214) anzunehmen ist, sind oft doch die begrenzten therapeutischen Ressourcen der Grund dafür, dass diese Diagnose gestellt wird. Denn wenn der Arzt eine biologisch bedingte Erkrankung annimmt, lässt sich leichter rechtfertigen, dass er sich weitgehend auf die Gabe von Psychopharmaka beschränkt. Meiner Erfahrung nach erweisen sich viele der Depressionen, die von Psychiatern als depressive Psychose im Rahmen einer »bipolaren Störung« (F31.-) diagnostiziert werden, im Laufe der Behandlung als eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, eine dissoziative Störung oder eine Traumafolgestörung. Eine sogenannte manische Phase kann psychodynamisch zum Beispiel die Funktion haben, das Einspringen eines alten Traumafilms aus der Kindheit kompensatorisch abzuwehren. Bei der Diagnosestellung einer »bipolaren Störung« fließt neben dem diagnostischen Wissen offensichtlich auch mit ein, welche zeitlichen Ressourcen die Therapeutin oder der Therapeut in einer Psychotherapie zur Verfügung stellen kann und will. Auch sind die Erfolge einer

Medikation mit Psychopharmaka

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Psychotherapie von Patientinnen und Patienten mit schweren Depressionen abhängig von der Möglichkeit und Bereitschaft der Patienten bzw. ihrer Krankenversicherungen, die Kosten für eine Langzeitpsychotherapie zu übernehmen. Die psychotherapeutische Behandlung einer Patientin oder eines Patienten mit einer psychosenahen Depression sollte am Anfang der Behandlung wegen des inneren Chaos der Patienten und des kleinschrittigen therapeutischen Vorgehens besonders haltgebend sein und erfordert in den ersten 3–6 Monaten deshalb zwei Sitzungen pro Woche von 50 Minuten Dauer. Nach Besserung des Zustandsbildes kann die Frequenz der Sitzungen auf eine Stunde pro Woche reduziert werden. Bei schweren Depressionen mit strukturellen Konflikten dauert die Behandlung, wenn man die niederfrequent auslaufende letzte Therapiephase mit einbezieht, oft insgesamt fünf Jahre, bei neurotischen Depressionen oft »nur« zwei Jahre. Bei chronischen Verläufen kann es wichtig sein, dass der Therapeut die Patienten nach dem Ende der eigentlichen Psychotherapie auf Dauer weiter mit einer Sitzung im Monat begleitet, um sie durch den Halt in der therapeutischen Beziehung beruflich oder, falls das nicht möglich ist, wenigstens in ihren privaten Beziehungen und im Umgang mit sich selbst zu stabilisieren. Oft unterschätzen Therapeuten, wie wichtig eine dauerhafte, haltgebende therapeutische Beziehung für die Patienten sein kann.

8.7  Medikation mit Psychopharmaka Es fällt auf, dass Patientinnen und Patienten mit schweren Depressionen, wenn sie nach einem Klinikaufenthalt oder von Psychiatern überwiesen in Psychotherapie kommen, relativ häufig unter einer sehr hoher Medikation mit Psychopharmaka stehen. Nicht selten werden dabei Antidepressiva, Sedativa und Neuroleptika kombiniert. Diese Medikation wird dann eventuell auch noch durch Antiepileptika ergänzt »zur Vorbeugung gegen erneute bipolare Stimmungsschwankungen«. Manchmal kommen die Patienten, wie zum Beispiel die in den Fallbeispielen 62 und 63, in Mimik und Gestik mehr oder weniger steif, ohne Mitbewegung der Arme beim Gehen, kleinschrittig und im Gesicht aufgequollen in das psychotherapeutische Erstgespräch. Während einer Psychotherapie von Patienten mit schweren Depressionen ist die Medikation möglichst früh auf ein angemessenes Maß zu reduzieren. Sonst besteht die Gefahr, dass die Patienten durch die Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente, zum Beispiel durch die Einschränkung ihrer Kognition, die Psychotherapie nicht ausreichend nutzen können. Bei vielen von ihnen reicht schon eine angemessene Medikation allein mit Antidepressiva, eventuell ist diese noch zu ergänzen durch ein leich-

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tes Schlafmittel. Dazu kann in Krisenzeiten bei Bedarf eine kleinere Dosis eines Neuroleptikums gegeben werden, weil dieses in akuten Belastungssituationen die Sensibilität für das Empfinden von Konflikten vermindern kann. In der Psychotherapie müssen die krankhaften seelischen Zustände aber real in Erscheinung treten, damit sie psychotherapeutischen Interventionen zugänglich werden. Empfehlung Bei der Medikation mit Psychopharmaka gilt die allgemeine Regel: Je dichter die therapeutische Beziehung ist, desto weniger Medikamente sind erforderlich.

Bei in Krisenzeiten zwei oder drei 50-Minuten-Sitzungen in der Woche kann die Medikation stärker vermindert werden als bei »nur« einem Termin pro Woche. Psychotherapiesitzungen ersparen einen Teil der finanziellen Aufwendungen für die oft sehr teuren Psychopharmaka. Medikamente verbessern oft »nur« die Symptome, Psychotherapie aber heilt oder verhindert oft chronische Erkrankungen, lange Krankschreibungen und frühzeitige Berentungen und ist deshalb langfristig kostengünstiger.

8.8  Suizidale Krisen Wenn man Menschen behandelt oder berät, die suizidal sind, kann man nicht alle vor dem Tod retten. Auch bei einem Kardiologen, der Patienten nach einem Herzinfarkt behandelt, sterben einige der Patienten. Die Therapeutin oder der Therapeut wird vom Suizid eines Patienten meistens innerlich getroffen und überprüft im Nachhinein das therapeutische Handeln. Sie oder er kann aus dem Suizid eines Patienten zum Beispiel lernen, bei Suizidgefährdeten angesichts ihrer existenziellen Bedrohung mutiger und unkonventioneller auch außerhalb der gewohnten Bahnen Hilfestellung zu geben. Bisweilen muss Hilfe auch gegen den Willen des Patienten geschehen. Fallbeispiel 64: Eine junge, akut psychotisch dekompensierte, suizidale Patientin, Frau J., wurde von ihrem Therapeuten vor 20 Jahren aus ihrer Psychotherapiegruppe heraus zwangseingewiesen. Die Polizisten trugen die um sich schlagende, schreiende Frau aus den Praxisräumen den Hausflur hinunter auf die Straße und brachten sie mit angemessener körperlicher Gewalt in dem Krankenwagen unter. Frau J. ist heute noch am Leben, sie ist berufstätig und kommt mit ihrem Ehemann regelmäßig in die Praxis. Sie freut sich jedes Mal herzlich, den Therapeuten zu sehen, und auch ihr Ehemann lächelt zugewandt.

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8.8.1 Das Einbetten des suizidalen Impulses in den dazugehörigen Konflikt Ein gelungener Suizid verletzt mehr oder weniger stark auch andere Menschen. Er ist ein Tabubruch, ein Verstoß gegen den Sinn der Gemeinschaft der Menschen, deren ursprüngliche Aufgabe es unter anderem ist, das Überleben der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft zu sichern. Eine solche Gemeinschaft kann die Familie sein, die Mitarbeiter am Arbeitsplatz, der Freundeskreis oder die Nachbarn. Mit einem Suizidversuch zeigt der Patient dieser Gemeinschaft unausgesprochen, dass sie an einer wichtigen Aufgabe gescheitert ist oder zu scheitern droht. Ein Suizid stellt immer die Identität der Gemeinschaft infrage. Die Suizidalität eines Menschen macht Angst. Suizidale Patienten mentalisieren oft im Äquivalenzmodus und denken sich ihre Konfliktsituation so zurecht, dass es tatsächlich keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung zu geben scheint. Deshalb ist es wichtig, dass die Therapeutin sich mit ihren Interventionen nicht gegen die Suizidimpulse des Patienten stellt, sondern innerlich doppelnd Schulter an Schulter mit ihm zusammen Schritt für Schritt den Weg nachvollzieht, wie es zu seinen Suizidgedanken gekommen ist. Auch hier gilt der Grundsatz: »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst.« Die Therapeutin sollte den Patienten als einen Menschen verstehen, der in dem Prozess seiner inneren Konfliktverarbeitung halb bewusst, halb unbewusst zu dem Ergebnis gekommen ist: »So kann ich nicht leben!« Offen ausgesprochen kann dieser Satz das eingeengte Denken des Patienten öffnen, die Aktualisierungstendenz seines Selbst aktivieren, ihm helfen, nach dem seinen suizidalen Impuls auslösende Konfliktfeld zu suchen, darin die Bedingungen, Regeln und Glaubenssätze zu erfassen, die ihm das Leben in der Gemeinschaft subjektiv unmöglich machen, und diese Annahmen eventuell infrage zu stellen. Empfehlung Bei Menschen mit suizidalen Krisen ist es wichtig, dass die Therapeutin den zu dem Suizidimpuls des Patienten gehörigen systemischen Konfliktrahmen und die Entstehungsgeschichte des Konflikts herausarbeitet. Durch das Nachvollziehen des Weges, der zu dem Suizidimpuls geführt hat, führt der Patient den Als-ob-Modus des Denkens in sein Denken im Äquivalenzmodus ein (siehe Kap. 2.2). Die Einbettung des Suizidimpulses in die dazugehörigen Konflikte gelingt leichter, wenn die Therapeutin dazu die Tischbühne benutzt. In der Seelenlandschaft des Patienten wird sein Suizidimpuls außen auf dem Tisch durch einen schwarzen Stein symbolisiertert und so außen real im Zusammenhang mit seinen Konflikten sichtbar, die Entwicklung seines Konflikts wird mit Steinen als

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Zeitlinie repräsentiert. Das lässt den Patienten seinen Suizidimpuls auch in in seinem inneren Mentalisieren in das dazugehörige Konfliktsystem integrieren und löst die Einengung seines Denkens auf. Fallbeispiel 65: Eine 17-jährige, äußerlich sehr attraktive Schülerin, Frau K., kommt wegen Schulverweigerung in die Beratungsstelle. Die Mutter schimpft: »Sie liegt zu Hause nur noch in ihrem Bett.« Bei der therapeutischen Arbeit mit dem Mädchen benutzt die Therapeutin die Tischbühne und symbolisiert auf dem Tisch mit Steinen eine Zeitlinie für die Entwicklung der seelischen Krise. Schon seit drei Jahren denkt die Schülerin immer wieder einmal daran, sich das Leben zu nehmen. Die Suizidfantasien hätten sich aber nach einem Schwangerschaftsabbruch vor sechs Monaten verstärkt: »Ich hasse meinen Freund, dass er mir das angetan hat!« Die Patientin ergänzt: »Meine Mutter hat mir zu dem Abbruch geraten. Meine Mutter hat selbst mit fünfzehn Jahren ihr erstes Kind bekommen und wollte mich davor bewahren.« In der Gegenwart hält sich die Schülerin tief depressiv nur noch zu Hause auf. Sie träumt in ihrem Bett von der Beziehung zu ihrem früheren Freund, alles erscheint ihr sinnlos und leer: »Ich möchte nur sterben.« Wie zufällig erwähnt sie bei dem Blick auf die Tischbühne aber auch einen neuen Freund: »Wenn ich mit dem zusammen ausgehe, dann denke ich nicht daran zu sterben. Von dem möchte ich gern irgendwann ein Kind haben! Aber meine Mutter verbietet mir den Kontakt mit ihm!« Die Therapeutin legt zwei Steine neben den Zukunftsstein, einen für den Freund und einen für das gewünschte Kind. Der schwarze kleine Stein für den »Selbstmord« liegt auf dem Tisch ganz nah an dem Stein, der die Gegenwart markiert. Die Therapeutin fürchtet um das Leben des Mädchens und ist ratlos. Dann aber denkt sie die Selbsttötungsfantasie des Mädchens konsequent weiter: »Wenn du dir das Leben nimmst, musst du dich aber auch von deiner Zukunft verabschieden, von deinem neuen Freund und dem Kind, das du dir wünschst! Oder es gibt die Möglichkeit, du läufst von zu Hause weg und probierst aus, mit deinem Freund zu leben. Wenn das dann nicht gehen sollte, kannst du immer noch sterben, das Sterben kann dir am Ende keiner nehmen! Wenn du aber tot bist, kannst du nicht ausprobieren, wie es mit dem Freund und mit dem Kind wäre! Weißt du, es geht wirklich um dein Leben! Dein Leben ist wichtiger, als dass du deiner Mutter gehorchst!« Die Therapeutin erzählt dem Mädchen das Märchen von Rapunzel, die auch von einer »Mutter« in einen Turm eingesperrt worden war, um sie vor den »bösen Männern« zu bewahren: »Die wurde auch schwanger, von einem Prinzen. Sie wurde dann verstoßen und hat zwei Jahre lang mit ihren beiden Kindern nach dem Prinzen gesucht, bis sie ihn wieder fand.«

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Zentraler Gedanke Es gibt nach Dürckheim (1976, S. 110) drei Arten von Gewissen: 1. Das kindliche Gewissen, 2. das Gemeinschaftsgewissen und 3. das absolute Gewissen. Wenn ein Betroffener dem kindlichen Gewissen gehorcht, hat er Angst vor Strafe. Wenn er dem Gemeinschaftsgewissen gehorcht, hat er Angst, anders zu sein als die anderen, gegen die Gesetze der Gemeinschaft zu verstoßen und bei unangepasstem Verhalten aus den Beziehungen ausgestoßen zu werden. Manchmal will jemand aber auch seinem transpersonalen, absoluten Gewissen folgen, kalkuliert um einer tieferen Wahrheit willen bewusst negative Reaktionen auf sein Handeln mit ein und nimmt eventuell auch eine Strafe auf sich.

So stieg zum Beispiel ein katholischer Priester über den Zaun eines Depots für Atomraketen und schlug mit einem Hammer auf das Silo einer Rakete ein. Natürlich wurde er von der Polizei ins Gefängnis gesteckt und richterlich abgeurteilt. Aber er war eingetreten für eine Wahrheit, die größer ist als die Wahrheit seiner Eltern und umfassender als die staatlichen Gesetze. Ähnlich haben suizidale Menschen das Recht, die Regeln ihrer Gemeinschaft zu überprüfen und gegen diese zu verstoßen, wenn es darum geht, das eigene Leben zu erhalten oder ihre Würde als Mensch zu verteidigen oder diese wiederherzustellen. So hat das Mädchen des Fallbeispiels 65, wenn sie sonst sterben würde, das Recht, ihre Familie zu verlassen und die Regeln ihrer Mutter außer Kraft zu setzen. Auch für die Mutter ist es auf Dauer wahrscheinlich besser, eine Tochter zu haben, die weggelaufen ist und aber vielleicht einmal wiederkommt, als eine, die durch Suizid gestorben ist. Gesetze, Werte und Regeln einer Gemeinschaft müssen ihre Funktion, Not von den Mitgliedern der Gemeinschaft abzuwenden, wirklich erfüllen und dürfen nicht zum Verlust der menschlichen Würde und zum Tod führen. Dann verlieren sie ihren Sinn. 8.8.2 Die Begegnung mit dem Tod als Weckruf und Anstoß zum Neubeginn Empfehlung In der Krisenintervention bei suizidalen Menschen sollte die Therapeutin oder der Therapeut die Chance ergreifen und versuchen, die Begegnung des Patienten mit dem realen großen Tod nutzbar zu machen als Weckruf und Anstoß für eine innere Umstellung des Patienten. Gedanken wie »Der will nur Aufmerksamkeit!« oder die Anpassung der Therapeutin an die Verharmlosung des Patienten »Nein, so schlimm ist es nicht!« sind therapeutisch unproduktiv. Weil der Patient real vom Tod bedroht ist, kann er durch seine Krise eventuell

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in neuer Weise spüren, was Leben ist, und anschließend für sein Leben neue Wege ausprobieren.

Bei suizidalen Patienten wird die in der Waagerechten verlaufende Lebenslinie durch eine senkrechte Linie durchkreuzt, durch die Frage von Leben und Tod. Yalom erzählt in seinem Film »Anweisung zum Glücklichsein«, dass er seinen Patienten diese existenzielle Dimension ihres Lebens oft dadurch veranschaulicht, dass er auf ein Blatt Papier eine Linie malt, darauf den Zeitpunkt ihrer Geburt markiert und den voraussichtlichen Zeitpunkt ihres natürlichen Todes und sie dann auffordert, mit einem Zeichen festzulegen, wo sie sich selbst auf dieser Linie gerade sehen. Dadurch wird den Patienten die Endlichkeit ihres Lebens bewusst, sie wechseln die Perspektive, blicken von außen auf ihr Leben und bekommen den Anstoß, zu überprüfen, ob sie wirklich so leben wollen, wie sie leben. Patienten mit Selbsttötungsgedanken sind meistens fixiert in ein altes, nicht mehr angemessenes Selbstbild, in Scham- oder Schuldgefühle oder in eine unangemessene Abwehrhaltung. Durch Selbsttötung kann der Betroffene die große Anstrengung vermeiden, sein altes intrapsychisches Gleichgewicht umstellen zu müssen. So nahm sich zum Beispiel ein Künstler ein halbes Jahr nach Ende seiner psychotherapeutischen Behandlung das Leben. Er war in der Therapie nicht bereit bzw. in der Lage gewesen, das Scheitern an seinem grandiosen Selbstbild anzunehmen und also den kleinen Tod der inneren Umstellung zu sterben. Er ging stattdessen in den großen realen Tod. Nach seinem realen Tod war es dann allerdings zu spät für ihn, sein altes intrapsychisches Gleichgewicht zusammenbrechen zu lassen und für sich einen neuen Weg, einen Neubeginn (Balint, 1970), zu suchen. Fallbeispiel 66: Eine 50-jährige in der Kindheit traumatisierte Patientin, Frau K., fand nach fünf Jahren Psychotherapie erst durch eine suizidale Krise zu einem Neubeginn in ihrer dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation. Sie war nach langem Widerstand gegen eine innere Umstellung innerhalb der Psychotherapie seelisch und körperlich völlig erschöpft mit psychosomatischen Fieberschüben und Suizidgedanken zusammengebrochen. Nichts ging mehr, und sie verzweifelte an ihrem Leben. Da tat die alleinstehende Frau, ohne es zu beabsichtigen, nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten »Etwas Besseres als den Tod findest du allemal!«, plötzlich einfach, was ihr gut tat. Sie rief nach langer Zeit wieder ihren früheren Lebenspartner an, sprach mit ihm anders als früher offen über ihre Gefühle und fand zu ihrer Überraschung spontan Verständnis. Ihre innere »Gouvernante«, eine innere masochistische Strafinstanz, die Züge ihrer leiblichen Mutter trug, verlor in ihrer Begegnung mit dem realen Tod ihre Macht über sie und war bis auf leichte »Rückfälle« auch in den folgenden Jahren verschwunden.

Die Einengung des Denkens im präsuizidalen Syndroms

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Viele suizidale Menschen lassen sich von der Begegnung mit dem realen Tod innerlich treffen und fangen erst durch diese Krise an, für sich nach einer neuen Möglichkeit zu suchen, wie sie leben können. »Das Leiden zu vermeiden oder zu bekämpfen ist natürlich. Aber wenn es da ist, geht es darum, es zu akzeptieren, um daraus etwas zu schöpfen, was jenseits des Leidens liegt. […] Man muss die Niederlage annehmen, sie annehmen, und nicht so tun, als sei nichts geschehen. Man muss den Widerstand überwinden, den man in sich hat« (Dürckheim, 1982, S. 88 f.). Die Angst vor dem realen Tod kann, analog zu der zentralen Erfahrung der Anonymen Alkoholiker, am seelischen und körperlichen »Tiefpunkt« helfen, vor dem Sisyphusprojekt eines überfordernden Lebensprinzips zu »kapitulieren« und demütig zu versuchen, einfach nur zu leben. Fallbeispiel 67: Eine 45-jährige Patientin, Frau L., kam nach dem Suizid ihres 18-jährigen, von Kindheit an behinderten Sohnes immer in Schwarz gekleidet in die Therapiestunden und wollte nichts anderes als »zu dem Sohn ins Grab«. Sie machte während der einjährigen Behandlung keine erkennbaren Fortschritte. Ein Jahr nach dem Ende der psychotherapeutischen Behandlung bekam sie Brustkrebs. In dieser Situation musste sie sich plötzlich entscheiden, ob sie wirklich sterben wollte. Sie wählte die Operation. Anschließend sorgte sie dafür, dass ihre Schwiegermutter aus ihrem Haus auszog. Auch motivierte sie ihren alkoholkranken Ehemann, sich seiner Krankheit zu stellen und trocken zu werden, und gründete mit ihm zusammen sogar eine Selbsthilfegruppe für Suchtkranke.

8.8.3  Die Einengung des Denkens im präsuizidalen Syndroms Suizidale Menschen geraten, oft ohne es selbst zu merken, durch die Begegnung mit dem realen großen Tod in einen psychischen Ausnahmezustand, in ein präsuizidales Syndrom. Wichtige Definition Zu einem präsuizidalen Syndrom gehört nach Ringel (1953, zitiert nach Reimer, 2007, S. 599): 1. Das innere Mentalisieren und die Aktualisierungstendenz des Selbst sind eingeengt. Je näher suizidale Patienten zeitlich ihrer Suizidhandlung kommen, desto mehr hören sie auf, über den ihren Suizidimpuls auslösenden Konflikt nachzudenken. Sie fühlen dann auch nicht mehr ihre Bezogenheit zu den ihnen nahestehenden Bezugspersonen. 2. Aggressionen, die ursprünglich Bezugspersonen galten, werden gegen sich selbst gewendet. 3. Das Denken ist fixiert auf Todesfantasien bis hin zur Todessehnsucht, ohne dass die Folgen des imaginierten suizidalen Handelns konsequent zu Ende gedacht werden.

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Depressionen

Wenn suizidale Menschen ihre Suizidhandlung beginnen, sich mit dem Vollzug der Handlung dann aber ausreichend Zeit lassen, löst sich eine solche Einengung des Denkens meist irgendwann auf. Der Patient kann dann die Konsequenzen seines Handelns wieder klarer sehen und eventuell den Konflikt, der zu seinem suizidalen Impuls führte, anders lösen. Fallbeispiel 68: Ein in der Nachkriegszeit in seinem ersten Lebensjahr durch einen halbjährigen Krankenhausaufenthalt traumatisierter Patient, Herr M., wurde als Beerdigungsunternehmer immer dann suizidal, wenn er total erschöpft war und zufällig auch noch einen »Selbstmörder« einzusargen hatte. Innerhalb von vier Jahren der Therapie ging er wohl zwanzig Mal nachts heimlich mit dem Strick in den Keller, um sich dort das Leben zu nehmen. Er ließ sich dort aber immer Zeit, setzte sich auf die Kellertreppe und wartete. Er wartete, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer so lange, bis er an seine Tochter dachte. Das konnte bis zu drei Stunden dauern. Dann beschimpfte er sich: »Du bist ein Schwein! Du willst dich nur drücken!« Anschließend legte er den Strick weg, ging nach oben in seine Wohnung und nahm die Aufgaben in seinem Alltag wieder auf. Erst sehr spät erkannte der Therapeut, dass der Patient diesen Beginn einer Suizidhandlung gleichsam als Antidepressivum und Weckruf benutzte. Wenn Herr M. nur noch nach Plan funktionierte, selbst in seinem eigenen Leben überhaupt nicht mehr vorkam und daraufhin in eine Depression dekompensierte, ging er durch den Beginn seiner Suizidhandlung innerlich aus seinen Alltagszwängen heraus und erlebte, dass sein eigener Wille in der begonnenen Suizidhandlung wieder vorkam. Weil er sich dabei aber Zeit ließ, löste das Gefühl der Eigenbestimmung im Handeln irgendwann den Zusammenbruch seines Mentalisierens auf, und die Folgen seines geplanten Handelns wurden ihm bewusst. Weil diese Folgen aber nicht zu seinem Selbstbild passten und er sich wieder selbst fühlte, nahm er sein berufliches und familiäres Leben wieder auf und konnte sich nach solchen begonnenen Suizidhandlungen bis zur nächsten Krise jeweils auch wieder an kleinen Dingen des Lebens freuen.

8.8.4  Kriterien und Fragen zur Einschätzung der Suizidalität Jeder Mensch hat das Recht, sich selbst zu töten. Aber nur wenige Betroffene versuchen eine Selbsttötung im Vollbesitz ihrer geistigen und seelischen Kräfte. Ein gutes Beispiel für eine Selbsttötung in Würde ist Moreno selbst: »Ende April 1974 hatte eine Reihe kleinerer Schlaganfälle ihn geschwächt. Mit 85 Jahren war er nun bettlägerig, er konnte […] nur noch langsam sprechen […]. Weil ihm die Aufnahme fester Nahrung Schmerzen bereitete und weil er wusste, dass er ohnehin bald sterben musste, beschloss er, das Ende zu beschleunigen und mit

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Kriterien und Fragen zur Einschätzung der Suizidalität

Würde zu sterben. Er hatte sich entschieden, nichts mehr zu essen und nur noch von Wasser zu leben« (Yablonski, 1986, S. 247f). Seine Familie und Hunderte seiner Schülerinnen und Schülern verabschiedeten sich einer nach dem anderen in seinem Schlafzimmer von ihm, bis er nach etwa sechs Wochen des Fastens starb. Die Gründe für Suizidversuche sind ähnlich vielfältig wie die Krankheitsbilder der Depression. Die Therapeutin kann die suizidale Gefährdung nach einem Suizidversuch eines Patienten und seinen Therapiebedarf einschätzen, indem sie festlegt, ob sie seinen Selbsttötungsversuch eher als »Affekthandlung« oder als »lange geplanten Selbsttötungsversuch« versteht und eher als »im Vollbesitz aller geistigen und seelischen Kräfte vollzogenen Suizidhandlung« oder als eine »durch psychische Krankheit bedingte Suizidhandlung« (siehe Abb. 21). SMV wurde im Vollbesitz aller geistigen und seelischen Kräfte vollzogen niedriger Therapiebedarf

SMV war eine Affekthandlung

SMV war lange geplant

hoher Therapiebedarf

Suizidalität war durch eine psychische Erkrankung bedingt

Abbildung 21: Kriterien für die weitere suizidale Gefährdung und die Einschätzung des Therapiebedarfs nach einem Selbsttötungsversuch (SMV)

Je länger geplant eine Suizidhandlung ist und je stärker der Patient psychisch krank ist, desto größer sind im Allgemeinen die Lebensgefahr für den Patienten und auch der Therapiebedarf. Menschen mit Suizidgedanken sind wegen der damit verbundenen Lebensgefahr auch dann in ihrer Not ernst zu nehmen und als gefährdet anzusehen, wenn eine Suizidhandlung »nur« demonstrativ erscheint. Denn auch ein demonstrativer Suizidversuch kann zum Tod führen. Zur Beurteilung der suizidalen Gefährdung und der Therapiebedürftigkeit von Patienten sucht die Therapeutin nach Antworten auf die folgenden Fragen:

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1. Wann hat der Patient vor seinem Selbsttötungsversuch zum ersten Mal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen? Je länger die zeitliche Differenz zur Gegenwart ist, desto ernster sind die Suizidfantasien zu nehmen. Denn er hatte mehr Zeit, seine Suizidabsicht und seine Selbsttötungsfantasien zu überdenken und sie durch die Realität des Alltags zu überprüfen. Je kürzer aber die Zeitdifferenz ist, desto eher handelt es sich um eine wenig durchdachte Affekthandlung. 2. In welchem Zusammenhang traten die Suizidgedanken zum ersten Mal auf und wie entwickelte sich der Konflikt weiter? Je lärmender und real größer die Not des Patienten in dem dazugehörigen Konflikt ist, desto gesünder ist der Patient psychisch. Weiterhin suizidal gefährdet sind natürlich Menschen in aktuell real aussichtslosen Notsituationen. Genauso gefährdet sind aber auch Menschen, bei denen die Therapeutin in dem Beratungsgespräch mit dem Klienten zusammen für seine suizidale Handlung oder Suizidabsicht keinen nachvollziehbaren Grund herausarbeiten kann. Zum Beispiel geschehen gerade bei jungen männlichen Erwachsenen Suizide relativ häufig ohne Abschiedsbrief und scheinbar ohne fassbaren Grund. Gemeinsam ist diesen jungen Männern, dass sie sich nach Beendigung ihrer Schulzeit in einer inneren und äußeren Umstellungssituation befinden. Hinter einer nach außen vielleicht perfekten Fassade sind sie innerlich allein. In ihren Familien wurde über Gefühle und Probleme nie geredet. Auch »zufällig« aufgetretene Suizidversuche sind gefährlich. Denn wenn die Therapeutin und der Patient den Grund für den Selbsttötungsversuch nicht erfassen können, kann der Suizidimpuls unbemerkt jederzeit wieder auftreten! Wenn sich für die Suizidalität dagegen ein einfühlbarer Grund im Rahmen eines dazugehörigen Konfliktes findet, tritt die Suizidalität auch nur dann wieder auf, wenn dieser eine spezielle Konflikt sich wiederholen würde oder wenn er wieder eskaliert. Die Gefährdung lässt sich dann also eingrenzen, und die Therapeutin kann mit dem Patienten zusammen radikal und fantasievoll nach Auswegen aus diesem einen Konflikt suchen. 3. Wann hat der Patient mit der Planung seiner Suizidhandlung begonnen und welche Vorstellungen hat er dazu entwickelt? Je grausamer eine Suizidplanung ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Patient an einer psychischen Erkrankung leidet. Es macht prognostisch einen Unterschied, ob der Patient dabei auch an die Gefährdung anderer denkt oder nicht. 4. Was hat der Patient gedacht und gefühlt, als er seine Suizidhandlung real begann? Was, als er sie vollzog? Was dachte und fühlte er, unmittelbar bevor er sein Bewusstsein verlor? Gerade weil der Patient am Beginn seiner Suizidhandlung dem realen Tod begegnete, geben die Antworten auf diese Fragen oft Einblick in den inneren Konflikt des Patienten und in die Art seiner Konfliktverarbeitung.

Kriterien und Fragen zur Einschätzung der Suizidalität

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5. Was hat der Patient gefühlt, kurz nachdem er seine Suizidhandlung abgebrochen hat? Was hat er als Nächstes gedacht, was dann getan? Die Antwort »Es ging nicht, da war eine Sperre« hat therapeutisch gesehen einen hohen Wert. Denn der Patient hat offenbar im Vollzug seiner Suizidhandlung plötzlich erkannt, dass es tatsächlich um den wirklichen Tod geht. Vor die Wahl gestellt, real zu sterben oder zu leben, hat sich die narzisstische Einengung seines Denkens spontan aufgelöst, er ist potenziell bereit, zu »kapitulieren« und sein altes intrapsychisches Gleichgewicht um des Lebens willen infrage zu stellen. 6. Was hat der Patient gedacht und gefühlt, als er nach seinem Suizidversuch wieder zu Bewusstsein kam? Was, als er nach der Tabletteneinnahme wieder klar denken konnte? Die Antwort »Zum Glück hat das nicht geklappt!« weist daraufhin, dass der Patient nach seinem Suizidversuch aus der narzisstischen Einengung seines Denkens und Fühlens wieder herausgefunden hat und bereit ist, neu nachzudenken. Bei einer Krisenintervention unmittelbar nach einer Tablettenintoxikation ist zu beachten, dass die Denkfähigkeit des Patienten unbemerkt noch lange chemisch gestört sein kann. Nicht selten können solche Patienten sich an ein scheinbar ganz »normales« therapeutisches Gespräch später fast nicht mehr erinnern. 7. Gibt es ein privates und ein soziales Beziehungsnetz? Wie haben die Bezugspersonen auf die Information der Suizidalität oder des Suizidversuchs reagiert? Menschen bewältigen Krisen umso leichter, je mehr nahe Bezugspersonen und Freunde sie haben. 8. Hat der Patient mit wenigstens einer nahen Bezugsperson schon über seinen Selbsttötungsversuch gesprochen? Je weniger ein Patient über seine Krise mit anderen redet, desto weniger kann er diese innerlich verarbeiten, desto mehr ist er potenziell auch weiterhin gefährdet. Jeder suizidale Patient sollte, bevor er aus dem Krisengespräch nach Hause geht, mit wenigstens einer wichtigen Bezugsperson über seine Suizidhandlung gesprochen haben. Fallbeispiel 69: Der 45-jährige Herr N. kam nach einem Klinikaufenthalt zum psychotherapeutischen Erstgespräch. Ihm war nach einer erfolgreichen beruflichen Karriere überraschend der Arbeitsplatz gekündigt worden. Herr N. hatte zwei Jahre lang vermieden, sich um eine Arbeitsstelle zu bewerben und schließlich dann seiner Familie eine Anstellung vorgetäuscht: Er tat so, als ob er täglich zur Arbeit führe, verbrachte die Zeit aber auf einem Parkplatz oder an einem ähnlichen Ort. Für den Fall, dass er »erwischt« würde, plante er, sich das Leben zu nehmen: »Es war mir klar, dass mein Gerüst aus Notlügen irgendwann zusammenbrechen muss! Ich sehnte mich nach Ruhe und Frieden.« Nach zwei Jahren war der Zeitpunkt zum Handeln gekommen, als seine Ehefrau auf der Bank entdeckte, dass sein früher immer gut gefülltes Konto

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leer war: »Ich nahm das Seil, ging in den Wald und warf das dort über einen Baum. Das Seil hing da. Ich habe mir Zeit gegeben. Da habe ich gemerkt: ›Ich packe es nicht!‹ Ich war extrem erstaunt. Hinterher habe ich mir Feigheit vorgeworfen! Das kenne ich sonst nicht in meinem Leben. Ich bin im Beruf in Krisen ein mutiger Mann, habe da sogar eine extreme Coolness gehabt. Ich war ein Macher, bin immer in die Kontakte hineingegangen! – Ich war dann drei Tage im Wald. Meine Familie glaubte, ich sei tot.« Als Herr N. aus dem Wald wieder nach Hause kam, hat seine Tochter ihn erleichtert begrüßt mit den Worten: »Du bist mein Vater! Ich bin froh, dass du nicht tot bist!« Herr N.: »Ich bin stolz auf meine Tochter!« Der Therapeut interpretierte das Empfinden des Patienten »Ich packe es nicht!« radikal positiv um: »Das war keine Feigheit! Sie haben dort im Wald in sich einen ganz ursprünglichen Lebenswillen entdeckt, den eigentlich alle lebendigen Lebewesen haben! Dieser Wunsch ist frei von aller Schuld, von allen Normen und Werten und von allen Leistungsansprüchen.«

8.8.5  Therapeutische Interventionen bei suizidaler Gefährdung Bei suizidalen Krisen geht es um Leben und Tod. Die Krisenintervention bei suizidalen Patienten erfordert von Therapeutinnen und Therapeuten Empathie und gleichzeitig auch, die Dinge beim Namen zu nennen und Klartext zu reden. Sie ist immer gleichzeitig Diagnostik und Therapie. Die Therapeutin versucht zunächst, mit dem Patienten zusammen entlang dem roten Faden der Zeit sein Denken, Fühlen und Handeln, das ihn in die Suizidalität hineingeführt hat, Schritt für Schritt nachzuvollziehen und zu erfassen (siehe Fallbeispiel 62 in Kap. 8.6.3). Dadurch erlebt der Patient sich selbst wieder als Handelnder in seinem eigenen Leben. Bewährt haben sich in der Krisenintervention bei suizidalen Patienten die folgenden Regeln und Techniken: 1. Therapeutinnen und Therapeuten scheuen sich oft, nach Suizidfantasien zu fragen, weil sie Angst haben, die Patienten dadurch überhaupt erst auf die Idee zu bringen, sich selbst zu töten. Damit agieren sie aber unbewusst eine konkordante Gegenübertragung, sie wollen die Konflikte des Patienten in ähnlicher Weise nicht wahrhaben und bearbeiten wie der Patient selbst. Empfehlung Bei suizidalen Patienten ist es therapeutisch wichtig, ihre möglicherweise vorhandenen Suizidfantasien anzusprechen und sie mit ihnen zusammen durchzusprechen. Denn dadurch verflüssigt sich ihr im präsuizidalen Syndrom eingeengtes Mentalisieren, und die Todesfantasien verlieren ihren eventuell vorhandenen illusionären Charakter (siehe Fallbeispiel 62 im Kap. 8.6.2). Durch das offene therapeutische Gespräch über die Selbsttötungsfantasien wird der Suizidimpuls

Therapeutische Interventionen bei suizidaler Gefährdung

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des Patienten in den dazugehörigen Konfliktrahmen eingebettet, und der Patient ist in dem Fantasieraum seiner Suizidvorstellung nicht mehr allein.

 uch wenn nicht bekannt ist, dass ein Patient suizidal ist, sollte die TheraA peutin, immer wenn sie in der Behandlung eines Patienten spürt, dass dieser eigentlich so nicht leben kann und aber trotzdem starr an seiner Art des Umgangs mit Konflikten festhält, diesen von sich aus aktiv nach Suizidgedanken fragen. Das lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. 2. Zur Aktivierung des inneren Mentalisierens kann die Therapeutin oder Beraterin psychodramatisch wie im Fallbeispiel 62 im Kapitel 8.6.3 die Arbeit mit der Tischbühne benutzen. Sie legt darauf im Gespräch mit dem Patienten eine Zeitlinie und markiert mit je einem Stein zumindest 1. den Zeitpunkt der Geburt des Patienten, 2. den Zeitpunkt seines voraussichtlichen natürlichen Todes, 3. den gegenwärtigen Zeitpunkt und 4. den Zeitpunkt seines möglichen Suizids. Dieses Bild kann sie erweitern durch Steine für 5. das erste Auftreten der Suizidfantasien, 6. den Zeitpunkt der ersten Vorbereitungen für den Suizidversuch, zum Beispiel den, an dem der Patient sich die Tabletten gekauft hatte, 7. den Beginn der Suizidhandlung, 8. das Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit bzw. den Abbruch der Suizidhandlung und 9. den Zeitpunkt, an dem er erstmals wieder seinen Angehörigen begegnete. Die Therapeutin lässt sich anschließend von ihrem Patienten für jeden der Zeitpunkte sehr exakt sein jeweiliges Denken, Fühlen, Handeln und Wollen schildern, um seine subjektive Konfliktwahrnehmung herauszuarbeiten und seinen Konflikt in Spielhandeln mit den Steinen umzusetzen. Die Therapeutin kann zum Beispiel den Ich-Stein des Patienten anfassen und lässt diesen »zu den Bahngleisen gehen«: »Was haben Sie dabei gedacht und gefühlt?« Die Therapeutin vollzieht dabei Schulter an Schulter mit dem Patienten die Selbststeuerung in seinem Konflikt prozesshaft nach, ähnlich wie wenn sie das Mentalisieren eines Patienten mit einer psychosenahen Depression in seinem Alltagshandeln aktivieren würde (siehe Kap. 8.6.3). Sie macht den Patienten aufmerksam auf Entscheidungen, die er getroffen hat, also auf Situationen, in denen sein Ich aktiv gearbeitet hat, sie benennt die Dinge und repräsentiert gegebenenfalls dysfunktionale Ich-Zustände mit leeren Stühlen (siehe Kap. 4.7). Der Patient erlebt sich dadurch in seiner dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation als selbstwirksam. 3. Wenn der Patient bei einem Selbsttötungsversuch seine Suizidhandlungen abgebrochen hat, interpretiert die Therapeutin diese »Feigheit« wie im Fallbeispiel 69 positiv um.

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Zentraler Gedanke Die Therapeutin geht entsprechend ihrem Verständnis des Menschen als ein sich selbst organisierendes, lebendiges System unausgesprochen davon aus, dass die Suizidalität des Patienten das Ergebnis einer subjektiv stimmigen Konfliktverarbeitung ist und interpretiert seine Suizidalität ihm gegenüber als das Gefühl seinerseits »So kann ich nicht leben!«. Anschließend sucht sie zusammen mit ihm nach dem Sinn, den seine Suizidalität für ihn in seinen Lebenszusammenhängen hat, und möchte diesen verstehen. Dadurch gewinnt der Patient Zugang zu der Aktualisierungstendenz seines Selbst. Ausgehend von seiner Selbststeuerung im Symptom weist die Therapeutin ihn auf kleine, zu seiner subjektiven Beurteilung der Situation passende, alternative Handlungsmöglichkeiten hin. Das kann im Denken des Patienten einen qualitativen Sprung hervorrufen und sein präsuizidales Syndrom auflösen.

 ie Therapeutin antwortet zum Beispiel: »Wenn Sie immer eine starke Frau D waren und Ihr Freund sich jetzt nach Ihrem Suizidversuch Sorgen um Sie macht, ist das vielleicht Liebe. Lassen Sie es zu! Genießen Sie das! Denn danach haben Sie sich doch eigentlich schon immer gesehnt!« Sehr selten ist eine Suizidhandlung das Ergebnis eines makabren Spiels mit dem eigenen Leben, eines russischen Rouletts, das dem Betroffenen durch den gefühlsmäßig intensiven Kick der Lebensgefahr das Gefühl, zu leben, überhaupt erst verschaffen soll. 4. Die Therapeutin arbeitet bei Suizidfantasien mit dem Patienten zusammen wie im Fallbeispiel 62 im Kapitel 8.6.2 aktiv die möglichen Folgen seiner geplanten Suizidhandlung heraus: Mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren, ist heute meistens nicht tödlich, es kann aber zu einer lebenslangen Behinderung führen oder zur Gefährdung anderer Autofahrer. Sich vor eine Eisenbahn zu werfen, traumatisiert möglicherweise den Zugführer. Das Nachdenken über die Folgen des eigenen Handelns aktiviert das Ich des Patienten in seinem durch die Suizidideen eingeengten Mentalisieren und wirkt ichstärkend. Denn wenn er die realen Folgen seines Handelns bedenkt, muss er die Entscheidung fällen, ob er die negativen Folgen in Kauf nehmen will oder nicht (siehe Fallbeispiel 68). 5. Wenn der Patient die Selbsttötung schon versucht hat, sollte die Therapeutin mit dem Patienten zusammen das bei seinem Versuch eingegangene Risiko, real zu sterben, realistisch herausarbeiten. Zehn Kopfschmerztabletten reichen dazu nicht aus, das wissen die meisten Menschen auch selbst. Dagegen ist es real lebensgefährlich, sich im suizidalen Zustand betrunken ins Auto zu setzen und loszufahren. Intoxikationen mit Alkohol und Tablet-

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ten zusammen sind gefährlicher als ein Suizidversuch allein mit Alkohol oder allein mit Tabletten. Wenn die Therapeutin den Patienten auf diese Weise über das Ausmaß seiner Eigengefährdung und der Fremdgefährdung bei seinem Suizidversuch informiert, kann das seine Bereitschaft zur inneren Umstellung fördern. 6. Bei Bedarf weist die Therapeutin den Patienten (siehe Fallbeispiel 65) darauf hin, was der reale Tod überhaupt ist, und interpretiert seine Suizidgedanken um als Weckruf. Es gilt, dass der Patient sich zwar ernst nimmt in seinem Gefühl »So kann ich nicht leben«, dass er sich aber Zeit lässt beim Nachdenken darüber, ob er nicht anders leben könnte: »Das Leben ist insgesamt kurz. Das, was danach kommt, dauert um Vieles länger. Es wäre schade, wenn Sie nur zufällig tot sind, ohne sich das richtig überlegt zu haben!« Die Therapeutin bringt in ihren Fragen und Interventionen also implizit ihr eigenes Verständnis für den Wert des Lebens zum Ausdruck und macht dieses deutlich. Sie nutzt therapeutisch die Grundangst des Menschen vor dem Tod und ihre eigene Einsicht in den Wert des Lebens gezielt als Katalysator für eine mögliche innere Umstellung des Patienten. 7. Wenn die Therapeutin glaubt, dass der Patient nach einem Suizidversuch eine begleitende Beratung oder Therapie braucht, damit er die Krise bewältigt, darf sie ihn nicht nach Hause gehen lassen, bevor sie selbst für ihn real einen Beratungstermin mit einem professionalen Helfer in einer Beratungsstelle oder mit einer Psychotherapeutin fest vereinbart hat. Ein solcher Termin kann für den Patienten ein innerer Halt sein, um seinen beginnenden Perspektivwechsel hin zu einer positiven inneren Einstellung zum eigenen Leben zeitlich zu verstetigen und zu stabilisieren. 8. Die Therapeutin benennt dem Patienten gegenüber in geeigneter Form Ursache und Wirkung, die bei ihm zu der Suizidalität geführt haben, und weist einen Weg auf, wie er gegebenenfalls an seinem Problem arbeiten kann. Bei einem Alkoholabhängigen bringt sie seine Suizidalität zum Beispiel in Zusammenhang mit seinem Alkoholtrinken und informiert ihn, wie er etwas gegen seine Alkoholabhängigkeit tun kann. Sie weist den Patienten also bei Bedarf auf die eventuell vorhandene Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer nachfolgenden Therapie oder einer Nachsorge hin und informiert ihn über stationäre Behandlungen, Kuraufenthalte, ambulante Kurzzeitbehandlungen, ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen oder über die Möglichkeiten medikamentöser Therapie und anderer Hilfen. Auch gibt sie ihm Kontaktdaten von Einrichtungen zur Hilfe in eventuellen neuen Krisen. Ungefähr 80 % der Patienten, die einen Selbsttötungsversuch gemacht haben, brauchen eine nachfolgende psycho-

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therapeutische Beratung, Psychotherapie oder psychiatrische Behandlung. Ohne Nachsorge können Menschen bleiben, bei denen jeder der drei folgenden Punkte zutrifft: 1. Es handelt sich »nur« um Aktualkonflikte. 2. Es existiert ein verlässlich tragendes familiäres und soziales Umfeld. 3. Der Patient hat bei seiner Begegnung mit dem realen Tod von sich aus spontan Angst um sein eigenes Leben bekommen. Die Nachsorge soll nicht nur helfen, einen nächsten Suizidversuch zu verhindern, sondern auch, die suizidale Krise, wenn erforderlich, für eine umfassendere innere Umstellung zu nutzen. Auf diese Weise werden dann zum Beispiel psychische Erkrankungen weniger leicht chronisch, oder sie werden gegebenenfalls wenigstens ausreichend behandelt. 9. Viele Therapeutinnen und Therapeuten schließen mit suizidalen Patienten Verträge, mit denen sie sicherstellen wollen, dass die Patientin oder der Patient bis zu einem darin genannten Zeitpunkt keinen Suizidversuch unternehmen wird. Das Gespräch über die geplante Vereinbarung hilft der Therapeutin, die Gefährdung des Patienten durch »Suizid« mit dem Patienten in der Therapie ernsthaft zu kommunizieren und dadurch besser einzuschätzen. Solche Verträge sind aber darüber hinaus therapeutisch wenig wirksam. Letzten Endes bleibt die Therapeutin immer mitverantwortlich für das Leben des Patienten und muss sich selbst entscheiden, ob sie ihn für gefährdet hält. Wenn sie unsicher ist, hat sie die Pflicht, für eine verlässliche Hilfe zu sorgen oder eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik zu vermitteln. Bisweilen muss ein Patient auch gegen seinen Willen eingewiesen werden. In der Klinik hat der Patient dann mehr Zeit, um aus seinem möglicherweise durch ein präsuizidales Syndrom eingeengten Denken herauszukommen, um durch bewusste und unbewusste Konfliktverarbeitung die Ursachen für seine Selbstaufgabe wirklich zu verstehen, die Verhältnismäßigkeit seines Plans zu überdenken und um im Gespräch mit Mitpatienten, mit Therapeuten und mit Familienangehörigen oder Freunden, die ihn von außen besuchen, nach vielleicht auch unkonventionellen, alternativen Konfliktlösungen und Lebensmöglichkeiten zu suchen, die ihm bisher nicht denkbar waren. Bei Bedarf kann die Therapeutin dem Patienten gegenüber die Notwendigkeit einer Klinikeinweisung begründen mit einem Argument, das immer zutrifft: »Geben Sie sich selbst durch den Klinikaufenthalt eine Chance! Wenn Sie am Ende nach dem Klinikaufenthalt dann doch sterben wollen, kann Sie letzten Endes keiner daran hindern!«

9  Psychotische Erkrankungen

9.1 Das Besondere in der störungsspezifischen Therapie von psychotisch erkrankten Menschen, Morenos Geheimnis Therapeutinnen und Therapeuten benutzen den Begriff »Psychose« für verschiedene schwere psychische Störungen, bei denen der Realitätsbezug verloren gegangen ist und die sich nicht wie Neurosen aus einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang heraus erklären lassen. Diese Krankheitsbilder sind in der ICD-10 unter den Rubriken Schizophrenie (F20.-), schizotypische Störung (F21), anhaltende wahnhafte Störung (F22.-), akute vorübergehende psychotische Störungen (F23.-), induzierte wahnhafte Störung (F24) und schizoaffektive Störungen (F25.-) zusammengefasst. Gemeinsam sind ihnen die Desintegration des Selbst der Patienten und illusionäre Verkennungen und daraus folgend schwere Störungen in den Beziehungen zum sozialen Umfeld. Die in diesem Buch beschriebenen praktischen Vorgehensweisen und ihre theoretischen Begründungen sollen Therapeutinnen und Therapeuten helfen, Patientinnen und Patienten mit psychotischen Störungen auch psychotherapeutisch zu behandeln. Sie machen Morenos 60 bis 70 Jahre alte Methoden und Erkenntnisse (siehe Kap. 9.2 und 9.8) in der heutigen Therapie von Psychoseerkrankten anwendbar und entwickeln sie weiter. Die Geschichte der Therapie von psychotisch erkrankten Menschen in Europa ist wie bei kaum einer anderen Krankheit bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein geprägt von mangelndem Verständnis der Erkrankung und von Gewaltanwendung. Diese fand in Deutschland noch einmal einen schrecklichen Höhepunkt in der Ermordung vieler psychotischer Patienten in der Zeit des Nationalsozialismus. Erst die Entwicklung der Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert zur wissenschaftlich fundierten Fachdisziplin, die Erfindung von vielen gut wirksamen Medikamenten und die Weiterentwicklung der psychiatrischen Behandlung zur modernen Sozialpsychiatrie halfen, allmählich menschenwürdige Behandlungsmethoden für Psychoseerkrankte zu erreichen.

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Psychotische Erkrankungen

Zentraler Gedanke Menschenwürdige psychiatrische Behandlungsmethoden sind eine gesellschaftliche Errungenschaft, die in jeder Zeit wieder neu erworben bzw. verteidigt werden muss gegen die menschliche Grundangst vor dem »Verrückten«, gegen vereinfachende Vorurteile und gegen die Tendenz, Menschen, die aus dem Rahmen des Normalen herausfallen und die sich nicht ausreichend wehren können, auszugrenzen und zu benachteiligen.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass wenigstens die behandelnden Therapeutinnen und Therapeuten Möglichkeiten kennen, wie sie einen Zugang zu der desintegrierten psychischen Selbstorganisation ihrer psychoseerkrankten Patienten finden und wie sie ihr Mitgefühl mit deren Leiden und ihre Faszination aktiv in störungsspezifisches psychotherapeutisches Handeln umwandeln können. Moreno hat im Rahmen eines eigenen kleinen Privatsanatoriums mit zwölf Betten ab 1936 die Grundlagen für die psychodramatische Behandlung von psychoseerkrankten Menschen entwickelt. In seiner Klinik waren jeweils etwa acht der zwölf Patientinnen und Patienten psychosekrank. Die Klinik wurde im Sinne einer therapeutischen Gemeinschaft geführt (Straub, 2002, mündliche Mitteilung). So nahmen die Therapeutinnen und Therapeuten zum Beispiel ihre Mahlzeiten immer mit den Patienten zusammen ein oder begleiteten sie zum Friseur. Zu der Zeit gab es noch keine Neuroleptika. Moreno musste also, wenn sich die Symptome seiner Patientinnen und Patienten bessern sollten, psychotherapeutische Behandlungsmethoden entwickeln. Fasziniert von den Wahnwelten der Betroffenen fand er als »Gottspieler« (Moreno, 1995, S. 45) heraus: Wenn er mit seinen psychoseerkrankten Patienten in deren Wahn mit hineinging und diesen zusammen mit ihnen ausspielte, besserten sich ihre Symptome. Moreno (1939, S. 5 f.; 1945a, S. 3 ff.) nannte sein Vorgehen »Hilfswelt-Methode«. Das ist eine spezielle Form der psychodramatischen Einzeltherapie, bei der Hilfs-Therapeutinnen und Hilfs-Therapeuten im Ausspielen des Wahns für den Patienten Doppelgänger- und Hilfs-Ich-Rollen übernehmen und ihm dadurch helfen, sein Mentalisieren in seinem Wahnkonflikt zu stabilisieren, zu differenzieren und zu erweitern. Das Mentalisieren ist die innere psychische Prozessarbeit, mit der der Patient sich selbst und andere versteht, mit der er Konflikte verarbeitet und löst und mit der er Dinge plant und realitätsangemessen durchführt (siehe Kap. 2.2). In der folgenden Falldarstellung gebe ich verkürzt wieder, wie Moreno (1975a, S. 193 ff.) die Hilfswelt-Methode praktisch einsetzte. Fallbeispiel 70: Moreno behandelte zu Beginn des Zweiten Weltkrieges einen psychotisch erkrankten Mann, der in New York wohnte. Der Patient kam in Morenos

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Sprechstunde. Er hatte einen kleinen Bart auf seiner Oberlippe. Moreno fragte ihn nach seinem Namen. Da wurde der Mann ärgerlich: »Kennen sie mich denn nicht? Mein Name ist Adolf Hitler!« Moreno war geschockt, aber dann erinnerte er sich: Die Ehefrau des Patienten hatte mit ihm telefoniert und erzählt, dass ihr Mann glaubte, Adolf Hitler zu sein. Moreno ging prompt auf den Wahn des Patienten ein: »Natürlich, jetzt erkenne ich Sie!« Als Reaktion auf Morenos annehmende Haltung beklagte sich der Patient bitterlich, dass der Mann in Deutschland, der sich Hitler nannte, ihm alles wegnähme, seinen Geist, seine Inspiration, seine Energie. Auch gebe der andere Mann vor, das Buch »Mein Kampf« geschrieben zu haben. Moreno griff zum Telefon und rief zwei Pfleger herbei. Als diese gekommen waren, stellte er sie dem Patienten vor als »Herr Göring« und »Herr Göbbels«. Der Patient war eigentlich zu einer unpassenden Zeit gekommen. Moreno wollte gerade vor Studenten in einem Hörsaal sprechen. Moreno ergriff aber die Gelegenheit beim Schopf und bot dem Patienten an, eine Rede an sein Volk zu halten. Der Patient folgte der Aufforderung prompt. Moreno beschreibt in der Falldarstellung, wie er den Patienten drei Monate lang in regelmäßigen Einzelsitzungen behandelte. In dieser Therapie behielten die zwei Krankenpfleger, die Göring und Göbbels spielten, ihre Doppelgängerrollen in ihren Kontakten mit dem Patienten ständig bei, ohne Rollentausch und ohne direkte Nachbesprechung mit dem Patienten. Der Patient verhielt sich seinen »Kameraden« gegenüber zunächst distanziert, begann dann aber vertrauter zu werden: »Während der Unterbrechung einer Sitzung sagte er zu Göring: ›Hallo Göring, was halten Sie von dem Witz, den ich heute auf der Bühne machte?‹ und sie lachten beide. Aber plötzlich ohrfeigte Hitler Göring. Göring antwortete in derselben Weise, und es entwickelte sich ein regulärer Faustkampf, bei dem Hitler einen schweren Schlag erlitt. Später ließen beide es sich bei einem Glas Bier gut gehen. Von da an fing das Eis zwischen ihnen allmählich an zu schmelzen.« Der Patient veränderte sich durch die Behandlung langsam. Schließlich ließ er sich seinen Bart abrasieren, fing dabei an, bitterlich zu weinen, und bat später auch, dass man ihn Karl und nicht mehr Adolf nennen sollte. Der Patient, ein Schlachtermeister, habe sich nach der Behandlung sozial wieder gut integrieren können und sei einige Jahre später nach Deutschland zurückgekehrt.

Während der Ausbildung zum Psychodramatherapeuten las ich auch andere Fallbeispiele von Morenos Therapie mit psychoseerkrankten Menschen (Moreno, 1939; Moreno, 1945a; Moreno, 1959, S. 253–317; Moreno, 1975a, S. 191–206) und fand diese faszinierend. Aber ich wusste: Meine Patienten würden ein solches Vorgehen nicht mitmachen. Ich fürchtete, ich wäre nicht ehrlich zu Ihnen, wenn ich sie zuerst im Spiel ihre Wahnwirklichkeit zeigen lassen würde, mich danach aber von ihrem psychotischen Realitätserleben distanzieren müsste, wenn sie fragten, ob ich ihnen glaube.

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Zentraler Gedanke Tatsächlich ist es ein therapeutischer Kunstfehler, Patienten nach einer psychodramatischen Ausgestaltung ihres Wahns direkt oder indirekt zu sagen, dass ihre Wahnvorstellungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Das beschämt sie, zerstört die therapeutische Beziehung und verstärkt ihre Krankheitssymptomatik. Die Therapeutin sollte in der gesamten Behandlung die Frage »Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit?« aktiv offenhalten, länger als der Patient selbst (siehe Kap. 9.5) Fallbeispiel 71 (Bender und Stadler, 2012, S. 89): Nachdem ein neu in die Klinik aufgenommener Patient von seinem Verfolgungswahn erzählt und diesen teilweise auch psychodramatisch gespielt hatte, äußerten die Gruppenmitglieder in der Nachbesprechung »erschrocken und taktvoll, dass die Geschichte doch sehr fantastisch und unwahrscheinlich klinge«. Keiner der Therapeuten stellte sich in dieser Situation nach dem Grundprinzip »Be with your protagonist« (Eleftery, 1973, mündliche Mitteilung) als Doppelgänger auf die Seite des psychotischen Realitätserlebens des Protagonisten. Die Rückmeldung führte bei dem Patienten entgegen der Absicht der Gruppenteilnehmer nicht zu einer verbesserten Krankheitseinsicht. Er entwich nach der Gruppensitzung »noch am gleichen Abend […] und wurde zwei Tage später von Regen durchnässt und in erregt-verwirrtem Zustand von der Polizei zurückgebracht«.

Ich wollte als Psychiater meine Patienten nicht verwirren und beschämen, deshalb versuchte ich wie die meisten Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten erst gar nicht, Morenos Hilfswelt-Methode in ihrer Behandlung einzusetzen. Mich beruhigte, dass ein erfahrener Ausbildungsleiter seine Scheu vor Morenos Vorgehen mit den Worten begründete: »Moreno konnte das, weil er eine besondere Persönlichkeit war. Ich bin das nicht. Deshalb brauche ich das auch nicht zu können und werde die Hilfswelt-Technik in meinen Therapien nicht einsetzen.« Während der ersten fünfundzwanzig Jahre meiner psychiatrischen Tätigkeit behandelte ich meine psychotisch erkrankten Patientinnen und Patienten deshalb »nur« modern sozialpsychiatrisch und benutzte in ihrer Behandlung Psychodrama nur als übendes Rollenspiel in der Gruppe (siehe Kap. 9.9). Die Patienten machten Fortschritte und stabilisierten sich meistens psychisch, sozial und familiär. Insgeheim spürte ich dabei aber immer: Ich bekam keinen wirklichen psychotherapeutischen Zugang zu der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation der psychosekranken Menschen. Auch irritierte mich, dass die Symptome durch die medikamentöse Behandlung zwar verschwanden, dass sie nach Absetzen der Neuroleptika aber oft nach 4–8 Wochen wieder zum Vorschein kamen, manchmal schon nach drei Tagen. Ich hatte damals das Geheim-

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nis von Morenos besonderer Art der psychotherapeutischen Behandlung von psychotisch erkrankten Menschen noch nicht erkannt, die transmodale Gestaltung der therapeutischen Beziehung (siehe Kap. 9.4 und 9.5). Die Wende in meiner therapeutischen Methodik trat 1998 ein. Bei einer Tagung des Deutschen Fachverbandes für Psychodrama hatten wir uns mit einigen Psychodramafreundinnen und -freunden verabredet, uns zu einer Arbeitsgruppe zum Thema »Psychodrama in der Psychosetherapie« zu treffen, unter anderen nahm daran auch Matthias Ewald aus Hamburg teil (siehe Kap. 9.9). Bei dem Treffen erkannten wir zusammen das therapeutische Grundprinzip von Morenos störungsspezifischer Psychotherapie von Psychoseerkrankten in ganz neuer Weise. Die neue Erkenntnis trat ein, als wir im Rollenspiel einen Bericht von Schindler (1996, S. 9) über Morenos Vorgehen in der Psychosetherapie nachspielten. Übung 18 Versuchen Sie als Leserin oder Leser gemeinsam mit einer Kollegin oder einem Kollegen einmal selbst, das folgende Fallbeispiel in einem Rollenspiel nachzuvollziehen. Wenn Sie es nur lesen, haben Sie es schwerer, das Besondere daran zu erkennen. Fallbeispiel 72: Anfang der 1950er-Jahre kam Moreno in die Universitätsnervenklinik Wien, um seine Therapiemethode zu zeigen. Man hatte ihm für die Demonstration aber eine Patientin mit einem depressiven Stupor ausgesucht. Diese Frau war für die Ärzte in der Klinik in Folge ihrer schweren psychischen Erkrankung durch Fragen und »im Gespräch nicht erreichbar und krankheitsbedingt entrückt«. Trotzdem hatte Moreno darauf verzichtet, diese Frau schon vorher einmal zu sehen. Schindler erzählt: Als die Patientin in den Hörsaal geführt wurde, blieb sie »nach ein paar Schritten stehen. Aber da trat Moreno schon auf sie zu, begrüßte sie laut und nahm ihre Hand. Dann stellte er sich neben sie und erklärte ihr die Ärzte im Auditorium als eine Art Studenten, die von ihr ihre Sicht ihrer Situation verstehen lernen sollten […]« (Fortsetzung unten). Zentraler Gedanke Moreno ging in dem therapeutischen Gespräch mit der psychotischen Patientin aus der üblichen Gesicht-zu-Gesicht-Position heraus. Vermutlich ergriff er mit seiner rechten Hand ihre linke Hand, stellte sich an ihre Seite und drehte seinen Blick mit ihr gemeinsam zum Auditorium hin, sodass er mit ihr zusammen Schulter an Schulter die Ärztinnen und Ärzte in den Sitzreihen des Hörsaals betrachtete, die sie beide erwartungsvoll anblickten. Aus dieser Schulter-anSchulter-Position heraus erklärte Moreno der Patientin als ihr Doppelgänger die

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aktuelle Situation, ganz ähnlich wie Hänsel, wenn er im Märchen im dunklen Wald Schulter an Schulter mit seiner Schwester Gretel seine eigenen Gedanken und Gefühle ausspricht und damit die Schwester, die sich ängstlich an seine Hand klammert, in der ängstigenden Situation nicht allein lässt.

Moreno teilte durch die Schulter-an-Schulter-Position die äußere Beziehungsgestaltung der Patientin in der aktuellen Situation und aktivierte durch das Verbalisieren seiner Wahrnehmung ihr inneres Mentalisieren in der Situation energetisch. Schindler berichtet weiter: Fallbeispiel 72 (Fortsetzung): »Quasi nebenbei fragte Moreno sie nach ihrem Namen. Zu unserem Erstaunen nannte sie ihn, als läge keine Hemmung über ihr. Moreno wiederholte den Namen langsam und fand ihn schön. Er band eine Assoziation daran, die ich vergessen habe und die auch nicht passte. Die Patientin verbesserte ihn, und er nahm ihre Sicht sofort an und bot eine Erweiterung an. So entwickelte sich ein durchaus triviales Gespräch mit der Akzentuierung hoher Wichtigkeit, getragen von einem Ausdruck persönlichen Interesses und ohne jede objektivierende Begründung. Der Stupor schien abgefallen, und es entwickelte sich ein Gespräch über ihre Lebenssituation. Moreno fragte fast nie, er bot ihr seine Vorstellungen an und ließ sich von ihr durch Korrekturen führen. So war eigentlich er es, dem da geholfen wurde. Es tauchten Familienmitglieder auf, die sich ihr zu entziehen suchten. Nicht sie, Moreno wollte das nicht dulden.«

In unserer Arbeitsgruppe haben wir damals in fiktiven Rollenspielen geübt, die Methode des Doppelgängerdialogs, wie ich dieses Vorgehen später nannte (Krüger, 2001a, S. 257 ff., siehe Kap. 9.6.1), in die Behandlung unserer eigenen psychotisch erkrankten Patienten zu übersetzen. Einer von uns spielte eine eigene Patientin oder einen eigenen Patienten, ein anderer versuchte sich als Therapeutin oder Therapeut. Wir gingen dabei wie Moreno in dem Fallbeispiel in der Schulter-an-Schulter Position zur Patientin jeweils spielerisch auf die psychotische Realitätswahrnehmung der Patientin ein und übten, in der therapeutischen Beziehung transmodal zu denken, zu fühlen und zu handeln, so als ob ihre Wahnwirklichkeit Realität wäre (siehe Kap. 9.5). Möglicherweise in Erinnerung an die stuporöse Patientin in der Wiener Universitätsklinik beschrieb Moreno (1959, S. 85) in seiner poetischen Sprache die Doppelgänger-Technik einmal mit den Worten: Die Patientin ist durch eine Psychose »in einer solchen psychischen Verfassung, dass eine Verständigung äußerst schwierig ist, weder der Arzt noch die Krankenschwester können einen Kontakt mit ihr herstellen. […] Wenn sie aber mit sich selbst sprechen könnte, mit der Person, die ihr am

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nächsten steht und die sie am besten kennt, dann hätte sie jemand, mit dem sie sich versteht. Um ihr das zu ermöglichen, reproduzieren wir für sie auf der Bühne ihren ›Doppelgänger‹, mit dem sie sich am leichtesten identifizieren, mit dem sie sich unterhalten, mit dem sie gemeinsam handeln kann. Das ist der Sinn der Doppelgängermethode im Psychodrama.«

9.2  Die Psychodynamik der psychotischen Dekompensation Psychoseerkrankte Menschen reagieren auf Spannungen und Konflikte sensibler als andere Menschen. Sie sind weniger konfliktfähig und dekompensieren oft schon bei normalen Abgrenzungs- oder Durchsetzungskonflikten in der Beziehung zu nahen Bezugspersonen. Das liegt neben einem nachgewiesenen genetischen Faktor auch an Defiziten des Mentalisierens und an Defiziten im Aufbau komplexer innerer Strukturen (siehe Kap. 3.2.1). Aus der Zwillingsforschung ist bekannt, dass bei einem psychoseerkrankten Elternteil die Wahrscheinlichkeit 20 % ist, dass auch ein Kind psychotisch erkranken wird (Mentzos, 1999, mündliche Mitteilung). Wenn nun aber Kinder von psychoseerkrankten Eltern adoptiert werden, wenn dies zudem noch eineiige Zwillinge sind, wenn diese auch noch von verschiedenen Familien adoptiert werden und wenn die Beziehungen in diesen Familien haltgebend und flexibel sind und die Bezugspersonen diese Kinder in ihren Besonderheiten annehmend begleiten, sehen und achten, dann zeigt sich, dass diese Kinder, statt krank zu werden, oft besondere Begabungen entwickeln. Ihre übergroße Sensibilität wird dann offenbar zu einer besonderen Fähigkeit, weil sie in einer haltgebenden und in den Beziehungen flexiblen Familie Fähigkeiten zum Mentalisieren und komplexe innere Strukturen aufbauen können, die sie für das Leben ausreichend konfliktfähig machen (siehe Abb. 9). Das Auftreten einer psychotischen Störung ist also auch umweltbedingt. Die Entwicklung einer psychotischen Erkrankung lässt sich folgendermaßen erklären: Psychoseerkrankte können wegen ihrer hohen Sensibilität und der relativ geringen Komplexität ihrer inneren psychischen Strukturen Konfliktspannungen und psychischen Stress schwer aushalten und neigen deshalb dazu, die von außen erwarteten Rollenvorgaben automatisch zu übernehmen. Eine derartige Anpassung erspart ihnen in Konfliktsituationen zwar den intrapsychischen Konflikt zwischen ihrem äußeren Rollenverhalten und der Aktualisierungstendenz ihres Selbst (siehe Kap. 8.1). Sie verhindert aber in einem Teufelskreis auch wieder den Aufbau komplexerer Strukturen. Auslösend für psychotische Dekompensationen sind deshalb oft Schwellensituationen des Lebens, in der der Betroffene sich von einer äußerlich gelebten Rolle tren-

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nen muss und herausgefordert ist, selbstbestimmt zu handeln, zum Beispiel in einer ersten Liebesbeziehung, bei der er sich von seiner Ursprungsfamilie abzulösen hat. Zentraler Gedanke Der Verlust der Fähigkeit zur Anpassung führt bei psychosegefährdeten Menschen zu einem Identitätsverlust und zur Selbstauflösung in der psychotischen Dekompensation (Mentzos, 2011, S. 206). Auch der Verlust einer negativen Identität, zum Beispiel die Rolle des Sonderlings oder die des »schwierigen Kindes« oder der Zusammenbruch der Abwehr durch Spaltung (siehe Fallbeispiel 109) kann zum seelischen Zusammenbruch führen.

Die Angst vor der Selbstauflösung löst existenzielle Ängste aus, das sind die Angst vor der absoluten Leere, die Angst vor der absoluten Einsamkeit, die Angst vor dem Tod oder die Angst, verrückt zu werden. Im Zwiespalt zwischen der alten, angepassten Identität und den neuen Wünschen und Entwicklungsimpulsen gerät das Ich von psychotisch dekompensierenden Patienten in eine nicht zu bewältigende Stresssituation und in eine große innere Erregung. Wegen ihrer geringen seelischen Belastbarkeit, den schon vorher bestehenden Defiziten des Mentalisierens und wegen der niedrig komplexen inneren Strukturen desintegriert ihre Selbstorganisation. Mentzos (1992, S. 11) meint, krankheitsauslösend für eine psychotische Dekompensation sei letzten Endes immer ein schweres nicht auflösbares Dilemma, zum Beispiel der Konflikt zwischen Autonomieängsten und Bindungsängsten: »Ein psychotisch erkrankter Mensch kann weder ohne noch mit dem Objekt leben. […] Der Drang zum Objekt hin wird als eine elementare Bedrohung der Selbstidentität, Kohärenz und Integrität erfahren. Auf der anderen Seite aber wird die Entfernung vom Objekt, die Gleichgültigkeit des Objektes, die antizipierte Objektlosigkeit als eine noch schlimmere Bedrohung (Selbstverlust) erlebt.« Psychotisch erkrankte Patienten leiden unter einer Verwirrung ihres Wirklichkeitserlebens. Es ist therapeutisch hilfreich, sich dieses als Desintegration ihres Mentalisierens vorzustellen. Um bei einer psychotischen Dekompensation in ihr inneres Chaos Sinn hineinzubringen, kreieren die Patienten eine Hilfs-Realität, den Wahn. Diese Wahn-Realität wird aber durch die Reaktionen ihres sozialen Umfeldes von außen nicht positiv bestätigt (siehe Fallbeispiel 73 im Kap. 9.4). Das verwirrt die Betroffenen und löst sekundär Scham und Schuldgefühle aus. Weil die Patienten ihre Wahnwirklichkeit als ihre Alltagswirklichkeit erleben, schützen sie ihr Wahnerleben, so gut es geht, indem sie sich aus Beziehungen zurückziehen, ihr psychotisches Erleben in der Kommunikation verheimlichen

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und sich äußerlich der Alltagslogik der anderen Menschen anpassen. Auf diese Weise entwickeln sie sekundär eine Abwehr durch Spaltung, die ihre Wahnkonstruktion absichert. In der störungsspezifischen psychodramatischen Psychosetherapie versucht der Therapeut im Laufe der ersten Therapiegespräche, die halb bewusste, halb unbewusste Verleugnung des Wahns durch die Patientin aufzuheben, indem er die Spaltung des Mentalisierens der Patientin auf der Tischbühne mit Intermediärobjekten, zum Beispiel einem Stein für ihr »Alltags-Ich« und einem zweiten Stein für ihr »Traum-Ich«, sichtbar macht (siehe Kap. 9.6.3). Die Desintegration des Mentalisierens bei einer psychotischen Dekompensation erweist sich mit bildgebenden Verfahren als Dysfunktion der für das Arbeitsgedächtnis relevanten Strukturen des Gehirns (Frith, 1992, Goldman-Rakic, 1994). Schneider, Habel, Reske, Kellermann et al. (2007) haben bei Patienten nach dem ersten Auftreten einer schizophrenen Erkrankung festgestellt: Die Strukturen des Arbeitsgedächtnis waren bei den Patienten, deren Krankheitszustand sich im darauffolgenden Jahr verschlechterte, weniger stark aktiviert als bei den Patienten, bei denen sich deren psychopathologischer Status verbesserte. Zentraler Gedanke Bei psychotische erkrankten Patienten ist die Desintegration ihres Mentalisierens indirekt auch daran zu erkennen, dass sie nicht im Als-ob-Modus spielen können. Im psychodramatischen Spiel steuern sich die Menschen durch ihr inneres Mentalisieren (siehe Kap. 2.2). Defizite oder ein Zerfall des Mentalisierens zeigen sich als Defizite oder Zerfall der Fähigkeit zu spielen.

