Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen: Zweiter Band: Strafprozeß [1 ed.] 9783428561292, 9783428161294

In zwei Bänden legt Karl Binding im Jahr 1915 sein Werk »Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen« vor und begr

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Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen: Zweiter Band: Strafprozeß [1 ed.]
 9783428561292, 9783428161294

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Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen Von Karl Binding

Zweiter Band: Strafprozeß

Duncker & Humblot reprints

Strafrechtliche und straf­ prozessuale Abhandlungen Von

Dr. jur. et pkil. Karl Binding früher ordentlicher Professor der Rechte zu Leipzig

Zweiter Band

Strafprozeß

München und Leipzig Verlag von Duncker 8- Lumblot 1915

Alle Rechte vorbehalten.

Altenburg Ptereriche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel L Lo.

Meinem lieben Freunde aus jungen Jahren

dem Genoffen in Leipzig durch fast vier Jahrzehnte

Adolf Wach zu seinem goldenen Doktorjubiläum am 16. November 1915

Inhaltsverzeichnis. Zweite Abteilung.

Strafprozeß.

Seite

I. Die drei Grundfragen der Organisation des 3—137 Strafgerichts.................................................. Vorwort......................................................... 5—8 9—30 1. Einleitung. Die kämpfenden Gegensätze. . 2. I. Rechtsgelehrte oder Laienrichter? . . 30—58 3. II. Beamtete oder unbeamtete Richter?. . 58—67 4. III. Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der richter­ lichen Aufgabe? Gerichtseinheit oder Gerichtsmehrheit?................... 67—100 8 5. IV. Das zweckmäßige Strafgericht für Deutsch­ 100—137 land?........................................ 8 8 8 ß

II. Die Beschlußfassung im Kollegialgericht.

. 139—165

III. Die Strafprozeßprinzipien und das Maß 167—212 ihrer prozeßgestaltenden Kraft............. 8 1. Einleitung......................................................... 169—180 8 2. I. Die vier Materialprinzipien des Straf­ 181—186 verfahrens .............................. 8 3. Ihre Unwirksamkeit gegenüber dem Straf­ 186—191 beweis-Verfahren ................... tz 4. II. Die zwei Formalprinzipien des Straf­ 191—201 verfahrens .............................. 5 . Die schweren Mißverständnisse des 201—210 neueren Anklageprozesses....... § 6. III. Das Verhältnis der Material- und der Formalprinzipien zu einander . . . 211—212

Inhaltsverzeichnis.

VI

Seite

IV. Die Wirkungen des Eintritts der Staats­ anwaltschaft in das Privatklageverfahre« (Strafprozeßordnung 8 417)........................ 213—263

8 1.

§ 2. 8 8 8 8

3. 4. 5. 6.

I. Privatkläger und öffentlicher Kläger als wirkliche, nicht als angebliche Parteien im Strafprozeß.... 215—223 II. Das Verfahren im Sinne derStrPO. ß 417 223—227 III. Die Praxis gegen das Gesetz. . . . 227—242 IV. Kritik dieser Praxis......... 243—255 V. Ergebnis......................... 255—258 VI. Die neue, zum Teil reformatorische Urteilsfindung des Reichsgerichts . . 258—263

V.

Der originäre Strafanspruch im Verhältnis zum «rteilsgemäßen................................... 265—300

VI.

Das rechtskräftige Strafurteil in seinen strafprozessualen, strafrechtlicher» und staats­ rechtlichen Wirkungen................................. 301—360 ß 1. I. Zwei Grundsätze des Staatsrechts . . 8 2. II. Die Präzisirung der Aufgabe.... 8 3. III. Die Eigenartigkeit des Strafurteils be­ sonders gegenüber dem Zivilurteil . . IV. Wesen und Wirkungen der Rechtskraft im Strafprozeß..................... 310—336 8 4. 1. Jnnerprozessuale Wirkungen der Rechtskraft.......................... 311—321 8 5. 2. Außerprozessuale Wirkungen der Rechtskraft...................... 321—336 8 6. V. Der Konflikt zwischen dem Grundsätze der Rechtskraft unddenForderungen der materiellen Gerechtigkeit .... 8 7. VI. Staatsrechtliche Wirkungen des rechts­ kräftigen Strafurteils...... 344—360

303—306 306—307 307—310

337—344

Zweite Abteilung.

Strafprozeß.

Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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I.

Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts. Für Juristen und Nichtjuristen gestellt und beantwortet.

Stark vermehrter und ergänzter Abdruck meiner „Drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts", Leipzig 1876, deren Verlagsrecht ich von der Verlagshandlung Felix Meiner zurückerworben habe.

1*

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Vorwort. Als in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die neue Gerichtsorganisation in Sicht kam, interessirte mich lebhaft die künftige Physiognomie der ordentlichen Straf­ gerichte. Ich ließ 1873 in den Preußischen Jahrbüchern eine Abhandlung unter dem Titel: „Der Kampf um die Besetzung der deutschen Strafgerichte" erscheinen. Nach einigen Jahren veröffentlichte ich sie nicht unerheblich erweitert unter dem treffenderen Titel: „Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts", Leipzig 1876, als selbständige Schrift. Seitdem sind fast vierzig Jahre vergangen. Die Hoff­ nung, die deutsche Gerichtsverfassung vom 27. Januar 1877 werde uns eine einheitliche Organisation der Strafgerichte erster Instanz bringen, ist durch die bedauerliche Schwäche der deutschen Reichsregirung zu Scheiter gegangen. Das heute noch geltende Recht kennt — von der seltenen Verwendung des Amtsrichters als erkennenden Einzelrichters einmal abgesehen — sieben erkennende Gerichtshöfe : 1. die Schöffengerichte; 2. und 3. die Strafkammern als erste und'zweite Instanz; 4. das Schwurgericht; 5. die Strafsenate der Oberlandesgerichte; 6. die Strafsenate des Reichsgerichts; 7. das Reichs- als Erstinstanzgericht. Diese sieben Gerichte sind organisirt nach drei fundamental verschiedenen Prinzipien. — Die seiner­ zeit von der Reichsregirung einberufene „Kommission für die Reform des Strafprozesses", die vom 10. Februar 1903 bis zum 1. April 1905 tagte (s. deren Protokolle I und II, Berlin 1905), komplizirte den Aufbau der deutschen Strafgerichte durch Wiedereinführung der Berufung auch in den Straf­

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Strafprozeß.

fachen mittlerer Ordnung, vereinfachte ihn aber nach seiner Organisation. Neben dem Amtsrichter als Einzel­ richter für alle Übertretungen sollten drei Arten von Schöffengerichten erster, und zwei Arten der­ selben zweiter Instanz treten: das kleine Schöffen­ gericht, gebildet beim Amtsgericht, bestehend aus dem Amtsrichter und zwei Schöffen (Prot. II S. 335) und vier weitere Schöffengerichte, alle gebildet bei den Landgerichten: das mittlere, gebildet aus drei Richtern und vier Schöffen, das große, gebildet aus drei Richtern und sechs Schöffen, das kleine und das große Schöffenberufungs­ gericht, gebildet jenes aus einem Richter und zwei Schöffen, dieses aus drei Richtern und acht Schöffen.

Das große Schöffengericht sollte wesentlich an die Stelle des Schwurgerichts treten. In der Organisationsfrage stellte sich also die Kommission am Anfang des 20. Jahrhunderts genau auf den Standpunkt des Fried bergischen Entwurfs der Gerichtsverfaffung vom Jahre 1873.

Es ist bekannt, daß die Reichsregirung durch Zuschrift des Reichskanzlers an den Reichstag vom 26. März 1909 diesem die Entwürfe eines Gerichtsverfaffungsgesetzes und einer Strafprozeßordnung unterbreitet hat. Was Aufbau und Organisation der Strafgerichte anlangt, haben diese Entwürfe des Reichsjustizamts die Vorschläge jener sehr ver­ dienten Kommission gründlichst mißachtet. Ich habe darüber früher sagen müssen: „Von abschreckender Häßlichkeit sind leider zunächst die Vorschläge über die neue Gerichtsverfassung — ebenso häßlich in dem, was sie bringen, als in dem, was sie zu bringen versäumen*. " Näher auf diese Häßlichkeit einzugehen, ist hier um so zweckloser, als der Reichstag diese Entwürfe verdientermaßen in den Orkus gesendet hat. Nur das Eine bedarf der Her­ vorhebung, daß — von der kolossal erweiterten Kompetenz ' Gerichtssaal LLXIV (1909) S. 7.

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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-es Einzelrichters abgesehen — die Entwürfe die alte Bunt­ heit der Formen, unten das kleine Schöffengericht, oben das Schwurgericht, im übrigen, auch als Berufungsgerichte, das rechtsgelehrte Beamtengericht beibehalten wollten, — also ganz genau die beschämende Harlekinsjacke, die der deutschen Straf­ gerichtsverfassung seit 1850 aufgezwungen worden ist. So wird leider klar, daß wir bezüglich der Frage nach der Organisation der Strafgerichte nicht einen einzigen Schritt weiter gekommen sind, daß der Streit vielmehr noch genau auf demselben Punkt stehen geblieben ist, auf dem er stand, als ich mich 1876 mit ihm beschäftigte. Auch neue Gründe für und gegen sind — außer zweien, von denen Oetker den einen und ich selbst den andern auf­ gebracht, — in der fast unübersehbaren Literatur, die zum weitaus größten Teil nicht mit juristischen, sondern mit politischen Argumenten arbeitet, soweit ich sehen kann, nicht zur Verwendung gekommen. Was die Formulirung der Grundfragen anlangt, so bin ich noch heute davon überzeugt, daß die von mir seinerzeit aufgestellte die allein richtige ist, ebenso wie die von mir ge­ gebene Beantwortung. Deren Begründung aber konnte ich noch vervollständigen. In einem Punkte sind wir indessen um einen großen Schritt vorwärts gekommen. Es hat uns Oetker in seinem ausgezeichneten „Verfahren vor den Schwur- und den Schöffen­ gerichten" 1907 (Bd. HI des Strafprozesses in meinem Hand­ buch) zum ersten Male mit unübertrefflicher Gründlichkeit die ganze Fülle unnötigster und anstößigster Komplikationen des Schwurgerichtsverfahrens und ohne Ausnahme alle Klippen in diesem Fahrwasser, an denen der gesunde Menschen­ verstand wie die Gerechtigkeit scheitern können, ja müssen, den ganzen elenden der Gerechtigkeit Hohn sprechenden Formalismus dieser sog. Justiz und alle ihre Fehlerhöhlen unsern Augen sichtbar gemacht. Wir hatten bisher doch nur einen Teil derselben gesehen. Dieser war schon groß genug.

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Strafprozeß.

um genügend davor zu warnen. Wer aber diese Aus­ führungen genau studirt hat, dessen Abneigung mußte sich — sollte ich meinen — zur energischsten Ablehnung steigern. Daß Oetker seinen eignen Ausführungen zum Trotz sich als Anhänger eines freilich reformirten Juryverfahrens bekennt, gehörte zu den für mich wunderbarsten, will sagen unerklärlichsten Erscheinungen, wüßte ich nicht, daß es eine ehrenvolle Pietät gegen die Ideale seiner Jugend gibt, die dem gereiften Mann auch in großer Sache einmal den Blick trüben kann.

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Einleitung. Die kämpfenden Gegensätze Gleich heiß wie znr Zeit der sinkenden römischen Re­ publik brannte in den Anfangslagen des aufsteigenden Deutschen Reichs und brennt auch jetzt noch der Kampf um die Be­ setzung der Strafgerichte. Damals rangen die Parteien, ob Senatoren oder Ritter, ob Senatoren und Ritter die Straf­ urteile fällen sollten? Heute — ja, wer vermöchte da genau in zwei Worten zu sagen, worum sich eigentlich der Kampf dreht? Denn dunkel und vieldeutig erschallen die Rufe der Gegner: „Nieder mit den Geschworenengerichten, ein Hoch dem Schöffengericht!" und „Nieder mit den Schöffen, es leben die Geschworenen!" und endlich „Nieder mit Beiden, wir bleiben beim Alten!" Sind doch Schlagworte schlechte Streit­ objekte, und die um sie geführten Kämpfe so verworren und vom Staube der Unklarheit verhüllt wie die Kampfpreise, denen sie entgegenringen! Eröffnet dann die Wissenschaft ihre Arena dem einzigen Kampfe, den sie billigt, dem Kampf der Gründe, so hört sie verwundert, wie die Ausführungen der Gegner häufig genau übereinstimmen, während Gründe wie Ziele scheinbarer Freunde weit auseinanderliegen. Dann sieht sie klar, daß die gleiche Flagge sehr große Gegensätze unter sich vereinigt, 2 Aus der überreichen neueren Literatur, die nach der Ausgabe dieser Abhandlung 1876 erschienen ist, hebe ich zur allgemeinen Orientirung be­ sonders hervor: Kisch, Unsere Gerichte und ihre Reform, 1908; Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, 1906; Stein, Zur Justizreform, 1907; Adickes, Zur Verständigung über die Justizreform, 1907; Hegler, Zur Strafprozeßreform, in der Zf.StrRW. LXLIII (1912) S. 231 ff. 515 ff. (mit sehr reichen Literaturangaben).