Wenn Psychoseerkrankte in der Gruppentherapie ein Märchen spielen, stellen sie die Inhalte des Märchens auf der Bühne meistens konkretistisch in nur 5–10 Minuten dar. Neurotisch erkrankte Patienten oder Gesunde dagegen aktivieren durch ihr Handeln im Märchenspiel in ihrem inneren Mentalisieren, ohne es zu merken, eigene persönliche innere konflikthafte Beziehungsmuster und lassen diese analog oder kompensatorisch in ihr Märchenspiel mit einfließen. Sie differenzieren und erweitern dadurch die Interaktionen im Spiel und brauchen mehr Zeit. Ihre Märchenspiele dauern deshalb 45–90 Minuten. Wegen ihrer Defizite im Mentalisieren verstehen Psychoseerkrankte oft auch keine Witze oder tiefenpsychologischen Deutungen. Denn sie erfassen Als-ob-Situationen und Metaphern nicht als symbolische Als-ob-Bilder, sondern verstehen die symbolischen Bilder im Äquivalenzmodus als konkrete Beschreibung der äußeren Realität. Dadurch wird zum Beispiel bei einem Gefühl der Erschöpfung die Metapher »Ich bin nicht mehr da« zum subjektiven Erleben, ganz real nicht mehr da zu sein (siehe Fallbeispiel 74 in Kap. 9.7.1).

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Moreno (1939, S. 3 f.) hat schon in den 1940er- und 1950er-Jahren, als es noch keine Psychopharmaka gab, die Vorgänge bei einer psychotischen Dekompensation theoretisch ähnlich verstanden, wie eben ausgeführt: »Im Falle von halluzinatorischer Psychose […] findet ein Aufbrechen und eine Verzerrung der Telebeziehungen (der Prozesse des Mentalisierens, Erg. vom Verf.) statt, ein Aufbrechen des Auto-Tele (der inneren psychischen Selbstorganisation, Erg. vom Verf.). […] Mit dem allmählichen Verlust der Telebeziehungen verschwimmt auch der Sinn für Zeit und Raum. Weil die psychologische Organisation von Zeit und Raum gestört ist, fließen die spontanen Zustände (die Ergebnisse des inneren Mentalisierens, Erg. vom Verf.), die das Gefühl für die Zeit mit den Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft hervorrufen, statt einer dem anderen in schneller Frequenz zu folgen, frei in den Raum, weil da keine Barriere ist, um das zu verhindern.« Inhaltlich verstand Freud (Freud, S. 1917, S. 423, zitiert nach Böker, 1992, S. 146) die Vorgänge bei einer psychotischen Dekompensation ähnlich: »Das Ich reagiert mit der psychotischen Symptomatik auf einen unerträglichen Verlust, indem es ihn verleugnet: Das Ich bricht die Beziehung zur Realität ab, es entzieht dem System Bw. die Besetzung […] und zerfällt.«

9.3 Die Blockade der therapeutischen Beziehung in der klassischen psychiatrischen Begegnung In einer klassischen psychiatrischen Behandlung macht die Therapeutin oder der Therapeut die Symptome der psychotischen Patienten zum Objekt der Therapie und versucht, diese mit Psychopharmaka zum Verschwinden zu bringen. Eine ganz auf die medikamentöse Behandlung zentrierte Therapie kommt aber »einer Amputation gleich« (Benedetti, 1993, S. 190). Sobald die Ichzone der psychotischen Symptomproduktion »wegamputiert wird, bleibt nichts als ein Defekt zurück, ein zusammengeschrumpftes Ich, das sich nur insofern versteht, als es den hohen Preis bezahlt, jede in die Zukunft gerichtete Werdensmöglichkeit aufzugeben«. Auch in der modernen Sozialpsychiatrie ist das Therapieziel noch: Die Patienten sollen lernen, ihren Wahn als Krankheit anzunehmen, ihre Symptome durch Einnahme der verordneten Medikamente zu verringern, »im Schutz der Medikamente« wieder zu leben, ihren Tag zu strukturieren, zu arbeiten, Beziehungen zu führen und ihre Freizeit zu gestalten. Dabei helfen ihnen neben ihrer Familie die therapeutische Gemeinschaft in Kliniken, Tageskliniken, Freizeitklubs, eine ambulante Einzel- oder Gruppentherapie oder auch das betreute Wohnen. Bei einer klassischen psychiatrischen Beziehungsgestaltung beansprucht der Therapeut die Definitionshoheit über die Bedeutung der Krankheitssymptome.

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Zwischen dem Therapeuten und der Patientin entsteht dadurch eine tragische Beziehungsblockade: 1. Die Patientin erzählt dem Therapeuten von ihrem psychotischen Erleben. 2. Der Therapeut versucht zunächst noch, die Patientin zu verstehen. 3. Er merkt aber, dass sich, wenn er sich empathisch auf das Konflikterleben der Patientin einließe, sein eigenes Wirklichkeitserleben verwirrt würde. 4. Er bricht deshalb seinen Empathieprozess ab und distanziert sich innerlich von dem psychotischen Wirklichkeitserleben der Patientin, indem er die Ergebnisse des Zerfalls ihrer psychischen Selbstorganisation mithilfe der Symptomliste von Bleuler (1983) klassifiziert und als psychopathologischen Befund schriftlich dokumentiert: »Die Patientin leidet an Stimmenhören, Derealisation, Depersonalisation und Gedankenlautwerden.« Zentraler Gedanke Der Therapeut reagiert in der Behandlung von psychotisch erkrankten Menschen auf die Verwirrung der Wirklichkeit der Patienten zunächst spontan mit einer eigenem Verwirrtheitsgefühl, wehrt die drohende eigene Verwirrung der Wirklichkeit aber gewöhnlich ab und distanziert sich von der dysfunktionalen psychischen Selbstorganisation der Patientin. Systemisch gesehen übernimmt er dadurch in der therapeutischen Beziehung einseitig die Funktion des gesunden Erwachsenendenkens und delegiert auf die Patientin einseitig die Rolle derer, die im Wahnerleben fixiert ist. Der eigentlich intrapsychische Konflikt der Patientin zwischen ihrem gesundem Erwachsenendenken und ihrem wahnhaftem Denken wird dadurch interpersonell ausagiert. Diese Gegenübertragungsreaktion des Therapeuten blockiert seine Empathie und behindert in der Folge als Widerstand den Fortschritt im psychotherapeutischen Prozess.

5. Die Blockade seines Empathieprozesses macht den Therapeuten hilflos. Auf seine Hilflosigkeit reagiert der klassisch psychiatrisch denkende Therapeut mit Abwehr. Entweder er projiziert seine Unzulänglichkeitsgefühle auf die Patientin, oder er kompensiert diese und tritt der Patientin gegenüber als grandioser Helfer oder Retter auf. Viele invasive psychiatrische Behandlungsmethoden, zum Beispiel die Elektroschocktherapie, sind als solche kompensatorischen Handlungen zu verstehen. 6. Die Patientin bleibt durch die Blockade der gegenseitigen Empathieprozesse auch in der therapeutischen Beziehung in ihrem Wahnerleben allein. Sie hat in ihrer Not nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder sie hält an ihrem Wahnerleben fest und flieht aus allen Beziehungen in die Isolation, nicht selten sogar in die Obdachlosigkeit. Oder sie passt sich an, übernimmt die Interpretationen des Therapeuten, lernt, sich selbst als Psychosekranke zu verstehen, und nimmt mehr oder weniger blind die verordneten

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Medikamente. Sie vermeidet, über ihre psychotischen Erlebnisse zu sprechen oder verharmlost diese, das auch gegenüber dem Therapeuten. Das verhindert dann den Fortschritt in der Therapie ähnlich wie bei einer Patientin mit einer Traumafolgestörung, die in ihrer Behandlung nicht über ihre Traumaerfahrung sprechen würde.

9.4  Die drei Modi des Mentalisierens in der Psychose Moreno hat in seinen mir zugänglichen Schriften zur Therapie von Psychoseerkrankten nicht ausreichend deutlich gemacht, wie er mit der Hilfswelt-Technik arbeiten konnte, ohne seine psychotischen Patienten zu beschämen. Meiner Erfahrung nach gelingt das nur, wenn der Therapeut selbst transmodal als Doppelgänger in den Wahn der Patientin oder des Patienten mit hineingeht. Vermutlich hat Moreno (1975a, S. 193 ff.) in dem Fallbeispiel 70 des Patienten »Adolf Hitler« die beiden hinzugerufenen Hilfs-Therapeuten dem Patienten nicht einfach nur als »Mr. Göring« und »Mr. Göbbels« vorgestellt. Auch wird er die beiden Pfleger nicht in Gegenwart des Patienten aufgefordert haben: »Sie übernehmen Mr. ›Hitler‹ gegenüber bitte die Rollen von ›Göring‹ und ›Göbbels‹.« Ich nehme an, dass Moreno sich wie in dem von Schindler beschriebenen Fallbeispiel 72 stattdessen als Doppelgänger des Patienten an die beiden Krankenpfleger gewandt und diese von sich aus angespielt hat: »Mr. Göring, wir warten schon auf Sie! Warum kommen Sie so spät? – Ah, ja, Mr. Göbbels, schön, dass Sie da sind! Ich hoffe, Sie bringen Mr. Hitler gute Nachrichten!« Die beiden Krankenpfleger werden als trainierte Hilfs-Ichs diese transmodale Rollenzuweisung, ohne nachzufragen, akzeptiert und in den angewiesenen Doppelgängerrollen agiert haben. Dadurch hatte der Patient keine Wahl mehr, er musste sich auch selbst als »Hitler« ernst nehmen und in dem transmodalen Spiel mitmachen. Zusammen mit Moreno und den Hilfs-Therapeuten gestaltete der Patient in der Folge seine Wahnwelt weiter aus. Zentraler Gedanke Der erste Schritt in der Therapie von psychoseerkrankten Menschen ist immer die Anwendung des Doppelgängerdialogs. Die Hilfswelt-Methode schließt die Anwendung des Doppelgängerdialogs mit ein. Der Doppelgängerdialog ist eine therapeutisch wichtige und wirksame Technik auch schon im Erstgespräch und ebenso in der Krisenintervention.

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Fallbeispiel 73 (Krüger, 2001b, S. 49 f., verändert): Ein 40 Jahre alter Patient, Herr A., ist bei einem Therapeuten seit dem Beginn seiner Erkrankung vor elf Jahren in ambulanter psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Er ist chronisch rezidivierend akut psychotisch und hat in sieben stationären Behandlungen bisher 350 Tage in Kliniken verbracht. Dabei wurde er sechsmal zwangseingewiesen. Er hat Abitur, ist gelernter Handwerker und seit fünf Jahren frühberentet. Seit sechs Jahren hat er einen gerichtlich bestellten Vermögensbetreuer. Er ist übergewichtig, zuckerkrank und trinkt in Krankheitsphasen zeitweise viel Alkohol. Im Januar 2000 kommt der Vater des Patienten in die Praxis und berichtet: »Mein Sohn hat sich wieder verändert. Er hat in den letzten drei Tagen 1000 Mark ausgegeben.« Der Therapeut ruft den Patienten telefonisch an und fragt ihn, ob er zu ihm einmal zu einem Gespräch kommen könne. Herr A. antwortet am Telefon leutselig: »Ich kann ja mal vorbeischauen.« Der Therapeut behandelt gerade einen anderen Patienten, als eine Mitarbeiterin ihn wegen Herrn A. in den Flur der Praxis hinausruft. Er bittet den anderen Patienten, zu warten, und geht zur Krisenintervention zu Herrn A. in die Anmeldung. Dieser lehnt mit dem Arm gemütlich aufgestützt auf dem Tresen und begrüßt den Arzt kumpelhaft und fröhlich: »Guten Tag, Herr Krüger!« Therapeut: »Guten Tag, Herr A., schön, dass Sie gekommen sind!« Herr A.: »Ja, man muss ja mal wieder Kontakt machen!« Therapeut: »Ja, Ihr Vater macht sich Sorgen!« Herr A.: »Ach der Alte immer, der knausert schon wieder mit dem Geld!« Der Therapeut geht an dieser Stelle bewusst nicht auf den Konflikt mit dem Vater ein und weist den Patienten also nicht darauf hin, dass er seinen Vater auch verstehen müsse. Stattdessen versucht er, sich spielerisch ganz mit Herrn A. zu identifizieren, und gestaltet im Doppelgängerdialog mit ihm zusammen dessen psychotisches Wirklichkeitserleben aus: »Es scheint Ihnen gut zu gehen!« Herr A.: »Ja, kein Grund zur Klage!« Therapeut: »Jetzt geht es los, ja?« Herr A.: »Wenn man erwählt ist!« Therapeut: »Ach, Sie kommen jetzt groß heraus!« Herr A. frotzelnd: »Ja, ich werde gerade der Entertainer der Welt!« Therapeut: »Sie treten im Fernsehen auf.« Herr A.: »Ja, das ist nur eine Frage der Zeit. Die haben mich erwählt.« Therapeut: »So wie wenn man in der Lotterie gewinnt! Sie haben einen Brief gekriegt, wo das drinsteht.« Herr A.: »Ja, das muss bald losgehen!« Therapeut: »Und wenn Sie im Fernsehen Nachrichten sehen, da haben die Sprecher das auch schon gebracht: Arthur A. ist ernannt worden! Noch ist unklar, wer dahintersteckt, aber bald geht es los!« Herr A.: »Zur Zeit hören die mich erst einmal ab!« Der Therapeut: »Die vom Fernsehen!« Herr A. lacht gutmütig und unterstreicht seine Mitteilung mit einer weiten Geste seiner Hand: »Nein, alle Menschen der Welt.« Therapeut: »Und dann sind Sie alle Sorgen los! Sie haben Geld! Sie sind der größte Entertainer der Welt! Sie machen Musik und Witze, Sie bringen die Leute zum Lachen!« Herr A.: »Keine Probleme mehr, Herr Krüger. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht abrutsche!« Therapeut: »Soll ich Ihnen eine Spritze geben? – Das kann ich tun.« Herr A.: »Na ja,

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ist vielleicht besser!« Therapeut: »Gut, kommen Sie mit durch!« Herr A. begleitet den Therapeuten in das Untersuchungszimmer und lässt sich über seine Dauermedikation hinaus eine Spritze mit einem Depot-Neuroleptikum geben. Er achtet nicht auf die Dosierung und tut ganz unbeeindruckt. Der Therapeut hütet sich, diesen Wechsel des Patienten hin zu einer im Augenblick besseren Krankheitseinsicht irgendwie zu kommentieren. Beide verabreden sich zu einem neuen Termin, »um zu sehen, ob nach der Depotspritze Nebenwirkungen auftreten«.

Psychotisch erkrankte Patienten kreieren, um Sinn in ihr inneres Chaos zu bringen, eine Hilfsrealität, den Wahn. Damit ihre innere Wahnkonstruktion nicht gleich wieder in sich zusammenbricht, müssen sie ihr psychotisches Denken und Fühlen sekundär absichern durch ein Denken im psychischen Äquivalenzmodus: »Mit dem Begriff ›psychische Äquivalenz‹ bezeichnen wir die primitivere Ebene des mentalen Funktionierens, auf der innere Zustände wie Gedanken, Phantasien und Gefühle mit der Realität verwechselt und als Realität – statt als (bloße) Repräsentationen der Realität – empfunden werden. […] Im Gegensatz dazu (zum Stadium der psychischen Äquivalenz) ist der ›Als-ob‹-Modus des Mentalisierens durch ein Gewahrsein des repräsentationalen Charakters innerer Zustände gekennzeichnet: Indem das Kind eine Abtrennung oder ›Entkoppelung‹ […] seiner mentalen Repräsentationen von der Realität vornimmt, kann es Gedanken und Phantasien von der Wirklichkeit unterscheiden« (Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004, S. 296 ff.). Durch ihr Denken im Äquivalenzmodus verwechseln psychotisch erkrankte Menschen ihre inneren Fantasien oft mit der äußeren Realität. Fallbeispiel 74: Herr B. hatte als Offizier auf seinem Schiff entdeckt, dass ihm 100 Mark in seinem Schrank fehlten. Er hatte Angst, jemanden von der Schiffsmannschaft zu beschuldigen, ihm Geld gestohlen zu haben, weil er fürchtete, dann aus der Gemeinschaft seiner Crew ausgeschlossen zu werden. Ohne den vermuteten Diebstahl anzusprechen, glaubte er, im Äquivalenzmodus denkend, er würde von den anderen real ausgeschlossen, und sprang mitten im Ärmelkanal zwischen Frankreich und England mit einer Schwimmweste über Bord. Er wurde dabei zum Glück von einem Matrosen gesehen, von der Mannschaft gerettet und dann im nächsten Hafen in eine psychiatrische Klinik gebracht (Fortsetzung in Kap. 9.7.1). Zentraler Gedanke Um die therapeutische Beziehung störungsspezifisch angemessen gestalten zu können, macht es Sinn, in der Behandlung von psychoseerkrankten Menschen neben dem Äquivalenzmodus und dem Als-ob-Modus zusätzlich die Existenz

Die drei Modi des Mentalisierens in der Psychose

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eines psychotischen Modus des Mentalisierens anzunehmen. Dieser ähnelt der Traumarbeit beim nächtlichen Träumen. Wenn das Abwehrsystem eines Psychosegefährdeten in einem nicht zu bewältigenden inneren Konflikt zusammenbricht, desintegriert sein Mentalisieren und gerät in diesen psychotischen Modus der Konfliktverarbeitung.

Schon in Griechenland vor Christi Geburt wurde von Philosophen die Analogie von Traum und paranoid-halluzinatorischer Wahrnehmung immer wieder thematisiert. Auch Sigmund Freud (1924, S. 420) hat zwischen nächtlichem Träumen und der Wahnproduktion Ähnlichkeiten gesehen: Im Traumvorgang werde »der Traumwunsch halluziniert und findet als Halluzination den Glauben an die Realität seiner Erfüllung«. Nach Freud sind bei der halluzinatorischen Verworrenheit und in der halluzinatorischen Phase der Schizophrenie wesentliche Anteile der Traumarbeit mitbeteiligt an der Umwandlung von Wunschfantasien und deren Regression zur Halluzination (Freud, S., zitiert nach Böker, 1992, S. 146). Wichtige Definition Der psychotische Modus des Mentalisierens fragmentiert am Tag ähnlich wie die Traumarbeit beim nächtlichen Träumen die Wahrnehmungen, Erinnerungen, Selbstrepräsentanzen, Objektrepräsentanzen und inneren Beziehungsbilder, verschiebt in den inneren Beziehungsbildern die Aufmerksamkeit willkürlich von einem Objekt auf ein anderes Objekt, vertauscht in der Interaktion Subjekt und Objekt und setzt die Fragmente scheinbar willkürlich wieder zu neuen Sinneinheiten zusammen.

Auch gesunde Menschen können auf eine Weise mentalisieren, die dem Mentalisieren im psychotischen Modus bzw. im Traummodus gleichkommt. Gesunde kontrollieren ihr Denken im psychotischen Modus aber mit ihrem Denken im Als-ob-Modus und wissen, dass ihre absurden Fantasien über die Wirklichkeit nicht die Realität der Außenwelt widerspiegeln und dass sie nur innere Fantasien sind. Moderne Künstler wie Joseph Beuys, die Komponisten moderner Musik und auch manche zurzeit tätige Theaterregisseure haben die Fähigkeit, den psychotischen Modus des Mentalisierens im Dienste ihres Ichs (Balint, 1970, S. 187 f.) zuzulassen und werden dadurch in besonderer Weise kreativ. Wir normalen Menschen blockieren aber den psychotischen Modus des Mentalisierens, um nicht »verrückt« zu denken und zu fühlen. Neuere Forschungen lassen darauf schließen, dass alle Menschen ein solches Denken im Traummodus bzw. psychotischen Modus nutzen. Die meis-

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ten tun das aber nur in ihren nächtlichen Träumen. In Träumen integriert die Traumarbeit unsere Erinnerungen aus dem Alltagsleben mit den in unserem Gehirn gespeicherten Vorerfahrungen und Gedächtnisinhalten. Dadurch werden diese alogisch erweitert. Das führt offenbar zu einer Freiheit des Denkens, die für das Kreieren neuer Lösungen erforderlich ist. So zeigen Experimente (Robert Stickgold und Erin Wamsley, zitiert in »Die Zeit« Nr. 32, S. 27, 4.8.11), »dass Träume nicht nur Erinnerungen festigen, sondern allerhand neue Einsichten hervorbringen können. Während das Gehirn die Erlebnisse des Tages durchspielt, sucht es offenbar nach neuen Lösungen. Nachts spielen wir nach, was wir tagsüber erlebt haben. Allerdings sind die wenigsten Träume treue Replikate der Erlebnisse im Wachzustand. Die meisten von ihnen greifen Erinnerungsfragmente auf und kombinieren sie in neuen, oft bizarren Bildern zum nächtlichen Kopfkino. Doch wozu? […] Inzwischen weisen die Experimente der Forscher in eine deutliche Richtung – das nächtliche Kopfkino macht uns fit für die Wirklichkeit.« »Eine ganze Reihe von Experimenten zeigte, dass Träume nicht nur Erinnerungen festigen, sondern allerhand neue Einsichten hervorbringen können. Während das Gehirn die Erlebnisse des Tages durchspielt, sucht es offenbar nach neuen Zusammenhängen.« Wahrscheinlich ist ein übergeordnetes Ziel des nächtlichen Mentalisierens im Traummodus, dass der Betroffene in seinen inneren Beziehungsbildern sein Selbst aktualisiert und als Subjekt wieder handlungsfähig wird (siehe Abb. 6). Das darf, wenn das Mentalisieren durch eine traumatische Erfahrung eingefroren ist, durchaus auf Kosten der Alltagslogik geschehen, zum Beispiel durch die Umkehrung von Subjekt und Objekt. So versuchte zum Beispiel eine Frau, die selbst vergewaltigt worden war, in ihrem nächtlichen Traum der Tochter einer Freundin zu helfen, die von einer männlichen Jugendbande in schwarzem Leder angegriffen wurde. Wenn gesunde Menschen aus dem Schlaf aufwachen, erkennen sie, dass ihre Träume »nur ein Traum« waren und nicht äußere Realität. Im Gegensatz dazu können psychotische Patientinnen und Patienten tagsüber ihre Traumlogik nicht ausreichend durch ihre Alltagslogik blockieren. Sie verwechseln Innen und Außen. Der nächtliche Albtraum wird gleichsam am Tag zum Verfolgungswahn, bzw. die nächtliche Wunscherfüllung wird zum Größenwahn. Je schwerer ein Patient erkrankt ist, desto größer sind die Bereiche seines Denkens, die in sein Denken im psychotischen Modus einbezogen sind.

Die transmodale Beziehungsgestaltung in der Psychosetherapie

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9.5  Die transmodale Beziehungsgestaltung in der Therapie Wenn der Therapeut im Doppelgängerdialog (siehe Kap. 9.6.1) und bei der Anwendung der Hilfswelt-Technik (siehe Kap. 9.6.4) Schulter an Schulter mit der Patientin in ihre Wahnproduktion mit eintritt, nutzt er nebeneinander vier verschiedene Modi des Mentalisierens (siehe Abb. 22). Ich nenne diese Art der Beziehungsgestaltung deshalb transmodal. Wichtige Definition Bei der transmodalen Beziehungsgestalrung mentalisiert der Therapeut als Hilfs-Ich der Patientin im psychotischen Modus und auch im Äquivalenzmodus, er spielt zwar äußerlich psychodramatisch im Als-ob-Modus in ihrem Wahn mit, mentalisiert sein Erleben dabei innerlich aber auch im Als-ob-Modus. Er nutzt diese vier verschiedenen Ich-Zustände zur Gestaltung des therapeutischen Prozesses, ohne sie äußerlich erkennbar miteinander zu integrieren.

Transmodale Beziehungsgestaltung heißt nicht, dass der Therapeut nur vermeidet, der Patientin zu widersprechen, oder dass er der Patientin gegenüber die Wirklichkeit ihres psychotischen Erlebens tatsächlich als realitätsgerecht bestätigen würde. Der Therapeut lebt vielmehr die vier Modi des Mentalisierens zusammen mit der Patientin aktiv spielerisch nebeneinander und arbeitet jeden kreativ aus. Das stabilisiert, aktiviert, strukturiert und integriert über den Regelkreis zwischen der äußeren Spielproduktion und dem inneren Mentalisieren (siehe Kap. 2.2) das desintegrierte Mentalisieren der Patientin. Der Therapeut gestaltet die therapeutische Beziehung transmodal durch die folgenden Schritte: 1. Der Therapeut geht mit der Patientin in ihr wahnhaftes Denken im Äquivalenzmodus hinein, indem er sich im Doppelgängerdialog spielerisch auf ihre Wahnwirklichkeit einlässt, als ob diese Wirklichkeit wäre. 2. Er vollzieht mit ihr zusammen im psychotischen Denkmodus ihr wahnhaftes Erleben mit und führt aber 3. in dieses gleichzeitig den Als-ob-Modus des Spiels ein, so wie wenn er sich mit ihr zusammen eine Geschichte ausdenken würde. 4. Dabei geht er probatorisch der Patientin immer wieder aktiv einen Schritt voraus. Sobald die Patientin dann gegen seine Ausgestaltung der Wahnrealität protestiert, korrigiert er sich sofort und schwenkt auf die von ihr gerade berichtete oder gelebte andere Wahnrealität ein. 5. Der Therapeut erfasst zusammen mit ihr spielerisch die an der Interaktion im Wahn beteiligten Personen und Kräfte, benennt sie und konkretisiert sie in Form von leeren Stühlen oder Handpuppen außen auf der Zimmerbühne. 6. Er arbeitet mit ihr Schritt für Schritt entlang dem roten Faden der Zeit in die Vergangenheit hinein und vorwärts

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in die Zukunft die Interaktionssequenzen heraus, die ihre Wahnrealität ausmachen, und legt zusammen mit der Patientin fest, was in den Interaktionen ihres Wahnkonflikts Ursache und Wirkung ist und wie diese Ursachen sich in den Aktionen und Reaktionen ihrer Alltagswelt widerspiegeln. 7. Der Therapeut versucht gemeinsam mit der Patientin, in ihrer Wahnwirklichkeit über die bisherige Realität hinaus spielerisch einen Sinn zu konstruieren. 8. Er entwickelt daraus logische Konsequenzen für das Leben der Patientin in ihrer Alltagswelt und sucht mit ihr aktiv nach Möglichkeiten, wie sie diese Konsequenzen handelnd in ihrer Alltagswelt und auch in ihrer Wahnwelt realisieren könnte bzw. müsste. Die Patientin erlebt sich dadurch neu als potenziell handlungsfähig und als Urheberin ihres eigenen Handelns (Stern, 1992, S. 106). Als-obModus des äußeren Spiels

Als-obModus

Äquivalenzmodus

inneres Mentalisieren des Therapeuten psychotischer Modus

Abbildung 22: Die vier Modi des Mentalisierens des Therapeuten bei der transmodalen Beziehungsgestaltung

Zentraler Gedanke Viele Therapeutinnen und Therapeuten befürchten, dass sie das Wahnerleben ihrer Patienten verstärken könnten, wenn sie als Doppelgänger in deren Wahn mit hineingehen und diesen mitausgestalten würden. Die Erfahrung zeigt aber, dass die transmodale Beziehungsgestaltung im Doppelgängerdialog die Krankheitseinsicht der Patienten verbessert.

Weil der Therapeut mit der Patientin zusammen im psychotischen Modus und im Äquivalenzmodus denkend ihre wahnhafte Realitätswahrnehmung teilt,

Die transmodale Beziehungsgestaltung in der Psychosetherapie

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fühlt sie sich zum ersten Mal ernst genommen. Bei der transmodalen Beziehungsgestaltung führt der Therapeut aber in ihre Wahnrealität gleichzeitig den Als-ob-Modus des Spiels und die Prozessqualitäten Raum, Zeit, Logik und Sinn (siehe Abb. 2) ein. 1. Der Therapeut erfasst mit der Patientin zusammen die Elemente des Konfliktsystems ihres Wahns und 2. die darin enthaltenen Interaktionssequenzen und ihre zeitliche Abfolge. Er legt 3. Ursache und Wirkung in der Wahnrealität fest und überlegt 4. Ziel und Sinn der Interaktionen im Wahnkonflikt. Damit verwirklicht er im Spiel des Wahnkonflikts unausgesprochen die vier Funktionen des Mentalisierens, wie sie im Kapitel 2.2 dieses Buches beschrieben werden, die Systemorganisation, die Realitätsorganisation, die Kausalitätsorganisation und die Finalitätsorganisation (siehe Abb. 2). Die Patientin aber erlebt sich durch ihr aktives Handeln im Wahn im Als-ob-Modus des Spiels als Urheberin ihres eigenen Handelns (Stern, 1992, S. 106), gewinnt Zugang zu der Aktualisierungstendenz ihres Selbst und merkt: »Ich kann etwas dagegen tun!« Wenn der Therapeut und die Patientin wie in den Fallbeispielen 73, 75 und 79 zusammen Erfolg haben, festzulegen, was in dem wahnhaften Erleben des Patienten Realität, Ursache und Wirkung und Sinn sind, wird der Wahn zu einer in sich logischen Geschichte erweitert, die sich so stark von dem aktuellen Realitätserleben unterscheidet, dass die Patientin sie automatisch als Fantasie oder »Einbildung« erlebt. So ist die plötzlich verbesserte Krankheitseinsicht von Herrn A. im Fallbeispiel 73 zu erklären, als dieser spontan meinte: »Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht abdrehe.« Aber auch, wenn der Therapeut und die Patientin dabei scheitern, Sinn in das Wahnerleben der Patientin zu bringen, ist das therapeutisch hilfreich. Denn gerade weil der Therapeut die Patientin in ihrem wahnhaften Wirklichkeitserleben begleitet und sich bemüht, mit ihr zusammen für sie in ihrer Wahnrealität ebenso wie in ihrer Alltagsrealität neue Handlungsmöglichkeiten zu kreieren, erkennt sie dann selbst, dass ihrem Wahnerleben die innere Realität, die Logik und der Sinn mehr oder weniger ganz fehlen. Die transmodale Beziehungsgestaltung erfordert vom Psychotherapeuten viel Kreativität und die Fähigkeit, sich korrigieren zu können, ohne gekränkt zu sein. Es geht darum, im Als-ob-Modus des Spiels einen Konflikt auszugestalten, so als ob es ein Konflikt aus dem Alltag oder aus einem Traum wäre. Der Therapeut sieht die psychosekranke Patientin gleichsam als Frau, die versucht, mit einem Weidenkorb Fische zu fangen. Statt aber zu sagen: »Das wird nicht gehen!«, ergreift er einen zweiten Weidenkorb, steigt mit in den Fluss und fängt mit ihr zusammen »Forellen«. Dabei kommentiert er sein Tun: »Da, ein Schatten! Mist, die Forelle ist weg, einfach abgehauen! – Wahrscheinlich hat sie mich gesehen. – Das Wasser ist auf die Dauer ziemlich kalt. – Wahrschein-

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lich ist die Forelle von vorhin zu ihren Mitfischen geschwommen und hat die vor uns gewarnt! – Ob Forellen wohl miteinander kommunizieren können? So wie die Wale?« Empfehlung Bei der transmodalen Beziehungsgestaltung fragt der Therapeut die Patientin nicht vorher um Erlaubnis, er kündigt sein Mitspielen im Wahn auch nicht vorher als solches an. Er bespricht das gemeinsame »Spiel« mit der Patientin anschließend auch nicht nach. Denn das würde das Spielen im Als-ob-Modus von der Wirklichkeit trennen und so die transmodale Beziehungsaufnahme definitionsgemäß verhindern bzw. wieder auflösen. Auch hütet der Therapeut sich davor, die Patientin, wenn sie selbst anfängt, an der Realität ihres Wahnerlebens zu zweifeln (siehe Fallbeispiele 80 und 81), sofort auf ihre Krankheitseinsicht festzulegen.

Denn neu auftretende Konfliktspannungen können ihr Wahnerleben schnell wieder aktualisieren und dadurch eine erste Krankheitseinsicht wieder verloren gehen lassen. Vorschnelles Klassifizieren des Wahns als »irreal« kann das Vertrauensverhältnis in der therapeutischen Beziehung dauerhaft beschädigen. Der Therapeut geht während der gesamten Dauer der Behandlung der Patientin immer wieder spielerisch in die transmodale Haltung, ohne die Widersprüche, die durch sein Wechseln zwischen den vier Denkmodi auftreten, der Patientin gegenüber aufzuklären. Er macht das solange, bis diese, wenn der Therapeut im Äquivalenzmodus denkt und handelt, spontan lacht. Zentraler Gedanke Die Patientin muss sich ihre Krankheitseinsicht selbst erwerben, das ist für sie eine mühsame Arbeit mit vielen kleinen Rückschlägen. Denn volle Krankheitseinsicht setzt letztlich voraus, dass sie fähig ist, ihren Wahnkonflikt im Als-ob-Modus zu mentalisieren und ihn also ganz auf der Vorstellungsebene zu verarbeiten. Psychotisch erkrankte Patienten brauchen mindestens ein Jahr störungsspezifischer Psychotherapie, um diese Fähigkeit zu entwickeln (siehe Fallbeispiele 81 und 82 im Kapitel 9.6.4).

Es war zwar Moreno, der die transmodale Hilfs-Welt-Methode in die heutige Psychotherapie von psychoseerkrankten Menschen einführte. Aber schon Goethe beschrieb 1788 in seiner »Lila« die »Heilung des Wahnsinns durch eine psychische Kur« mit einer Methode, die der psychodramatischen HilfsweltTechnik sehr ähnelt (Diener, 1971): In der Erzählung lässt der Heilkundige die Familie und die Hausangestellten der psychosekranken Frau drei Tage lang hin-

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tereinander die Wahninhalte Lilas und die darin auftauchenden Gestalten spielen. Er ermöglicht ihr dadurch, diesen Gestalten zum ersten Mal wirklich zu begegnen, wenn auch im Als-ob-Modus des Spiels. Sie erleidet die Wahnfantasien nicht mehr nur passiv, sondern kann aktiv gestaltend in die Beziehungen zu den von den Hausangestellten gespielten Wahnfiguren eingreifen. Auf diese Weise integriert sie in ihr Denken im psychotischen Modus den Als-ob-Modus des Spiels. In anderen Gesellschaften ist die transmodale Kommunikation im Doppelgängerdialog in der Behandlung von psychotisch erkrankten Menschen schon lange als Therapiemethode bekannt. So berichtete mir einmal ein Medizinstudent aus Afrika (Krüger, 1997, S. 112), er habe miterlebt, wie in seiner Heimat ein psychotischer Stammesangehöriger geheilt wurde: Dieser lebte in dem Wahn, dass andere ihn bestehlen würden. Der Medizinmann des Stammes inszenierte mit ihm und den anderen Dorfbewohnern zusammen eine große Suchaktion nach den »gestohlenen« Gegenständen. Das ganze Dorf und der Erkrankte gingen unter großem Aufwand und Geschrei von Hütte zu Hütte und suchten in allen Winkeln nach den Gegenständen. Der Heiler distanzierte sich also nicht von dem scheinbar Unsinnigen der Wahnfantasien des Kranken, sondern nahm ihn auf transmodale Weise ernst und wandelte die Inhalte des Wahns spielerisch in äußeres Handeln um. Er ließ ihn also aktiv im transmodalen Beziehungsmodus die Logik seiner Wahnwirklichkeit selbst überprüfen. Die transmodale Beziehungsgestaltung ist unter anderem Namen und in Abwandlungen auch in nicht psychodramatischen Behandlungsmethoden von psychotisch Erkrankten wiederzufinden, zum Beispiel bei Sechehaye (1956) oder Benedetti. Benedetti (1983, S. 199 f.) empfahl, dass der Therapeut das Wahnsymptom seines Patienten bewusst in sich aufnimmt und es durch gemeinsames Handeln im Symptom »mit eigenen Gefühlen und Vorstellungen anreichert, welche die Leidensbilder des Kranken zugleich fortsetzen und abwandeln. […] Durch die Phantasie des Therapeuten wird die Selbst-Vorstellung des Kranken […] in eine neue überführt, die die erste nicht negiert, sondern sich mit dem Gestaltenden im Erleben des Therapeuten verbindet«. Benedetti (1983, S. 297 f.) meint, »dass die therapeutische Identitätskonfusion ein Weg zur Überwindung jener Identitätskonfusion sein kann, in der die Psychose gründet. Die erste ist die Umkehr der zweiten.« Durch die Doppelgängerfunktion des Therapeuten in der Wahnproduktion des Patienten entstehe eine »Dualisierung der autistischen Psychopathologie« des Patienten: »Die sich daraus ergebende Beziehung entwickelt wiederum eine Dynamik, die auf der Fähigkeit beruht, psychopathologische Erlebensweisen des Kranken in einen Dialog zu transponieren, ohne sie gleichzeitig zu negieren oder als ›krankhaft‹ abzutun. Dann aber kann es geschehen, dass sich der Patient dem Therapeuten öffnet und diesem einen Blick

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in sein Inneres gewährt. Dieses Aufbrechen wird möglich gerade aus dem therapeutischen Durch- und Miterleben der vorangegangenen autistischen Abkapselung.« Der Therapeut sollte in der Lage sein, »die Identität des Kranken in sich aufzunehmen und in der eigenen zu beherbergen, ohne dabei sich selbst zu verlieren« (Benedetti, 1983, S. 194).

9.6  Die fünf Schritte des therapeutischen Vorgehens Empfehlung In der Therapie von psychotisch erkrankten Menschen sind frühe tiefenpsychologische Deutungen therapeutisch nutzlos. Denn die Patienten können in ihrem Wahnkonflikt definitionsgemäß nicht im Als-ob-Modus (siehe Kap. 2.2) denken und verstehen symbolische Bilder konkretistisch im Äquivalenzmodus. Nach Winnicott (1985, S. 63) müssen »Menschen, die nicht spielen können, […] erst spielen lernen. Sie verstehen keine Deutungen. […] Vorzeitige Deutungen […] stellen eine Belehrung dar und führen zur Anpassung.«

Die Therapeutin oder der Therapeut sollte zunächst auch nicht den Konflikt bearbeiten, der die psychotische Dekompensation ausgelöst hat, zum Beispiel den Ablösungskonflikt einer Patientin von ihrem Elternhaus. Denn das kann ihre psychotische Symptomatik verstärken. Psychotische Patienten sind in ihrem auslösenden Konflikt ja gerade deshalb psychotisch dekompensiert, weil ihnen die Werkzeuge zu der Bearbeitung ihres auslösenden Konflikts fehlten. Bei einer Therapie nach dem hier beschriebenen Prozessmodell erkennen die Patienten nach der Aktivierung, Differenzierung und Integration der Modi ihres Mentalisierens den Zusammenhang ihres aktuellen Wahnkonflikts mit früheren Lebenserfahrungen meistens schon von allein (siehe Fallbeispiel 81 im Kap. 9.6.4). Psychotisch erkrankte Patienten wirken deshalb auf ihren Therapeuten, je länger die Therapie dauert, desto weniger psychotisch und oft »nur« noch neurotisch krank. In den folgenden Kapiteln schildere ich fünf Schritte der Behandlung als Prozessmodell der psychodramatischen Therapie von psychoseerkrankten Menschen: 1. Der Doppelgängerdialog ist die Grundlage der Hilfswelt-Technik. Er ist aber auch einsetzbar im Erstgespräch, in der Krisenintervention, bei einer erneuten akut psychotischen Dekompensation und auch bei Zwangseinweisungen. 2. Meistens ist eine medikamentöse Begleitbehandlung erforderlich. 3. Der Therapeut symbolisiert den Gegensatz von Alltagslogik und Traumlogik mit zwei Steinen auf der Tischbühne oder mit zwei Stühlen auf der Zim-

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merbühne. 4. Es folgt die zeitgemäß abgewandelte Anwendung der Hilfs-WeltTechnik Morenos. 5. Der Therapeut lässt die Patientin ihre innere Umstellung in ihre Alltagsbeziehungen in der Gegenwart integrieren und verwendet in der Behandlung Elemente der Therapie von Patienten mit strukturellen Störungen (siehe Kap. 4.4). Mit den hier geschilderten therapeutischen Vorgehensweisen ist bei Patienten mit einer ersten psychotischen Episode, bei denen sich die Wahnkonflikte noch nicht in ihre Gedächtnisspeicher eingebrannt haben, eine Heilung möglich. Andere Patienten beenden ihre Therapie »nur« mit einem verbesserten Selbstverstehen und mit einer Besserung ihrer Symptomatik. Es ist wie immer in der Medizin: Je schwerer eine Erkrankung ist und je länger sie schon besteht, desto geringer sind gewöhnlich die Aussichten auf eine vollständige Heilung. Chronisch psychotisch Erkrankte brauchen nach den von den Kostenträgern bewilligten 25 bis 100 Sitzungen psychotherapeutischer Behandlung oft über viele Jahre weiter vierwöchentlich eine unterstützende Therapie. Zentraler Gedanke Die psychotherapeutische Behandlung nach dem hier beschriebenen Therapiemodell hilft aus den folgenden Gründen aber auch chronisch Kranken: 1. Die Therapie verbessert die therapeutische Beziehung und macht dadurch die sozialpsychiatrische Therapie erfolgreicher. 2. Die transmodale Beziehungsgestaltung fördert die Krankheitseinsicht der Patienten. 3. Sie erleichtert die Diagnostik. 4. Sie kann helfen, Klinikbehandlungen zu vermeiden und die stationäre Aufenthaltsdauer zu verkürzen. 5. Sie verringert die Kosten der Behandlung durch einen geringeren Medikamenteneinsatz. 6. Die Würde der psychotisch erkrankten Patienten als Menschen bleibt erhalten oder wird wieder hergestellt. 7. Die Therapeutinnen oder Therapeuten kommen aus ihren Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit heraus, wenn sie wissen, wie sie an der psychodynamisch richtigen Stelle psychotherapeutisch störungsspezifisch intervenieren können und wie diese Interventionen auf dem Hintergrund einer in sich systematischen Theorie zu begründen sind.

9.6.1  Der Doppelgängerdialog Bei der Anwendung des Doppelgängerdialogs (siehe Fallbeispiele 72 und 73) leiht der Therapeut, stellvertretend mentalisierend, der Patientin die Werkzeuge seines Mentalisierens. Er arbeitet mit ihr gemeinsam die an dem Wahnkonflikt beteiligten Elemente heraus, die Handlungsabfolge der Ereignisse, Ursache und Wirkung im Wahngeschehen und den Sinn, auf den das Wahngeschehen hinaus-

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läuft. Mit seinen Aussagen füllt er probatorisch die Lücken der inneren Logik des Wahngeschehens und versucht, sie zu einer Wahngeschichte zu erweitern. Dabei hält er sich an die folgenden Regeln: 1. Er geht innerlich als Doppelgänger Schulter an Schulter mit der Patientin mit in die Welt ihres Wahns hinein, so als ob es in der Realwelt eine zweite andere Welt gäbe. 2. Der Therapeut macht Aussagen, er stellt anders als sonst in therapeutischen Gesprächen keine Fragen. Als Therapeutin oder Therapeut in einem Behandlungsgespräch keine Fragen zu stellen, ist erstaunlich schwer. Auch erfahrene Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker müssen das erst üben. Mit seinen Aussagen im Doppelgängerdialog schlägt der Therapeut natürlich immer wieder einmal die falsche Richtung ein. Aber warum nicht? Das gibt der Patientin, die ihre eigene Wahnwirklichkeit natürlich besser kennt als der Therapeut, den Anstoß, selbst ihre eigene Sicht der Dinge zu erzählen. So wird die Patientin zu der, die weiß, und der Therapeut zu dem, der nicht weiß und seine Vorstellung von ihrer Wahnwelt ändern muss. Es entsteht eine Begegnung auf Augenhöhe. 3. Der Therapeut ist im Doppelgängerdialog bewusst auf empathische Weise inhaltlich oft noch ein bisschen »verrückter« als die Patientin. Das führt dazu, dass diese ihn korrigiert und als Reaktion spontan die Inhalte ihres Wahns ausführlicher mitteilt. Der Therapeut schwenkt dann jeweils auf diese neue Realität ein und kann die Patientin wieder stimmiger in ihrer Wahnrealität begleiten: »Wenn Sie nicht wissen, wie Sie in das Krankenhaus gekommen sind, dann hat jemand von der Mafia Ihnen mit einem Knüppel von hinten auf den Kopf geschlagen!« 4. Psychoseerkrankte sind nicht in der Lage, ihren Wahnkonflikt innerlich im Als-ob-Modus zu Ende zu denken. Ihre Konfliktverarbeitung ist durch ihr Denken im Äquivalenzmodus blockiert. Deshalb ist die Wahnrealität für die Betroffenen meistens selbst viel flüchtiger und verschwommener, als wir annehmen. Manchmal weiß die Patientin zum Beispiel noch nicht einmal, ob die Stimme, die sie hört, weiblich oder männlich ist. Wenn der Therapeut etwas wissen will, fragt er aber nicht, sondern macht eine Aussage, die seinem intuitiven Gespür für das Geschehen im Wahnprozess folgt: »Die Stimme ist männlich.« In einem anderen Fall vermutet er: »Der, der sie segnet, das ist ein Erleuchteter. – Nein, ein Geist! Dann ist er also so etwas wie ein Dschinn. – Ah, ja. Seine Farbe ist nicht blau, sondern dunkelrot.« 5. Der Therapeut benennt bei seinen Aussagen möglichst das Subjekt und das potenzielle Objekt der Interaktionen im Wahn und beschreibt die Handlungen des Geschehens konkret. Er sagt nicht: »Da haben Sie sich bedroht

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gefühlt«, sondern legt mutig fest: »Da haben Sie sich bedroht gefühlt von den Strahlen, die Sie aus der Steckdose trafen.« Der Therapeut vermeidet es, wie in der Gesprächspsychotherapie nach Rogers nur empathisch die Gefühle der Patientin zu benennen. Wenn er einen Affekt anspricht, bettet er diesen immer sofort ein in einen von ihm selbst imaginierten Ursache-WirkungsZusammenhang: »Sie haben Angst. Alle spielen Ihnen etwas vor! – Und Sie wissen nicht, wer dahintersteckt und wer die Fäden in der Hand hält. Wahrscheinlich ist das der Geheimdienst.« 6. Der Therapeut vermeidet symbolische Bilder und Metaphern, weil psychoseerkrankte Patienten oft im Äquivalenzmodus denken und zum Beispiel den Satz »Das war für Sie ein Schlag ins Gesicht!« missverstehen als »Da sind Sie ins Gesicht geschlagen worden!«. Die Patientin würde darauf dann mit zusätzlicher Verunsicherung und Verwirrung reagieren. Der Therapeut formuliert diese Metapher deshalb auch wieder in konkretes interaktionelles Geschehen um: »Dass Ihr Mann sein Versprechen nicht eingehalten hat, das hat Sie sehr enttäuscht.« 7. Um Zeit zum Nachspüren zu gewinnen, kann der Therapeut in Anwesenheit der Patientin auch laut ein Selbstgespräch halten: »Ich stelle mir gerade vor, was ich an Ihrer Stelle fühlen würde. Das kann man ja nicht aushalten!« »Ich überlege gerade, was ich machen kann. – Mir fällt nichts ein. Aber warten Sie, ich denke weiter nach!« 8. Wenn im Wahn durch die Wahnfiguren das Leben der Patienten gefährdet oder ihre Würde als Mensch verletzt wird, empört der Therapeut sich stellverstretend für die Patientin als ihr Doppelgänger im Wahnkonflikt: »Sie sind als die Großeltern von Frau H. doch schon tot! Da können Sie doch nicht wollen, dass Ihre Enkelin zu Ihnen kommt und auch dabei stirbt! Sie müssten doch wollen, dass Ihre Enkelin leben kann!« »Das ist ja übergriffig, wenn Ihr Chef Sie auf der Toilette beobachtet!« 9. Bei Bedarf äußert der Therapeut nach dem »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.) sein Mitgefühl für das angestrengte Bemühen der Patientin, trotz ihres Wahnerlebens im Alltag nicht aufzufallen oder den Anforderungen, die der Wahn an sie stellt, zu entsprechen: »Das ist aber sehr anstrengend, so tun zu müssen, als ob nichts wäre!« »Da haben Sie aber eine große Verantwortung!« 10. Im letzten Drittel eines Doppelgängerdialogs versucht der Therapeut, mit der Patientin zusammen aus der Wahnwirklichkeit heraus eine stimmige Konsequenz für ihr Handeln in ihrer Alltagsrealität zu entwickeln: »Wenn ich das wäre, dann würde ich zur Polizei gehen und eine Anzeige machen …« »Vielleicht könnten Sie ja auch einen Detektiv einschalten!«

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11. Der Therapeut macht der Patientin auf der Realebene keine falschen Versprechen und bemüht sich, auch im transmodalen Mitdenken innerlich die Orientierung zu behalten: Er nimmt seine Aufgabe als Psychologe oder Arzt verantwortlich weiter wahr und sorgt zum Beispiel bei Selbstgefährdung der Patientin für einen ausreichenden Schutz und medikamentöse Behandlung. Die transmodale Beziehungsgestaltung ist keine folie à deux, keine Verrücktheit zu zweit. Der Doppelgängerdialog sieht von außen spielerisch einfach aus, der Therapeut denkt und handelt dabei aber in Wahrheit sehr komplex. Übung 19 Versuchen Sie als Leser oder Leserin einmal in einem Rollenspiel mit einem Kollegen, der eine psychoseerkrankte Patientin spielt, diese »Patientin« im Doppelgängerdialog transmodal zu begleiten. Alternativ können Sie das auch direkt mit einer Ihrer Patientinnen tun.

Sie werden merken: 1. Als Therapeut scheitern Sie zunächst daran, keine Fragen zu stellen und nur Aussagen machen zu wollen. Sie müssen das erst üben. 2. Es verlangt Mut, Intuition und nicht zuletzt die Fähigkeit, Niederlagen anzunehmen, wenn Sie den Wahn Ihrer Patientin probatorisch mit ausgestalten und sich von ihr auch korrigieren lassen. 3. Auch wenn Sie anfangs vielleicht noch »Fehler« machen, reagieren Ihre Patienten schon allein auf Ihr Bemühen positiv und die therapeutische Beziehung verbessert sich. Denn oft ist es für sie das erste Mal, dass sich jemand für die Inhalte ihres Wahns wirklich interessiert. Psychoseerkrankte bleiben während ihrer psychiatrischen Behandlung mit ihrem zentralen Leiden oft einsam. 4. Ihre Patientin oder Ihr Patient gewinnt an Krankheitseinsicht. Das gilt auch für akut psychotische Patienten. 5. Der Doppelgängerdialog hilft bei der Diagnostik und dem Erfassen des psychopathologischen Befundes. 6. Er erleichtert die Krisenintervention und sogar auch das ärztliche Vorgehen bei einer Zwangseinweisung. Fallbeispiel 75: Eine als Allgemeinmedizinerin niedergelassene Ärztin berichtet, wie sie die Technik des Doppelgängerdialogs, die sie in einem Curriculum gelernt hatte, zur psychiatrischen Krisenintervention angewandt hat: Die Ärztin wird nachts zu einem Notfall gerufen. Vor dem Haus des Patienten stehen schon der Krankenwagen und auch ein Polizeiauto. In Deutschland dürfen nur Polizisten einen Kranken körperlich anfassen und ihn notfalls gegen ihren Willen mit Gewalt in den Krankenwagen bringen. Krankenpflegern ist das nicht erlaubt. Die Ärztin lässt sich informieren und geht durch das Haus hindurch zu der dahinterliegenden Terrasse. Dort steht ein

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50-jähriger Mann und guckt nach oben in den Himmel. Er scheint angestrengt etwas zu beobachten. Die Ärztin stellt sich links neben ihn und sieht auch in den Himmel: »Da sind viele Sterne heute!« Der Mann: »Ja.« Die Ärztin: »Sie müssen aufpassen!« Der Mann: »Ja.« Er macht eine große Armbewegung von oben links bis auf den Boden unten rechts. Die Ärztin ahmt die Bewegung nach: »Ah, Sie müssen aufpassen, dass die Himmelskörper da«, sie zeigt mit der Hand auf die am Himmel sichtbaren Sterne, »hier nicht direkt bei uns auf der Erde einschlagen!« Der Mann: »Nein, da landen Ufos.« Die Ärztin: »Ah ja, Sie zeigen den Ufos, wo sie landen sollen.« Der Mann: »Ja, ich weise sie ein.« Die Ärztin erschrickt, überlegt einen Augenblick und meint einfühlsam: «Da haben Sie aber viel Verantwortung. Das muss anstrengend sein!« Der Mann stöhnt: »Das stimmt!« Die Ärztin spielt ernsthaft in der Wahnwirklichkeit des Patienten mit und beobachtet mit ihm zusammen weiter den Himmel, bis sie einen kreativen Einfall hat: Sie deutet mit der Hand nach links: »Da, da ist noch ein Ufo. Das haben sie noch vergessen!« Der Mann: «Oh!« Mit seinem rechten Arm zeigt er wieder mit einer großen Bewegung dem »Ufo« den Weg zum »Landeplatz.« Die Ärztin sieht weiter in den Himmel. Nach einiger Zeit meint sie: »Ich sehe kein Ufo mehr. Sehen Sie noch eines?« Der Mann: »Nein!« Die Ärztin: »Können wir dann gehen?« Der Mann: »Ja.« Wie selbstverständlich geht er zusammen mit der Ärztin durch das Haus zum Krankenwagen und setzt sich widerspruchslos da hinein. Die Polizisten brauchen nicht gewaltsam einzugreifen. Der Patient ist durch diese Art der Zwangseinweisung nicht noch zusätzlich traumatisiert worden.

Die Methode des Doppelgängerdialogs erleichtert bei Psychoseerkrankten auch die Diagnostik und hilft, differenzialdiagnostische Überlegungen zu überprüfen. Fallbeispiel 76: Eine erfahrene Psychiaterin schilderte in der Supervision den Fall einer 25-jährigen Patientin mit schweren Depressionen, Angstzuständen und vielen schweren Suizidversuchen bei einem angeblichen »Borderline-Syndrom«. Bei der Patientin gab es in der fünfjährigen Therapie mit insgesamt zwei Jahren stationärer Klinikbehandlung keinen Hinweis auf eine psychotische Erkrankung. Trotzdem kamen die Therapeutin und der Supervisor in der Supervisionsstunde wegen der Chronizität der schweren Krankheitssymptomatik auf die Idee, dass die Therapeutin die Diagnose noch einmal überprüfen sollte, indem sie die Methode des Doppelgängerdialogs anwendet. Die Therapeutin und der Supervisor übten dies zusammen in einem Rollenspiel. Dabei nahm die Therapeutin die Rolle der Patientin ein, der Supervisor selbst die Rolle als Therapeut. In der nächsten Supervisionsstunde berichtete die Therapeutin erstaunt, beglückt und erleichtert: Durch den Doppelgängerdialog hatte sie erstmals Einblick in das ausgesprochen destruktive Wahnsystem ihrer Patientin gewonnen. Die Patientin konnte durch die so neu gewonnene Diagnose einer chroni-

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schen halluzinatorischen Psychose nach fünf Jahren Therapie erstmals angemessen mit Neuroleptika behandelt werden.

9.6.2  Die medikamentöse Behandlung Psychoseerkrankte Menschen denken aufgrund ihrer Fixierung in den Äquivalenzmodus oft in Schwarz-Weiß-Mustern. Sie haben es schwer, eigene Erfahrungen als solche zu erfassen und diese in der Zukunft anzuwenden. Eine Psychotherapie dieser Patienten hat deshalb immer auch die Aufgabe, die in der Therapie gemeinsam gemachten Erfahrungen für die Entwicklung der Patientin nutzbar zu machen. Dabei dient der Therapeut der Patientin gleichsam als Hilfs-Gedächtnis und erinnert sie bei Bedarf daran, was in ihrer Therapie früher zu Fortschritten oder aber auch zu Verschlechterungen ihres Zustandsbilds geführt hat. Das betrifft auch die Erfahrungen der Patienten mit Psychopharmaka. Die Frage der Medikation ist ein wichtiges Thema der Psychotherapie von psychotisch Erkrankten, das gilt auch bei einer Behandlung durch psychologische Therapeutinnen und Therapeuten. Eine Psychotherapie einer akut psychotischen Patientin ohne begleitende medikamentöse Behandlung ist heute anders als in den Zeiten von Moreno nicht mehr denkbar. Empfehlung Der Therapeut sollte mit einer psychotisch erkrankten Patientin im Allgemeinen nur dann eine ambulante Psychotherapie beginnen, wenn diese sich innerhalb der ersten fünf probatorischen Psychotherapiestunden auf eine medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika einlässt.

Allerdings entzündet sich an der Frage der medikamentösen Behandlung oft ein Kampf um die Wirklichkeit. Wichtig ist es deshalb, als Therapeut die Patienten individuell so zu motivieren, dass der Grund für die Medikamenteneinnahme auch innerhalb ihrer Wahnrealität noch Bestand hat, und trotzdem nicht zu lügen. Der Therapeut sucht dazu nach einem von der Patientin selbst subjektiv als Leiden erlebten Symptom, das sich mit Neuroleptika vermindern lässt, zum Beispiel den Stress durch die Verwirrung der Wirklichkeit: »Wenn Sie das alles aushalten, das muss schwer für Sie sein. Zumal Sie sensibel sind gegenüber Konflikten. Es gibt aber die Möglichkeit, Medikamente, zu nehmen, zum Beispiel ein oder zwei Tabletten 100 mg Amisulprid täglich. Das würde Ihre Sensibilität gegenüber Konflikten verringern, sodass Sie diese nicht mehr so intensiv erleben. Dabei wären Sie dann trotzdem weiter in der Lage, Auto zu fahren.« Oder der Therapeut fragt nach Schlafstörungen und erklärt: »Dieses Medika-

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ment macht Sie weniger sensibel gegenüber äußeren Manipulationen und Sie können dann vermutlich besser schlafen!« Fallbeispiel 77: Ein 20-jähriger Schüler, Herr C., kommt wegen einer drogeninduzierten Psychose (ICD F12.5) in die Therapie. Er hört immer wieder Stimmen, obwohl der letzte Drogenkonsum angeblich sechs Monate her ist. Auf Nachfrage bestätigt er, fünf Jahre exzessiv Haschisch konsumiert zu haben und süchtig zu sein. Er lebe jetzt aber abstinent und wolle Drogen nicht wieder anfassen. Der Patient ist in Bezug auf sein psychotisches Erleben oberflächlich krankheitseinsichtig, hat aber nach einer Klinikentlassung keine Psychopharmaka mehr genommen und ist drei Monate später wieder psychotisch dekompensiert. In der zweiten Therapiestunde erklärt der Therapeut dem stark rational gesteuerten jungen Mann: »Ihre Psychose ist wahrscheinlich dadurch zustande gekommen, dass Sie durch den jahrelangen hohen Haschischkonsum Ihre Ich-Stärke geschwächt haben, also Ihre Fähigkeit zur inneren Verarbeitung von Konflikten. Das ist die Wirkung von Drogen. Mein Vorgehen in der Psychotherapie zielt darauf ab, Ihre Ich-Stärke wieder zu verbessern. Solange Sie aber Stimmen hören und zwischen Psychose-Welt und Alltags-Welt hin und her gerissen sind, wird die Ich-Stärke, die in der Psychotherapie aufgebaut wird, immer wieder zusammenbrechen und kann nicht wachsen. Deshalb möchte ich zur Bedingung für eine Psychotherapie machen, dass Sie zumindest in der ersten Phase der Behandlung eine niedrige Menge Neuroleptika nehmen, gerade soviel, dass die Stimmen weg sind und Sie aber auch keine oder nur wenig Nebenwirkungen haben. Sie können die Tabletten zunächst drei Tage lang ausprobieren. Tabletten sind keine Depotspritze, Sie haben also die Möglichkeit, bei negativen Wirkungen die Tabletten zur Not abzusetzen. Kommen Sie nach drei Tagen wieder hierher und erzählen Sie mir dann, ob eine positive Wirkung eingetreten ist und, wenn ja, welche!« (Fortsetzung in Kap. 9.5.4).

Die Injektion eines vierzehn Tage lang wirkenden Depotmedikaments ist bei einer Patientin mit einer ersten psychotischen Dekompensation nur im Notfall einzusetzen. Denn viele Patienten kennen die Folgen ihrer Zustimmung zur Spritze nicht, und es kann bei ihnen vorübergehend zu massiven Nebenwirkungen kommen. Eine Probebehandlung mit Neuroleptika in Tablettenform ist vorzuziehen, weil die Patienten dann an dem Entscheidungsprozess über die Art und Höhe der Medikation mitbeteiligt sind. Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind zum Beispiel Muskelkrämpfe, Bewegungsstörungen, Sehstörungen, Müdigkeit, Sexualstörungen, Einschränkungen der Kognition und andere. Therapeutinnen und Therapeuten sollten während des Beginns der Behandlung mit Psychopharmaka von sich aus aktiv nach solchen Nebenwirkungen suchen bzw.

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fragen und diese durch Umstellung der Medikation möglichst verringern oder durch den mitbehandelnden Arzt verringern lassen. Das Thema der medikamentösen Behandlung begleitet die ganze Psychotherapie. Der Weg der richtigen Dosierung ist eine gemeinsame Fahrt zwischen Skylla und Charybdis hindurch. Empfehlung Eine zu hohe Medikation mit Neuroleptika vermindert oder blockiert bei den Patienten das Wahrnehmen von Konflikten und so auch die Konfliktverarbeitung. Bei einer zu geringen Medikation wird aber das Arbeitsgedächtnis der Patienten von unsortiertem Konfliktmaterial so stark überschwemmt, dass ihre Fähigkeit zum Mentalisieren immer wieder zusammenbricht. Während einer Langzeitpsychotherapie empfiehlt es sich, die Neuroleptika so hoch zu dosieren, dass das Stimmenhören weitgehend aufhört. Denn kontinuierliches Stimmenhören traumatisiert die Seele der Patienten und ist ein Zeichen für eine weiterlaufende Auflösung psychischer Prozessstrukturen.

Andererseits kann begrenztes Stimmenhören aber die Psychotherapie auch unterstützen (siehe Fallbeispiele 80, 81 und 85), wenn zum Beispiel die Stimme einer bestimmten Wahnfigur im Abstand von sechs Wochen nur einmal für kurze Zeit in Erscheinung tritt und die Patientin diese Erfahrung in der Therapie offen kommuniziert. Der Wahnkonflikt wird dann direkt therapeutisch zugänglich, und die Patientin kann in der Therapie sofort einen aktiven Umgang mit den Stimmen lernen und den Erfolg dieser Arbeit direkt erleben (siehe Fallbeispiel 77 und 81 in Kap. 9.6.4). Natürlich ist im Ausnahmefall auch eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik erforderlich, bei Selbst- oder Fremdgefährdung sogar auch eine Zwangseinweisung. Aber auch eine solche Einweisung sollte nach Wiederaufnahme der ambulanten Therapie als gemeinsame Erfahrung miteinander psychotherapeutisch nachgearbeitet werden. Der Therapeut kann dabei nach dem »Prinzip Antwort« (Heigl-Evers, Heigl, Ott und Rüger, 1997, S. 176 ff.) seine Sorge um die Patientin und seine Grenzen als Therapeut deutlich machen (siehe Kap. 4.13 und 4.14). Gemeinsame Krisenerfahrungen ermöglichen dem Therapeuten und der Patientin, zusammen einen Notfallplan zu erstellen, den die Patientin für sich aufschreibt. Aus einem solchen Notfallplan soll hervorgehen, an welchen spezifischen Zeichen die Patientin erkennen könnte, dass sie erneut psychotisch dekompensiert, und was sie gegebenenfalls dagegen tun will, zum Beispiel, dass sie dann sofort einen Arzt aufsucht und diesem mitteilt, dass sie Angst hat, wieder psychotisch krank zu werden. Wenn sie eine Nacht nicht schläft, kann das

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Zufall sein. Wenn die Patientin aber zwei Nächte hintereinander nicht schlafen kann, ist Gefahr im Verzug. Genauso auch, wenn andere Menschen »wieder ihre Gedanken hören können« oder wenn »die Nachbarn wieder über sie reden«. Die Patientin soll ihren individuellen Notfallplan in ihrem Portemonnaie immer bei sich tragen. 9.6.3 Das Symbolisieren des Gegensatzes zwischen Alltagslogik und Traumlogik Psychotisch erkrankte Menschen leiden an der Verwirrung ihres Wirklichkeitserlebens. Die Reaktionen der Außenwelt auf ihr Wahnerleben führen dazu, dass sie sich aus Beziehungen zurückziehen. Der Doppelgängerdialog und die transmodale Beziehungsgestaltung lösen diese Selbstisolation zumindest zunächst in der therapeutischen Beziehung auf. Im nächsten Therapieschritt und als Vorbereitung für die Arbeit mit der Hilfs-Welt-Methode und ihren Variationen interpretiert der Therapeut die Verwirrung der Wirklichkeit der psychosekranken Patientin empathisch als Konfusion zwischen ihrer Alltagslogik und Traumlogik und repräsentiert diese beiden konträren Logiken als »Alltags-Ich« und »TraumIch« bzw. »Psychose-Ich« mit Steinen außen auf der Tischbühne oder mit leeren Stühlen auf der Zimmerbühne. Dadurch erhalten die beiden sich widersprechenden Logiken der Patientin in ihrer psychischen Selbstorganisation nebeneinander ein Existenzrecht und Bedeutung. Der Therapeut kann mithilfe dieser Aufstellung dem Patienten oder auch seinen Angehörigen erklären, wie er das seelische Geschehen bei einer psychotischen Dekompensation versteht: »Es gibt eine Alltagslogik und eine Traumlogik, die wir vom nächtlichen Träumen kennen. Normalerweise kontrolliert die Alltagslogik die Traumlogik. In der Psychose aber besteht eine Schwäche der Alltagslogik, sodass die Traumlogik im Wachzustand in die Alltagslogik durchbricht. Dadurch wird dann aus einem nächtlichen Albtraum tagsüber ein Verfolgungswahn.« Die von Leuschner (2000) geprägten Begriffe »Alltagslogik« und »Traumlogik« sind theoretisch kompatibel mit den im Kapitel 9.4 beschriebenen Modi des Mentalisierens. Mit »Traumlogik« ist das Denken im psychotischen Modus gemeint, das durch das Denken im Äquivalenzmodus abgesichert wird. Beim Denken mit der »Alltagslogik« kontrolliert dagegen das Denken im Als-ob-Modus das Mentalisieren im psychotischen Modus, sodass die Patientin im Konflikt die Realität von bloßen inneren Repräsentanzen dieser Realität, also von inneren Vorstellungen, unterscheiden kann. Die Technik der äußeren symbolischen Repräsentation der Alltagslogik und der Traumlogik mit Steinen auf dem Tisch oder mit Stühlen ist in der Therapie von Psychoseerkrankten auch schon für sich allein anwendbar und hilfreich.

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Fallbeispiel 78: Ein chronisch psychotischer, emotional wenig schwingungsfähiger Patient, Herr D., hatte sich an seiner Dienststelle vorzeitig um eine Höhergruppierung beworben, er wurde aber nicht, wie von ihm erhofft, vorzeitig befördert. Daraufhin entwickelte er den Wahn, zum Leiter des Amtes bestimmt worden zu sein, später zum Leiter eines Bundesamtes und dann sogar zum CSU-Vorsitzenden. Immer wieder ging Herr D. im schwarzen Anzug zur Arbeit, weil er glaubte, dass er am heutigen Tag die entsprechende Ernennungsurkunde erhalten würde. Der Therapeut legte vor ihn auf den Tisch einen Stein für sein Alltags-Ich und einen anderen für sein TraumIch: »Einerseits haben Sie die Information erhalten, dass Sie heute ernannt werden, und gehen deshalb im schwarzen Anzug in Ihr Büro! Für dieses Erleben lege ich hier diesen runden Stein hin, wir können ihn ja den Beförderungsstein nennen. Andererseits aber müssen Sie in Ihrem Büro so tun, als ob nichts wäre, als ob Sie von nichts wüssten. Dafür steht dieser kantige Stein. Sie machen im schwarzen Anzug Ihre ganz gewöhnlichen Arbeiten, und das auch noch gut. Das muss sehr schwer sein!« Der sonst emotional verarmte Mann fing plötzlich an zu weinen und stöhnte: »Das können Sie wohl glauben!« Er fühlte sich sehr verstanden. Empfehlung In der Behandlung von psychotisch erkrankten Patienten geht es therapeutisch nicht darum, den Widerspruch zwischen der Alltagswelt und der Psychosewelt des Patienten aufzulösen, sondern nur darum, diesen Widerspruch kenntlich zu machen und das Leiden des Patienten an der Verwirrung seiner Wirklichkeit empathisch zu teilen. Dadurch entsteht Vertrauen in der therapeutischen Beziehung. Dieses größere Vertrauen erleichtert auch die sozialpsychiatrisch geführte Behandlung des Patienten in den nächsten Jahren.

Die Wahnrealität ist für die Patienten meist viel flüchtiger und unsteter, als wir Therapeuten vermuten. Die Patienten erfassen oft selbst überhaupt nicht, was in ihrem Wahn alles vorkommt. Wenn der Therapeut sich verwirrt fühlt, spiegelt dies also meistens die Orientierungslosigkeit der Patienten wider. Der Therapeut hilft seiner Patientin, sich in ihrem verwirrten Denken zu orientieren, wenn er zunächst sich selbst orientiert und mit seiner Patientin zusammen mit Steinen auf der Tischbühne ihr soziales Atom oder ihre Seelenlandschaft (siehe Kap. 5.10.10 und 8.2) aufstellt. Dabei soll er für ihr Ich aber zwei Ich-Steine benutzen, einen für ihre Alltagslogik und einen anderen für ihre Traumlogik. Fallbeispiel 79 (Krüger, 1997, S. 44 f., gekürzt): Die 40-jährige Frau E. war hochpsychotisch zum Erstgespräch gekommen. Sie erzählte von Magiern, die nachts ihre Aura stehlen, sie vergewaltigen und sie dann wieder zurückschicken. Diese

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würden sie über das Radio beeinflussen. Sie litt an körperlichen Missempfindungen und vielem mehr. Der Therapeut fühlte sich durch die vielen scheinbar nicht zusammenhängenden Informationen völlig chaotisiert. Er vereinbarte mit ihr eine medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika. In der zweiten Therapiestunde forderte er die Patientin dann gezielt auf: »Können Sie das, was zu Ihrem Leben gehört, einmal mit verschiedenen Steinen auf dem Tisch aufbauen? Nehmen Sie dabei auch einen Stein für sich selbst!« Frau E. legte einen kleinen Stein für sich hin, dann in einigem Abstand zwei etwas größere Steine für zwei »böse Magier«, einen für einen Mann und einen für ihre frühere Professorin, in die sie sich verliebt hatte. Dahinter jeweils einen Stein für deren Partner. Der Therapeut war verwundert. Er fragte nach: »Ist das alles?« Frau E.: »Ja, das ist es!« Der Therapeut intervenierte jetzt störungsspezifisch und ließ die Patientin neben ihrem Psychose-Ich auch ihr Alltags-Ich symbolisieren: »Frau B., es gibt Sie doch aber auch noch im Alltag, wo Sie funktionieren. Sie haben Kinder, ein Geschäft. Legen Sie doch bitte für ihr Alltags-Ich auch noch einen Stein hin!« Die Patientin positionierte einen zweiten Ich-Stein neben ihr erstes »Ich« und ergänzte die Aufstellung mit Steinen für ihren Ehemann und ihre zwei Kinder. Anschließend besprachen der Therapeut und die Patientin das, was sie auf dem Tisch vor sich sahen. Frau E. nannte das Traum-Ich ihr »Gefühls-Ich«, das Alltags-Ich ihr »funktionierendes Ich«. Beim Anblick der beiden Steine verstummte sie plötzlich betroffen und brach in Tränen aus: »Eigentlich habe ich mein ganzes Leben nur funktioniert!« Es stellte sich heraus: Frau E. hatte in ihrer Kindheit ihr Leben trotz absolut chaotischer Lebensverhältnisse tatkräftig gemeistert. Sie hatte aber einen Mann geheiratet, der offenbar wenig kontaktfähig war und jetzt unter einem Alkoholproblem litt. In der Ehebeziehung hatte sie ihre Gefühle, wie in der Kindheit gelernt, immer abgespalten. Ausgelöst durch eine gynäkologische Erkrankung und bald danach eine Liebesbeziehung zu ihrer Professorin, die von dieser nicht erwidert wurde, war sie psychotisch dekompensiert. In der darauffolgenden Therapiestunde berichtete die Patientin: »Ich habe nach der letzten Stunde drei Tage nur geweint.«

Das Aufstellen der Seelenlandschaft auf der Tischbühne mit Intermediärobjekten (Rojas-Bermudez, 2003, S. 332 ff.) und die Trennung von Wahnwelt und Alltagswelt mit zwei Symbolen verlangsamt, entspannt und ordnet die Interaktion in der durch das wahnhafte Erleben der Patientin chaotisierten therapeutischen Beziehung durch den Blick auf ein gemeinsames Drittes, vermindert die innere Erregung der Patientin und verbessert ihre Kognition. Der Therapeut bietet der Patientin mit der Symbolisierung des Gegensatzes von Alltags-Ich und TraumIch ein Denkmodell an, das ihr helfen kann, sich selbst besser zu verstehen. In der weiteren Therapie repräsentiert der Therapeut diese beiden Denklogiken immer wieder auch mit zwei Stühlen auf der Zimmerbühne. Er deutet dann im

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Gespräch mit seiner Hand auf das »Traum-Ich« oder das »Alltags-Ich«, um zu zeigen, in welcher der beiden Welten er sich zusammen mit der Patientin gerade bewegt. Im Gespräch über die Wahninhalte gestaltet der Therapeut die Beziehung im Doppelgängerdialog immer transmodal. Wenn er mit ihr über ihre Erlebnisse im realen Alltag redet, stellt der Therapeut der Patientin hingegen wie üblich auch Fragen. Fallbeispiel 80: Ein 32-jähriger Handwerker, Herr F., lebte schon ein halbes Jahr in dem Wahn, dass er in seiner Wohnung abgehört und gefilmt würde. Mit der Methode des Doppelgängerdialogs gelang es im Erstgespräch, den Patienten zu überzeugen, dass er zur Probe »gegen seine übergroße Sensibilität« für vier Tage ein Medikament nahm, ein Neuroleptikum. In der zweiten Therapiesitzung berichtete Herr F.: »Es ist jetzt viel ruhiger geworden. Ich war übrigens auch bei der Polizei. Die haben aber gesagt, sie brauchen Beweise oder einen Zeugen.« Der Therapeut: »Ach so, ja klar. Das leuchtet ein!« Herr F: »Aber die habe ich ja nicht!« Der Therapeut: »Oh ja, – schade!« Vier Wochen später fing Herr F. an, zu zweifeln: »Vielleicht habe ich mir das alles ja auch nur eingebildet.« Um die therapeutische Beziehung nicht doch noch durch die klassische psychiatrische Haltung zu blockieren, gestaltete der Therapeut diese bewusst auch weiterhin transmodal: »Meinen Sie? Ich finde, was Sie mit den Nachbarn erlebt haben, das bleibt auf jeden Fall gültig und bedeutsam.« Der Therapeut stellte einen zweiten Stuhl links neben den Patienten: »Ich stelle diesen Stuhl hier neben Sie für die Seite in Ihnen, die das Filmen und Abhören erlebt hat. Sie können das ja Ihr Traum-Ich nennen. Beim nächtlichen Träumen ist es ja auch so, dass der Trauminhalt tagsüber unwirklich erscheint und nachts total wahr.« In den nächsten vier Wochen erstellte der Patient von sich aus spontan mit großem Aufwand eine Liste auf von seinen Erlebnissen im Alltag und unterteilte diese nach den Merkmalen »real« und »nur eingebildet« in zwei verschiedene Rubriken.

Die Zwei-Stühle-Technik, die Arbeit mit den beiden Stühlen für das »AlltagsIch« und das »Traum-Ich« auf der Zimmerbühne, ist aus den folgenden Gründen eine zentrale Technik in der Psychotherapie von psychotisch erkrankten Patienten: 1. Durch die real sichtbare Existenz des »Traum-Ichs« und »Alltags-Ichs« nebeneinander auf der Bühne wird die Patientin nicht einseitig darauf festgelegt, »verrückt« zu sein. Der Therapeut gesteht ihr explizit zu, auch gesund erwachsen zu denken. 2. Die Trennung von Alltags-Ich und Traum-Ich mit zwei Stühlen ermöglicht es dem Therapeuten und seiner Patientin, in der Kommunikation miteinander alle psychotischen Erlebnisse der Patientin innerlich dem außen als

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Stuhl sichtbaren »Traum-Ich« zuzuordnen. Dadurch wird das Alltagshandeln der Patientin und ihre Bewältigung des Alltags, repräsentiert durch das »Alltags-Ich«, unausgesprochen als qualitativ anders und »gesund« definiert. Das stärkt das Ich der Patientin. 3. Wenn der Therapeut ihre »Traumlogik« und ihre »Alltagslogik« mit zwei leeren Stühlen real nebeneinander auf der Bühne stehen sieht, fällt es ihm auch selbst leichter, spielerisch die Koexistenz der beiden widersprüchlichen Welten der Patientin zu akzeptieren. Dadurch lösen sich Blockaden in der therapeutischen Beziehung auf oder sie entstehen erst gar nicht. 4. Die gemeinsame Therapieplanung wird erleichtert. Eine Psychotherapie von psychoseerkrankten Menschen umfasst immer auch sozialpsychiatrische Maßnahmen. Diese helfen der Patientin, ihre konkreten Alltagsprobleme besser zu bewältigen. Die störungsspezifische Psychotherapie hat aber darüber hinaus das Ziel, auch die Wahnkonflikte der Patientin zu verarbeiten. Die reale Existenz der beiden Stühle von Traum-Ich und Alltags-Ich nebeneinander gibt diesen beiden therapeutischen Aufgaben gleichberechtigt Bedeutung. 5. Die äußere Gegenwart der beiden Stühle für das Alltags-Ich und das TraumIch gibt der Patientin und ihrem Therapeuten die Sicherheit, bei der Arbeit mit der Hilfswelt-Methode aus der psychotischen Hilfs-Welt jederzeit äußerlich handelnd durch den Wechsel auf den Stuhl des Alltags-Ichs auch wieder in die Alltagswelt zurückkehren können. Das macht es beiden leichter, sich transmodal auf den Wahnkonflikt einzulassen. 9.6.4 Die Anwendung der Hilfswelt-Methode beim Hören von Stimmen Bei der Anwendung der Hilfswelt-Methode geht der Therapeut als Doppelgänger mit in das wahnhafte Erleben der Patientinnen und Patienten hinein und aktiviert durch sein transmodales Spiel die Werkzeuge ihres Mentalisierens, die sie brauchen, um den in der Wahnrealität enthaltenen Konflikt zu erfassen und auszuarbeiten. Das Ziel dabei ist, dass sie wieder Herr bzw. Frau im eigenen Hause werden (siehe Abb. 6), den »Aspekt des Schöpfers zu ihrem eigenen Leben« (Moreno, 1970, S. 77) und Zugang zu der Aktualisierungstendenz ihres Selbst gewinnen. Moreno hat bei der Anwendung der Hilfswelt-Technik in seinem Sanatorium in Beacon die Personen und Figuren des Wahns seiner Patienten von Hilfs-Therapeuten spielen lassen. Dieses einzeltherapeutische Vorgehen würde wegen seines großen Aufwandes und der transmodalen Beziehungsgestaltung im Alltag der Klinik (siehe Fallbeispiel 70) heute jedes therapeutische Setting sprengen. Wir benutzen deshalb jetzt Stühle und Handpuppen, um das

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Konfliktsystems des Wahns außen im Therapiezimmer zu repräsentieren und den Wahnkonflikt bis zur Vollendung seines kreativen Verarbeitungsprozesses auszuspielen. Bei der Anwendung der Hilfswelt-Methode geht der Therapeut die folgenden Schritte: 1. Er stellt zusammen mit der Patientin die beiden Stühle für ihr Alltags-Ich und ihr Traum-Ich bzw. Psychose-Ich auf der Zimmerbühne auf. 2. Er blickt mit ihr gemeinsam Schulter an Schulter in das Behandlungszimmer, erfasst mit ihr mithilfe des Doppelgängerdialogs die Personen oder Stimmen ihres wahnhaften Erlebens und repräsentiert diese mit leeren Stühlen auf der Objektebene als gemeinsames Gegenüber: »Ah, ja, da waren drei Polizeiautos, ich stelle die hier einmal hin. Die sind hinter Ihnen hergefahren und haben Sie verfolgt!« Damit die Patientin die symbolische Repräsentation leichter mitvollziehen kann und die Stühle nicht nur als Stühle wahrnimmt, stellt der Therapeut für die Personen oder Stimmen zusätzlich passende Handpuppen auf die Stühle. 3. In der Kommunikation mit der Patientin bezieht er die so symbolisierten Wahnfiguren interaktionell transmodal in das Gespräch mit ein. 4. Die Patientin kann bei der Ausarbeitung ihres wahnhaften Erlebens im Als-obModus des Spiels durchaus für kurze Zeit in die Rolle einer Gegenfigur wechseln, zum Beispiel in die ihrer toten Großmutter oder eines weisen Alten. Das geschieht aber im Sinne eines Rollenwechsels, um zu zeigen, wie diese Gegenfiguren handeln oder wie sie auf das Handeln der Protagonistin reagieren würden. Sie soll mit den »Personen« ihres Wahns nicht mit dem psychodramatischen Dialog und Rollentausch die Beziehung klären. 5. Der Therapeut ermutigt die Patientin, auf das Geschehen in ihrem Wahnprozess auch selbst Einfluss zu nehmen, zum Beispiel auf das Verhalten der »Stimmen«. 6. Bei Bedarf protestiert er als Doppelgänger der Patientin aktiv interaktionell, wenn ihre Wahngestalten ihr das Lebensrecht absprechen oder ihre Würde als Mensch verletzen, und hilft ihr gegebenenfalls, ihr Lebensrecht und ihre Würde den Wahnfiguren gegenüber durchzusetzen. Zum Beispiel kann er die durch einen leeren Stuhl repräsentierte Stimme des »Geschäftsführers« der Patientin aus eigenem Recht stellvertretend für sie zur Rede stellen: »Das ist aber sehr übergriffig, wenn Sie Ihre junge Angestellte fragen, was sie auf der Toilette macht!« Oder er rät der Patientin, mit den Stimmen einen Vertrag abzuschließen (Romme und Escher 1997, S. 73, S. 75 ff.), dass diese sie erst ab 20 Uhr belästigen dürfen, weil sie sich vorher auf ihre Arbeit konzentrieren muss. Dieses Suchen nach einer für die Patientin persönlich besseren Lösung im Wahnkonflikt ähnelt dem Vorgehen in der Behandlung von Albträumen in der Imaginery Rehearsal Therapy (IRT) (Krakow, 2007) (siehe Kap. 5.14).

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Fallbeispiel 81 (Krüger, 2013, S. 184 f.): Frau G., eine 35-jährige, gut aussehende, berufstätige, intelligente Frau, hatte in ihrer Wohnung schon länger die Stimmen von Nachbarn gehört, die sich darüber beschwerten, dass sie zu laut auftrat oder dass sie nachts schnarchte. Sie war in den letzten drei Jahren wegen der »Hellhörigkeit« ihrer Wohnungen schon viermal umgezogen. Es handelte sich bei ihr also um eine chronische, wahnhafte Störung (F22.0) und nicht nur um eine einmalige psychotische Episode (F23.-). Hintergrund war psychodynamisch, dass die Patientin in näheren Beziehungen ihre freundliche, überangepasste Haltung auf Dauer nicht aufrechterhalten konnte und sich ungewollt mit affektiven Ausbrüchen abgrenzen musste, was sie sehr irritierte. In der Psychotherapie arbeitete sie mit dem Psychotherapeuten im Doppelgängerdialog verschiedene innere Repräsentanzen heraus, auf der Subjektstufe den Gegensatz zwischen »der freundlichen, sanften Renate« und »dem Ekel Renate« und auf der Objektstufe die Figuren ihres Wahns, die »Nachbarin« und den »Nachbarn«, deren Stimmen sie immer wieder hörte. In der 28. Stunde, die Patientin war inzwischen auch ohne Medikamente symptomfrei, berichtete sie, dass es ihr gut gehe. Sie hatte mit ihrem Freund erstmals offen über die Motive hinter ihren affektiven Ausbrüchen reden können und mit ihm Kompromisslösungen gefunden, die weniger an perfektionistischen Idealen orientiert waren. Der Therapeut freute sich über diesen Fortschritt in der Therapie. Frau G.: »Ich benutze jetzt auch Ohrenstöpsel, weil Robert so laut schnarcht. Da höre ich dann auch keine Stimmen mehr. Das geht ja auch gar nicht.« Der Therapeut merkte erschrocken, dass die intelligente Patientin immer noch ganz im Äquivalenz-Modus dachte. Deshalb ging er schnell auch selbst wieder in den transmodalen Beziehungsmodus: »Und was sagen da Ihre Nachbarn? Einfach Ohrenstöpsel zu nehmen! Dann hören Sie die Nachbarn ja gar nicht mehr, wenn die sich bei Ihnen beschweren! Finden die das nicht gemein?« Frau G.: »Nein, die beschweren sich eigentlich gar nicht. Die lästern nur und klatschen über mich!« Der Therapeut stellte etwas entfernt zwei leere Stühle für »die Nachbarin« und »den Nachbarn« auf und ließ die Patientin die beiden beschreiben. Diese seien erfolgreich, intelligent, gut aussehend, »die haben keine Probleme«. Die reale »Anwesenheit« des benachbarten Paares aktualisierte bei der Patientin prompt alte Minderwertigkeitsgefühle: »Schon seit meiner Realschulzeit fühle ich mich oft ungenügend gegenüber Menschen, die eine gute Ausbildung haben, die ihr Leben im Griff haben und bei denen alles in Ordnung ist.« Am Ende der Stunde stellte Frau G. fest: »Heute haben Sie bei mir eine Schwachstelle getroffen!« (Fortsetzung unten und in Kap. 9.5.5).

Im psychotischen Erleben sind die Objektrepräsentanzen der Betroffenen durch das Mentalisieren im psychotischen Modus flüchtig und nicht greifbar. Wenn der Therapeut aber die Selbstrepräsentanz der Patientin in ihrer Wahnwelt und die dazugehörigen Objektrepräsentanzen, die sie im Wahn quälen, mit leeren Stüh-

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len und Handpuppen konkretisiert, dann wird ihr innerer Konfliktraum durch den äußeren Konfliktraum zwischen den Stühlen stabilisiert, und die Patientin kann in den Konfliktraum ihres Wahns im Spiel äußerlich real hineingehen und lernen, sich dort mithilfe des Therapeuten von ihren Verfolgern besser abzugrenzen und sich ihnen gegenüber zu behaupten. Durch die Hilfswelt-Technik werden die frei flottierenden Stimmen der Patientin zu Interaktionspartnern. Zentraler Gedanke Die Repräsentation des wahnhaften Erlebens im Als-ob-Modus des Spiels als interaktionell ausgetragener Beziehungskonflikt außen im Therapiezimmer lässt die Patienten ihren Wahnkonflikt auch in ihrem inneren Mentalisieren repräsentieren und interaktionell verarbeiten. Dadurch wird ihr Denken im psychotischen Modus und im Äquivalenzmodus (siehe Kap. 9.4) um das Denken im Als-ob-Modus erweitert. Das hilft ihnen, Realität und Fantasie zu unterscheiden. Durch das transmodale Ausspielen des Wahnkonflikts und die Interaktionen zwischen den einzelnen Elementen ihres Wahns entwickeln psychosekranke Menschen in dem Interaktionssystem ihres Wahnkonflikts eine in sich geschlossene Realität und Beziehungen zu den abgespaltenen Teilen ihrer Seele und lernen, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang im Wahnkonflikt aus eigenem Willen zu verändern. Auf diese Weise gewinnen sie auch eine gewisse Kontrolle über ihre Stimmen (Moreno, 1939, S. 13 f.). Wer aber Kontrolle über die Figuren seines Wahns hat, der kann das Agieren der Wahnfiguren auch bei Bedarf stoppen und ist störungsspezifisch gesehen gesund. Fallbeispiel 81 (1. Fortsetzung): In der 35. Therapiestunde kam Frau G. erschöpft aus einem 14-tägigen Urlaub zurück. Sie erzählte enttäuscht: »Ich war mit meinem Freund im Urlaub. Zwei Tage waren wieder die Hölle. Die Stimmen waren wieder da. Ich dachte schon, ich müsste mich in ein spanisches Krankenhaus einweisen lassen.« Im weiteren Gespräch berichtete Frau G.: »Ich hatte meine Tabletten vergessen. Hier zu Hause nehme ich die ja schon länger nicht mehr. In der vierten Nacht hörte ich dann aber doch wieder den Nachbarn zu seiner Frau sagen: ›Ich kenne die Firma, wo sie arbeitet. Das mit ihrem Freund, das ist ja auch eine wilde Geschichte!‹ Zuerst war ich betroffen und ängstlich. Dann aber habe ich gedacht: ›Das kann doch nicht sein, dass hier noch einer von meiner Firma ist!‹ Da wurde ich wütend, und ich habe mir bewusst eine Lüge überlegt und gedacht: ›Und bestimmt warst du auch noch mit mir im Kindergarten in Celle!‹ Ich habe diesen Satz innerlich immer wiederholt. Und da hat der Nachbar doch wirklich zu seiner Frau gesagt: ›Und weißt du, ich war mit der zusammen früher auch im Kindergarten in Celle!‹ Da habe ich dann noch eines oben draufgesetzt und gedacht: ›Ja, und dann war meine

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Mutter noch im letzten Jahr mit deiner Mutter im Urlaub in der Türkei!‹ Da kam dann wirklich drüben die Stimme des Nachbarn, der sagte: ›Und übrigens, meine Mutter war mit der Mutter von der auch schon zusammen im Urlaub in der Türkei!‹ Da habe ich gemerkt: ›Ich habe die Kontrolle über das, was passiert. Das war sehr erleichternd!« Auf Nachfrage des Therapeuten bestätigte die Patientin, sie selbst hatte sich das überraschenderweise noch gar nicht bewusst gemacht: »Nein, von da an war Ruhe. Aus dem Zimmer der Nachbarn habe ich nie wieder etwas gehört.« Frau G. war am Ende ihrer Therapie schon zwei Jahre lang ohne Psychopharmaka symptomfrei. Drei Jahre nach Beendigung der Behandlung berichtete sie bei einem letzten Kontakt, dass auch bis dahin keine psychotischen Symptome mehr aufgetreten waren (Fortsetzung in Kap. 9.6.5).

Die Patientin dieses Fallbeispiels hatte durch die Hilfswelt-Technik in ihrer Therapie gelernt, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in ihrem Wahnkonflikt aus eigenem Willen zu ändern. Sie wurde wütend, als sie im Urlaub wieder ihre »Nachbarn« reden hörte, und brachte durch Probehandlungen und ihr Spiel im Als-ob-Modus das Handeln ihrer Wahnfiguren unter ihre Kontrolle. Sie merkte, dass sie Macht über ihre »Nachbarn« hatte und dass diese so etwas wie Marionetten waren, die sie spielen konnte, wenn diese sich in ihrem Denken ohne ihre Erlaubnis selbstständig machten. Wenn eine Patientin ihr wahnhaftes Erleben aber aus eigenem Willen steuern und ihre Stimmen zum Verstummen bringen kann, verkennt sie die Realität auch nicht mehr illusionär und ist definitionsgemäß nicht mehr psychotisch krank. Für psychotisch erkrankte Patienten sind oft schon kleine Schritte der Selbstermächtigung im Umgang mit den Wahnfiguren hoch bedeutsam. So stellte sich zum Beispiel eine andere Patientin, Frau H., die in der Nacht regelmäßig die Stimme eines Unholdes und Vergewaltigers hörte, zusammen mit dem Therapeuten vor, dass dieser Mann im Therapiezimmer ihr gegenüber auf einem Stuhl säße. Der Therapeut forderte stellvertretend von dem »Vergewaltiger« für die Patientin das Recht auf Unversehrtheit und Würde als Mensch ein. Zwei Sitzungen später meinte Frau H.: »Wichtig war, dass ich gemerkt habe, dass ich über ihn reden konnte und dass danach nichts passiert ist. Denn der hatte mir gedroht, mich umzubringen, wenn ich jemand anderem etwas von ihm erzähle.« Das wahnhafte Gegenüber im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels beim Namen zu nennen und seine Motivation zu ergründen, gibt der Patientin Macht über den Gegner. Das ist ähnlich wie bei der Müllerstochter im Märchen »Rumpelstilzchen«, die ihr Kind gegen den Willen des Zwerges behalten konnte, nachdem sie von ihrem Boten seinen Namen »Rumpelstilzchen« erfahren hatte. Wie am Fallbeispiel 81 zu sehen ist, muss der Therapeut die Patientin aber oft

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darauf aufmerksam machen, dass sie schon selbst eine Möglichkeit gefunden hat, ihr Stimmenhören zu beenden. Fallbeispiel 77 (Fortsetzung von Kap. 9.5.2): Der 20-jährige Schüler Herr C. berichtet in der achten Therapiestunde spontan: »Das, was Sie mir vorgeschlagen haben, hat nicht geklappt! Ich habe versucht, die Stimme meines Freundes ganz bewusst erscheinen zu lassen, indem ich mir einen bestimmten Satz ausgedacht habe, den die Stimme nach meinem Willen sagen sollte, nämlich den Satz: ›Das, was ich hier sage, das hat keinen Zweck, das macht keinen Sinn!‹ Da war dann eine Stimme, die hat das gesagt! Es war aber nicht genau die Stimme, an die ich gedacht hatte. Die Stimmen waren dann auch vier bis fünf Tage weg. Das war positiv, weil es weg war. Aber die Stimme hat eben doch nicht das gesagt, was ich wollte!« Therapeut: »Ich glaube nicht, dass Sie jeder Ihrer Stimmen inhaltlich vorschreiben können, was die sagen sollen. Ich finde es aber wichtig, dass Sie eine Möglichkeit gefunden haben, eine Stimme zum Verschwinden zu bringen, indem Sie sie ansprechen!« Herr C.: »Nach fünf Tagen kam die Stimme aber wieder!« Der Therapeut lässt sich mithilfe des Doppelgängerdialogs von dem Patienten die Situation schildern, in der sein Stimmenhören aufgetreten war: Der Patient war abends zu einer Party gegangen. Er wollte da eigentlich gar nicht hin, weil das die Abschiedsparty des Mannes war, von dem er früher als Haschischsüchtiger immer die Drogen gekauft hatte und der jetzt als Bundeswehrangehöriger ins Ausland ging. Als der Patient bei dessen Haus ankam, hörte er die Stimme eines Mädchens, deren Stimme auch in früheren »psychotischen Fantasien« oft aufgetaucht war. Herr C.: »Ich war sehr erschrocken, dass nach fünf Tagen wieder eine Stimme da war, und habe mit aller Kraft gedacht: ›Raus, raus!‹ Da sagte die Stimme: ›Oh, ja, ja!‹ Ich habe aber gedacht: ›Ich kann denken, was ich will in meinem Kopf, das hat keinen zu interessieren.‹ Ich wurde wütend und habe der Stimme gesagt: ›Drück dich mal deutlicher aus!‹« Therapeut: »Und dann hat die Stimme darauf geantwortet: ›Warum denn!‹« Herr C.: »Nein, dann war die Stimme weg!« Therapeut: »Dann haben Sie das jetzt schon das dritte Mal geschafft, eine Ihrer Stimmen zum Verschwinden zu bringen! Übrigens, vielleicht ist das auch keine so gute Idee, dass Sie als Süchtiger, der clean ist, zu einer Party Ihres früheren Drogenhändlers gehen!« Herr C.: »Ja, eigentlich wollte ich da auch gar nicht hin. Aber ein Freund hat mich mitgenommen, der hat auch eine Schizophrenie, eine CannabisPsychose. Anders als ich nimmt der aber seit fünf Jahren keine Medikamente mehr und sitzt seit fünf Jahren nur am PC und spielt. Der hat seit fünf Jahren nichts mehr gemacht!« Therapeut: »Na vielleicht ist Ihr Weg da doch der bessere, Sie haben jetzt immerhin Ihr Abitur geschafft!«

Die Hilfswelt-Methode beim Hören von Stimmen

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9.6.5  Die Anwendung der Hilfs-Welt-Methode bei Größenwahn Patienten mit einem Größenwahn hören oft keine Stimmen. Sie können mit diesen deshalb bei der Anwendung der Hilfswelt-Methode auch nicht interagieren. Um ihren Größenwahn trotzdem in den Als-ob-Modus des Spiels zu bringen, stellt der Therapeut diesen Patienten, wie Moreno es bei dem Patienten »Hitler« tat (siehe Fallbeispiel 70), Helferinnen oder Helfer an die Seite, die als Doppelgänger in ihr wahnhaftes Erleben mit eintreten. Fallbeispiel 82: Der 22-jährige Herr I. hatte in seiner stationären psychiatrischen Behandlung auf seiner Station Möbel zerschlagen. Seine Therapeutin fragte ihren Supervisor nach Möglichkeiten der psychodramatischen Krisenintervention. Der Supervisor ließ sie den Patienten spielen und rief als »Therapeut« auf der Station im Gespräch mit dem Patienten eine psychodramatisch erfahrene Mitarbeiterin« zu sich: »Schwester Birgit, können Sie einmal kommen? Sie haben doch auch Meditationserfahrung. Herr I. ist erleuchtet. Ich möchte, dass Sie sich eine halbe Stunde am Tag von ihm unterrichten lassen und mit ihm über seine Erleuchtungserfahrungen sprechen. Und Sie, Herr I., bitte ich, wenn Sie von Ihren erleuchteten Geistern wieder den Auftrag bekommen, dass Sie in der Welt ein Zeichen setzen sollen, dass Sie dann mit Schwester Birgit besprechen, wie Sie das am besten verwirklichen können. Das kann ja eigentlich nicht im Sinne der weisen Geister sein, wenn Sie, um ein Zeichen zu setzen, hier auf der Station die Möbel zerschlagen und wenn Sie deshalb noch länger hier in der psychiatrischen Klinik bleiben müssen und die Medikation erhöht wird. Vielleicht könnten wir die Geister auch zusammen informieren, in was für Probleme Sie durch deren unüberlegte Aufträge kommen. Die wissen das vielleicht gar nicht!« Der Supervisor in der Rolle des Therapeuten stellte drei Stühle auf für die drei Geister und informierte diese stellvertretend für den Patienten direkt interaktionell über die negativen Folgen ihrer Aufträge. In der Supervisionsgruppe erläuterte der Supervisor anschließend dieses Vorgehen.

Die Dramatik des Wahns eines akut psychotischen Patienten ist oft so beeindruckend, dass der Therapeut ein oder zwei Tage Abstand braucht, um eine kreative Idee zu entwickeln, wie er als Doppelgänger bei dem Ausspielen des Größenwahns des Patienten transmodal mit in dessen Interaktion mit seinen Wahnfiguren und seinen Beziehungspartnern hineingehen kann, um die wahnhafte Interaktion in ein transmodales psychodramatisches Spiel umzuwandeln. Jeder Patient mit einem Größenwahn wird aber, weil seine »Berufung« von den Reaktionen der äußeren Umwelt nicht positiv bestätigt wird und die Reaktionen der Bezugspersonen für ihn eher negative Folgen haben, einen Helfer akzep-

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tieren, der seine Größenideen mit ihm teilt und so seine schreckliche Einsamkeit aufhebt: Ein »Ritter« braucht einen »Knappen«, »Jesus« braucht »Jünger«, »Hitler« einen »Adjutanten«, der »größte Entertainer der Welt« braucht jemanden, der ihm Stücke schreibt und Ideen liefert. Bei einer klassisch psychiatrischen Beziehungsgestaltung kämpft der Therapeut gegen das wahnhafte Wirklichkeitserleben des Patienten, er stabilisiert diesen dadurch aber in seinem Gefühl, der Einzige zu sein, der die Wahrheit weiß. Die Hilfswelt-Technik hingegen durchbricht diesen Teufelskreis. Durch die paradoxe transmodale Bestätigung der Wirklichkeit des Größenwahns zentriert der Patient seine Aufmerksamkeit zum ersten Mal nicht mehr auf den Kampf gegen die Reaktionen der Außenwelt. Er nimmt sich stattdessen zusammen mit dem Therapeuten Zeit, die Interaktionsprozesse in seinem wahnhaften Erleben im Als-ob-Modus des transmodalen psychodramatischen Spiels zu verwirklichen und probatorisch zu Ende zu denken, fühlt sich durch das gemeinsame ernsthafte Bemühen um die Verwirklichung der Wahnideen im Alltag ernst genommen und erkennt dann aber durch das gemeinsame Scheitern, was Fantasie bzw. »Einbildung« und was Realiät ist (siehe Fallbeispiele 70 und 80).

9.7  Die Integration der fragmentierten Selbstorganisation Bei manchen psychosekranken Menschen ist die Selbstorganisation fragmentiert, ohne dass sie einen Wahn aufbauen oder Stimmen hören (ICD-10 F23.8). Psychosen ohne Wahnbildung sind oft Teil einer Traumafolgestörung (F43.1), einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.3) oder einer dissoziativen Störung (F44.-). Empfehlung Bei einer Fragmentierung der Selbstorganisation gilt es, als Therapeut zusammen mit der Patientin die verschiedenen Fragmente ihres Selbst durch spielerisches Handeln zu erfassen, sie zu benennen, sie als Steine, Stühle oder Handpuppen nebeneinander zu konkretisieren und sie dann im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels miteinander in Interaktion zu bringen, damit sich zwischen ihnen Beziehungen entwickeln.

Die Umwandlung eines Depersonalisationsprozesses in eine Ich-Leistung

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9.7.1 Die Umwandlung eines Depersonalisationsprozesses in eine Ich-Leistung Zentraler Gedanke Ein Depersonalisationserleben von Patienten kann dadurch beendet werden, dass der Therapeut die Patienten ihre Depersonalisation im Spiel als Prozess konkret äußerlich handelnd verwirklichen lässt. Fallbeispiel 74 (Fortsetzung) (Krüger, 2001a, S. 263 ff., verändert): Ein 54-jähriger Patient, Herr B., war seit seinen jungen Erwachsenenjahren wiederholt psychotisch dekompensiert. Er nahm seit zwölf Jahren in der Praxis des Therapeuten an der Gruppentherapie für psychosekranke Patienten teil. In der heutigen Gruppensitzung wendet er sich gleich zu Anfang an den Therapeuten und klagt: »Es ist wieder so weit. Ich bin nicht mehr da!« Die Gruppenmitglieder und der Therapeut sind erschrocken. Nach einem kurzen Vorgespräch spricht der Therapeut den Patienten an: »Sie sind Herr B., der da sitzt und fühlt, dass er nicht mehr da ist.« Der Therapeut nimmt einen zweiten Stuhl und stellt diesen in die andere Ecke des Raumes: »Herr B., auf dem Stuhl dort hinten sitzt Ihr Ich, der Bernd, der Ihnen verloren gegangen ist.« Der Therapeut tritt als Doppelgänger neben Herrn B. und spricht den leeren Stuhl des verschwundenen Bernds in der anderen Ecke des Raumes an: »Was soll das! Du bist einfach abgehauen!« Er wendet sich direkt an Herrn B.: »Können Sie einmal die Rollen tauschen und als der verschwundene Bernd antworten?« Herr B. setzt sich auf den anderen Stuhl des »Bernd« und empfiehlt »Herrn B.« auf dem ersten Stuhl ohne jede Denkstörung spontan: »Du musst wieder daran denken, wie das vor einem Jahr war, als du krank wurdest! Danach machtest du Pausen bei der Arbeit. Und dann ging es!« Wieder in seiner ersten Rolle erzählt der Patient als Herr B. ausführlich über die augenblickliche Überlastung am Arbeitsplatz: »Ich habe Auszahlungen zu machen, die sonst verfallen. Ich habe fünf eilige Akten gleichzeitig auf dem Tisch. Früher habe ich zwischendurch Pausen gemacht, in Ruhe aufgeräumt oder ging fotokopieren. Das kann ich jetzt nicht mehr!« Aus dem Spiel wird unversehens ein Gruppengespräch. Einige Teilnehmerinnen treiben Herrn B. an, den Konflikt anders zu lösen: »Kannst du das deinem Vorgesetzten nicht sagen? Du bist doch schwerbehindert!« Die Gruppe will Herrn B. anders. Er soll lernen, sich durchzusetzen. Herr B. entgegnet: »Mein Chef weiß, dass das nicht zu schaffen ist.« An dieser Stelle greift der Therapeut gezielt als Hilfs-Ich für das schwache Ich des Patienten in die Gruppendiskussion ein und deutet seinen Depersonalisationsprozess aktiv positiv in eine Ich-Leistung um: »Ich glaube nicht, dass es für Sie gut ist, wenn Sie den Konflikt mit dem Chef offen austragen. Sie sind jemand, der bei offenen Konflikten schnell überfordert ist, wie alle hier. Sonst

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wären Sie nicht psychosekrank geworden. Sie sind eben sensibler als andere. Das ist bekannt bei Menschen mit einer Psychose. Ich finde Ihre Lösung eigentlich gut! Wenn man wie Sie den Konflikt mit den Anforderungen von außen nicht mehr aushält, ist es hilfreich, die eigenen Gefühle, den Bernd, einfach wegzusperren. Das ist zwar keine sehr gute Lösung, aber es ist doch immerhin eine Lösung!« Der Therapeut wandelt stellvertretend für den Patienten als sein Doppelgänger den Prozess seiner Depersonalisation in den Als-ob-Modus des Spiels um: Er tritt neben ihn und spricht ihn an: »Herr B., lassen Sie mich den Bernd einfach hinauswerfen, der macht Ihnen nur Probleme!« Der Therapeut wendet sich als Doppelgänger des Patienten an den imaginären Bernd in der anderen Ecke des Zimmers: »Setz dich hin und halte den Mund! Ich mache jetzt die Tür zu, dann bist du weg und kannst mich nicht mehr stören. Ich kann das nicht aushalten mit deinem Gemecker, dass dir alles zu viel ist! Ich bin viel zu beschäftigt!« Der Therapeut nimmt zwei imaginäre Türgriffe in die Hand und schließt die Türflügel einer imaginierten Tür zwischen Herrn B. und dem verschwundenen Bernd zu. Herr B. lacht unsicher: »Nein, nein, das kann man doch nicht machen!« Einige Gruppenmitglieder protestieren empört: »Wieso das denn! Das ist doch unmöglich!« Die groteske Lösung ruft in der Gruppe Erstaunen und Lachen hervor. Der Therapeut aber verteidigt standhaft sein Vorhaben: »Wenn Herr B. doch aber den Konflikt nicht aushält!« Ein munteres, lebendiges Gruppengespräch beginnt. Zwei Teilnehmerinnen erzählen von ähnlichen Überforderungskonflikten am Arbeitsplatz. Im weiteren Gruppengespräch schildert Herr B. zur Überraschung aller seinen Chef nach zwölf Jahren Gruppenteilnahme zum ersten Mal sehr klar als einen »Work­ aholic«: »Der hat vor fünf Jahren einen Herzinfarkt gehabt und ist nun der Auffassung, das aber ganz real, dass nur der wirklich arbeitet, der irgendwann einen Herzinfarkt oder Ähnliches bekommt. Er hat einmal gesagt: ›Wer das nicht bekommt, hat nicht richtig gearbeitet!‹ Lob oder Anerkennung gibt es nie! Wenn man ihm etwas von Belastung oder Psychose sagt, das versteht der nicht!« Der Therapeut rät dem Patienten: »Ihr Chef weiß also alles, aber er versteht nichts! Herr B., seien Sie vorsichtig mit sich! Lassen Sie sich nicht auf einen Konflikt mit dem ein. Das halten Sie nicht aus! Machen Sie einfach nur Ihre Arbeit, einen Schritt nach dem anderen. So gut Sie das eben können.« In der Gruppensitzung eine Woche später berichtet Herr B. spontan: »Das Rollenspiel letztes Mal hat mir sehr gut getan. Die Arbeitsbelastung ist zwar nicht weniger geworden. Von sechs Leuten sind wir zurzeit nur drei im Dienst. Eine zehn Jahre jüngere Kollegin kann auch schon nicht mehr. Aber ich kann mir meine Arbeit wieder besser einteilen. Am Dienstag habe ich auch meinen Chef getroffen. Der fuhr mit mir im Fahrstuhl zum Essen. Er fragte mich, wie es mir geht. Ich sagte: ›Es ist sehr viel zu tun!‹ Da meinte er: ›Das packen Sie schon!‹ So reagiert der immer! Ich hätte ihn

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erwürgen können, als er das sagte!« Der Therapeut: »Seien Sie vorsichtig! Gehen Sie nicht mit ihm in einen Konflikt, Sie halten das nicht aus!« Gefragt nach dem fehlenden Gefühl zu sich selbst meint Herr B.: »Nein, das war nach der letzten Sitzung weg. Ich fühle mich wieder.« Nach dieser therapeutischen Arbeit trat bei dem Patienten anders als früher erst nach drei Jahren wieder eine psychotische Episode auf, die nach einer Krisenintervention mit einem ähnlichen therapeutischen Vorgehen auch wieder am nächsten Tag verschwunden war.

Der Therapeut ließ den Patienten zunächst das seinem Depersonalisationserleben zugrunde liegende Dissoziieren prozesshaft vollziehen, die Spaltung zwischen seinem handelnden Ich und seinem beobachtenden Ich (siehe Kap. 5.4), indem er diese mit zwei Stühlen außen im Therapiezimmer verwirklichte. Anschließend ließ er den Patienten die Rolle wechseln von dem Stuhl seines sich selbst beobachtenden Ichs auf den Stuhl seines abgespaltenen, handelnden Ichs. Dadurch vollzog der Patient den unbewussten Prozess der Depersonalisation bewusst handelnd und integrierte den Als-ob-Modus des Spiels in sein im Äquivalenzmodus fixiertes inneres Mentalisieren (siehe Kap. 2.2). Als Folge davon konnte er seine Aussage »Ich bin nicht mehr da!« auch innerlich im Alsob-Modus denken und als Metapher verstehen und als symbolischen Ausdruck für sein Gefühl der Überforderung am Arbeitsplatz. 9.7.2 Die Integration einer fragmentierten Selbstorganisation durch das Spiel mit Handpuppen Bei einer psychotischen Dekompensation ohne Wahnbildung sucht der Therapeut in der Begegnung mit der Patientin in ihrer desintegrierten Selbstorganisation weitgehend vergeblich nach inneren konflikthaften Strukturen. Ihre Konflikte sind durch Empathie nicht zu fassen. Das ruft bei ihm Gefühle von Chaos und Ratlosigkeit hervor. Der Therapeut fühlt damit aber genau das, was die Patientin auch selbst fühlen würde, wenn sie ihre Affekte innerlich erfassen könnte. Therapeutisch gilt es, dem Chaosgefühl Berechtigung zu geben und es umzuwandeln in den Wunsch, sich zu orientieren. Der Therapeut geht innerlich mit in die fragmentierte Selbstorganisation der Patientin hinein, übersetzt ihr desintegriertes Mentalisieren stellvertretend für sie in äußeres psychodramatisches Spielen mit Handpuppen und führt dadurch den Als-ob-Modus des Spiels in ihr Denken im Äquivalenzmodus ein. Das Repräsentieren ihres Erlebens im Als-ob-Modus des äußeren Spiels aktiviert und strukturiert dann auch ihr inneres Mentalisieren.

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Fallbeispiel 83: Eine 48-jährige chronisch psychotische, frühberentete Patientin, Frau J., war in der Kindheit mehrfach traumatisiert worden, unter anderem durch die Tatsache, nicht gewolltes Kind zu sein. Auf Gefühle von Ausgeliefertsein oder Entwertung reagierte sie immer wieder psychotisch, am Anfang kompensatorisch mit einem paranoidem Größenwahn (ICD-10 F25.0), später glitt sie regelmäßig in eine tiefe Depression ab (F25.1). Eines Tages kommt Frau J. wieder schwer depressiv in die Therapiestunde und berichtet, dass sie seit vierzehn Tagen ihre Zeit völlig untätig zu Hause verbringe. Der Therapeut spürt in der Begegnung eine zähe Schwere, die Patientin kann nur mühsam über sich und ihre Gefühle sprechen. In ständiger intuitiver Abstimmung mit ihr übersetzt der Therapeut deshalb stellvertretend für sie mit verschiedenen Handpuppen ihr inneres Mentalisieren in der aktuellen Situation in ein äußeres Spiel, wandelt es in kleine psychodramatische Handlungsabläufe um und führt in das Spiel gelegentlich probatorisch fiktive hilfreiche Doppelgänger ein: Die etwas abgespielte Handpuppe eines Mädchens sitzt als »die Depressive« im Sessel. Sie will ein Buch lesen, sie kann sich aber nicht konzentrieren. In dem Sack, den »die Depressive« bei sich hat, »ist Leere«. Der Therapeut lässt probatorisch die Handpuppe eines kleinen Jungen kommen, der mit der »Depressiven« spielen will. Frau J. reagiert darauf aber mit Unwillen: Der kleine Junge ist ihr »lästig«. Der Therapeut lässt ihn deshalb wieder weggehen: »Na gut, ich kann ja morgen noch einmal kommen und dich fragen!« In der nächsten Stunde berichtet die Patientin recht gefühlsnah und in sich gekehrt: »Ich war in der letzten Woche nicht mehr depressiv. Ich habe die Zerbrechlichkeit meiner eigenen Seele gespürt. Das war sehr schön!« Aufgefordert, sich eine Handpuppe wie die »Depressive« im Laden zu kaufen und zu Hause sichtbar hinzustellen, protestiert die Patientin: »Das ist eine Zumutung! Das Gefühl ist viel zu dicht, das da aufkommt!« In der nächsten Stunde redet die Patientin nicht, sie verweigert sich und ist »wütend«, weil sie meint, dass der Therapeut sie nicht ernst nimmt. Dieser lässt sich aber nicht irritieren: »Es geht Ihnen schlecht. Ich versuche, Sie zu verstehen.« Er wählt als Stellvertreter für sich als Therapeut die Handpuppe eines Zauberers aus: »Das ist der Arzt.« Er lässt den »Arzt« im Selbstgespräch laut reden: »Naja, ich muss mich noch orientieren, das ist gar nicht so leicht! Ich glaube, ich muss noch lernen. Ich hoffe, Frau J. hilft mir dabei!« Der Therapeut ergreift eine zweite Handpuppe: »Das sind Sie als die Wütende.« Er lässt auch diese ein Selbstgespräch führen und integriert darin frühere Mitteilungen von Frau J.: »Ich fühle mich hier wie in einer Klippschule, doof und dumm!« Frau J. nickt bestätigend. In der darauffolgenden Stunde meint sie: »Ich hatte in der letzten Woche keine Angst, fühlte mich nicht minderwertig, aber allein!« Der Therapeut nimmt eine dritte Puppe »für die, die allein ist«. Diese ist »ein Kind von vier Jahren. Die Mutter ist weggegangen.« Der Therapeut lässt probatorisch eine Pinguin-Handpuppe kommen. Der Pinguin

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will mit dem einsamen Kind spielen. Das wird von Frau J. aber abgewiesen: »Ich will allein sein!« Auch einen »Prinzen«, der kommt, weist sie zurück. Die Patientin beginnt aber spontan, von ihrer Tätigkeit beim Roten Kreuz zu reden und von ihren dortigen Plänen. Der Therapeut ergreift die Puppe einer Prinzessin: »Ich bin die Muntere. Ich will die Welt erleben!« Die »Muntere« wundert sich über »die, die allein ist«. Sie kann mit der nichts anfangen! Frau J. protestiert: »Ich will mich aber auch mal eingraben können. Das Alleinsein ist nicht schlecht! Ich habe mich da geborgen gefühlt!« In der folgenden Stunde meint Frau J.: »Die Woche war gut! Ich habe statt 10 % jetzt 40 % Gefühle in mir erlebt.« Der Therapeut lässt die Patientin ihre Gefühle mit Steinen auf dem Tisch symbolisieren. Es gibt in ihr fünf verschiedene emotionale Zustände, »die Muntere, die manchmal sogar glücklich ist«, »die Ängstliche, die Angst hat vor allem Neuen«, die »depressiv Traurige«, die »Wütende« und »die, die allein ist«. Zusammen symbolisieren der Therapeut und die Patientin diese Affektzustände als Handpuppen und bringen sie miteinander in Interaktion: Die Ängstliche und die Muntere reden miteinander über die Traurige usw. Dabei wird deutlich, dass »die Ängstliche« das gesunde Erwachsenendenken der Patientin repräsentiert und zwischen den desintegrierten Ich-Zuständen Beziehungen herstellt. Frau J.: »Die Muntere ist viel zu forsch. Aber so, wie die Depressive, nur dasitzen, das möchte ich auch nicht!« Die Ängstliche lässt die Muntere ziehen, geht dann zu der Traurigen, sitzt mit der ruhig da, mit viel Zeit. Frau J. weint während des »Spiels« öfter ein wenig und ist sehr angerührt. In der Nachbesprechung beschreibt Frau J., wie sich bei ihr in den letzten Wochen die verschiedenen Gefühlszustände entwickelt hatten: »Zuerst hatte ich Angst, den Brei in mir zuzulassen, in dem alle meine Gefühle vermischt waren, und zu fühlen, was gerade da war.« Der Therapeut symbolisiert diese »Angst« und den »Brei von Gefühlen« als kleine Steine und legt diese spielerisch zu den entsprechenden Handpuppen, die »Angst« zu der »Ängstlichen« und den »Brei von Gefühlen« zu der »Depressiven«. Bei einem gemeinsamen Rückblick auf das Erleben der Patientin in den letzten Wochen stellen die Patientin und der Therapeut fest: Je mehr die »Depressive« sich Zeit lässt, desto heller werden die Gefühle. Je weniger Zeit sie aber hat, desto dunkler sind diese. Der Therapeut: »Ich weiß, dass es für Sie schwer ist, so im Spiel Ihre Gefühle zu erfassen und reden zu lassen. Aber es hat mir geholfen, Sie besser zu verstehen.« Zwei Wochen später meint Frau J.: »Diese Arbeit ist anstrengend, sie hat mich aber auch erleichtert! Ich habe richtig gemerkt, dass ich Gefühle habe! Ich habe mich in den letzten Wochen auch nicht so überfordert, ich bin mehr zu mir selbst gestanden, anders als früher.«

Das Benennen und Repräsentieren ihres aktuellen affektiven Erlebens mithilfe von Handpuppen und das stellvertretende Mentalisieren ihres Erlebens durch

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den Therapeuten im äußeren psychodramatischen Spiel halfen der Patientin, sich selbst zu verstehen und sich ohne Vorurteil oder Selbstentwertung anzunehmen, wie sie war. Sie lernte durch das symbolische Spiel, ihre Affekte zu differenzieren und sie im Als-ob-Modus zu denken, und fühlte sich dadurch ihren Stimmungen nicht mehr so ausgeliefert. Bei dieser Arbeit spielt der Therapeut, je kränker die Patientin ist, desto mehr, der Patientin zunächst stellvertretend als ihr Doppelgänger die Wege ihrer Selbstorganisation mit Handpuppen vor (Ulla Fuhr, 1997, mündliche Mitteilung). In intuitiver und verbaler Abstimmung mit der Patientin lässt er im Spiel die Fragmente ihres Selbst miteinander interagieren. Dadurch entstehen innere Beziehungsbilder und kleine Geschichten, die die Fragmente des Selbst integrieren. Diese vergrößern die Räume ihrer inneren Konfliktverarbeitung und werden darin zu neuen Organisationszentren (siehe Kap. 3.2.1). Moreno (1945a, S. 15) spricht in diesem Zusammenhang von dem »Kanalisieren« der psychotischen Inhalte durch die psychodramatische Produktion. Zentraler Gedanke Integration entsteht durch Beziehungsaufnahme und Interaktion zwischen den Konfliktpartnern bzw. den konträren Seiten eines Konflikts. Bei einer Desintegration der Selbstorganisation gilt es deshalb, die aktualisierten Selbstfragmente durch Szenenaufbau zu erfassen, durch Spielen Schritt für Schritt zwischen ihnen stimmige Interaktionssequenzen zu kreieren, dadurch beziehungsbezogen die Identität der einzelnen Selbstfragmente auszugestalten und zwischen ihnen durch gegenseitige Abstimmung ein gedeihliches Miteinander herzustellen. Die Idee der Integration ist aber nicht schon die Tat. Fallbeispiel 84 (Krüger, 1997, S. 44 f., etwas verändert): Eine 40-jährige Patientin, Frau K., war mehrfach psychotisch dekompensiert. In der Einzelpsychotherapie hatte sie zusammen mit dem Therapeuten symbolische Bilder für die Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung entwickelt und in nächtlichen Träumen im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von subjektiv bedeutsamen Figuren herausgearbeitet, zum Beispiel den 13-jährigen Jungen »Peter«, das »Dornröschen«, das »Buddha-Kind« und die »schwarze Fee«. Die Patientin stellte selbst, im Äquivalenzmodus denkend, immer wieder Zusammenhänge zwischen diesen Figuren und eigenen Körperempfindungen her. Beispielsweise hatte sich, wenn sie ihre Milz spürte, »das Dornröschen wieder gemeldet«. Eines Tages überraschte die Patientin den Therapeuten mit der Mitteilung, dass sich jetzt »der 13-jährige Junge ›Peter‹ und das ›Buddha-Kind‹ integriert hätten. Wie sich später herausstellte, hatte die Patientin in der Literatur gelesen, dass in der Therapie von Psychosen das Prinzip der »Integration« heilsam ist. Der Therapeut staunte über die Feststellung von Frau K. und zweifelte aber. Denn er erlebte die

Die Integration einer fragmentierten Selbstorganisation durch Handpuppenspiel

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von ihr behauptete »Integration« nur als ein Produkt ihres Denkens, aber nicht als innerlich wirklich vollzogenen Prozess. Statt nun die Mitteilung von Frau K. anzuzweifeln, bot der Therapeut ihr an, die »Integration« zwischen den Figuren ihres zerfallenden Wirklichkeitserlebens mit Handpuppen »nachzuspielen und im Spiel eventuell weiter auszugestalten«. Die Idee war, dadurch zu überprüfen, ob zwischen den Figuren wirklich schon Beziehungen entstanden waren, und diese bei Bedarf neu zu entwickeln. Der Therapeut ließ die Patientin für jede ihrer verschiedenen inneren Figuren eine Handpuppe aussuchen, diese miteinander in Interaktion bringen und im Spiel immer wieder einmal zwischen den Handpuppen die Rollen tauschen, damit sie Autorin und Regisseurin ihres eigenen Integrationsprozesses blieb oder werden würde. Er selbst übernahm in dem Handpuppenspiel jeweils die Gegenrollen. Das Handpuppenspiel verlief unauffällig. In der Nachbesprechung des Spiels war der Therapeut deshalb völlig überrascht, als Frau K. plötzlich betroffen meinte: »Ich bin ganz erschrocken, wie zerstückelt meine Seele ist.« Der Therapeut hatte im Gegensatz dazu erlebt, dass die Selbstfragmente der Patientin durch das Spiel jetzt tatsächlich Beziehung untereinander aufgenommen und sich so integriert hatten. In dem folgenden halben Jahr bearbeitete die Patientin in ihrer Therapie die Konflikte mit ihrem sozialen Umfeld verbal, spielte aber parallel dazu ihre Identitätskonflikte auch immer wieder auf ähnliche Weise mit Handpuppen aus. Eines Tages teilte sie dem überraschten Therapeuten mit: »Ich habe mich entschieden: Ich gebe es jetzt auf, alles integrieren zu wollen.« Der Therapeut war tief berührt von dieser großen Entscheidung und Einsicht. Offensichtlich hatte Frau K. jetzt die wahre Bedeutung des Wortes »Integration« erkannt und gemerkt, dass die Entwicklung von Beziehungen zwischen ihren verschiedenen Selbstfragmenten mehr als eine kognitive Entscheidung war und eine mutige und leidvolle innere Arbeit mit leiblich seelischer Beteiligung erforderte. Die Patientin hat ein halbes Jahr später die Therapie beendet. Sie war auch nach fünf weiteren Jahren nicht wieder in eine Psychose dekompensiert und führte ohne medikamentöse Unterstützung weiterhin ein aktives, sozial sehr anerkanntes Leben.

Im Handpuppenspiel übernimmt der Therapeut jeweils die Gegenrollen zu den von der Patientin gespielten Puppen und spielt diese nach den Vorgaben der Patientin solange aus, bis klar ist, was die von der Patientin selbst gespielte Figur tut und tun will. Dann werden die Puppen getauscht, der Therapeut spielt die jeweils andere Handpuppe entsprechend den im Spiel vorher gerade vollzogenen Vorgaben der Patientin, differenziert dabei aber das innere und äußere Handeln der Handpuppen achtsam weiter aus und verstärkt ihren emotionalen Ausdruck im Spiel. Dadurch unterstützt er die Identitätsentwicklung der inneren Figuren der Patientin und das Entstehen von Beziehungen zwischen ihnen, und die Patientin entwickelt in ihren inneren Strukturen eine größere Komple-

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xität. Ihre komplexeren Strukturen wirken sich im weiteren Therapieverlauf auf ihre inneren Konfliktverarbeitungsprozesse koordinierend aus.

9.8 Die theoretischen und praktischen Erkenntnisse von Moreno und Casson Es ist erstaunlich zu sehen, dass Moreno die hier geschilderten theoretischen Zusammenhänge mit anderen Begriffen schon 1939 und 1945 in zwei Aufsätzen beschrieben hat. Er meinte, in der Psychosetherapie gelte es, therapeutisch die »Teleformationen« (die Prozesse des Mentalisierens, Erg. vom Verf.), die in der Psychose sich ›außerhalb der spontanen Kontrollen‹ befinden, (also im psychotischen Modus und nicht im Als-ob-Modus mentalisiert werden, Erg. vom Verf.), durch Handeln spielerisch »in die körperliche und mentale Erfahrung des Patienten« zurückzubringen (Moreno, 1939, S. 5), sie also in den Als-ob-Modus des Mentalisierens zu überführen. Moreno spricht in diesem Zusammenhang schon 1945 von einer »Vorstellungs-Realität«, der »imaginery reality« (Moreno, 1945a, S. 3 f.), die durch die Hilfswelt-Technik aufgebaut werden müsse da, wo das Auto-Tele (die innere psychische Selbstorganisation, Erg. vom Verf.) sich aufgelöst habe: »In dieser imaginierten Realität […] findet die Patientin ein […] Setting, in dem alle ihre halluzinatorischen und psychotischen Gedanken, Gefühle und Rollen gültig sind. […] Auf der therapeutischen Bühne […] findet sie eine neue ›Realität‹, die genau für sie geschneidert wurde.« Indem die Patientin in der Therapie darin »zur selben Zeit normal ist und ›als-ob‹-psychotisch, entwickelt sie spontane Kontrollen (die Fähigkeit, den psychotischen Modus des Denkens durch den Als-ob-Modus zu kontrollieren, Erg. vom Verf.). Das Ereignis außerhalb wird ein Teil von ihr selbst« (Moreno, 1939, S. 13 f.), also zu einem Prozess des inneren Mentalisierens: »Es hat ein Band gefunden zu ihrer eigenen Existenz.« »Durch den Durchgang durch die Verrücktheit konnte sie zu sich selbst zurückkehren und das Zentrum der Ereignisse werden« (Moreno, 1939, S. 25). Das Spielen des Wahns rufe »eine höhere Frequenz und eine größere Weite der Assoziationen hervor als die Wahnbildung in der Krankheit«. Es ermöglicht der Patientin, »sich selbst in Handlung zu versetzen und aktiviert körperlich und mental ihre zentralen Konflikte, sodass sie klarer all die Möglichkeiten einer Lösung fühlt und eventuell ihren Willen auf einen neuen Weg wendet, weg von seinen impotenten und perversen Anstrengungen. […] Psychodrama umfasst den Geist und den Körper […], vereinigt in der Handlung, und bringt sie […] zu einer neuen Synthese« (Moreno, 1939, S. 28 f.).

Die theoretischen und praktischen Erkenntnisse von Moreno und Casson

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Moreno machte bei seinem Vorgehen in der Psychotherapie von Psychoseerkrankten drei wichtige Erfahrungen: 1. Die Patienten sollen in der Therapie nicht nur von ihrem Wahn berichten, sondern sie sollen darin psychodramatisch handeln, um den Als-ob-Modus des Spiels in ihren psychotischen Modus des Denkens einzuführen und dadurch in ihrem Wahnerleben Realität und Fantasie zu unterscheiden und Ursache und Wirkung zu erkennen (siehe Kap. 9.4 und 9.5): »Aus der Sicht einer voll integrierten Persönlichkeit müssen auch die Teleformationen (die Prozesse des Mentalisierens, Erg. vom Verf.), die während der psychotischen Phase existieren, in die allgemeine Realität zurückgebracht werden. […] Im Psychodrama ist die Produktion im vollen Sinne Kreieren« (Moreno, 1939, S. 4 ff.). Die interagierte Hilfswelt sei für die Patienten notwendig »als ein Anker, um ihre Erfahrungen nicht immer reduzieren zu lassen auf das Niveau falscher Signale und Symbole« (Moreno, 1945a, S. 4). Die Patienten müssen nach Moreno (1945a, S. 6) während der Behandlung nicht dauerhaft in der »Realität« ihrer psychodramatischen Hilfswelt sein, die für sie passend geschaffen wurde: »Es scheint ausreichend zu sein, wenn sie in besonders kritischen Zeiten in dieser imaginären Welt sind, um gewisse Punkte der Koordination des Wahns mit der dazugehörigen Realität zu kreieren.« 2. Der Therapeut sollte in der Psychotherapie von Psychoseerkrankten die Abstände zwischen den Therapiesitzungen, in denen er die Hilfswelt-Technik einsetzt, umso kürzer machen, je akuter die Wahnerkrankung ist (Moreno, 1945a, S. 5 f.). »Die Pausen zwischen einer psychodramatischen Sitzung und der nächsten sollten flexibel bleiben, sorgfältig abgestimmt mit den inneren Aktivitäten der Patienten. In der psychodramatischen Arbeit können Patienten genauso leicht zu wenig behandelt werden wie zu viel.« 3. Der Therapeut darf sich nicht mit einer spontanen Remission des Wahns seiner Patienten zufriedengeben. Es sei erforderlich, mit ihnen auch dann, wenn sie im Augenblick nicht psychotisch sind, im Spiel immer wieder in die vergangenen Wahnerfahrungen hineinzugehen, um ihre Wahnkonflikte prozesshaft zu strukturieren. Moreno nannte sein Vorgehen deshalb in seinem ersten Aufsatz über Psychosetherapie 1939 etwas provokativ »psychodramatic shock therapy«. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass psychotisch Kranke versuchen, sich ihre in Zwischenzeiten eventuell vorhandene Symptomfreiheit durch Anpassung und Spielen der Rolle des Gesunden ängstlich zu bewahren: Solange aber »nicht integrierte Anteile in bestimmter Weise neben dem wirklichen Individuum vorhanden sind oder zerstreut […] außerhalb der spontanen Kontrollen der Patientin existieren, können ähnliche auslösende Ereignisse die Patientin immer wieder aus der Balance bringen« (Moreno, 1939,

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S. 5 f.). Mit der »psychodramatic shock therapy« aber könne die Patientin die psychotischen Inhalte »allmählich integrieren und Kontrolle gewinnen […] über die Rollen, die sie während ihrer psychotischen Dekompensation spielte« (Moreno, 1939, S. 3). »Die Schocks, die einer auf den anderen folgen, hindern die Patientin daran, sich selbst vorzeitig von ihrer Krankheit zu befreien. Wir verlängern ihre Krankheit künstlich. Wir halten die Psychose in ihr lebendig.« Tatsächlich wiederholen sich bei psychotisch Erkrankten, wenn sie erneut psychotisch dekompensieren, erfahrungsgemäß immer wieder dieselben Wahninhalte. Wenn ein Kranker in der Psychose zum Beispiel glaubte, »ein Chip« zu sein, dann ist er davon auch wieder bei seiner nächsten psychotischen Dekompensation überzeugt. Das ist ähnlich wie bei chronischen Albträumen. Spoormaker (2008) begründet das Wiederkehren derselben Inhalte bei chronischen nächtlichen Albträumen mit der »Drehbuchtheorie«: »Die mit dem Traum verbundene Angst ist so stark, dass sich die Handlung in das Gedächtnis einbrennt. […] Dieses Drehbuch kann immer dann aktiviert werden, wenn Szenen in normalen Träumen denen des Albtraumes ähneln oder Situationen als bedrohlich empfunden werden« (Die Zeit Nr. 32, S. 28, 4.8.11). In der Psychotherapie von Psychoseerkrankten ist es deshalb vorteilhaft, möglichst schon bei der Ersterkrankung therapeutisch den Doppelgängerdialog und die Hilfswelt-Technik anzuwenden. Dann brennen sich die Wahninhalte gar nicht erst in das Gedächtnis ein, und in der Therapie müssen nicht auch noch die Folgestörungen ausgeglichen werden, die durch Traumatisierung durch das eigene »Verrücktwerden« und durch die nicht selten traumatisierenden psychiatrischen Behandlungen entstehen. Nach Gunkel (1999, S. 65 f.) sind bei 35 bis 51 % der schizophrenen Patienten die PTSD-Kriterien erfüllt. Casson (2004) hat in einer Forschungsarbeit (1996–2000) anhand der Behandlung von 42 Patienten gezeigt, dass die ambulante Psychotherapie von psychotisch erkrankten Menschen mit Dramatherapie erfolgreich und finanziell kostengünstiger sein kann als eine übliche stationäre oder rein medikamentöse Therapie. Er nutzte in der Behandlung seiner Patienten ebenfalls das transmodale therapeutische Spiel. Er stellte sein Vorgehen an vielen Fallbeispielen aus der Gruppen- und Einzelarbeit dar, besonders ausführlich an zwei Fallbeschreibungen aus dem Einzelsetting, der Therapie einer 40-jährigen psychotisch erkrankten Frau mit 156 Sitzungen (Casson, 2004, S. 126 ff.) und der Behandlung eines 34-jährigen Mannes mit 44 Sitzungen (Casson, 2004, S. 182 ff.). Beide waren schwer psychotisch erkrankt und am Ende der Therapie symptomfrei. Casson (2004, S. 139 f., 143, 190) beschrieb in dieser Untersuchung ausführlich den Umgang mit Problemen in der therapeutischen Beziehung und mit bis-

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weilen schwer destruktiven Impulsen der Patienten und zeigte, dass der Therapeut mit ihnen durch das Herz ihrer psychotisch entgleisten Selbstorganisation hindurchgehen muss. Er machte die Erfahrung, dass halluzinatorische Stimmen oft Gefühle von Patienten ausdrücken, die diese in der aktuellen Situation nicht direkt leben können (Casson, 2004, S. 187). Auch seien psychotisch erkrankte Menschen im Allgemeinen traumatisierte Menschen. Für das transmodale Spiel nutzt Casson Handpuppen, Masken, Trommeln, Puppenhäuser, das Arbeiten mit einem Glastisch mit vier Ebenen, Tangram-Steine, Knöpfe, Bänder, Parfums, Make-ups, Babuschka-Puppen, Tierfiguren, Umgestaltungen des Gruppenraumes, Rollenspiele und anderes. Das Therapieziel von Casson war wie bei Moreno nicht, das Stimmenhören zum Verschwinden zu bringen. Die Patienten sollten vielmehr lernen, ihre Stimmen zu stoppen, sich selbst und ihre Haltung gegenüber den Stimmen zu ändern und die Stimmen selbst zu steuern, sodass sie weniger bedrohlich waren. Sie sollten sich durch die Therapie selbst besser verstehen lernen und ihre schweren Beziehungsstörungen verringern.

9.9  Gruppentherapie mit psychotisch erkrankten Menschen Psychodramatische Gruppentherapie in der Behandlung von psychotisch er­ krankten Menschen wird vor allem in sozialpsychiatrischen Kontexten angewandt. Die Patientinnen und Patienten sollen in der Gruppe lernen, mit ihrer Krankheit zu leben, und ausreichend Medikamente nehmen, um ihre psychische Befindlichkeit zu verbessern. Stationäre Aufenthalte sollen unnötig oder kürzer werden, die soziale und berufliche Integration wird gefördert. Dabei ist die Beziehungsgestaltung zwischen dem Therapeuten und den Gruppenmitgliedern und auch unter den Gruppenmitgliedern selbst eher klassisch psychiatrisch orientiert (siehe Kap. 9.3), die psychotische Symptomatik wird meistens als Defizit angesehen und nicht als paralogischer Ausdruck der Persönlichkeit. Ein störungsspezifisches Vorgehen nach dem im Kapitel 9.6 beschriebenen Therapiemodell mit transmodaler Beziehungsgestaltung ist in der Gruppe nicht oder, wie an dem Fallbeispiel 74 in Kapitel 9.7.1 und unten an dem Fallbeispiel 85 deutlich wird, nur in Ausnahmefällen in kurzen Sequenzen möglich. Denn wenn der Therapeut sich spielerisch auf die Wahnwirklichkeit einer Patientin bzw. eines Patienten einlässt, verwirrt das die Gruppenmitglieder in ihrem sozialpsychiatrischen Lernziel, ihr wahnhaftes Erleben als Krankheit anzusehen. Sie haben wegen ihrer Defizite im Mentalisieren Mühe, sich im Als-ob-Modus des Spiels auf den psychotischen Denkmodus einer Protagonistin bzw. eines Protagonisten im Spiel einzulassen, weil bei ihnen dabei eigene

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Ängste aufkommen, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Sie bewerten deshalb in der Nachbesprechung einer transmodalen Arbeit die Wahnwirklichkeit der Protagonistin oft als »wohl doch sehr unwahrscheinlich« oder als »Fantasie« (siehe Kap. 9.1). Eine solche Rückmeldung wirkt sich auf die Selbstkohärenz von psychotischen Protagonisten aber ausgesprochen destruktiv aus und verstärkt oft, wie in dem Fallbeispiel 71 gezeigt (Bender und Stadler, 2012, S. 89), ihre psychotische Symptomatik. Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten haben drei verschiedene Lösungen gefunden, um dieser Gefahr in der Gruppentherapie zu entgehen: 1. Sie wählen für die Gruppe nur solche psychiatrischen Patienten aus, »die gruppenfähig und zu einem psychotherapeutischen Arbeitsbündnis imstande sowie bereit sind, sich auf die Methode einzulassen« (Bender und Stadler, 2012, S. 85). Dieses Auswahlkriterium schließt aber viele psychoseerkrankte Patienten mit Denkstörungen, stärkerer Kontaktstörung oder akuter Symptomatik aus der Gruppentherapie aus. Das ist eine bedauerliche Einschränkung der Indikationen für Psychodramatherapie. 2. Der Therapeut behandelt seine psychotisch erkrankten Patientinnen und Patienten, wie Moreno das in seinem Sanatorium in Beacon tat (Straub, 2010, S. 28), nur im Einzelsetting. Moreno hat das sicher nicht ohne Grund getan (siehe Kap. 2.6.1), diese Therapieplanung aber nicht kommentiert. Das heißt aber auch: Wenn Psychodramatherapeutinnen oder Psychodramatherapeuten mit Psychoseerkrankten heute störungsspezifisch psychodramatisch in der Gruppe arbeiten wollen, versuchen sie aus den oben angegebenen Gründen etwas besonders Schwieriges und überfordern wahrscheinlich oft die Patienten und sich selbst. 3. Man kann als Therapeut sein methodisches Vorgehen auch verändern und Psychodrama ohne die Techniken Doppeln, Spiegeln und Rollentausch »nur« als pädagogisches Rollenspiel anwenden. Das pädagogische Rollenspiel (Arbeitskreis Pädagogisches Rollenspiel e. V., APR, 1989) geht nicht auf die inneren Selbstorganisationsprozesse der Patienten ein, sondern richtet den Blick weitgehend nur auf ihr äußeres Verhalten. Die Gruppenteilnehmer können protagonistzentriert in übenden Rollenspielen ohne Rollentausch an Gegenwartskonflikten arbeiten, zum Beispiel um das eigene Verhalten im Umgang mit ihren Vorgesetzten am Arbeitsplatz, mit Arbeitskollegen oder auch mit Mitbewohnern in ihrer Wohngruppe zu überprüfen und zu verbessern. Die themenzentrierte Arbeit fördert die Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander, ihre Spielfähigkeit und ihre Rollenflexibilität: Der Therapeut kann zum Beispiel in einer Sitzung ein Seil als »Lebenslinie« auf den Boden legen und die Patienten bitten, dass sie jeder entlang dem roten Faden der Zeit, ausgehend von der Geburt bis zum jetzigen Lebensalter, »Symbole

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für die wichtigen Ereignisse in ihrem Leben neben das Seil legen«. Die Patientinnen und Patienten machen so kenntlich, wann in ihrem Leben gute Zeiten waren und wann aber auch eine Krankheitsphase auftrat. In der nächsten Gruppensitzung können sie, den Einfällen und den Überlegungen zu ihrer Lebenslinie folgend, jeder für sich einen persönlichen Notfallplan entwickeln (siehe Kap. 9.6.2), diesen aufschreiben, ihn mit nach Hause nehmen und versuchen, ihn bei Bedarf anzuwenden. Bei der Übung »ärztliche Visite« bittet der Therapeut eine Patientin, die fiktive Rolle ihrer eigenen Ärztin zu spielen, lässt sich von der Patientin aus der Rolle der Ärztin heraus über ihren Krankheitsverlauf informieren, aus der Spiegelposition heraus ihren jetzigen Zustand beschreiben und Empfehlungen geben für ihre Therapie (Moreno, 1945a, S. 9). Durch die gegenseitige einfühlende Teilhabe und das wechselseitige Sharing bei einer solchen themenzentrierten Gruppenarbeit lernen die Gruppenteilnehmerinnen und Gruppenteilnehmer sich selbst und die anderen besser kennen und verstehen. Beim Märchenspiel in der Gruppe gelangen psychotisch erkrankte Teilnehmer oft schon nach fünf Minuten an das Ende des Märchens. Der Therapeut lässt die Patienten zur Förderung ihrer Spielfähigkeit dann das Märchen ein zweites und drittes Mal spielen, mit jeweils anderen Rollenbesetzungen. Sich in Märchen- oder Fantasierollen zu begegnen, fördert die innere Spontaneität der Patienten und die Beziehungsaufnahme untereinander. Auch Stegreifspiele, das sind spontane Gruppenspiele ohne Rollentausch, sind möglich und hilfreich: So kann der Therapeut mit den Patienten ein gemeinsames Gruppenthema formulieren, dieses in ein symbolisches Beziehungsbild übersetzen und die Teilnehmer dieses mit verteilten Rollen als Gruppenspiel in Szene setzen lassen. Dabei wird zum Beispiel aus dem Thema »Ich bin in meiner Freizeit lustlos« das symbolische Bild »Die Familie sitzt am Sonntagmorgen am gemeinsamen Frühstückstisch und überlegt, was sie tun könnte«. Der Therapeut fordert die Gruppenteilnehmer auf, sich in diesem Bild eine Rolle zu suchen und diese zu übernehmen: »Wer spielt den Vater? Wer die Mutter? Wer mag die Kinder spielen?« Die Teilnehmer können im Spiel die Lustlosigkeit genussvoll ausleben oder auch unkonventionelle Ideen entwickeln, wozu sie vielleicht doch noch Lust hätten. Ein anderes Thema für ein Stegreifspiel wäre zum Beispiel »psychiatrische Klinik«. Die Übernahme von Rollen anderer Menschen in Stegreifspielen macht es den Patienten leichter, im Schutz dieser fiktiven Rollen zu den Mitpatienten Beziehung aufzunehmen oder aber auch sich abzugrenzen oder sich zu streiten. Der Therapeut ist in der Gruppentherapie mit Psychoseerkrankten insgesamt aktiver als in der Behandlung von neurosekranken Menschen und strukturiert die Gruppensitzungen stärker. Er muss sich bei den Spielen der Patienten auf viel Unbeholfenheit und auf unkonventionelle Lösungen einstellen. Bender,

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Braunisch und Kunkel (1991) haben in einer wissenschaftlichen Untersuchung festgestellt, dass Psychoseerkrankte in der psychodramatischen Gruppenpsychotherapie im Vergleich mit Patienten, die nur Freizeitklubs besuchten, therapeutisch deutlich bessere Ergebnisse erzielten. Empfehlung Bei psychotisch kranken Menschen ist die Beziehungsklärung mit einer nahen Bezugsperson durch psychodramatischen Dialog mit Rollentausch im Allgemeinen kontraindiziert, weil der offene Konflikt mit einer nahen Bezugsperson relativ häufig zu einer neuen psychotischen Dekompensation führt.