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und der Kampf, auf diese verworrene Weise weitergeführt, bei einem gedeihlichen Ziele nie anlangen wird. Hätte er nur eine theoretische Bedeutung, so könnte unser Volk ruhig die Klärung von der Zeit erwarten; so aber muß es ja selbst Partei nehmen. Denn wie in den Jahren 1874—1876 muß das deutsche Volk, zum Reichstag konstituirt, aufs Neue über die Besetzung der Strafgerichtsbank bindenden Beschluß fassen, wenn die Reichsregirung was ganz unausbleiblich ist, dem Reichstag den neuen Entwurf einer Gerichtsverfassung vor­ legen wird. Wäre nur das Wie außer Zweifel! So drängt es mich, soweit es in meinen Kräften steht, ein Wort der Aufklärung, hoffentlich auch der Verständigung, über den Kampf um die Besetzung der Gerichtsbank zu sagen. Dabei fühle ich mich lediglich vor eine große Rechts­ frage gestellt. Denn daß gesunde Politik eine Organisation der Gerichte heischen könnte, welche das Recht verwerfen müßte, ist undenkbar. Die Interessen beider decken sich hier völlig. Das Recht bedarf eines Gerichts, das Recht und nichts als Recht spricht, das daher mit der nötigen Einsicht und mit der nötigen unabhängigen Kraft ausgestattet werden muß, seinen erhabenen Beruf zu erfüllen. Kann gesunde Politik mehr, kann sie auch nur etwas anderes verlangen? Dürfen die politischen Parteien zu einem Gericht früher Stellung nehmen, als bis dessen rechtlicher Wert oder Un­ wert feststeht? Eine Gerichtsorganisation zu Liebe oder zu Leid bestimmter Parteien bedeutete eine Organisation der Parteilichkeit, also der Rechtsbeugung. Ist diese aber erst eingerissen, da macht sie vor keiner Partei mehr Halt Darf 3 Die Verfechter der Jury aus politischen Gründen weise ich auf drei der wärmsten und bedeutendsten Anhänger des Institutes hin. Gneist sagt (Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland S. 23): „Ist die Jury als Rechtsanstalt nicht zu rechtfertigen, so taugt sie auch als politische Anstalt nichts, da die Gerechtigkeit keinem andern Zwecke geopfert werden darf." Der frühere österreichische Minister Glaser: „Nicht weil die Jury persönlich wünschenswerth ist, wird sie als gute Rechtsanstalt gepriesen, sondern weil man sie für eine gute Rechtsanstalt hält, sieht man in ihrer

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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endlich ich selbst meine Aufgabe anders in Angriff nehmen, als frei von politischen Neigungen und Abneigungen, die traditionell gewordene Vorliebe der Partei, der ich selbst zu­ neige, für die Jury geflissentlich ignorirend, und zugleich ganz taub gegen den monotonen Lärm der Tagespresse, die bei Ventilirung wissenschaftlicher Fragen so oft mehr ver­ wirrt als belehrt? Daß die politischen Parteien diese reine Rechtsfrage zur Parteifrage gemacht haben, gereicht ihnen dauernd zum schweren Vorwurf. Daß vor Erlaß der Reichsjustizgesetze der Liberalismus, besonders der süddeutsche, seinen ganzen Ein­ fluß in die Wagschals geworfen hat, um jede sachliche Er­ örterung für oder gegen Geschworene abzuschneiden und die Regirung nicht durch den Druck der Gründe, sondern den der Parteidisziplin einzuschüchtern, daß die Reichsregirung ihrer besseren Rechtsüberzeugung zuwider, entgegen den Motiven zu den ersten Entwürfen einer deutschen Straf­ prozeßordnung, entgegen einer offiziösen Denkschrift für die Schöffengerichte, lautlos jenem Drucke nachgegeben und die besferen Gesetzentwürfe den schlechteren geopfert hat, das sind sehr traurige Tatsachen, die aber als Beispiele nur zeigen, wie man es nicht machen soll. Um so mehr wird der Mann der Wissenschaft nach einem Standpunkte suchen und den gefundenen festhalten müssen, wo ihm der politische Eifer der Parteien den Sand der Parteivorurteile nicht in die Augen werfen kann. Und diesen Vorzug bietet allein der Stand­ punkt rein sachlicher Betrachtung. Ich würde es als einen großen Gewinn begrüßen, wenn ich nur erreichte, daß die sachliche Debatte wieder in Zug käme, nachdem eine Einigung über die Stellung der zu diskutirenden Fragen gelungen wäre! Herstellung einen politischen Fortschritt." (Zur Juryfrage. Wien 1864, S. 11. Zweite, unveränderte Auflage unter dem Titel „Schwurgerichtliche Erörterungen". Wien 1875, S. 76.) Heinze tadelt gleichfalls die Pseudo­ verbindung der Juryfrage mit der Politik, da „lausend Pfund Nutzen noch nicht ein Loth Recht aufwiegen". S. Ein deutsches Geschworenengericht. 1865 S. 12.

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Von der Besetzung des Gerichts aber hängt die Güte, hängt die Gerechtigkeit des Urteils, von dieser das Schicksal des Angeklagten ab. Selbst bei dem heutzutage bestehenden Klagmonopol der Staatsanwaltschaft kann dem besten Bürger das Unheil widerfahren, daß ein unglückliches Zusammen­ treffen von Indizien ihn zum Beschuldigten werden läßt. Dann soll ein trefflich besetztes Gericht sein Hort sein, auf daß dem Angeklagten Ehre, Freiheit und Leben erhalten, dem Staate aber ein Justizmord erspart werde. So ist die Frage der Besetzung des Strafgerichts eine Frage, die jeden Bürger, den gesetzestreuen wie den gesetzverachtenden, persönlich nah berührt. Dies persönliche Interesse würde aber noch unendlich ge­ steigert werden, falls das nationale Unglück der subsi­ diären Popularklage über das deutsche Volk Herein­ brechen solltet Weil die Staatsanwaltschaft hie und da die Anklage tendenziös erhebt oder unerhoben läßt, soll nach den Vorschlägen mancher angesehener Juristen der Teufel nicht mit Beelzebub, sondern mit der ganzen Hölle aus­ getrieben werden? Jedermann, der im Staate wohnt, soll die Klage erheben können gegen jedermann wegen jeder strafbaren Handlung, falls nur der Staatsanwalt zuvor die Klaganstellung verweigert hat? Sie verteidigt unter Andern Gneist in seinen „Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung", Berlin 1874, dem gefährlichsten Buche über strafprozessualische Fragen, was seit langer Zeit geschrieben worden ist. Es ist neben Anderm sehr zu bedauern, daß in diesem Werke mit einer Fülle von historischen Irrtümern als mit ausgemachten Wahrheiten zu beweisen versucht wird. Was soll man z. B. zu der Skizze der Entwicklung der popularw im germanischen Rechte auf S. 38 ff. sagen, während dem germanisch-deutschen Rechte dies Institut stets fremd war? Was zu dem ganz unerhörten Satze auf S. 47: „Die Popularklage gilt in Deutschland seit 1000 Jahren, und es hat in Deutschland seit dem 14. und 15. Jahr­ hundert keine andere als die Popularklage gegeben"? Das ist ja wie ein Faustschlag ins Antlitz der geschichtlichen Wahrheit! — „Wird Abhilfe (gegen das unkontrollirbare Ermessen der Staatsanwaltschaft) gesucht in einer all­ gemeinen subsidiären Privat- oder gar Popularklage, so hat die gehässigste Verfolgungssucht freien Spielraum"; so Oetker, Gerichtssaal I.LXIV S.261.

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1Z

Lassen wir die Meute nur los, und die korrumpirtesten Zeiten der römischen Republik und des Kaiserreichs werden wiederkehren! Die gewerbsmäßigen Kläger, das uuum rvaxiiuuiu bumauas vitas malum, äslatoruiu sxsorauäs, psruioiss, wie sie Tacitus nennt, werden wie Pilze nach dem Regen aufschießen; mit gedungenen Zeugen, selbstgefertigten Indizien, vielleicht auch lediglich gestützt auf den dehnbaren Wortlaut eines elastischen Gesetzesparagraphen wird der Schuldner den Gläubiger, der haßerfüllte Anarchist den ge­ achteten Bürger, der nichts taugende Geselle den strengen Meister, der Kirchenverächter den achtbaren Geistlichen, der verworfene Sohn den seine Hand von ihm zurück­ ziehenden Vater, die zuchtlose Mutter die sich sträubende Tochter, der gereizte Untergebene den unnachsichtigen Oberen Tag für Tag auf Grund der verschiedensten Vorwürfe vor den Strafrichter ziehen können. Je unsauberer die Klage, je frecher und geschickter der Kläger, um so größer die Ge­ fahr, daß nicht nur des Beklagten Leumund beschmutzt werde, sondern daß auch das Untersuchungsgefängnis, vielleicht nach diesem das Strafgefängnis ihn aufnehme. Wer exponirt steht im Staate und viel Feinde hat, kann dann einen zweiten Lebensberuf darin finden, unnütze Anklagen der schmutzigsten Sorte mit relativ geringem Nutzen zu bekämpfen. Soll denn die Krankheit bei uns nie aufhören, daß wir nicht nur das Bessere den Feind des Guten sein lassen, sondern das relativ Unvollkommene, um seiner ledig zu werden, mit dem absolut Schlechten vertauschen? Möge uns eine gütige Vorsehung vor dieser Kalamität der Massenanklägerei freundlich behüten! Sollte uns aber das Schicksal diesen Kelch nicht ersparen, dann brauchen wir um so mehr Richter durchdringenden Verstandes und mit dem Stahle unerschütterlichen Mutes gepanzert. Der Richter wird dann der einzige Wall, hinter welchem die Gerechtigkeit noch Schutz findet; für jetzt bildet die Amts­ treue der Staatsanwaltschaft den zweiten!

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Was uns Deutsche schon in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hätte hindern sollen, die zur damaligen Zeit in Deutschland bestehende Organisation der Strafgerichte wesentlich beizubehalten, was zur Reform von Grund aus hätte zwingen müssen, war nicht am meisten die partikuläre Verschiedenheit derselben in den einzelnen deutschen Staaten. Denn im Großen und Ganzen herrschte wenigstens insofern Übereinstimmung, als in den meisten Staaten die schwersten

Straffälle sog. Schwurgerichten überwiesen waren und als die Straffälle mittlerer Ordnung von Gerichten erledigt zu werden pflegten, welche nur mit ständigen beamteten Richtern besetzt wurden a. Die Straffälle niederster Ordnung aller­ dings fanden sich bald Gerichten zugeteilt, welche mit ständigen beamteten Richtern besetzt waren, bald wurden zu Ihrer Aburteilung sog. Schöffen in Gemeinschaft mit ständigen beamteten Richtern berufen Nun wäre es ja sehr wol angegangen, das Schwurgericht für die schwersten Straffälle auf diejenigen Staaten auszu­ dehnen, die es damals noch nicht besaßen. Ferner konnte man wenigstens daran denken, die Schöffengerichte für Straf­ sachen mittlerer Ordnung in Sachsen und Württemberg der deutschen Reichseinheit zum Opfer zu bringen, und hätte dann nur für die Strafsachen niederster Ordnung die Wahl zwischen Schöffen und ständigen beamteten Richtern zu treffen gehabt, eine Wahl, die sicher zugunsten der Schöffengerichte b Das Schwurgericht hatten nicht angenommen: MecklenburgSchwerin, Mecklenburg-Strelitz, Sachsen-Altenburg, Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, Lübeck. o Ausnahmen bildeten nur die Königreiche Sachsen und Württem­ berg, welche bei den Gerichten mittlerer Ordnung schon Schöffen zuzogen, — nicht aber Hamburg, das freilich ständige beamtete Richter kannte, die Laien und keine Rechtsgelehrten waren. i Das „Schöffengericht" hatte Aufnahme gefunden für die Straffälle niederster Ordnung nicht in Sachsen (s. vorige Note), wol aber in Württemberg, in denjenigen preußischen Landesteilen, welche 1866 mit Preußen vereinigt worden sind, in Baden, Oldenburg und Bremen. S. unten Note 11 S. 21.

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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ausgefallen wäre. Dann hätte ja Deutschland eine einheitliche Organisation der Strafgerichte besessen: ständige Richter — oben neben Geschworenen, unten neben Schöffen, in der Mitte allein. Aber diese Einheit hätte doch lediglich die Einheit nach drei Schablonen bedeutet, während die Einheit des Grund­ gedankens gefehlt haben würde, und kein Mensch anzugeben vermocht hätte, weshalb denn für die Verbrechen allein Schwurgerichte, für die dicht daran grenzenden Vergehen nur reine Beamtengerichte und für die sich hier wieder aufs engste anschließenden Übertretungen nur Schöffen­

gerichte tauglich wären? Ist es eines Volkes würdig, nicht zu wissen, wie es seine Strafgerichte besetzen soll, und zwischen den verschiedensten Systemen ratlos umherzutappen. Keines für das beste und deshalb Alle für gleich schlecht zu Hallen? Die gemeine deutsche Strafprozeßordnung mußte des­ halb die Gerichte möglichst aus einem Grundgedanken heraus besetzen. Dies war nicht nur eine unpraktische Forderung doktrinärer Gleichmacherei: denn wenn das Schwurgericht Garantien bietet für den gerechten Spruch, welche das ständige Beamtengericht zu gewähren nicht vermag, dann heischt die Gerechtigkeit, letzteres dem ersteren zu opfern. Sollte aber wiederum das Schöffengericht vor dem Schwurgericht erheb­ liche Vorzüge besitzen, so können die Angeklagten, die vor das schlechtere Gericht gestellt, Kopf und Freiheit riskiren, den Staat mit Fug um Schöffengerichte bestürmen. Niemand aber hat zu behaupten gewagt, daß die ganz willkürliche Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Ver­ gehen und Übertretungen drei verschieden besetzte Strafgerichte

nach sich ziehen müßte. Ihrem Wesen nach sind alle straf­ baren Handlungen einander gleich ; dies Wesen zu erfassen, können deshalb nicht im einen Falle Geschworene, im andern Beamte und Schöffen, im dritten beamtete Richter allein am besten geeignet sein. Ebenso erfolgt der Kriminalbeweis für

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Zweite Abteilung.