Die bei einer psychodramatischen Beziehungsklärung stattfindende Aktualisierung des Selbst lässt die Anpassungshaltung der Patientin zusammenbrechen, die ein Selbstschutz ist vor der Aktivierung von alten Traumaerfahrungen und pathologischen Introjekten. Außerdem haben psychoseerkrankte Protagonisten im Nachspielen ihrer inneren Beziehungsbilder auf der Bühne es schwer, im Rollentausch sich spielerisch mit ihrem eigenen Konfliktgegner zu identifizieren und doch gleichzeitig innerlich auch ihre eigene brüchige Selbstrepräsentanz aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus sind psychotisch Erkrankte wenig spielfähig, denken weitgehend im Äquivalenzmodus und glauben deshalb oft, der Therapeut wünsche beim Rollentausch von ihnen, dass sie lernen, sich besser in ihre Bezugspersonen einzufühlen. In Ausnahmefällen kann der Therapeut in der Gruppentherapie mit psychotisch Erkrankten doch auch psychotherapeutisch transmodal an ihrer desintegrierten Selbstorganisation arbeiten und wie im Fallbeispiel 74 in Kapitel 9.7.1 oder im Fallbeispiel 85 (siehe unten) in ihr desintegriertes Mentalisieren hineingehen. Das setzt aber eine hohe Sensibilität des Therapeuten, eine gute Gruppenkohäsion, eine gewisse Rollenflexibilität der Mitpatienten und eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zwischen der Gruppe und dem Therapeuten voraus. Fallbeispiel 85 (Matthias Ewald, 1997, mündliche Mitteilung): Der Therapeut bemerkte in seiner Psychotikergruppe in der Tagesklinik, dass ein Patient offensichtlich wieder akut Stimmen hörte. Er sprach den Patienten an. Dieser bestätigte die Vermutung. Der Therapeut ließ den Patienten daraufhin alle Stimmen, es waren fünf, im Raum aufstellen. Seine Mitpatientinnen und Mitpatienten übernahmen die Rollen der Stimmen. Jede der »Stimmen« bekam einen für sie typischen Satz zugewiesen, ähnlich wie wir es im Psychodrama gern bei dem Aufstellen von Beziehungs- oder Familienskulpturen machen. Diese einfache Technik, die Stimmen der Wahnwelt außen im Therapiezimmer symbolisch als Personen zu repräsentieren und ihnen Gesicht zu

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Gesicht gegenüberzutreten, führte dazu, dass bei dem Protagonisten das Stimmenhören prompt verschwand, ohne dass die Medikation erhöht werden musste. Offensichtlich hatte schon allein die Aufstellung der Stimmen auf der Zimmerbühne dem Patienten das Gefühl gegeben, Einfluss auf die Stimmen zu haben (siehe Abb. 6), und so seinen passiv erlittenen inneren Desintegrationsprozess gestoppt. Allerdings tauchte bei ihm nach einem halben Jahr das Symptom des Stimmenhörens wieder auf. Der Therapeut wollte in dieser Situation wieder ähnlich psychodramatisch vorgehen. Diesmal waren aber die Gruppenmitglieder leider nicht bereit, bei der Aufstellung im Raum die Rolle einer »Stimme« zu übernehmen, sodass zu diesem Zeitpunkt in der Gruppe eine psychotherapeutische Arbeit im transmodalen Beziehungsmodus nicht möglich war.

Gruppentherapie mit Psychoseerkrankten kann auch auf der psychiatrischen Akutstation angewandt werden, dann aber in der speziellen Form des »Märchendramas« (Garde, Erdmann, Sander und Drees, 1987). Bei dieser Gruppenmethode findet einmal in der Woche auf der Station eine »Märchengruppe« statt. Ute Siebel (1998, mündl. Mitteilung) hat fünfzehn Jahre lang mit Erfolg auf der psychiatrischen Akutstation der Medizinischen Hochschule in Lübeck eine solche Gruppe geleitet. Dabei hat sich das folgende Vorgehen bewährt: Alle Patienten und Therapeuten der Station versammeln sich zu einer Gruppensitzung. Sie denken sich zusammen eine märchenhafte Geschichte aus. Eine Therapeutin bzw. ein Therapeut fängt an. Eine andere Therapeutin geht mit einem Tonbandgerät von einem Gruppenmitglied zum nächsten und nimmt das Gesprochene auf. Es wird eine Fortsetzungsgeschichte entwickelt, zu der jeder seinen Teil beiträgt. Wenn die Geschichte zu Ende erzählt und auf dem Tonband gespeichert ist, macht die Gruppe eine kurze Pause. Zwei oder drei Gruppenmitglieder und zwei Therapeuten vergegenwärtigen sich als »Theaterdramaturgen« die Rollen noch einmal, fassen die Geschichte zusammen und merken sich die darin vorhandenen Rollen. Danach kommt die Gruppe wieder zusammen. Die »Theaterdramaturgen« erzählen die erfundene Geschichte in einer Zusammenfassung. Sie benennen die Rollen und fordern die Gruppenteilnehmer auf, sich jeder für das Märchenspiel eine der Rollen auszusuchen. Anschließend spielen die Patienten und die Therapeuten das Märchen von Anfang bis zum Ende entlang dem roten Faden des Handlungsablaufes der Fortsetzungsgeschichte nach. Ute Siebel erzählte, dass sie als Stationsärztin einmal eine »Gretel gespielt hat, ein hochpsychotischer Patient den Hänsel und der Stationspfleger den Wolf«. Der hochpsychotische Patient habe als Hänsel sie, »Gretel«, die Stationsärztin, in guter Weise vor dem »bösen Wolf«, dem Stationspfleger, beschützt. Das stationäre Märchendrama kann helfen, die Beziehungen auf der Station zu erweitern, zu strukturieren und zu integrieren. Denn die vielfältigen

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Psychotische Erkrankungen

Interaktionen auf der Spielebene führen zwischen den an der Gemeinschaft der Station Beteiligten zu Begegnungen auf Augenhöhe und setzen Beziehungsprozesse in Gang, bei denen man sich im Handeln gegenseitig von einer völlig anderen Seite erlebt. Nach dem Märchenspiel haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander auf eine ganz andere Weise etwas zu tun gehabt. Aus den vielfältigen Impulsen Einzelner entstehen durch das gemeinsame Handeln im Märchenspiel gemeinsame innere Beziehungsbilder, die auf den Behandlungsalltag der Station ordnend wirken und in denen das Gute über das Böse siegt. Die therapeutische Gemeinschaft auf der Station wird so in ihren Beziehungen flexibler und kreativer. Es ist zu vermuten, dass eine solche Märchendrama-Gruppe die Kosten für die medikamentöse Behandlung auf einer psychiatrischen Akutstation vermindert. Es wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert, diese Hypothese zu überprüfen. Wenn die Therapeutin oder der Therapeut in der Behandlung mit psychotisch erkrankten Menschen in ihren Wahnkonflikt hineingeht und so den Als-obModus des Spiels in den Äquivalenzmodus des Denkens der Patienten integriert, setzt der Therapeut sich den Grundängsten des Menschen vor dem Absurden, vor der absoluten Einsamkeit und vor dem seelischen Tod aus. Zentraler Gedanke Bei allem Ernst und aller existenziellen Not entsteht in der Therapie von psychoseerkrankten Menschen durch die Verwirklichung des Äquivalenzmodus im Als-ob-Modus des Spiels aber auch Witz und Humor. Das wird in den Fallbeispielen 73 und 81 deutlich. Man versteht plötzlich, was Moreno (1959, S. 89) meinte, wenn er von einer integrativen Katharsis durch Lachen sprach und von sich sagte, er sei »der, der das Lachen in die Psychiatrie gebracht« hat.

Das hier beschriebene Vorgehen hilft den Therapeutinnen und Therapeuten in der Behandlung von psychotisch erkrankten Menschen, sich selbst und die Patienten besser zu verstehen. Es erweitert ihr therapeutisches Handlungsrepertoire und erleichtert es ihnen, an der richtigen Stelle störungsspezifisch zu intervenieren. Das macht die schwierige Arbeit mit Psychoseerkrankten lebendiger. Wenn aber die Arbeit dem Therapeuten mehr Freude macht, tut allein das den Patienten schon gut.

10 Suchterkrankungen

10.1  Das Besondere in der Psychotherapie von Suchtkranken Grundlage des hier vorgestellten Prozessmodells der störungsspezifischen psychodramatischen Psychotherapie von Suchtkranken sind langjährige praktische Erfahrungen als Psychiater und Psychotherapeut in der ambulanten Arbeit mit Alkoholkranken (Krüger, 1988). Die erarbeiteten praktischen Vorgehensweisen habe ich später mit dem Konzept der Ich-Spaltung bei Abhängigkeitskranken theoretisch begründet (Krüger, 2004b, 170 ff.). Die hier weiterentwickelten Konzepte lassen sich mit leichten Veränderungen auch auf die Behandlung von anderen substanzgebundenen Suchterkrankungen und von nicht-substanzgebundenen Suchterkrankungen (siehe Kap. 10.11 und 10.12) übertragen. Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vermeiden, Patienten mit Suchtproblemen in Behandlung zu nehmen. In einem Seminar über Suchttherapie nannten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dafür die folgenden Gründe: »Ich habe dazu keine Affinität.« »Ich habe kein Vertrauen.« »Ich habe keinen Erfolg.« »Das ist so schwer zu verstehen.« »Ich nehme die nicht, weil ich keinen stationären Hintergrund habe.« »Die Drogenabhängigen haben mich so oft in die Irre geführt, ich habe die gehasst.« »Ich kann mit dem Alkohol nicht konkurrieren.« Nur ein einziger Teilnehmer widersprach diesen eher resignativen Äußerungen: »Die faszinieren mich, sie sind für mich eine Herausforderung. Ich mag Herausforderungen.« Die meisten Psychotherapeuten haben kein theoretisches Konzept und kein Handwerkszeug, um mit suchtkranken Patienten störungsspezifisch zu arbeiten. Sie haben nicht gelernt, ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht als Therapeutin oder Therapeut in der Beziehung zu ihren suchtkranken Patienten für die Arbeit konstruktiv zu nutzen und finden keinen Zugang zu der speziellen dysfunktionalen Selbstorganisation ihrer suchtkranken Patienten. Auch ich bin als junger Psychiater bei dem Versuch der Psychotherapie von Abhängigkeitskranken zunächst gescheitert.

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Suchterkrankungen

Fallbeispiel 86: Ein Leutnant der Bundeswehr, Herr A., kam ein halbes Jahr lang wöchentlich zu mir in die Poliklinik der Universität zu einer tiefenpsychologisch fundierten Einzelpsychotherapie. Ein Jahr nach Ende der Therapie traf ich ihn bei einem Besuch in einer Suchtklinik zufällig wieder. Er erzählte mir lachend, dass er während seiner Behandlung in der Poliklinik immer zwei Tage vor einer Therapiesitzung mit seinem Alkoholkonsum aufgehört hatte: »Nachdem ich dann bei Ihnen gewesen war, habe ich wieder angefangen zu trinken.« Fallbeispiel 87: In der Poliklinik behandelte ich einzeltherapeutisch ein halbes Jahr lang eine Distraneurin-süchtige Patientin, Frau B. Ich ließ sie unter anderem ihre Konflikte mit ihrer Mutter und anderen Bezugspersonen psychodramatisch bearbeiten. Dabei erlebte ich sehr viel, die Patientin aber offenbar deutlich weniger. In jeder Sitzung fragte ich sie, wie viele Kapseln Distraneurin sie in der letzten Woche genommen hatte. Wenn es »nur« 3–4 täglich waren, freute ich mich über die »Fortschritte« der Therapie. Wenn es doch wieder 6–8 Kapseln täglich waren, war ich enttäuscht. Die Therapie wurde ohne wesentliche Besserung der Symptomatik beendet. Die Patientin machte später eine Entzugsbehandlung.

Typische Probleme in der Psychotherapie von Suchtkranken sind: 1. Die Patienten werden immer wieder rückfällig. Sie wollen zwar abstinent leben, tun das aber nicht. 2. In der Psychotherapie treten durch die Rückfälle immer wieder Krisen auf, die die erreichten therapeutischen Fortschritte weitgehend zunichtemachen. Das entmutigt Therapeutinnen und Therapeuten und aber auch die Patientinnen und Patienten. 3. Suchtkranke Patienten leiden zwar unter den Folgen ihrer Sucht, sie geben ihrer Sucht in ihrer Krankheitsentwicklung aber meistens nicht die angemessene Bedeutung. Sie »lügen« die Therapeuten halb bewusst, halb unbewusst an, weil sie sich selbst etwas vormachen müssen, um trotz negativen Folgen weiter Suchtmittel nehmen zu können. 4. Durch ihre Selbsttäuschung verführen sie auch die Therapeuten, ihr Suchtproblem in der Behandlung zu übersehen oder die Abhängigkeit nur als Folge von psychischen Problemen oder Konflikten zu verstehen. Zentraler Gedanke Bei einer Abhängigkeitserkrankung nehmen die Betroffenen nicht mehr Suchtmittel zu sich, weil sie Probleme haben, sondern sie haben Probleme, weil sie Suchtmittel konsumieren. Es gehört zur Definition »Abhängigkeit« bzw. Sucht, dass der Betroffene trotz dadurch auftretender Schäden sein Suchtmittel weiter konsumiert (siehe Kap. 10.2).

Das Besondere in der Psychotherapie von Suchtkranken

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Fallbeispiel 88 (Krüger, 2004, S. 165, verändert): Ein neuer Gruppenteilnehmer, Herr C., erzählte in der Gruppensitzung von seinem Alkoholproblem und seinen Eheproblemen und fragte am Ende: »Ich trinke wegen der Probleme in meiner Ehe. Was kann ich dagegen tun?« Der Therapeut wollte mit dem Patienten eigentlich weiter über sein Eheproblem reden. Eine erfahrene Gruppenteilnehmerin aber antwortete auf die Frage des Neuen spontan: »Lösen Sie doch Ihre Eheprobleme, dann brauchen Sie nicht mehr zu trinken!« Der Therapeut war verblüfft. Langsam wurde ihm aber klar: »Genau das ist es. Solange der Patient trinkt, wird er seine Eheprobleme nicht angehen und nicht lösen können. Vielleicht braucht er die Eheprobleme sogar, um trinken zu dürfen.«

Abhängigkeitskranke sind mehr, als sie selbst meinen und als andere es ihnen anmerken, in ihrem Denken und Fühlen mit ihrem Abhängigkeitsproblem beschäftigt, mit den Sorgen um die Beschaffung des Suchtmittels, der Vorfreude auf den Konsum, mit der Not, den Suchtmittelmissbrauch zu verheimlichen und die Folgen zu verbergen, und mit ihren Schuldgefühlen. Der energetische Sog ihres inneren Suchtkonfliktes, ihre Scham und ihr immer wieder neues Abgleiten in süchtiges Denken (siehe Kap. 10.5) beeinträchtigen ihre Fähigkeit zur Konfliktverarbeitung und ihre Mitarbeit in der Psychotherapie. Deshalb scheitern Therapeutinnen und Therapeuten meistens, wenn sie versuchen, bei suchtkranken Menschen zuerst die »Grunderkrankung« zu behandeln, die Depression, das Borderline-Syndrom, die Traumafolgestörung oder andere, und erst danach an der Abhängigkeitserkrankung arbeiten wollen. Erfahrungsgemäß ist die psychotherapeutische Behandlung einer psychischen Zweiterkrankung erst dann sinnvoll, wenn die Betroffenen schon ein halbes Jahr oder mehr abstinent leben (siehe Abb. 25). Reimer und Freisfeld (1984) stellten in einer Untersuchung in Schleswig-Holstein fest, dass die Ärzte, die in der Behandlung von Alkoholkranken Erfahrung haben, die Patienten weiterschicken an Selbsthilfegruppen und Spezialeinrichtungen. Die Ärzte aber, die nicht ausgebildet waren, versuchten, die Patienten selbst zu behandeln. Lohse (1975, zitiert nach Krüger, 1988, S. 67) kritisierte bei Ärzten als Ergebnis einer ganz ähnlichen Untersuchung in Berlin »eine zu positive Selbsteinschätzung ihrer psychotherapeutischen Fähigkeiten bei Alkoholkrankheit«. Beide Untersuchungen kamen also zu dem Ergebnis, dass unerfahrene Ärztinnen und Ärzte suchtkranke Patienten unzureichend behandeln, in der Suchttherapie erfahrene Ärztinnen und Ärzte aber vermeiden, die Behandlung von Suchtkranken selbst zu übernehmen. Das ist ein erschreckender Befund angesichts der hohen Zahl von mehreren Millionen Abhängigkeitskranken in Deutschland (siehe Kap. 10.3). Allerdings ist zu vermuten, dass viele

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Suchterkrankungen

Abhängigkeitskranke unter anderen Diagnosen psychotherapeutisch behandelt werden. Die oben erwähnten 11 Teilnehmer an einem Suchtseminar vermuteten zu Beginn des Kurses bei insgesamt 17 ihrer Psychotherapiepatienten und Klienten ein Suchtproblem, am Ende des Seminars aber bei 62 ihrer Patienten. Die Zahl der real in Psychotherapie genommenen Suchtpatienten stieg bei jedem von ihnen durch die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema also durchschnittlich fast auf das Vierfache. Das, obwohl die Therapeuten durch ihre Anmeldung zu dem Kurs deutlich machten, dass sie an dem Thema »Abhängigkeit« anders als andere schon vorher interessiert waren. Zentraler Gedanke Die Therapeutin oder der Therapeut kann sich entscheiden, Abhängigkeitskranke nicht in Psychotherapie nehmen zu wollen. Sie sind trotzdem schon da, vor allem, wenn die Verhaltensabhängigen, also die nicht-substanzgebundenen Abhängigkeitskranken (siehe Kap. 10.12), mitgezählt werden. Die hohe Dunkelziffer der Abhängigkeitskranken unter den Psychotherapiepatienten sollte jede Psychotherapeutin und jeden Psychotherapeuten veranlassen, sich mit dem Thema »Suchttherapie« näher zu beschäftigen. Das hier beschriebene Prozessmodell der Suchttherapie kann dazu Mut machen.

10.2  Die Definition von Sucht und Abhängigkeit Wichtige Definition Die Weltgesundheitsorganisation definierte 1957 »Sucht« als »einen Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge«. Bei einer Sucht liegen gleichzeitig vor: 1. ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels, 2. eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung), 3. die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge, 4. die Schädlichkeit für den Einzelnen und/oder die Gemeinschaft.«

Diese Suchtdefinition der WHO ist auch anwendbar für nicht-substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen, man muss in der Definition das Wort »Mittel« oder »Droge« nur ersetzen durch die spezielle Art des süchtigen Handelns, zum Beispiel das Spielen an Automaten oder Pornosucht. 1968 wurde von der WHO beschlossen, den Begriff »Sucht«, drug addiction, durch den der »Abhängigkeit«, drug dependence, zu ersetzen. Der Begriff »abhängig« verharmlost im Gespräch mit Patienten aber leicht, was mit dem Wort »suchtkrank« gemeint ist. Wenn

Die Definition von Sucht und Abhängigkeit

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ein Patient nachts zum Schlafen seit Jahren eine halbe Schlaftablette braucht und ihm das hilft, einzuschlafen, dann ist er im allgemeinen deutschen Sprachverständnis zwar von der Wirkung der Tablette »abhängig«, aber nicht »süchtig«. Denn er hat die Dosis nicht gesteigert und durch die Tabletteneinnahme auch noch keinen Schaden erlitten. Aus diesem Grund benutze ich in diesem Buch das Wort »suchtkrank«, wenn ich erlebnisnah kennzeichnen möchte, dass ein Patient in abhängiger Weise Suchtmittel konsumiert, das Wort »abhängig« aber an den Stellen, an denen der Fachbegriff »Abhängigkeitserkrankung« gemeint ist. Die vier Kriterien der WHO, die sämtlich erfüllt sein müssen, um von Sucht bzw. Abhängigkeit zu sprechen, sind eine wichtige Orientierung für die Diagnostik und für die Selbsterkenntnis von abhängigen Patienten. Therapeutinnen und Therapeuten sollten diese Kriterien nicht abschwächen, wie zum Beispiel Kern (2013, S. 24) das tat, als sie im Bemühen um ein rollentheoretisch begründetes Suchtverständnis die Definition von Sucht viel zu allgemein fasste: »Einer an Abhängigkeit leidenden Person ist es in bestimmten Situationen unmöglich, in adäquaten Rollenkonfigurationen zu reagieren, auch wenn dieses Verhalten für die Gesundheit dieser Person und/oder deren soziale Integrität abträglich ist.« Diese Definition trifft für jede psychische Erkrankung zu. Denn auch den Menschen mit einer Depression, Neurose oder Psychose ohne Suchtmittelmissbrauch »ist es in bestimmten Situationen unmöglich, in adäquaten Rollenkonfigurationen zu reagieren, auch wenn dieses […] für die Gesundheit dieser Person […] abträglich ist«. Man kann unterscheiden zwischen Abhängigkeitserkrankungen mit Suchtmittelmissbrauch und Abhängigkeitserkrankungen ohne Suchtmittelmissbrauch. »Psychische und Verhaltensstörungen« mit Suchtmittelmissbrauch (ICD10 F10F19) können durch Alkohol (F10.-), Opioide, Cannabinoide (F12.-), Sedativa oder Hypnotika (F13.-), Kokain, Stimulantien, Halluzinogene, Tabak, flüchtige Lösungsmittel oder multiplen Substanzgebrauch (F19.-) entstehen. Dabei kann es jeweils zu akuten Intoxikationen (bei Alkohol F10.0) kommen, zu schädlichem Gebrauch (F10.1), zu einem Abhängigkeitssyndrom (F10.2), zu einem Entzugssyndrom (F10.3), zu einem Entzugssyndrom mit Delir (F10.4), zu einer psychotischen Störung (F10.5), zu einem anamnestischen Syndrom (F10.6), zu einem »Restzustand und einer verzögert auftretenden psychotischen Störung« (F10.7) und zu sonstigen psychischen Störungen und Verhaltensstörungen (F10.8). Bei einem »Restzustand« leiden die Patienten nach der ICD unter »Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten, des Affektes, der Persönlichkeit oder des Verhaltens über einen Zeitraum hinaus […], in dem noch eine direkte Substanzwirkung angemommen angenommen werden kann«. Zu den Abhängigkeitskrankungen ohne Suchtmittelmissbrauch, den Verhaltensabhängigkeiten, in Englisch »behavi-

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Suchterkrankungen

our addictions« (siehe Kap. 10.12), gehören zum Beispiel die Essstörungen (F50.-), abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63.-) wie zum Beispiel das pathologische Spielen (F63.0), pathologische Brandstiftung (F63.1), pathologisches Stehlen (F63.2), Sexsucht, Pornosucht oder Internetspielsucht. Der »schädliche Gebrauch« von Suchtmitteln ist nach der ICD-10 definiert als »Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschäden führt, zum Beispiel Leberschäden oder Depressionen«. Patientinnen und Patienten mit Problemtrinken, Erleichterungstrinken oder Gelegenheitstrinken betreiben in diesem Sinne einen schädlichen Gebrauch von Alkohol, sie sind also durchaus auch alkoholkrank. Für die Diagnose der Abhängigkeit fehlt aber das WHO-Kriterium des »unbezwingbaren Verlangens zur Einnahme und Beschaffung des Suchtmittels«. Dieses zeigt sich in dem, was die Anonymen Alkoholiker (AA) »Kontrollverlust« nennen. Ohne Kontrollverlust gibt es keine Abhängigkeit. Wichtige Definition Einen Kontrollverlust hat jemand, der wegen eines Schadens durch seinen Suchtmittelkonsum bewusst den Vorsatz fasst, weniger oder nichts mehr zu trinken, und dann aber entgegen diesem eigenen Vorsatz doch wieder sein Suchtmittel zu sich nimmt, mehr als geplant konsumiert oder seine geplante Abstinenzphase verkürzt.

Anders als Abhängigkeitskranke können Patienten mit »schädlichem Gebrauch« von Alkohol definitionsgemäß ihren Suchtmittelgebrauch noch kontrollieren und diesen zum Beispiel bei erhöhten Leberwerten auf Anraten ihrer Ärzte oder ihrer Therapeuten nachhaltig vermindern oder sogar ganz lassen. In diesem Stadium der Suchtkrankheit kann eine psychotherapeutische Behandlung der eventuell vorhandenen Depression, des Borderline-Syndroms oder der Traumafolgestörung die Kankheitssymptome noch ohne Suchttherapie dauerhaft vermindern. Trotzdem sollte die Therapeutin ihren Patienten darauf hinweisen, dass die Psychotherapie 50 % weniger wirksam ist, wenn er während der Behandlung täglich abends »zwei Gläser« Wein trinkt, also 0,4 Liter, oder einen Liter Bier oder wenn er regelmäßig Haschisch konsumiert. Die Therapeutin sollte in einem solchen Fall von ihm eine deutliche Reduktion seines Suchtmittelkonsums fordern, zum Beispiel, dass er »nur noch in Gesellschaft trinkt und dann auch nur noch bis zu einem Glas«. Wenn er das nicht einhalten kann, ist er meistens doch schon abhängig und hat das wahre Ausmaß seines Konsums verharmlost. Diese klare Vorbedingung hilft der Therapeutin und auch dem Patienten. Ein abhängiger oder süchtiger Gebrauch von Suchtmitteln liegt vor bei Spiegeltrinken oder bei exzessivem Trinken. Es besteht nach der ICD »ein star-

Die Definition von Sucht und Abhängigkeit

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ker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren und anhaltender Suchtmittelgebrauch trotz schädlicher Folgen«. Meistens haben die Betroffenen schon vor Beginn der Alkoholabhängigkeit anders als andere, übermäßig, häufiger, hastig oder mit Gedächtnislücken getrunken. Beim Spiegeltrinken haben sich die physiologischen Prozesse des Körpers so auf die kontinuierliche Alkoholzufuhr eingestellt, dass spätestens nach zwölf Stunden Abstinenz Entzugserscheinungen wie Händezittern, Herzrasen und Schwitzen auftreten. Andererseits ist Spiegeltrinkern der übermäßige Alkoholkonsum weniger anzumerken als Gesunden, weil ihr Körper sich an einen bestimmten Alkoholspiegel im Blut gewöhnt hat. Zum Beispiel können Spiegeltrinker, wenn sie wegen des Verdachts auf Trunkenheit im Straßenverkehr klinisch untersucht werden, unter Umständen trotz 2,5 Promille Alkoholspiegel im Blut ihr Gleichgewicht noch gut koordinieren. Auch sind sie trotz ihres ständigen übermäßigen Alkoholkonsums oft noch lange Zeit arbeitsfähig. Anders als das Spiegeltrinken ist tägliches exzessives Trinken bis hin zu Gedächtnislücken nur 3–14 Tage lang möglich, weil dabei schnell so viele körperliche, familiäre und soziale Probleme entstehen, dass der Patient, wenn er weitertrinken würde, aus allen sozialen Bezügen herausfiele und in eine Klinik eingewiesen werden müsste. Eine Abhängigkeitserkrankung traumatisiert durch den Zwang, wider alle Vernunft Suchtmittel zu konsumieren, die Seele (Krüger, 2004, S. 166). Durch den Kontrollverlust sitzt der Betroffene gleichsam in der Falle: Er verliert jedes Mal den Kampf gegen den Alkohol, er kann durch seine Sucht aber auch nicht vor dem Alkohol fliehen und ist durch die eintretenden körperlichen, seelischen und sozialen Schäden dauerhaft einer nicht zu bewältigenden Stresssituation ausgesetzt. Der Führerschein geht verloren, die Ehefrau trennt sich von dem Betroffenen, der Arbeitgeber schreibt eine Abmahnung, Schulden häufen sich an oder es entsteht ein Leberschaden. Sein Suchtmittelgebrauch steigert sich im Laufe der Zeit meistens sogar noch, weil sich die körperliche Toleranz gegenüber dem Suchtmittel erhöht und weil der Betroffene seine Versagens-, Scham-, Angstund Schuldgefühle wegen des Suchtmittelkonsums betäuben muss, bevor die gewünschte Wirkung eintritt. Eine »chronische Suchterkrankung« ist gekennzeichnet durch anhaltende körperliche und seelische Schäden und familiäre oder soziale Desintegration bei abhängigem Gebrauch von Suchtmitteln.

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Suchterkrankungen

10.3  Epidemiologische Zahlen und Behandlungsstatistiken Allgemein wird die Bedeutung von Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen in der Krankenbehandlung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft stark unterschätzt. Zentraler Gedanke Nach einer Untersuchung des Instituts für Therapieforschung in München (Kraus, Piontek, Pabst und Gomes de Matos, 2014, S. 9) betrug die Zahl der Alkoholabhängigen in Deutschland 2012 1,65 Millionen. Weitere 1,69 Millionen Menschen tranken sehr viel. 7,4 Millionen tranken mehr Alkohol als die von Experten empfohlene Höchstmenge.

4,17 Millionen Menschen waren tabakabhängig, 229 000 cannabisabhängig, 1,74 Millionen waren abhängig von Schmerz- oder Schlaf- oder Beruhigungsmitteln. Diese hohen Zahlen von Menschen mit Suchtproblemen und die Tatsache, dass Psychotherapeuten dazu neigen, bei ihren Patienten Suchtprobleme zu übersehen (siehe Kap. 10.1), waren der Grund, warum es mir wichtig war, in diesem Buch dem Thema »Suchttherapie« so großen Raum zu geben. Suchtkranke leiden oft an einer psychischen Zweiterkrankung. Nach einer Übersichtsarbeit (mehr als 53 Studien) von Simpson und Miller (2002) (zitiert nach Schäfer und Reddemann, 2005) sind 27–67 % der suchtkranken Frauen in der Kindheit sexuell missbraucht worden und 9–29 % der Männer. 33 % der Frauen wurden in der Kindheit körperlich misshandelt und 24–33 % der Männer. Es besteht ein enger Zusammenhang (Schmidt, 2000, Harrison, Edwall, Hoffman und Worthen, 1990, zitiert nach Schäfer und Reddemann, 2005) zwischen der Schwere der Sucht, einem frühen Eintrittsalter in die Sucht, der Bereitschaft, schwere Drogen zu konsumieren, und der Schwere der kindlichen Traumatisierung. Traumatisierte Suchtkranke machen größere Probleme in der Therapie (Schäfer, 2005), sie brechen häufiger die Suchttherapie ab, sie haben häufiger Rückfälle und häufiger Probleme in der therapeutischen Beziehung und lösen bei ihren Therapeutinnen und Therapeuten häufiger Unsicherheitsgefühle aus als andere. Zentraler Gedanke Bis zu 80 % aller Alkoholabhängigen und 75,6 % der Opiatabhängigen leiden gleichzeitig an einer Persönlichkeitsstörung (Schneider, Schmidt-Ott und Haltenhoff, 2009, S. 182, 191) und 20–73 % an affektiven Störungen, also vor allem an Depressionen (Hiller, 2014, S. 2).

Epidemiologische Zahlen und Behandlungsstatistiken

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»Nach verschiedenen Untersuchungen weisen 40 % aller Frauen und 60 % aller Männer mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) die Kriterien für Alkohol- oder Drogenmissbrauch auf« (Dulit, Fyer, Haas, Sullivan und Frances, 1990, zitiert nach Hintermeier, 2013, S. 105). Viele an Schizophrenie erkrankte Patienten haben ein Suchtproblem. Zentraler Gedanke »Jährlich sterben in Deutschland ungefähr 70 000 Personen an den Folgen ihres Alkoholkonsums […], davon 15 % […] durch Suizid« (Hiller, 2014, S. 3).

Nur etwa 10 % der Suchtkranken werden in Deutschland innerhalb eines Jahres von Hilfsangeboten erreicht. Im Jahr 2000 wurden zum Beispiel nur 1,7 % der Betroffenen in Fachkliniken und 7 % in Fachberatungsstellen beraten und behandelt (Wienberg und Driessen, 2001, zitiert nach Waldheim-Auer, 2013, S. 205). Etwa 1–2 % der Betroffenen gehen zu Selbsthilfegruppen. Die ambulante Therapie dauert nach der Jahresstatistik 2011 der professionellen Suchtkrankenhilfe (Steppan, Künzel und Pfeiffer-Gerschel, 2013, S. 217) bei 39,5 % der Patienten nur bis zu drei Monate und bei insgesamt 62,5 % nur bis zu sechs Monate. Nur etwa 17 % der alkoholabhängigen Suchtkranken sind länger als ein Jahr in Therapie. Zentraler Gedanke In der Beratungsstelle für Suchterkrankungen des Diakonischen Werks Schaumburg-Lippe e. V. (Peter Gallus, schriftliche Information vom 27.2.2014) kamen im Jahr 2013 von den Klienten und ihren Angehörigen 67,6 % weniger als zehn Mal zu Beratungsterminen, 26,4 % der Klienten hatten nur einen einzigen Kontakt, 12,5 % kamen mehr als 50-mal zur Behandlung. Allgemein kommen abhängigkeitskranke Patientinnen und Patienten in Suchtberatungsstellen zu durchschnittlich neun Gesprächen (Klaus Ernst Harter, 2014, mündliche Mitteilung).

Stationäre Behandlungen wegen Alkoholkrankheit dauern bei Entzugsbehandlungen 1–2 Wochen, bei Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation im Durchschnitt zwölf Wochen (Steppan, Künzel und Pfeiffer-Gerschel, 2013, S. 217), bei illegalen Drogen im Durchschnitt sechs Monate (Steppan, Künzel und Pfeiffer-Gerschel, 2013, S. 217). »Ungefähr 70 % der Alkoholabhängigen haben mindestens einmal im Jahr Kontakt zu einem Arzt, ohne dass die Abhängigkeit entdeckt oder angesprochen wird. […] Ungefähr 24 % werden jährlich auf internistischen oder chirurgischen Stationen aufgenommen. […] Ungefähr 1 % gehen in eine Fachklinik« (Hiller, 2014, S. 18). Ambulante medizinische Rehabilitationsbehandlungen umfassen bis zu 120 Sitzungen in eineinhalb Jahren.

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Empfehlung Weil nur 10–20 % der Klientinnen und Klienten einer Beratungsstelle an einer Rehabilitationsmaßnahme teilnehmen, und wegen der insgesamt durchschnittlich relativ kurzen Beratungs- und Behandlungsdauer ist bei Suchtkranken eine von Anfang an störungsspezifische Beratung oder Behandlung wichtig.

Auch sollten ambulante Behandlungen anders als stationäre Suchttherapien schon beginnen, wenn der Betroffene noch Suchtmittel konsumiert. Der Beginn der Abstinenz ist erst innerhalb der ersten zehn Sitzungen anzustreben, also während der ersten drei Monate der Motivations- und Informationsphase der Therapie (siehe Kap. 10.6.1). Diese Empfehlung entspricht der vom Gemeinsamen Bundesausschuss für die Psychotherapie-Richtlinien 2011 beschlossenen Flexibilisierung, die besagt, dass die Therapeutin oder der Therapeut bei substanzabhängigen Patientinnen und Patienten eine Behandlung beginnen kann, wenn es möglich ist, die Suchtmittelfreiheit während der ersten zehn Therapiestunden zu erreichen. Die erreichte Abstinenz muss aber durch eine ärztliche Bescheinigung dokumentiert werden. Insgesamt schwanken die Zahlen von Untersuchungen über den Erfolg von Suchttherapie massiv. Die Abstinenzraten von Alkoholabhängigen betragen 9,6 % in der männlichen und 14,9 % in der weiblichen Bevölkerung (Waniczek, 2003, S. 22). Nach einer stationären Behandlung trinken etwa ein Drittel der Alkoholkranken phasenhaft oder dauerhaft wieder Alkohol innerhalb des ersten halben Jahres, die Hälfte innerhalb des ersten Jahres und noch mehr nach vier bis fünf Jahren (Körkel, 2001, S. 523, zitiert nach Waldheim-Auer, 2013, S. 196). Andererseits gibt es immer wieder auch stark ins Positive abweichende Zahlen. So berichtete Waldheim-Auer (2013, S. 196) in einer katamnestischen Untersuchung für die ambulante, abstinenzorientierte psychodramatische Behandlung in ihrer Suchtberatungsstelle, dass 73 % der Patienten nach einem Jahr noch abstinent lebten oder abstinent nach einem einmaligen kurzfristigen Rückfall (siehe Kap. 10.10), nach fünf Jahren noch 52 % der Behandelten. In einer Untersuchung von Waniczek, Harter und Wieser (2005, S. 13) waren ein bis vier Jahre nach einer psychodramatischen Gruppenbehandlung 72,9 % von 70 der suchtkranken Patienten, die an einer katamnestischen Untersuchung teilnahmen, noch nicht wieder rückfällig geworden.

Diagnostik und suchtspezifische Symptome

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10.4  Diagnostik und suchtspezifische Symptome Übung 20 Was ist das zentrale Leiden von Suchtkranken? Beantworten Sie als Leserin oder Leser bitte einmal selbst diese Frage!

In einem Fortbildungsseminar für Suchttherapie meinten die Therapeutinnen und Therapeuten, das zentrale Leiden von Abhängigkeitskranken sei: innere Leere, Beziehungsprobleme, Scham, Ohnmacht, Wertlosigkeitsgefühle, Alleinsein, Ziellosigkeit oder/und Freudlosigkeit. Nur ein Therapeut umschrieb das Suchtproblem mit den Worten: »Gefangen zu sein in etwas, in einer Zwangsjacke stecken, keinen freien Willen haben.« Zentraler Gedanke Das zentrale Leiden von Suchtkranken ist ihre Sucht. Diese Festlegung ist wichtig. Denn jede andere Antwort relativiert die Wirklichkeit der Abhängigkeitskranken. Wenn wir als Therapeuten in einer Suchttherapie die Orientierung verlieren, liegt das meistens daran, dass wir zusammen mit dem Patienten das Wichtigste der Suchttherapie aus dem Auge verloren haben, sein Suchtproblem.

Wegen der Tendenz, das Suchtproblem auszublenden, sollte die Therapeutin bei jedem harmlos erscheinenden Hinweis auf ein mögliches Suchtproblem den Patienten offen fragen: »Trinken Sie zu viel?« Oder: »Sind Sie suchtkrank?« Wenn der Patient auf diese direkte Frage mit Verunsicherung reagiert oder ihr sogar zustimmt, arbeitet die Therapeutin zusammen mit ihm heraus, welche suchtspezifischen Symptome bei ihm vorliegen und welche aber auch noch nicht vorhanden sind. Das hilft ihm, zu entscheiden, ob er sich als alkoholkrank bzw. suchtkrank zu verstehen hat oder nicht. Unabhängig von den Antworten des Patienten muss die Therapeutin sich aber auch selbst entscheiden, ob sie den Patienten als suchtkrank ansehen will. Denn wenn sie sich von der Selbsteinschätzung des Patienten abhängig macht, verhält sie sich eventuell kodependent und verharmlost mit ihm zusammen sein zentrales Problem. Jellinek hat in einem Bericht an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Fragebogen entwickelt (siehe Abb. 23), mit dem die Betroffenen feststellen können, ob sie »aller Wahrscheinlichkeit nach alkoholkrank« sind. Es gibt heute andere, wissenschaftlich gut abgesicherte Fragebögen. Wichtig an den Jellinek’schen Fragen ist in diesem Zusammenhang aber nicht nur, dass man die Fragen als Fragebogen einsetzen kann. Bedeutsamer ist, dass die 30 Fragen indirekt erlebnisnah die wichtigsten Symptome auflisten, die zu einer Abhängig-

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Suchterkrankungen

keit gehören. Die Symptomliste (siehe Abb. 23) kann deshalb im beraterischen oder therapeutischen Gespräch helfen, sich gemeinsam zu orientieren und das zentrale Leiden des Patienten, seine Sucht, qualitativ und quantitativ zu erfassen. Die Therapeutin notiert sich jeweils Mitteilungen des Patienten, die einzelne der Jellinek’schen Fragen positiv bestätigen, zählt sie ihm gegenüber bei Bedarf auf und erleichtert ihm so seine eigene Einschätzung seines Suchtproblems. Die in dem Jellinek’schen Fragebogen genannten Symptome sind größtenteils auch bei anderen Suchterkrankungen zu finden, zum Beispiel bei Tablettensucht, oder auch bei nicht-substanzabhängigen Abhängigkeitskranken mit Spielsucht, Pornosucht und anderen Verhaltensabhängigkeiten (siehe Fallbeispiele 110, 111 und 112). Die Therapeutin sollte die Bedeutung der einzelnen Jellinek’schen Fragen kennen und sie dem Patienten erklären können: 1. Gedächtnislücken nach Suchtmittelmissbrauch können sehr verunsichern. Der Betroffene weiß wegen seiner Erinnerungslücken nicht, ob er sich am Vortag eventuell abnorm oder rüpelhaft verhalten hat. Er kann nur indirekt aus den Reaktionen seiner Beziehungspartner schließen, ob da etwas gewesen ist. Passende Fragen sind: »Wissen Sie noch, wie Sie gestern Abend ins Bett gekommen sind?« »Erinnern Sie sich noch daran, was Sie zu den anderen gesagt haben?« 2. Ein Mensch trinkt in der Regel nur dann heimlich und verharmlost seinen Alkoholkonsum, wenn er weiß, dass sein Trinkverhalten nicht normal ist und er deshalb nicht auffallen möchte. Jemand, der nicht süchtig ist, versteckt nicht, dass er Bier oder Wein trinkt! Aufschlussreiche Fragen sind: »Gehen Sie oft in den Keller oder in die Garage, um dort etwas zu holen oder dort zu basteln?« »… oder in Ihren Schrebergarten?« »Hat Ihr Arbeitgeber, Ihre geschiedene Frau oder Ihr Freund, der die Beziehung zu Ihnen abgebrochen hat, Sie schon einmal darauf angesprochen, dass Sie zu viel trinken? … Sie abgemahnt?« 3. Häufiges Denken an Alkohol: Ein abhängig trinkender Patient ist innerlich beschäftigt mit der Planung seines Konsums, der Vorfreude, den Beschaffungssorgen, dem Verheimlichen und seinen Gewissensbissen. Dadurch vermindert sich mit zunehmender Abhängigkeit sein Interesse an seiner Arbeit und an seinen Beziehungen. Das geht bis dahin, dass er alles leer und sinnlos erlebt, was nicht mit seinem Suchtmittelgebrauch zusammenhängt. Die Sinnlosigkeitsgefühle sind für ihn dann oft wieder ein Grund zum Konsum. In Phasen der Abstinenz ist häufiges Denken an Alkohol ein Vorzeichen für einen Rückfall. Es kann sich zum trockenen Trinken steigern.

Diagnostik und suchtspezifische Symptome Sind Sie Alkoholiker? Die Stadien des Alkoholismus. Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Prof. E. M. Jellinek Ja Nein

Vorstadium 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Leiden Sie an Gedächtnislücken nach starkem Trinken? Trinken Sie heimlich? Denken Sie häufig an Alkohol? Trinken Sie die ersten Gläser hastig? Haben Sie wegen Ihres Trinkens Schuldgefühle? Vermeiden Sie in Gesprächen Anspielungen auf Alkohol?

Kritische Phase 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.

Haben Sie nach den ersten Gläsern ein unwiderstehliches Verlangen, weiterzutrinken? Gebrauchen Sie Ausreden, warum Sie trinken? Zeigen Sie ein besonderes aggressives Benehmen gegen die Umwelt? Neigen Sie zu innerer Zerknirschung und dauerndem Schuldgefühl wegen des Trinkens? Versuchen Sie periodenweise völlig abstinent zu leben? Haben Sie ein Trinksystem versucht, z. B. nicht vor bestimmten Zeiten zu trinken? Haben Sie häufiger den Arbeitsplatz gewechselt? Richten Sie Ihre Arbeit und Ihren Lebensstil auf den Alkohol ein? Haben Sie einen Interesse-Verlust an anderen Dingen als an Alkohol bemerkt? Zeigen Sie auffallendes Selbst-Mitleid? Haben sich Änderungen im Familienleben ergeben? Neigen Sie dazu, sich einen Vorrat an Alkohol zu sichern? Vernachlässigen Sie Ihre Ernährung? Wurden Sie wegen des Alkohol-Missbrauches in ein Krankenhaus aufgenommen? Trinken Sie regelmäßig am Morgen?

Chronische Phase 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.

Haben Sie mitunter tagelang hintereinander getrunken? Beobachten Sie einen moralischen Abbau an sich selbst? Wurde Ihr Denkvermögen beeinträchtigt? Trinken Sie mit Personen, die weit unter Ihrem Niveau stehen? Trinken Sie gelegentlich technische Alkoholprodukte (Haarwasser oder Brennspiritus)? Wurde die Verträglichkeit für Alkohol geringer? Beobachten Sie morgendliches Zittern? Wurde das Trinken zum Zwang? Hatten Sie bereits ein Alkoholdelir?

Wenn Sie bei ehrlicher Selbstprüfung mehr als fünf Fragen mit “Ja” beantworten müssen, so besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Alkoholiker sind.

Abbildung 23: Die 30 Fragen nach E. M. Jellinek: »Sind Sie Alkoholiker?«

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Wichtige Definition »Trockenes Trinken« ist nach dem Verständnis der Anonymen Alkoholikern ein seelischer Zustand, in dem abstinent lebende Abhängigkeitskranke zwar schon wieder süchtig fühlen und denken, aber noch nicht süchtig handeln.

Zum Beispiel trinken abstinent lebende Alkoholabhängige trocken, wenn sie in ihrer Selbsthilfegruppe mit leuchtenden Augen von ihren Erfahrungen unter Alkoholeinfluss erzählen, von ihren Gefühlen der Grandiosität, der Freiheit, der scheinbaren Sinnhaftigkeit, von den Schlägereien, ihren Leidenserfahrungen oder dem seelischen »Kick« ihrer körperlichen und seelischen Grenzerfahrungen. Die Gruppenmitglieder oder die Therapeutin sollten einen Betroffenen gegebenenfalls darauf hinweisen, dass er gerade »trocken trinkt« und also wieder süchtig fühlt und denkt. Das ist für ihn hilfreich. 4. Alkoholabhängige trinken die ersten Gläser oft hastig. Denn sie trinken Alkohol wegen der Wirkung, nicht aber, »weil es ihnen schmeckt«. Zentraler Gedanke Ein Suchtkranker findet so viele Gründe für seinen Suchtmittelkonsum, wie er braucht, um sich vor sich selbst und seinen Bezugspersonen zu entschuldigen.

Er trinkt wegen Eheproblemen, wegen Stress, aus Frust, »weil ich depressiv war«, »weil der Wein schmeckte«, »weil ich nicht Nein sagen konnte«, »weil ich es wollte« oder »weil es mir zu gut ging«. Wenn der eine Grund, zu trinken, wider Erwarten wegfällt, findet sich ein anderer. Wenn sich kein Grund findet, kann der Betroffene auch aktiv selbst einen Grund herbeiführen. Zum Beispiel provoziert er seine Ehefrau genau an ihrer sensiblen Stelle, diese entwertet ihn dann reaktiv, und er kann in die Kneipe gehen, dort mit seinen »Freunden« trinken und über seine Frau schimpfen. Mindestens die Hälfte aller Rückfälle geschehen nicht wegen eines Leidensgefühls, sondern aus einem Zustand des Wohlergehens und latenten Übermuts heraus. 5. Schuldgefühle wegen des Trinkens weisen in der Regel daraufhin, dass der Betroffene bereits einen privaten, sozialen oder körperlichen Schaden erlitten hatte, dass er daraufhin den Vorsatz gefasst hatte, seinen Suchtmittelgebrauch zu reduzieren oder zu beenden, dass er dieses Versprechen sich selbst gegenüber aber nicht einhalten konnte. Das Scheitern an den eigenen guten Vorsätzen verletzt den Betroffenen narzisstisch und ruft Schuldgefühle, Schamgefühle und Selbstwertprobleme hervor. Das führt zu Depressionen, weil der Betroffene gleichsam Fußball spielt, dabei gewinnen möchte, aber immer nur auf das eigene Tor schießt. Der Alkoholmissbrauch gibt den Alkoholabhän-

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gen etwas, aber Abhängigkeit traumatisiert im Laufe der Zeit auch die Seele (Krüger, 2004b, S. 163, Stadler, 2013, S. 85, 86). Denn der Betroffene kann nicht mit dem Alkohol leben und aber auch nicht ohne den Alkohol, er sitzt gleichsam in der Falle. Fallbeispiele 89 und 90: Eine sonst verantwortungsvolle, einfühlsame Ärztin, Frau D., trank sich gewohnheitsmäßig abends in ihrer Praxis mit Alkohol »weg« und fuhr dann als alleinerziehende Mutter spätabends mit dem Auto betrunken nach Hause zu ihrem 15-jährigen Sohn, der dort immer auf sie wartete. Ein 40-jähriger hoher Beamter, Herr E., war vor dem Beginn seiner Suchttherapie in den letzten fünf Jahren schon viermal wegen sehr hoher Leberwerte, zuletzt hatte er eine Gamma-GT von 1400, in einem Krankenhaus stationär behandelt worden. Seine Leberwerte sanken bei Verringerung seines Alkoholkonsums immer sofort stark ab. Der intelligente Mann belog sich und den Therapeuten aber trotzdem naiv und treuherzig: »Ich trinke abends 2–3 Bier oder auch mal zusammen mit meiner Frau eine Flasche Wein. Der Arzt hat mir gesagt, ich solle vorsichtig sein mit Alkohol. Bisher hat mir aber kein Arzt gesagt, dass ich nichts mehr trinken soll!«

6. Betroffene vermeiden Gespräche und Situationen, in denen das Thema »Alkoholproblem« in ihnen lebendig werden könnte. Sie blenden ihr Abhängigkeitsproblem immer wieder aus ihrer Wahrnehmung aus und wollen von ihren Bezugspersonen trotz ihres Suchtmittelkonsums ernst genommen werden. Wenn ihnen die Täuschung ihrer Bezugspersonen gelingt, ist es für sie leichter, weiterzutrinken. Das Nachdenken oder ein Gespräch über Alkohol würde aber das halb bewusste, halb unbewusste Verleugnen des Alkoholproblems erschweren. Die Therapeutin fragt deshalb zum Beispiel: »Schalten Sie abends beim Fernsehen auf einen anderen Sender um, wenn in einer Sendung das Thema Alkohol auftaucht?« 7. Das unwiderstehliche Verlangen, weiterzutrinken, weist auf das zentrale Suchtkriterium »Kontrollverlust« hin. Sucht gibt auch etwas (siehe Kap. 10.5). Der gewünschte Zustand tritt aber nur durch die Wirkung von größeren Mengen Alkohol ein. Zentraler Gedanke Die Hoffnung, als Abhängigkeitskranker nach einer vorübergehenden Abstinenz zu dem neurophysiologischen und seelischen Zustand vor dem Beginn der Sucht zurückzukehren und wieder nichtsüchtig zu werden, ist eine Illusion. Ein Alkoholabhängiger kann zwar bisweilen mit großer Anstrengung eine Zeit lang kontrolliert trinken, um anderen und sich selbst zu beweisen, dass er nicht

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suchtkrank ist. Wenn er wirklich alkoholabhängig ist, kommt der Absturz aber in jedem Fall.

Auch ist es für einen Alkoholabhängigen unbefriedigend, zwei oder drei Gläser Bier zu trinken, weil er sich ja nach der Wirkung des Suchtmittels sehnt. Wenn ein Betroffener wieder rückfällig wird, trinkt er erfahrungsgemäß nach spätestens einem halben Jahr wieder ebenso exzessiv wie zu dem Zeitpunkt, an dem er aufgehört hatte. Je länger ein Suchtkranker trocken oder clean ist, desto reicher und differenzierter wird wieder sein Denken und Fühlen. Die Möglichkeit, süchtig zu denken und zu fühlen, bleibt aber in seinen körperlichen und seelischen Gedächtnisspeichern für immer präsent. Bei jedem bewussten Genuss des Suchtmittels (siehe Kap. 10.10) wird die Sehnsucht nach der emotionalen Intensität der Suchterfahrung wieder aktualisiert, die das Alltagsleben oft nicht in dem gleichen Ausmaß bietet. Deshalb gilt: Wer einmal süchtig ist, bleibt süchtig. 8. Benutzen von Ausreden: Scham und Schuldgefühle mindern bei Abhängigen die erwünschte Wirkung des Suchtmittels. Deshalb benutzen Betroffene Ausreden, um den Konsum vor sich selbst und anderen zu begründen. Alkoholabhängige trinken aber am Ende nicht mehr, weil sie dieses oder jenes Problem haben, sondern deshalb, weil sie abhängig sind. Die Droge wird »zum Einzigen und Letzten, zu dem der Mensch eine signifikante emotionale Beziehung unterhält« (Groterath, 1993, S. 258). Die sonstigen »Möglichkeiten des Heute erscheinen als banal und schal« (Stimmer, 1993, S. 276). Bei Abstinenz nimmt der Betroffene die Welt wieder differenzierter wahr, auch kleine Erlebnisse bekommen wieder Bedeutung für ihn. Allerdings sieht er jetzt auch seine Probleme wieder realitätsgerechter, und diese haben sich während der Trinkzeit meistens vermehrt und vergrößert. Fallbeispiel 91: Ein 35-jähriger Mann, Herr F., kommt zum ersten Mal in die Suchtkrankengruppe. Er berichtet von seinen Problemen und stellt sich dabei unterschwellig als Opfer dar. Da bricht es aus einer erfahrenen Teilnehmerin plötzlich heraus: »Hör doch endlich auf zu lügen! Ich kann das nicht ab!« Der Therapeut ist erschrocken wegen der Vehemenz der Konfrontation. Da aber schimpft die Frau weiter: »Und weißt du auch, warum ich das nicht abkann? Ich habe früher selbst immer gelogen! Jetzt will ich das nicht mehr!« Der Therapeut ist beeindruckt. So authentisch hätte er den neuen Patienten wegen seiner Ausreden niemals konfrontieren können.

9. Aggressives Benehmen von Suchtkranken gegenüber Bezugspersonen ist oft ein Zeichen für latente Schuldgefühle und ein Hinweis darauf, dass der Betroffene im Äquivalenzmodus süchtig denkt (siehe Kap. 10.5) und die äußere Reali-

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tät mit seinen inneren Vorstellungen von der Realität vermischt. Dann meint er zum Beispiel, wenn er selbst Schuldgefühle hat, dass seine Lebenspartnerin ihn beschuldigt, und blendet den eigenen Anteil an der Beziehungsstörung aus. Das süchtige Denken im Äquivalenzmodus führt reaktiv zu Beziehungsstörungen, die Beziehungsstörungen geben dem Patienten wieder einen Grund, zu trinken. 10. und 16. Innere Zerknirschung und Schuldgefühle sind primär ein Ausdruck des gesunden Erwachsenendenkens des Patienten und treten auf, wenn der Betroffene durch einen eingetretenen Schaden gezwungen ist, die Realität seiner Situation als Alkoholkranker nun doch anzuerkennen. Allerdings kann ein alkoholabhängiger Patient seine Schuldgefühle unbewusst auch dazu benutzen, sich als »Leidsäufer« selbstverletzend immer weiter in seine Selbstvorwürfe hineinzudenken. Dann ist »sowieso alles verloren«, und er ist »der letzte Dreck«. Das erleichtert es ihm, wieder zu trinken oder weiterzutrinken. Ein angemessenes Mitgefühl mit sich selbst ist für Betroffene gesund, übertriebenes Selbstmitleid aber verführt leicht zum Rückfall. 11. Trinkpausen von einigen Tagen, Wochen oder Monaten sind oft ein Hinweis darauf, dass der Patient Angst hat vor einem Schaden durch seinen Alkoholmissbrauch oder dass dieser Schaden schon eingetreten ist. Menschen, die ihren Suchtmittelgebrauch kontrollieren können, trinken nach einem Exzess vielleicht einige Tage lang keinen Alkohol, sie entscheiden sich aber nicht bewusst dazu, für eine bestimmte Zeit absolut nichts mehr zu trinken. Absolut abstinent leben Betroffene, die ahnen oder wissen, dass sie wieder die Kontrolle über die konsumierte Menge verlieren würden, wenn sie etwas trinken. Menschen, die nicht süchtig sind, denken über ihren Alkoholkonsum nicht nach. Sie trinken einfach, wenn ihnen danach ist. Wer dagegen, ohne eine Hepatitis zu haben oder schwanger zu sein, Trinkpausen macht, will sich und anderen beweisen, dass er nicht süchtig ist. Dabei halten Alkoholabhängige übrigens ihren ursprünglichen Vorsatz meistens gar nicht ein: Sie nehmen sich vor, ein halbes Jahr nichts zu trinken, fangen aber zum Beispiel schon nach drei Monaten mit dem Konsum wieder an. 12. Ein Trinksystem festlegen: Viele alkoholabhängige Menschen planen genau, zu welcher Tageszeit sie mit ihrem Alkoholkonsum beginnen, um negative Folgen zu vermeiden. Sie trinken zum Beispiel »nur abends«, um bei der Arbeit nicht aufzufallen. Der »Abend« fängt allerdings oft schon um 17 Uhr an, und von Freitag bis Sonntag trinkt der Betroffene nicht nur abends, sondern »richtig«. Eventuell beendet er seinen Alkoholkonsum aber »schon« am Sonntagnachmittag, um montags bei der Arbeit nicht an den Händen zu zittern. Manche Betroffene trinken bewusst »morgens erst ab 11 Uhr« und glauben, dass das ein Beweis sei, dass sie nicht alkoholkrank sind. Denn sie haben gehört,

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dass Alkoholiker schon am frühen Morgen trinken müssen. Zur Vorplanung gehört auch die Angewohnheit, die Freizeitaktivitäten so auszusuchen und zu organisieren, dass daraus viele unauffällige Gelegenheiten zum übermäßigen Alkoholkonsum entstehen. 13., 14. und 17. Bei einer schwereren Suchterkrankung treten häufig Veränderungen am Arbeitsplatz, im Familienleben und im Lebensstil ein. Es besteht für Arbeitskollegen und für nähere Bezugspersonen aber eine hohe Hemmschwelle, Abhängigkeitskranke mit der Wahrnehmung zu konfrontieren, dass sie anders trinken als andere. Arbeitgebern fällt das eventuell noch leichter. Denn sie merken den Leistungsabfall, wollen die Beziehungen unter den Mitarbeitern nicht verwahrlosen lassen und haben mit der Androhung der Entlassung ein starkes Druckmittel in der Hand, um Betroffene zu motivieren, etwas gegen ihre Krankheit zu tun. Der Leistungsabfall bei Suchtmittelabusus ist oft größer, als die Betroffenen glauben. Denn auch Alkoholkranke haben wie andere Menschen nach nächtlichem Trinken morgens einen »Kater«, der trotz Kaffeegenuss erst mittags langsam verschwindet, und sie können sich schlecht konzentrieren. Ein Patient in gehobener Stellung achtete immer darauf, dass die Besprechungen an seinem Arbeitsplatz erst nachmittags stattfanden. Er fürchtete, wegen seiner Alkoholausdünstungen sonst aufzufallen. 15. Interesseverlust: Durch den Zwang zum Verheimlichen des abhängigen Alkoholkonsums verletzten sich die Betroffenen selbst narzisstisch. Es entstehen Schuld- und Schamgefühle, die zur Ich-Spaltung (siehe Kap. 10.5) und zu Identitätskonflikten führen. Durch die auftretenden körperlichen und psychischen Schäden, die familiären und sozialen Konflikte und die Tretmühle des Kampfes gegen die Abhängigkeit befinden sich Alkoholabhängige in einem Dauerstress. Ihnen fehlen die energetischen Reserven, um sich weiterhin für ihr Umfeld zu interessieren. Zentraler Gedanke Es trifft nicht zu, dass Alkoholabhängige »keinen Willen« haben. Alkoholabstinenz ist keine Frage des Willens, sondern eine Frage der Entscheidung (siehe Kap. 10.6.2).

Die Betroffenen sind nicht »faul«, sondern oft »fleißiger« als Gesunde. Zum Beispiel finden sie nach einem Arbeitsplatzverlust im Durchschnitt schneller als andere wieder eine Arbeitsstelle. Allerdings lassen sie sich dort wegen ihrer Nöte und ihrer Schuldgefühle oft ausbeuten, sind nach einiger Zeit überfordert und werden wieder entlassen. 18., 20. und 21. Je abhängiger ein Suchtkranker seelisch und körperlich vom

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Suchtmittelgenuss ist, desto mehr achtet er darauf, dass er immer einen Vorrat an Alkohol im Haus hat. Das trifft natürlich besonders auf Spiegeltrinker zu, bei denen nach 6–12 Stunden Alkoholabstinenz wegen ihrer körperlichen Abhängigkeit Entzugserscheinungen auftreten. Sie müssen deshalb oft schon morgens um vier oder fünf Uhr »nachfüllen«, also wieder etwas trinken. Vielleicht erbrechen sie nach dem ersten Schluck, aber auch dann bleibt doch so viel Alkohol im Körper, dass der zweite Schluck »drinbleibt«. Um Entzugserscheinungen vorzubeugen, legen Alkoholabhängige oft heimlich Alkoholvorräte an und verstecken volle Flaschen vor dem Zugriff ihrer Bezugspersonen in Schränken, im Keller, in der Garage oder im Gartenhäuschen. Bei dem Eintreten von schwereren Entzugserscheinungen, zum Beispiel einem Delir mit Schwitzen, Herzrasen, Zittern und Halluzinationen, werden die Betroffenen in ein Krankenhaus eingewiesen. Klinikeinweisungen erfolgen aber auch wegen Leberschäden, Suizidalität oder Unfallfolgen. Oft, aber leider nicht immer (siehe Kap. 10.3), wird der Patient im Krankenhaus von der Ärztin oder dem Arzt dann zum ersten Mal auf sein Alkoholproblem angesprochen. 19. Vernachlässigung der Ernährung: Eine Flasche Wein hat etwa 800 Kalorien, drei Liter Bier ersetzen vom Nährwert her sechs belegte Brötchen. Das mangelnde Hungergefühl, das allgemeine Stresssyndrom, die mangelnde Genussfähigkeit, negative Entwicklungen im Privatleben und die Einengung des Denkens auf den Suchtmittelkonsum lassen die Betroffenen oft ihre Ernährung vernachlässigen und zum Beispiel zu wenig Eiweiß zu sich nehmen. Das kann im Laufe der Zeit zu Leberschäden oder Schädigungen der Nerven durch eine Polyneuropathie führen. Zentraler Gedanke Schon der regelmäßige Konsum von im Durchschnitt 70 Gramm hundertprozentigem Alkohol täglich kann bei Männern nach 20 Jahren zu einer Leberzirrhose führen, bei Frauen reichen dazu 50 Gramm reiner Alkohol am Tag. Das sind bei Männern täglich ungefähr 0,6 Liter Wein oder 1,4 Liter Bier, bei Frauen 0,45 Liter Wein oder 1 Liter Bier.

22. Spiegeltrinker (siehe 18., 20. Und 21.) trinken Tag und Nacht mehr oder weniger kontinuierlich, weil sie körperlich abhängig sind und ihren Blutalkoholspiegel aufrechterhalten müssen, um keine Entzugserscheinungen zu bekommen. Exzessiv trinkende Suchtkranke trinken tagelang hintereinander, sie können aber höchstens ein bis zwei Wochen lang »saufen« und hören dann wieder auf. Denn sie kappen in dieser Zeit ihre familiären und sozialen Bindungen, und ihr Körper hält das Trinken gar nicht länger durch. Exzessives Trinken führt im

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Suchterkrankungen

Vergleich zum Spiegeltrinken meistens früher zu sozialen und privaten Folgeschäden. Bei exzessivem Trinken treten körperliche Schäden wegen der erforderlichen Trinkpausen aber erst später ein. Sogenannte »Quartalstrinker« gibt es in Wahrheit selten. Bei genauem Nachfragen zeigt sich, dass sie fast immer exzessiv trinkende Alkoholabhängige sind. Denn ihre sogenannten »Quartale« wechseln in ihrer Länge zwischen sieben und sechzehn Wochen. 23., 24., 25. und 26. Moralischer Abbau, Denkvermögen: In der chronischen Phase der Alkoholkrankheit kann es durch Schädigungen der Körperorgane zu Stoffwechselstörungen und auch neurologischen Folgeschäden des Gehirns kommen, die die Konzentrationsfähigkeit, das Denkvermögen und das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Das umso mehr, je mehr der Kranke billigsten Alkohol und alkoholhaltige technische Produkte zu sich genommen hat, wie zum Beispiel Brennspiritus. In der chronischen Phase ziehen manche sozial oder familiär noch integrierte Betroffene das Trinken an der Imbissbude oder am Kiosk dem Trinken in ihren eigenen gesellschaftlichen Bezügen vor, weil sie dort von gleichgesinnten »Freunden« eher in ihrem süchtigen Denken bestätigt werden. Frauen trinken häufiger einsam. Der chronische Selbstbetrug und das Scheitern an den eigenen Vorsätzen traumatisieren mit der Zeit die Seele der Patienten. Die Betroffenen werden allgemein gleichgültiger, unfähig, sich selbst und andere zu lieben, und ihre ethischen Werte und Haltungen verändern sich. Ihr Lebensziel besteht weitgehend nur noch darin, zu trinken und sich das Suchtmittel zu beschaffen. 27., 28., 29. und 30. Wenn ein chronisch Alkoholabhängiger im Laufe der Jahre weniger Alkohol verträgt, sieht das nach außen so aus, als ob er seine Sucht jetzt besser kontrollieren könnte. Der wahre Grund ist aber meistens: Wegen eines Leberschadens wird bei ihm der Alkohol im Körper langsamer abgebaut, deshalb verträgt er weniger und erreicht den erforderlichen Alkoholspiegel schon mit einer geringeren Menge. Morgendliches Zittern und ein sogenanntes Prädelir im Alkoholentzug weisen auf eine körperliche Abhängigkeit hin, zum Beispiel auf ein Spiegeltrinken. Andere Symptome eines Prädelirs sind Schlafstörungen, allgemeine vegetative Unruhe, Herzrasen, morgendliche Übelkeit und Erbrechen. Erneuter Alkoholgenuss hilft den Betroffenen, diese Entzugssymptome zu lindern. Deshalb wird bei ihnen das Trinken zum Zwang. Fallbeispiel 92: Eine 51-jährige, alleinstehende, leicht übergewichtige Krankenschwester, Frau G., kommt »wegen eines Burn-outs« ins Erstgespräch. Sie hatte an ihrer Arbeitsstelle »viele Probleme«, war »immer bereit gewesen, anderen zu helfen und einzuspringen, und dadurch überfordert« gewesen. Wegen vieler »unglücklicher Lebenserfahrungen« hatte sie nicht mehr ausreichend schlafen können und »des-

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halb abends 2–3 Gläser Wein getrunken«. Ihre einzige gute Freundin hatte kürzlich die Beziehung zu ihr aufgekündigt. Schließlich waren nachts Übelkeit und Erbrechen eingetreten. Sie ließ sich von ihrem Hausarzt in ein Krankenhaus einweisen und ging anschließend in eine psychosomatische Klinik. Dort habe die Therapeutin mit ihr ein verhaltenstherapeutisches Achtsamkeitstraining gemacht. Jetzt ist sie seit vier Monaten krankgeschrieben und als erwachsene Frau wieder zu Hause bei ihren Eltern eingezogen, 300 Kilometer entfernt von ihrem Arbeitsplatz. Sie will sich in der heimatlichen Umgebung eine neue Arbeitsstelle suchen. Sie nehme abends zum Schlafen fünf Milligramm Zolpidem, schlafe aber schlecht: »Ich brauche psychotherapeutische Unterstützung bei der Wiedereingliederung und bei den Schlafstörungen, damit ich das Zolpidem absetzen kann.« Der Therapeut versucht, bei der zugleich ängstlichen, latent aber aufgeregt und laut auftretenden Patientin mit Verständnis, Humor und Klarheit möglichst viele ihrer Symptome als »potenziell alkoholbedingt« zu kennzeichnen. Dabei ergeben sich von Therapiesitzung zu Therapiesitzung immer mehr Hinweise für eine Abhängigkeit: Zuerst war von »zuletzt einer Flasche Wein am Tag« die Rede, außerdem bis zu zwei Tabletten 10 mg Zolpidem. Der Therapeut: »Das ist in der Summe eine massive Dröhnung.« Frau G.: »Ich habe aber trotzdem nicht gut schlafen können.« Therapeut: »Dann hilft Ihnen das ja gar nicht zum Schlafen!« Ein ambulant behandelnder Arzt habe sie beschimpft, dass sie zu viel Alkohol trinke. Frau G.: »Ich hatte von dem Hilfe erwartet!« Als sie von ihrem Hausarzt wegen ihres nächtlichen Erbrechens und Herzrasens in eine Klinik eingewiesen worden war, hatte man dort »extrem hohe Leberwerte« festgestellt. Seit Beginn des Aufenthalts in der psychosomatischen Klinik vor neun Wochen trinke sie »keinen Tropfen Alkohol mehr«. Sie ist stolz darauf, dass sie »schon 13 Kilogramm Gewicht abgenommen« hat. Der Therapeut bringt das in Zusammenhang der jetzt verringerten Kalorienzufuhr durch Weinkonsum. Er möchte in der nächsten Therapiestunde mit der Patientin weiter an der Frage arbeiten, ob sie sich als alkoholkrank verstehen soll oder nicht. Er gibt ihr den Fragebogen der Anonymen Alkoholiker mit. Eine Woche später rufen die Eltern den Therapeuten an und teilen ihm mit, dass die Patientin in eine Suchtklinik gegangen sei. Drei Wochen später kommt von dort ein Zwischenbericht, aus dem hervorgeht, dass die Patientin zuletzt zu Hause bis zu zwei Flaschen Wein am Tag getrunken und mittags und abends jeweils zwei Schlaftabletten Zolpidem 10 mg eingenommen habe. Der Therapeut wertet die kurze ambulante Therapie von zunächst vier Sitzungen trotzdem als erfolgreich. Denn die Behandlung hatte störungsspezifisch an der richtigen Stelle angesetzt, und die Patientin hatte sich ihrem Suchtproblem stellen müssen. Diese Einschätzung bestätigt sich, als die Patientin nach acht Wochen stationärer Suchttherapie den Therapeuten mit dem Wunsch nach Fortsetzung der ambulanten Therapie aufsucht. Sie versteht sich inzwischen als alkoholkrank, habe »kapituliert«, ist voll von Informationen über Alkoholabhängigkeit,

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wirkt euphorisch und berichtet spontan, dass sie nach dem letzten Termin vor dem Klinikaufenthalt massiv rückfällig geworden war. Sie hatte Wein und Schlaftabletten zu sich genommen und dann aber, ohne das noch kontrollieren zu können, im bewusstseinsgetrübten Zustand zusätzlich noch weitere Tabletten geschluckt. Als sie auf die Toilette gehen musste, sei sie dort ausgerutscht und habe sich mit Glück nur das Nasenbein gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen. Sie kam ins Krankenhaus und ging von dort aus in die Suchtklinik. Dieser dramatische Verlauf verbesserte die Erfolgsaussichten in der ambulanten Psychotherapie deutlich. Übung 21 Üben Sie als Leserin oder Leser einmal, die 30 Fragen nach Jellinek (siehe Abb. 23) auf die Patientin des Fallbeispiels 92 oder auf einen Ihrer eigenen Fälle anzuwenden. Welche dieser Fragen sind bei Ihren eigenen Patienten oder bei der obigen Patientin Ihrer Meinung nach relevant und eventuell mit Ja zu beantworten?