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alle Verbrechen auf gleiche Weise, also verlangt auch seine Würdigung keine verschiedenen Organe. Die einheitliche Organisation der Gerichte aber war um so leichter, als die Verschiedenheit nur für eine kleine, frei­ lich ungemein wichtige Gruppe derselben bestanden hat. Niemand verlangte eine Besetzung der Gerichte der Vor­ untersuchung mit andern Personen als ausschließlich mit be­ amteten Richtern. Keiner dachte sich Geschworene und Schöffen in den Kassationshöfen, den jetzt so viel schlechter genannten Revisionsgerichten; der ganze Streit drehte sich ur­ sprünglich um die Besetzung der erkennenden Strafgerichte erster Instanz für das Prozeß­ stadium, das, Allen aus eigener Anschauung be­ kannt, die öffentlich-mündliche Hauptverhand­ lung genannt wird. Erst seitdem die neuere Bewegung für Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen mittlerer Ordnung erstarkt ist, wurde der Streit auf diese Zweitinstanzgerichte insofern aus­ gedehnt, als man ihre Organisation prinzipiell ganz richtig in Übereinstimmung mit der Organisation der Erstinstanz­ gerichte zu bringen trachtete. Die frühere Buntscheckigkeit ist ja aber grade durch die deutsche Gerichtsverfassung von 1877 bedauerlichsterweise perpetuirt worden! Worin bestehen denn nun aber die wesentlichen Unter­ schiede zwischen den Schwurgerichten, den Schöffen­ gerichten und den Beamtengerichten? Daß ich so frage, wird mir — ich weiß es — erstaunten Tadel zuziehen. Wie kann man das Feststehende, das längst Bekannte aufs neue in Frageform kleiden? Wer weiß noch nicht, daß die Schwur- und die Schöffengerichte Volksgerichte sind, in welchen Männer aus dem Volke, der Rechte nicht erfahren, zum Heile ihrer Mitmenschen bei der Urteilsfindung nur in etwas verschiedener Weise mitwirken? Und wer ist so be­ schränkt, nach dem Unterschiede von Laiengerichten und Ge­

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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lehrtengerichten erst noch zu fragen? So wird mir der Un­ wille und die Verwunderung ums Haupt fahren. Aber Beide treffen mich nicht. „Euer Märchen", erwidere ich den Zürnen­ den, „habe ich gehört, solange als überhaupt meine Er­ innerung zurückreicht; recht geglaubt habe ich nie daran; seit Jahren weiß ich, daß es eitel Trug ist, und daß ihr also für Dinge streitet, die ihr nicht kennt, da ihr Schale und Kern recht bedauerlich verwechselt. Denn weder das Schwurgericht noch das Schöffengericht sind wesentlich Laiengerichte, und damit fallen fast alle eure Verteidigungsgründe für beide über den Haufen." Zur Aufdeckung eingerosteter Irrtümer wird es zweck­ mäßig sein, beide Arten von Gerichten als Ergebnisse einer siegreichen Opposition gegen die erkennenden Gerichte des früheren gemeinen deutschen Jnquisitionsprozesses zu be­ trachten — was sie ja auch wirklich sind Damit hätten wir einen festen Ausgangspunkt und könnten der Opposition bei allen ihren möglichen und wirk­ lichen Angriffen auf jene Gerichte folgen. Das erkennende Gericht für alle schwereren Fälle des Jn­ quisitionsprozesses trug drei wesentliche Eigenschaften an sich; zwei betrafen die Persönlichkeit der Richter, die dritte die innere Organisation des Gerichtes. Die Richter waren not­ wendig Rechtsgelehrte, und der Gerichtsherr hatte sie zu richterlichen Beamten bestellt: sie waren also rechts­ gelehrte beamtete Richter. Das einzelne urteilende Strafgericht aber war nicht mit je nur einem Richter besetzt, es bildete vielmehr ein Kollegialgericht, und zwar wurde die Gesamtheit der Richter als Einheit gedacht. Alle richter­ lichen Entscheidungen, nicht nur das Endurteil, sondern auch 8 Zu der ganzen kritischen Opposition gegen das rein rechtsgelehrte Beamtengericht bemerkt Kisch, Unsere Gerichte S. 84, sehr treffend: „Die Öffentlichkeit vernimmt irgend etwas von der Tätigkeit der Gerichte fast nur, wenn es gilt, ihre Mängel zu betonen. Von den weitaus überwiegenden Fällen einwandfreier und segensreicher Wirksamkeit wird nicht gesprochen."

Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. H.

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Zweite Wteilung.

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die Zwischenentscheidungen, soweit sie nötig werden, gehen in solchem Gericht von dem gesamten Kollegium aus. Das Gericht war also ein einheitliches Kollegial­ gericht rein mit rechtsgelehrten und beamteten Richtern besetzt. Derartige Strafgerichte existiren noch heute massenhaft in Deutschland: alle kollegialen Unter­ suchungsgerichte, alle Strafgerichte zweiter und dritter In­ stanz und alle Gerichte für die mittelschwere Gruppe der strafbaren Handlungen sind heute noch nach diesem Vorbilde besetzt und organisirt. Alle hiervon abweichenden Gerichtsorganisationen bei uns sind nun dem Bestreben entsprungen, von diesen drei Eigentümlichkeiten des einheitlichen rechtsgelehrten Beamten­ gerichts entweder eine oder mehrere zu beseitigen oder gar in das Gegenteil zu verkehren. Es kann sich nun der Angriff richten: 1 . lediglich gegen die Rechtsgelehrtenqualität der Richter. Die Einheitlichkeit des Gerichts bleibt gewahrt, die Beamtenstellung der Richter unangetastet, aber in der Furcht, daß der rechtsgelehrte Richter über dem ewigen Studium der Gesetze den Sinn für Leben und Recht verliere, verlangt man den Zuzug von Laien auf die Richterbank. Niemand hat den Juristen von ihr vollständig verdrängen wollen, alle Opponenten dieser Gattung haben nur eine Mischung von Laien- und Gelehrtenrichtern gefordert. Der Laie be­ tritt dann die Richterbank als vom Staate be­ amteter Richter. Diese Einrichtung besteht vielfach in der Schweiz, und in Deutschland besaß sie Hamburg. Die Abteilung des Ham­ burgischen Niedergerichts, welche „Strafgericht" hieß, bestand aus fünf Mitgliedern, von denen regelmäßig zwei Rechts­ gelehrte sein sollten; sie war Gericht erster Instanz über alle strafbaren Handlungen, die nicht vor den Polizeirichter oder das Schwurgericht gehören, und Gericht zweiter Instanz über Rechtsmittel gegen Erkenntnisse des Polizeirichters. Das

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Hamburgische Obergericht ward gebildet aus sechs permanenten rechtsgelehrten Räten und sechs auf Zeit gewählten nicht juristischen Mitgliedern, von denen alljährlich der Anciennität nach zwei austraten. In Basel brauchte damals in dem reich besetzten Kriminalgericht nur der Präsident ein rechts­ gelehrter Richter zu sein. Weder das Basler noch das Ham­ burger Gericht waren Schöffengerichte, und es ist zu bedauern, daß selbst die vortreffliche „Denkschrift über die Schöffen­ gerichte. Ausgearbeitet im Königlich Preußischen Justiz­ ministerium" 9 das Hamburgische Strafgericht der Sache nach als ein Schöffengericht betrachtet. Diese Art der Gerichtsorganisation kann übrigens ebenso­ gut dem Mangel an Juristen als dem Mißtrauen gegen sie entspringen; sie stimmt im wesentlichen mit der der sog. Handelsgerichte überein; sie erfordert einen aufopferungs­ fähigen Laienstand ; sie hat den Erfolg, durch ständige Be­ teiligung der Laien an der Rechtspflege diese in gewissem Umfange in Rechtskenner zu verwandeln und so den Gegen­ satz zwischen Laien- und Gelehrtenrichtern innerhalb desselben Gerichts mit der Zeit zu beseitigen. 2 . Falls weder der rechtsgelehrte Richter noch die Ein­ heitlichkeit des Gerichts, wol aber die Tatsache Anstoß erregt, daß alle Richter vom Staate angestellt und somit vielleicht vom Gerichtsherrn als ihrem Brotherrn abhängig werden, richtet sich der Angriff auf die Beamteneigenschaft des Richters. Hat er Erfolg, fo entsteht die erste mögliche Art des modernen Schöffengerichts. Denn Schöffe ist das unbeamtete Mitglied eines einheitlichen Richterkollegs, mag es rechtsgelehrt oder Laie sein. Will man zugleich statt eines Teiles der beamteten Richter unbeamtete und statt eines Teiles der rechtsgelehrten Richter Laienrichter, so entsteht die zweite mögliche Art des 9 Berlin, bei Decker. 44 S. 1873. Diese Schrift sollte in den weitesten Kreisen die verdiente Beachtung finden! Demselben Irrtum verfällt Schott, Über Schöffengerichte in der Schweiz, Gerichtssaal 1873 S. 39 ff. 2*

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Schöffengerichtes. Mehrere Schöffen, die Laien sein müssen, bilden dann mit einem oder mehreren rechtsgelehrten Beamtenrichtern ein einheitliches Richterkolleg. Unser heutiges Schöffengericht ist dies nicht; denn bei diesem müssen die Schöffen weder alle Laien noch alle Rechtsgelehrte sein. Unser heutiges Schöffengericht ist wesentlich weder ein Laiengericht, noch ein Gelehrtengericht: denn der Schöffe kann Laie, er kann aber auch Jurist sein. Das moderne deutsche Schöffen­ gericht trug und trägt im wesentlichen folgende Gestalt. Die richterliche Gewalt ist einem Kollegium übertragen, das für den einzelnen Fall erst gebildet wird, und das be­ steht aus einem oder mehreren beamteten Richtern und einer Anzahl von Personen, die nicht beamtete Richter sind. Ihre Zahl übersteigt bald die der beamteten Richter, bald ist sie kleiner ", Grundlos, aber allgemein nennt man die Kollegen der ständigen Richter im Anklang an die alte deutsche Ge­ richtsverfassung die Schöffen. Ihr Anteil an der Gerichts­ barkeit ist scharf umgrenzt, war aber in den verschiedenen deutschen Ländern in verschiedenem Umfange fixirt. Was nun das Schöffengericht im Gegensatz zum Schwur­ gericht charakterisirt, ist das, daß den Schöffen nicht ein Teil der Gerichtsbarkeit zu ausschließlicher Ausübung über­ tragen ist, sondern daß sie richten in gemeinschaft­ licher Beratung und Beschlußfassung mit den be­ amteten Richtern. Die den Schöffen erteilte Vollmacht ging am weitesten in Preuße«, Württemberg, Baden und 10 Daß die Schöffen die Majorität besitzen, bildet die Regel: die Strafgerichte unterster Ordnung bestanden in Preußens neuen Pro­ vinzen, in Baden, Oldenburg und Bremen, und sie bestehen nach der gemeinen Gerichtsverfassung immer aus einem beamteten Richter und zwei Schöffen, in Württemberg bestanden sie aus zwei Richtern und drei Schöffen; in Sachsen bildeten drei Richter und vier Schöffen die Abteilung des Bezirksgerichts für Straffälle mittlerer Ordnung, während Württemberg für die Strafkammern der Kreis­ gerichtshöfe das Verhältnis umdrehte und sie bildete aus drei Richtern und zwei Schöffen, bei gewissen schwereren Straffällen aus vier Richtern und drei Schöffen.

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Bremen: denn dort faßten sie nicht nur die Endurteile mit, sondern nahmen auch, und zwar in ganz gleicher Weise wie die beamteten Richter, Teil an den während der Haupt­ verhandlung kollegialisch zu fassenden Zwischenentscheidungen. Genau so wird ihre Aufgabe in der deutschen Gerichts­ verfassung bestimmt. Oldenburg dagegen beteiligte die Schöffen nur an der Fällung des Endurteils. Am kärgsten ist gegen sie das Land gewesen, von welchem aus am meisten Propa­ ganda für das Schöffengericht gemacht worden ist: das König­ reich Sachsen. Hier war die Mitwirkung der Schöffen nicht nur auf das Endurteil beschränkt, sondern sie faßten auch dies nur zu einem Teile mit; die Feststellung der durch das Verbrechen verwirkten Strafe gebührte den beamteten Richtern allein, und nur alle Fragen, welche im sächsischen Schwurgerichtsverfahren der Jury unterbreitet waren, ins­ besondere die Schuldfrage, hatten die sächsischen Schöffen mit den sächsischen beamteten Richtern gemeinsam zu beant­ worten". Die Gesetzgebung hat die Schöffengerichte früher ausgenommen, als die Doktrin sich lebhaft dafür interessirt hat: zuerst die Hannöversche Strafprozeßordnung vom 8. Nov. 1850, aber nur für Polizeistrafsachen. Diesen Versuch hat Planck, Systemat. Darstellung 1857, sofort als einen „sehr beachtenswerten" bezeichnet. Von Hannover aus hat das Institut Boden gewonnen, und zwar außer in den in der vorigen Note erwähnten Staaten auch noch in Kurhessen (1863). Daß das Schöffengericht „wesent­ lich auf juristisch-technischen Erwägungen beruhe" — so W. Mittermaier, bei Aschaffenburg, Monatsschrift II S. 2/3 —, ist ein Irrtum. Man wollte ursprünglich an Stelle des Einzelrichters das Kollegialgericht setzen. Das Schöffengericht war sozusagen „als kleiner Bruder" des Schwurgerichts gedacht. — Die literarische Bewegung für das Schöffengericht datirt von (Schwarze) „Geschworenengericht und Schöffengericht. Ein Beitrag zur Lösung der Schwurgerichtsfrage." Leipzig 1864. Schwarze hat seine Vorschläge weiter begründet in seiner Schrift: „Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform." Erlangen 1865. Ziemlich gleichzeitig hiermit hat v. HyeGlunek in seiner Schrift „Über das Schwurgericht" (Wien 1864) ähnliche Vorschläge für den Fall gemacht, daß man den rechtsgelehrten Beamten­ richter wenigstens teilweise verdrängen wolle. Vgl. diese Schrift S. 37. 76—80. Für das Schöffengericht hatten sich vor der Reichsjustizgesetzgebung vorzugsweise ausgesprochen: Zachariä (in den deutschen Zeit- und Streit-

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Und nun nahen wir dem entscheidenden Punkte, von welchem aus allein das Verständnis des Schwurgerichts in seinem Wesen ermöglicht wird. Jgnorire man einmal für den Augenblick, daß die Schöffen unbeamtete Mitglieder des Gerichtes sind, so er­ kennt man leichter, daß es im wesentlichen nur zwei Arten kollegialisch besetzter Gerichte geben kann. Entweder das Kollegium ist in oorpors Inhaber der ungeteilten richter­ lichen Gewalt und übt diese dementsprechend in Gemeinsam­ keit aus. Diesen Grundgedanken verwirklichen sowol unsre reinen Beamtengerichte, als die Schöffengerichte, jene nur in umfassenderem Maße als diese. Oder aber die Oppo­ sition hat sich erfolgreich 3. gegen die Einheitlichkeit des Gerichts­ kollegiums selbst gewendet. Die richterliche Aufgabe, also die richterliche Gewalt wird zerrissen, und mit Jedem ihrer Teile wird ein besonderes richterliches Organ bekleidet, welches seinen Anteil natürlich mit Ausschluß des Andern ausübt. fragen Heft 12), Das moderne Schöffengericht. Berlin 1872; Hugo Meyer, Die Frage des Schöffengerichts. Erlangen 1873. Vgl. dens., Die Gegner des Schöffengerichts, in G oltdammers Archiv XXI S. 370 ff.; Schwarze, Das Schöffengericht. Leipzig 1873. Ferner die „Denkschrift über die Schöffen­ gerichte". Ausgearbeitet im Preuß. Justizministerium. Berlin 1873. Ferner Gutachten des Bezirksgerichtsdirektors Stöckel zu Freiberg i. S., in den Verhandlungen des 10. deutschen Juristentages I S. 18 ff.; Kurtz, in Holtzendorffs Strafrechtszeitung XII S.177ff. Ferner ein AnonymusO.M. „Im neuen Reich" 1871 S. 656— 663; 1872 S. 660 ff.; Spinola, Schwur­ gerichte und Schöffengerichte, speziell in Schleswig-Holstein (in Golt­ dammers Archiv XX S. 255 ff.); Mager, Das Laienelement in der Strafrechtspflege (das. S. 289 ff.); Direktor v. Schott, in der Augsburger Allgem. Zeitung 1872 Nr. 316 und 1873 Nr. 44; Gerland, in der Jurist. Wochenschrift 1873 S. 89—92. Interessante Berichte über die Wirk­ samkeit des Schöffengerichts lieferte: Zimmermann, Über das Schöffen­ institut bei den vormaligen Kurhessischen Untergerichten und bei den Preußischen Amtsgerichten (bei Goltdammer XX S. 729 ff. 793 ff.). Über das Schöffengericht in Baden s. Haager, im Gerichtssaal 1875 S. 52 ff. Vgl. auch „Nachtrag zu den Motiven des Entwurfs einer deutschen Straf­ prozeßordnung". Berlin 1874. Die reiche spätere Literatur s. bei GlaserOetker IH S. 649/50.

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Im letztern Falle fällt die Einheit des Gerichts weg, und zwei einander koordinirte, freilich in enge Wechselwirkung gestellte Gerichte entstehen. Aus dieser Zerreißung entspringt das Schwurgericht, das in Frankreich und Deutschland ganz anders wie in England und Amerika nur eine maskirte Vereinigung zweier ver­ schiedener Gerichtshöfe (Geschworenenbank — Richterbank) darstellt. Von diesen beiden Gerichten ist prinzipiell Keines dem Andern übergeordnet. Die Richterbank soll das Verdikt der Jury nicht auf seine Richtigkeit hin prüfen und nur dann verwerten, wenn sie es nicht zu verwerfen vorzieht. Die beiden Gerichte sind vielmehr grundsätzlich Gerichte derselben Instanz, genauer zwei koordinirte Gerichte des gleichen Haupt­ verfahrens. In dieser ihrer Stellung erhalten sie aber nicht beide dieselbe Urteilsfrage zugewiesen, damit vielleicht zwei gleichlautende Urteile der verschiedenen Gerichte (äuas ooukormss) die Gerechtigkeit der Verurteilung verbürgen. Viel­ mehr soll ein Urteil in zwei Hälften mit zwei Zungen gesprochen werden. Wo dies Rechtens ist, besteht das Schwurgericht, und es liegt eine humoristische Ironie darin, daß in Sachsen als dem Lande, von welchem aus die Werbung für das Schöffengericht am lebhaftesten betrieben wurde, das sog. Schöffengericht nichts anders war, als ein allerdings erheblich verbessertes Schwurgericht. Eine solche Organisation der Gerichte läßt sich nur unter einer Voraussetzung überhaupt rechtfertigen: falls näm­ lich die richterliche Aufgabe so teilbar ist, daß die verschiedenen Teile unbeschadet der Lösung der Gesamtausgabe von verschiedenen Organen er­ ledigt werden können. Wenn es wahr ist, daß das Endurteil zwei Fragen zu beantworten hat, die Schuld­ frage und die Straffrage, wenn es ferner wahr ist, daß diese beiden Fragen voneinander vollständig unabhängig sind, so daß derjenige, der die Straffrage lösen soll, dies im Geiste des Gesetzes vermag, ohne an dem Verdikte der Jury teil­

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genommen zu haben und ohne etwas anders zn kennen als deren „Ja" und „Nein": dann und nur dann ist das Ge­ schworenengericht nicht prinzipiell verwerflich. Stellt sich aber die richterliche Aufgabe insbesondere beim Endurteil als eine unteilbare dar, dann ist der Stab gebrochen nicht nur über das Schwurgericht, sondern über alle auf gleichem Grundgedanken ruhenden Gerichtsorganifationen. Das Schwurgericht selbst aber läßt wieder drei verschiedene Arten zu. Man kann für die Geschworenenbank rechts­ gelehrte und zugleich beamtete Richter fordern^. Es ist bekannt, daß der zweite und dritte Strafsenat des deutschen Reichsgerichts die erste und letzte Instanz für Hoch­ verrat und Landesverrat gegen Kaiser und Reich bilden. Schriebe das Gesetz vor, daß der zweite Senat die Schuld­ frage, der dritte Senat aber die Straffrage zu beantworten hätte, fo würde dies Gericht ein echtes Schwurgericht sein. Man kann für die Geschworenenbank aber auch die beamteten Richter verwerfen, dagegen un­ beamtete Rechtsgelehrte zu Geschworenen ein­ berufen. Eine solche rein rechtsgelehrte unbeamtete Jury hat zur Zeit der französischen Revolution der berühmte Abbs Sieyös in der konstituirenden Nationalversammlung bean­ tragt, und der österreichische Justizminister Glaser, der sich davon frei hielt, das Unwesentliche der Jury mit ihrem Wesen zu verwechseln, gestand aufrichtig, daß er in einer solchen Juristenjury, ihre Herstellbarkeit vorausgesetzt, am ehesten den Boden eines Kompromisses erblicken würdet Solchen Vorschlag machte der bayrische StrafprozeßEntwurf, der am 19. Dez. 1831 den Ständen vorgelegt wurde. Bei allen bedeutenderen Delikten sollte eine Hauptverhandlung vor einem aus neun rechtsgelehrten Richtern bestehenden Kollegium stattfinden, von denen fünf zuerst über die Latfrage, dann vier über die Rechtsfrage entscheiden sollten. S. Geyer, Lehrbuch des Strafprozeßrechtes S. 91. i2 Glaser, Zur Juryfrage S. 64. (Schwurgerichts Erörter. S. 166.)

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Endlich mag man auch Anstand nehmen an der Rechtskenntnis der Geschworenen und eine reine unbeamtete Laienjury fordern. Dies Gericht wäre aber mit Nichten unser in Anwendung befindliches Schwurgericht. Denn dies ist nicht wesentlich ein Laien­ gericht. Unsere Geschworenen entbehren der Eigenschaft des richterlichen Beamten, aber der Jurist ist durchaus fähiger Geschworener. Unser heutiges Schwurgericht teilt nun mit dem Schöffen­ gerichte, daß die volle richterliche Gewalt für die Aburteilung über die Strafklage einem für den einzelnen Fall erst zu bildenden Kollegium von drei beamteten Richtern und zwölf unbeamteten Personen, den sog. Geschworenen zusteht; es unterscheidet sich von dem Schöffengerichte dadurch, daß nicht nur die Gewalt selbst, sondern auch ihre Aus­ übung zwischen Richtern und Geschworenen geteilt ist. Durch die Bildung der Geschworenenbank wird ein Teil der Gerichts­ barkeit dem Richterkollegium vollständig entzogen, der Rest aber verbleibt ihm ausschließlich. Das Richterkollegium allein mit Ausschluß aller Mitwirkung der Geschworenen fällt die in der Hauptverhandlung nötigen Zwischen­ entscheidungen; es allein stellt den Geschworenen ihre Fragen; es allein beschließt über dasjenige, was infolge des Verdikts zu geschehen hat: es löst die sog. Straffrage. Dagegen die Beantwortung der Frage: ob der Angeklagte des ihm von der Anklage zur Last gelegten Verbrechens schuldig sei, soll ausschließlich der Geschworenenbank übertragen sein, und an der Beratung und Beschlußfassung der Jury über diese Frage nimmt wieder der Gerichtshof keinen Anteil. Das Beratungszimmer der Geschworenen ist ihm befriedeter Raum, den auch nur zu betreten er kein Recht hat. Außer früher in Sachsen ist also, wie man sieht, der Anteil der Schöffen an der Gerichtsbarkeit ein weit bedeuten­ derer als der der Geschworenen. Diese etwas mühsame, aber unentbehrliche Untersuchung

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hat uns nun nicht nur den Einblick in die sämtlichen mög­ lichen Organisationen der Strafgerichte, sondern zugleich auch in die falschen Auffassungen des Geschworenen- und des Schöffengerichts geöffnet und damit die Quelle der Streit­ verwirrung bloß gelegt. Von Anfang an wurde uns das Schwurgericht als das Volksgericht gepriesen, welches als solches bestimmt sei, die rein mit rechtsgelehrten Beamten besetzten Gerichte des mit vollem Fug in Verruf gekommenen Jnquisitionsprozesses zu verdrängen. So hat man sich gewöhnt, das Charakteristische des Schwurgerichtes nicht in der eigentümlichen Zweiteilung der richterlichen Gewalt und dem ihr entsprechenden Doppel­ gericht, sondern in der Teilnahme der Laien an der Strafgerichtsbarkeit zu finden. Wenn die An­ hänger der Schöffengerichte neuerdings den Schwurgerichten den Krieg erklärt haben, so ist es nicht am wenigsten deshalb geschehen, weil sie in dem Schöffengerichte die bessere Form der Mitwirkung des bürgerlichen Elements bei der Straf­ rechtspflege erblicken. „Ich behaupte — erwidert ihnen em­ phatisch ein Gegner, der wenig Gründe, aber viel Begeisterung für die Jury besitzt —, daß die Ersetzung der Jury durch die modernen Schöffengerichte gleichbedeutend wäre mit dem Verfalle des Volksgerichtes und im weiteren Verlaufe mit dem abermaligen Zurücksinken unseres im Aufschwung begriffenen Rechtes in die Fesseln der Scholastik""! Zwei Gegensätze werden hier identifizirt, die wesentlich verschieden sind: der Gegensatz von beamteten und unbeamteten Teilnehmern an der Strafrechts­ pflege, und der Gegensatz des rechtsgelehrten und des rechtsungelehrten Richters". Wer die Teilnahme der Laien an der Rechtspflege ver­ teidigt, ist nur ein Gegner der Besetzung der Gerichte rein H. Seuffert, Über Schwurgerichte und Schöffengerichte. München 1873, S. 26. 27. S. dazu unten S. 58 Note 49.

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mit rechtsgelehrten Richtern; damit wird er aber noch keines­ wegs ein Gegner des Beamtengerichts und ein Anhänger des Schöffen- oder Schwurgerichts. Denn der Laie bildet wol einen Gegensatz zum Rechtsgelehrten, aber nicht zum Beamten: der Laie selbst ist ja gar nicht selten beamteter Richter. Andererseits sind, wie die reinen Beamtengerichte durch­ aus nicht notwendig rein rechtsgelehrte Gerichte, so auch die Schöffen- und die Geschworenengerichte keineswegs notwendig Laiengerichte. Die Rechtskenntnis macht weder den Schöffen noch den Geschworenen zu seinem Amte unfähig; ein Schöffen­ gericht mit einem rechtsgelehrten Beamten als Präsidenten und zwei Doktoren der Rechte als Beisitzern ist durchaus zulässig, und auf einer Geschworenenbank können sehr wol rechtsgelehrte Geschworene die Majorität bilden. Ja, wenn auch nur ein Jurist unter den Geschworenen sein sollte, so pflegen sie ihn zu ihrem Obmann zu ernennen, ihn also für den befähigtsten Geschworenen anzusehen. Wenn aber Schöffen und Geschworene Rechtsgelehrte sein dürfen, so sind die Schöffen- und die Schwurgerichte nicht wesentlich Laien­ gerichte ; wenn umgekehrt ständige Richter Laien sein können, so dürfen wir die Beamtengerichte nicht mit rein rechts­ gelehrten Gerichten identifiziren: diese chronisch gewordene Verwirrung muß endlich einmal aufhören, soll sich eine Ver­ ständigung ermöglichen. Die Frage nach der Mitwirkung der Laien im Strafprozeß ist von der Frage, ob reine Be­ amtengerichte, oder Schöffen- oder Geschworenen­ gerichte gänzlich und reinlich zu lösen. Es ist eine Unsitte, die Jury immer zu verteidigen mit Gründen, die der Laiennatur der Geschworenen entnommen sind: denn der Geschworene ist nicht notwendig Laie. Es ist nicht minder verwerflich, das ständige Beamtengericht deshalb zu preisen oder zu steinigen, weil alle seine Beisitzer rechtsgelehrte Richter seien. Selbst einmal angenommen, es stellte sich der Laie

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als untauglich zum Geschworenen oder Schöffen heraus, so wäre damit über das Schöffen- oder das Geschworenengericht als solches noch gar nicht der Stab gebrochen; es gälte dann nur, die genügende Zahl von rechtskundigen Schöffen und Geschworenen zu finden, und gelänge dies nicht, so würden Schöffen- und Schwurgerichte allerdings an einem faktischen Hindernisse scheitern, ihre Grundgedanken aber könnten dabei immer als vortrefflich und allgemeingültig anerkannt werden. Sollte aber das ständige Beamtengericht den Vorzug ver­ dienen vor dem, wobei unbeamtete Mitglieder bei der Recht­ sprechung mitwirken, so wäre damit ja noch gar nicht be­ wiesen, daß diese ständigen Beamten zugleich Rechtsgelehrte sein müßten. Erst mit dieser Trennung der verschiedenen Fragen von­ einander ist der Weg klar vorgezeichnet, den unsere Unter­ suchung zu gehen hat. I. Da der Mann für das Amt da ist und nicht das Amt für den Mann, so ist die Frage nach dem berufenen Richter nur zu beantworten aus der Aufgabe, welche der Gesetzgeber dem Richter ge­ steckt hat. Wer sie am besten zu lösen vermag, ist der beste Richter. Ist sie eine wesentlich juristische, so wird der Richter der Rechtskunde nicht ent­ behren können! Dann wären die Laien sowol aus den Schwur- als aus den Schöffengerichten zu beseitigen; beamtete Laienrichter müßten in ihrem Gerichte wenigstens so lange in der Minorität sein, bis sie die nötige Rechtskunde erlangt hätten. Ist sie dagegen eine wesentlich nicht juristische, so ist auch der Laie berufener Richter, und es wäre dann die Entscheidung zu fällen, ob wir den Laien auf die Geschworenen­ bank oder als Schöffen oder als Beamten auf die Richterbank fetzen sollten?