Sie werden merken: Auch wenn Frau G. eigentlich »wegen eines Burn-outs« in Behandlung kam, sind mit ihr doch die Fragen 2, 3, 5, 6, 8, 9, 12, 14, 15, 16, 17, 19, 20 und 28 ernsthaft zu diskutieren. Schon wenn sie von diesen 14 Fragen »nur« 5 selbst mit »Ja« beantwortete, würde sie sich als »wahrscheinlich suchtkrank« ansehen müssen.

10.5  Die Psychodynamik der Suchtentwicklung Suchtmittelmissbrauch schadet nicht nur, er gibt subjektiv auch etwas. Im Stadium des »nur« schädlichen Gebrauchs (siehe Kap. 10.2) hilft das Suchtmittel, Hemmungen oder innere Spannungen zu verringern. Aber auch im Stadium der Abhängigkeit erreichen viele Betroffene durch ihr Suchtmittel am jeweiligen Beginn ihres Konsums noch eine subjektiv positive Wirkung. Zum Beispiel können manche Menschen durch ihren Suchtmittelgebrauch vorübergehend ihre persönlichen Grenzen überschreiten, sie erleben abhängig von der Art ihres Suchtmittels ein ungeahntes Durchhaltevermögen, neue Fähigkeiten oder Körperkräfte, oder sie glauben, die Dinge plötzlich zu verstehen und sprachlich neu auf den Punkt bringen zu können. Die Bewusstseinsveränderung durch das Suchtmittel und das Spiel mit der Grenze können subjektiv das Gefühl eines kreativen Flows vermitteln. Fallbeispiel 93: In der Suchtkrankengruppe wird über die Erlebnisse in der nassen Zeit gesprochen: »Ohne Hosen, ohne Geld, ohne Pass in London in einem Taxi aufzu-

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Die Psychodynamik der Abhängigkeit der Suchtentwicklung

wachen.« – »Bei Feiern immer der Letzte sein, der geht.« – »Ich bin in den letzten zwei Jahren zwanzigmal notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert worden. Einmal habe ich im Rettungswagen einen Herzstillstand gehabt.« Herr H. fragt den Therapeuten provokativ: »Herr Krüger, wissen Sie eigentlich, wovon wir hier reden?« Der Therapeut antwortet wahrheitsgetreu: »Na ja, ich war auch schon zweimal volltrunken.« Die Gruppe lacht herzlich (Fortsetzung unten).

unbewusste Ich-Spaltung bei abhängigem Suchtmittelgebrauch Ich-Konfusion in der chronischen Phase der Abhängigkeit

Auflösung der Ich-Spaltung durch innere kreative Repräsentation der beiden Ich-Zustände und Rollenwechsel zwischen ihnen im Als-ob-Modus des inneren Mentalisierens

Kreator

psychische Entwöhnung durch Suchttherapie

Zwei-Stühle-Technik und psychodramatischer äußerer Rollenwechsel zwischen dem gesund erwachsenen Denken und dem süchtigem Denken

Entwicklung der Sucht

schädlicher Suchtmittelgebrauch, Problemtrinken

süchtiges Denken gesund erwachsenes Denken Abbildung 24: Die Entwicklung und Behandlung der Ich-Spaltung bei Suchtkranken

Suchtmittel haben eine bewusstseinsverändernde Wirkung, sie sind psychotrop. Die Art der Bewusstseinsveränderung ist bei den verschiedenen Suchtmitteln jeweils eine andere. Trotzdem gibt es bei der Entwicklung der Abhängigkeit von Suchtmittelsubstanzen Gemeinsamkeiten. Der Übergang vom schädlichen Gebrauch in das Stadium der Abhängigkeit beginnt, wenn der Betroffene durch

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Suchterkrankungen

seinen Suchtmittelkonsum einen Schaden erleidet und er aber trotz schädlicher Folgen weitertrinkt. Abhängigkeitskranke reagieren auf die mit ihrem Suchtmittelmissbrauch einhergehenden Reaktionen ihrer Umwelt mehr oder weniger offen mit Scham, Schuldgefühlen oder der Angst vor Gesichtsverlust und Ausgrenzung. Um nicht aufzufallen, verheimlichen und verharmlosen sie ihren Suchtmittelkonsum und betäuben ihre Scham- und Schuldgefühle durch noch zusätzlichen Suchtmittelgebrauch. Das steigert in einem Teufelskreis aber wieder ihre Schuldgefühle. Zentraler Gedanke Der Schamaffekt und die Schuldgefühle lassen im Mentalisieren von Abhängigkeitskranken eine Ich-Spaltung entstehen, die dazu führt, dass sie zeitversetzt, ohne das bewusst zu merken, zwischen einem gesund erwachsenen Mentalisieren und einem süchtigen Mentalisieren hin und her wechseln (siehe Abb. 26 und 27).

Im Stadium der Abhängigkeit (siehe Kap. 10.2) leben die Patienten zeitversetzt gleichsam in zwei konträren Welten, je stärker der Schaden durch den Suchtmittelgebrauch wird, umso mehr. Für die Betroffenen ist es so, »als ob es da behelfsmäßig wechselnde Personen gäbe, deren Identitäten mit einer leichten Veränderung des Bewusstseins übernommen werden können« (Shengold, 1989, S. 146). Sie haben gleichsam »zwei Seelen in ihrer Brust« (Krüger, 2004b). Wenn sie gerade süchtig denken und fühlen, setzen sie im Äquivalenzmodus denkend durch Autosuggestion ihr gesundes Erwachsenendenken außer Kraft. Zeitversetzt wechseln sie aber in ihr gesund erwachsenes Denken, nehmen ihr Suchtproblem im Als-ob-Modus denkend (siehe Kap. 2.2) wahr, spüren ihre Schuldgefühle und ihre Scham und wissen natürlich, dass ihr Suchtmittelkonsum ihren Bewusstseinszustand illusionär verändert: »Wenn ich angefangen habe, zu trinken, ging die Piffbahn ab!« Mentalisieren ist die halb bewusste, halb unbewusste psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere versteht, mit der er Konflikte verarbeitet und löst und mit der er Dinge plant und der Realität angemessen durchführt. Scham- und Schuldgefühle und die Entscheidung, in die Beratung oder in die Therapie zu gehen, sind Ausdruck des gesunden Erwachsenendenkens. Wichtige Definition Das süchtige Denken ist vom Denken im Äquivalenzmodus (siehe Kap. 2.2) bestimmt. Der Betroffene denkt sich die Welt so zurecht, wie er sie braucht, also so, dass alles dafür spricht, dass er trinken bzw. sein Suchtmittel konsumieren

Die Psychodynamik der Abhängigkeit der Suchtentwicklung

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darf oder muss. Er projiziert innere Annahmen auf die äußere Wirklichkeit und nimmt den Unterschied zwischen der äußeren Wirklichkeit und seinen inneren Interpretationen dieser Wirklichkeit nicht mehr wahr. Wenn er Schuldgefühle hat, dann meint er, seine Frau habe ihn beschuldigt. Wenn er Wut fühlt, hat seine Frau ihn geärgert und provoziert.

Bei einem Denken im Äquivalenzmodus scheinen sich für den Betroffenen seine masochistischen oder grandiosen Fantasien in der äußeren Wirklichkeit zu erfüllen. Denn im süchtigen Ich-Zustand wird das gesunde Erwachsenendenken des Betroffenen in das von Autosuggestionen geprägte süchtige Denken und Fühlen hineingezogen, und die im »Suchtgedächtnis« (Schwehm, 2004, S. 141, Waldheim-Auer, 2013, S. 196) gespeicherten dazugehörigen Erfahrungen werden aktualisiert. Wenn ein Betroffener süchtig denkt und fühlt, sucht sich sein körperlicher Spannungszustand oder seine sehnsuchtsvolle Emotion halb bewusst, halb unbewusst die dazu passenden »Gründe« zum Suchtmittelkonsum. Fallbeispiel 93 (1.  Fortsetzung): Ein 58-jähriger Gruppenteilnehmer, Herr H., erzählte in der Gruppe: »Das war ganz leicht bei mir. An dem einen Tag dachte ich: Ich bin Alkoholiker, deshalb trinke ich nicht. An dem anderen Tag dachte ich: Ich bin Alkoholiker. 90 % der Alkoholiker trinken. Für Alkoholiker ist Trinken also normal. Warum soll ich mich dann nicht normal verhalten! Dann bin ich losgegangen und habe getrunken.« In einem anderen Zusammenhang meinte Herr H. einmal: »Wenn Alkoholkrankheit eine Frage der Intelligenz wäre, dann säßen die meisten von uns nicht hier!« Der Therapeut sah sich in der Gruppe um und merkte: Herr H. hatte recht.

Die Entwicklung des Stadiums der Abhängigkeit dauert bei Alkoholkrankheit 2–10 Jahre. Durch den nicht kontrollierbaren Wechsel zwischen den beiden konträren Erklärungsmustern und Logiken, dem süchtigen Denken und Fühlen und dem gesunden erwachsenen Denken und Fühlen, erlebt der Patient sich als »verrückt«, er zweifelt an sich selbst. Er sitzt in der Falle, er kämpft mit dem Alkohol und verliert bei dem Versuch, den Konsum zu kontrollieren, jedes Mal. Er kann vor dem Alkohol aber auch nicht fliehen, solange er sich nicht zur Abstinenz entscheidet. Seine Abhängigkeit wird zur Selbsttraumatisierung. Im Laufe der Zeit kann sich daraus das Stadium der chronischen Suchterkrankung entwickeln. Dann gelingt es dem Patienten nicht mehr ausreichend, gesund erwachsen zu mentalisieren. Die Abhängigkeit traumatisiert den Patienten psychisch (Krüger, 2004, S. 166), er denkt mehr oder weniger dauerhaft im Äquivalenzmodus süchtig. Sein chronisch süchtiges Denken und Handeln zerstört die Erklärungsmuster, Ziele, Werte und Normen seines gesunden Erwachse-

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Suchterkrankungen

nendenkens. Es kommt zur Ich-Konfusion (siehe Abb. 24), zur »Charakterveränderung«, wie die Anonymen Alkoholiker es nennen.

10.6  Die sieben Phasen der Suchttherapie Zwei Drittel der suchtkranken Patientinnen und Patienten sind nur ein halbes Jahr oder zehn Sitzungen lang in Beratung oder Behandlung (siehe Kap. 10.3). Deshalb ist es wichtig, auch schon in den ersten zehn Sitzungen störungsspezifisch vorzugehen. Sonst verlassen die Patienten oder Klienten die Beratung oder Therapie, ohne dass ihr zentrales Leiden, ihre Sucht, angemessen thematisiert worden wäre. Empfehlung Jedes Anzeichen von Suchtmittelabusus und jede vorsichtige Andeutung von Patienten, dass sie Suchtmittel zu sich nehmen, sollte die Therapeutinnen oder Therapeuten veranlassen, nach weiteren Indizien für einen abhängigen Suchtmittelkonsum zu suchen, das auch bei einer schon laufenden Behandlung wegen zum Beispiel einer Traumafolgestörung, einer Depression, einem Borderline-Syndrom oder einer Angststörung. Auch wenn in einer schon laufenden Psychotherapie vieles unklar bleibt, ist an eine versteckte Suchterkrankung zu denken und danach aktiv zu fragen. Zentraler Gedanke Wenn ein Patient an einer Abhängigkeitserkrankung leidet, verringern sich seine körperlichen, seelischen und sozialen Probleme allein schon durch die Abstinenz um 30–90 %. Schuldgefühle, Scham, Selbstentwertung, Selbstanklagen und übermäßiges Anpassungsverhalten sind in einem solchen Fall zu einem mehr oder weniger großen Teil als angemessene Reaktionen auf das Suchtproblem (siehe Fallbeispiel 94 in Kap. 10.6.2) und nicht nur als neurotisch bedingt zu verstehen.

So war zum Beispiel die Tatsache, dass die alleinstehende Patientin des Fallbeispiels 92 mit 51 Lebensjahren wieder bei ihren Eltern einzog, nicht als symbiotisches Verhalten zu interpretieren, sondern als gesund erwachsene, kluge Entscheidung. Denn dort hatte sie jemanden, der bei ihrem lebensgefährdenden Suchtmittelkonsum auf sie aufpasste und sie im Notfall in eine Klinik einweisen würde. Das geschah dann auch in dramatischer Weise. Im Folgenden beschreibe ich ein idealtypisches Prozessmodell der störungsspezifischen Suchttherapie mit sieben aufeinander aufbauenden und sich ergän-

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Die sieben Phasen der Suchttherapie

zenden Schritten (siehe Abb. 25). 1. die Motivations- und Informationsphase, 2. die Abstinenzentscheidung und der körperliche Entzug, 3. die Teilnahme an einer Suchtkrankengruppe oder Selbsthilfegruppe parallel zur Einzeltherapie, 4. die psychische Entwöhnung, 5. das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und die Kapitulation. 6. Nach einem Jahr Behandlung und Abstinenz kommt die Phase der Integration der inneren Umstellung in die gegenwärtigen Beziehungen hinzu. 7. Ab dem zweiten Jahr der Abstinenz behandelt die Therapeutin eine eventuell vorhandene Zweiterkrankung intensiv mit, zum Beispiel eine Traumafolgestörung, Angststörung oder Persönlichkeitsstörung. Diese sieben Schritte zu gehen, braucht insgesamt mindestens zwei Jahre. Schwerpunkt der Therapie

100%

Arbeit an der Ich-Spaltung in den Therapiephasen der Motivation und psychischen Entwöhnung Arbeit an Beziehungskonflikten

50%

Therapie einer Zweiterkrankung 1 Jahr

2 Jahre

Therapiedauer Abbildung 25: Der Behandlungsschwerpunkt im Verlauf der Therapie von Suchtkranken

10.6.1  Die Motivationsphase und die Informationsphase In der Motivationsphase stellt die Therapeutin zunächst so wie bei einem Patienten, der nicht suchtkrank ist, für das von dem Patienten spontan genannte Problem zwei Stühle im Therapiezimmer auf zusätzlich zu denen, auf dem sie und der Patient sitzen (siehe Abb. 1), bei einem Ehekonflikt des Patienten zum Beispiel einen für seine eigene innere Selbstrepräsentanz und einen anderen für das innere Bild seiner Ehefrau. Für jedes zusätzliche Problem, das der Patient im weiteren Gespräch erwähnt, legt sie einen Stein oder ein anderes Symbol auf

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Suchterkrankungen

den leeren Stuhl seiner Selbstrepräsentanz. An einem stimmigen Punkt spricht die Therapeutin sein Suchtproblem offen an: »Halten Sie selbst sich eigentlich für alkoholkrank?« Um den Patienten durch diese Frage weniger zu beschämen, stellt die Therapeutin dabei sofort einen zweiten zusätzlichen leeren Stuhl neben den Patienten »für den möglicherweise alkoholkranken Karl« oder »sein eventuelles Alkoholproblem« (siehe Abb. 26 und 27) und begründet dies authentisch: »Ich weiß, Sie können gesund erwachsen denken. Dafür steht der Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen. Dieser andere Stuhl aber, den ich neben Sie gestellt habe, steht für den Karl, der trinkt. Es ist wichtig, dass wir darüber reden. Denn wenn Sie die Frage mit »Ja« beantworten, müssten wir in der Therapie anders vorgehen. Sonst hilft Ihnen die Behandlung nichts.« Zentraler Gedanke Manche Alkoholabhängige relativieren bei ihrer Antwort auf die Frage nach einem Alkoholproblem ihren Suchtmittelgebrauch sofort und schildern ihn als Problem- oder Erleichterungstrinken. Andere fügen dem »Ja« eine Ergänzung hinzu: »Naja …« »Eigentlich ja …« »Ja, aber …« oder »Ja, ich glaube schon.« Eine solche Ergänzung weist daraufhin, dass der Betroffene sich noch nicht wirklich entschieden hat, abhängig zu sein. Im Gegensatz dazu hat die einfache Antwort »Ja« ohne jedes Beiwort eine große Kraft und Tiefe. Patient

Therapeutin

innere Objektrepräsentanz des Patienten

Symptomszene bzw. Konflikt im Alltag des Patienten

Interaktion zwischen Patient und Therapeutin

gesund erwachsener süchtiger Ich-Zustand Ich-Zustand

Patient gesund erwachsene süchtige SelbstSelbstrepräsentanz repräsentanz

Abbildung 26: Das Konkretisieren der unbewussten Ich-Spaltung von Suchtkranken mit der Zwei-Stühle-Technik

Wenn der Patient schon erwägt, alkoholabhängig zu sein, lässt die Therapeutin ihn begründen, warum er sich für suchtkrank hält: »Was spricht denn dafür, dass Sie eventuell alkoholkrank sind?« Zusammen mit ihm symbolisiert sie dann die ver-

Die sieben Phasen der Suchttherapie

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schiedenen gemeinsam erkannten Suchtsymptome auf dem leeren Stuhl des »alkoholkranken Karls« mit bunten Bauklötzen. Sie arbeitet mit ihm heraus, was ihn an der von ihm selbst angestrebten Abstinenz hindert, und weist seine Suchterinnerungen und eventuellen illusionären Rationalisierungen mit einer Bewegung ihrer Hand jeweils dem Stuhl für sein süchtiges Mentalisieren zu: »Das würde tatsächlich für Sucht sprechen, das aber nicht.« Dabei informiert sie den Patienten gleichzeitig darüber, was als Suchterkrankung bzw. Abhängigkeitserkrankung zu verstehen ist, und integriert in das Gespräch ihr suchtspezifisches Wissen: »Sie sind doch ein intelligenter Mann. Aber trotz Ihres Leberschadens mussten Sie sich wegtrinken.« Patient: »Ja, ich habe das immer mit schlechtem Gewissen getan, aber zum Schluss war mir alles egal.« Therapeutin: »Wenn Sie dann am Ende schon Verabredungen abgesagt haben, um abends trinken zu können, haben Sie vor sich selbst sicher Ausreden dafür gesucht, zum Beispiel dass ihre Bezugspersonen sie geärgert hatten. Dann fiel es Ihnen leichter, zu trinken.« »Wenn Sie täglich mehr als eine Flasche Wein getrunken haben, dann sind Sie wahrscheinlich immer in verschiedene Geschäfte gegangen, damit es den Frauen an der Kasse nicht auffällt, dass Sie so viel Alkohol kaufen?« »Wenn Sie Alkohol zu sich nehmen, um nachts besser schlafen zu können, dann sind Sie zwar schneller eingeschlafen. Aber Sie haben sicher auch gemerkt, dass der Schlaf unter Alkoholeinfluss viel unruhiger und viel weniger erholsam ist als ohne. Das haben mir alkoholkranke Menschen erzählt.« »Wenn Sie jeden Abend zwei Tabletten Zolpidem genommen haben, sind Sie dann zu verschiedenen Ärzten gegangen, um die zu bekommen?« Patient: »Ja, zu meinem Hausarzt und auch zu meinem Neurologen.« Therapeutin: »Aber die wussten nicht, dass Sie sich das Schlafmittel schon von dem anderen Arzt besorgt hatten.« Patient: »Ja, das habe ich nicht gesagt.« Therapeutin: »Das nennt man heimlichen Suchtmittelgebrauch!« Bei Bedarf kann die Therapeutin dem Patienten gegenüber auch Veränderungen ansprechen, die sie an ihm wahrnimmt: »Sie können jetzt nicht mehr so gut denken. Ihre Konzentrationsfähigkeit hat abgenommen. Wenn Sie das Suchtmittel jetzt weglassen, ist Ihre Denkfähigkeit aber in einem halben Jahr wahrscheinlich wieder voll da!« Zentraler Gedanke Alkoholabhängige werden meist erst dann abstinent, wenn ihre Würde als Mensch verloren gegangen ist oder wenn Sie Angst haben, real zu sterben. Diese Gründe sind existenziell und treffen den Patienten in seinem Selbst. Alle anderen Gründe lassen sich im Zweifel als persönliches Unglück uminterpretieren und mit einem »Ja, aber« beiseiteschieben. Die Therapeutin gibt deshalb Erinnerungen des Patienten, bei denen dieser durch seine Sucht in Lebensgefahr geraten war oder seine Würde als Mensch verloren hatte, eine große Bedeu-

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Suchterkrankungen

tung und malt sie weiter aus: »Wenn Sie betrunken Auto gefahren sind, hätten Sie leicht einen Unfall verursachen oder sterben können. Ihr Alkoholkonsum bringt Sie also schon real in Lebensgefahr. Das ist gut für Sie! Denn wenn es bei Ihnen schon um Leben und Tod geht, ist das ein guter Grund, um mit dem Trinken aufzuhören.«

Die Therapeutin versucht bei der Klärung der Abhängigkeit nicht, den Patienten inquisitorisch eines Fehlverhaltens zu überführen. Sie geht vielmehr innerlich als Doppelgängerin in das süchtige Mentalisieren des Patienten mit hinein und differenziert dieses zusammen mit ihm entlang dem roten Faden der Zeit weiter aus, ohne sich an dem Widerspruch zum gesunden Erwachsenendenken zu stören: »Sie haben sich als Django gefühlt, als der Größte. Sie wussten alles besser als die anderen und hatten Spaß. Dann aber trat ein Filmriss ein und Sie wissen nicht mehr, wie Sie nach Hause gekommen sind und ob da noch etwas passiert ist. Wie geht es Ihnen jetzt damit?« Durch das gemeinsame spielerische Nachvollziehen des süchtigen Denkens, Fühlens und Handelns lernt der Betroffene, sein süchtiges Denken im Als-ob-Modus zu vollziehen und zwischen seinem gesunden Erwachsenendenken und seinem süchtigen Denken zu unterscheiden: »Wenn ich jetzt süchtig denken würde, dann würde ich …« Wenn ein Patient sich nicht oder »noch nicht« als alkoholkrank versteht, die Therapeutin ihn aber für suchtkrank hält, fordert sie von ihm, dass er konsequent so handelt, als ob er nicht abhängigkeitskrank wäre: »Dann möchte ich, dass Sie Ihren Gebrauch von Suchtmitteln massiv einschränken oder ihn ganz lassen. Das müsste für Sie als Nichtsüchtiger doch einfach sein! Haben Sie das schon einmal versucht?« Ein alkoholabhängiger Patient wird eine solche Intervention als mangelnde Hilfeleistung verstehen und widersprechen: »Naja, so einfach ist das für mich nicht!« Therapeutin: »Wieso ist das nicht so einfach?« Patient: »Ich habe mir das schon öfter vorgenommen, aber nach einiger Zeit dann immer wieder angefangen zu trinken, und das wurde dann doch wieder mehr.« Wenn der Patient zu viel trinkt und sich aber nicht für abhängig hält, soll er sich selbst entscheiden, wie er seinen Suchtmittelkonsum in Zukunft einschränken will, zum Beispiel dass er nicht mehr allein, sondern nur noch in Gesellschaft trinkt und auch dann nicht mehr als ein Bier. Wenn dem Patienten solche Vorsätze absurd erscheinen oder er bei dem Versuch scheitert, arbeitet die Therapeutin mit ihm jetzt neu anhand seiner eigenen neuen konkreten Erfahrungen seine Suchtsymptome heraus (siehe Abb. 23) und bereitet mit ihm so seine Abstinenzentscheidung vor. Andererseits akzeptiert die Therapeutin aber auch, wenn es dem Patienten gelingt, länger als ein halbes Jahr kontrolliert zu trinken: »Ich wünsche keinem Menschen, dass er alkoholkrank ist!«

Die sieben Phasen der Suchttherapie

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Der Weg zur Entscheidung, alkoholkrank zu sein, ist ein Prozess der Selbsterkenntnis und der Selbstakzeptanz. Die Entscheidung, suchtkrank zu sein, verändert das Selbstbild des Betroffenen und sein Identitätsgefühl. Denn er akzeptiert dabei die Koexistenz von zwei widersprüchlichen Seelen in seiner Brust: »Ich bin Karl. – Ich bin Alkoholiker.« Durch die Entscheidung, »alkoholkrank« bzw. »süchtig« zu sein, fühlen Abhängigkeitskranke sich oft befreit. Der Kampf mit dem Alkohol fällt weg. Auch kann der Betroffene zu recht viele seiner Probleme und Schwächen ursächlich seinem Suchtproblem zuschreiben. Der Patient des Fallbeispiels 93 meinte einmal: »Neurotiker müssen vieles lernen, um ihre Schwächen zu überwinden. Suchtkranke müssen nur ihr Suchtmittel weglassen, dann geht es ihnen besser.« Alkoholabhängige Patienten brauchen erfahrungsgemäß ein halbes Jahr Therapie bis zur bewussten Entscheidung, »alkoholkrank« zu sein. Denn wenn ein Patient die Frage »Sind Sie alkoholkrank?« bejaht, benötigt er gewöhnlich ein halbes Jahr, um den Begriff »alkoholkrank« für sich persönlich mit eigenen Erfahrungen zu füllen und zu verstehen, was diese Aussage wirklich bedeutet. Wenn ein abhängig trinkender Patient aber antwortet: »Ich sehe das nicht, ich trinke nur manchmal zu viel«, dann braucht er ein halbes Jahr Therapie, um zu lernen, dass er doch alkoholkrank ist, er weiß aber nach diesem halben Jahr auch, was er damit sagt. Im Stadium der chronischen Abhängigkeitserkrankung denkt der Patient fast ständig süchtig (siehe Abb. 24). Die Therapeutin stellt deshalb als zweiten Stuhl neben ihn den Stuhl für sein »gesundes Erwachsenendenken«: »Gut, Sie sind alkoholkrank und trinken. Für Sie als jemand, der abhängig trinkt, nenne ich den Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen, den Stuhl für den ›suchtkranken Karl‹. Ich stelle hier neben Sie aber noch einen zweiten Stuhl hin für die andere Seite in Ihnen, die gesund erwachsen denkt. Ich lege auf diesen Stuhl zwei Steine, der eine symbolisiert Ihre Angst, der andere Ihre Schuldgefühle wegen Ihres Trinkens. Sie haben ja gesagt, dass Ihre Leber das so nicht mehr lange mitmachen wird. Vielleicht könnten wir zusammen zusätzlich auch noch nach anderen Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen suchen, die zu Ihrem gesunden Erwachsenendenken gehören!« Zentraler Gedanke Bei einer chronischen Abhängigkeitserkrankung erlebt der Patient durch das außen sichtbare Symbolisieren seines gesunden Erwachsenendenkens mit einem zweiten Stuhl neben dem ersten, auf dem er sitzt, dass er von der Therapeutin potenziell auch als gesund erwachsen denkender Mann wahrgenommen und ernst genommen wird. Das reduziert die Spannung in der therapeutischen Beziehung. Gleichzeitig sitzt er aber auf dem Stuhl, der sein süchtiges Denken repräsentiert, und spürt die Zerrissenheit seiner Seele.

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Suchterkrankungen

10.6.2  Die Abstinenzentscheidung und der körperliche Entzug Zentraler Gedanke Das hier dargestellte Prozessmodell einer psychodramatischen Suchttherapie geht davon aus, dass es für Abhängigkeitskranke nicht möglich ist, zu lernen, ihren Suchtmittelkonsum zu kontrollieren. Viele Betroffene sagen: »Wenn jemand alkoholabhängig ist und trotzdem lernt, kontrolliert zu trinken, ist er nicht suchtkrank gewesen!« Abstinenz ist für Abhängigkeitskranke neben dem körperlichen Überleben das wichtigste Behandlungsziel.

Alle zehn Jahre wird in wissenschaftlichen Studien das Therapieziel der völligen Abstinenz bei Alkoholabhängigen wieder einmal infrage gestellt. »Katamneseuntersuchungen haben wiederholt bestätigt, dass 2–10 % nach erfolgreicher Therapie […] einen mehr oder weniger unauffälligen Alkoholkonsum entwickelt hatten« (Hiller, 2014, S. 9). Wenn man die Berichte über Therapien, in denen Abhängigkeitskranke lernen sollen, kontrolliert zu trinken, genau liest, zeigt sich aber, dass der Untersuchungszeitraum oft nur sehr kurz war, zum Beispiel vier Wochen. Die Patienten hatten ihre Trinkmenge also eigentlich nur über einen relativ kurzen Zeitraum vermindert. Für Suchtkranke ist es aber nichts Besonderes, eine kurze Zeit weniger zu trinken. Wenn sie sich selbst und anderen beweisen wollen, dass sie nicht alkoholabhängig sind, schaffen sie es oft auch ohne Therapie, vier bis sechs Monate lang weniger zu trinken. Nur stürzen sie gewöhnlich anschließend wieder in ihren abhängigen Suchtmittelmissbrauch ab. In dem hier beschriebenen Prozessmodell soll der Patient möglichst innerhalb ersten drei Monate der Therapie beginnen, »wenigstens eine Zeit lang zur Selbsterfahrung« abstinent zu leben. Denn wenn eine Abhängigkeit vorliegt, verringern sich die Krankheitssymptome bei Abstinenz innerhalb von 3–14 Tagen um wenigstens 30 %, längerfristig oft sogar um 80–90 %. Die »Migräne«, die »Magenschmerzen« oder die »Depression« werden ohne die Kopfschmerztabletten oder den Alkoholkonsum weniger, und auch die »Schlafstörungen« verringern sich längerfristig ohne das Schlafmittel. Die Therapeutin sagt dem Patienten diese Besserung voraus und versucht, ihn zur völligen Abstinenz zu motivieren: »Sie kämpfen heldenhaft gegen Ihr Suchtmittel. Aber bei der Wirkung, die Sie mit einem Liter Wein und zusätzlich zwei Schlaftabletten am Abend gewöhnt waren, erreichen Sie mit einem Glas Wein doch gar nicht die seelische Bewusstseinsveränderung, nach der Sie sich sehnen! Das bringt Ihnen doch gar nichts. Das Glas Wein hindert Sie aber andererseits, Stolz zu entwickeln, dass Sie ohne alles auskommen.« Die Patientinnen und Patienten sollen unbedingt selbst bestimmen, wann sie ihren Suchtmittelkonsum beenden wollen. Denn sie

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sollen ja lernen, selbst für ihren Konsum die Verantwortung zu übernehmen, und müssen später selbst das erste Glas stehen lassen. Wenn sie am Anfang der Behandlung noch einige Wochen mit der Entscheidung zur Abstinenz zögern, ist die Entscheidung anschließend oft sogar überlegter getroffen worden und emotional tiefer begründet. Nikotinabhängigkeit führt nicht wie Alkoholabhängigkeit zum Würdeverlust. Deshalb sollte die Entscheidung zur Alkoholabstinenz nicht mit der zur Nikotinabstinenz verbunden werden. Sonst ist der Betroffene bei einem Rückfall in den Zigarettenkonsum gefährdet, auch gleich seine Alkoholabstinenz aufzugeben. Die Nikotinabstinenz folgt der Alkoholabstinenz nach fünf bis acht Jahren oft spontan. Alle chemischen Hilfsmittel wie Antabus, Schlafmittel, Antidepressiva, pflanzliche Medikamente oder andere halten den Patienten in seiner seelischen Abhängigkeit fest und blockieren so seine Selbstheilungskräfte. Wenn die Medikamente tatsächlich wirksam wären, wäre die Abstinenz für den Patienten nicht seine eigene Leistung, »sondern bloß ein Ergebnis dieser blöden Chemie«. Er würde nicht mehr die reale Gefahr des Todes, des Würdeverlusts oder die Angst vor eigenen kriminellen Handlungen spüren und sich deshalb mit der Rückfallgefahr nicht oder »nur« kognitiv auseinandersetzen. Gerade die reale Bedrohung der eigenen Existenz ist aber die Voraussetzung für die seelische Kapitulation (siehe Kap. 10.7) und das Ende der seelischen Abhängigkeit vom Suchtmittel. Ohne eine reale Bedrohung gibt es keine emotional begründete Entscheidung zur Abstinenz. Wenn die chemischen Hilfsmittel dem Betroffenen andererseits nicht helfen würden, abstinent zu leben, brauchte er sie auch nicht zu nehmen. Sie würden dann nur dem Arzt helfen, seine Ohnmachtsgefühle zu bekämpfen, aber nicht dem Patienten. Wenn ein Abhängigkeitskranker hingegen den Sisyphuskampf mit dem Suchtmittel aufgibt und ohne chemische Hilfsmittel abstinent lebt, entwickelt er einen berechtigten Stolz auf die eigene Leistung der Abstinenz, die Selbsttraumatisierung durch den abhängigen Suchtmittelkonsum fällt weg und die Selbstheilungskräfte der Seele kommen wieder ins Arbeiten. Fallbeispiel 94: Ein 40-jähriger Kaufmann, Herr K., nahm wegen Panikattacken drei Jahre an einer psychoanalytischen Psychotherapiegruppe teil. Weil seine Angstsymptome am Ende dieser Therapie nicht verschwunden waren, suchte er den Therapeuten auch danach noch alle vier Wochen zu einem Gespräch auf. Eines Tages teilte er diesem mit, dass er wohl zu viel Alkohol trinke. Der Therapeut glaubte zunächst, der Patient würde sich selbst masochistisch entwerten. Als paradoxe Intervention bot er ihm an, dass er in der Suchtkrankengruppe in seiner Praxis überprüfen könne, ob er alkoholkrank sei. Der Therapeut staunte sehr, als der Patient in der Gruppe von seinen immer wieder exzessiven Trinkeskapaden berichtete. Nach acht Monaten Teilnahme

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an der Gruppe bekannte Herr K. sich als »Alkoholiker«. Nachdem er dann auch noch seine Beruhigungsmittel weggeworfen hatte, verschwanden nach insgesamt einem Jahr Gruppenteilnahme seine Panikattacken ohne jede zusätzliche Therapie seiner Angststörung für immer. Die Panikattacken waren offenbar Ausdruck eines latenten Bedrohungsgefühls durch seinen süchtigen Alkohol- und Tablettenmissbrauch gewesen. Bis zur Teilnahme an der Suchtkrankengruppe hatte der Patient unbewusst lieber Angstzustände gehabt als Angst (Fortsetzung in Kap. 10.11). Zentraler Gedanke Ein Abhängigkeitskranker, der versucht, abstinent zu leben, fühlt sich am Anfang der Abstinenz oft so, als ob er über eine Brücke geht, die noch nicht fertig gebaut ist, und bei der er mit jedem Schritt, den er macht, den nächsten Stein, auf den er tritt, erst an den Brückenbogen anfügen würde. Der Betroffene findet, wenn er konsequent abstinent lebt, im Umgang mit seinen inneren Spannungen im Alltag aber notwendigerweise neue, nichtsüchtige Lösungen. Er hat ja keine andere Wahl, wenn er nicht trinken will.

Das ist auch das Geheimnis der 24-Stunden-Regel der Anonymen Alkoholiker: Es geht darum, nur diesen einen Tag abstinent zu leben. »Wir leben nur im Heute und für das Heute. Der heutige Tag ist der einzige Tag, auf den wir uns konzentrieren müssen. So nehmen wir uns auch nur vor, heute nüchtern zu bleiben – die gegenwärtigen 24 Stunden lang nicht zu trinken.« Erfahrene trockene Alkoholiker ergänzen diese Regel: »Manchmal, wenn der Suchtdruck da ist, verkürze ich die 24 Stunden auf nur eine Stunde und sage: Jetzt nicht!« In dieser einen Stunde lenkt der Betroffene sich vielleicht irgendwie ab und macht etwas anderes, die Einengung seines Denkens löst sich auf, weil ihm andere Dinge einfallen. Bei einem ambulanten körperlichen Entzug sollte die Therapeutin dem Alkoholabhängigen anbieten, dass er in den ersten drei Tagen der Abstinenz jeden Tag 15–20 Minuten zu ihr kommt, bei Tablettenabhängigkeit fünfmal in zehn Tagen. In diesen Gesprächen überprüft sie, ob Entzugssymptome auftreten und eventuell doch noch eine stationäre Einweisung erforderlich ist. Auch gibt sie Hilfestellungen und Informationen: »Bei Alkoholentzug ist die Unruhe und das Zittern am zweiten Tag am schlimmsten, ab dem dritten Tag wird es besser.« Bei Tablettenentzug kann diese Besserung einige Tage später einsetzen. Sie informiert den Patienten über die 24-Stunden-Regel der Anonymen Alkoholiker: »Denken Sie immer nur an diesen einen Tag. Es ist gleichgültig, was sie tun. Sie dürfen nur keinen Alkohol zu sich nehmen, sonst verlängert sich die Zeit Ihres Entzugs.« Als Ärztin kann die Therapeutin dem alkoholkranken Patienten, wenn in der Vorgeschichte keine epileptischen Anfälle aufgetreten waren und wenn kein Delir

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droht, für den Entzug 25 Kapseln Distraneurin verschreiben. Voraussetzung ist, dass der Patient zu Hause eine Bezugsperson hat, die ihm die Kapseln nach ärztlicher Anweisung zuteilt. Die Tabletten sollen über maximal vier Tage gegeben werden, am ersten Tag beginnend um 18 Uhr mit zwei Kapseln und um 22 Uhr drei Kapseln, am nächsten Tag dann in der Dosierung von 2–2-2–3-4 Kapseln, am dritten und vierten Tag ausschleichend. Die Bezugsperson des Patienten muss der Ärztin aber persönlich in die Hand versprechen, dem Patienten auf keinen Fall über die Verordnung hinaus Tabletten zuzuteilen. Bei einem beginnenden Alkoholdelir mit starker vegetativer Unruhe, Verwirrtheit oder sogar Halluzinationen oder bei einem Krampfanfall ist eine sofortige stationäre Behandlung erforderlich. 10.6.3  Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe Etwa 1–2 % der Alkoholabhängigen gehen in eine Selbsthilfegruppe, meistens ohne begleitende Psychotherapie. Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe parallel zur Einzelpsychotherapie ist umso wichtiger, je weniger Erfahrung die Therapeutin oder der Therapeut in Suchttherapie hat: »Nehmen Sie dort wenigstens an vier Gruppentreffen teil. Wenn die Gruppe Ihnen nicht zusagt, wechseln Sie in eine andere Gruppe und probieren Sie es dort!« Die Therapeutin bespricht in den folgenden Sitzungen mit dem Patienten gelegentlich, was er in der Gruppe erlebt hat. Denn suchtkranke Patienten neigen dazu, ungeduldig zu sein oder nach dem Schwarz-Weiß-Muster das Geschehen in der Gruppe vorschnell zu entwerten. Mit seiner Teilnahme an der Selbsthilfegruppe bezeugt der Patient einmal in jeder Woche vor sich selbst und anderen, dass er sich als »alkoholkrank« versteht. Das stabilisiert ihn in seiner Identität als »trockener Alkoholkranker«. Die wöchentliche Gruppenteilnahme ist ein Übungsweg, ähnlich wie er in Religionsgemeinschaften von Gläubigen praktiziert wird, die versuchen, den Bezug zu ihrem Glauben zu stärken, indem sie einmal in der Woche an einem Gottesdienst teilnehmen. Die Betroffenen können in ihrer Selbsthilfegruppe ihre eigenen Vorurteile gegenüber Alkoholabhängigen abbauen, relativieren zusammen mit ähnlich Leidenden ihr Gefühl des Scheiterns und erleben bei den anderen Gruppenmitgliedern, dass man auch abstinent gut leben kann. Das vermindert ihre Schamund Schuldgefühle und ermutigt sie, auch in ihrem sozialen Umfeld mehr zu sich selbst zu stehen. In den meisten Selbsthilfegruppen gibt es einige abstinent lebende Alkoholabhängige, die durch die Auseinandersetzung mit ihrer »Schwäche« und durch ihre Kapitulation vor dem Alkohol in ihrer Persönlichkeit posttraumatisch gereift sind. Sie sind ein Stück weit weise, kreativ, humorvoll und empathiefähig geworden. Solange sie sich nicht zum narzisstischen Missbrauch

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anderer Gruppenmitglieder verführen lassen oder selbst wieder rückfällig werden, geben sie ihrer Selbsthilfegruppe Halt und ermöglichen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sich in der Gruppe zu entwickeln. Die beiden Gründer der Anonymen Alkoholiker (AA) waren sicher solche Personen. Das wird deutlich an der genialen Konzeptualisierung der Selbsthilfegruppen der AA. Sie haben mit den zwölf Schritten (siehe Kap. 10.7) und den drei Lebensregeln (siehe Kap. 10.6) ein in sich stimmiges Regelwerk entwickelt, an dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Selbsthilfegruppen orientieren können, ähnlich wie die Christen an den Zehn Geboten des alten Testaments. Die Anonymen Alkoholiker vermuten, dass sich jede Woche in der ganzen Welt etwa eine Million Menschen in Selbsthilfegruppen der AA treffen. Im Jahr 1988 hatte die Organisation der Anonymen Alkoholiker in 118 Ländern der Welt insgesamt ungefähr 1,5 Millionen Mitglieder (Edwards, 1986, S. 215). Es gibt aber auch viele andere Selbsthilfegruppen oder Freundeskreise mit und ohne einen Träger, zum Beispiel die Blaukreuzler oder die der Caritas. Durch die Gruppenteilnahme verflacht bei den Abhängigkeitskranken das Wort »alkoholkrank« nicht zur Worthülse, es gewinnt stattdessen immer wieder emotionale Tiefe. Der Konflikt zwischen der Ebene der Bequemlichkeit und des Wohls und andererseits der existentiellen Ebene des Würdeverlusts und der Bedrohung durch den Tod wird offen gehalten. Denn die Neulinge in der Gruppe zeigen den »alten« Gruppenmitgliedern durch ihr Verhalten und ihre Geschichten ähnlich wie bei der psychodramatischen Spiegeltechnik, wie sie selbst waren, das Lügen, die Ausreden, die Scham, die Würdelosigkeit und die Ängste aus der Zeit ihres Trinkens. Das schützt die »Alten« vor eventuellen Rückfällen, weil sie sich sagen: »Da will ich nicht wieder hin!« Andererseits sind die erfahrenen Gruppenmitglieder Vorbilder für die »Neulinge«. Denn sie kennen den Widerspruch zwischen süchtigem Denken und gesund erwachsenem Denken, decken diesen bei den Neulingen mit Humor auf und bekunden ihnen Mitgefühl (siehe Fallbeispiel 91) durch ihre eigenen Geschichten und Sharings. Abstinent lebende, alkoholkranke Gruppenteilnehmer hören anders zu als Nichtbetroffene, auch anders als eine Therapeutin oder ein Therapeut. Denn sie können aus ihren eigenen Erfahrung heraus intuitiv sehr komplex erfassen, was ihre Mitbetroffenen über ihr Suchtproblem mitteilen. 10.6.4  Die Phase der psychischen Entwöhnung In der Motivationsphase entwickeln die Patientinnen und Patienten Problembewusstsein für ihre Abhängigkeit und die Verleugnung ihres jeweiligen Suchtproblems vor sich selbst. In der Therapiephase der psychischen Entwöhnung, die

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mit der Abstinenz beginnt und mindestens ein Jahr dauert, lernen sie, ihr vom Äquivalenzmodus (siehe Kap. 2.2) bestimmtes süchtiges Mentalisieren unter die Kontrolle des Denkens im Als-ob-Modus zu bringen und so in ihrer Suchtentwicklung Realität und Fantasie zu unterscheiden. Dazu benutzt die Therapeutin 1. die Zwei-Stühle-Technik, 2. den Selbststeuerungskreis, 3. das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und des Weges der Kapitulation (siehe Kap. 10.7) und 4. das Aufschreiben der persönlichen Suchtgeschichte. Die Zwei-Stühle-Technik hilft speziell, die Verleugnung des Suchtproblems aufzulösen. Denn die äußere Repräsentation der beiden konträren Ich-Zustände mit zwei Stühlen nebeneinander lässt den Patienten den jeweils gerade nicht gelebten, gegensätzlichen Ich-Zustand neben sich als Stuhl außen real wahrnehmen. Um zusätzlich die Ich-Spaltung aufzuheben, lässt die Therapeutin den Patienten wenigstens einmal auch vom Stuhl seines gesunden Erwachsenendenkens auf den seines süchtigen Mentalisierens wechseln und dort im Als-obModus des Spiels probatorisch »süchtig« denken. Dabei geht sie als Doppelgängerin in das süchtige Mentalisieren des Patienten mit hinein und erweitert es, indem sie zusammen mit ihm im Als-ob-Modus des Spiels die Lücken in der Logik seines süchtigen Denkens schließt. Wenn er danach wieder auf den Stuhl seines gesunden Erwachsenendenkens zurückkehrt, nimmt er den Unterschied zwischen seinem süchtigen Denken und seinem gesunden Erwachsenendenken oft überhaupt erst richtig wahr. Zentraler Gedanke Das Ziel der Therapie von Abhängigkeitskranken ist nicht, das süchtige Denken und Fühlen aus den Gedächtnisspeichern zu tilgen, sondern dass der Patient erlebnisnah erkennt, wie er denkt und fühlt, wenn er süchtig mentalisiert. Das hilft ihm, in immer kürzerer Zeit zu merken, wenn er wieder auf dem falschen Weg des süchtigen Denkens ist, und dieses dann zu stoppen.

Bei wiederholten Rückfällen in den Suchtmittelkonsum kann die Therapeutin die Technik des Selbststeuerungskreises anwenden (siehe Fallbeispiel 28 im Kap. 5.7) (Krüger, 2010a), um die Wege herausarbeiten, wie der abhängigkeitskranke Patient in den Rückfall hineingerät und wie er gewöhnlich aus dem Rückfall aber auch wieder herauskommt. Fallbeispiel 95: Eine 45-jährige Lehrerin, Frau I., glaubte fest daran, dass sie immer wieder rückfällig geworden war wegen ihrer »Depressionen«. Der Therapeut ließ sie auf einem DIN-A3-Papier einen großen Kreis malen und im Uhrzeigersinn an diesem entlang aufschreiben, wie sie jeweils von dem guten seelischen Zustand in

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den schlechten gekommen war und von dem schlechten wieder in den guten. Dabei notierte sie Schritt für Schritt entlang dem roten Faden der Zeit, was sie dabei gedacht, gefühlt und gemacht hatte, was dann geschah, wie sie darauf reagiert hatte usw. In ihrem Selbststeuerungskreis zeigte sich am Ende: Die Krisen und Rückfälle von Frau I. hatten immer damit begonnen, dass sie zwei bis drei Tage lang ihr Haus vom Keller bis zum Dachboden aufräumte. Dadurch war sie jeweils völlig erschöpft gewesen. Sie hatte dann abends zu einem Bier gegriffen, um sich etwas Gutes zu tun. Am nächsten Tag trank sie aber morgens weiter. Die depressive Verstimmung trat immer erst nach dem Alkoholkonsum auf. Der Therapeut: »Vielleicht räumen Sie ja Ihr Haus immer so gründlich auf, damit keiner, der Sie angetrunken vorfindet, behaupten kann, Sie würden Ihre Wohnung verwahrlosen lassen.« Der Therapeut vereinbarte mit der Patientin, dass sie das Aufräumen des Hauses in Zukunft unterlässt. Frau I. folgte dieser Empfehlung und wurde tatsächlich bis zum Ende der Therapie ein Jahr später nicht wieder rückfällig. Durch die Technik des Selbststeuerungskreises war deutlich geworden, dass die Depressionen bei Frau I. eine Folge des Trinkens waren und nicht die Ursache. Das Aufräumen war bei ihr Teil des süchtigen Mentalisierens gewesen.

Ähnlich wie mit dem Selbststeuerungskreis kann die Therapeutin den Patienten sein Denken, Fühlen und Handeln in Alltagskonflikten auch mithilfe der Tischbühne (Krüger, 2005, S. 266 ff.) herausarbeiten lassen (siehe Kap. 5.10.5). Dabei soll dieser seine Ich-Spaltung aber durch das Aufstellen von zwei Ich-Steinen symbolisieren, durch einen Stein für sein gesund erwachsenes Mentalisieren und einen anderen für sein süchtiges Mentalisieren. Das Suchtmittel selbst wird auf dem Tisch ebenfalls durch einen Gegenstand repräsentiert. Auch das Aufschreiben der persönlichen Suchtgeschichte kann dem Patienten helfen, seine im Äquivalenzmodus erlebten Suchterfahrungen unter die Kontrolle des Als-ob-Modus zu bringen und sie angemessen zu verarbeiten: Zunächst fordert die Therapeutin den Patienten auf, für jedes seiner mit den Jellinek’schen Fragen herausgearbeiteten Suchtsymptome ein passendes eigenes Erlebnis zu erinnern und zu notieren. Später soll der Patient diese Erlebnisepisoden dann zeitlich ordnen und sie zu einer ganzheitlichen persönlichen Suchtgeschichte erweitern. In dieser soll der Patient handlungsnah die Fragen beantworten: 1. Wann habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich anders Alkohol konsumierte als andere? 2. Wann hat ein anderer mir zum ersten Mal gesagt: »Du trinkst zu viel«? 3. Was war mein subjektiv schönstes Erlebnis unter der Wirkung des Suchtmittels? 4. Was war für mich die subjektiv schlimmste Erfahrung durch die Wirkung des Suchtmittels? 5. War mein Leben durch die Wirkung des Suchtmittels schon einmal gefährdet? 6. War ich schon einmal eine hilflose Person? 7. Was habe ich an meinem persönlichen Tiefpunkt erlebt

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(siehe Kap. 10.7)? Was geschah damals? 8. Was hat mich im Kampf gegen den Alkohol gegebenenfalls kapitulieren lassen, sodass ich abstinent wurde (siehe Kap. 10.7)? 9. Wie haben sich mein Denken, Fühlen und Handeln durch die Abstinenz positiv verändert? Der Patient soll die positiven Veränderungen an drei kleinen Erlebnisepisoden verdeutlichen. Die Therapeutin bespricht in den folgenden Therapiesitzungen mit dem Patienten jeweils 10–20 Minuten lang die Fortschritte beim Schreiben seiner Geschichte. Dieser ergänzt darin anschließend die noch fehlenden Teile. Am Ende einigen sich beide, dass die Geschichte zu Ende erzählt ist. Der Patient soll diese danach nur noch in Absprache mit der Therapeutin verändern (siehe Kap. 5.14). Die persönliche Suchtgeschichte integriert in sich viele negative Erfahrungen und scheinbar sinnlose Erlebnisse, bringt diese aber in einen Zusammenhang mit der übergeordneten Erkenntnis des Betroffenen, alkoholkrank zu sein, und gibt dem Absurden dadurch einen Sinn. In Krisenzeiten kann der Betroffene die Geschichte nachlesen, dadurch gefühlsmäßig wieder Zugang zu den negativen Gefühlen am persönlichen Tiefpunkt gewinnen und so das Gefühl wieder in sich wachrufen: »Das will ich nicht noch einmal!« Abhängigkeitskranke entwickeln in der Phase der psychischen Entwöhnung allmählich die Fähigkeit, zwischen ihrem gesund erwachsenem Mentalisieren und ihrem süchtigen Mentalisieren zu unterscheiden und auch schon im Alsob-Modus ihres inneren Mentalisieren zwischen diesen beiden Denkmodi spielerisch hin und her zu wechseln (siehe Fallbeispiel 93, 1. Fortsetzung). Wenn der Patient für sich voll akzeptiert, dass er »zwei Seelen in der Brust« hat (Krüger, 2004) und jeden der beiden Denkmodi innerlich spielerisch aktivieren und auch eigenbestimmt wieder stoppen kann, ist die Entwöhnungsphase seiner Behandlung abgeschlossen. Auch in einer gut verlaufenden Therapie dauert das mindestens ein Jahr. In dieser Zeit kann der Therapeut in einer Einzeltherapie bei Beziehungskonflikten der Patientin in ihrem Alltag immer wieder einmal die Selbstrepräsentanz der Patientin in ihrer Symptomszene (siehe Abb. 1) mit zwei Stühlen repräsentieren, einem Stuhl für ihr gesundes Erwachsenendenken und einem für ihr »süchtiges Denken« in ihrem Beziehungskonflikt: »Auch wenn Sie Ihrer autoritären Chefin gegenüber zu recht wütend sind, Sie sehen sich doch als alkoholkrank an? – Gut, dann rate ich Ihnen, sich beim Austragen von Konflikten nicht zu überfordern. Versuchen Sie, für sich nur eine einzige kleine Sache zu erreichen. Eine Gesamtlösung wird Ihnen bei der Power Ihrer Chefin nicht gelingen. Stecken Sie sich einen kleinen Stein in ihre Hosentasche als Symbol für Ihre berechtigte Wut und bleiben Sie Ihrer Wut treu, aber zeigen Sie Ihrer Chefin Ihre Wut nicht. Zurzeit sitzen Sie noch am kürzeren Hebel.« Ein solches Offenhalten des Suchtkonflikts schützt abhängigkeitskranke Patienten, die oft

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in Schwarz-Weiß-Mustern denken und leicht narzisstisch kränkbar sind, davor, sich beim Austragen von Konflikten zu überfordern. Benzinger (2013, S. 19) hat die Erfahrung gemacht, dass manche Patienten im Verlauf der Therapie schon spontan, wie in der Abbildung 26 zu sehen, ihre beiden gegensätzlichen Denkmodi aus einer »dritten Position« betrachten, der des Kreators und Regisseurs im Konflikt zwischen ihrem gesund erwachsenen Mentalisieren und ihrem süchtigem Mentalisieren (siehe Abb. 6 und 24). Fallbeispiel 96 (Benzinger, 2013, S. 18): »Eine Patientin Ende 40 […] kam erneut zur Suchttherapie, nachdem sie seit Monaten mit bis zu zwei Flaschen Wein täglich massiv rückfällig geworden war.« Der Therapeut arbeitete mir ihr im Einzel- und im Gruppensetting mit dem Bild der zwei gegensätzlichen Ich-Zustände, repräsentiert durch zwei Stühle oder in der Gruppe auch durch zwei Hilfs-Ichs. Am Ende der Therapie hatte sie als Schutz vor Rückfällen »für sich eine neue Lösung gefunden: ›Immer wenn dieser Druck entsteht, erinnere ich mich an das Bild der zwei Identitäten. Ich setze mich dann auf das Sofa im Wohnzimmer und stelle für beide Seiten ein Symbol auf den Tisch. So habe ich beide Seiten im Blick und kann eingreifen, wenn die süchtige Seite die Oberhand gewinnen könnte. Manchmal rede ich so sogar mit den beiden Seiten.‹ Frau A. war offensichtlich stolz darauf, dass sie mit diesen Methoden die Selbststeuerung zurückerhalten und Herrin der Lage werden konnte.«

Die Wahrnehmung der Ich-Spaltung zwischen dem äußerlich repräsentierten süchtigen Ich-Zustand und dem gesund erwachsenen Ich-Zustand von außen aus der »dritten Position« ermöglicht es fortgeschrittenen Patienten, bei Bedarf das Chaos ihres Denkens und Fühlens zu ordnen, bewusst zu erkennen, in welchem ihrer beiden konträren Ich-Zustände sie sich gerade befinden, und sich so aus dem eventuell vorhandenen energetischen Sog ihres Suchtkonflikts zu befreien und sich gesund erwachsen zu steuern. Benzinger (2014, mündliche Mitteilung) ist dazu übergegangen, für diese »dritte Position« schon während der psychischen Entwöhnung zu den zwei Stühlen des gesund erwachsenen Mentalisierens und des süchtigen Mentalisierens einen dritten Stuhl hinzuzunehmen und die Patienten bei ihrer Arbeit an ihrer Ich-Spaltung zwischen diesen drei Stühlen hin und her wechseln zu lassen. Dieses Vorgehen fördert bei den Patienten die Fähigkeit zum spielerischen Umgang mit dem Konfliktmodell der IchSpaltung im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels und dadurch auch in ihrem inneren Denken. Es birgt bei strukturell gestörten Patienten aber die Gefahr, ihrer inneren Entwicklung vorzugreifen. Diese Patienten können die Interpretation der Therapeutin selbst von innen her oft nicht mit Leben füllen, weil sie noch nicht gelernt haben, leiblich-seelisch zwischen ihrem gesund

Die Integration der inneren Umstellung in die gegenwärtigen Beziehungen

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erwachsenen Mentalisieren und ihrem süchtigen Mentalisieren zu unterscheiden. Sie passen sich dann an das Konzept und die Spielvorschläge der Therapeutin nur an, ohne dass ihr Spiel ihr inneres Mentalisieren wirklich verändert. Bei Abhängigkeitskranken, die an einer strukturellen Störung leiden (siehe Kap. 10.3), braucht der Patient bei einem üblichen protagonistzentrieren psychodramatischen Spiel oft eine kleinschrittige Hilfestellung durch die Therapeutin (siehe Fallbeispiel 10 in Kap. 4.6). Oder die Therapeutin integriert in diese Arbeit schon früh die Stühlearbeit aus dem Prozessmodell der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen (siehe Kapitel 4.5 und 4.7). Bei dem protagonistzentrierten psychodramatischen Nachspielen von Erlebnissen, die der Patient unter der Wirkung seines Suchtmittels hatte, ist ein Vorgehen mit dem Playback-Verfahren ähnlich wie beim Dissoziieren in der Traumatherapie zu empfehlen (siehe Kap. 5.10.6). 10.6.5 Die Integration der inneren Umstellung in die gegenwärtigen Beziehungen Abhängigkeitskranke Patientinnen und Patienten können, wenn sie abstinent leben, in zwei Jahren der Entwicklung so viel Ich-Stärke und Selbstwertgefühl aufbauen, dass der Vorsatz »Ich will nicht trinken« über weite Strecken des Lebens zu dem Gefühl »Ich brauche nicht zu trinken« wird. Mit Beginn ihrer Abstinenz nehmen die Betroffenen ihre inneren und äußeren Konflikte oft erst richtig wahr und müssen sich ihnen stellen. Ein Patient beschrieb das im Nachherein mit den Worten: »Ich musste zwanzig Jahre meiner Entwicklung nachholen.« Durch die Abstinenz und die psychische Nachentwicklung entfällt die Selbstverletzung durch das süchtige Handeln, und das Selbstwertgefühl und das Gefühl der Selbstwirksamkeit wachsen wieder. Gerade dadurch kommt es dann nicht selten zu neuen Konflikten in den familiären und sozialen Beziehungen. Oft sind die Patienten über die mangelnde Würdigung ihrer Abstinenz seitens ihrer Bezugspersonen enttäuscht. Die Therapeutin empfiehlt aber Geduld: »Ihre Frau muss erst lernen, Ihnen wieder zu vertrauen. Sie haben Ihre Versprechen ja oft genug nicht eingehalten.« Auch interpretiert die Therapeutin das Auftreten der neuen Konflikte positiv um: »Früher waren Sie bei Streitigkeiten am Ende immer der Verlierer, weil Sie betrunken waren und keiner Sie ernst nahm. Das ändert sich jetzt.« Nach zwei Jahren Abstinenz gibt es erfahrungsgemäß noch einmal einen Höhepunkt an Ehetrennungen. Viele Ehepartner freuen sich zwar, wenn die Patientin oder der Patient nicht mehr einfach alles mit sich machen lässt, andere aber stört das sehr. Auch lösen kodependente Bezugspersonen bei beginnender Abstinenz des Betroffenen allmählich die Verleugnung ihres

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eigenen Leidens auf und spüren ihre lang unterdrückte Enttäuschung und Wut erst, wenn es dem Patienten besser geht (siehe Kap. 10.13 und Fallbeispiel 116 in Kap. 11.7). Die Integration der inneren Umstellung in die gegenwärtigen Beziehungen erfolgt verstärkt im zweiten Jahr der Behandlung (siehe Abb. 25). Bei Beziehungsklärungen mithilfe des psychodramatischen Dialogs kann es störungsspezifisch hilfreich sein, neben den Protagonisten einen zweiten Stuhl für sein »süchtiges Ich« zu stellen und so die Arbeit an dem intrapsychischen Suchtkonflikt in die Beziehungsklärung zu integrieren (siehe Fallbeispiel 107). Übung 22 Lassen Sie als Leserin oder Leser einmal in einer Übung einen Ihrer suchtkranken Patienten einen psychodramatischen Dialog mit einer Bezugsperson machen und repräsentieren Sie dabei wie in der Abbildung 26 mit einem zweiten Stuhl sein »süchtiges Denken« neben ihm. Sie werden merken: Die Gegenwart des zweiten Stuhls für das süchtige Ich verändert während des Spiels die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Patienten. Auch erkennt er im Rollentausch klarer die Hintergründe für das Fühlen und Denken seines Konfliktpartners.

10.6.6  Die Mitbehandlung einer psychischen Zweiterkrankung Mindestens 30 % der abhängigkeitskranken Patientinnen und Patienten leiden an Traumafolgestörungen und bis zu 80 % an Persönlichkeitsstörungen (siehe Kap. 10.3). Manche Therapeutinnen und Therapeuten empfehlen eine frühe Mitbehandlung einer Zweiterkrankung. So meint Stadler (2013, S. 82), dass es bei Alkoholabhängigen, die an einer Traumafolgestörung leiden, angezeigt ist, Suchttherapie schon früh mit Traumatherapie zu kombinieren. Hintermeier (2013, S. 112 f.) geht davon aus, dass in Einzeltherapien von abhängigkeitskranken Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zuerst eine haltgebende therapeutische Beziehung zu entwickeln ist, bevor die Suchttherapie begonnen werden kann: »Erst nach einer (manchmal jahrelangen) Stabilisierungsphase […] kann […] daran gearbeitet werden, Alternativen zum Suchtmittelkonsum oder zu anderen abhängigen Verhaltensweisen zu entwickeln.« Tatsächlich ist es sinnvoll, in Krisensituationen einzelne Vorgehensweisen aus der Traumatherapie anzuwenden, zum Beispiel die Technik des sicheren Ortes (siehe Kap. 5.10.5) oder die Stühlearbeit mit den Ich-Zuständen (siehe Kap. 4.7 und 4.8). Im Allgemeinen ist die frühe Mitbehandlung einer psychischen Zweiterkrankung bei einer substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankung aber problematisch: 1. Ein abhängiger Konsum von Suchtmitteln während der Behandlung vermindert

Mitbehandlung einer psychischen Zweiterkrankung

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durch die psychotrope Wirkung des Suchtmittels die Fähigkeit des Patienten zur Konfliktverarbeitung während der Therapie. 2. Die Therapeutin vernachlässigt eventuell, aktiv möglichst viele der Probleme des Patienten mit seinem Suchtmittelmissbrauch in Zusammenhang zu bringen: »Für einen Alkoholkranken, der trinkt, ist es normal, depressiv zu sein. Oder waren Sie auch schon einmal depressiv, wenn sie längere Zeit trocken waren?« 3. Interpretationen, die sich auf Defiziterfahrungen in der Kindheit oder Traumaerfahrungen beziehen, können den Patienten labilisieren (Waldheim-Auer, 1993, S. 205). 4. Sie verführen den Patienten und die Therapeutin, eben doch anzunehmen, dass der Patient trinkt, weil er Probleme hat, statt von der Realität auszugehen, dass er Probleme hat, weil er trinkt. Diese Fehlinterpretation hindert den Patienten dann, Scham und Schuldgefühle wegen seines Suchtmittelkonsums zu entwickeln und ihnen angemessen Bedeutung zu geben, und vermindert so seine Motivation, seinen Suchtmittelkonsum zu beenden. 5. Die psychische Belastbarkeit, die der Patient für eine erfolgreiche Behandlung seiner Zweiterkrankung braucht, entwickelt sich erst durch die psychische Entwöhnung bei Abstinenz. Zentraler Gedanke Wenn Abhängigkeitskranke aus ihrer Not heraus den Weg über den Tiefpunkt zur Kapitulation und Abstinenz gegangen sind, reduzieren sich die Symptome einer Zweiterkrankung schon von allein. Eine Aufarbeitung von Kindheitserfahrungen ist oft nicht mehr erforderlich (siehe Fallbeispiele 94, 95, 99 und 100). Die Betroffenen lernen, sich mit ihren Schwächen anzunehmen, so wie sie sind, und werden spontan mutiger im Austragen von Konflikten. Therapeutinnen und Therapeuten wissen oft wenig über diesen progressiven Heilungsweg der Suchttherapie. Fallbeispiel 97: Ein 55-jähriger Lehrer, Herr L., nahm an einer nach den Grundprinzipien der Anonymen Alkoholiker geführten Suchtkrankengruppe teil. Er berichtete: »Bevor ich hierher kam, ging ich ein Jahr lang in eine Psychotherapiegruppe für Suchtkranke. Wir versuchten da immer, unsere Probleme zu lösen, damit wir nicht mehr trinken müssen. Das klappte aber nicht. Erst als ich hierherkam und in der umgekehrten Reihenfolge vorging und zuerst mit dem Alkohol aufhörte, gelang es mir, meine Probleme anzugehen. Ich habe dadurch mir selbst gegenüber zu einer anderen Einstellung gefunden. Früher habe ich mich immer an meiner Zwanghaftigkeit gestört und versucht, diese durch Alkoholtrinken zu überwinden. Jetzt kann ich mich als Eigenbrötler annehmen. Ich bin, wie ich bin. Ich bin freundlich mit mir. Wichtig ist für mich, dass ich immer wieder einmal an meinen Tiefpunkt denke, wie ich nachts auf dem Hauptbahnhof herumgeirrt bin, innerlich leer und haltlos, und mich vor den Zug werfen wollte. Etwas Schlimmeres kann mir nicht mehr passieren!«

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Sicher nicht zufällig sprechen die Anonymen Alkoholiker in ihren »drei Lebensregeln« Empfehlungen aus, die wirken, als ob sie speziell für Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung entwickelt worden wären. Die erste Lebensregel »heißt: ›das Wichtigste zuerst‹. Damit ist gemeint, dass für uns das Alkoholproblem immer an erster Stelle stehen sollte. […] Die zweite Lebensregel lautet: ›Eile mit Weile‹ […]. Viele von uns handeln oft nach dem falschen Grundsatz: ›Entweder alles oder nichts‹ und nehmen sich daher zu viel vor. Oft werden sie dadurch gar nichts erreichen. […] Die dritte Lebensregel heißt: ›Leben und leben lassen‹ […]. Gerade wir, die wir uns während unserer Trinkerzeit oft vergeblich nach ein wenig Verständnis gesehnt haben, sollten soviel wie möglich davon für andere Menschen und ihre Probleme aufbringen. […] Wir können nie duldsam genug sein. […] Gerade für uns ist ein möglichst reibungsloses und harmonisches Zusammenleben mit unserer Umwelt wichtig. Denn jeder Streit und jede Aufregung können uns wieder in die Gefahr des Trinkens stürzen« (Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache, Auflage 1982).

10.7 Das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und die Kapitulation Abhängigkeitskranke konsumieren Suchtmittel trotz schädlicher Folgen (siehe Kap. 10.2). Sie werden meistens erst dann dauerhaft abstinent, wenn ihnen am Tiefpunkt ihrer Suchtentwicklung ihre Würde als Mensch verloren gegangen ist oder ihnen der reale Tod droht, wenn sie also existenziell bedroht sind. Eine solche existenzielle Erfahrung öffnet ihnen potenziell den Zugang zu Werten des Lebens, die umfassender sind als die des Wohls und der Wellness, und ermöglicht ihnen so die Kapitulation (Krüger, 1988, S. 72). Bei Abhängigkeitskranken gibt es viele äußere Tiefpunkte, das kann die Bedrohung durch den Tod oder Selbsttötungsfantasien sein, das Irrewerden im Delir, ein Arbeitsplatzverlust, ein Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss oder der Verlust der Familie durch Trennung. Wichtige Definition Der persönliche innere Tiefpunkt aber lässt sich immer erst im Rückblick bestimmen. Denn ihm muss definitionsgemäß die Kapitulation folgen, sonst ist er nur irgendein äußerer Tiefpunkt. Der persönliche innere Tiefpunkt symbolisiert eine existenzielle Erfahrung von Würdeverlust und/oder Bedrohung durch den Tod, die seine Kapitulation ausgelöst hat. Diese Erfahrung hat den Betroffenen veranlasst, nicht nur die einzelnen Teile seiner Problematik zu sehen, sondern

Das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und die Kapitulation

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seinen vielen verschiedenen Leidenserfahrungen im Als-ob-Modus die zusammenfassende symbolische Überschrift zu geben: »Ich bin alkoholkrank.« »Ich bin suchtkrank.«

Manchmal kommt ein Betroffener auch schon dadurch an seinen persönlichen Tiefpunkt, dass sein fünfjähriger Sohn am Abendbrottisch zu ihm ganz naiv sagt: »Papa, du stinkst!« Es verletzt die eigene gesunde narzisstische Selbstliebe eines Menschen, wenn er akzeptieren muss, süchtig zu sein. Denn er bekennt damit, dass es ihm nicht gelingt, aus einem Schaden klug zu werden, und dass er sich nicht ausreichend unter Kontrolle hat. An ihrem persönlichen Tiefpunkt gelangen Abhängigkeitskranke zu der inneren Haltung der Bremer Stadtmusikanten: »Etwas Besseres als den Tod finde ich allemal.« Die Anonymen Alkoholiker (1980, S. 3) beschreiben die Kapitulation handlungsnah mit dem Satz: »Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – dass wir unser Leben nicht mehr meistern konnten.« So wie bisher geht es nicht mehr weiter. Jahrelang hat der Betroffene seine Leidenserfahrungen, die »leise innere Stimme« seines Gewissens und seine Schuldgefühle abgespalten, weggeschoben, betäubt und sich vorgemacht: »Vielleicht geht es ja doch!« Der Verlust der eigenen Würde oder die Bedrohung durch den Tod setzt durch die existenzielle Qualität der Erfahrung die Abwehr durch Verleugnung und Rationalisierung außer Kraft. Wichtige Definition Nach dem Verständnis der Anonymen Alkoholiker kapituliert ein Abhängigkeitskranker, wenn er die Niederlage im Kampf mit dem Alkohol annimmt, sich vorbehaltlos als suchtkrank bekennt und deshalb versucht, abstinent zu leben.

Er übernimmt dadurch für sein süchtiges Handeln und seine Folgen die Verantwortung, obwohl Alkoholabhängigkeit in der BRD seit 1968 gesetzlich als Krankheit im Sinne der Krankenkassen anerkannt ist. Ein Leben ohne Alkohol ist dem Betroffenen seiner Erfahrung nach nicht möglich. Er kann sich nicht vorstellen, wie es weitergehen soll. Karlfried Graf Dürckheim (Dürckheim, 1982, S. 88 f.) hat die Qualität des seelischen Erlebens bei einer Kapitulation in einem Gleichnis beschrieben: »Das Leiden zu vermeiden oder zu bekämpfen ist natürlich. Aber wenn es da ist, geht es darum, es zu akzeptieren, um daraus etwas zu schöpfen, was jenseits des Leidens liegt. […] Man muss die Niederlage annehmen, […] und nicht so tun, als sei nichts geschehen. Man muss den Widerstand überwinden, den man in sich hat; eine Art von Bescheidenheit gegenüber den Mächten, die stärker sind als wir […]. So bekämpften sich zwei japanische Ritter mit dem Speer. Während des Kampfes stieß der eine den anderen vom Pferd und

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dessen Speer rollte davon. Der Sieger stieg vom Pferd; aber anstatt sein Opfer zu töten, spreizte er die Beine und befahl ihm – welche Demütigung! – darunter hindurchzukriechen. Der Besiegte tat dies ohne Zögern; da hob der Sieger den Speer seines besiegten Gegners auf, gab ihn ihm zurück, half ihm auf und sagte: ›Der wahre Sieger bist Du, denn ich weiß nicht, ob ich das so vermocht hätte!‹« Die Kapitulation ist ein Prozess. Bei Abhängigkeitskranken dauert es mindestens ein halbes Jahr, bis die emotionale und rationale Erkenntnis, alkoholkrank bzw. suchtkrank zu sein und abstinent leben zu müssen, sich in den Gedächtnisspeichern ausgebreitet hat und diese verändert. Durch die Kapitulation entsteht in dem eigenen Selbstbild ein Riss in der Persönlichkeit. Der Betroffene erkennt die Koexistenz der zwei Seelen in der eigenen Brust an (Krüger, 2004b): »Ich bin Karl. – Ich bin Alkoholiker.« Die Erkenntnis und das Bekenntnis, alkoholkrank zu sein, sind aber nicht schon mit der Kapitulation gleichzusetzen, sie sind »nur« ein wichtiger Zwischenschritt zur Kapitulation. Fallbeispiel 98: Eine 50-jährige Patientin, Frau M., teilte nach neun Wochen der Teilnahme an einer Suchtkrankengruppe den anderen mit: »Ich weiß jetzt, dass ich Alkoholikerin bin. Deshalb trinke ich jetzt richtig!« Frau M. trank acht Wochen lang exzessiv und ließ sich dann in eine Klinik einweisen. Für ihre Körperorgane war dieses Ende mit Schrecken sicher weniger schädigend als ein jahrelanges weiteres Spiegeltrinken. Frau M. erreichte ihren persönlichen Tiefpunkt erst durch das unkontrollierte Trinken.