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n. Des weiteren müßte sich aus der Natur der richterlichen Aufgabe ergeben, ob die Beamten­ stellung des Richters den Vorzug verdiente, oder ob die Unabhängigkeit vom Amte eine bessere Bürgschaft für gerechtes Richtertum abgäbe! Im ersteren Falle müßte die Entscheidung ausfallen sowol gegen Schöffen- als gegen Schwurgerichte mit unbeamteten Geschworenen. III. Aus der Betrachtung der gleichen Richter­ aufgabe muß sich aber auch ergeben, ob sie, un­ beschadet der Lösung der Gesamtausgabe, teilbar und auf zwei Gerichte verteilbar ist oder nicht? Wenn ja, so würde der Grundgedanke der Jury als ein richtiger erwiesen und nur noch zu zeigen sein, ob die Teilung der Aufgabe, wie sie das heutige Schwurgericht vornimmt, die sachgemäße Teilung, und ob das Verhältnis der beiden ver­ schiedenen Gerichte (Gerichtsbank und Geschworenen­ bank) zu einander ein gesundes sei? Wenn nein, so würde der Stab über das Geschworenengericht in jeder Form gebrochen werden müssen. IV. AlsResultat dieser Untersuchungen würde ein klares Bild von der besten Besetzung der Ge­ richtsbank und der besten Organisation der Strafgerichte (vom Jnstanzenzuge abgesehen) ge­ wonnen sein. Das Beste ist aber nicht immer das Durchführbare, und möglicherweise könnte ja auch diese Organisation der Strafgerichte für Deutschland auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Dann muß der Gesetzgeber sie modifiziren so lange, bis statt des unpraktikablen Besten das ausführbare Bessere Inhalt seiner Satzungen sein wird. Sollten in Deutschland solche Modifi­ kationen nötig sein, und sollte es mir gelingen, deren Umfang genauer zu umschreiben, so würde

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sich der Kreis unserer Untersuchungen schließen; sie wären zurückgekehrt zu der praktischen Frage, von der sie ausgegangen sind: es ließe sich dann eine bestimmte Anforderung an die künftige ge­ meindeutsche Strafprozeßordnung und an die Revision der gegenwärtigen formuliren.

I. Rechtsgelehrte oder Laienrichter? I. Im innigsten Zusammenhänge mit dem Zustande des materiellen Rechtes steht jederzeit die Aufgabe des Richters. Ist jenes ein dürftiges, für das Leben nicht ausreichendes, vielleicht noch außerdem ein ungeschriebenes, so muß der Richter den Gesetzgeber teilweise ersetzen und aus seinem eigenen Rechtsgefühl das Urteil finden, was das Gesetz ihm vorzuschreiben versäumt hat. Der Richter ist dann weniger Rechtsanwender als Rechtsimprovisator für den einzelnen ihm unterbreiteten Fall. Von einem sehr schwanken Faktor, dem momentanen Gefühl des Urteilers von Recht und Billigkeit, hängen dann die köstlichsten Güter des Beklagten ab. „Daß viele zu dem Tode ohne recht und unverschuldet verurteilt werden" — dies und kein ge­ ringerer Übelstand rüttelte den Reichstag zu Freiburg 1498 zu dem Entschlusse auf, „eine gemein Reformation und Ord­ nung, wie man in oriminaUbus procediren soll," die künftige peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. vom Jahre 1532, in Aussicht zu nehmen. Je reicher das Recht, insbesondere das Strafrecht sich entwickelt, um so mehr drängt es nach gesetz­ licher Form. Grade um Leib und Leben, Freiheit und Ehre der Beschuldigten sicherzustellen vor ungerechten Urteilen, um andererseits den Verbrecher mit der verdienten Strafe zu treffen, sondert der Gesetzgeber mit vorsichtiger Hand die strafbare von der straflosen Handlung — beide genau charakterisirend; deshalb stellt er erschöpfend die Summe der Verbrechen auf, und, die Wage der Gerechtigkeit in der Hand, bestimmt

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er dem Verbrechen diejenige Strafe, die ihm als die allein angemessene erscheint. Er will, daß nie gestraft oder straffrei gelassen werde wider das Gesetz; er heischt, daß nur gestraft werde nach dem Strafmaßstabe des Gesetzes. Führt dessen Anwendung im einzelnen Fall zum bedauernswerten Er­ gebnis, so ist die Gnade das bestimmungsgemäße Korrektiv und nicht das Urteil. Ein solches Strafrecht, in seinen Strafdrohungen voll­ ständig — wie es zu sein beabsichtigt — in die eherne Form des Gesetzes gegossen, heroorgegangen aus der angestrengtesten Arbeit der Nation, um den Unschuldigen zu schützen, den Schuldigen sicher, aber maßvoll zu treffen, könnte einen Richterstand, der Korrektor des Gesetzes und also gleichfalls Rechtsschöpfer wäre, wie die alten Schöffen gewesen sind, unmöglich neben sich dulden. Erst ein ausgebildetes System des Gesetzesrechtes ermöglicht die heilsame Trennung der richter­ lichen von der gesetzgebenden Gewalt in der Ausübung beider: erst infolgedessen wird der Richter und darf nichts anderes mehr sein als der Anwender eines Rechtes, das er nicht selbst geschaffen hat. Die Sirenenstimmen, welche die Jury preisen, weil die Geschworenen berufen seien, das geltende Recht in stetem Einklang mit der „Volksüberzeugung", dieser wandelbarsten aller Überzeugungen, auszulegen, locken nur zum Unheil.

Jedes Gesetz hat nur einen Sinn und nur einen Willen: dieser soll allein zur Anwendung kommen. Entweder die Geschworenen sind an diesen Gesetzesinhalt gebunden, und dann existirt keine „volkstümliche Auslegung", die sich von diesem Inhalt lösen und doch Anspruch auf Geltung machen dürfte; oder aber sie sind berufen, unter dem Scheine die Gesetze anzuwenden, sie zu stürzen. Dann stelle der Staat die Strafgesetzgebung überhaupt still und überliefere seine gesetzgebende Gewalt an die Geschworenenbank! Wenn dem Schwurgericht diese Omnipotenz, diese „Souveränität zu­ erkannt wird, sich über das Gesetz zu erheben, dann . . .

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ist es um die rechtliche Ordnung im Staate geschehen" Die Verfechter jener äußerlich so schönen, innerlich so giftigen Phrase geben ohne Verständnis für die Bedingtheit der richterlichen Aufgabe durch den Zustand des geltenden Rechtes eine der größten Errungenschaften unserer Rechtsentwicklung auf; leichten Sinnes opfern sie die Gesetze und in ihnen die mit unsäglicher Mühe gewonnenen Bürgen für die Unantast­ barkeit der höchsten Güter unschuldig Angeklagter und für die gerechte Ahndung der überführten Verbrecher. Und wem wird dies Opfer gebracht? Der für souverän erklärten momen­ tanen Erregung der von den Parteien mit gleichem oder verschiedenem Erfolge bestürmten Gerichtsbeisitzer, d. h. einem Faktor, der in den deutschen Gerichten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts nicht entbehrt werden konnte, im fünfzehnten notwendiges, zugleich aber fchon notwendig zu beseitigendes Übel geworden war, und heutzutage wieder

ausgenommen, einen Rückschritt von fünf Jahrhunderten be­ deuten würde. Wer das richterliche Urteil entspringen sehen möchte der subjektiven richterlichen Anschauung von Recht und Unrecht, '6 So richtig v. Hye-Glunek, Das Schwurgericht S. 147. 148. Vgl. auch Gneist, Vier Fragen S. 158 ff., des. S. 163. — Daß die englische Jury aufs strengste an das materielle Gesetz wie an das Beweisrecht und die richterliche Direktion gebunden ist, dürfte bekannt sein. Wie die amerika­ nische Jurisprudenz über diese Frage denkt, zeigt sich am besten aus folgenden Zeugnissen. Der berühmte Jurist Story sagt in seinem Vortrage in der Rechtssache U. S. v. Battiste: „. . . Die Geschworenen haben die physische Macht, das Gesetz, wie es ihnen das Gericht darlegt, außer acht zu lassen; allein, ich stelle entschieden in Abrede, daß sie das moralische Recht haben, über das Recht nach ihren persönlichen Ansichten und nach ihrer Willkür zu entscheiden. — Jeder Angeklagte hat ein Recht, nach dem Rechte des Landes, nicht nach dem Rechte, wie es eine beliebige Jury versteht oder es aus Übermut, Unwissenheit oder zufälligem Mißverständnis aus­ legen mag." — Ein Urteil des obersten Gerichtshofs von New-Jork sagt entsprechend: „Die Jury kann allerdings Gesetz und Eid außer acht lassen... Aber man kann wahrlich nicht sagen, daß sie ein Recht habe, dies zu tun." S. Glaser, Anklage, Wahrspruch und Rechtsmittel. 1866. S. 255. 256. 258. 259.

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von Strafart und Strafmaß, der sei wenigstens konsequent und arbeite auf den Untergang unserer Gesetze! Der alt­ deutsche Schöffe neben dem deutschen Strafgesetz­ buche wäre eine ebenso große Anomalie als die Aufnahme des Eidhelfereides und der Gottesurteile in unsern kriminellen Beweis. Unsere Gesetze verlangen genaueste Befolgung, unser Richterstand findet seine allein gesunde Stellung in der un­ bedingten Unterordnung unter das Gesetz. Jede Einrichtung, die dies für die Gegenwart allein normale Verhältnis ge­ fährdet, sät Mißtrauen gegen den Gesetzgeber, impft ver­ wegenen Übermut in unsern Richterstand, ermutigt die Ver­

brecher zu ihren Taten, weil er sie spekuliren läßt auf den Dissens von Gesetz und Gericht, raubt endlich dem Unschuldigen das Zutrauen zu sich selbst und zu seiner Sache, da der Richter Unschuld zur Schuld stempeln kann. Jene Phrase, die Jury sei die Trägerin der Umbildung und Weiterbildung des Ge­ setzes im Geiste des Volksbewußtseins, ist entweder ein gut­ mütiger Irrtum oder ein gefährlicher demagogischer Köder für die Massen. „Wäre in der That das Bewußtsein der Ge­ schworenen der wahre Prüfstein für die Frage der Strafbar­ keit, dann läge ... die Konsequenz nahe, daß nun auch andererseits ohne Rücksicht auf sogenannte juristische Spitz­ findigkeiten Alles als strafbar behandelt werden müßte, was die Geschworenen strafwürdig fänden — ein Prinzip, dessen Durchführung begreiflich alle Rechtssicherheit aufheben würde." In diesem Urteile stimmen Freunde und Feinde der Jury, Heinze" und Hye" zusammen. Jene Phrase in ihren verschiedenen Variationen, die leider auch Verteidiger des Schöffengerichtes ausgenommen haben, scheint einem Ausspruche Justus Mösers in seinen Patriotischen Phantasien I S. 339 ihren Ursprung zu ver­ danken — einem Ausspruche, der verhängnisvoll genug ge­ worden ist, um einen Augenblick die Aufmerksamkeit zu Ein deutsches Schwurgericht S. 65. 66. 's S. oben S. 21 Note 11.

Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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fesseln. „Was kann unbilliger und grausamer sein, als einen Menschen zu verdammen, ohne versichert zu sein, daß er das Gesetz, dessen Übertretung ihm zur Last geleget wird, begriffen

und verstanden habe, oder begreifen und verstehen können? Die deutlichste Probe aber, daß ein Verbrecher das Gesetz verstanden habe, oder doch verstehen können und sollen, ist un­ streitig diese, wann sieben oder zwölf ungelehrte Männer ihn darnach verurtheilen, und durch eben dieses Urtheil zu erkennen geben, wie der allgemeine Begriff des übertretenen Gesetzes gewesen, und wie jeder mit bloßer gesunder Vernunft begabte Mensch solches ausgeleget habe"." Daraus folgte, daß die Unverständlichkeit eines Straf­ gesetzes zur Freisprechung zwingen, die Schwerverständlich­ keit eines solchen die Freisprechung wenigstens sehr nahe legen muß 2°. Was geht denn aber den Verbrecher der dunkle Sinn des Strafgesetzes an? Er übertritt ja das Strafgesetz nie, sondern davon ganz verschiedene, meist sehr klare und leicht verständliche Verbote und Gebote. Diese Normen muß er Es ist wol der gleiche oder ein ähnlicher Gedanke, wenn Köstlin, Wendepunkt S. 25 sagt: die Bestimmung der Geschworenen sei die, „das eigne Selbstbewußtsein des Angeschuldigten als Organ des konkreten Volks­ bewußtseins (des Bewußtseins seiner Gleichen) zu vertreten". 20 Wie weit läßt sich selbst Glaser (Zur Juryfrage S. 22) verleiten, wenn er sagt: „Und gesetzt, es träte in Wahrheit der Fall ein, daß eine Anschauung, welche in juristischen Kreisen Geltung hat, unwirksam bleibt, weil es unmöglich ist, sie Leuten begreiflich zu machen, welche zum mindesten die Durchschnittsbildung im Volke repräsentiren, — wäre das nicht eher ein Gewinn als ein Verlust?" (!) (S. Schwurgerichtl. Erörter. S. 90.) — Nach W. Mittermaier, bei Aschaffenburg, Monatsschrift II S. 11, darf man Niemanden verurteilen, „von dessen Schuld man nicht auch ungelehrte Bürger überzeugen kann". Und wenn diese besonders begriffsstutzig sind, soll man deshalb freisprechen? Es kommt ja aber darauf gar nicht an, sondern allein darauf, ob dem Angeklagten die verbrecherische Natur seines Handelns klar gewesen ist oder klar sein mußte! — Liepmann, Reform des Schwurgerichts S. 179, findet in Mösers Sätzen „eine un­ sterbliche Idee über den Wert des Schwurgerichts zum Ausdruck gelangt". Nur daß Möser vom Schwurgericht gar nicht spricht! Möser beantwortet die Frage: „Ist es billig, daß Gelehrte die Criminalurtheile sprechen?" Seine ganze Antwort ist sehr interessant, aber sehr einseitig?

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allerdings gekannt haben, aber nicht einmal das braucht er zu wissen, um bestraft werden zu können, daß die von ihm begangene verbotene Handlung mit Strafe bedroht ist, noch weit weniger braucht er ein Interpret der Strafgesetze zu sein. Ist denn die Unfähigkeit des Laienrichters, den Sinn eines Strafgesetzes zu fassen, etwas anderes als lediglich ein Beweis für den Fehler, ihn auf die Gerichtsbank gesetzt zu haben, und beweist sie etwa außerdem den Mangel der Schuld auf Seiten des Angeklagten"? So ist diese Mösersche Äußerung nur ein Wegweiser zu Irrfahrten gewesen, und

es ist höchste Zeit, die Vorstellung fallen zu lasfen, daß eine „volkstümliche Auslegung der Strafgesetze" eine notwendige Schutzwehr gegen ungerechte Verurteilungen abgeben müsse. Auch die populärste Mißdeutung eines Gesetzes ist ein Un­ glück, unter welchem das ganze Volk leidet. II. Wie aber gestaltet sich nun die Aufgabe des dem Ge­ setze unterworfenen Richters"? Nicht umsonst trägt die logische Figur des Syllogismus in der deutschen Sprache den Namen des richterlichen Erkennt­ nisses, des Urteils. „Nirgends — äußert einmal Trendelen­ burg" — wird die Logik so praktisch, so empfindlich als im Recht; ... die Tür des Gefängnisses schließt sich hinter dem Übertreter des Gesetzes, und das Fallbeil fällt auf den Hals

des Mörders — in Kraft der Definition und des tsrwiuns msäius." In dem Syllogismus, dessen Schlußsatz die richter­ liche Sentenz ausmacht, bildet den Obersatz das Strafgesetz ; den Untersatz die Tatsache, daß der Angeklagte die vom GeS. mein Buch „Die Normen und ihre Übertretung" I (2. Aufl. Leipzig 1890) S. 3 ff. 22 Der Kürze halber fasse ich hier vorzugsweise das Endurteil ins Auge, welches ja auch für die Frage nach der Besetzung der Gerichte immer den Ausschlag geben muß. Wer aber die nicht geringe Mühe scheut, dieser für die Zulässigkeit des Laienrichters gradezu präjudiziellen Frage Punkt für Punkt nachzugehen, wird nie zu einem eigenen Urteil über die für den Strafrichter nötigen Eigenschaften kommen können. 2» Naturrecht, 2. Aufl. S. 178. 3*

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setz bedrohte Handlung begangen oder nicht begangen habe; den Schlußsatz die Verurteilung nach Maßgabe des Gesetzes oder die Freisprechung. § 242 des deutschen Strafgesetzbuches lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem Andern in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzu­ eignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft." Der Beweis hat ergeben, daß der Angeklagte Meyer seinem Nachbar Müller ein diesem gehöriges Pferd weggenommen hat, um dieses sich zu­ zueignen, oder aber um es zu Pfand zu haben. Der Richter spricht: der Meyer sei deshalb im ersten Fall wegen Diebstahls mit sechs Monaten Gefängnis zu bestrafen, im zweiten Fall von der Anklage des Diebstahls freizusprechen. Gerecht ist das Urteil nur dann, wenn der Obersatz wirklich Rechtssatz, der Untersatz bewiesen und der Schluß richtig ist. 1. Die Aufgabe des Richters beginnt mit der Fest­ stellung des Untersatzes. Die Anklage behauptet, es habe der Angeklagte eine genau spezialisirte Handlung be­ gangen, welche sich als Raub, Unzucht, Hochverrat, Fälschung qualifizire, und sie beantragt deshalb die Verurteilung. Schon der Ankläger unterstellt die angebliche Tat des Angeschuldigten unter ein bestimmtes Strafgesetz, welches das sog. recht­ liche Klagfundament bildet. Diese Subsumtion ist aber ein sehr zweifelhafter Wegweiser, dem ohne weiteres zu folgen der Richter sich wol hüten muß. Da nun für den Richter nur die bewiesene Tatsache vorhanden ist, so hat er zu unter­ suchen: welche Tat dem Angeschuldigten im Laufe des Verfahrens bewiesen worden ist? Nun setzen sich ja aber — und das verkennt nicht nur der Laie häufig — die verbrecherischen Hand­ lungen aus lauter Begriffen zusammen, die Rechtsbegriffe sind. Die Rechtswissenschaft und die Gesetzgebung haben indessen nicht wie die Chemie eine besondere Sprache für ihre Begriffe ausgebildet, sondern sie bedienen

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sich der Ausdrücke der Umgangssprache. Da nun diese Aus­ drücke allen Volksgenossen geläufig sind, so ist der Irrtum weit verbreitet, die Rechtsbegriffe seien gleichfalls allen diesen Volksgenossen geläufig oder ihnen wenigstens sehr leicht ver­ ständlich zu machen. Das Recht jedoch verbindet mit diesen Worten einen ganz technisch juristischen Sinn, der immer viel schärfere Grenzen besitzt als der Begriff, den der Laie mit dem gleichen Worte verbindet, außerdem häufig viel weiter geht oder enger ist als dieser, häufig auch wirklich nur mit ihm den Namen teilt und sich sonst völlig von ihm unterscheidet. „Das ist eine andre Sache," meint der Laie, wenn er eine neue Meinung hört, während dem Juristen eine Meinung nie eine Sache ist. „Diese Sache ist mein," sagt er, wenn er sie gekauft hat, auch wenn das Eigentum noch keineswegs übergegangen ist. „Ich besitze mein Buch momentan nicht," wenn er es verliehen hat. „Ich habe mir die Uhr, die ich genommen, nicht zueignen wollen, ich wollte sie nur bei erster Gelegenheit zerstören," äußert er ent­ schuldigend, da ihm der juristische Begriff der Zueignung ab­ geht. „Dieses Weib hat ihren Mann durch ihr ewiges Keifen umgebracht," meint der Freund des Toten in Fällen, wo der Jurist mit Lächeln den Vorwurf der Tötung hört. „Der­ jenige ist schuld an meines Bruders Tod — äußert alles Ernstes der Bruder —, der ihm die Wunde beigebracht hat," während der Jurist allein die Schuld auf das unvorsichtige Benehmen des Verwundeten oder die schädliche Quaksalberei des behandelnden Arztes legt, also einen ganz andern Ur­ heber der Tötung annimmt. „Der Angeklagte hat die Brand­ stiftung ja gar nicht gewollt, er ist deshalb unschuldig," schließt der Zuhörer, wenn der Jurist fahrlässige Brand­ stiftung nachweist; oder umgekehrt, „der Angeklagte konnte voraussehen, daß der Brand möglicherweise eintreten könnte, deshalb ist er schuldig, hat ihn vielleicht gar beabsichtigt." Und wo wir hineingreifen in die Gesetzgebung, begegnen wir durchweg der gleichen Erscheinung; an Stelle des täglich

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wechselnden vagen und willkürlichen Sprachgebrauchs ist eine technische Sprache und sind scharf zugehauene Rechtsbegriffe getreten. Daß deren Bezeichnungen auch im Umgangsleben Anwendung finden, ist eine große Versuchung für den Laien, die Rechtsbegriffe verstehen zu wollen und falsch zu verstehen. Was im juristischen Sinne Schuld und Unschuld ist, was Vorsatz und was Fahrlässigkeit, wann Zurechenbarkeit einer Tat vorliegt, wann nicht, wann jemand Urheber einer Tat ist oder nicht, wann er dazu nur geholfen oder angestiftet hat, was eine Sache ist, was mein und dein, was Eigentum, Besitz, Detention, was eine Urkunde ist, was keine, — diese und alle die Tausende und Abertausende von Rechtsbegriffen zu lernen, bedarf der Jurist der angestrengtesten langjährigen Arbeit, bei welcher nicht die kleinste Mühe darin besteht, den juristisch-technischen Sinn eines Wortes von den untechnischen Bedeutungen, die das Leben damit verbindet, klar abzutrennen. Die Rechtsbegriffe sind aber die juristischen Elemente, aus denen Alles besteht, was rechtlichen Wesens ist. Wer diese Herausbildung der juristischen Begriffe, ihre Loslösung von den gemeinen schwankenden Begriffen des Alltagslebens tadelt, kann nur unser Lächeln erregen: denn er beweist, daß er von der Geschichte der Wissenschaften, die ja identisch ist mit der Geschichte der geistigen Aufklärung überhaupt, gar keine Ahnung besitzt. Die Ausbildung der Rechtsbegriffe ist ein Werk tausendjähriger angestrengtester nationaler Arbeit: die Schranken zwischen ihnen und den mit den gleichen Worten verbundenen Bedeutungen des gemeinen Lebens sind durch die Jahrtausende immer neu befestigt und erhöht worden: weder der fromme Schwärmer für die Einfachheit des Natur­ zustandes, noch der übermütige Dilettant werden sie zu über­ steigen, geschweige denn umzureißen imstande sein. Jede verbrecherische Handlung besteht also lediglich aus einer Kombination verwirklichter, bald schwieriger, bald leichter zu verstehender Rechtsbegriffe, deren Wechselbeziehungen wieder nur dem juristischen Verständnisse einleuchten. Grade

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von den allerschwierigsten aber fehlen Einige bei keiner straf­ barer: Handlung, wie der Schuldbegriff, der Täterbegriff, der Begriff der Zurechenbarkeit, der Begriff der Vollendung oder des Versuches usw. Nun behauptet die Anklage immer, der Angeklagte habe sich einer bestimmten, von ihr nach Zeit, Ort, Art und Weise der Ausführung, Erfolg usw. bis zum Ausschlusse der Ver­ wechselung individualisirten Handlung schuldig gemacht: er habe z. B. als Deutscher während des mit Frankreich 1870 ausgebrochenen Krieges vorsätzlich sich an der französischen Anleihe beteiligt, dadurch, daß er an dem und dem Tage 1000 Pfund Sterling gezeichnet und sofort 5 Prozent des Be­ trags eingezahlt habe, und habe dadurch den Landesverrat des Z 89 des deutschen Strafgesetzbuchs begangen; oder aber er habe als Postbeamter im Postbureau aus einem Fäßchen holländischer Heringe eine Schichte herausgenommen und ge­ frühstückt, und dadurch, obgleich sich schließlich nach seiner Tat herausgestellt, daß das Faß ihm selbst zum Geschenk über­ sandt gewesen, eine Amtsunterschlagung verübt. Nehmen wir nun einmal an, es könne der Richter ohne weitere Beweisaufnahmen sofort erkennen, ob der An­ geklagte die ihm zur Last gelegte Tat wirklich begangen habe, worin bestünde dann die erste Aufgabe des Richters gegen­ über diesen unzweifelhaften Tatsachen? Er würde feststellen müssen, welche Rechtsbegriffe darin verwirklicht worden sind, wie sich somit die Tat im Rechtssinne darstellt? Ob der Angeschuldigte durch seine Beteiligung an der französischen Anleihe einer feindlichen Macht Vorschub geleistet habe oder nicht, ob sein Entschluß ein Vorsatz gewesen sei, ob der Post­ beamte sich eine fremde Sache zugeeignet habe, ob dies widerrechtlich, d. h. wider Willen des Eigentümers geschehen sei, usw.? Grade daraus, daß der Richter bei dieser Tätig­ keit den Rechtsgehalt der Handlung erkennen soll, daß er keine rechtliche Eigenschaft übersehen, keine nicht vorhandene hinzudenken, keine vorhandene falsch würdigen darf, ergibt

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sich, daß er im Besitz der Kenntnis aller Rechtsbegriffe sein muß, und daß die Feststellung des Untersatzes im richterlichen Syllogismus: Mayer hat Beihilfe zu einem Morde geleistet, Schultze hat sich des fahrlässigen Meineides schuldig gemacht — eine rein juristische Aufgabe ist, welche die umfassendsten Rechtskenntnisse voraussetzt. Und nicht nur diese werden erfordert, sondern auch die erst nach andauernder Übung erlangte Fähigkeit, den Rechts­

begriff aus der Unmasse seiner verschiedenartigsten Dar­ stellungen, z. B. den Urkundenbegriff aus den tausend und abertausend höchst verschiedenartigen Schriftstücken, die alle die wesentlichen Eigenschaften der Urkunde an sich tragen, immer wieder herauszukennen. Der zu dieser Tätigkeit berufene Richter muß also ein Rechtskenner und zugleich geübt sein, in den buntesten Lebens­ erscheinungen ungeblendet das Wesentliche von dem Unwesentlichen, das Juristische von dem Unjuristischen zu unterscheiden. Allein mit dieser eben charakterisirten, allerdings rein juristischen Tätigkeit erschöpft sich die Aufgabe des Richters bei Aufstellung des Untersatzes keineswegs: denn meist be­ streitet der Angeklagte ganz oder teilweise, daß er die Hand­ lung verübt habe, welche der Ankläger ihm zur Last legt. Zu der Frage, was der Angeklagte begangen im Sinne des materiellen Rechts, gesellt sich die andre: was der An­ geklagte begangen im Sinne des Beweises? Und so ist man dazu geführt worden, die richterliche Aufgabe bei Feststellung dieses Untersatzes zu zerlegen in zwei ganz ge­ sonderte Tätigkeiten: in die Lösung der sog Tatfrage oder Beweisfrage und in die Lösung der sog. Rechts­ frage^. Man hat gesagt: zunächst gilt es, die nackten 24 Richtig bemerkt dazu Zachariae, Gebrechen und Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S. 198: „Zu den unnatürlichsten Künste­ leien der neueren Rechtspflege gehört die Trennung der s. g. Thatfrage von der Rechtsfrage." Vgl. das. S. 301 ff. Recht schwach dagegen Köstlin, Wendepunkt S. 121.