Abstinent lebende, erfahrene Alkoholabhängige geben bei ihren Bemühungen um nicht abstinent lebende Betroffene bisweilen bewusst auf und sagen: »Du bist noch nicht so weit, du muss erst richtig auf die Schnauze fallen, um den Absprung zu schaffen.« Der gekonnte Umgang mit dem Scheitern der eigenen therapeutischen Bemühungen ist auch für Therapeutinnen und Therapeuten wichtig. Zentraler Gedanke Wenn der Patient an seinen persönlichen Tiefpunkt kommen und dann auch kapitulieren soll, ist es für ihn hilfreich, wenn die Therapeutin nicht an ihrem persönlichen grandiosen Helferideal festhält und den Patienten vor jedem Schaden bewahren will. Sie muss vor diesem eigenen grandiosen Anspruch selbst kapitulieren.

Die Kapitulation von Suchtkranken ist mehr als die rationale Einsicht, dass es besser wäre, abstinent zu leben. Denn wer abstinent lebt, hat nicht immer auch schon kapituliert.

Das Herausarbeiten des persönlichen Tiefpunkts und die Kapitulation

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Fallbeispiel 99: Eine 38-jährige Unternehmerin, Frau N., trank aus guten Gründen keinen Alkohol mehr. Sie vermied es aber, sich zu entscheiden, alkoholkrank zu sein. Diese Entscheidung hätte für sie bedeutet, dass sie rückfällig wäre, wenn sie wieder einmal Alkohol trinken würde. Ohne diese Entscheidung wäre ein erneutes Alkoholtrinken aber kein »Rückfall«, es wäre einfach »nur« normales Alkoholtrinken wie bei anderen auch. Nach zwei Jahren Abstinenz begann die Patientin erneut, schwer zu trinken. Daraufhin schloss sie sich einer Suchtkrankengruppe an. Erst dort bekannte sie sich dazu, alkoholkrank zu sein. Ein Jahr später erzählte sie der Gruppe: »Meine Kapitulation kam erst, als ich merkte, ich kann mit dem Trinken nicht mehr aufhören. Ich habe das hier in der Gruppe so erlebt, dass ich ernst genommen wurde mit meinem Problem. Nach der ersten Gruppensitzung habe ich dann zwei Dinge sofort anders gemacht: Ich habe mir für die Urlaubsreise mit meinen Eltern und meiner Schwester ein eigenes Zimmer bestellt, statt wie sonst immer mit meiner Schwester zusammen ein Zimmer zu nehmen. Und ich habe meiner Freundin gesagt, dass ich in ihrem Urlaub ihren Hund nicht mehr nehme.« Sich selbst als »alkoholkrank« anzusehen, hatte die Patientin aus ihrer Anpassungshaltung befreit und es ihr ermöglicht, sich in ihren Beziehungen im Alltag neu zu verhalten, ohne dass ihre Alltagskonflikte in der Therapie jemals besprochen worden wären. Zentraler Gedanke Betroffene können dadurch, dass sie ihre narzisstische Verletzung verarbeiten und akzeptieren, süchtig zu sein, lernen, sich in ihren »Schwächen« anzunehmen und sich mit sich selbst zu versöhnen. Nicht selten reifen die Betroffenen anschließend posttraumatisch und entwickeln Mitmenschlichkeit, Weisheit, Humor, Kreativität und Einfühlungsvermögen. Diese progressive Heilung geschieht weitgehend ohne therapeutische Arbeit an den Defiziterlebnissen oder Traumata in der Kindheit. Der Betroffene wird dann wie von allein mutiger, zur Not auch gegen die ungeschriebenen Regeln der Familie oder der Gemeinschaft zu verstoßen (siehe Fallbeispiel 99). Denn es gilt für ihn die erste Lebensregel der Anonymen Alkoholiker »Das Wichtigste zuerst«, nichts ist wichtiger, als trocken bzw. abstinent zu bleiben. Das heißt aber, dass alle anderen Verpflichtungen, Pläne, Werte und auch die Erwartungen der anderen zweitrangig sind. Fallbeispiel 93 (2. Fortsetzung): Ein in seiner Suchtkrankengruppe wichtiger Patient, Herr H., litt an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und hatte dadurch auch im trockenen Zustand viele schwere Beziehungskonflikte. Ihm half aber immer wieder die Erkenntnis, er vertrat dies auch in der Gruppe: »Andere Menschen versuchen immer, in ihrem Leben etwas Besonderes oder Großes zu leisten. Ich brauche das nicht. Denn ich bin trockener Alkoholiker. Auf Dauer trocken zu leben, das schaffen

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nur 10 % der Betroffenen. Wenn ich also ein ganz normales Leben führe und das hinbekomme, dann habe ich schon etwas Besonderes geleistet. Es hilft mir, daran immer wieder zu denken.«

Warum der kreative Sprung der Kapitulation dem einen Suchtkranken gelingt, dem anderen aber nicht, das bleibt letzten Endes ein Geheimnis. Man kann als Therapeutin oder als Gruppe Bedingungen schaffen, die die Chance vergrößern, dass dieser kreative Sprung eintreten könnte. Die Kapitulation geschieht aber autonom und ist, wie die Betroffenen selbst sagen, letzten Endes »Gnade«, Glück oder ein Geschenk, ein Geschenk für den Betroffenen und ein Geschenk auch für die Therapeutin. Wenn die Kapitulation einmal gelungen war, kann die Therapeutin den Patienten in einer späteren Krise auffordern, sich an seine Erfahrungen an seinem Tiefpunkt und bei seiner Kapitulation zu erinnern, und damit in ihm die heilenden Kräfte der Kapitulation wieder lebendig werden lassen. Fallbeispiel 100: Ein alkoholkranker Mann mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, Herr O., hatte nach Beginn seiner Abstinenz ohne jede begleitende Therapie zwölf Jahre lang Heime für psychisch Kranke aufgebaut und war dadurch wohlhabend geworden. Trotzdem entwickelte er im Laufe einiger Jahre zunehmend eine Depression mittleren Grades. Der Therapeut stellte fest, dass seine Abstinenz für ihn inzwischen selbstverständlich war. Die Besinnung auf seinen Tiefpunkt und seine Kapitulation half ihm, zu erkennen, dass er eigentlich schon Unglaubliches erreicht hatte, dass er an sich selbst blind unerfüllbar hohe Erwartungen stellte und dass er so die »zufriedene Trockenheit« der Anonymen Alkoholiker verfehlte. Diese Interpretation nahm er in der Kurztherapie zunächst nur ungnädig zur Kenntnis, sie linderte seine Depression aber deutlich.

Die Anonymen Alkoholiker versuchen mit ihren »12 Schritten«, den Weg vom Tiefpunkt zur Kapitulation zu öffnen und offen zu halten. Den überlieferten kollektiven Bildern unserer Gesellschaft folgend, interpretieren sie diesen Heilungsweg als Beziehungsaufnahme zu »Gott – wie wir ihn verstanden« (Krüger, 2004, S. 184 f.). In sechs ihrer zwölf Schritte setzen sie sich mit »Gott« als einem Symbol für das bei jedem Menschen vorhandene natürliche Selbstheilungssystem (siehe Kap. 5.14) auseinander: »2. Schritt: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. – 3. Schritt: Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstanden – anzuvertrauen […]. 5. Schritt: Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu. – 6. Schritt: Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler

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von Gott beseitigen zu lassen. – 7. Schritt: Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen […]. 11. Schritt: – Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten ihn nur, uns seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.« Die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker sind eine geniale Erfindung, um die natürlichen Selbstheilungskräfte von Alkoholabhängigen zu aktivieren und ihnen einen progressiven Heilungsweg zu ermöglichen. Im ersten Schritt werden die inneren Selbstheilungskräfte nach außen auf das Symbol »Gott« projiziert und im Kleide dieses Symbols als von außen kommende heilende Kräfte und potenzielle Ressource auf der Objektebene vergegenwärtigt. Anschließend soll der Betroffene in dem 3., 5., 6. und 7. Schritt interaktionell handelnd mit dieser heilenden äußeren Kraft eine gute Beziehung herstellen. Er integriert dadurch, ohne es zu merken, die Voraussetzungen, Forderungen und Werte einer natürlichen Selbstheilung in sein eigenes Selbst. Im 11. Schritt machen die Anonymen Alkoholiker dann die zunächst nach außen auf »Gott« projizierten Heilungskräfte in aller Demut wieder zu ihren eigenen inneren Selbstheilungskräften, indem sie »Gott« bitten, den »Willen« seiner heilenden Kraft in eigener Regie und Verantwortung ausführen zu können und zu dürfen. Damit gehen die Anonymen Alkoholiker potenziell einen Weg, den auch schon Moreno (Leutz, 1974, S. 71 ff.) als Entwicklung vom Er-Gott über den Du-Gott zum Ich-Gott beschrieben hat, den Weg zur eigenen inneren Transzendenz.

10.8  Die transmodale therapeutische Beziehung Die Therapeutin findet den Zugang zu der dysfunktionalen Selbstorganisation eines abhängigkeitskranken Patienten nur, wenn sie seine Ich-Spaltung innerlich spielerisch transmodal mitmacht und akzeptiert, dass sein gesund erwachsenes Mentalisieren und sein süchtiges Mentalisieren als zwei zeitlich alternierende, konträre Ich-Zustände nebeneinander existieren. Sie vertraut dem Patienten, dann vertraut sie ihm natürlich wieder nicht, weil er ja suchtkrank ist. Anschließend vertraut sie ihm, denn er ist ja ein Mensch! Dann denkt und fühlt sie als HilfsIch des Patienten in Identifikation mit ihm wieder süchtig und verbalisiert stellvertretend für ihn sein süchtiges Denken und Fühlen. Wichtige Definition In der transmodalen Beziehungsgestaltung (siehe Kap. 9.5) begleitet die Therapeutin den Patienten wechselnd in jedem seiner beiden gegensätzlichen

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Ich-Zustände als Hilfs-Ich, ohne sich dabei, wie wir es gewohnheitsmäßig tun, an dem Widerspruch zwischen den beiden Logiken und Erklärungsmustern zu stören und diesen Widerspruch als solchen zu benennen (siehe Abb. 27). Sie lässt die durch die Ich-Spaltung des Patienten wechselnden zwei konträren IchZustände, den süchtigen Ich-Zustand und den gesunden erwachsenen Ich-Zustand, nebeneinander bestehen, differenziert und erweitert sie, stellvertretend mentalisierend, getrennt voneinander und erhält den Widerspruch zwischen ihnen bewusst aufrecht. Die Therapeutin beharrt also nicht darauf, einseitig das gesunde Erwachsenendenken in der Beziehung durchzusetzen.

Wie im Doppelgängerdialog mit psychoseerkrankten Menschen (siehe Kap. 9.6.1) soll der abhängigkeitskranke Patient das Absurde und Sinnlose in seinem süchtigen Mentalisieren von allein merken. Erst dadurch erkennt er den dahinter stehenden Sinn, seine Abhängigkeit, und was diese mit ihm macht. Durch das Nebeneinander der Denkmodi in der therapeutischen Beziehung entsteht nicht selten eine Katharsis durch Lachen (Moreno, 1970, S. 78). Ich selbst habe zehn Jahre dazu gebraucht, um von abstinent lebenden, klugen Alkoholabhängigen zu lernen, wie man als Therapeutin oder Therapeut die transmodale Haltung in der Beziehung zu Abhängigkeitskranken einnimmt. Manchmal sage ich: »Ich habe von trockenen Alkoholkranken das Denken gelernt!« Voraussetzung dafür war, mir selbst einzugestehen, dass ich in der Behandlung von Abhängigkeitskranken mit meinem »normalen« psychotherapeutischen Handwerkszeug gescheitert war (siehe Fallbeispiele 86 und 87) und dass ich lernte, in der Therapie auch selbst zu kapitulieren. Manchmal sage ich Abhängigkeitskranken auch noch heute: »Ich selbst bin nicht suchtkrank. Deshalb kann ich für Suchtkranke keine Psychotherapie machen. Ich kann Sie aber auf Ihrem therapeutischen Weg begleiten und Ihnen dabei das mitteilen, was ich von Betroffenen gelernt habe.« Fallbeispiel 101: In einer sozialpsychiatrischen Beratungsstelle trafen sich jede Woche 20–40 Alkoholabhänge in einer Art Selbsthilfegruppe. Sie tranken Kaffee, rauchten, dass der Raum vernebelt war, und diskutierten miteinander aufs Heftigste. Eines Tage war einer der Betroffenen, Herr P., rückfällig geworden. Der Arzt und der Gruppenleiter, der selbst alkoholkrank war, aber abstinent lebte, besuchten ihn zu Hause. Als sie in dessen verwahrlostes Zimmer kamen, fanden sie ihn in schlechtem Gesundheitszustand vor. Der Arzt war enttäuscht und distanzierte sich innerlich: »Es müssen ja auch nicht alle schaffen, trocken zu bleiben.« Der Gruppenleiter aber begrüßte seinen »nassen« Kollegen herzlich als Mensch, legte ihm die Hand auf die Schulter und konfrontierte ihn als kompetenter Fachmann offen: »Ralf, das ist gut! Das

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ist gut, dass du wieder gesoffen hast! Jetzt weißt du wieder, dass du Alkoholiker bist!« Der Arzt staunte und bewunderte die in sich stimmige Logik dieser Argumentation.

Suchttherapie ist Vielfalt und Chaos. Die Patienten agieren ihre Ich-Spaltung in der therapeutischen Beziehung aus. Das führt bei der Therapeutin durch Em­pathie­prozesse zu intrapsychischen Spannungen zwischen ihren eigenen verschiedenen Ich-Zuständen, 1. der fachlich kompetenten Therapeutin, die sachlich informiert, 2. der grandiosen Therapeutin, die helfen und retten möchte, und 3. der Therapeutin als begegnender Mensch, die sich als Mensch ärgert, hilflos oder traurig ist und sich vielleicht ernsthaft überlegt, ob sie die Suchttherapie ganz aufgeben soll (Krüger, 2007a). Die Spannungen zwischen diesen drei eigenen Ich-Zuständen verstärken sich bei der Therapeutin auch noch dadurch, dass sie in der störungsspezifischen Behandlung als Hilfs-Ich einmal mit dem Patienten zusammen gesund erwachsen denkt und dann immer wieder wechselnd spielerisch auch süchtig mentalisiert, um stellvertretend für den Patienten sein süchtiges Denken als solches zu markieren und unter die Kontrolle des Denkens im Als-ob-Modus zu bringen. Zentraler Gedanke Die Therapeutin mentalisiert in der therapeutischen Beziehung mit einem suchtkranken Patienten in ihrer Selbstorganisation wechselnd in fünf miteinander konkurrierenden Ich-Zuständen (siehe Abb. 27). Sie ist 1. Hilfs-Ich für das gesunde Erwachsenendenken des Patienten, 2. Hilfs-Ich für sein süchtiges Denken, 3. der begegnende Mensch, 4. die fachlich kompetente Therapeutin und 5. die grandiose Heiler-Heldin.

Solange die Therapeutin zwischen diesen fünf Ich-Zuständen unbewusst hin und her springt, behindert das den Fortschritt in der Therapie. Es ist deshalb wichtig, dass sie diesen Wechsel möglichst bewusst vollzieht. Das gelingt ihr leichter, wenn sie bei Bedarf ihre eigenen Ich-Zustände im Therapiezimmer außen mit leeren Stühlen repräsentiert (Krüger, 2007a) (siehe Kap 4.13 und Fallbeispiel 10 in den Kap. 4.13 und 4.14) und, immer wenn sie merkt, dass sie gerade wieder in einen anderen Ich-Zustand wechselt, dies für den Patienten nach außen durch einen Stuhlwechsel sichtbar macht. Übung 23 Probieren Sie als Leserin oder Leser einmal selbst in der Therapie mit einem Ihrer alkoholkranken Patienten aus, den Wechsel zwischen Ihren eigenen Ich-Zustände mit Stühlearbeit kenntlich zu machen! Repräsentieren Sie dazu Ihre drei eigenen

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Ich-Zustände mit je einem Stuhl, sich selbst als »begegnenden Menschen«, als »fachlich kompetente Therapeutin« und als »grandiose Therapeutin«. Wechseln Sie in der Begegnung mit dem Patienten zwischen diesen drei Stühlen hin und her und sprechen Sie dem Patienten gegenüber jeweils laut aus, was Sie diesem gegenüber als Mensch, als grandiose Therapeutin oder als Fachfrau denken und fühlen. gesund erwachsener Ich-Zustand des Patienten

süchtiger Ich-Zustand des Patienten

Hilfs-Ich für den gesund erwachsen denkenden Patienten

Hilfs-Ich für den süchtig denkenden Patienten

grandiose Therapeutin

Therapeutin als Mensch

Beziehungskonflikt des Patienten im Alltag

fachlich kompetente Therapeutin

Abbildung 27: Die fünf wechselnden Ich-Zustände der Therapeutin in der Suchttherapie

Sie werden merken: Wenn Sie von dem Stuhl der Heiler-Heldin aus reden und anschließend auf den Stuhl des »begegnenden Menschen« wechseln und Ihre eigenen Grenzen akzeptieren, verwirklichen Sie in sich selbst handelnd den Prozess der Kapitulation, Sie werden dadurch für den Patienten unausgesprochen zum Vorbild. Denn Abhängigkeitskranke versuchen definitionsgemäß in grandioser Weise, zu lernen, kontrolliert zu trinken, obwohl sie süchtig sind und heimlich schon wissen, dass sie dieses Ziel niemals erreichen werden. Oft lacht der Patient, wenn Sie als Therapeutin Ihre eigenen grandiosen Heilerträume laut aussprechen, weil er sich darin mit seinen grandiosen Wünschen selbst

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wiedererkennt. Der Stuhl der »fachlich kompetenten Therapeutin« gibt Ihnen andererseits die Möglichkeit, den Patienten sachlich zu informieren und ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, ohne dass Ihre Aussagen als »begegnender Mensch« dadurch in der Wahrnehmung des Patienten wieder gelöscht werden. Denn der »begegnende Mensch« existiert in diesem Fall neben Ihnen weiterhin sichtbar als Stuhl, und Sie können anschließend auf den Stuhl des »begegnenden Menschen« wechseln und die Beziehung wieder empathischer gestalten. Wenn die Therapeutin von dem Stuhl der »fachlich kompetenten Therapeutin« aus dem Patienten bestimmte sachliche Informationen über seine Krankheit und die Behandlung mitteilen möchte, sie aber befürchtet, den Patienten dadurch zu verletzen, kann sie das tun, ohne es zu tun, indem sie mit sich selbst spricht. Sie wendet sich als die »fachlich kompetente Therapeutin« in Gegenwart des Patienten an sich selbst als »die Begegnende«, teilt diesem eigenen Selbstanteil die den Patienten potenziell verletzenden Sachinhalte mit, wechselt dann in die Rolle des »begegnenden Menschen« und antwortet als »Mensch« der »Fachfrau«. Zum Beispiel könnte es sein, dass der Patient gerade rückfällig geworden ist. Die Therapeutin ist enttäuscht und fühlt sich dem Alkohol gegenüber ohnmächtig. Sie teilt dem Patienten dann vom Stuhl der »Begegnenden« aus mit: »Ich bin ratlos. Ich weiß jetzt auch nicht mehr weiter.« Sie wechselt dann aber auf den Stuhl der »fachlich kompetenten Therapeutin« neben sich, blickt zu ihrem Stuhl der »Begegnenden« hin und spricht laut zu sich selbst: »Aber Helga, du weißt doch, Alkoholkranke werden oft rückfällig! Das gehört zur Krankheit dazu. Es schafft eben nicht jeder Alkoholkranke, sein Leben zu meistern. Vielleicht gehört Herr S. zu denen, die es nicht schaffen. Vielleicht wird er ja an seinem Trinken sterben. In Deutschland sterben jedes Jahr 70 000 Menschen an einer Alkoholkrankheit! Es schafft eben nicht jeder den Neuanfang!« Die Therapeutin wechselt danach wieder zurück auf ihren Stuhl des »begegnenden Menschen«, wendet sich an sich selbst als »kompetente Fachfrau« und protestiert: »Das macht mich aber traurig! Ich will nicht, dass Herr S. stirbt! Ich will das nicht! Ich habe mir so viel Mühe mit ihm gegeben! Und ich bitte dich: Rede in seiner Gegenwart nicht so negativ über ihn. Das verletzt ihn. Dann gibt er sich nachher vielleicht ganz auf!« Der offene psychodramatische Dialog zwischen den eigenen Ich-Zuständen schützt die Therapeutin ein Stück weit davor, ihre intrapsychischen Konfliktspannungen in der Beziehung zum Patienten auszuagieren. Gleichzeitig wird sie dadurch für den suchtkranken Patienten aber zum Vorbild in der Selbstreflexion. Sie zeigt ihm, dass es normal ist, intrapsychische Spannungen, Konflikte und Widersprüche zu haben, und wie man damit umgehen kann. Der Patient seinerseits nimmt dabei durch seine Empathieprozesse, ohne das bewusst zu

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merken, die spielerische Auseinandersetzung der Therapeutin mit sich selbst in seine innere Selbstorganisation mit hinein. Dadurch entstehen bei dem Patienten Konfliktspannungen zwischen seinen durch Ich-Spaltung getrennten Ich-Zuständen, und er wird für das Vorgehen mit der Zwei-Stühle-Technik zugänglicher. Durch die eigene Kapitulation der Therapeutin vor dem Anspruch, eine grandiose Heilerin zu sein und den Patienten auf jeden Fall retten zu müssen, verwandelt sich die therapeutische Beziehung in eine spielerische existenzielle Begegnung (Krüger, 2000, 72 ff.). Was ist, das ist. Die Therapeutin soll den zwanghaften Versuch aufgeben, in den Schilderungen des Patienten in jedem Fall Wahrheit und Fiktion unterscheiden zu müssen. Dadurch würde sie für den Patienten nur zur Verfolgerin. Sie sucht stattdessen die Wahrheit mit dem Patienten zusammen aktiv und spielerisch. Dieses mit allem Ernst geführte gemeinsame Spiel dient dazu, den Als-ob-Modus in das süchtige Mentalisieren zu integrieren. Weil die Logik des süchtigen Denkens auf Selbsttäuschung beruht, setzt diese Suche nach Wahrheit bei der Therapeutin eine gewisse Lust am Absurden voraus. Das Absurde darf und soll deutlich werden! Bei all dem bleibt die Therapeutin interessiert und erklärt dem Patienten immer wieder, warum sie etwas fragt, sagt, vorschlägt oder wünscht.

10.9 Gruppentherapie Im stationären Bereich wird mit Abhängigkeitskranken therapeutisch viel in Gruppen gearbeitet. Im ambulanten Bereich findet Gruppentherapie meistens nur im Rahmen der medizinischen Rehabilitation von Suchtberatungsstellen statt. Niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bieten Suchtkranken extrem selten in der eigenen Praxis Gruppentherapie an, sie empfehlen ihnen meistens die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder die Therapie in Beratungsstellen. In der Gruppentherapie von Abhängigkeitskranken haben sich schulenübergreifend einige wichtige Techniken des Psychodramas bewährt, das psychodramatische Rollenspiel, das soziale Atom, die Zukunftsprojektion und das Probehandeln (Waniczek, 2003, S. 59). In der psychodramatischen Gruppentherapie schätzen die Therapeutinnen und Therapeuten insbesondere Möglichkeiten zum Erproben und zum Üben neuer Lösungen für bereits identifizierte oder vorweggenommene Probleme und die allgemeine Förderung von Spontaneität und Kreativität. Weiner (1965, S. 27 und S. 164 f.) hob hervor, dass Psychodrama im Gegensatz zu manchen anderen Methoden auch die Emotionen der Betroffenen einbezieht: »Psychodrama bietet den Alkoholkranken Leben an […]. Es sorgt für sofortige zeitnahe Hilfe in den Bedingungen der spezifischen

Gruppentherapie

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Probleme und Situationen. Es versucht nicht nur, das menschliche Verhalten zu ändern, sondern es hilft auch, die Selbstregulation zu fördern, die gegenwärtige Realität zu verstehen und die kommunikativen Fähigkeiten zu verbessern.« In der Gruppentherapie motivieren die Therapeutin und die Gruppenmitglieder die Abhängigkeitskranken ganz ähnlich wie in der Einzeltherapie zur Abstinenz, fördern anschließend mit den im Kapitel 10.6.4 beschriebenen Vorgehensweisen ihre psychische Entwöhnung und bearbeiten mit ihnen auch ihre gegenwärtigen Konflikte. Bei der Klärung von Beziehungskonflikten mithilfe des psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch kann die Therapeutin neben den Patienten einen zweiten Stuhl auf die Bühne stellen für sein süchtiges Mentalisieren und so seinen intrapsychischen Suchtkonflikt aktiv in die Arbeit mit einbeziehen (siehe Fallbeispiel 107). Das hilft, Ursache und Wirkung in dem Beziehungskonflikt klarer zu erkennen. Die Therapeutin sollte angesichts der »geringen Spielbereitschaft und des hohen Angst- und Widerstandspotenzials« der Patienten (Waldheim-Auer, 1993, S. 197) vermeiden, ihre Patienten aus ihrer eigenen Hilflosigkeit heraus kompensatorisch mit der ganzen Vielfalt psychodramatischer Techniken zu überziehen (siehe Kap. 2.6.3). Empfehlung Auch regressive Arbeit, zum Beispiel Elemente der symbolischen Wunscherfüllung oder das Inszenieren früherer Sehnsüchte mit alternativen Erfahrungen, ist in der Behandlung von Abhängigkeitskranken im Allgemeinen kontraindiziert. »Bei Alkoholabhängigen sind Regressionen nur sehr dosiert und nur mit gleichzeitiger Ich-Stützung vertretbar, um ein schutzloses Abgleiten des Protagonisten zu vermeiden« (Waldheim-Auer, 1993, S. 205). Fallbeispiel 102: Vor 35 Jahren habe ich in einer Klinik einmal alle 14 Tage eine Suchtkrankengruppe geleitet und mit einer Patientin, Frau Q, die in merkwürdiger Weise die Aggressionen der Gruppe auf sich zog, protagonistzentriert gearbeitet. Es war ausgesprochen anrührend zu sehen, wie die gelernte Kinderkrankenschwester im Spiel liebevoll einen zu früh geborenen »Säugling« versorgte. Meine therapeutisch sehr erfahrene Ko-Leiterin und ich glaubten, dass Frau Q. durch ihre intensive Gefühlsbeteiligung etwas Kostbares erfahren hätte. Zwei Wochen später in der darauffolgenden Gruppensitzung fehlte Frau Q. in der Gruppe. Auf Nachfrage war zu hören, dass sie nach dem Spiel psychotisch dekompensiert war und immer noch glaubte, sie würde in einem Film mitspielen. In dem regressiven Spiel mit der Erfüllung ihrer Sehnsucht war das Abwehrsystem der Patientin zusammengebrochen. Die Aggressionen der Gruppenmitglieder waren offenbar stimmig gewesen und hatten sie bis zu ihrem regressiven protagonistzentrierten Spiel hin stabilisiert.

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In der Gruppentherapie mit Suchtkranken vermeidet die Therapeutin möglichst, die Alpha-Position der Gruppe einzunehmen (siehe Kap. 2.6.5). Stattdessen gibt sie den Gruppenteilnehmern »als Profis« immer wieder aktiv die Lösungskompetenz für ihre Konflikte zurück. Sie hält sich in der Gruppe aktiv an die erste Regel der Anonymen Alkoholiker: »Das Wichtigste zuerst.« Empfehlung Alles ist radikal als positiv zu werten, was dem Patienten hilft, trocken zu bleiben, auch wenn diese Lösung zunächst vielleicht absonderlich oder neurotisch anmutet. Fallbeispiel 103: Eine Therapeutin berichtete in der Supervisionsgruppe von dem protagonistzentrierten Spiel einer alkoholabhängigen, abstinent lebenden, alleinstehenden Patientin zum Thema »Rückfallprophylaxe«. Die Therapeutin zeigte psychodramatisch, wie sie das protagonistzentrierte Spiel geleitet hatte: Die Patientin war in den Laden einer Tankstelle gegangen, um das Benzin für ihr Auto zu bezahlen. Als sie links im Regal die Bier- und Schnapsflaschen sah, bekam sie Panik, beschleunigte ihren Schritt, bezahlte schnell, eilte im Laufschritt zu ihrem Auto zurück und fuhr zu ihrer Mutter, weil sie »nicht auf dumme Gedanken kommen« wollte. Die Therapeutin und alle Gruppenteilnehmer hatten sich nach dem Spiel um die Patientin Sorgen gemacht und mit ihr zusammen überlegt, wie sie das kommende Wochenende ohne Rückfall überstehen könnte. Die Stimmung in der Gruppe war gedrückt gewesen. Ein Teilnehmer der Supervisionsgruppe erprobte aber ein anderes, an der ersten Regel der Anonymen Alkoholiker orientiertes, mehr gruppenbezogenes therapeutisches Vorgehen. Die Therapeutin übernahm dabei die Rolle der Patientin, spielte diese nach, ging in dieser Rolle in den Laden der Tankstelle, erschrak beim Blick auf den »Alkohol« und floh danach »zur Mutter«. Anders als in der Originalversion bestärkte der andere »Therapeut« in der Nachbesprechung die »Patientin« aber in ihrer Lösungskompetenz: »Wunderbar, das ist ja gut! Sie haben gemerkt, dass es jetzt ums Ganze geht. Für Sie als Betroffene ist ja tatsächlich nichts wichtiger, als trocken zu bleiben! Und Sie haben in dieser kritischen Situation für sich gleich zwei hilfreiche Lösungen gefunden! Als Sie in der Tankstelle im Regal die Alkoholflaschen sahen, sind Sie zur Kasse gerannt, statt normal dorthin zu gehen. Und dann sind Sie auch nicht zu sich nach Hause gefahren, sondern zu ihrer Mutter, also zu jemandem, mit dem Sie reden und bei dem Sie sich ablenken konnten.« Der andere »Therapeut« wandte sich jetzt an die anderen »Patienten« der »Therapiegruppe«, die von den übrigen Supervisanden gespielt wurden: »Welche Techniken benutzen Sie eigentlich, welche Lösungen haben Sie gefunden, wenn Sie merken, Sie haben Trinkgedanken?« Die Supervisionsteilnehmer produzierten in dem Alternativspiel in den Rollen der

Gruppentherapie

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Gruppenpatienten munter und spontan Fantasien, wie sie glaubten, dass Alkoholkranke sich zu helfen versuchen, wenn sie Angst haben, rückfällig zu werden. Das veränderte Vorgehen des zweiten »Therapeuten« würdigte radikal positiv die von der Patientin selbst gefundenen Lösungen, die ihr geholfen hatten, abstinent zu bleiben. Ein solches Vorgehen wirkt ichstärkend. Denn diese Patientin brauchte ja eigentlich keine »Hilfe« zum Einhalten ihrer Abstinenz, sondern eine positive Bestätigung in ihrer Lösungskompetenz. Durch eine solche Bestätigung würde sie in ihrer Gruppe aus der Omega-Position (siehe Kap. 2.6.5) in die Alpha-Position kommen. Empfehlung Das direkte protagonistzentrierte psychodramatische Nachspielen von schwierigen Erlebnissen unter Suchtmitteleinfluss ist im Allgemeinen kontraindiziert.

Denn dabei passen die Patienten sich aus Scham meistens nur den Erwartungen der Gruppe an und spalten ihr emotionales Erleben und ihre Affekte ab. Oder sie vermischen ihre realen Erinnerungen durch Autosuggestion mit ihren Fantasien. Beim Nachspielen von Suchterinnerungen sollte die Therapeutin deshalb Elemente der Traumatherapie benutzen (siehe Kap. 5.10.6 und 5.10.7): Zum Beispiel lässt sie den Patienten aus dem Beobachtungsraum heraus seine Suchterinnerung erzählen, während ein Doppelgänger und mehrere Hilfs-Ichs im Handlungsraum auf der Bühne das, was er erzählt, im Playback-Verfahren nachspielen. Die Metaposition zur eigenen Suchterinnerung schafft Distanz zu den schambesetzten Erfahrungen, stärkt die Kognition des Patienten und hilft ihm, im inneren Nachvollziehen seiner im Äquivalenzmodus erlebten Suchterinnerungen diese auch im Als-ob-Modus zu denken. Die Therapeutin unterstützt ihn dabei im Erzählraum als Doppelgängerin und informiert ihn bei Bedarf Schulter an Schulter mit suchtspezifischen Wissensinhalten: »Sucht traumatisiert die Seele. Ich möchte mit Ihnen Ihre schlimmsten Erfahrungen beim Suchtmittelgebrauch herausarbeiten. Denn Sucht gibt auch etwas! Wenn Sie aber abstinent leben wollen, brauchen Sie dafür einen wichtigen Grund. Gut wäre es, wenn Sie keine andere Wahl haben, als abstinent zu leben.« In einer Suchtkrankengruppe sollte jeder Teilnehmer auch einen eigenen »sicheren Ort« (siehe Kap. 5.10.5) für sich entwickeln, den sie oder er bei Bedarf im Spiel aufsuchen kann.

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Suchterkrankungen

10.10 Rückfallprophylaxe Wichtige Definition Ein erneuter Suchtmittelkonsum ist nur dann ein »Rückfall«, wenn der Betroffene sich vorher entschieden hatte, sich selbst als suchtkrank, alkoholabhängig, medikamentenabhängig oder drogenabhängig anzusehen, und deshalb versuchen wollte, dauerhaft abstinent zu leben.

Wenn jemand nur aus Vernunft abstinent war, ohne sich als alkoholkrank zu bezeichnen, und dann wieder trinkt, ist er nicht rückfällig (siehe Fallbeispiel 99). In Suchtkrankengruppen gibt es immer wieder Streit darüber, ob ein versehentlicher Alkoholkonsum schon als Rückfall zu bewerten ist, zum Beispiel wenn ein Bekannter einem Betroffenen in seine Apfelsaftschorle heimlich Schnaps gegossen hat und er davon einen Schluck getrunken hat, oder wenn ein Alkoholabhängiger eine Mon-Chérie-Praline gegessen hat. Zentraler Gedanke Das entscheidende Kriterium für einen Rückfall ist, dass der Patient den Alkohol bewusst zu sich genommen hat. Wenn er vorher wusste, dass in der Mon-CheriePraline, die er aß, Alkohol enthalten ist, ist er rückfällig. Ebenso, wenn er nach dem ersten versehentlichen Schluck von seiner alkoholisieren Apfelsaftschorle bewusst einen zweiten Schluck oder von dem alkoholhaltigen Nachtisch bewusst einen zweiten Löffel zu sich genommen hat.

Es geht dabei nicht um die körperliche Wirkung einer so geringen Alkoholmenge. Das Problem ist, dass ein Alkoholkranker durch jeden bewussten Alkoholkonsum wieder das Tor zu seiner psychischen Abhängigkeit öffnet. Er nimmt den Kampf mit dem Alkohol wieder auf und setzt damit seine innere Kapitulation außer Kraft, die lautet: »Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind …« Auf dem Weg zur dauerhaften Abstinenz werden Alkoholabhängige nach ihrer ersten Entscheidung, alkoholkrank zu sein, oft noch ein letztes Mal rückfällig. Nach Waldheim-Auer, (2013, S. 199) ist aber eine dauerhafte Abstinenz nach einem einmaligen Rückfall ebenfalls als Erfolg zu bewerten. Zentraler Gedanke Alkoholabhängige Patienten fühlen sich nach Beginn ihres ersten Abstinenzversuchs ohne den Suchtmittelkonsum wieder besser. Sie entwickeln neues Selbstbewusstsein. Etwa zwei Drittel der Betroffenen erproben dann, ob die jetzt »wieder gestärkte Willenskraft« nicht ausreicht, um doch noch kontrolliert

Rückfallprophylaxe

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trinken zu können. Bei Abhängigkeitskranken ist das Gelingen der Abstinenz aber keine Frage der Willenskraft, sondern eine Frage der Entscheidung. Ein einmaliger Rückfall kann die Entscheidung zur Abstinenz sogar festigen, weil der Betroffene seinen Rückfall und seinen Kontrollverlust jetzt mit dem neu erworbenen Wissen bewusster erlebt.

Das bedeutet aber, dass ein Rückfall mit »nur« einem Glas Bier für einen Betroffenen gefährlicher ist als ein schneller Absturz in süchtiges Trinken. Denn »ein Bier« verführt ihn eher, süchtig zu denken: »Vielleicht kann ich ja doch …« Der Betroffene gewinnt bei »nur einem Glas Bier« den Eindruck, dass er die Menge seines Alkoholkonsums jetzt kontrollieren kann. Aber nach 14 Tagen folgt dann das zweite und dritte Bier, und spätestens nach einem halben Jahr trinkt der Betroffene wieder so wie vor seiner Abstinenzphase. Zur Vermeidung eines Rückfalls in den Suchtmittelmissbrauch sind die folgenden neun Regeln und Erfahrungen wichtig: 1. Die Entscheidung, alkoholkrank zu sein, hilft, den Kampf mit dem Alkohol aufzugeben (siehe Kap. 10.6.2). Die vielen Wenns und Abers fallen weg. Es geht nur darum, »das erste Glas stehen zu lassen.« 2. Die 24-Stunden-Regel der Anonymen Alkoholiker »Ich lebe heute« erleichtert handlungsnah die Abstinenz. Fallbeispiel 104: Ein neuer Teilnehmer, Herr R., klagt in der Gruppe: »Mein ganzes Leben nicht mehr trinken zu dürfen, das kann ich mir nicht vorstellen. Das schaffe ich nie!« Ein Erfahrener antwortet: »Aber das brauchen Sie sich auch gar nicht vorstellen! Vielleicht kommen Sie ja morgen unter ein Auto. Dann haben Sie sich mit der Frage ganz umsonst gequält! Aber 24 Stunden ohne Alkohol, das geht. Immer nur 24 Stunden! Sie können ja jeden Morgen neu entscheiden. So empfehlen das die Anonymen Alkoholiker. Ich selbst stelle jetzt manchmal ganz überrascht fest, dass da bei mir schon eine ganze Menge von Tagen zusammengekommen ist.« Eine andere Erfahrene ergänzt: »Und wenn mir einmal 24 Stunden zu lang waren und ich Saufdruck hatte und glaubte, jetzt muss es passieren, dann habe ich diese Regel auf eine Stunde verkürzt: ›Diese Stunde nicht!‹ Manchmal brauche ich das auch jetzt noch. Nach einer Stunde hat sich das Gefühl dann meistens schon verändert!«

3. Alles ist gut, was hilft, trocken zu bleiben, auch wenn es ein scheinbar neurotisches Verhalten ist (siehe Fallbeispiele 92 und 101). 4. Gerade Suchtkranke haben oft relativ hohe Ansprüche an das »Glück« oder lieben im Leben den »Kick«. Sie sind mit dem Erreichten oft nicht zufrieden (siehe Fallbeispiel 100).

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Suchterkrankungen

Zentraler Gedanke Wenn ein Betroffener fürchtet, rückfällig zu werden, ist es für ihn hilfreich, an den eigenen persönlichen Tiefpunkt zurückzudenken (siehe Kap. 10.7), an die damaligen Selbsttötungsfantasien, die Hilflosigkeit, die Sinnlosigkeitsgefühle oder das Leiden an der eigenen Würdelosigkeit, und diese Erfahrungen in sich wieder emotional lebendig zu machen. Das hilft bei einem drohenden Rückfall besser, die Abstinenz durchzuhalten, als der Versuch, sich die positiven Veränderungen nach Beginn der Abstinenz zu vergegenwärtigen. Es gilt, das Negative wegzulassen, dann entwickelt sich das Positive fast von allein.

5. »Viele Rückfälle geschehen aus heiterem Himmel« (Waldheim-Auer, 2013, S. 196), aus scheinbar völligem Wohlergehen heraus, aus Übermut oder aus Nachlässigkeit im Umgang mit dem eigenen scheinbar weit zurückliegenden Suchtproblem (siehe Fallbeispiel 93, 1. Fortsetzung). Diese Erfahrung steht im Gegensatz zu der Annahme vieler Therapeutinnen und Therapeuten, dass Rückfälle vor allem dann geschehen, wenn es den Abhängigkeitskranken seelisch schlecht geht. 6. Der Betroffene soll am Ende der Therapie aus eigener Erfahrung erkennen können, wenn er ohne Suchtmittelgebrauch wieder süchtig denkt und also »trocken trinkt«, wie die Anonymen Alkoholiker es nennen. Dann kann er sich eventuell bewusst an das Erleben an seinem persönlichen Tiefpunkt erinnern und so in sich den Sinn seiner Entscheidung zur Abstinenz wieder emotional lebendig machen. Alles, was das süchtige Mentalisieren und das Suchtgedächtnis spezifisch aktualisiert, ist, wenn möglich, zu vermeiden. 7. Die Einnahme von Medikamenten zur Rückfallprophylaxe hat sich nicht bewährt. Denn sie verhindert die seelische Entwöhnung (siehe Kap. 10.6.4). Der Patient bleibt dann, wie die Anonymen Alkoholiker sagen, stehen im Stadium des »Ich darf nicht trinken«. Er kommt nicht zu dem »Ich will nicht trinken« oder dem »Ich brauche nicht zu trinken«. Alles, was das süchtige Mentalisieren und das Suchtgedächtnis spezifisch aktualisiert, ist, wenn möglich, zu vermeiden. 8. Manche Abhängigkeitskranke teilen ihren Bezugspersonen aus ihrem privaten Umfeld offen mit, dass sie sich als alkoholkrank verstehen. Das schützt sie vor Verführungen und Provokationen. Alles, was das süchtige Mentalisieren und das Suchtgedächtnis spezifisch aktualisiert, ist, wenn möglich, zu vermeiden. 9. Alles, was das süchtige Mentalisieren und das Suchtgedächtnis spezifisch aktualisiert, ist, wenn möglich, zu vermeiden.

Tablettenabhängigkeit und Drogenabhängigkeit

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Zentraler Gedanke Die Kapitulation im Kampf mit dem Suchtmittel erfordert eine gewisse Demut. Zum Beispiel ist es nicht ratsam, immer wieder die alten Saufkumpane aufzusuchen oder in einer Gastwirtschaft zu arbeiten. Auch der scheinbar harmlose Konsum von alkoholfreiem Bier ist schon problematisch. Denn dieser dient dazu, den vertrauten Geschmack von Bier zu haben und die Notwendigkeit der Abstinenz vor anderen und vor sich selbst zu verschleiern. Ich erinnere mich in mehr als 30 Jahren Arbeit mit Suchtkranken an keinen einzigen Alkoholkranken, der nicht rückfällig wurde, wenn er in seiner abstinenten Zeit weiter alkoholfreies Bier trank. Fallbeispiel 105: Ein alkoholkranker Mann, Herr S., berichtete in der Gruppe immer wieder stolz, dass in seinem Wohnzimmer seit vielen Jahren in einem Korb neben seinem Sofa zwei Flaschen Wein stehen: »Die habe ich noch nie angerührt!« Ausgerechnet dieser Patient wurde aber anders als andere Gruppenteilnehmer immer wieder rückfällig. Er trank dabei eben einfach andere Flaschen leer. Trotzdem war er aber stolz auf seine vermeintliche Willenskraft im Kampf gegen den Alkohol.

10.11  Tablettenabhängigkeit und Drogenabhängigkeit Die Zahl der Menschen, die in süchtiger Weise von Schmerz-, Schlaf- oder Beruhigungsmitteln abhängig sind, ist mit 1,74 Millionen Betroffenen etwa gleich groß wie die Zahl der Alkoholabhängigen. Fallbeispiel 94 (Fortsetzung): Der unter Panikattacken leidende Herr K. trank als Alkoholabhängiger tagsüber nur geringe Mengen Alkohol, half sich aber mit Tavor, einem Beruhigungsmittel, um am Tag unauffällig und arbeitsfähig zu bleiben. Erst abends trank er dann »richtig«. Als er schon einige Monate abstinent lebte, trug er »zur Sicherheit« in einer kleinen Dose immer noch einen Vorrat der Beruhigungstabletten bei sich, ohne davon etwas zu nehmen. Eines Tages entschloss er sich, so berichtete er in der Suchtkrankengruppe, sich von dem Tavor ganz zu trennen: »Ich zerkleinerte die Tabletten mit einem Hammer zu Pulver. Dann schüttete ich das in die Toilette. Als ich auf die Wasserspülung drückte und alles verschwand, ergriff mich voll die Panik. Für mich ging die Welt unter! Ich brauchte lange, bis ich mich beruhigt hatte.« Nach der Vernichtung der Tabletten verschwanden aber auch seine Panikattacken. Der Patient hatte mit der rituellen Vernichtung seines Suchtmittels einen entscheidenden Schritt in seiner psychischen Entwöhnung getan.

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Suchterkrankungen

Die störungsspezifische Behandlung von Tablettenabhängigen folgt den Grundprinzipien des im Kapitel 10.6 beschriebenen Therapiemodells. In der von den Jellinek’schen Fragen abgeleiteten Symptomliste sind die Fragen 1–17, 20 und 22 für Medikamentenabhängige ebenso zutreffend wie für Alkoholabhängige, man muss in dem Fragebogen nur das Wort »trinken« durch »Tabletteneinnahme« ersetzen. Auch die von dem theoretischen Konzept der Ich-Spaltung abgeleiteten sieben Therapieschritte sind die gleichen. Bei Tablettenabhängigen dauert der körperliche Entzug 7–14 Tage. Die Betroffenen konsumieren ihre Suchtmittel meistens versteckter und einsamer als Alkoholabhängige. Sie können ihren Substanzmissbrauch leichter verheimlichen, weil sie nach außen hin weniger auffällig werden. 13–29 % der Alkoholabhängigen (Hiller, 2014, S. 2) kombinieren deshalb ihren Alkoholkonsum mit Beruhigungsmitteln oder Schlafmitteln, zum Beispiel Tavor, Bromazanil, Zolpidem oder Rohypnol, und nehmen am Tag eher Tabletten und erst nach der Arbeit wieder vermehrt Alkohol zu sich. Die Beschaffung von Tabletten ist schwieriger als die von Alkohol, weil die meisten Beruhigungsmittel, Schmerz- oder Schlafmittel verschreibungspflichtig sind. Die Betroffenen müssen eine Arztpraxis finden, in der bei Wiederholungsrezepten nicht genau hingesehen wird. Oder sie suchen mit gezielt vorgebrachten Beschwerden mehrere Ärzte auf, ohne diesen mitzuteilen, dass sie sich die Tabletten schon von einem anderen Arzt geholt hatten. Viele Medikamentenabhängige sind selbst in medizinischen Arbeitsbereichen tätig. In Suchtkrankengruppen ist eine Kombination von Alkoholabhängigen und Tablettenabhängigen möglich. Gemeinsam sind beiden Gruppen die Ich-Spaltung und das Vorgehen in der Motivationsphase und der Entwöhnungsphase. Es kommt zwischen den Betroffenen verschiedener Substanzgruppen allerdings leicht zu Rivalitäten. Offensichtlich lebt jede Gruppe der Substanzabhängigen doch in einer je eigenen Welt mit eigenen Wertvorstellungen und Vorurteilen. Manche von den Tablettenabhängigen möchten sich nicht auf eine Stufe stellen mit »Alkoholikern«. Hilfreich ist dann, als Therapeutin immer wieder themenzentriert mit der Zwei-Stühle-Technik das gemeinsame Thema der Abhängigkeit deutlich zu machen und das gegenseitige Zuhören und Vergleichen der Erfahrungen zu fördern. Bei Cannabis- und Opiat-Abhängigen beginnt die Suchterkrankung meistens schon im Jugendlichenalter. Anders als Alkoholabhängige sind die Betroffenen deshalb in ihrer Persönlichkeit oft weniger entwickelt, haben viel häufiger keine Berufsausbildung und besitzen allgemein weniger Lebenserfahrung, sie haben zum Beispiel auch weniger Erfahrung mit längeren Partnerschaften. Nach Stadler (2013, S. 81 f.) leiden 30 % der Drogenabhängigen an einer posttraumatischen Belastungsstörung, doppelt so viel wie bei Alkoholabhängigen. Wegen

Tablettenabhängigkeit und Drogenabhängigkeit

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ihrer strukturellen Defizite müssen diese Patientinnen und Patienten mehr als Alkoholabhängige die Werkzeuge ihres Mentalisierens und ihrer inneren Bilder erst noch entwickeln und spielen lernen. Dabei sind auch Selbststabilisierungstechniken aus der Traumatherapie hilfreich, zum Beispiel die Technik des sicheren Orts (Kap. 5.10.5). Ihre schwierigen Lebenserfahrungen sind wie in der Traumatherapie im Allgemeinen leichter zu verarbeiten mithilfe der Tischbühne (siehe Kap. 5.10.10) oder in der Gruppe mit dem Playback-Verfahren, bei dem Mitspieler als Hilfs-Ichs das von dem Betroffenen Erzählte auf der Bühne nachspielen und der Protagonist aus dem Beobachtungs- und Erzählraum ihrem Spiel zusieht (siehe Kap. 5.10.6 und 5.10.7). Bei Opiatabhängigen ist die durchschnittliche Dauer der stationären Behandlungen mit einem halben Jahr doppelt so lang wie bei Alkoholabhängigen. Die Zahl derer, die länger als zwei Jahre ambulant behandelt werden, beträgt nach der Jahresstatistik 2011 der professionellen Suchtkrankenhilfe (Steppan, Künzel und Pfeiffer-Gerschel, 2013, S. 217) 12 % im Unterschied zu 5,3 % bei Alkoholabhängigen. Empfehlung Bei allen Abhängigkeitskranken kommt es durch die Angst vor den Reaktionen des sozialen Umfelds, durch Scham und durch Schuldgefühle zu Heimlichkeiten und zu einer mehr oder weniger unbewussten Ich-Spaltung. Deshalb ist das in Kapitel 10.6 beschriebene Prozessmodell der Suchttherapie bei allen Suchterkrankungen hilfreich, auch bei Verhaltensabhängigkeiten (siehe Kap. 10.12). Es rückt das zentrale Problem der Sucht bzw. Abhängigkeit in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit.

So konnte zum Beispiel Hintermeier (2013, S. 112) bei einer heroinabhängigen Patientin mit der Zwei-Stühle-Technik (siehe Kap. 10.6.1) die durch die Therapie entstandene drohende pathologische Regression stoppen. Fallbeispiel 106: Eine seit ihrer Jugendzeit heroinabhängige, vielfach traumatisierte, methadonsubstituierte Patientin wurde zunächst traumatherapeutisch behandelt. Die Erinnerungen an ihre Missbrauchserfahrungen während der Zeit ihres multiplen Drogenkonsums verunsicherten sie aber derart, »dass ihr Verlangen nach Heroin-Beikonsum wieder stieg«. Als Reaktion darauf ließ die Therapeutin »sie mit Intermediärobjekten die beiden Rollencluster ›Heronin-süchtiges Ich‹ und ›unabhängig-sein-wollendes Ich‹ aufstellen« und ihren beiden Ichs gegenständliche Symbole für die jeweils dazugehörigen Denk-, Fühl- und Handlungsweisen zuordnen. Dieser »Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit« sei ein erster Schritt zur Selbstannahme gewesen. »Implizit wurde dadurch gleichzeitig angesprochen, dass es

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Suchterkrankungen

Handlungsalternativen zum Konsum gäbe.« Die substituierte Patientin thematisierte in den nächsten Monaten kein Verlangen mehr nach Beikonsum und veränderte ihr äußeres Aussehen, um nicht mehr an die »Junkie-Zeiten« erinnert zu werden (Fortsetzung in Kap. 10.12.2).

In der Gruppentherapie kann die Therapeutin die Zwei-Stühle-Technik auch in die »normale« psychodramatische protagonistzentrierte Arbeit an Beziehungskonflikten integrieren. Dadurch wird verhindert, dass die Patientin im Spiel die Realität in dem Beziehungskonflikt durch ihre Ich-Spaltung halb bewusst, halb unbewusst verfälscht. Fallbeispiel 107 (Krüger, 2004b, S. 176 f., verändert): Eine Therapeutin berichtet in der Supervisionsgruppe über eine 35-jährige, seit Langem heroinsüchtige und gerade wieder rückfällige Frau, die sie »hilflos gemacht« hatte. Die Patientin hatte nach einer Zeit der Abstinenz wieder angefangen, Haschisch zu konsumieren, und bald zusätzlich auch regelmäßig Alkohol getrunken. Im psychodramatischen Nachspielen einer Therapiesitzung meint die Supervisandin in der Rolle der Patientin: »Ich weiß, bald ist auch das Heroin wieder dran.« Die Supervisandin erklärt in der Supervisionsgruppe, dass die Patientin selbst ihren Rückfall auf einen Konflikt mit ihrem Vater zurückgeführt hatte und diesen Konflikt psychodramatisch bearbeiten wollte, »um den Suchtdruck zu vermindern«. Sie hatte geklagt: »Mein Vater hat mich nie gesehen: Ich musste immer nur funktionieren.« Der Konflikt mit dem Vater war bei der Beerdigung ihres Bruders wieder neu aufgeflammt. Ein Teilnehmer der Supervisionsgruppe hat eine Idee für ein verändertes therapeutisches Vorgehen und erprobt dieses zusammen mit der Therapeutin, die im Spiel die Rolle der Patientin übernimmt. Er geht dabei als Therapeut ebenfalls auf den Wunsch der »Patientin« ein, benutzt bei der Beziehungsklärung mit dem »Vater« aber zusätzlich auch die Zwei-Stühle-Technik und stellt neben die »Patientin« zusätzlich einen Stuhl für ihr »süchtiges Ich« auf. Im Spiel macht die Therapeutin, die Supervisandin, in der Rolle der Patientin die Erfahrung, dass sie im Rollentausch aus der Rolle des Vaters heraus durch den Anblick ihrer zwei Ichs sich selbst viel realistischer wahrnimmt. Als Patientin sieht sie sich einerseits als gesund erwachsen denkende Frau, erkennt aber andererseits durch die Anwesenheit des Stuhls für ihr »süchtiges Ich«, dass die Vorbehalte des Vaters sich auf sie als Süchtige beziehen und nicht auf sie als Mensch. Das lässt sie die Vorbehalte des Vaters besser verstehen. Die Existenz des Stuhls für ihr »gesund erwachsenes Ich« neben dem Stuhl für ihr »süchtiges Ich« gibt ihr als Patientin gefühlsmäßig die Würde zurück, die ihr in den Alltagskonflikten mit ihren Angehörigen verloren gegangen ist.

Nicht-substanzgebundene Suchterkrankungen

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10.12  Nicht-substanzgebundene Suchterkrankungen Patienten mit nicht-substanzgebundenen Süchten bzw. Verhaltensabhängigkeiten, auf Englisch »behaviour addictions«, sind abhängig von dem seelischen Rauschzustand und dem »Kick«, den das süchtige Handeln ihnen vermittelt. Sie benutzen dabei Angebote aus der Außenwelt, zum Beispiel Internetspiele, Pornofilme oder Glücksspielautomaten. Es gibt ganze Industriezweige, die zielgenau entsprechende Angebote herstellen und damit hohe Profite machen. Die Betroffenen integrieren die äußerlich real vorhandenen Substitute, im Äquivalenzmodus denkend, mit ihren Fantasien und erfüllen sich Sehnsüchte, die sie aufgrund ihrer Fantasiearmut allein so meistens gar nicht entwickelt hätten. Der sexsüchtige Patient des Fallbeispiels 111 (siehe unten) teilte dem Therapeuten zum Beispiel mit: »Klar, ich weiß, dass die Prostituierten beim Sex Theater spielen, aber ich blende das dann aus.« Auch bei den nicht-substanzgebundenen Suchterkrankungen sollte die suchttherapeutische Behandlung möglichst schon im ersten Drittel der Therapie erfolgen oder wenigstens beginnen. Denn erfahrungsgemäß können auch diese Patientinnen und Patienten ihre Selbstheilungskräfte erst progressiv nutzen, wenn sie die immer wieder neue Selbstverletzung durch ihr süchtiges Handeln aufgegeben haben. Empfehlung Bei einer nicht-substanzgebundenen Abhängigkeit ist das süchtige Handeln der Betroffenen weniger als bei substanzabhängigen Patienten von bewusstseinsveränderten Drogen bestimmt und spezifischer mit ihrer persönlichen Psychodynamik verbunden. Deshalb ist es bei diesen Patienten anders als bei Substanzabhängigen angezeigt, gezielt auch die persönliche psychodynamische Funktion ihres süchtigen Handelns herauszuarbeiten. Ihr süchtiges Handeln dient entweder der Kompensation oder hat eine Ersatzfunktion.

In der Therapie von nicht-substanzgebundenen Suchterkrankungen geht die Therapeutin mit dem Patienten die folgenden zehn Schritte: 1. Sie konkretisiert bei einer sich bietenden Gelegenheit mit zwei Stühlen das Nebeneinander seiner beiden konträren Ich-Zustände, sein »gesundes Erwachsenendenken« und sein »süchtiges Denken«. 2. Die Therapeutin benennt zusammen mit dem Patienten seine beiden konträren Ich-Zustände individuell passend handlungsnah als zum Beispiel sein »Alltags-Ich« und den »Porno-Seher« oder aber als die »bürgerlich lebende Frau« und die »Helga, die die Männer abschleppt«. 3. Sie lässt den Patienten auf den Stuhl seines »süchtigen Denkens« wechseln und entwickelt

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Suchterkrankungen

von dort aus mit ihm zusammen seine persönliche ideale Suchtszene, die sich bei seinem süchtigen Handeln »eigentlich erfüllen sollte«. 4. Die Therapeutin stellt passende Playmobilmännchen oder Handpuppen auf die beiden Stühle für das »Alltags-Ich« und das »süchtige Ich« des Patienten, lässt ihn die zu den beiden konträren Ich-Zuständen gehörigen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle den beiden symbolischen Figuren zuordnen und repräsentiert diese Erfahrungen jeweils auf den Stühlen mit Steinen. 5. Sie klärt mit dem Patienten anhand der Symptomliste für Suchtkranke (siehe Kap. 10.4), ob er sich als suchtkrank verstehen muss und will. 6. Es folgt ein Abstinenzversuch »zur Selbsterfahrung«. Der Patient entscheidet sich aber selbst, wann und wie lange er abstinent leben will. Durch die Abstinenz verringern sich oft schon in wenigen Wochen die Symptome (siehe Fallbeispiel 110, 111, 112 und 116). Denn es entfallen latente Scham- und Schuldgefühle, und das Denken im Äquivalenzmodus mit der negativen Umbewertung des Alltags schwächt sich ab. 7. Die Therapeutin fragt den Patienten während seiner Abstinenz aktiv nach Anzeichen für eine Verbesserung seines Selbstwertgefühls, seiner Konfliktfähigkeit, seiner Leistungsfähigkeit und seiner Genussfähigkeit. 8. Sie stellt ihm aber, wenn seine Motivation zur Abstinenz oberflächlich wirkt, explizit immer wieder einmal frei, seine Abstinenz »wieder aufzugeben, um doch noch einmal in Erfahrung zu bringen, wie es ihm geht, wenn er süchtig denkt, fühlt und handelt«. 9. Wenn es dem Patienten nach einer vorübergehenden Besserung ohne Grund wieder schlechter geht, vermutet die Therapeutin aktiv, dass dies durch erneutes süchtiges Denken und Handeln bedingt sein könnte. 10. Die Therapeutin arbeitet in der Entwöhnungsphase wenigstens ein Jahr lang an der dysfunktionalen Selbstorganisation des Patienten in der Gegenwart, auch wenn sie bei dem Patienten Defizite im Mentalisieren oder Defiziterfahrungen in der Kindheit feststellt. 10.12.1  Das Erfassen der persönlichen idealen Suchtszene Bei nicht-substanzgebundenen Abhängigkeitskranken schließen die künstlichen äußeren Angebote vorübergehend als Objektersatz oder Partialobjekt Lücken in der Selbstorganisation. Das süchtige Handeln verwirklicht die Sehnsüchte der Patientinnen und Patienten aber nicht in der Realität, sondern in einer Art selbsthypnotischem Spiel in der Realität. Nach dem Ende dieses »Spiels« bricht die Selbsthypnose wieder zusammen und der Patient nimmt sein Mangelgefühl wieder umso stärker wahr: »Hinterher habe ich immer ein schlechtes Gewissen gehabt und mich blöd gefühlt.« Die Therapeutin kann die therapeutische Beziehung aber transmodal gestalten (siehe Kap. 10.8) und die in dem süchtigen Handeln des Patienten versteckte Aktualisierung seines Selbst und seinen

Die persönliche ideale Suchtszene

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darin enthaltenen narzisstischen Gewinn herausarbeiten. Denn die Seele des Patienten macht nichts umsonst. Dazu lässt sie ihn im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels handlungsnah und subjektiv stimmig seine persönliche ideale Suchtszene entwickeln (siehe Fallbeispiele 108, 110 und 111): 1. Sie stellt für den Patienten zwei Stühle im Zimmer auf, einen für sein »Alltags-Ich« und einen für sein »süchtiges Ich«. 2. Sie vollzieht mit ihm das Denken, Fühlen und Handeln bei seinem süchtigen Handeln entlang dem roten Faden der Zeit Schritt für Schritt nach, um darin eine spezifische, von der Norm abweichende Handlungssequenz des Patienten zu erfassen. Bei einer Frau mit einer Essstörung kann das das hastige Essen am Kühlschrank, bei einem Mann mit Automatenspielsucht sein Bedienen des Spielautomaten sein. 3. Die Therapeutin lässt den Patienten auf den Stuhl seines »süchtigen Ichs« wechseln und fragt ihn: »Was ist bei Ihrem süchtigen Handeln, Ihrem hastigen Essen, Ihre eigentliche Sehnsucht? Wenn sich erfüllen würde, was Sie dabei eigentlich suchen, was ist das, was dann sein sollte? Und wenn das dann eintreten würde, wie würden Sie sich dann fühlen?« 4. Nach dem Grundsatz »Die Seele macht nichts umsonst« erkundet sie als Doppelgängerin gemeinsam mit dem Patienten, was er während seiner von der Norm abweichenden Handlungssequenz, zum Beispiel beim Bedienen von gleichzeitig fünf Spielautomaten, gefühlt, gedacht und getan hat, und mentalisiert mit ihm zusammen sein diesbezügliches Erleben. Sie kann den Patienten dazu sein Symptomhandeln auch psychodramatisch nachspielen lassen. 5. Sie arbeitet dabei mit ihm aber mit dem in der Therapie von Psychoseerkrankten entwickelten Doppelgängerdialog (siehe Kap. 9.6.1) seine in dem süchtigen Handeln verborgene eigentliche Sehnsucht heraus. 6. Die Therapeutin stellt dabei keine Fragen, sie macht Aussagen und spitzt bis ins Absurde hinein zu, was beim Erfüllen der eigentlichen Sehnsucht eintreten soll. Eine solche Wunscherfüllung in der Fantasie ist in ihrer allzu menschlichen Art oft ein wenig grotesk, sie dient oft der Abwehr von mit dem Selbst verbundenen Bedürfnissen oder der Kompensation von Mangelgefühlen. 7. Die Therapeutin fasst gemeinsam mit dem Patienten seine eigentliche Sehnsucht in einem symbolischen Satz zusammen, der diese Sehnsucht treffend ausdrückt. Der Patient des Fallbeispiels 110 fand für sich zum Beispiel den Satz: »Mein Wille geschehe!« Bei einer magersüchtigen Patientin könnte der Satz lauten: »Ich kann meine Gier kontrollieren! Anders als andere!« Die Therapeutin ergänzt: »Ja, Gier und Genusssucht gehörte früher zu den sieben Todsünden. Sie wollen davon rein sein!« 8. Die Therapeutin lässt den Patienten wieder auf den Stuhl seines Alltags-Ichs zurückwechseln. 9. Beide suchen nach einer Amplifikation für sein sehnsüchtiges Denken, Fühlen und Handeln bei anderen Personen oder bei Tieren, zum Beispiel: »Auch Cäsar hat schon gesagt: ›Ich kam, ich sah, ich siegte!‹«

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Suchterkrankungen

Zentraler Gedanke Durch das gemeinsame Ausmalen der im süchtigen Handeln verborgenen eigentlichen Sehnsucht wird dem Patienten die Differenz zwischen der Sehnsuchtsfantasie und der Realität erlebbar. Der Trance-Zustand im süchtigen Handeln, die Autosuggestion seines Denkens im Äquivalenzmodus, in dem sich Realität und Fantasie vermischen, löst sich auf. Die Kenntnis der eigentlichen persönlichen Sehnsucht macht es dem Patienten in der Folge schwerer, in seinem realen süchtigen Handeln weiter Befriedigung zu finden. Er erlebt bewusster, dass er mit seinem autosuggestiven Handeln sein eigentliches Ziel nicht erreicht.

Bei der Erarbeitung einer idealen Suchtszene arbeiten die Therapeutin und der Patient zusammen also den in seinem süchtigen Handeln verborgenen Bewältigungsmechanismus heraus und formulieren diesen als Bewältigungsfantasie und konkrete Utopie. Dadurch bekommt der Patient innerlich Zugang zur Aktualisierungstendenz seines Selbst. Er stellt sich schon von allein die Frage, warum diese spezielle Sehnsucht für ihn persönlich so wichtig ist. Oft erkennt er spontan einen Zusammenhang mit Defiziterfahrungen oder Traumata in seiner Kindheit. Die Therapeutin gibt einem solchen spontanen Einfall des Patienten Bedeutung, indem sie einen weiteren leeren Stuhl für sein »verlassenes Kind« oder sein »traumatisiertes Kind« neben ihm im Therapiezimmer aufstellt. Sie arbeitet mit ihm aber trotzdem weiter an seiner süchtigen Selbstorganisation in der Gegenwart und lässt ihn wegen der Gefahr der pathologischen Regression die entsprechende Kindheitsszene nicht psychodramatisch spielen. Sie ermutigt ihn stattdessen, wenigstens einer Bezugsperson seines gegenwärtigen Lebens von seiner eigentlichen Sehnsucht zu erzählen, zum Beispiel seiner Lebenspartnerin, das im Sinne eines vielleicht kindlichen, aber bei ihm eben doch vorhandenen persönlichen Bedürfnisses, einer konkreten Utopie. Der Patient soll lernen, sich in seiner eigentlichen Sehnsucht anzunehmen, über das Groteske daran zu lachen, aber die Erfüllung dieser Sehnsucht in seinem realen Leben im Kleinen trotzdem anstreben. Wenn sich seine eigentliche Sehnsucht im realen Leben nur augenblicksweise oder zu drei Prozent erfüllt, macht das den Patienten zufriedener als jedes süchtige Handeln. 10.12.2  Glücksspielsucht und Essstörungen Bei gut strukturierten Patienten mit Glücksspielsucht (ICD F63.0) kann die psychodramatische Arbeit an der unbewussten Ich-Spaltung auch ohne die Ausarbeitung der persönlichen idealen Suchtszene erfolgreich sein.

Glücksspielsucht und Essstörungen

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Fallbeispiel 107: Ein Patient mit Automatenspielsucht (F63.0), Herr S., stand finanziell und familiär vor dem Ruin, nachdem seine »abnorme Gewohnheit«, seine Spielsucht, in seiner Firma bekannt geworden war. Der Therapeut behandelte ihn ähnlich wie alkoholabhängige Patienten mit dem im Kapitel 10.6 beschriebenen Vorgehen. Herr S. lernte anhand der Symptomliste nach Jellinek, sich selbst als süchtig zu definieren, erkannte seine Ich-Spaltung durch Repräsentation seines süchtigen Ichs mit einem zweiten Stuhl und löste diese auf mit Hilfe des Rollenwechsels zwischen seinem Alltags-Ich« und seinem »süchtigen Ich«. Ab dem dritten Monat der Behandlung lebte der relativ gut strukturierte Mann abstinent und beendete die fünfundzwanzig Sitzungen umfassende Therapie nach insgesamt eineinhalb Jahren ohne Rückfall.

Bei spielsüchtigen Patienten mit strukturellen Störungen ist über die Arbeit an der unbewussten Ich-Spaltung hinaus auch die ideale Suchtszene des Betroffenen zu entwickeln. Fallbeispiel 108 (Sailer, 2000, S. 199 f.): Eine Therapeutin ließ einen Studenten mit einer Zwangssymptomatik und einer Automatenspielsucht (F42.1, F63.0) einen psychodramatischen Dialog mit einem Spielautomaten führen und wandte dabei auch den Rollentausch an. Bei dem Erfassen seiner persönlichen idealen Suchtszene erkannte der Patient, von der Therapeutin gedoppelt, »seine Selbstbeschränkung, seine Konzentration auf die Miniwelt des Automaten«. Der Patient erlebte seine »Miniwelt als wohltuend in Ordnung, hier stellt niemand Forderungen an ihn. Die Scheiben drehen sich, er kann durch Tastendruck eingreifen, er muss es aber nicht. Es läuft auch so.« Keiner bestimmte über ihn. Er wünschte sich: Der Automat soll für ihn da sein, ihn akzeptieren und bestätigen, »ohne dass er Leistung dafür bringen muss […]. In der folgenden Zeit wurde es für ihn immer deutlicher, dass sein Drang, an Automaten zu spielen, immer dann am stärksten wurde, wenn sein Wunsch nach Nähe, Zuwendung und Angenommensein in greifbare Nähe rückte«, zum Beispiel dadurch, dass ein ihm begehrenswert erscheinendes Mädchen auf ihn zuging. Diese Erkenntnis »löste eine weitere Entwicklung aus. Sein zwingendes Bedürfnis, den Automatensalon aufzusuchen, ließ langsam nach, als er sich der Ersatzfunktion des Automatenspiels bewusst wurde und diese […] einem Zulassen der bestehenden Bedürfnisse und Wünsche Platz machte.« Die Autorin betonte, dass der Patient in der erfolgreichen Gruppentherapie psychodramatisch hauptsächlich an der Bewältigung seiner Probleme in der Gegenwart gearbeitet hatte und nicht an den Konflikten in seiner Kindheit.

In der Behandlung von Essstörungen (F50.-) und anderen Süchten, zum Beispiel Arbeitssucht, ist das im Kapitel 10.6 beschriebene Therapiemodell mit der

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Arbeit an der unbewussten Ich-Spaltung bisher noch wenig erprobt, obwohl sich das aus vielen Gründen anbietet, zum Beispiel wegen der Schuldgefühle der Betroffenen, der Geheimhaltung des süchtigen Handelns, den Ausreden, dem Kontrollverlust, den Pausen im süchtigen Handeln und anderem. Fallbeispiel 105 (Fortsetzung von Kap. 10.11) (Hintermeier, 2013, S. 113 f.): Die heroinsüchtige, methadonsubstituierte Patientin des Fallbeispiels 105 hatte durch die störungsspezfische Arbeit an ihrer Ich-Spaltung mit der Zwei-Stühle-Technik schon den Beikonsum von Heroin beenden können. Später wandte die Therapeutin die ZweiStühle-Technik noch ein zweites Mal an, um auch die Essstörung und Adipositas der Patientin zu behandeln: »Nach Beendigung der Prostitution und mit der Substitution war sie […] wieder in esssüchtiges Verhalten verfallen.« Eines Tages wiederholte die Patientin »den Wunsch, ihr massives Übergewicht zu reduzieren«. Die Therapeutin ließ »sie nun auch in Bezug auf Essen/Dicksein ihre ›zwei Seelen in ihrer Brust‹ […] darstellen: Die Seele, die ›immer dicker werden will‹, stellte sie mit folgenden Anteilen dar: ›Schutz brauchen‹ […] und als Schutz, um als Frau nicht begehrt zu werden. Die Seele, die ›dünner werden möchte‹, stattete sie folgendermaßen aus: ›Wunsch, sich körperlich wohler zu fühlen‹ […], Sorge um ihre Gesundheit.« Der Therapeutin erschien der esssüchtige Ich-Zustand der Patientin »zu diesem Zeitpunkt noch sehr ›gewichtig‹. Dennoch war innerlich eine erste Problemdefinition in Bezug auf ihre Esssucht hergestellt.« Die Therapeutin schrieb in ihrem wissenschaftlichen Artikel: »Bevor ich das für möglich gehalten hätte, erzählte Sophie nach weiteren Monaten, dass sie begonnen hatte, weniger zu essen und Sport zu machen. Offenbar hatte die Zusammenführung der beiden Identitäten eine Annahme der desintegrierten, süchtigen Rolle […] ermöglicht und dies ihre Veränderungsmöglichkeit gestärkt.«

10.12.3  Sexsucht und Pornosucht Sexsucht und Pornosucht sind als solche noch nicht in die internationalen Diagnoseschemata aufgenommen worden und werden bisher unter den Diagnosen »gesteigertes sexuelles Verlangen« (F52.7), »Störungen der Impulskontrolle« (F63.-) oder »Störungen der Sexualpräferenz« (F65.-) erfasst. Auch bei diesen Patienten führt die Suchtentwicklung zur Ich-Spaltung. Diese kann am Ende zur Aufrechterhaltung der Selbstkohärenz absolut erforderlich sein. Fallbeispiel 109 (Krüger, 2004b, S. 171 f., verändert): Ein 24-jähriger Student, Herr T., kommt akut psychotisch in die psychiatrische Sprechstunde. Im Erstgespräch stellt sich heraus: Der Patient hatte zwei Tage zuvor im Hörsaal gesessen und vor sich hin geträumt. Da hatte eine Mitstudentin ihn angesprochen: »Nullhundertneunzig,

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nullhundertneunzig …« So fangen die Telefonnummern von Sex-Hotlines an. Die Anmache der Kollegin wäre normalerweise ein Spaß gewesen. Der junge Mann hatte aber neben seinem Alltagsleben, in dem er schon vier Jahre lang eine Partnerschaft mit einem netten, etwas jüngeren Mädchen führte, heimlich immer wieder Prostituierte aufgesucht und zusätzlich Tausende von Mark mit 0190-Sexnummern vertelefoniert. Er hatte dadurch auch Schulden. Als die Mitstudentin ihm gegenüber jetzt ausgerechnet diese Telefonnummern nannte, fühlte Herr T. sich entdeckt. Als eigentlich rechtschaffener junger Mann fuhr er auf dem schnellsten Weg nach Hause zu seiner Freundin und berichtete ihr alles. Das aber ließ die Wand zwischen seinen beiden konträren inneren Welten jetzt völlig einstürzen. Er geriet innerlich in ein Chaos von Schuld, Scham und triebhaftem Begehren und dekompensierte psychotisch. In der darauffolgenden Therapie definierte Herr T. sein Handeln in der geheimen Nebenwelt von sich aus als »Sex-Sucht«. Er fand für sich die Lösung, im sexuellen Bereich nur noch solche Dinge zu tun, die er im Zweifel auch in seinem sozialen Umfeld nach außen vertreten könnte. Am Ende der einjährigen Behandlung war er medikamentenfrei und gesund. In den nächsten zwanzig Jahren ist er nicht wieder psychotisch dekompensiert.

Es ist für eine Therapeutin oder einen Therapeuten oft schwierig, sich auf Themen wie Sexsucht und Pornosucht einzulassen, weil diese in der Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern schnell zu aversiven Reaktionen führen. Beim Agieren dieser Suchthandlungen spalten die Patienten den Sex von der Beziehung ab, agieren narzisstisch funktional und handeln meistens destruktiv oder/und selbstdestruktiv. Zentraler Gedanke Es gelingt der Therapeutin leichter, eine transmodale therapeutische Haltung einzunehmen,, wenn sie psychodramatische Handlungsmöglichkeiten kennt, mit denen sie einen störungsspezfischen Zugang zu der Ich-Spaltung des Patienten bekommt und neben dem Suchtkranken außen als Stuhl repräsentiert auch den gesund erwachsendenkenden Mann vor sich sieht.

Die Therapeutin macht dem Patienten auch hier wieder mit der Zwei-StühleTechnik seine innere Ich-Spaltung konkret außen im Therapiezimmer erlebbar. Durch die Repräsentation seines »süchtiges Ichs« als Stuhl gelangt der Patient äußerlich in die Metaposition zu seinem süchtigen Handeln, gewinnt dazu mehr Distanz und agiert weniger im Äquivalenzmodus süchtig. Die destruktive oder ausbeuterische Beziehungsgestaltung seines süchtigen Handelns aktualisiert sich dann weniger leicht in der therapeutischen Beziehung.

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Fallbeispiel 110: Der 29-jährige Herr U. kam wegen depressiver Verstimmungen und Partnerschaftsproblemen in die psychotherapeutische Behandlung. Der junge Mann wirkte äußerlich wie ein idealer Schwiegersohn. Er erzählte aber voller Scham, dass er ein halbes Jahr nach Beginn der Beziehung zu seiner Freundin begonnen hatte, zu Prostituierten zu gehen. Vor drei Monaten hatte er das seiner Freundin gestanden und lebte seitdem angeblich abstinent. Tatsächlich sprachen bei Herrn U. die folgenden Indizien für eine Sucht: Er litt unter einem unbezwingbaren Verlangen: »Ich habe mir oft vorgenommen, nicht zu Prostituierten zu gehen. Ich wollte damit aufhören, wollte willensstark sein. Ich habe aber gemerkt, das gelingt mir nicht.« Er steigerte die Zahl seiner Besuche. Er schädigte damit sich und andere: »Wenn ich wieder unterwegs gewesen war, habe ich hinterher meine Freundin entwertet und ihr zum Beispiel gesagt, dass sie ein zu breites Becken hat. Ich habe mich distanziert verhalten und zweifelte daran, dass sie die richtige Frau für mich ist.« In der 6. Therapiesitzung klagte Herr. U.: »Ich fühle mich schlecht, ich bin so unsicher. Ich weiß zurzeit nicht, wer ich bin.« Der Therapeut stellte zwei Stühle auf für seine beiden Welten, die »Alltagswelt« und »seine früher gelebte Sexwelt«. Therapeut: »Solange die beiden Welten voneinander nichts wussten, fühlten Sie sich stärker?« Herr U.: »Ja, auch jetzt habe ich noch Fantasien, ich sehe auf der Straße Frauen hinterher und stelle mir vor, wie sie ausgezogen aussehen.« Therapeut: »Setzen Sie sich doch bitte hier auf den Stuhl für Ihr süchtiges Handeln und zeigen Sie einmal im Spiel, wonach Sie sich bei der Begegnung mit einer Frau auf der Straße eigentlich sehnen?« Der Therapeut stellte ihm gegenüber einen Stuhl für »die Frau« hin und fragte: »Und wenn sich Ihre eigentliche Sehnsucht erfüllen würde?« Herr U.: »Dann bin ich für die Frau das Ein und Alles, die ist mir verfallen!« In der Wunschfantasie imagnierte Herr U., dass er die Frau auszieht: »Die will mich. Wir treiben es miteinander.« Therapeut: »Wie geht es dann weiter?« Herr U. war völlig verblüfft: »Das ist es dann doch! Mehr ist nicht! Ich ziehe mich an und gehe. Mein Ego ist gestärkt.« In der Nachbesprechung bezeichnete Herr U. sich selbst in seiner Sexwelt als einen »Jäger«. In der 8. Sitzung berichtete Herrn U., dass er sich am Vortag von seiner langjährigen Freundin getrennt hatte. Wie nebenbei erzählte er am Ende der Sitzung: »Ich bin jetzt eine Woche lang im Internet jeden Tag 2–3 Stunden auf die Prostituiertenseiten gegangen. Hinterher habe ich mich dann wieder über meine Freundin geärgert: Das reicht mir mit der nicht beim Sex!« Die Trennung von der Freundin war also fünf Tage nach dem Rückfall erfolgt! Der Therapeut wies den Patienten auf diesen zeitlichen Zusammenhang hin: »Sie sind also trotz Ihres Vorsatzes, abstinent zu leben, rückfällig geworden und haben sich als Folge davon von Ihrer Freundin getrennt.« In der 9. Sitzung wollte Herr U., er lebte seit einer Woche wieder abstinent, »über seine »Sexsucht reden«. Der Therapeut ließ ihn seinen Rückfall

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noch einmal schildern und arbeitete mit ihm seine persönliche ideale Suchtszene weiter aus. Herr U.: »Wenn ich die Prostituiertenseiten ansehe, komme ich davon nicht los. Ich habe nach Neuzugängen gesucht, nach schönen Bildern, und in den Beschreibungen nachgelesen, ob es sich vielleicht lohnen würde, da hinzugehen.« Therapeut: »Eigentlich müssten Sie einen Harem haben mit 40–80 Haremsdamen.« Herr U.: »Ja, mindestens. Sonst würde es ja langweilig.« Der Therapeut forderte den Patienten auf, sich auf den Stuhl seiner »Sexwelt« zu setzen: »Sie haben die Prostituierten immer gewechselt?« Herr U. erzählte, dass er in den letzten Jahren insgesamt etwa 45 Frauen besucht hätte, nur bei zweien von ihnen sei er ein zweites Mal gewesen, weil er »nichts Besseres gefunden« habe. Der Therapeut: »Je mehr verschiedene Frauen, desto besser war es für Sie?« Herr U.: »Ja, immer etwas Neues. Das löst dann einen Nervenkitzel aus. Ich weiß, dass sie Theater spielen, aber das blende ich dann aus.« Therapeut: »Sie erobern die Frauen. Die sind Ihnen verfallen. Sie haben die Macht und bestimmen alles, ganz nach dem Spruch: ›Ich kam, ich sah, ich siegte.‹ Es gelang Ihnen leichter, die Realität auszublenden, wenn Sie die Frauen wechselten!« Herr U.: »Wenn ich jetzt in die Straße komme, wo der Wagen steht, ist die Gegend für mich versaut!« Therapeut: »Wahrscheinlich sind Sie im Alltag fantasiearm und wenig spontan!« Herr U.: »Ja, das stimmt. Ich plane innerlich immer alles. Es ist wichtig, dass nichts meinen Plan durcheinanderbringt.« Therapeut: »Vielleicht wäre es für Sie besser, wenn Sie auch in Ihrem Alltag einmal versuchen, etwas Verrücktes zu tun!« In der 10. Sitzung überlegten der Patient und der Therapeut zusammen anhand der Jellinek’schen Fragen für Alkoholabhängige (siehe Kap. 10.4), ob Herr U. sich als »süchtig« ansehen müsste. Sie einigten sich, dass der Patient die folgenden Fragen mit »Ja« zu beantworten hatte: Frage 2: Sein süchtiges Handeln erfolgte heimlich. 3: Er dachte oft daran. 5: Er hatte Schuldgefühle wegen seines süchtigen Handelns. 6: Er vermied Gespräche darüber. 7: Wegen seines unwiderstehlichen Verlangens hielt er seine Vorsätze, nicht wieder zu Prostituierten zu gehen, nicht ein und verlor also die Kontrolle über sich. 8: Er benutzte Ausreden: »Das Leben ist langweilig.« »Meine Freundin hat ein zu breites Becken.« 9: Er verhielt sich seiner Freundin und anderen gegenüber aggressiv. 11: Er machte bewusst Pausen in seinem süchtigen Handeln. 15: Er litt an Interessenverlust, ging nicht mehr zum Sport usw. 16: Er hatte übertriebenes Selbstmitleid. Herr U. musste also zehn der Fragen mit »Ja« beantworten, fünf hätten ausgereicht, um eine Abhängigkeitserkrankung zu vermuten. In der 12. Sitzung war der Patient seit drei Wochen abstinent. Herr U.: »Ich habe wieder mit Sport angefangen. Alle haben sich gefreut, mich wiederzusehen.« Therapeut: »Sie merken in der Abstinenz jetzt mehr Ihre Bedürftigkeit.« Herr U.: »Ich bin jetzt viel offener. Bei der Arbeit kommen die Leute auf mich zu. Ich habe Spaß, andere Menschen zu treffen. Früher war ich mehr mit mir allein. Nach der letzten

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Sitzung war ich drei Tage traurig. Ich habe mich nach dem Frühling gesehnt. Gestern war ein besonders schöner Tag. Ich habe die Sonne gesehen, die kleinen Blumen, die überall herauskommen.« Therapeut: »Ihr Denken ist nicht mehr eingeengt, Sie nehmen die Welt wieder differenzierter wahr, weil Sie weniger Scham- und Schuldgefühle haben.« Es folgte ein Gespräch über den Beginn seiner Sexsucht. Herr U. hatte seine Partnerin das erste Mal belogen, als sie mit ihm zusammenziehen wollte: »Ich hätte an Ulrike Macht und Kontrolle abgeben müssen.« Der Therapeut empfahl Herrn U., sich zu Hause zwei Symbole hinzustellen, eines für seine Bedürftigkeit und ein zweites für seine Identität als Eroberer, und diese öfter anzuschauen und über seine beiden konträren Seiten nachzudenken.

Auch das Sehen von Pornos kann zur krankheitswertigen Sucht werden. Gerade bei Patienten mit schon vorher bestehenden Defiziten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung verstärkt sich dadurch ihre Krankheitssymptomatik. Fallbeispiel 111: Herr V. hatte sich »maßlos geschämt und war nur noch im Abseits gestanden«, nachdem sein schwuler Partner entdeckte, dass er Pornos sah. Er dekompensierte in eine schwere depressive Episode mit Suizidalität (F32.2) und wurde lange stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt. In der folgenden ambulanten Einzeltherapie arbeiteten der Patient und der Therapeut in der 20. Therapiesitzung anhand der Jellinek’schen Fragen heraus, dass der Patient sich als »süchtig« verstehen müsste. Er kreuzte zehn Fragen mit »Ja« an, die Fragen 2, 3, 5, 6, 7, 10, 11, 14, 16 und 20 (siehe Abb. 23). Herr V. fühlte sich im Alltag ausgeschlossen von den Menschen und empfand sich als »ausgesprochen hässlich«: »Wenn ich mich im Schaufenster sehe, denke ich: ›Oh Gott, wer ist das! Ein Fleischklops!‹« Die persönliche ideale Suchtszene machte die kompensatorische Funktion seiner Pornosucht deutlich. Zur Entwicklung dieser Szene ließ der Therapeut ihn von dem Stuhl seines gesunden Erwachsenendenkens auf den des »Pornosehers« wechseln und dort sein Erleben während seines süchtigen Handelns schildern. Herr V.: »Ich trete aus meinem Körper heraus und bin Voyeur. Ich sehe dabei zu, wie zwei dominante, kräftig gebaute Kerle zur Sache gehen, ohne Zärtlichkeiten. Hinterher gehen sie einfach wieder auseinander. Die Männer sind keine Sensibelchen, keine Zicken. Sie sind auf keinen Fall ein Ebenbild von mir. Sie dürfen mich nicht an mich selbst erinnern!« Der Patient konnte in seinem PC das Handeln der kräftigen Kerle einfach stoppen, sie mit ihren Sexhandlungen wieder beginnen lassen oder, wenn sie ihm nicht gefielen, sie auswechseln und andere Filme ansehen. Er fühlte sich dadurch eigenbestimmt, mächtig und selbstwirksam: »Keiner sagt ›du bist hier nicht erwünscht‹ oder bestimmt, was ich tun soll!« In der ein Jahr lang dauernden Entwöhnungsphase arbeitete der Therapeut mit dem Patienten immer wieder gezielt die Differenz zwischen seinem Befinden in absti-

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nenten Zeiten und den Zeiten seines süchtigen Handelns heraus: Herr V. hatte nach acht Wochen Abstinenz von seiner Pornosucht eine Woche Urlaub und berichtete anschließend: »Es ging mir nicht so gut. Aber morgen gehe ich wieder zur Arbeit. Das ist komisch: Ich freue mich schon darauf. Ich habe richtig Lust zu powern – und ich habe keine Pornos gesehen! Wenn die Idee kam, habe ich sie von mir aus einfach verneint.« Vierzehn Tage später konnte Herr C. seit langer Zeit zum ersten Mal seinen Chef in einer Teamsitzung offen etwas fragen. Der Therapeut bestätigte aktiv die positive Veränderung des Patienten bei Abstinenz: »Sie haben sich dieses Mal vor der Teamsitzung nicht krankschreiben lassen wie die beiden letzten Male. Vermutlich lag das auch daran, dass Sie jetzt acht Wochen keine Pornos mehr gesehen haben. Dadurch haben Sie weniger Selbstzweifel, entwerten sich selbst weniger und denken auch nicht mehr daran, sich das Leben zu nehmen. Ihr besseres Selbstwertgefühl hat Ihnen jetzt geholfen, Ihren Chef direkt anzusprechen und ihn um Informationen zu bitten.« Zwei Wochen später berichtete Herr V. gleich am Anfang der Sitzung von einem Rückfall: »Ich habe wieder einen Porno gesehen. Ich hatte frei und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe, als ich zu Hause war, gedacht: ›Früher hättest du dann, wenn du frei hast, Pornos geguckt, aber das machst du ja jetzt nicht mehr! – Eine Stunde später habe ich das dann getan.« Dieser Bericht zeigt das Groteske der IchSpaltung und des süchtigen Mentalisierens. In der Phase der Selbsthypnose werden kognitive Verneinungen gar nicht als solche wahrgenommen, nur die im Denken enthaltenen emotionalen Botschaften zählen. Herr V. hatte schon am Tag vor dem Rückfall begonnen, süchtig zu mentalisieren: Er hatte seinem Lebenspartner ohne jeden Grund Vorwürfe gemacht. Auch hatte er sich in dem Dauerkonflikt mit einer schwierigen Mitarbeiterin masochistisch ein Katastrophenszenario ausgemalt: »Am Ende war ich überzeugt, dass die mich vor unserem Chef so schlecht gemacht hat, dass ich schon wusste, was der zu mir sagen wird, wenn ich wieder bei der Arbeit bin.« Der Therapeut forderte Herrn V. auf, sich auf den Stuhl seines »süchtigen Ichs« zu setzen: »Spüren Sie dort bitte in sich hinein und sprechen Sie im Selbstgespräch aus, was Sie gestern über Ihren Partner negativ gedacht haben!« Herr V. wirkte auf dem »süchtigen« Stuhl entnervt: »Wieso merkt Volker denn nicht, dass ich Pornos gesehen habe? Wieso ist der immer noch lieb und nett zu mir! Wenn der so lieb ist, bietet er mir gar keine Angriffsfläche! Wieso lässt der Idiot so etwas eigentlich mit sich machen!« Der Therapeut ließ den Patienten wieder auf den Stuhl seines Alltags-Ichs zurückwechseln und meinte: »Zu Ihrem süchtigen Denken gehört offenbar, dass sie innerlich Streit mit Ihrem Partner suchen.« Herr V.: »Als es mir letzte Woche bei der Arbeit gut ging, war ich stolz auf mich. Der Nebel in mir hatte sich gelichtet. Ich habe gemerkt, dass ich arbeitstechnisch ganz auf der Höhe bin. Ich fühlte mich überhaupt nicht unsicher. Die zickige Mitarbeiterin hatte keine Chance. Dagegen denke ich jetzt:

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›Wenn ich so ein Depp bin, will mich bestimmt keiner haben!‹« Therapeut: »Sie sind also rückfällig geworden, als es Ihnen besonders gut ging! Vielleicht können Sie ja, wenn Sie wieder eine Zeit lang abstinent gelebt haben und es Ihnen dann gut geht, versuchen, das Wohlergehen einfach einmal einige Stunden länger zuzulassen! Ich glaube, Sie kennen sich mit dem Gutgehen nicht aus. Sie sind dabei so etwas wie ein Erstklässler in der Schule, der gerade das Lesen und Schreiben lernt!« Herr V.: »Das mit den Stühlen ist faszinierend. Dass ich das auf dem anderen Stuhl in mir wirklich so lebendig machen kann, wie ich meinen Partner schlecht mache, und dass ich dann wirklich glaube, bei der Arbeit keine Chance zu haben! Das müssen Sie mir noch einmal verraten, wie das mit den Stühlen geht!«

10.12.4 Internetspielsucht Internetspielsucht wird in den Diagnoseschemata der ICD-10 bisher nur mit dem allgemeinen Begriff »Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« (F63.-) erfasst. Computerspielsucht ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie kommerzielle Anbieter die Defizite der Persönlichkeitsorganisation von Menschen gezielt ausnutzen und sie weiter schädigen, um Profit zu machen. Fallbeispiel 112: Ein 27-jähriger Zimmermann, Herr W., wuchs als Kind in einer Familie auf, die unter anderem an der Alkoholkrankheit seiner Mutter zerbrochen war. In der Schule hatte der eigentlich intelligente Patient massive neurotische Lernstörungen gehabt. Jetzt lebte er mit seiner Ehefrau und zwei Kindern zum Teil von Sozialhilfe. Er kam wegen rezidivierender depressiver Episoden, Schmerzmittelsucht und chronisch rezidivierenden Partnerschaftskonflikten bei Borderline-Persönlichkeitsstörung (F33.1, F55.2, F60.31) in die Therapie. Nach einem Jahr Behandlung thematisierte der inzwischen schmerzmittelfrei lebende Patient erneut seine Partnerschaftsprobleme: »Die Beziehung ist im Augenblick sehr wackelig. Meine Frau meint, mein Aggressionspegel ist noch genauso hoch wie vor Beginn meiner Therapie.« Erst jetzt erinnerte sich der Therapeut, dass Herr W. einmal erzählt hatte, er habe früher 5–6 Stunden täglich am PC gespielt, und dass es darüber mit seiner Frau immer Streit gegeben hatte. Er fragte Herrn W., wie er heute damit umginge. Es entwickelte sich eine Behandlung der Internetspielsucht des Patienten (F63.-). Dabei erfuhr und lernte der Therapeut: Herr W. spielte nachts 2–3 Stunden am PC. Bei dem Spiel ging es darum, eine Bombe zu legen. Andere müssen die Bombe entschärfen, »bevor die hochgeht«. Für den Abschuss eines Menschen gibt es 15 Punkte. Wenn man selbst die Bombe gelegt hat, erhält man die meisten Punkte. Wenn man sie entschärft, etwas weniger. Herr W.: »Das Spiel soll jetzt nach dem Amoklauf auf den Index gesetzt werden.« In dem Spiel gibt es zehn verschiedene Ränge. Man braucht 5000 Punkte, um einen Rang höher

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zu kommen: »Jeder versucht, den obersten Rang zu erreichen. Ich strebe Rang fünf an.« Wer einmal das Spiel durchspiele, bekomme 500 Punkte. Weitere 500 Punkte zu bekommen, »ist sehr kniffelig«. Herr W. hatte das bisher nur ein Mal geschafft. Die erreichte Punktzahl des Spielers wird im Internet für alle anderen sichtbar unter dem Namen des Spielers angegeben: »Jeder kann den Namen sehen und denkt dann: Oh, der ist ziemlich gut!« Es gibt eine Weltrangliste, in der die Spieler in der Reihenfolge der erreichten Spielpunkte aufgeführt sind. Herr D. stand in der Weltrangliste auf Platz 1 243. Er meinte: »Ein Freund von mir hat 185 000 Punkte.« Im Internet werden an einer Stelle die Namen aller Spieler aufgeführt, die gerade online sind: »Manchmal ist ein Name morgens online und abends auch noch. Dann rückt der in der Weltrangliste nach vorn.« Jeder Spieler muss sich, um online gehen zu können, für die Spielkonsole für 40 Euro monatlich einen Goldchip kaufen. Herr W. hatte die erste »Goldkarte« von Microsoft bekommen, »ohne etwas dafür zu bezahlen«. Wenn ein Spieler seine Spielkarte bezahlt hat, ist im Internet neben seinem Namen eine Karte in goldener Farbe zu sehen. Wenn einem das Geld dazu fehlte, wechselt diese Anzeige von golden auf silbern: »Alle können sehen, dass man nicht bezahlt hat.« Die Konkurrenten und Mitspieler werden »Freunde« genannt. Als Herr W. im Rahmen seiner Internetabhängigkeit einen ersten Abstinenzversuch machte, sah er im Internet: »Acht Freunde haben mich schon gelöscht.« Bei seinem ersten Abstinenzversuch im Rahmen der Behandlung merkte Herr W.: »Zuerst habe ich mich total leer gefühlt und war zappelig. Ich brauchte das irgendwie. Seit gestern ist das weg. Jetzt ist es schön, mit meinem kleinen Sohn zu spielen.« Herr W. vergötterte seinen zweijährigen Sohn: »Der ist hochintelligent, ich würde alles für ihn tun!« Andererseits hatte Herr W. aber die Erfahrung gemacht: »Ich kann die Spielkonsole zwar ausmachen, wenn mein Sohn mit mir spielen will. Ich denke dann aber ständig an das Spielen und, wie ich das Problem vielleicht doch lösen könnte, was da gerade angefallen ist. Wenn mir etwas einfällt, gehe ich zwischendurch an den PC und prüfe, ob die Lösung klappt. Mein Sohn kommt dann sofort und will auch mitspielen! Ich muss mich ihm zuwenden und ärgere mich über ihn. Jetzt, wo ich nicht mehr an den PC gehe, spielt mein Sohn sogar auch viel lieber allein! Er merkt, dass ich nicht mehr so kribbelig bin und ständig nach Lösungen für das Spiel suche!« Herr W. hatte durch sein süchtiges Denken und Handeln das Interesse an anderen Dingen verloren und sich sozial zurückgezogen: »Ich hasse es, irgendwo feste Termine zu haben. Deshalb verabrede ich mich auch nicht mehr mit Freunden. Als ich im Dezember meine Spielkonsole zur Reparatur bringen musste, da war drei Wochen Pause.« Therapeut: »War da etwas anders?« Herr W.: »Ich bin dann menschlicher, kümmere mich um meine Familie, bin umgänglicher, es geht mir persönlich besser. Ich war damals total glücklich, dass die Konsole kaputt war. Das ist voll der Zwang!« Therapeut: »Das hört sich an wie eine Sucht. Sie hören mit dem Spielen

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nicht auf, obwohl dadurch schon die Beziehung zu ihrem Sohn und zu Ihrer Frau leidet!« Herr W. stimmte dem zu: »Ich habe meiner Frau vor vier Wochen versprochen, keine neue Goldkarte für die Spielkonsole mehr zu kaufen. Ich habe mich danach richtig befreit gefühlt, das war total schön. Versprechen halte ich auch. Ich brauche mir jetzt auch keinen Kopf mehr darum machen, wie ich das Geld für die Goldkarte zusammenkriege. Das kreist sonst dauernd in meinem Kopf herum. Ich merke, ich kann es nicht lassen.« Übung 24 Bevor Sie als Leserin oder Leser weiterlesen, probieren Sie doch bitte einmal, festzulegen, welche der 30 Jellinek’schen Fragen (siehe Kap. 10.4 und Abb. 23) der Patient des Fallbeispiels hätte mit »Ja« beantworten müssen.

Sie merken dabei wahrscheinlich, dass bei ihm die folgenden Suchtsymptome zu finden waren: Frage 2: Herr W. spielte nachts, er spielte also heimlich vor seiner Ehefrau. 3: Er dachte häufig ans Spielen, auch dann, wenn er mit anderen Sachen beschäftigt war. 5: Er hatte Schuldgefühle gegenüber seinem Sohn und seiner Ehefrau. 6: Er vermied, in Gesprächen über sein PC-Spielen zu reden, so zum Beispiel auch in der therapeutischen Beziehung. 7: Er nahm sich vor, nur bis 22 Uhr zu spielen, dachte dann aber: »Ach, noch eines!« und spielte weiter. 8: Er gebrauchte Ausreden, um sich das Spielen zu erlauben. 9: Er zeigte ein aggressives Benehmen gegenüber seiner Umwelt. 11: Er hatte schon Spielpausen gemacht und zum Beispiel einmal bewusst zwei Tage lang nicht gespielt. 12: Er überlegte ernsthaft, in seinen PC vielleicht eine Kindersicherung einzubauen, die ihm selbst verbietet, zu bestimmten Zeiten zu spielen. 15: Er merkte, dass er das Interesse an anderen Dingen verloren hatte und dass, wenn die Spielkonsole in der Reparaturwerkstatt war, er wieder Spaß am Familienleben und an Freundschaften hatte. Der Patient hätte also zehn Fragen mit »Ja« beantworten müssen. Schon bei fünf mit »Ja« beantworteten Fragen ist es aber sehr wahrscheinlich, dass der Betroffene an einer Abhängigkeitserkrankung leidet.

10.13 Kodependenz und sekundäre Traumatisierung von Bezugspersonen Wichtige Definition Ein Patient mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung (F60.7) ist nicht kodependent. Denn Kodependenz setzt definitionsgemäß voraus, dass die Krankheitssymptomatik des Patienten durch die Suchterkrankung einer nahen Bezugsperson mitbedingt ist.

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Personen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung »verlassen sich bei kleineren oder größeren Lebensentscheidungen passiv auf andere Menschen. Die Störung ist ferner durch große Trennungsangst, Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz, durch eine Neigung, sich den Wünschen älterer und anderer unterzuordnen sowie durch ein Versagen gegenüber den Anforderungen des täglichen Lebens gekennzeichnet. […] Bei Schwierigkeiten besteht die Tendenz, die Verantwortung anderen zuzuschieben« (ICD-10, S. 200). Die Therapie eines Patienten mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung folgt dem in den Kapiteln 4.5, 4.7, 4.8, 4.10 und 4.12 beschriebenen Vorgehen. Ein kodependenter Patient lässt sich in das Agieren seiner süchtigen Bezugsperson konkordant oder komplementär mit hineinziehen, zum Beispiel in das seiner suchtkranken Ehefrau, und passt sich an ihre Verleugnungsmechanismen an, indem er die ihm von ihr zugewiesene Rolle und ihre Erklärungsmuster übernimmt. Aus eigener Scham versucht er, vor anderen Menschen das süchtige Handeln seiner suchtkranken Ehefrau bzw. seines suchtkranken Vaters oder abhängigkeitskranken Kindes zu verbergen. Er benutzt Ausreden, um zu erklären, warum seine Ehefrau nicht zu der Weihnachtsfeier gekommen ist oder warum diese früher gehen musste. Er entschuldigt sie mit Lügen bei ihrem Arbeitgeber und mit Schutzbehauptungen vor den eigenen Kindern. Das macht es der suchtkranken Bezugsperson leichter, ihren Suchtmittelkonsum vor sich selbst weiter zu verharmlosen. Solange ihr kodependenter Ehemann versucht, den Suchtmittelkonsum seiner Ehefrau nach außen zu verheimlichen, fühlt diese sich bestätigt in ihrer Annahme: »So schlimm ist es ja gar nicht.« Ein kodependenter Patient verführt die Therapeutin leicht, nur darüber zu reden, wie er seiner alkoholkranken Frau noch besser helfen kann. Wenn die Therapeutin darauf eingeht, unterwirft sie sich aber den Erwartungen des Kodependenten ganz ähnlich, wie der Kodependente sich den Erwartungen seiner suchtkranken Ehefrau fügt. Zentraler Gedanke Die Voraussetzung dafür, dass ein Ehemann seiner suchtkranken Frau helfen kann, ist, dass er selbst kapituliert vor dem Anspruch, ihr helfen zu können. Auch für ihn gilt der Satz: Der Alkohol ist mächtiger als ich!

Die Auflösung einer Kodependenz gelingt therapeutisch durch die folgenden Schritte: 1. Die Therapeutin erklärt dem kodependenten Patienten, was Alkoholkrankheit ist. Sie lässt ihn stellvertretend für seine süchtige Ehefrau den Fragebogen mit den Jellinek’schen Fragen ausfüllen und fordert ihn auf, sich im Internet über Alkoholabhängigkeit zu informieren. 2. Der kodependente Patient

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entscheidet sich aufgrund seines so erworbenen Sachwissens, ob er selbst seine Frau als alkoholkrank ansehen will oder nicht, er macht sich dabei nicht mehr von ihr abhängig. 3. Er beteiligt sich als Angehöriger nicht mehr an dem Verheimlichen und den Ausreden seiner suchtkranken Partnerin, sondern redet mit ausgesuchten Freunden und Verwandten aktiv über seine Probleme mit seiner Frau. Auf diese Weise befreit er sich aus seiner spiegelbildlichen Anpassung an ihr süchtiges Denken. Fallbeispiel 113: Eine 40-jährige Frau, Frau X., suchte einen Therapeuten auf mit der Frage, wie sie ihrem Ehemann helfen könne: »Der trinkt zu viel. Ich glaube, dass er alkoholkrank ist.« Therapeut: »Ich empfehle Ihnen, selbst in eine Selbsthilfegruppe zu gehen und das Ihrem Mann offen zu erzählen. Der wird das nicht gut vertragen, das wird ihn stören!« Die Patientin besuchte daraufhin eine Blaukreuzlergruppe. Nach sechs Wochen aber versprach Ihr Mann ihr, mit dem Trinken aufzuhören, wenn sie nicht mehr zu der Gruppe ginge. Als die Patientin sich seinem Wunsch fügte, hielt er sein Versprechen zunächst ein, fing aber nach vier Wochen Abstinenz mit dem Trinken wieder an.

Suchtkranke Menschen können ihre Angehörigen durch ihre »zwei Seelen in der Brust« und ihr Agieren auch sekundär traumatisieren. Sie verletzen sie seelisch und eventuell auch körperlich. Die Bezugspersonen können sich aber aus verschiedenen Gründen oft nicht von dem Kranken trennen, fühlen sich ihm ohnmächtig und hilflos ausgeliefert und sitzen gleichsam in der Falle. Sie können nicht kämpfen und nicht fliehen. Angehörige von Suchtkranken entwickeln in einer solchen Beziehung nicht selten ein Erschöpfungssyndrom, eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsstörung. In einem solchen Fall stellt sich auch bei der Bezugsperson eine Ich-Spaltung ein. Wenn ein inzwischen erwachsener Patient durch seinen alkoholkranken Vater in der Kindheit ein Beziehungstrauma erlitten hat, lässt die Therapeutin den inzwischen erwachsenen Patienten im fiktiven psychodramatischen Dialog mit seinem »Vater« für sich selbst zwei Stühle aufstellen, einen für den »Karl, der seinen Vater hasst«, und einen für den anderen »Karl, der mit seinem Vater Mitleid hat«. Im Spiel wechselt der Protagonist in der Auseinandersetzung mit seinem Vater immer dann auf den anderen Stuhl seiner gespaltenen Selbstrepräsentanz, wenn er innerlich gerade wieder Hass auf den Vater empfindet statt Mitleid oder wieder Mitleid statt Hass. Manchmal lassen Therapeuten einen sekundär traumatisierten Patienten im psychodramatischen Dialog mit seiner suchtkranken Bezugsperson für die abhängigkeitskranke Bezugsperson zwei Stühle aufstellen, einen Stuhl für den »guten Vater« und einen Stuhl für den »süchtigen Vater«. Diese Idee ist zwar bei

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Informationsabenden hilfreich, um Angehörige didaktisch über die seelischen Folgen einer Abhängigkeitskrankheit aufzuklären. Der sekundär traumatisierte, kodependente Betroffene ist aber der Patient! Empfehlung Das Problem einer sekundär traumatisierten Bezugsperson ist immer die eigene Zerrissenheit, der eigene nicht enden wollende Konflikt zwischen Hass und Mitleid oder zwischen Hass und Liebe. Deshalb muss der Betroffene psychodramatisch zusätzlich zu dem Konflikt mit dem »Vater« immer auch den Konflikt mit sich selbst austragen, zwischen sich selbst als einem Sohn, der hasst, und als einem Sohn, der Mitleid hat. Hilfreich ist es, ihn diesen intrapsychischen Konflikt mithilfe eines psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch zwischen seinen beiden Ichs bearbeiten zu lassen.

Auf diese Weise kann er mit sich selbst aushandeln, was er braucht, um die Beziehung zu seinem Vater für sich erträglich zu gestalten. Sein hassender und sein mitleidiger Ich-Zustand haben sich gegenseitig ein Existenzrecht einzuräumen und können sich gegenseitig etwas Wichtiges geben: Der »hassende Sohn« kann den »mitleidigen Sohn« davor schützen, sich zu überfordern, und ihm helfen, zum Vater ausreichend Distanz herzustellen. Der »mitleidige Sohn« kann den »hassenden Sohn« dazu bringen, dem Vater doch auch begrenzt zu helfen, wenn es erforderlich ist, und so anders als der Vater ein ausreichend guter Mensch zu werden oder zu bleiben, der die Würde des Menschen achtet, die des Vaters und auch seine eigene. Die Therapeutin vermeidet also, die Gründe für die kodependente Haltung, die Depression oder die sekundäre Traumatisierung des Patienten in dessen Kindheit zu suchen. Sie zentriert ihre Arbeit stattdessen auf die gegenwärtigen Konflikte des Patienten. Bei sekundär traumatisierten Ehepartnern geht die Therapeutin ähnlich vor (siehe Fallbeispiel 41 und Kap. 5.16). Sie lässt den Patienten in der Beziehung zu seiner suchtkranken Frau seine eigene IchSpaltung durch einen psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zwischen seinem »liebenden Ich« und seinem »hassenden Ich« ausspielen und ihn nach einem situativ angemessenen Kompromiss zwischen den beiden Ichs suchen.

11  Krankheitswertiges abweichendes Verhalten

11.1 Das Besondere in der Behandlung von Menschen mit krankheitswertigem abweichendem Verhalten Patienten und Patienten mit krankheitswertigem, abweichendem Verhalten ähneln in ihrer Psychodynamik, ihrer Krankheitsentwicklung und ihrem für »normale« Menschen befremdlichen Symptomhandeln den Abhängigkeitskranken (siehe Kap. 10.4). Fallbeispiel 114: Frau B. war als Alkoholabhängige mithilfe einer Suchtkrankengruppe abstinent geworden. Vier Monate später berichtete sie in der Gruppe mit deutlicher Scham und Leidensgefühl: »Ich möchte euch etwas sagen. Mir ist es wichtig, dass das nicht aus der Gruppe hinausgetragen wird!« Nach Selbstvergewisserung der Gruppenteilnehmer über die gegenseitige Schweigepflicht erzählte sie: »Ich habe in der letzten Zeit angefangen, in Kaufhäusern zu klauen.« Sie berichtete von 7–8 solchen Ereignissen und meinte, dass sie sich das als Vorgesetzte im Öffentlichen Dienst natürlich überhaupt nicht leisten könne: »Ich sehe das als eine Suchtverlagerung an.« Auf Nachfrage zeigte sich, dass ihr das »Klauen« einen »Kick« gab. Es ging um das Spiel mit der Grenze, darum, etwas Verrücktes zu tun und danach das Gefühl zu bekommen: »Das hat geklappt!« Die Patientin fügte hinzu: »Ich habe gedacht, ich muss das hier einmal offen ansprechen, vielleicht schaffe ich es dann leichter, das zu lassen.« Bei einer Katamnese fünf Jahre später gab Frau B. an, dass sie, seit sie der Gruppe gegenüber »unverhüllt ihre Fehler zugegeben« hatte, ihre Diebstahlshandlungen unterlassen hatte. Sie war weiterhin alkoholabstinent geblieben und hatte sich seelisch gut stabilisiert.

Die Ähnlichkeit zwischen der dysfunktionalen Selbstorganisation von Menschen mit krankheitswertigem, abweichendem Verhalten und der Selbstorganisation von Abhängigkeitskranken zeigt sich auch darin, dass sie relativ viele der Jellinek’schen Suchtsymptome (siehe Kap. 10.4 und Abb. 23) entwickeln. Sie

Fallbeispiel eines Patienten mit Fetischismushandlungen

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vollziehen ihr Symptomhandeln heimlich, das ist die 2. Frage des Jellinek’schen Fragebogens. Sie denken häufig an ihr Symptomhandeln (3. Frage). Sie haben wegen ihres abweichenden Verhaltens Schuldgefühle (5. Frage). Sie vermeiden darüber Gespräche (6. Frage). Sie gebrauchen Ausreden, warum sie sich abweichend verhalten (8. Frage). Sie versuchen, periodenweise völlig abstinent zu leben (11. Frage). Der Patient des Fallbeispiels 116 hat sich mitunter tagelang hintereinander seinen Fetischismushandlungen hingegeben (22. Frage). Fakultativ kommen noch dazu die Punkte: besonderes aggressives Benehmen gegenüber der Umwelt (9. Frage), eine bestimme Zeitorganisation, um sich dem Symptomhandeln hingeben zu können (12. Frage), und dass das Symptomhandeln schon zum Zwang wurde (29. Frage). Patienten mit Fetischismushandlungen zum Beispiel müssten auf dem Jellinek’schen Fragebogen in jedem Fall sechs der Jellinek’schen Fragen zustimmen, dazu bisweilen auch noch vier weitere. Schon bei fünf Zustimmungen ist aber eine Abhängigkeitserkrankung wahrscheinlich. Empfehlung Wegen der mit dem Symptomhandeln verbundenen Scham und Verheimlichung liegt in der störungsspezifischen Therapie von krankheitswertigem, abweichendem Verhalten der Schwerpunkt der Behandlung wie bei der Behandlung von Abhängigkeitskranken zunächst auf der Bearbeitung der zu der Symptomatik gehörigen Ich-Spaltung (siehe Abb. 12 und 26). Ich werde das im Folgenden am Beispiel der Psychotherapie des Fetischismus verdeutlichen.

11.2  Fallbeispiel eines Patienten mit Fetischismushandlungen Fallbeispiel 115 (Krüger und Lutz-Dreher, 2002, S. 231 ff., verändert): Der 31 Jahre alte Büroangestellte, Herr A., war seit fünf Jahren verheiratet und Vater einer Tochter. Er kam in Behandlung, weil vier Wochen vorher sein »Problem, das ihn schon lange verfolgte, aufgeflogen« war. Seine Frau hatte die von ihm bestellten Pakete mit Damenwäsche entdeckt. Zuerst wurde sie eifersüchtig und dachte, er hätte eine Nebenbeziehung. Dann bekam sie Angst, er könne die eigene Tochter sexuell missbrauchen. Schließlich aber hatte sie für ihn mit seiner Einwilligung bei dem Therapeuten einen Vorstellungstermin vereinbart. Herr A. berichtete im Erstgespräch, er habe ein »Faible für Damenwäsche«. Er schilderte ein Fetischismusritual, das meistens darin bestand, dass er sich allein in ein Zimmer zurückzog, dort heimlich Frauenkleider anzog und sich in die Rolle eines 17-jährigen Mädchens hineinfantasierte. Er stellte sich dann vor, als Mädchen einer attraktiven Frau mittleren Alters mit üppigen Formen gegenüberzustehen, die ihm

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Krankheitswertiges abweichendes Verhalten

streng befiehlt, die hässlichen Kleider einer älteren Frau anzuziehen. Als Mädchen hatte er sich dieser Aufforderung zu fügen, kam dabei zur sexuellen Erregung und befriedigte sich selbst. Nach den heimlichen Ritualen litt er unter starken Schuldund Schamgefühlen. Herr A. war im sozialen Kontakt Vorgesetzten, Kollegen und Frauen gegenüber ängstlich, gehemmt und unsicher und bemühte sich immer, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Es fehlte ihm an Durchsetzungsvermögen. Er versuchte, durch Mehrarbeit im Beruf Anerkennung zu erhalten, um damit sein labiles Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Dadurch kam es aber immer wieder zu Überforderungssituationen. Wenn er beruflich stark beansprucht war, litt er unter Magenschmerzen. Dreiundzwanzig Monate nach dem Ende seiner nur 24 Sitzungen umfassenden Einzeltherapie berichtete Herr A. bei einer katamnestischen Untersuchung, dass seine Fetischismushandlungen dauerhaft verschwunden waren. Er hatte auch länger als zwei Jahre keine Damenwäsche mehr bestellt. Nachdem er zu Beginn der Behandlung noch unter einer deutlichen Selbstwertproblematik und Gehemmtheit in allen Beziehungen gelitten hatte, konnte er sich am Ende der Therapie in Beziehungen gut durchsetzen. Er grenzte sich von Kunden mehr ab, vertrat seinen Standpunkt überzeugender und gewann damit Anerkennung. Von Kollegen ließ er sich nicht mehr alle Arbeiten zuschieben: »Es ist viel Arbeit. Die macht mir aber Spaß.« Auch gegenüber seiner Vorgesetzten zeigte er mehr Selbstbehauptung, er traute sich, Gehaltsforderungen zu stellen und »spielte sie an die Wand«: »Vor ein paar Wochen wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, selbst Führungskraft zu sein. Später würde ich das wohl gern tun, aber nicht jetzt.« Herr A. baute zusammen mit seiner Ehefrau ein Haus, um aus dem Haus der Schwiegereltern auszuziehen, wo es viel Streit gab. Der Patient fragte seine Ehefrau offen nach ihren eigenen Fantasien beim sexuellen Zusammensein und brachte sie dadurch in Verlegenheit. Das Paar lebte die Beziehung jetzt auch häufiger sexuell aus: »Meine sexuellen Eigenarten sind sehr stark in den Hintergrund getreten. Ab und zu kommen diese sexuellen Gefühle wieder auf, aber es hilft mir, dass meine Frau wieder mehr auf mich zugeht.« Zusammenfassend meinte der Patient am Ende der Behandlung: »Für mich war in der Therapie wichtig, zu erkennen, was für Ursachen das hatte, und den Bezug zu meiner Kindheit herzustellen. Dass wir das durchleuchtet haben, wie es dazu kam« (Fortsetzungen in den Kapiteln 11.3 und 11.4).

Die Psychodynamik von Patienten mit krankheitswertigem Verhalten

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11.3 Die Psychodynamik von Patienten mit krankheits­ wertigem abweichendem Verhalten Bei einer Symptomatik mit krankheitswertigem, abweichendem Verhalten wie dem Fetischismus versuchen Therapeutinnen oder Therapeuten meistens, sofort die »hinter dem Symptom stehenden Konflikte« zu erfassen und zu behandeln, weil sie vermuten, dass das deviante Symptomhandeln eine Folge der Selbstwertproblematik des Patienten ist und verschwindet, wenn die neurotischen oder masochistischen Ursachen therapeutisch behoben würden. Es stimmt, Fetischismushandlungen sind zum Zeitpunkt ihres Beginns in der Kindheit noch eine Folge von Defiziterfahrungen in der Beziehung zu den nahen Bezugspersonen, speziell in der Beziehung zur Mutter. Die Intimität und das »Verbotene« dieser Handlungen rufen bei diesen Patienten aber spätestens in der Pubertät durch die damit verbundene sexuelle Erregung und Masturbation massive Scham- und Schuldgefühle hervor, die wie die Sucht bei Abhängigkeitskranken sekundär zu einer Ich-Spaltung zwischen ihrem Alltags-Ich und ihrem das Symptom ausagierendem Ich, dem »Verkleidungs-Ich«, führen und in der Folge zu mehr oder weniger starken Selbstwertregulationsstörungen und Depressionen. Dieses Verständnis der Psychodynamik des Fetischismus widerspricht der Interpretation Sigmund Freuds (1975, S. 384), der Fetischismushandlungen noch als durch Kastrationsangst bestimmte Ersatzhandlungen deutete. Nach Freud stellt sich bei dem Jungen, weil er die Penislosigkeit der Mutter entdeckt, eine Kastrationsangst ein. Er müsse diese Wahrnehmung aus Angst, selbst seinen Penis zu verlieren, verleugnen und entwickle deshalb Interesse an den Brüsten der »Mutter« als Penisersatz. Zentraler Gedanke Die Kastrationsangst von Patienten erweist sich bei einer einfühlsameren Betrachtung aber als eine Folge ihrer Fetischismushandlungen und nicht als ihre Ursache. Mit dem Anziehen von Frauenwäsche stellten sie als Kind symbolisch die ersehnte, aber vermisste Nähe zu ihrer Mutter her, sie benutzten die Wäsche der Mutter in ihren »Rollenspielen« anfangs als Mutterersatz.

Diese »Rollenspiele« haben in der Kindheit zunächst noch die Funktion der Konfliktverarbeitung, ähnlich wie das von Freud (1975, S. 224 ff.) beschriebene Garnrollenspiel seines Enkels. Dieser inszenierte mit knapp zwei Lebensjahren sein Leiden am Weggehen seiner Mutter und die Freude über ihr Wiederkommen spontan als Symbolspiel: Er ließ eine an einen Faden gebundene Garnrolle unter einen Schrank rollen und kommentierte das traurig mit »ooh«. Danach

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Krankheitswertiges abweichendes Verhalten

zog er die Garnrolle aber wieder hervor und begrüßte das Wiedererscheinen der die Mutter symbolisierenden Garnrolle mit einem freudigen »Aah!« Freud erkannte, dass sein kleiner Enkel das, was ihm zunächst leidvoll passiv geschehen war, als Schöpfer seiner selbst im Symbolspiel aktiv selbst inszenierte (siehe Abb. 6). Der kleine Junge konnte seine Verlusterfahrung im Als-ob-Modus des Spiels verarbeiten und in der passiv erlittenen Erfahrung seine innere kreative Handlungsfähigkeit wiedergewinnen, den Zugang zu der Aktualisierungstendenz seines Selbst. Bei Fetischismushandlungen wird die anfängliche, spielerische Wunscherfüllung im Laufe der Zeit allerdings zu einem selbstverletzenden Handeln. Im Erwachsenenalter ist die in den Fetischismushandlungen verborgene Sehnsucht nach Nähe und Gesehenwerden zwar in dem sexuellen Begehren noch versteckt enthalten. Der Patient entwickelt aufgrund des sexualisierten Ausagierens seiner latenten Sehnsucht und der entsprechenden Reaktionen der Bezugspersonen aber Schuldgefühle, praktiziert sein Symptomhandeln heimlich und ist am Ende gleichsam wieder der kleine Junge seiner Kindheit, der einen »verbotenen« Wunsch gehabt hatte. Die Gefühle der Einsamkeit und Wertlosigkeit, die sich durch die Fetischismushandlungen eigentlich hätten verringern sollen, verstärken sich. Der Patient des 116. Fallbeispiels zum Beispiel sprach selbst von »Scham- und Schuldgefühlen, solche Wünsche überhaupt zu haben, und der Angst, entdeckt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden«.

11.4 Der störungsspezifische Zugang zum Symptom von Fetischismushandlungen Ein Dieb plant seine kriminellen Diebstahlshandlungen vor der Tat differenziert im Als-ob-Modus des Mentalisierens, anders als Patienten mit der Diagnose »pathologisches Stehlen« (F63.2) (siehe Fallbeispiel 114). Bei krankheitswertigem deviantem Verhalten geht es nicht um einen realen äußeren Gewinn an Vermögen oder Macht. Das Symptomhandeln der Patienten dient vor allem dem Aufbau einer lustvoll erlebten Spannung und der Abfuhr dieser Spannung. Dem Betroffenen geschieht ihr Tun. Er oder sie denkt selbsthypnotisch im Äquivalenzmodus (siehe Kap. 2.2) und kreiert heimlich vor anderen sich selbst einen äußeren Rahmen, in dem seine inneren Fantasien in einer Art Rollenspiel kurzfristig äußere Wirklichkeit werden können. Dieses Prinzip gilt für Fetischismushandlungen (F65.0, F65.1), für andere abweichende sexuelle Verhaltensweisen (F65.2-F65.8) wie zum Beispiel für sadomasochistische Praktiken, aber auch für pathologische Brandstiftung (F63.1) und pathologisches Stehlen (F63.2).

Der störungsspezifische Zugang zum Symptom von Fetischismushandlungen

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In der störungsspezifischen Behandlung von Menschen mit krankheitswertigem abweichendem Verhalten geht der Therapeut nacheinander die folgenden Schritte: 1. Er problematisiert von Anfang an das krankheitswertige, abweichende Verhalten, versteht es als selbstschädigend und teilt nicht kodependent die Abwehr durch Verleugnung und Rationalisierung des Patienten, der glauben will und vorgibt, dass er sich bei seinem devianten Verhalten »erholt« oder dass »das sein Lebensinhalt ist« (siehe Fallbeispiel 116). 2. Der Therapeut symbolisiert die Ich-Spaltung des Patienten im Therapiezimmer mit zwei Stühlen, mit einem Stuhl für sein »Alltags-Ich« und einem zweiten für sein »Verkleidungs-Ich« oder sein »stehlendes Ich«. Dieser therapeutische Umgang mit der Ich-Spaltung ähnelt dem in der Behandlung von psychotisch Erkrankten (siehe Kap. 9.6.3) oder dem von suchtkranken Menschen (siehe Kap. 10.6.1). 3. Der Therapeut geht in eine transmodale therapeutische Haltung (siehe Kap. 10.8) und lässt den Patienten die in seinem Symptomhandeln enthaltene Interaktion in einen psychodramatischen Dialog mit Rollentausch übersetzen. Durch den Als-ob-Modus des Spiels gewinnt der Patient in dem unbewussten »Spiel« seines Symptomhandelns Zugang zu der Aktualisierungstendenz seines Selbst in seiner Selbstorganisation. Er kann sein unbewusstes »Spiel« psychodramatisch bis zum Verstehen des dahinter stehenden Sinns zu Ende spielen. Bevor »eine Geschichte nicht zu Ende erzählt, ein Film nicht zu Ende gedreht ist, hat man keine Chance, ihr zu entrinnen« (Hans Geisslinger, 2002, mündliche Mitteilung). 4. Der Therapeut arbeitet mit dem Patienten analog der Technik der idealen Suchtszene bei einer nicht-substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankung (siehe Kap. 10.12) die in seinem Symptomhandeln verborgene eigentliche Sehnsucht heraus. 5. Danach suchen beide zusammen nach einem Zusammenhang zwischen dieser eigentlichen Sehnsucht des Patienten und seinen Erfahrungen in seiner Kindheit. 6. Wenn der Patient daraufhin sein abweichendes Verhalten nicht von allein weglässt, empfiehlt der Therapeut einen Abstinenzversuch über mindestens ein halbes Jahr »zur Selbsterfahrung« (siehe Fallbeispiel 116). 7. Es folgt die Phase der psychischen Entwöhnung und bei Bedarf die Psychotherapie einer eventuell vorhandenen Zweiterkrankung, zum Beispiel der Ausgleich starker narzisstischer Defizite wie im Fallbeispiel 116. Fallbeispiel 115 (1. Fortsetzung): In der 7. Sitzung schlug der Therapeut Herrn A. vor, therapeutisch an seinen Fetischismushandlungen zu arbeiten. Er stellte entsprechend dem zweiten oben beschriebenen Therapieschritt im Therapieraum einen Stuhl auf und deutete mit der Hand auf diesen Stuhl: »Das sind Sie als erwachsener Mann, der gestresst von der Arbeit nach Hause kommt!« Daneben positionierte er einen zweiten Stuhl für das »Mädchen«. Er bat Herrn A., zuerst auf dem Stuhl des »Mannes« Platz

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zu nehmen, dann ließ er ihn auf den Stuhl des »Mädchens« wechseln: »Das sind Sie als Mädchen gegenüber der älteren, mütterlichen Frau.« Der Therapeut stellt für die »ältere Frau« gegenüber dem »Mädchen« einen dritten Stuhl hin. Herr A. erzählte in der Rolle des »Mädchens«, dass dieses etwa 17 Jahre alt sei und unterwürfig der 45–50 Jahre alten, stark geschminkten, attraktiven älteren Dame gegenübersäße. Das »Mädchen« sei anders als die »Mutter« unattraktiv, ein Mauerblümchen. Die »Mutter« befehle dem »Mädchen«, die Kleider einer älteren Frau anzuziehen. Es sollte durch das Anziehen der Frauenkleider noch unattraktiver und unscheinbarer werden. In der Nachbesprechung zu diesem Szenenaufbau stellte Herr A. mit Blick auf die vor ihm stehenden Stühle aus der Beobachterposition erleichtert fest: »Das ist ja wirklich gut! Ich hatte schon Angst, dass mein Drang zu diesen Verkleidungsspielen ein Zeichen dafür ist, dass ich unbewusst eine Geschlechtsumwandlung will. Aber«, er deutete auf den Stuhl des »Mädchens« und auf den des »Mannes«, »ich kann ja, wenn ich will, immer wieder zurück und wieder zum Mann werden!« (Fortsetzung unten).

Der 50-jährige Herr C. des Fallbeispiels 116 fasste nach drei Jahren Therapie sein neues Verständnis seiner Fetischismushandlungen in ganz ähnlichen Worten zusammen: »Früher habe ich gedacht, das Verkleiden gehört zu meinem Charakter, dass ich vielleicht bisexuell bin, dass ich nicht anders könnte. Das hat auch meine Frau gedacht. Jetzt nach zwei Jahren Abstinenz meine ich das aber nicht mehr, meine Frau auch nicht. Wenn ich mich jetzt verkleiden würde, wäre das ein Affront gegen meine Frau.« Das Wahrnehmen der realen äußeren Existenz des zweiten Stuhls für sein »Verkleidungs-Ich« bringt den Patienten in die Beobachterposition zu seinem Symptomhandeln, lässt dieses gegenwärtig werden und hebt so seine Abwehr durch Verleugnung auf, die seine Ich-Spaltung absichert. Es folgt der psychodramatische Rollenwechsel zwischen dem »Alltags-Ich« und dem »Verkleidungs-Ich«. Zentraler Gedanke Der bewusste psychodramatische Rollenwechsel zwischen dem »Alltags-Ich« und dem »Verkleidungs-Ich« wandelt die unbewusste Ich-Spaltung des Patienten in einen bewussten Rollenwechsel um. Der vorher im Äquivalenzmodus (siehe Kap. 2.2) in einer Art Trancezustand vollzogene Wechsel in den anderen IchZustand wird durch den Als-ob-Modus im psychodramatischen Rollenwechsels zu einem auch in seinem Denken im Als-ob-Modus vollzogenem Rollenwechsel. Das hilft dem Patienten, in seinem bewussten inneren Mentalisieren die Kontrolle über seine Ich-Spaltung zu gewinnen.

Der störungsspezifische Zugang zum Symptom von Fetischismushandlungen

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Fallbeispiel 115 (2. Fortsetzung): In der vierten Therapiesitzung deutete der Therapeut die Fetischismusrituale dem Patienten gegenüber positiv um: »Das sind eigentlich Rollenspiele, die Sie da machen. Sie sind kreativ!« Der Patient, der zunächst noch im Äquivalenzmodus dachte, distanzierte sich von dieser Sicht seines Symptomhandelns: »Eigentlich erlebe ich das nicht als kreativ. Ich finde immer, ich sollte das nicht tun und habe Schuldgefühle.« Er hatte damit Recht, denn er war tatsächlich noch nicht wirklich kreativ, solange er seine Fetischismushandlungen noch im Äquivalenzmodus bewertete und die im Spiel enthaltene Verwandlung zum Mädchen als Wunsch nach Kastration missverstand. Die Umdeutung seiner Fetischismushandlungen in Rollenspiele erleichterte ihn aber. Der Therapeut ließ Herrn A. in der fünften Sitzung zur Diagnostik seines strukturellen Niveaus und, und um seine Spielfähigkeit zu üben, ein Märchen assoziieren (Krüger, 1992, S. 230 ff.): »Nennen Sie mir bitte einmal den Namen eines Märchens. – Wenn Sie an das Märchen denken, welche Person oder Gestalt sehen Sie dann vor sich? – Beschreiben Sie bitte die Situation, in der sich diese Märchenfigur gerade befindet! – Was tut die Person gerade?« Eine solche Märchenassoziation lässt naturgemäß eher solche Inhalte und Bilder ins Bewusstsein kommen, die emotional höher besetzt sind als andere. Von daher ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das assoziierte Bild ein symbolisches Bild und eine Amplifikation für einen zentralen Konflikt des Patienten darstellt. Herr A. nannte spontan das Märchen »Rotkäppchen«. Er imaginierte ohne Probleme mit geschlossenen Augen im Sitzen den Ablauf des Märchens und gestaltete ihn spielerisch aus. Dabei fiel auf, dass bei ihm im Denken immer dann »ein Schnitt« eintrat, wenn eine destruktive Aggression hätte stattfinden sollen, so zum Beispiel als der Wolf, als Großmutter verkleidet im Bett liegend, zum Rotkäppchen sagt: »Damit ich dich besser fressen kann!« An solchen Stellen forderte der Therapeut den Patienten auf, das Märchen in seiner inneren Vorstellung über den »Schnitt« hinaus weiter auszufantasieren. Herr A. ließ daraufhin am Ende den Wolf wirklich in den Brunnen stürzen. Überraschenderweise ertrank der Wolf aber nicht, sondern »jammerte unten im Brunnen« mitleiderregend. In seiner Imagination trat Herr A. jetzt selbst in die Märchenwelt ein und ließ an einem Strick einen Eimer zu dem Wolf in den Brunnen hinunter, um diesen zu retten. Er drohte dem Wolf aber: »Wenn du nicht artig bist, dann helfe ich dir nicht!« Der Wolf setzte sich in den Eimer, und Herr A. zog ihn hoch. Der gerettete Wolf sah sehr mitgenommen aus, jammerte und verschwand rasch in den Wald. Der Patient war in der Nachbesprechung zufrieden, dem Wolf geholfen zu haben. Der Therapeut: »Haben Sie eine Idee, warum Ihnen gerade das Rotkäppchen einfiel, das auf dem Weg zur Großmutter war?« Herr A. zog spontan eine Parallele zwischen dem siebenjährigen Rotkäppchen und seinen eigenen Verkleidungsspielen als Kind.

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Krankheitswertiges abweichendes Verhalten

Er hatte im Alter von 5–9 Jahren zusammen mit seiner älteren Schwester auf dem Dachboden mit Verkleidungsspielen angefangen. In einem alten Kleiderschrank hatten sie die abgelegten Kleider von Großmutter und Mutter aus ihren jungen Jahren gefunden. Das Verkleiden hatte ihnen Spaß gemacht: »Ich bin damals ebenso naiv und unschuldig gewesen wie das Rotkäppchen.« Der Patient stellte darüber hinaus spontan auch einen Zusammenhang zwischen der Märchenimagination und seinen Sexualfantasien her: »Meine Fantasien hören auch immer an einer bestimmten Stelle auf. Das ist dann wie ein Schnitt, so wie es auch im Märchen war.« Der Patient erlebte es als »hilfreich«, das Märchen jetzt auf Anregung des Therapeuten über diese »Schnitte« hinaus weiter ausgeführt und das Ende des Märchens verändert zu haben (Fortsetzung in Kap. 11.4).

11.5 Die Integration des Als-ob-Modus in das krankheits­ wertige abweichende Verhalten Zentraler Gedanke Bei krankheitswertigem abweichendem Verhalten lässt der Therapeut den Patienten im fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zwischen den Interaktionspartnern seiner Symptomszene, zum Beispiel in seiner Fetischismusszene, den dazugehörigen Konfliktraum und eine zeitliche Abfolge der Interaktionssequenzen kreieren. Beide zusammen arbeiten Ursache und Wirkung und die Motivationen der an der Szene beteiligten Interaktionspartner heraus und legen den ihre Beziehung konstituierenden Sinn fest. Auf diese Weise werden die Prozessqualitäten (siehe Abb. 2) des psychodramatischen Spiels in das Symptomhandeln eingeführt und das Denken im Äquivalenzmodus wird um das Denken im Als-ob-Modus erweitert.

1. Der Therapeut lässt den Patienten das darin enthaltene Interaktionssystem im Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels mit Stühlen aufstellen. 2. Er lässt ihn die Rollen der Interaktionspartner seiner Fetischismusszene im psychodramatischen Dialog direkt miteinander interagieren. Dadurch wird das Interaktionsmuster in dem Konflikt in der imaginierten Beziehung festgelegt. 3. Der Patient differenziert und erweitert in der fantasierten Beziehung durch mehrfachen Rollentausch die Identitäten der Beziehungspartner und ihre hinter ihrem äußeren Handeln stehenden Emotionen und Motivationen. 4. Der Therapeut und der Patient erfassen zusammen das in der Fetischismusszene enthaltene neurotische Interaktionsmuster und suchen nach einem Zusammenhang zwischen diesem neurotischen Interaktionsmuster und problematischen Kindheitserfahrungen des Patienten.

Die Integration des Als-ob-Modus in das krankheits­wertige abweichende Verhalten

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Fallbeispiel 115 (3. Fortsetzung): Bei Herrn A. stärkten die Märchenimagination und die bewussten Rollenwechsel zwischen seinem Alltags-Ich und seinem »VerkleidungsIch« seine Fähigkeit, im Als-ob-Modus zu denken. In der sechsten Therapiesitzung meinte er: Beim Masturbieren »habe ich jetzt nicht mehr den Drang, Frauenkleider anzuziehen. Ich mache das jetzt nur noch im Kopf, in der Vorstellung.« In der achten Therapiesitzung bot der Therapeut dem Patienten an, die Fetischismus-Szene auf ihre »Schnitte« hin zu untersuchen und vielleicht auszuprobieren, wie es weitergehen könnte, wenn er durch diese »Schnitte« hindurchgeht. Patient und Therapeut bauten die Fetischismusszene mit drei Stühlen wieder auf, den Stühlen für ihn als Mann, für das unterwürfige »Mädchen« und für die »Mutter«. Herr A. übernahm die Rolle des »Mädchens«. Auf einem Tisch zwischen ihm und der »Mutter« lagen »Frauenoberkleider und Unterwäsche«. Herr A.: »Die Mutter befiehlt jetzt, dass ich diese Kleider anziehen soll.« Herr A. wehrte sich als »Mädchen«: »Ich will diese Kleider aber nicht anziehen!« Er gab als »Mädchen« aber schließlich nach: »Das Mädchen schmollt jetzt noch etwas.« Dem Patienten fiel es schwer, das Schmollen mimisch auszudrücken: »Ich kann das nicht!« Daraufhin ließ der Therapeut Herrn A. in die Rolle der »Mutter« tauschen, übernahm selbst als Hilfs-Ich die Rolle des Mädchens und spielte diese Rolle entsprechend der Vorgabe des Patienten. In der Rolle der »Mutter« befahl der Patient: »Du sollst die Kleider jetzt anziehen! Sonst kommst du hier nicht weg!« Zur Überraschung des Therapeuten verhielt sich Herr A. in der Rolle der »Mutter« lustvoll autoritär. Der Therapeut trat neben ihn und fragte die »Mutter«: »Was beabsichtigen Sie eigentlich damit, wenn Sie dem Mädchen befehlen, diese Frauenkleider anzuziehen?« Herr A. in der Rolle der »Mutter«: »Ich mache das, weil ich das Mädchen immer bei mir haben möchte. Es soll mit zu meinen Freundinnen zum Kaffeetrinken kommen.« Der Therapeut: »Sehen Sie eigentlich, dass es dem Mädchen Lust macht, so unterwürfig zu sein?« Herr A. als »Mutter«: »Das finde ich jetzt aber gar nicht gut!« In der Nachbesprechung bezeichnete Herr A. das Verhalten der »Mutter« gegenüber dem Mädchen als »sadistisch«. Der Therapeut: »Ja, die ist wirklich autoritär! Aber die ›Mutter‹ hat offenbar auch Angst davor, von dem ›Mädchen‹ verlassen zu werden!« Bei der Anamneseerhebung am Anfang der Therapie hatte Herr A. erzählt, dass er der Jüngste von drei Kindern gewesen war. Als Junge sei er immer brav gewesen und habe geholfen. Zu Hause wurde immer gearbeitet. Der Vater war Handwerker gewesen und hatte nebenbei noch einen kleinen Bauernhof bewirtschaftet. Die Mutter hatte wenig Zeit und war immer beschäftigt. Der Patient erinnerte sich zum Beispiel daran, dass seine Mutter ihn in seinem zweiten und dritten Lebensjahr in seinem Gitterbettchen oft lange hatte schreien lassen. In den ersten zwei Jahren in der Schule wurde er zum »Musterschüler«, hatte aber bei den Raufereien meistens den Kürzeren gezogen. Er lernte Judo, um sich besser wehren zu können. Als Jugendlicher war er schüchtern und kontaktgehemmt, besonders gegenüber Mädchen. In

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der Familie gab es keine Aufklärung. Als sein Penis zum ersten Mal erigierte, habe er sich dem Vater anvertraut. Der reagierte aber nur ironisch: »Kühlen, dann bist du das wieder los!« Im Alter von 21 Jahren zog der Patient sehr zur Enttäuschung seiner Mutter aus dem Elternhaus aus, da er »nicht länger Kind sein wollte«. Der Therapeut machte Herrn A. nach dem Ausspielen der Fetischismusszene auf den Zusammenhang zwischen dem Interaktionsmuster seines Symptomhandelns und seinen Kindheitserfahrungen aufmerksam: »Herr A., als Sie damals von zu Hause auszogen, ist Ihre Mutter zusammengebrochen. In Ihrer Verkleidungsszene will die ›Mutter‹, dass das ›Mädchen‹ sich unscheinbarer anzieht, weil sie befürchtet, dass das Mädchen sie sonst verlassen könnte!« Herr A.: »Ja, so wie Sie das sagen, wird mir das auch deutlicher.« Der Therapeut: »Herr A., kennen Sie diese Unterwürfigkeit, die Sie hier in der Rolle des Mädchens gezeigt haben, auch aus anderen Beziehungen?« Herr A.: »Ja, wenn meine Vorgesetzte kurz vor Dienstschluss noch mit irgendetwas ankommt, dann mache ich das, obwohl ich es nicht will und das auch nicht richtig finde. Ich verhalte mich dann so wie das Mädchen.« Am Ende der Sitzung meinte Herr A.: »Das ist besonders, das Rollenspiel hier jetzt wie das Märchen neulich weiterzuspielen und nicht abzubrechen, wenn da bei mir der Schnitt kommt!« In den nächsten Sitzungen berichtete er erstaunt, dass er sich in allen Lebensbereichen jetzt ganz von allein besser behaupten könne.

11.6  Fetischismushandlungen als Beziehungsersatz Fallbeispiel 116: Der 50-jährige Herr C. war wegen einer chronischen Depression in Psychotherapie gekommen (F34.1 und F65.1). Seine Fetischismushandlungen waren so mit seinem Identitätsgefühl verwoben, dass er sie subjektiv nicht als Krankheitssymptom empfand. Seine ideale Fetischismusszene bestand darin, so arbeitete er zusammen mit dem Therapeuten heraus, dass er sich weiße Strumpfhosen und einen BH anzog, sich damit vor einen Spiegel setzte und sich erotisch bewegte. Das Spiegelbild erregte ihn sexuell, und er benutzte es zur Masturbation. Neugierig fragte der Therapeut: »Können Sie dabei im Spiegel auch Ihren Kopf sehen?« Herr C. antwortete irritiert: »Das weiß ich nicht!« Der Therapeut: »Dann probieren Sie das doch zu Hause aus!« In der nächsten Therapiesitzung erklärte Herr C.: »Natürlich sehe ich mein Gesicht dabei nicht! Sonst würde ich im Spiegel ja keine Frau erblicken!« Im Rollentausch mit der »Frau in Weiß« fühlte Herr C. in ihrer Rolle »Leere«. Diese innere Leere entsprach wahrscheinlich der inneren Realität seiner leiblichen Mutter. Diese war eine »Schönheit« gewesen und sei von dem Vater von Herrn B. »immer auf Händen getragen« und von allen Konflikten abgeschirmt worden. Als Herr B. als Junge einmal in einem Pfadfinderlager war und von seiner ganz in weiß gekleideten Mutter

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besucht wurde, stürzten alle Jungen auf ihn zu und himmelten die Besucherin wegen ihrer »Schönheit« an. Als er auf seine Mutter zuging, um sie zu begrüßen, wehrte diese aber jede Umarmung ab. Seine Mutter war für ihn nicht erreichbar gewesen. Der Therapeut: »Sie haben bei ihren Eltern keinen Fuß in die Tür gekriegt!« Herr C.: »Ich war als Kind immer lieb. Mein Wille hat nie gezählt!« (Fortsetzung in Kap. 11.7).