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Tatsachen festzustellen, welche vorgefallen sind, ganz ohne Rücksicht auf ihre rechtlichen Eigenschaften. Ob etwas ge­ schehen, das zu beantworten, ist lediglich eine Sache der historischen Kritik; diese Gabe ist so weit verbreitet, daß die nackte Tatfrage von jedermann, der seine fünf gesunden Sinne hat, beantwortet werden kann. l^a dwiinotion sntrs Io kalt st 1s droit S8t obimsrigns dav8 I'USLAS, äußerte freilich schon der Kanzler Cambacöres in der Sitzung des französischen Staatsrates. Dagegen meinte Napoleon I. in der Staats­ ratssitzung vom 6. Februar 1808: On ns saurait doMor gn'un juKs, gni aurait 1s pouvoir äs prononssr tont ä la tois sur 1s droid st 8ur 1s tait, ns tut trop pui88ant. Ostts rsüsxion 8utüt pour 86parsr 1«8 dsux mini8tsr68. I^a diatinotion sntrs 1s8 juA68 du tait st 1s8 suM8 du droit 68t au 8urp1u8 dan8 la natur« ds8 sbo868. Bis auf den heutigen Tag gilt in Frankreich die Theorie, daß ein Teil der richterlichen Auf­ gabe in der Feststellung nackter Tatsachen bestehe, als das Hauptargument für die Einführung und die Beibehaltung der Geschworenenbank. Wäre sie richtig, so würde dadurch allerdings die Verteilung der Gerichtsbarkeit im Geschworenen­ gericht auf zwei Organe einen gewichtigen und so willkommneren Rechtfertigungsgrund erhalten, als den regel­ mäßig rechtsungelehrten Geschworenen dann eine unjuristi­ sche, also ihren Fähigkeiten angemessene Aufgabe übertragen würde. Grade deshalb ist auch der englische Richterstand lange Zeit bei dem Grundsätze verharrt: tbat mattsr8 in tast 8Üa11 bs trisd l>v jurora and mattsrs in la^v tbs sudM8. Heutzutage dagegen will in England niemand mehr das Ver­ dikt der Jury auf Feststellung nackter Tatsachen beschränken. In Deutschland aber ist die Trennbarkeit jener beiden Fragen als unmöglich nachgewiesen worden, und die bei weitem meisten und angesehensten Juristen, Theoretiker wie Praktiker, verwerfen sie mit vollem Fug. Was aber auch bei uns noch keineswegs genügende An­ erkennung gefunden hat, ist die Wahrheit, daß nicht nur keine

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von der Schuldfrage trennbare Tatfrage existirt, sondern daß es überhaupt keine Tatfrage in diesem her­ kömmlichen Sinne gibt Die herrschende Anschauung geht immer noch bald mehr, bald weniger von der Vor­ stellung aus, „nackte Tatsachen" würden dadurch rechtlich be­ deutsam, daß ihnen rechtliche Eigenschaften äußerlich aus­ geklebt würden ; so bleibe der unjuristische Stoff von dem Recht unberührt. Das Verbrechen der Tötung besteht danach aus der unjuristischen Substanz Tötung und der juristischen Zutat, daß sie verboten ist. Nichts aber ist unrichtiger als diese Vorstellung, die nur möglich wäre, wenn das Recht die Begriffe des gemeinen Lebens, wie töten, rauben, wegnehmen, beleidigen, schimpfen, im schwanken Sinne dieses Lebens adoptirte und sie juristisch aufgeputzt zum Bau von Rechtssätzen gebrauchen wollte. Dann und nur dann wären Rechtsbegriffe Laienbegriffe mit juristischer Stickerei; dann ließe sich zuvörderst die ganz un­ juristische Tatfrage feststellen, und dann könnte die Existenz der juristischen Zutaten erst später und vielleicht von einem andern Organe geprüft werden. Allein auch der Stoff der Rechtsbegriffe wird, wie diese selbst, aus dem Steinbruch des Rechtes gehauen: das Recht stellt fest, was es selbst unter töten, rauben, wegnehmen, not26 Auch Glaser, Heinze, Schwarze, selbst Hugo Meyer er­ kennen noch eine solche Tatfrage an. S. Glaser, Die Fragenstellung S. 24 ff.; dessen Zur Juryfrage S. 21 (Schwurgericht!. Erörter. S. 24 ff. 88 ff.); dessen Strafprozeß I S. 3; Heinze, Ein deutsches Geschworenen­ gericht S. 63. 97. 163. 176; Schwarze, Deutsches Schwurgericht S. 115; H. Meyer, Die Frage des Schöffengerichts S. 24 ff. — Was Rittler, Fragestellung, Wahrspruch und Urteil, bei Mittermaier-Liepmann I S. 465 gegen den Satz des Textes vorbringt, steht auf ganz schwachen Füßen. — Äußerst seltsam die ganz unhaltbaren Ausführungen Birkmeyers, Strafprozeß S. 217. 219. Sehr gut dagegen Goerres, Der Wahrspruch der Geschworenen S. 32 ff. Nachdem Goerres die exorbi­ tanten Schwierigkeiten der richtigen Beweiswürdigung feinsinnig dargelegt, faßt er seine Ansicht dahin zusammen (S. 43): „Jedenfalls fällt die richtige Auslegung der Beweisaufnahme dem Geschworenen bedeutend schwerer als dem rechtsgelehrten Richter."

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züchtigen, beschimpfen versteht, und nur wenn diese Rechts­ begriffe Verwirklichung gefunden haben, liegt Tötung, Raub, Notzucht, Beleidigung im Rechtssinne vor^. So lassen sich als verschiedene Ausdrücke des gleichen Ge­ dankens zwei wichtige Sätze aufstellen. Die Feststellung einer „nackten Tatsache", d. h. einer Tatsache, die sich nicht als Verwirklichung eines Rechtsbegriffes darstellt, hat als solche für den Strafrichter materiell-rechtlich gar keine Be­ deutung. Möglicherweise kann sie ein wichtiges Indiz abgeben und Wahrscheinlichkeitsschlüsse verstatten auf die Existenz andrer und zwar rechtlich relevanter Tatsachen, allein durch jene Feststellung wird nicht einmal ein Teil des richter­ lichen Urteils erledigt. Dies läßt sich auch so ausdrücken: wenn die Feststellung einer Tatsache als solcher für den Richter bedeutsam ist, wenn diese Fest­ stellung sich als Bestandteil des richterlichen Ur­ teils darstellt, so ist eben jene Tatsache keine „nackte", sondern eine rechtlich qualifizirte, ein Wirklichkeit gewordener Rechtsbegriff. Der ge­ richtliche Beweis konstatirt nur, daß bestimmte Rechtsbegriffe Verwirklichung gefunden haben oder nicht. Wenn jemand es für bewiesen erklärt, daß die Sonne am Morgen um 6 Uhr aufgegangen sei, oder daß es am 1. Januar geschneit habe, daß die Frau des angeklagten Räubers am 2. Februar in die Wochen gekommen sei, oder daß dieser selbst zu einer bestimmten Stunde gefrühstückt habe, so sind dies allerdings sür den Strafrichter nackte Tatsachen: ihrer keine bildet nämlich ein Tatbestandsmerkmal von Verbrechen. Allein ihr Beweis interessirt grade deshalb den Strafrichter gar nicht und fördert ihn auch nicht für sein Urteil, falls diese Tatsachen nicht die Eigenschaft der Indizien an sich tragen. -° S. auch Glaser-Oetker III S. 4 ff.

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Nun wird aber leider häufig für eine nackte Tatsache gehalten, was eine rechtlich qualifizirte ist. Nehmen wir an, die Geschworenenbank erkläre lediglich für bewiesen, daß der A. den B. getötet habe. Allerdings könnte der Richter auf dieses Verdikt allein das Urteil nicht gründen ; er müßte selbst weitere Feststellungen vornehmen und untersuchen, ob diese Tötung widerrechtlich oder durch Notwehr, Notstand oder Krieg gestattet, oder gar durch Rechtspflicht geboten war; er müßte feststellen, ob der Täter zurechnungsfähig gewesen ist, und wenn ja, ob die verbotene Tötung Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung, ob sie Gattungsverbrechen oder Kindes­ mord, Totschlag an Aszendenten oder Tötung eines Ein­ willigenden gewesen ist? Allein eine wichtige Rechtsfrage würde doch grade auch jenes Verdikt beantwortet haben, nämlich die, daß der A. und kein Andrer den B., insbesondere der B. sich nicht selbst getötet habe, daß der A. nicht nur die Tötung des B. unterstützt, sondern sie verursacht habe, daß der B. an nichts anderm gestorben sei als an der Tat des A. Dies sind aber nichts weniger als nackte Tatsachen! Jene Entscheidung, A. hat den B. getötet, ist im Rechtssinne gegeben; es ist entschieden, daß der Rechtsbegriff der Tötung eines Nebenmenschen durch den A. verwirklicht worden ist. Wäre dies nicht der Fall, hätte jenes Verdikt nur den Sinn, daß im Sprachgebrauche des gemeinen Lebens gesagt werden könne, der A. habe den B. getötet, so könnte der Richter mit jenem Verdikt gar nichts anfangen, und könnte deshalb an es schlechterdings nicht gebunden sein. Er müßte vielmehr dann selbst feststellen, ob eine Tötung im Rechts­ sinne vorliege; seine Feststellung könnte dann mit dem Verdikt in Widerspruch treten, und jene Tätigkeit der Jury wäre dann wieder keine richterliche gewesen. Höchst lehrreich grade in dieser Beziehung sind die be­ rühmten englischen Spezialverdikte, welche, im Gegensatz zu den auf Auilt^ oder not §uilt^ lautenden Generalverdikten, die gesamte Schuldfrage zu beantworten ablehnen. In ihnen

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sollen sich die Geschworenen angeblich auf Feststellung nackter Tatsachen beschränken. Prüft man aber die Feststellungen dieser Verdikte genauer (lehrreiche Beispiele finden sich bei Glaser, Anklage, Wahrspruch und Rechtsmittel im englischen Schwurgerichtsverfahren, 1866, S. 172 ff.), so beziehen sie sich entweder auf Indizien oder auf eminent wichtige juristisch­ relevante Tatsachen, z. B. daß D. Lewer im Monat Oktober 1825 mehrmals in den Laden von Davison L Oakford kam und durch verschiedene falsche und betrügerische Vorwände sich von den D. L O. verschiedene ihnen gehörige Galanteriewaren im Gesamtwerte von 269 Dollars 55 Cents verschaffte, usw. usw. Die Geschworenen stellen hier nur nicht alle rechtlich bedeutsamen Tatsachen fest: die Entscheidung oder nor Anilt^ hängt regelmäßig mit ab von Feststellungen ander­ weitiger relevanter Tatsachen durch den Richter. Deshalb schließt auch das Spezialverdikt: „Und wenn in bezug auf diese ganze vorher erwähnte Sache (mattor), welche die Jury in erwähnter Weise festgestellt hat, es den Richtern scheinen wird, daß ..., dann finden die vorgenannten Geschworenen bei ihrem Eide den Angeklagten schuldig des ...; werden aber die genannten Richter ... erkennen, daß ..., dann finden die Geschworenen, daß der Angeklagte des ... nicht schuldig sei." S. Glaser a. a. O. S. 164. Somit ist für den Strafrichter nur die Frage von Be­ deutung: welche juristisch-wesentlichen Tatsachen be­ wiesen seien? Zur Beantwortung der sog. Beweisfrage bedarf es deshalb gleichfalls der umfassendsten Kenntnis der Rechts­ begriffe und des geübtesten Blickes, sie aus den Gestalten, in welchen sie sich verwirklichen, herauszuerkennen. Ja selbst zur Entscheidung darüber, ob eine rechtlich­ relevante Tatsache bewiesen, d. h. zu historischer Gewißheit erhoben worden, ist, so sehr man dies auch leugnet", eine nicht 2 S. auch wieder Kisch, Unsere Gerichte S. 25: „Zur Lösung dieser Aufgabe gehört keine juristische Vorbildung, sondern nur offner Sinn und klarer Geist."