Ähnlich wie Herr A. im Fallbeispiel 115 hatte auch Herr C. schon im siebten Lebensjahr angefangen, die Nähe zu seiner nicht erreichbaren Mutter durch Fetischismushandlungen mit Wäscheteilen der Mutter herzustellen. Er reinszenierte dabei in einer Art Symbolspiel selbstverletzend sein Beziehungstrauma aus der Kindheit. Beide Patienten variierten im Laufe der Jahre ihre Fetischismushandlungen. So stand zum Beispiel in den Symptomhandlungen von Herrn A. das »Mädchen« in einer Szene manchmal einer strengen, etwa 50-jährigen Tante gegenüber, die das Haar wie eine Lehrerin zu einem Knoten gebunden hatte. Dann wieder war das Mädchen »noch unscheinbarer, vielleicht auch jünger als 17 Jahre«, und begegnete einer etwa 45-jährigen »noch strengeren Stiefmutter«. Oder Herr A. begegnete in seinem Ritual als jüngere, ungehorsame »Schwester« einer strengen, älteren »Schwester«. Anders als Herr A. wurde der Patient des Fallbeispiels 116, Herr C., in den 43 Jahren des Agierens seiner Fetischismushandlungen von seinem Symptomhandeln abhängig wie ein Abhängigkeitskranker (siehe Kap. 10.2). Seine Behandlung dauerte fünf Jahre, weil seine großen narzisstischen Defizite auszugleichen waren. Die Therapie von Herrn A. war hingegen schon allein durch die Arbeit an seiner Ich-Spaltung und seiner idealen Fetischismusszene erfolgreich. Fallbeispiel 115 (4. Fortsetzung): In der 21. Sitzung ließ der Therapeut Herrn A. seine ideale Fetischismus-Szene mit der »Mutter« und der unterwürfigen Tochter ein weiteres Mal mit Stühlen im Therapiezimmer vergegenwärtigen und bat ihn: »Stellen sie sich bitte die Interaktion zwischen der Tochter und der Mutter noch einmal vor. Merken Sie eigentlich, dass Sie immer auch der Autor und der Regisseur des Geschehens in Ihren Verkleidungsspielen sind?« Herr A. staunte: »Dann halte ich ja die Fäden in der Hand!« Therapeut: »Stimmt!« Herr A.: »Ja, ich habe in der Rolle des Mädchens auch selbst schon immer erlebt, dass ich meine Fantasie steuere und Regie führe!« Der Therapeut: »Wann haben Sie eigentlich zum ersten Mal erlebt, dass jemand Sie so gefügig machen wollte wie die »Mutter« in Ihrem Rollenspiel und dass Sie sich am Ende dann sehr schämten?« Herr A.: »Als Kind. Weil wir wenig Geld hatten, musste ich die abgelegten roten Stiefelchen von meiner Schwester anziehen. Zuerst nur zu Hause, da habe ich mich eigentlich nicht geschämt. Als ich sie dann aber auch draußen tragen musste, wurde ich von anderen Kindern ausgelacht. Da wurde

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mir das überhaupt erst bewusst!« Der Therapeut ließ den Patienten das Konfliktsystem seiner Kindheit mit verschiedenen Stühlen im Therapiezimmer äußerlich wahrnehmbar symbolisieren, mit einem Stuhl für ihn selbst, einem anderen für die ältere Schwester, einem für die Mutter, einem für den Vater und etwas weiter entfernt auch mit Stühlen für die Kinder, die ihn ausgelacht hatten. Herr A. hatte als Kind immer wieder die Kleider seiner älteren Schwester auftragen müssen. Die Mutter hatte darauf bestanden, obwohl Herr A. als Junge protestiert hatte. Sie hatte gedroht, der Vater würde ihn strafen, wenn er nicht gehorchte. Er habe sich damals vor anderen Kindern sehr geschämt. Vermutlich war bei Herrn A. die Ich-Spaltung überhaupt erst durch diese Beschämungen durch die anderen Kinder entstanden. Durch das Aufstellen des Konfliktsystems seiner Kindheit mit Stühlen wurde dem Patienten deutlich: »Damals hielt die Mutter die Fäden in der Hand.« Der Therapeut: »Das stimmt, aber in Ihren Verkleidungsspielen sind Sie mit sich selbst als Erwachsener jetzt ähnlich sadistisch umgegangen, wie das früher Ihre Mutter mit Ihnen gemacht hat. Dazu haben Sie ihre Mutter jetzt gar nicht mehr gebraucht!«

In einer Fetischismushandlung ist der Patient gleichzeitig Opfer und Täter, Objekt des Geschehens und Subjekt des Geschehens, Geschöpf und Schöpfer des eigenen masochistischen Spiels. Der Patient des Fallbeispiels 115 hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, in seinen Fetischismushandlungen immer wieder sein eigenes Kindheitsdrama reinszeniert.

11.7 Abstinenzversuch und psychische Entwöhnungs­ behandlung bei Fetischismushandlungen Fallbeispiel 116 (Fortsetzung): Bei dem 50-jährigen Herrn C. waren die seit seinem siebten Lebensjahr bestehenden Fetischismushandlungen so mit seinem Identitätsgefühl verbunden, dass er vor der Behandlung fest glaubte, bisexuell zu sein. Er hatte davon auch seine Ehefrau überzeugt. Andererseits gab es wegen seiner »Heimlichkeiten« in der Ehe aber immer wieder Streit, und seine emotional lebendige Frau entwertete ihn: »Du bist egoistisch!« »Du bist nicht kontaktfähig.« »Stell dich nicht so an!« »Du bist hysterisch!« Die Entwertungen seiner Frau dienten Herrn C. rückwirkend wieder als Rechtfertigung für seinen Rückzug in die Fetischismushandlungen. In der »Verkleidungswelt« war er der Regisseur des Geschehens und konnte gleichsam die Puppen tanzen lassen: »Ich erhole mich dann.« Er war durch das gemeinsame »Geheiminis« aber von seiner Frau abhängig und hatte keine Freunde. Anders als der Patient im Fallbeispiel 115 wurde der zwanzig Jahre ältere, narzisstisch gestörte Herr C. durch die Arbeit an der Ich-Spaltung nicht schon spontan

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abstinent. Deshalb empfahl der Therapeut ihm nach einem Jahr Behandlung: »Probieren Sie doch einmal aus, sich ein halbes Jahr nicht zu verkleiden! Machen Sie das nur zur Selbsterfahrung, um auszukundschaften, wie es Ihnen seelisch ohne das Verkleiden gehen würde!« Durch den Abstinenzversuch kam es im Leben von Herrn C. überraschend zu einer entscheidenden Wende. Wie im Fallbeispiel 115 verringerte sich sofort seine depressive Symptomatik. Herr C. berichtete in der nächsten Therapiestunde: »Ich habe vor zwei Tagen alle meine Frauenkleider in einen Koffer gepackt und auf den Boden gebracht. Aber jetzt bin ich gegen alle möglichen Leute aggressiv.« Nach neun Tagen Abstinenz meinte er verwundert: »Ich habe nicht mehr so viel Angst und nicht so ein schlechtes Gewissen. Ich wusste gar nicht, dass ich das hatte! Es fehlt mir zwar etwas, sonst hatte ich immer etwas vor. Aber wenn meine Frau jetzt wegfährt, vermisse ich sie! Mein Beleidigtsein ist nicht mehr so da. Ich nehme mehr teil an den Menschen und bin lebendiger!« Nach sechzehn Tagen Abstinenz fühlte Herr C.: »Ich bin fröhlicher, wacher, habe öfter ein Lächeln auf dem Gesicht. Früher war die Arbeit für mich oft quälend, jetzt macht mir das nicht mehr so viel aus. Ich schlafe auch mehr mit meiner Frau, das macht mir jetzt mehr Freude. Ich glaube, ich habe mir durch das Verkleiden in meinem Leben viel weggenommen, auch wenn ich dachte, das gibt mir sehr viel! Das war mein Lebensinhalt gewesen. Das war wie ein Hafen, der hatte etwas Wohliges, etwas Beschützendes, Ruhiges. Aber den laufe ich jetzt nicht mehr an. Ich bin jetzt mehr draußen, alles ist interessanter! Ich spiele jetzt auch besser Tennis.« Nach acht Wochen Abstinenz meinte Herr C.: »Ich empfinde jetzt mehr, merke bei der Arbeit den Druck und hinterher die Erschöpfung. Ich bin als Betriebsleiter griffiger geworden zu meinen Leuten, weniger konfliktscheu, klarer, habe neulich einem Lehrling gesagt: ›Ihre bloße Anwesenheit reicht mir nicht, Sie müssen schon etwas tun!‹ Die Kollegen haben meine Veränderung auch schon bemerkt. Früher hatte ich immer Angst, angeguckt zu werden. Ich war zu ihnen großzügig und habe gedacht: ›Wenn ich nett zu ihnen bin, werden die mich nicht so stark verurteilen, wenn sie mich einmal entdecken.‹ Die Angst habe ich jetzt nicht mehr!« Der Patient hatte viel mehr Zeit und Energie in das Planen seiner Verkleidungen, in das Verheimlichen, das Unterdrücken der Scham- und Schuldgefühle und die Rechtfertigungen gegenüber seiner Frau investiert, als ihm bewusst gewesen war. Die frei werdende Energie stand ihm jetzt für sein Leben und seine Beziehungen zur Verfügung. Er lernte neu, in Konflikten in seinem Alltag standzuhalten und sich in seinen Beziehungen mehr Raum zu nehmen. Die Therapie dauerte wegen der starken narzisstischen Defizite des Patienten insgesamt fünf Jahre. Der Patient wurde während der letzten vier Jahre seiner Behandlung nicht wieder rückfällig, obwohl der Therapeut ihm immer wieder einmal anbot: »Wenn sie wollen, können Sie das Verkleiden noch einmal versuchen. Dann erfahren Sie selbst, ob ihr positives Lebens-

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gefühl dadurch wieder verschwindet!« Herr C. wollte aber die für ihn »neue Lebensenergie« nicht wieder verlieren. Die bessere Aktualisierung seines Selbst führte in der Beziehung zu seiner Ehefrau allerdings zu massiven Konflikten, und diese begann ebenfalls eine Psychotherapie. Am Ende der Behandlung von Herrn C. hatte sich die Beziehung zu seiner Frau aber zu einer lebendigen Beziehung auf Augenhöhe entwickelt, er hatte sich sein Traumauto gekauft und neu auch Freundschaften mit anderen Männern geknüpft.

Manche der Fallbeispiele in diesem Buch sind anrührend, andere wirken wegen des merkwürdigen Symptomhandelns der Patienten vielleicht auch befremdlich. Die Frage »Wir wirkt Psychodramatherapie?« wird aber gerade auch in diesen schwierigen Fallbeispielen beantwortet. Moreno, der das Psychodrama als Psychotherapiemethode entwickelte (siehe Kap. 1), hat schon 1923 in seinem Buch »Das Stegreiftheater« (Moreno, 1970, S. 77 f.) in seiner damals noch sehr poetischen Sprache eine zentrale Grundlage der therapeutischen Wirkung des Psychodramas dargestellt. Er beschrieb, ohne das so zu nennen, wie durch das psychodramatische Spielen des Symptomhandelns der Als-ob-Modus in den Äquivalenzmodus des Denkens integriert und der Mensch dadurch von seinen Symptomen befreit werden kann (siehe Kap. 2.2 und Abb. 6): »Jedes wahre zweite Mal ist die Befreiung vom ersten. Befreiung ist eine idealisierende Benennung, denn restlose Wiederholung macht ihren Gegenstand lächerlich. Man gewinnt zu seinem eigenen Leben, zu allem, was man getan hat und tut, den Aspekt des Schöpfers – das Gefühl der wahren Freiheit, der Freiheit von seiner Natur. Das erste Mal bringt durch das zweite Mal zum Lachen. Auch das zweite Mal wird – zum Schein – gesprochen, gegessen, getrunken, gezeugt, geschlafen, gewacht, geschrieben, gestritten, gekämpft, erworben, verloren, gestorben. Doch […] jede Gestalt aus Sein wird durch sich selbst im Schein aufgehoben und Sein und Schein gehen in einem Lachen unter. […] Dieser Schein ist die Entfesselung des Lebens. […] Prometheus hat sich bei den Fesseln gepackt, nicht um sich selbst zu überwinden oder umzubringen. Er bringt sich selbst noch einmal hervor und beweist durch den Schein, dass sein Dasein in Fesseln die Tat seines freien Willens war.« Die aus dieser Erfahrung entwickelte Erkenntnis Morenos ist auch heute noch Grundlage der Psychodramatherapie. Moreno hat den therapeutischen Wert des psychodramatischen Rollenspiels möglicherweise in seiner Arbeit mit einer bestimmten Schauspielerin in seinem Stegreiftheater erkannt. Er soll dieses Schlüsselerlebnis viele Male erzählt haben (Marineau, 1989, S. 74): Fallbeispiel 117 (Moreno, 1959, S. 14 f.): »Wir hatten eine junge Schauspielerin, die besonders erfolgreich in der Darstellung von Heiligen, Heldinnen und romantischen,

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zarten Geschöpfen war.« Einer ihrer Verehrer verliebte sich in sie und sie heirateten. Eines Tages kam ihr neuer Ehemann sehr bedrückt zu Moreno und erklärte, seine Frau sei in der Ehe unerträglich. »Sie lasse sich in jeder Weise gehen, sei streitsüchtig, gebrauche die gewöhnlichsten Ausdrücke, und wenn er sie ärgerlich zurechtweise, werde sie sogar tätlich.« Moreno bat den Mann, wie sonst auch abends in das Theater zu kommen, er wolle versuchen, ihm und ihr zu helfen. Moreno schlug dann der Schauspielerin vor, nicht immer nur Rollen von verehrungswürdigen Frauengestalten zu spielen, und bot ihr die Rolle eines Straßenmädchens an. Sie griff den Vorschlag begeistert auf und »spielte die Rolle mit einer solchen echten Ordinärheit, dass sie nicht wiederzuerkennen war. Das Publikum war fasziniert, der Erfolg groß. […] Von da an trat sie vorzugsweise in ähnlichen Rollen auf. Ihr Mann begriff sofort.« Er suchte Moreno täglich auf und berichtete ihm schon nach einigen Tagen: »Es ist eine Wandlung eingetreten […], sie bekommt zwar noch immer ihre Zornesausbrüche, aber sie haben an Intensität verloren. Sie sind auch von kürzerer Dauer, und manchmal beginnt sie plötzlich zu lächeln, weil sie sich selbst an die Szenen ähnlicher Art erinnert, die sie auf der Bühne spielt. Und ich lache mit ihr aus dem gleichen Grund. […] Manchmal beginnt sie sogar schon zu lachen, bevor sie ihren Anfall bekommt, weil sie genau weiß, wie er sich abspielen wird. Sie steigert sich zwar unter Umständen noch hinein, aber in viel schwächerer Form als früher.«

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Personenregister

Allen, Jon G.  20, 26 Ameln, Falko von  20, 43 Arntz, Arnoud  81, 107, 118 ff., 142 ff. Baim, Clark  247, 253 ff. Balint, Michael  372, 397 Bannister, Anne  221, 252 Bateman, Anthony W.  20 f., 26 Bender, Wolfram  201, 386, 436 f. Benzinger, Hans  480 Blatner, Adam  56, 345 Bleckwedel, Jan  81 Bode, Sabine  344 Brockmann, Josef  21 Buer, Ferdinand  20, 43, 58 Burbridge, Jennifer A.  176, 197, 206 Burge, Michael  192, 221, 247 Burmeister, Jörg  206, 221, 247, 256 Casson, John  434 Cattanach, Ann  81 Chesner, Anna  81 Czáky-Pallavicini, Krisztina  60, 147, 236 f., 239, 329 Damasio, António  44 Dayton, Tian  206, 247 de Beauvoir, Simone  80 Dehner-Rau, Cornelia  168 Dieckmann, Hans  52, 228 Drees, Alfred  439 Dürckheim, Karlfried Graf  136, 193 f., 371, 373, 485 Edwards, Griffith  476 Eleftery, Dean  386 Ermann, Michael  163

Ewald, Matthias  387, 438 Ferenczi, Sándor  317 Fonagy, Peter  20 f., 26, 41 f., 73, 111, 396 Fooken, Insa  194 Frede, Ursula  349 f. Freud, Anna  317, 319 f. Freud, Sigmund  397 Fuhr, Ulla  109, 223, 363, 430 Gallus, Peter  449 Gandhi, Mahatma  326, 335 Garde, Timm  439 Gast, Ursula  176 Giesen-Bloo, Josephine  107 Gneist, Jochen  155 Goethe, Johann Wolfgang von  402 Grimmer, Karl  147, 195, 264, 277 f., 292 ff. Groterath, Angelika  456 Gunkel, Stefan  93, 172 f., 434 Harter, Klaus Ernst  60, 449 f. Hartmann, Ernest  148, 233 f. Heigl-Evers, Annelise  67 f., 79, 153, 163, 166, 273, 365, 412 Heigl, Franz  79, 163, 166 Hiller, Wolfgang  448 f., 472, 502 Hillmann, James  155 Hintermeier, Sonja  449, 482, 503, 510 Hirsch, Mathias  171, 229 Hochreiter, Karoline  71 Holmes, Paul  20, 43 Hudgins, M.K.  75, 221, 247 Hüther, Gerald  176 Hutter, Christoph  47, 64

550 Jacob, Gitta  144 Jellinek, Elvin Morton  451, 453, 478, 502, 509, 513, 518 f., 522 Jennings, Sue  81 Jung, Carl Gustav  341 Kämmerer, Wolfgang  115 Karp, Marcia  76, 199, 206, 213, 216 ff., 221, 247 f., 250 Kellermann, Peter Felix  15, 20, 56, 76, 147, 196, 198, 206, 213, 218, 221, 247 ff. Kernberg, Otto  100 ff. Kirsch, Holger  21 Klein, Ulf  81 Kollenbaum, Carmen  301 König, Karl  242 Körkel, Joachim  450 Krakow, Barry  197, 236, 239, 418 Kriz, Christoph  29, 64, 83, 85 Kruse, Andreas  80 Lauterbach, Matthias  81 Lesemann, Klaus  222 Leuschner, Wolfgang  413 Leutz, Grete  28, 59, 71, 73 f., 76, 86, 141, 199, 218, 248, 290, 292, 334, 489 Liebel-Fryzer, Ingeborg  81 Lohse, Ulrich  443 Lorenzer, Alfred  26, 116 Lutz-Dreher, Dieter  523 Marineau, René F.  27, 59, 536 Markowitsch, Hans J.  218 Mathias, Ulrike  71 Mentzos, Stavros  93, 96, 98 f., 171, 179, 261, 264, 290, 295, 303, 307 f., 366, 389 f. Mitchell, Steve  81 Moreno, Jakob Levy  14, 19, 27, 42, 59, 71, 73, 76, 84, 87, 288 f., 319, 337, 374, 384, 387 f., 392, 394, 402, 420, 430, 432 f., 436, 440, 489, 536 Moreno, Zerka  15, 27 f., 59 Morgenstern, Christian  102 Parin, Paul  308 Pellegrini, Anthony D.  45 Pesso, Albert  81, 277 Petzold, Hilarion  71, 81 Plassmann, Reinhard  358 Powell, Andrew  131 f.

Personenregister

Pruckner, Hildegard  116, 221 Putnam, Frank W.  95, 175 Radebold, Hartmut  193 Reddemann, Luise  168, 174 f., 180 f., 195, 198, 212, 239, 448 Reimer, Christian  373, 443 Richter, Horst-Eberhard  273 Robson, Marlyn  183 Roediger, Eckhard  144 Rogers, Carl  308, 407 Rohde-Dachser, Christa  102 f., 120 Roine, Eva  73, 200, 206, 221, 247 f., 251 Rost, Christine  195 Rudolf, Gerd  89, 98, 100, 104, 115 Rüger, Ulrich  79, 163, 166 Sabelli, Hector  85 Sáfrán, Szofia  60, 147 f., 235, 237, 239 Sailer, Ruth Barbara  509 Sattelberger, Ruth  116 Schacht, Michael  71, 76 f., 84, 166, 261, 361 Schäfer, Ingo  173, 448 Schaller, Roger  73 Scharnhorst, Ursula  111 Schiepek, Günter  44, 73 Schindler, Raoul  52, 66, 70, 387 Schrenker, Leonhard  277 Schulte-Herbrüggen, Olaf  177 Schulte-Markwort, Michael  87 Schwehm, Helmut  73, 75, 465 Selman, Robert L.  76 Shengold, Leonhard  464 Siebel, Ute  439 Smith, Ruth S.  87 Sokrates  24 Spoormaker, Victor  434 Stadler, Christian  201, 386, 436, 455, 482, 502 Stelzig, Manfred  71, 76 Steppan, Martin  449 Stern, Daniel  238 Stimmer, Franz  456 Straub, Heike  19, 59, 290, 303 f., 306, 384 Sturm, Ingrid  32 van der Kolk, Bessel A.  174, 176, 197 ff., 206, 227 van Genderen, Hannie  81, 107, 119 ff., 142 f., 145, 147

551

Personenregister

Vargas Llosa, Mario  234 Waldheim-Auer, Bettina  60, 449 f., 465, 483, 495, 498, 500 Waniczek, Sabine  60, 450, 494 Watkins, John G. und Helen  95 Weiner, Hannah B.  494 Werner, Emmy E.  87 Wieser, Michael  60, 450 Wilber, Ken  350 Wilkinson, Richard  257

Winnicott, Donald  46, 404 Wittchen, Hans-Ulrich  177 Wurmser, Léon  200, 207, 212 Yablonsky, Lewis  24 Yalom, Irvin  372 Young, Jeffrey E.  97, 143 Ziehm-Kossatz, Heidrun  315 Zilch-Purucker, Birgit  124

Stichwortregister

A Abhängigkeitskrankheit, siehe Suchterkrankung  441 Ablösungskonflikt  229, 346 therapeutische Wirkung des Rollentauschs bei  343 Veränderung innerer Beziehungsbilder bei  341 Abwehr  48, 91, 145, 267, 271, 275, 295, 317 Abwehrmechanismen  32, 77 f., 94, 117, 134, 137, 141, 144, 200, 274 Abwehrsystem  138, 161, 219, 261 f., 264, 341, 348, 352, 397, 495 Auflösung der Abwehr durch Psychodramatechniken  32, 50 Aggression destruktive  87 konstruktive  87 Agoraphobie  264 f. Psychodynamik der  264 siehe Angststörung  264 Aktualisierungstendenz des Selbst  28, 62, 78, 108 f., 119, 135, 140, 142, 231 Aktivierung bei Angststörungen  275 Aktivierung bei neurotischer Depression  326 f. Aktivierung bei psychosenaher Depression  359 Aktivierung bei psychotischer Erkrankung  389, 398, 401, 417 Aktivierung bei Zwangsstörungen  296 Aktivierung durch Technik des Bewältigungsmärchens  238, 352 Analogie zu Mensch als Kreator, siehe Kreator, Mensch als  308 Definition  308 Albträume  214, 239, 418, 434

Alkoholabhängigkeit  447 ff. Alkoholkrankheit, siehe unter Suchterkrankung  441 Allgemeinmedizin  315, 408 All-Identität Analogie zum Äquivalenzmodus des Mentalisierens  42 Alpha-Position der Gruppe Bestimmung des Gruppenthemas  53 Definition  66 Therapeutin in der  67, 71 Als-ob-Modus des Mentalisierens  42, 46, 77, 92, 433 Aktivierung durch Doppeln und Doppelgänger-Technik, siehe unter Mentalisieren, stellvertretendes  42 Aktivierung durch Rollenfeedback  42, 315 Analogie zu Morenos psychodramatischer Rolle  42, 77 Analogie zu Morenos zweitem Universum  42 Definition des  41 enthalten in soziodramatischer Rolle Morenos  77 Entwicklung beim Kind  42 und die Theorie der Rollenentwicklung von Moreno  42 Als-ob-Modus des Spiels  14, 28, 39, 43 f., 72, 78 f., 82, 85, 92, 108, 110, 128, 136 f., 202, 213, 298 f., 536 siehe Mentalisieren, Regelkreis mit psychodramatischem Spiel  39 siehe Psychodramatechniken, allgemeine Theorie  39 siehe Spiel, psychodramatisches  39 siehe Stühlearbeit  39

Stichwortregister

alter weiser Mann  211 alte weise Frau  211, 230 Amoklauf  164 Amplifikation als zentrale Psychodramatechnik  31 Definition  315 durch Märchenassoziation  529 therapeutische Wirkung  31, 315 Angst, Arten der  259 Panikattacken  261 Realangst  259 übertriebene  260 verdrängte  261 vor dem Absurden  440 vor dem Tod  350, 381, 484 Angststörung Angstkonfrontation  292 Diagnostik mit Stühlearbeit  267, 270, 274 Formen der  262 gute innere Eltern bei  277, 286, 292 Indikation von Einzeltherapie  278 Indikation von Gruppentherapie  278, 287 Krisenintervention bei  285 Panikattacken, siehe dort  285 Phobie, siehe Phobie, isolierte  262 Psychodynamik bei einer  264 ff. Selbstschutzverhalten im Sinne eines Abwehrsystems  265, 271, 275 Spielen von Kindheitsszenen  271, 274 Surplus Reality bei  277 therapeutische Beziehung bei  285 f. therapeutische Beziehung, siehe Gegenübertragung oder Selbstorganisation, psychische, dysfunktionale  259 und Sucht  473, 501 Anonyme Alkoholiker  446, 476, 483, 485, 487, 489, 499 f. die zwölf Schritte der  488 ihre drei Lebensregeln  484 Anpassung  45 f., 91 bei psychotischen Erkrankungen  389 Mechanismen der  308 neurotische  308, 321, 353 Äquivalenzmodus des Mentalisierens Analogie zu All-Identität Morenos  42 Analogie zu erstem psychischen Universum Morenos  42 Analogie zu psychosomatischer Rolle Morenos  42, 77

553 bei BorderlinePersönlichkeitsstörung  150 bei krankheitswertigem, abweichenden Verhalten  528 bei psychotischen Erkrankungen  396, 406 bei Suchterkrankung  508 bei Zwangsstörungen  299 Definition  41, 396 Integration des Als-ob-Modus mit dem Äquivalenzmodus durch psychodramatisches Spiel  536 Arbeitssucht  509 Aschenputtel  142 Aufstellungsarbeit siehe Stühlearbeit, Szenenaufbau oder Tischbühne  80 autobiografisches Gedächtnis  85 autobiographisches Gedächtnis  218 Automatenspielsucht  509 siehe Suchterkrankung  509 Auto-Tele  392, 432 B Begegnung  47, 66, 255, 492 Definition  47 existenzielle  494 letzte Begegnung in der Trauerarbeit  345, 347 ff. mit dem Tod  371, 373 Beta-Position der Gruppe Definition  68 Therapeutin in der  68, 71 Bewältigungsmärchen, Schreiben eines  194, 231, 239, 243, 352 Aktivierung der Aktualisierungstendenz des Selbst durch  238, 352 in der Gruppentherapie  239 praktische Ausführung  148, 236 f. Beziehungsbild, inneres  41, 46, 60, 64, 78, 85, 91, 146, 148, 228, 278, 321 ff., 327, 330, 333 f., 341, 398, 430, 437 und äußere Beziehungsrealität  40 Beziehungsklärung psychodramatische  53 ff. siehe unter Übertragung, differenzieren von Übertragungsbeziehung und Realbeziehung  55 Beziehungskonflikt, innerer  52 Bindungssystem  235

554 bipolare Störung  366 f. Diagnostik einer  366 Borderline-Persönlichkeitsstörung  43, 89, 93, 102 ff., 111, 125 f., 128, 131 f., 184, 262, 482, 516 Abwehr durch Spaltung bei  100, 102, 144 Beziehungsklärung in der Gruppe  128, 130 f. Denken im Äquivalenzmodus bei  99 f. Diagnostik  131 Probleme in der Therapie  99 Psychodynamik  99 ff. Schritte der Therapie von  130 Selbstsupervision mit drei Stühlen  107, 129 siehe Persönlichkeitsstörung  100 Stühlearbeit, siehe unter Persönlichkeitsstörung, Stühlearbeit oder Ich-Zustände, Repräsentation mit Stühlen  100 therapeutische Beziehung  103, 107, 129, 150, 155, 157 therapeutische Beziehung, siehe unter Gegenübertragung oder Selbstorganisation, psychische, dysfunktionale  102 und Suchterkrankung  93, 449 und Traumafolgestörung  93, 173 Zwei-Stühle-Technik  129 ff. Bremer Stadtmusikanten  485 Brief, fiktiver  147, 228, 277, 285, 333, 346 Bulimie  198 Burnout  313 Burn-out der Therapeutin  245 C Charakterneurose, siehe Persönlichkeitsstörung  93 Computerspielsucht  113, 122, 516 D Das Mädchen ohne Hände  273 Depersonalisation  174, 176, 200 f., 393, 427 Auflösung der  425 siehe Dissoziieren  176 Depression bei Ablösungskonflikt  341 bei Aktualkonflikt, siehe unter Depression, Aktualkonflikt  313 bei Psychose  428

Stichwortregister

bei struktureller Störung, siehe unter Depression, struktuelle Störung  350 bei Suchterkrankung  477 Diagnostik der verschiedenen Formen der  309 Ich-Zustände bei  312 medikamentöse Behandlung  367 neurotische, siehe unter Depression, neurotische  319 Psychodynamik  308 psychosenahe, siehe unter Depression, psychosenahe  352 rezidivierende  351 Selbstverlust bei  352 Stühlearbeit  312 suizidale Krise, siehe dort  307 Symptome  307 therapeutische Beziehung, siehe unter Gegenübertragung oder Selbstorganisation, psychische, dysfunktionale  307 Trauerreaktionen, siehe unter Trauerarbeit  345 Depression, Aktualkonflikt  310, 313 ff. Depression, neurotische  77 Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer  317, 319 Aktivierung der Aktualisierungstendenz des Selbst, siehe unter Aktualisierungstendenz des Selbst  326 Auflösung der Abwehr durch Introjektion  320, 322 Auflösung der Abwehr durch Projektion  321, 327 Behandlung in der Gruppentherapie  338 ff. Definition  317 gerechte Beziehungsverwirklichung  92, 326 gerechte Beziehungsverwirklichung bei  323, 327 ff. Kindheitsszenen spielen bei  332 Psychodynamik  317, 328, 333 Schritte der Therapie  322 ff. stellvertretendes Mentalisieren  322, 324 f. Veränderung innerer Beziehungsbilder  332, 334 Depression, psychosenahe

555

Stichwortregister

Aktivierung der Aktualisierungstendenz des Selbst, siehe Aktualisierungstendenz des Selbst  359 Anwendung der Tischbühne bei  356, 361 f. Indikation von Einzeltherapie  364 Psychodynamik  311, 352 Repräsentation der Ich-Zustände  361, 363 f. stellvertretendes Mentalisieren  355 ff., 359 f. Suizidgedanken  355 ff. therapeutische Beziehung  353 f., 357, 360 Therapieplanung  367 Depression, strukturelle Störung  310, 312 Definition  350 diagnostische Hinweise auf eine  351 Identitätskonflikte bei  350 Derealisation  174, 176, 213, 221 siehe Dissoziieren  176 Desensibilisierungstechnik  289 deviantes Verhalten siehe krankheitswertiges, abweichendes Verhalten  522 Diagnosen strukturelle  89 symptombezogene  89 Diagnostik  106, 186, 222, 309, 351, 378, 394, 405, 416, 445, 452, 460, 529 der Gruppendynamik  53 f., 66, 70 mit dem Selbststeuerungskreis  183, 185 mit Hilfe der Stühlearbeit  80, 116, 122, 267, 278, 285, 297, 312 mit Hilfe der Tischbühne  183, 189, 222, 311, 314, 414 mit Hilfe des psychodramatischen Dialogs  105 dissoziative Störung  212, 366 Dissoziieren  61, 76, 185, 195, 248 Abwehr durch Verleugnung bei  200, 207 als Prozess in vier Schritten  200 Auflösung des  212, 216, 224, 226, 427 Definition  175 f., 198, 200 unterstützende Gegenfantasie  200 Doppelgängerdialog  388, 404 f., 407 ff., 416, 418, 422 bei Benedetti  403 Indikation des  92, 394, 405, 408 f.

Krankheitseinsicht durch den, siehe psychotische Erkrankung, Krankheitseinsicht  400 praktische Ausführung  395, 399, 405 f., 408, 419 transmodale Beziehungsgestaltung bei, siehe transmodale Beziehungsgestaltung  399 Doppelgänger-Technik  106, 143 als zentrale Psychodramatechnik  29 bei Angststörung  280 bei gerechter Beziehungsverwirklichung  328 ff. bei neurotischer Depression  325, 339 bei Persönlichkeitsstörung  110, 114, 124 bei psychosenaher Depression  360 f. bei psychotischer Erkrankung  394, 400, 406 f., 417 f., 423 bei Suchterkrankung  497 bei Traumafolgestörung  188, 205, 212 f., 224, 226, 255 Definition Morenos  388 fiktiver Doppelgänger  109, 141, 147, 196, 209, 225, 255, 273, 303, 316 Indikation  65, 107, 113, 146, 388 siehe Mentalisieren, stellvertretendes  109 Theorie der therapeutischen Wirkung der  29 Doppeln als stellvertretendes Mentalisieren, siehe unter Mentalisieren, stellvertretendes  30 als zentrale Technik des Psychodramas  28, 30 eindoppeln  61 Indikation des  30 mit Handauflegen  62 praktische Ausführung  48 suggestives  293 Theorie der therapeutischen Wirkung  30 Dramatherapie  81, 434 Du-Erkenntnis durch Rollentausch  334 Dysthymie  220, 307, 351 E ego-states, siehe Ich-Zustände  94 Einzeltherapie bei Moreno  19

556 Einzeltherapie mit Psychodrama bei Moreno  59 Indikation  60 theoretische Begründung  23, 58, 60 Verhinderung durch Ideologie der  58 f. Ekzem, endogenes  338 Eltern, fiktive gute  146, 277, 286, 292 Erschöpfungssyndrom  313, 351 Erwachsenendenken, gesundes  80, 116 Coachen des  141 Definition  118, 141, 145 Entwicklung des  118, 127, 141 Erwachsenen-Ich  276, 283 Dialog mit Kind-Ich  140 Erwärmung  61, 86 f. Essstörung  509 F Familiengeheimnis  229, 344 Fantasieraum fiktiver  208 gemeinsamer  22 innerer  353, 358 siehe Hilfswelt-Methode  208 Fetischismus Abstinenzversuch bei  534 f. Diagnostik  523 Ich-Spaltung bei  525 ff. ideale Fetischismusszene  532 f. Kastrationsangst bei  525, 528 f. Psychodynamik  525, 533 f. Zwei-Stühle-Technik bei  527 f., 530 Flashback  168 f., 174, 177, 183, 186 ff., 192, 195, 217 f., 235 Auflösung eines  236 Auslösung eines  169 Definition  174, 176, 198 Zwei-Stühle-Technik  186, 188 f. Focusing  359 Fokus der Therapie  115, 364 G Gegenübertragung bei Angststörung  266 bei BorderlinePersönlichkeitsstörung  100, 103, 150 bei depressiver Erkrankung  328, 330, 353 bei Persönlichkeitsstörung  116 f., 157 f. bei psychotischer Erkrankung  392 bei Suchterkrankung  442, 491 f.

Stichwortregister

bei Traumafolgestörung  168, 240 bei Zwangsstörung  296 siehe auch unter Widerstand oder Ich-Zustände der Therapeutin  52 generalisierte Angststörung  262 gerechte Beziehungsverwirklichung siehe unter Depression, neurotische  326 Gerechtigkeit als systemisches Entwicklungsprinzip  335 Gestaltschluss  26 gewaltloser Widerstand  335 Gewissen, Arten von  371 Glücksspielsucht  508 f. Grandiosität, Abwehr durch  118, 122, 178 Grandiosität des Therapeuten siehe Ich-Zustände der Therapeutin  154 Gruppentherapie Definition nach Moreno  19 gerechte Beziehungsverwirklichung in der  339 f. Gruppe als ein sich selbst organisierendes System  52, 66, 70, 340 Gruppendynamik  52, 70 Gruppenthema  53, 70 Gruppenwiderstand  51, 54, 67, 340 in der Kindertherapie  46, 252 Indikation  60 Selbsthilfegruppe für Suchtkranke  475 f. sozialpsychiatrische  435 Stegreifspiel in der  437 Technik des Bewältigungsmärchens in der  236 f., 239 therapeutische Wirkung der  247, 339 Triade mit Soziometrie und Psychodrama  59 H Handpuppen  134, 139, 276, 297, 299, 399, 417 Handpuppen-Spiel in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen  134 in der Behandlung von Psychosekranken  427 ff., 431, 435 in der Behandlung von Zwangsstörungen  303 in der Kindertherapie  253 Hänsel und Gretel  388 Herzphobie  262, 293

Stichwortregister

Hilfs-Ich  19, 61, 86, 106 f., 109, 135 f., 140, 232, 254 f., 276, 287, 289, 292, 319, 322, 339, 348, 384, 394, 480, 497, 503, 531 entrollen des Hilfs-Ichs  63 Mitspielen der Therapeutin  109, 336 f., 430 siehe Doppelgänger-Technik  62 therapeutische Wirkung auf das Hilfs-Ich selbst  339 Hilfswelt-Methode  417, 419, 423 bei Goethe  402 bei Moreno, ein Fallbeispiel  384 f. bei Schamanen  402 Definition  384 Doppelgängerdialog bei der  385, 394, 418 mit Hilfe von Handpuppen  417 mit Hilfe von Stühlen  417 praktische Ausführung  418 ff., 423 transpersonale Beziehungsgestaltung, siehe unter transmodale Beziehungsgestaltung  417 Homosexualität  342, 514 Humanistische Psychotherapie Psychodrama als Verfahren der  29 Hyperarousal-Zustand  138 I Ich-Erkenntnis durch Rollentausch  334 Ich, psychoanalytisches Definition  353 Konfusion  105, 123, 358 Ich-Spaltung Auflösung durch Zwei-Stühle-Technik und Rollenwechsel, siehe unter IchSpaltung, Zwei-Stühle-Technik  528 bei Kodependenz  231 bei Psychose  413, 415 bei Sucht  463, 465, 510 Definition  200, 463 f. Ich-Zustände, siehe unter Ich-Zustände  212 Zwei-Stühle-Technik  187, 467, 471, 477, 507, 511, 528 Ich-Zustände Alternieren konträrer  100 f., 103 Analogie zu Abwehrmechanismen  134, 137, 144 Arbeitssystem der  96, 116 f., 124, 145

557 Auflösung der Dysfunktionalität ihrer Arbeit, siehe Stühlearbeit und Ich-Zustände, Repräsentation mit Stühlen  116 bei Persönlichkeitsstörung, siehe dort  96 bei struktureller Störung, siehe dort  96 der Therapeutin, siehe unter Ich-Zustände der Therapeutin  150 dysfunktionale Arbeit der  79, 94, 117, 127, 137, 145 gesundes Erwachsenendenken, siehe Erwachsenendenken, gesundes  118 Ich-Spaltung, siehe unter IchSpaltung  102 Repräsentation mit Stühlen  114 ff., 119 ff., 127 f., 133, 143, 155, 183, 270, 274 f., 286, 296, 300, 312 Repräsentation von Ich-Zuständen mit Handpuppen, siehe Handpuppen  134 Schematherapie, siehe unter Schematherapie  118 Selbstschutzverhalten, siehe dort  118 selbstverletzenden Denken und Handeln, siehe dort  120 siehe auch Stühlearbeit oder Selbstorganisation, psychische  94 siehe Übertragung oder Widerstand  95 verlassenes bzw. traumatisiertes Kind, siehe unter Kind  119 wütendes Kind, siehe unter Kind  120 Ich-Zustände der Therapeutin Aufstellen mit Stühlen  150, 152, 154, 157, 491 fachlich kompetente Therapeutin  151 f., 154, 491, 493 grandiose Therapeutin  152, 154, 156, 491, 494 Rollenwechsel zwischen den  151 f., 154 f., 493 f. siehe auch unter Gegenübertragung, Widerstand oder Prinzip Antwort  150 Therapeutin als begegnender Mensch  152, 154, 491, 493 Identifizierung mit dem Angreifer, Abwehr durch  78, 328, 331, 333, 340 als unbewusster Rollentausch  319 Analogie zu Ich-Zustand des selbstverletzenden Denkens und Handelns  144

558 Auflösung durch Rollentausch  319 f. Definition  317 siehe Depression, neurotische  319 Imaginary Rehearsal Therapy  236, 239 Inkongruenz  95, 185, 308 integrative Therapie  81, 143 Internetspielsucht, siehe Computerspielsucht  113 Introjektion, Abwehr durch  39, 101, 144, 153, 320, 345 als Teil der Identifizierung mit dem Angreifer  78, 317 Auflösung durch Doppeln  315 Auflösung durch Spiegelfunktion des Rollentauschs  320 Auflösung durch stellvertretendes Mentalisieren  322, 325 Definition  317 Intrusion  174, 176 Intuition Definition  25 f. der Therapeutin  24 f., 47 des Patienten  47 naive Intuition  27 Prozess der Intuition  25 f., 48 wissende Intuition  27 J Jellinek’sche Fragen siehe Suchterkrankung, Jellinek’sche Fragen  459 K Kapitulation, siehe Suchterkrankung  485 Katharsis  60, 87, 216, 248, 270, 360, 364 durch Lachen  440, 490, 536 Kind gesundes inneres  120, 303 nicht gewolltes  99, 195, 428 traumatisiertes  119, 134, 180, 187, 191, 243, 246, 508 verlassenes  118 f., 121, 133 ff., 139, 508 wütendes  120, 122, 138, 149, 277, 282, 298 Kindertherapie  46, 303 bei sexuell missbrauchten Kindern  252 Gruppentherapie  46, 252 Spielfähigkeit von Kindern  46 Kindheitsszene, psychodramatische  109, 113, 145, 225, 292, 320, 332, 339, 483, 508

Stichwortregister

Kind-Ich  139 f., 190, 276, 282 Dialog mit Erwachsenem-Ich  140 Kleptomanie  522 Kodependenz  481, 519, 521 Ich-Spaltung bei  520 Schritte der Therapie  519 Kokreatorin, Therapeutin als  78, 211 Konfliktfähigkeit  86 ff. Krankheitseinsicht bei Persönlichkeitsstörung  125 ff. bei psychotischer Erkrankung, siehe unter psychotischer Erkrankung  400 bei Suchterkrankung  468 ff. kreativer Prozess  85 Apekt des energetischen Austauschs  85 Aspekt der Handlung  87 funktioneller Aspekt  87 struktureller Aspekt  85 Kreativität  62 der Therapeutin  62, 401 des Patienten  358, 487, 494 Theorie der  44, 71, 78, 83, 536 Kreator, Patient als  43, 75, 78, 80, 202, 417, 431, 480, 533 f., 536 Kreismodell des kreativen Prozesses des Mentalisierens, der Psychodramatechniken und der Abwehrmechanismen  31 f. Kriegstrauma  344, 347, 353, 374 Krisenintervention bei Angststörung  285 bei BorderlinePersönlichkeitsstörung  109, 122 bei Psychose  162, 394, 408, 423 bei Suchterkrankung  478, 482 bei suizidalen Krisen  371, 377 f. bei Traumafolgestörung  164, 186, 188, 218, 249 mit Hilfe der Stühlearbeit  122, 285 L Leitungsstil abstinenter  68 direktiver  68 individuumzentrierter  28, 68, 74, 78, 334 intuitiver  24 ff., 48, 337, 361 Morenos  51 Raumposition der Therapeutin in der Spielszene  337

Stichwortregister

systembezogener  51 ff., 65 ff., 333 f., 336, 344 Lernstörung, neurotische  122, 516 M Magenschmerzen  109, 472 Manie, siehe bipolare Störung  366 Märchen als Amplifikation  211, 256, 272 f., 315, 323 Märchendrama auf Akutstation  439 f. Märchenspiel  141, 211, 338 f., 391, 437 siehe Bewältigungsmärchen  236 Märchenassoziation  529 Masochismus  120, 125, 127 siehe selbstverletzendes Denken und Handeln  98 Menschenbild  308 Mensch als ein sich selbst organisierendes System  83, 380 spontan kreativer Mensch  51, 66, 83, 308 Mentalisieren Aktivierung des Mentalisierens durch Doppeln, Doppelgängerdialog oder Doppelgänger-Technik, siehe jeweils dort  388 Aktivierung des Mentalisierens durch Selbstgespräch  108, 289 Aktivierung des Mentalisierens, siehe Mentalisieren, stellvertretendes  108 als integratives Konzept  20 Analogie zwischen den Funktionen des Mentalisierens und den Psychodramatechniken  29 f., 33 Blockade des  67, 78, 91, 228, 319, 328, 331 Definition  20, 103 Defizite des  88, 91 f., 149, 182, 350 f. Entwicklung des  42, 104 Funktionen des  29, 31, 50 Modi des  397 Psychodrama als mentalization-based treatment  20, 60, 65, 71 f., 78 f., 81 Regelkreis mit psychodramatischem Spiel  29, 32, 34, 36, 40, 44, 46, 58, 60, 86, 358, 399 siehe Als-ob-Modus  42 siehe Äquivalenzmodus  41 stellvertretendes  79, 106 ff., 111, 322, 324

559 Unterschiede zu rollentheoretischem Verständnis des Psychodramas  71 Werkzeuge des, siehe Mentalisieren, Funktionen des  29 Zerfall des  92, 397 Migräne  193, 351, 472 Missbrauch körperlicher  162, 179, 224, 238, 240, 243, 248, 255, 448 narzisstischer  43, 113 sexueller, siehe sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung  173 Mobbing  98, 353, 363 Monodrama, siehe Einzeltherapie Moreno als Einzeltherapeut  59 als Gottspieler  384 als Gruppentherapeut  59 das Lachen in die Psychiatrie bringen  440 eigene Gestaltung seines Sterbens  374 Erfindung des Rollentausches  319 Jedes wahre zweite Mal ist die Befreiung vom ersten  40, 536 Meister des Imperfekten  27, 71 Stegreiftheater  536 Vater des Psychodramas  19 N Nachbesprechung  54, 63, 110, 216, 276, 315, 340, 385, 436 Entrollen  63 Rollenfeedback, siehe dort  54 Narzissmus in der gesellschaftlichen Entwicklung  257 narzisstische Persönlichkeitsstörung  95, 113, 125, 488 Neubeginn  365, 372 Neurophysiologie  44, 73, 235 O Obdachlosigkeit  393 Objektrepräsentanz  29, 33, 64, 78, 105, 121, 143, 335 Erweiterung durch Rollentausch  65, 228, 321, 343 Fragmentierung der  397 Repräsentation durch Szenenaufbau  21 f. siehe pathologisches Introjekt  229 Omega-Position  53, 71, 246, 288, 497

560 Definition  67 Opiat-Abhängigkeit  502 P Panikattacken  263 ff. Abwehrsystem  275 Angst vor Selbstverlust und seelischem Tod  261, 265, 267, 272 Definition  261 siehe Angststörung  267 pathologische Brandstiftung  446, 526 pathologisches Introjekt  101, 113, 121, 142, 162, 171, 335 Befriedung des  229 ff. Personenzentrierte Systemtheorie  83 Persönlichkeitsstörung abhängige  518 ängstlich-vermeidende  125 Aufstellen der Ich-Zustände mit Stühlen, siehe unter Ich-Zustände, Repräsentation mit Stühlen  96 Bewältigungsmärchen bei  148 Borderline-Persönlichkeitsstörung, siehe dort  99 Definition  93 Diagnostik  105 f., 116, 140 Formen der  93 Ich-Zustände, siehe unter Ich-Zustände  116 medikamentöse Behandlung  107 narzisstische  113, 122, 125, 488 Psychodynamik  96, 98 f., 103 f., 134 Repräsentation der Ich-Zustände, siehe Ich-Zustände, Repräsentation mit Stühlen  103 rollentheoretisches Verständnis der  77, 79 Schematherapie, siehe unter Schematherapie  124 schizoide  98 Schritte der Behandlung  106 f., 109 siehe Selbstorganisation, psychische, dysfunktionale  124 strukturelle Störung, siehe dort  103 Stühlearbeit, siehe unter Stühlearbeit  116 Suchterkrankung bei  448, 481 f., 516 therapeutische Beziehung  98 f., 115, 117, 157 ff., 161, 164, 166 therapeutische Beziehung, siehe auch unter Gegenübertragung  124

Stichwortregister

Pesso-Therapie  81 Phobie, isolierte  290 Definition  262 siehe auch Angststörung  262 Playback-Verfahren  213, 497, 503 Pornosucht  43, 444, 446, 510 f., 514 f. siehe Sexsucht  514 posttraumatische Belastungsstörung  171 Definition  170 nach Verkehrsunfall  172, 256 psychodramatische Traumaverarbeitung  207 siehe Traumafolgestörung  173 Symptome  173 Ursachen  171 f. posttraumatische Reifung  194, 219, 487 präsuizidales Syndrom  373, 378, 380 Prinzip Antwort  79, 159, 243, 365, 407 Definition  163 siehe begegnender Mensch  164 Projektion, Abwehr durch  55, 144, 320, 324 als Teil der Abwehr durch Identifizierung mit dem Angreifer  317 Auflösung durch Rollentausch  39, 78, 323, 327, 330, 339, 343 siehe Depression, neurotische  317 projektive Identifizierung  158, 242 Definition  163 Prometheus  536 prozedurales Gedächtnis  218 Prozessqualitäten  32, 401, 530 Analogie zur Arbeit der Pschodramatechniken  30 der Logik  31 der Zeit  30 des Raums  30 des Sinns  31 Prozessdeutung  358 Prüfungsangst  285, 291 siehe auch Angststörung  285 Psychodrama als mentalisations-basiertes Therapieverfahren, siehe Mentalisieren, Psychodrama als mentalization-based treatment  71 als rollentheoretisch begründetes Verfahren  71, 73, 75, 77 f. Psychodramatechniken allgemeine Theorie der  28 ff., 50, 72 die acht zentralen  28

Stichwortregister

fehlende rollentheoretische Erklärung der Arbeit der Psychodramatechniken  72 Indikation der  24, 29, 31, 48 f., 67 Komplexität der  50 Regelkreis mit Mentalisieren  29, 31 ff., 43, 48, 58, 60 siehe Mentalisieren, Psychodrama als mentalization-based treatment  72 und Traumarbeit  234 psychodramatische Rolle  42, 77 f. Analogie zu Als-ob-Modus des Mentalisierens  42 psychodramatische Szene, Definition  64 Psychodynamik siehe bei den einzelnen Krankheitsbildern  389 Psychopathie, siehe Persönlichkeitsstörung  93 psychosomatische Beschwerden  149, 168, 174, 229, 325, 354 psychosomatische Rolle  42, 76 f. als Analogie zum Äquivalenzmodus des Mentalisierens  42 psychotische Erkrankung Aktualisierungstendenz des Selbst  389, 398, 401, 417, 433 Als-ob-Modus des Spiels  391, 399, 401, 403, 418, 420 f., 423 f., 427, 435, 440 Auto-Tele, Aufbrechen des  392, 432 das Lachen in die Psychiatrie bringen  440 Definition  383 Depersonalisation, Therapie  425, 427 Depression bei, Therapie  428 Desintegration des Mentalisierens  92, 391, 430 Diagnostik  394, 404, 409, 414, 460 Doppelgängerdialog  387 f., 394, 399, 403 ff., 408 f., 413, 416, 418 f., 422 Dramatherapie bei  434 drogeninduzierte  411, 422 Größenwahn  423 Gruppentherapie  386, 425, 434 ff. Handpuppenspiel  427, 429, 431, 435 Hilfswelt-Methode  384, 394, 402, 404, 417, 419 f., 423 f., 432 f. Ich-Spaltung bei  404, 414 ff., 427 Krankheitseinsicht  401 f., 424, 435 Krisenintervention  394, 404, 408, 423, 427

561 Märchenspiel, siehe unter Märchen  437 medikamentöse Behandlung  392, 408, 410, 412, 440 Mentalisieren im Äquivalenzmodus  396, 404, 406, 410, 413, 420, 427, 440 Moreno, Theorie der Therapie  385, 392, 394, 432 ff. Notfallplan  412, 437 pädagogisches Rollenspiel  436 Psychodynamik  389 ff. psychotische Episode bei emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung  161, 184 psychotischer Modus des Mentalisierens  397, 399 f., 413, 419 psychotischer Modus des Mentalisierens, Definition  397 Sensibilitätstheorie  389, 426 sozialpsychiatrische Therapie  386, 392, 417 Stimmen hören  406, 411 f., 418 ff., 435, 438 Stühlearbeit, siehe dort  415 Stühlearbeit, siehe unter Stühlearbeit  417 therapeutische Beziehung  393, 399, 403 ff., 408, 414 therapeutische Gemeinschaft  19, 384, 440 Therapieerfolg  405, 421, 432 ff., 438 Therapieplanung  410, 433 Therapie, Schritte der  404 tiefenpsychologische Deutungen  404 transmodale Beziehungsgestaltung, siehe dort  399 Traum-Ich  391, 413 ff. psychotische Modus des Mentalisierens siehe unter psychotische Erkrankung  397 R Rapunzel  370 Regisseur Rolle des  75 siehe Kreator, Patient als  43 Repräsentieren, inneres  41, 44, 86, 396, 429 Analogie zu Szenenaufbau  29 siehe Selbstrepräsentanz, Objektrepräsentanz oder Beziehungsbild, inneres  29 Retraumatisierung  169, 176 f., 179, 206, 221, 247, 273

562 Rollencluster  73 Rollendefizit  73 f., 76 Rollendistanz  166 Rollenentwicklung nach Moreno  42, 76 Rollenfeedback  54, 63, 68, 112, 142, 205, 284, 315, 325, 329 therapeutische Wirkung  42 Rollenmangelsyndrom  76 Rollenpathologie  73 Rollenrepertoire, zu geringes  74, 76, 221 Rollenspiel als zentrale Psychodramatechnik  30, 49 in den Rollen anderer, therapeutische Wirkung  30, 46, 65, 261, 339 in der eigenen Rolle, therapeutische Wirkung  30, 64, 306, 355 f., 536 individuumzentriertes  74, 80 pädagogisches  436 übendes  290, 330, 386 unbewusstes  526 Rollentausch als zentrale Psychodramatechnik  28, 30 Auflösung der Identifizierung mit dem Angreifer  78, 319 bei Beziehungsklärung  39, 53 bei Dialog mit dem Tod  349 Definition  30 definitionsgemäßer Unterschied zum Rollenwechsel  30 Du-Erkenntnis durch  334 erste Anwendung als therapeutische Technik  319 Fähigkeit zum Rollentausch  105, 314 Ich-Erkenntnis durch  334 im psychodamatischen Dialog, siehe Depression, neurotische  329 in der Selbstsupervision  37 Komplexität des  50 Kontraindikation  149, 220 f., 438 kreiert systemische Gerechtigkeit  335 praktische Ausführung  37, 39, 314 f. Spiegelfunktion des  31, 54, 315 therapeutische Wirkung  30, 39, 50, 52, 64, 78, 146, 228, 319 f., 327, 334 ff., 343 f., 530 unbewusster  101, 319 und Gegenübertragung  52 und systembezogener Leitungsstil  78, 334, 336 Rollentheorien  71, 74, 76, 80

Stichwortregister

Rolle, Definition des Begriffs  72 Unterschiede zum mentalisationsbasiertem Verständnis des Psychodramas  28, 72, 74, 76 ff., 445 Rollenwechsel definitionsgemäßer Unterschied zum Rollentausch  30 Rotkäppchen  529 Rumpelstilzchen  421 S sadomasochistische Praktiken  526 Schematherapie  81, 118 f., 121, 143 ff. Definition der  143 Erweiterung durch Psychodrama  143 ff. siehe Ich-Zustände, Persönlichkeitsstörung, BorderlinePersönlichkeitsstörung, Selbstorganisation, psychische  143 schizoaffektive Psychose  365, 383, 428 Schizophrenie  383, 397, 449 siehe psychotische Erkrankung  383 Schmerzmittelsucht  516 Schmerzsyndrom  313 Schöpfer, Aspekt des, siehe Kreator  79 Schreibkrampf  319 f. Schuldkomplex  344, 362 Seelenlandschaft, Aufstellen der  189, 311, 351, 357, 369, 414 f. siehe Tischbühne  311 sekundäre Traumatisierung  231, 520 f. der Therapeutin  245 Ich-Spaltung durch  231, 521 Zwei-Stühle-Technik bei  521 Selbstgespräch  48, 108, 223 f., 289, 347, 428, 515 siehe Doppeln  48 therapeutische Wirkung  108, 289, 315 Selbstheilungssystem  148, 181, 233 ff., 239, 304, 361, 488 Selbstorganisation, psychische Arbeitssystem der  117, 124, 144, 163 Definition  83 der Gruppe  66 f., 70, 340 der therapeutischen Beziehung  56 dysfunktionale  94, 97, 99, 117, 125, 127, 159, 240, 270, 275, 365 neurophysiologische  44 siehe bei den einzelnen Krankheitsbildern  389

Stichwortregister

spontan-kreative  45 Selbstrepräsentanz  29, 33, 62, 78, 105, 210, 237, 300 Fragmentierung der  397 gespaltene  212, 520 Repräsentation durch Szenenaufbau  21 f. siehe Beziehungsbild, inneres  78 Selbstschutzverhalten  95, 101, 119, 135, 138, 144, 158, 237, 271 f., 275, 277, 286, 299 f., 320 Definition des  118, 135, 141, 144, 271 Repräsentation als Stuhl  79, 121, 296 siehe Ich-Zustände  118 Selbststabilisierung als Phase der Traumatherapie  192 Definition  192 durch Arbeit  183 durch Bewältigungsmärchen  195 durch Distanzierungstechnik  191 durch Entwicklung positiver Gegenbilder  192, 239 durch fiktiven Doppelgänger  212, 236 durch selbst gefundene Selbststabilisierungstechniken  91, 183, 185 durch Selbstschutzverhalten  192 durch Tresortechnik  191 durch Veränderung der Körperhaltung  195 sicherer Ort, siehe dort  207 therapeutische Wirkung  181, 189, 191 f., 236 Selbststeuerungskreis, Technik des bei Suchterkrankung  477 in der Traumatherapie  183 praktische Ausführung  183 ff., 477 Selbstsupervision  36 f., 39, 52, 107, 112, 129, 149, 227 die 12 Regeln der  37 selbstverletzendes Denken und Handeln  115, 123, 136, 138 ff., 142, 144, 271, 280, 284, 299, 372, 526, 533 Definition  120 Repräsentation als Stuhl  120, 123 siehe Ich-Zustände  120 stellvertretende Auseinandersetzung des Therapeuten mit dem  142 Sexsucht  510 ff. siehe Pornosucht  514 Sexualstraftäter  253 dissoziieren in Täterrolle  254

563 sexueller Missbrauch  172, 174, 179, 201, 251 ff., 255 siehe Vergewaltigung  421 Sharing  63, 247, 250, 437, 476 als zentrale Psychodramatechnik  31 therapeutische Wirkung  31, 68 sicherer Ort  207 ff. als Selbststabilisierungstechnik  209 Definition  208 Elemente des  209 ff. praktische Erarbeitung eines  208 f., 211 siehe Selbststabilisierung  207 Symbolisieren transpersonaler Erfahrungen  209 therapeutische Wirkung  207, 211 Sokrates innerer  24, 26, 29, 35, 46, 48 f., 51 Sokrates-Haltung, siehe unter therapeutische Beziehung  62 soziale Phobie  125, 262, 278, 280 ff., 288 Definition  262 siehe Angststörung  262 soziodramatische Rolle  77 als Integration von Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus des Mentalisierens  77 Soziometrie  19 soziometrische Methoden  59, 70 soziometrische Wahl des Protagonisten  55, 66 f. Spaltung, Abwehr durch  101, 129, 131, 144, 161, 171, 200, 390 f., 468 Auflösung durch Rollenwechsel  203, 480 bei BorderlinePersönlichkeitsstörung  99 f., 102 Definition  101 in der therapeutischen Beziehung  102, 491 siehe Ich-Spaltung  101 Spiegeln  28, 30, 75, 234, 476 als zentrale Psychodramatechnik  31 Definition  31 Spiegelfunktion des Rollentauschs  31, 315 therapeutische Wirkung  31 Spiegeltrinken siehe Suchterkrankung  459 Spiel, psychodramatisches Spielfähigkeit  44, 46, 391 Theorie des Spiels  28, 44 ff. therapeutische Wirkung, siehe Als-obModus des Spiels  28

564 spirituelle Identität der Therapeutin  155 Spontaneität  330 Definition  44, 330 der Therapeutin  62 Spontaneitätslage  44, 77, 84 Spontaneitätstraining  46 status nascendi siehe Spontaneität, Spontaneitätslage  77 Stegreiftheater Morenos  536 Stehlen, pathologisches  522, 526 Strafmodus siehe selbstverletzendes Denken und Handeln  142 Stressfaktoren, psychosoziale  258 strukturbezogene Psyhotherapie siehe unter Persönlichkeitsstörung oder strukturelle Störung  76 strukturelle Störung Definition  104 f. Diagnostik des strukturellen Niveaus  105 f., 110, 112, 117 Therapie, siehe Ich-Zustände, Stühlearbeit, Schematherapie, Persönlichkeitsstörung oder Selbstorganisation, psychische  117 Stühlearbeit bei Angststörung  274 bei BorderlinePersönlichkeitsstörung  129, 131 bei Depressionen  311 bei Fetischismus  527 ff. bei krankheitswertigem, abweichendem Verhalten  527 bei Persönlichkeitsstörung  107, 113, 115 ff., 123, 127, 133 f., 136, 143, 147, 157 bei sekundärer Traumatisierung  521 bei Suchterkrankung  477, 505, 507, 510 f., 515 bei Zwangsstörung  79, 298 f. praktische Ausführung  134 ff., 139 siehe Ich-Zustände, Persönlichkeitsstörung, BorderlinePersönlichkeitsstörung oder Selbstorganisation, psychische  121 therapeutische Wirkung  135, 139, 141, 156 f., 477 Suchterkrankung Abhängigkeit, Definition  444

Stichwortregister

Abstinenzentscheidung  458, 471 ff., 495, 506 Aktivierung des Selbstheilungssystems  235, 487 ff. Automatenspielsucht  509 bei Angststörung  473, 501 bei Traumafolgestörung  448, 482 ff. Cannabisabhängigkeit  502 chronische Abhängigkeit  447, 460, 466, 471 Definition von Sucht  444 ff. Denken im Äquivalenzmodus  109, 464 f., 505 f., 508 Depression bei  477, 483 Diagnostik  451 f., 454 f., 466 f., 470, 477 f. Entzugsbehandlung  474, 502 Entzugssymptome  459 f., 475 epidemiologische Zahlen  448 Essstörung  509 exzessives Trinken  447, 459 Glücksspielsucht  509 Gruppentherapie  450, 475, 490, 494, 496 f., 502, 504, 509 Ich-Spaltung durch  463 ff., 467, 477, 479, 503, 510 Ich-Zustände der Therapeutin  489, 491 ff. ideale Suchtszene  506 f., 509, 512, 527 Internetspielsucht  516 ff. Jellinek’sche Fragen  152, 451 f., 454 ff., 459 f., 462, 478, 509, 513 f., 518 f., 522 Kapitulation der Therapeutin  492 Kapitulation des Patienten  479, 484 ff. Kindheitsszene, Spielen von  483, 495, 508 Kodependenz  481, 518 ff. kontrolliertes Trinken  455, 472, 492, 499 Kontrollverlust  446 f., 455, 499 Krisenintervention mit der Zwei-StühleTechnik  482, 503 medikamentöse Behandlung  473, 500 Opiatabhängigkeit  502 Persönlichkeitsstörung bei  109, 448, 482, 488, 514, 516 Pornosucht  514 f. Problemtrinken  446 Psychodynamik der Suchtentwicklung  442, 462, 464 f., 505 ff. Rückfall  456, 477, 499 f., 512, 515 Rückfall, Definition  498 Rückfallprophylaxe  480, 496, 498 ff.

Stichwortregister

schädlicher Gebrauch  446 Schritte der Therapie  466, 505 sekundäre Traumatisierung von Bezugspersonen  520 Selbsthilfegruppe  475 f. Selbsttraumatisierung durch Sucht  455, 465, 473, 481, 497 Sexsucht  510, 512 f. Spiegeltrinken  446, 459 f., 486 Suchtgeschichte aufschreiben  478 f. süchtiges Denken als Gegensatz zum gesund erwachsenen Denken  443, 463 f., 470, 506, 515 Symptome der Abhängigkeit  452, 454 ff., 459 f., 469, 502, 506, 509, 513 f., 518 Tablettenabhängigkeit  474, 501 therapeutische Beziehung  442 f., 470, 483, 486, 489, 491 ff., 506, 511 Therapieerfolge der Suchttherapie  450 Tiefpunkt, persönlicher  479, 484 ff., 500 trockenes Trinken  454, 500 Verleugnung der Abhängigkeit  452, 454 ff., 477 Vierundzwanzig-Stunden-Regel  474 Zwei-Stühle-Technik  467, 477, 479 f., 482, 493, 505 f., 510 f., 515 Zweiterkrankung, Behandlung der  443, 448, 466, 482 f. suizidale Krise Aktualisierungstendenz des Selbst  369 Begegnung mit dem Tod  371 Diagnostik der Suizidgefahr  375 ff. präsuizidales Syndrom  355, 369, 373 siehe auch Depression  368 Suizidalität als Abwehr einer inneren Umstellung  372 f., 377 Tabubruch  369, 371 Technik des szenischen Reframings des suizidalen Impulses  376, 381 therapeutische Beziehung  368 f., 371 therapeutische Interventionen  355, 369, 378 ff. Therapieplanung  375, 377, 381 Surplus Reality  196, 249, 277, 293, 326 siehe Doppelgänger-Technik, HilfsweltMethode und Als-ob-Modus des Spiels  196 Symptomszene  22, 116, 121 f., 141, 143, 267, 271 Definition der  21

565 systemische Denkweise, siehe unter Leitungsstil  64 systemische Therapie  81 Szenenaufbau  28, 30 f., 33, 50, 62, 64, 324, 430 als zentrale Psychodramatechnik  29 Analogie zu innerer Repräsentation des Mentalisierens  29 siehe Tischbühne, Seelenlandschaft, Stühlearbeit oder Ich-Zustände, Repräsentieren der  29 therapeutische Wirkung  29 Szenenkonfusion  105 Szenenwechsel  34, 49, 234, 290 als zentrale Psychodramatechnik  31 innerer  34, 333 therapeutische Wirkung  31 szenisches Verstehen nach Lorenzer  116 T Tablettensucht, siehe Suchterkrankung  474 Täter-Opfer-Interaktionsmuster  227 f., 335 Telebeziehung  57, 392, 432 f. Teleprozess  57 terroristisches Attentat  213, 248 Krisenintervention  164, 249 theory of mind  106 therapeutische Beziehung  29 als ein sich selbst organisierendes System  56, 65 bei Doppelbindung des Patienten  103 Bühne der  60, 65, 116 gerechte  69 hierarchische  69 in der Gruppentherapie  66 ff., 496 Kapitulation der Therapeutin  365 Leitungsstil, siehe dort  64 psychiatrische Beziehungsgestaltung  392 Schulter an Schulter  24, 42, 47, 121, 133, 137, 203, 209, 211, 213 f., 224, 309, 312, 354, 357, 369, 387, 399, 406, 418, 497 siehe Ich-Zustände, Ich-Zustände der Therapeutin, Telebeziehung, Übertragung, Gegenübertragung oder Widerstand  51 Sokrates-Haltung  48, 62 Therapeutin als begegnender Mensch  46 Therapeutin in der Alpha-Position der Gruppe  67

566 Therapeutin in der Beta-Position der Gruppe  68 Therapeutin in der Haltung eines naiven, neugierigen Kindes  62, 69 transmodale, siehe transmodale Beziehungsgestaltung  511 Umgang mit Störung in der  51 ff., 56, 111, 117, 150, 155, 362 therapeutische Gemeinschaft  19, 384, 392, 440 Tischbühne Anwendung bei Aktualkonflikt  314 Anwendung bei Angststörung  259 Anwendung bei Persönlichkeitsstörung  106, 113 Anwendung bei psychosenaher Depression  351, 357, 362 Anwendung bei psychotischer Erkrankung  391, 404, 414 f. Anwendung bei Suchterkrankung  478, 503 Anwendung bei suizidaler Krise  370, 379 Anwendung bei Traumafolgestörung  181, 183, 189, 222 ff., 236 siehe Seelenlandschaft  189 Technik der praktischen Anwendung  189, 236 f., 311 therapeutische Wirkung  20, 60, 112, 312 transmodale Beziehungsgestaltung  399, 401, 423 bei der Hilfswelt-Methode  387, 399, 402, 417, 420 bei Suchterkrankung  490 f., 506, 511, 527 Definition  399 f., 489 im Doppelgängerdialog  400 f., 406 Schritte der  399 transpersonale Erfahrung  193, 209, 244 Trauerarbeit als Begegnung mit dem eigenen Tod  349 die fünf Schritte der  345 f. Psychodynamik bei einem Verlust  345 Sharings bei  348 Therapeutin als begegnender Mensch  348 Therapie einer pathologischen Trauerreaktion  349 Traumafolgestörung Abwehrsystem als Selbstschutz  175, 219 Auftreten im Alter  193 bei Soldaten  176, 249, 347

Stichwortregister

Beziehungstrauma  171, 174, 182, 226, 230 Beziehungstrauma, Definition  171 Definition eines Traumas  170 f. Depression bei  168 f., 171, 177, 181, 193 Derealisation, siehe Dissoziieren  176 Diagnostik mit dem Selbststeuerungskreis  183 ff. Diagnostik mit Stühlearbeit  134, 140 diagnostische Hinweise auf  183 Dissoziieren, siehe dort  217 Flashback, siehe dort  217 komplexe Traumatisierung  182, 225 posttraumatische Belastungsstörung, siehe dort  177 posttraumatische Reifung, siehe dort  219 Psychodynamik  171, 173, 217 sekundäre Traumatisierung, siehe dort  520 Selbstheilungssystem, siehe dort  233 Selbststabilisierung, siehe dort  176 spontane Verarbeitung eines Traumas  197, 200, 233 Suchterkrankung bei  173, 448, 482 Symptome einer  171, 174, 217, 347 Therapie, siehe unter Traumatherapie  176 Traumafilm, siehe Flashback  187 traumatisierende Situationen  172 f. Vulnerabilität der Persönlichkeit  173 Traumarbeit  233 Aktualisierungstendenz des Selbst in der  398 Analogie zum psychotischen Modus des Mentalisierens  397 Analogie zwischen der Arbeit der Mechanismen der Traumaarbeit und der Arbeit der Psychodramatechniken  234 Definition der  398 Traumatherapie Abwehr durch Spaltung, Auflösung der  203 Abwehr durch Verleugnung, Auflösung der  203 Arbeit mit dem sicheren Ort, siehe unter sicherer Ort  207 Arbeit mit Ressourcen  194, 210 Arbeitsräume der  200 f., 203 Bewältigungsmärchen schreiben, siehe dort  236

Stichwortregister

Dialog mit dem inneren traumatisierten Kind  191, 276 Handeln ist heilender als Reden  199, 216, 247, 252 Handpuppenspiel in der Traumatherapie  158, 190, 210, 252 in der Gruppentherapie  180, 188, 196, 225, 247, 249, 252 Inszenierung der Ich-Spaltung  187 f. Kontraindikation Rollentausch mit dem Täter  146, 220 f. Krisenintervention in der  164, 186 ff., 218 mit Hilfe der Tischbühne  222 ff. Playback-Verfahren in der  205, 250 Psychohygiene der Therapeutin  242 ff. rollentheoretisch begründete  75 Selbststabilisierung, siehe dort  192 Therapeut als Zeuge der Wahrheit  177 ff., 187, 244 therapeutische Beziehung  175, 187, 203, 236, 240, 242 Umschreiben der Traumaerinnerung  197, 214, 236 f. Videotechnik  199, 225 Wunschszene  207, 224 traumatisierte Eltern  229 f., 273, 352 U Über-Ich, sadistisches  123, 142, 361 Übertragung Definition  160 der Therapeutin  52 differenzieren von Übertragungsbeziehung und Realbeziehung  53 ff., 67, 159 f., 288 negative Übertragung repräsentieren mit Stuhl  121, 152, 160 siehe auch unter Ich-Zustände, Telebeziehung, Widerstand, Gegenübertragung  52 Übertragungsfrage  54, 119 V Vergewaltigung  172 f., 207, 214, 216 f., 245, 250, 306, 398, 421

567 siehe sexueller Missbrauch  421 Verleugnung, Abwehr durch  366, 391, 452, 455 Auflösung der  131, 157, 477, 485, 528 bei Abwehr durch Spaltung  102, 203 Definition  102, 144, 200 f. Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen  272 W warming up, siehe Erwärmung  87 Widerstand  66, 175, 288, 324, 340, 393, 495 Definition  52, 69 Gruppenwiderstand  67 Morenos Definition von  51 Z Zwangseinweisung  408, 412 Zwangsstörung Aktivierung der Aktualisierungstendenz des Selbst bei  296 als Teil einer Traumafolgestörung  298, 300 Gruppentherapie bei  301 Handpuppen-Spiel bei  303 Ich-Stärkung bei  297 ff., 303, 305 Psychodynamik  295 Rollenspiele bei  303 Schritte der Therapie  300 Technik der kreativen Projektion eines Selbstanteils  300 ff. Technik des fiktiven Doppelgängers  303 therapeutische Beziehung  296, 298 f. tiefenpsychologisch aufdeckende Arbeit bei  299, 303 Zwangsgedanken, Repräsentation mit Stuhl als selbstverletzendes Denken  80, 296 f., 299 Zwangshandlungen, psychodynamische Funktion der  295, 303 Zwangshandlungen, Repräsentation mit Stuhl als Selbstschutzverhalten  80, 296, 298 Zwei-Stühle-Technik, siehe Stühlearbeit  527