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geringe Anzahl von Rechtskenntnissen nötig. Die krimina­ listische Beweislehre beschäftigt sich eingehend mit dem Rechtsbegriff der Gewißheit, grenzt ihn ab von der mathematischen Gewißheit einerseits, der sog. moralischen Gewißheit, der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit anderer­ seits; sie stellt die formellen Erfordernisse der Beweis­ aufnahme, der Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen, der Augenscheinseinnahme fest, prüft die Begriffe und den Beweisgehalt der Beweismittel aufs genauste, erörtert ins­ besondere die beweisende Kraft des widerrufenen und un­ widerrufenen Geständnisfes, sowie der vereinzelten und der zusammentreffenden Indizien. Es ist von der höchsten Wichtigkeit, daß der Richter die Rechtssätze, die sich auf die Beweisaufnahme beziehen, und die in keiner Prozeßordnung fehlen können, voll­ ständig kennt und versteht: sonst wird er unvereidigte Zeugenaussagen den vereidigten gleichstellen, oder das Ge­ ständnis für einen Zwang zur Verurteilung ansehen, oder den Widerruf ignoriren, oder auf eine ungeschlosfene Kette von Indizien hin verurteilen, oder sonstigen Fehlern in der Beweiswürdigung nicht entgehen^. Ist nun aber festgestellt, welche juristisch wesentliche Tat­ sachen mit Bezug auf das tbsma probauäum zu historischer Gewißheit erhoben, und welche unbewiesen geblieben sind, so beginnt 28 Man muß sich darüber klar sein, wie weit die Instruktion an die französischen Geschworenen, die ihnen sagt: das Gesetz ns Isur kait gus sstts osuls gusstion: „^vs2 vou8 uns intims eonviotion?", diese Wahr­ heit von der Rechtsnatur der Beweisfrage verdunkelt. „Es heißt mithin, den Ausspruch über Schuldig oder Nichtschuldig eines Angeklagten gradezu dem Gebiete des Rechts entziehen, wenn man diese Frage lediglich der subjektiven Überzeugung oder der Lntiins oonviotion der Urtheilsfinder überlassen will": Zachariae, Gebrechen und Reform S. 195. Was Köstlin, Wendepunkt, bes. S. 115 dagegen und zu Gunsten der ivtLms eonviotion vorbringt, ist zum Teil grundverkehrt (so über die Beweisbarkeit des subjektiven Tatbestandes im gemeinen Prozeßrecht nur durch das Ge­ ständnis: S. 117), steht im übrigen in der Luft.

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2. die zweite Aufgabe des Richters: zu dem aufgestellten Untersatze den Obersatz, d. h. den Rechtssatz zu suchen, welcher eine Handlung, gradeso beschaffen wie die festgestellte, mit Strafe bedroht oder für straflos erklärt. Diese Tätigkeit besteht ja nur in einer Vergleichung des gefundenen Tat­ bestandes mit den Tatbeständen der Strafgesetze, und diese Vergleichung scheint auf den ersten Blick leicht genug. Dennoch bildet auch sie eine juristische Aufgabe, die häufig mit ganz außerordentlich großen Schwierigkeiten verknüpft ist. Nicht nur muß der Richter sämtliche Strafgesetze mit allen Straf- und Schuldausschließungsgründen genau kennen und gewärtig halten, um nicht ein Verbrechen für straflos zu erklären oder umgekehrt, sondern, was viel schwieriger und nur einem Fachjuristen möglich ist: er muß die Tatbestände der Straf­ gesetze aufs genaueste auszulegen vermögen; er muß sie von verwandten Tatbeständen scharf zu scheiden wissen; er muß endlich darüber klar sein, wie es zu verhalten sei, wenn sich die Handlung des Angeklagten, wie es oft genug vorkommt, zugleich unter mehrere Strafgesetze subsumiren läßt: schließen diese einander aus, oder kommen sie nebeneinander zur An­ wendung? Der ganze Bau aller Verbrechensbegriffe muß dem Richter klar vor Augen stehen, soll er die bewiesene Handlung richtig einzuordnen vermögen. Es setzt eben dieser zweite Akt der Tätigkeit des Richters die Beherrschung der ganzen Kunst juristischer Auslegung bei ihm voraus — eine Kunst, deren Erlangung ohne jahrelanges Studium unmöglich ist. Nun kann sich ein Doppeltes ergeben. Die Vergleichung zeigt den festgestellten Tatbestand als subsumirbar unter ein bestimmtes Strafgesetz: erst in diesem Augenblick, wo zum Untersatz der Strafe drohende Obersatz gefunden wird, ist die Schuldfrage mit Ja beantwortet; es steht nun fest, der An­

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geklagte hat ein Verbrechen von bestimmter Art begangen. Oder aber die Handlung wird subsumirt unter einen Rechts­ satz, der sie für straflos erklärt, oder sie kann nicht sub­ sumirt werden unter einen Rechtssatz, der Strafe androht. 3. Aus Obersatz und Untersatz ergibt sich end­ lich der Tenor des Urteils dahin, daß Strafe verhängt oder daß freigesprochen werde. Diese Operation des Richters ist scheinbar eine einfach logische und würde von jedem denkfähigen Menschen gelöst werden können, wenn das Urteil immer auf Freisprechung oder auf eine und dieselbe Strafart in einer und derselben Strafhöhe, etwa auf Tod oder lebenslängliches Zuchthaus, zu lauten hätte. Nun gehört aber die erdrückende Mehrzahl unserer Strafgesetze zu den sog. relativ bestimmten Strafgesetzen: für eine und dieselbe Verbrechensgattung wird dem Richter eine genau bestimmte Zahl verschiedener Strafäquivalente zur Auswahl überlassen; er hat dann die Strafe zuzumessen, und dafür bedarf es wieder juristischer Kenntnisse. Was Straferhöhungs- und Strafminderungsgründe sind, wie sich die sog. mildernden Umstände zu letzteren verhalten, worin Strafzumessungsgründe erkannt werden müssen, wie mit ihnen zu hantiren ist, um die gerechte Strafe zu finden: alles dies muß der Jurist wissen, während es der Laie nicht weiß. Erhebt man aber statt dessen den gemeinen Verstand auf den Richterstuhl, so „urteilt er bloß nach Gefühlen und dunklen Vorstellungen, der wissenschaftliche Verstand nach Be­ griffen und bestimmt gedachten Grundsätzen; jener wird von der Überzeugung ergriffen, ohne zu wissen, wie? und warum? und sieht das Ganze, wenn auch klar, doch undeut­ lich, — dieser ist erst dann überzeugt, wenn ihn feste Gründe zur Überzeugung zwingen; was er sieht, das erkennt er nicht bloß klar, sondern auch deutlich, nicht bloß in den verwischten Umrissen des Ganzen, sondern zugleich in dessen bestimmten einzelnen Teilen, nicht bloß so, wie es scheint, sondern wie es ist, nicht bloß in seinem Sein, sondern in dem Grunde

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des Seins." So lautet Feuerbachs ebenso sicheres als treffendes Urteil»». Blicken wir nun auf die richterliche Tätigkeit zurück! Umfassende Rechtskenntnis ist ihre notwendige Voraussetzung bei der Feststellung des Unter­ satzes, Rechtskenntnis in gleichem Maße gleich notwendige Voraussetzung bei der Findung des Obersatzes, Rechtskenntnis in allen Fällen not­ wendige Voraussetzung gerechter Verurteilung, sofern das Strafgesetz nicht ein sog. absolut be­ stimmtes ist. Der allein berufene Richter ist also der einzig sachverständige, der rechtsgelehrte Richter»». III. Damit trete ich allerdings einer Lieblingsansicht unserer Zeit entgegen, werde aber alle Unbilden, die zu erdulden hat, wer gegen den Strom arbeitet, mit dem nötigen Gleichmut über mich ergehen lassen, und mich mit der Bundes­ genossenschaft des ersten Kriminalisten des 19. Jahrhunderts, Anselm Feuerbachs, getrösten, der schon vor sechzig Jahren die Frage des Laienrichters mit schneidiger Schärfe beantwortet hat»'. „Fragt sich aber: ob über Schuld oder Nichtschuld einer Person sicherer und gründlicher geurteilt werden könne von Männern, deren Beruf die Kenntnis und Übung der Gesetze ist, oder von Männern, welche weder 2v Betrachtungen über das Geschworenengericht S. 141. 142. so Die rein juristische Natur der richterlichen Tätigkeit nach heutiger Rechtsauffassung ist im Vorstehenden exakt bewiesen. Die vagen Ein­ wendungen Liepmanns, Reform des Schwurgerichts (bei Mittermaier und Liepmann II S. 172/3) dagegen haben gar kein Gewicht. Sentimen­ tale Liebhaberei für die Jury kann doch wahrlich nicht mehr in Betracht kommen! Der Versuch, den seinerzeit Köstlin, Wendepunkt S. 130 und sonst gemacht hat, „die Nothwendigkeit des volksthümlichen Elements im peinlichen Gerichte . . . aus dem Begriff des Richters" nachzuweisen, kann heutzutage doch nur noch ein Lächeln erregen. 3* A. a. O. S. 178. Zu Feuerbach geselle ich gern Jhering, der im Zweck im Recht I S. 408 ff. sich sehr zu des Laienrichters Ungunsten ausspricht. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II. 4

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Kenntnis der Gesetze haben, noch in deren Anwendung ge­ übt sind?, so beantwortet sich die Frage von selbst. Denn sie lautet mit andern Worten: Kann ein Gegenstand, dessen gründliche Beurteilung bestimmte Kenntnisse und Übung im Gebrauch derselben voraussetzt, sicherer beurteilt werden von dem Unwissenden und Ungeübten oder von dem Unter­ richteten und Geübten?" Etwas derber und drastischer hat sich schon der Chronist Philipps des Großmütigen, Lauze (ca. 1560), ausgedrückt, als er die Motive darlegte, denen die Universität Marburg ihre Gründung verdankte: „Darum haben etliche vortreffliche Männer nicht Unrecht daran ge­ sagt, wenn ungelehrte Leute zu Richtern gesetzt, solches ebenso­ viel sei, als da man die Rechte an einen Klotz aufhänge oder sonst mit Nägeln an die Wände hefte, da sie niemand keinen Nutzen bringen. Hierum Aristoteles und andere weisen Heiden ganz treulich geraten, allein Gelehrten und Rechtsverständigen Gerichte und Urteile zu befehlen" Da ich aber der praktischen Kraft der Wahrheit vertraue, so lebe ich der Überzeugung, daß in allen Ländern mit einem

zahlreichen Juristenstande der Laienrichter nicht heute und morgen noch nicht, aber sicher nach einer Reihe von Jahren in allen seinen Gestalten, insbesondere als Geschworener und als Schöffe, verschwinden wird. Und ich glaube die Gegner zu kennen, denen er unterliegt. Ich rechne hier vor allem auf den Laien selbst: nicht auf seine Fehler, nicht auf seine allmählich vielleicht wachsende Unlust an den Gerichtssitzungen, sondern auf seine Gewissen­ haftigkeit. Es ist in hohem Maße unbillig, von den Rechts­ ungelehrten die Ausübung des Strafrichteramtes zu verlangen, während ihre Fähigkeit dazu und ihre Verantwortlichkeit dafür im umgekehrten Verhältnisse stehen. Die Feinfühligen unter ihnen werden durch diesen Zwang in einen schwer er­ träglichen Konflikt zwischen ihrer Pflicht und ihrem Gewissen 32 Aus dem vortrefflichen Buche von Stölzel, Die Entwicklung des. gelehrten Richterthums in deutschen Territorien I (1872) S. 38.

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gestürzt, und es ist wahrlich kein schlechtes Zeugnis für die Gewissenhaftigkeit der Laienrichter, wenn sie grundsätzlich die Schuldfrage zu bejahen sich nie getrauen, falls das Urteil auf Tod oder lebenslängliche Freiheitsstrafe zu lauten hätte^». Daß die Einrichtung diesen Konflikt erzeugt, spricht gegen sie, aber nicht gegen die von dem Konflikte Betroffenen^. So hoffe ich, daß vom gesunden Teile der Laien selbst die Opposition gegen den Mißbrauch, der mit ihnen getrieben wird, beginne. M. E. dürften und müßten sie zunächst von dem Gesetzgeber fordern, daß er sie nicht mitzurichten zwinge, wo sie sich dessen nicht getrauen. Die eigene Perhorreszenz auf Handschlag müßte ihnen freigegeben werden! Der Staat geht zu weit, wenn er die Verantwortlichkeit für Leib und Leben des Angeklagten, für das zerstörte Lebensglück, viel­ leicht das größte Elend seiner Familie, denen auflastet, die durch die Wahl ihres Lebensberufes ja offen und vor aller Welt erklärt haben, daß sie sich zum Richterstande nicht aus­ bilden, also die Bürde des Richteramtes auch nicht tragen wollen. Wo der Staat aber einer solchen Gewissensbedrückung der Einzelnen entbehren kann, da ist er berufen, dem besten Teile seiner Untertanen Rechnung zu tragen. Das Schlagwort: „Teilnahme der Laien an der Straf­ rechtspflege" begreift sich aber noch allenfalls, wenn es von Laien felbst proklamirt wird. Jede Menschenklaffe hat Macht­ bedürfnis, und warum sollten die Rechtsungelehrten den Juristen keinen Glauben schenken, die sie Tag für Tag als die mitberufenen Richter preisen? Was ich aber nicht be­ greife, das ist die Hyperbescheidenheit meiner Fachgenossen, 33 S. dazu unten S. 98. 99. Es ist ein großes Verdienst von Jhering, betont zu haben, daß der Richterberuf Männer braucht, die sich an ihm zu Charakteren ausbilden. Schön sagt er (Zweck im Recht I S. 411): „Auf den eben entwickelten beiden Momenten: der dauernden Übung einer zur Pflicht und Lebens­ aufgabe erhobenen Tugend und dem unterstützenden, erziehenden, zwingenden Einfluß, den darauf die Tradition des Standes ausübt, auf ihnen beiden beruht die Überlegenheit des Berufsrichters über den Gelegenheitsrichler."

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welche sich aus Abscheu vor der grundverderblichen Allmacht der früheren Jnquisitionsrichter auch da des Anspruchs auf Alleinherrschaft begeben, wo ihn zu erheben meiner Ansicht nach Pflicht ist. Wo wäre der Arzt zu finden, der in dem Ungelehrten seinen Meister in der Heilkunde anerkennen würde? Wo der einfache Handwerker, der sich in seinem Handwerke nicht dem gescheutesten Advokaten überlegen er­ achtete? Gerne lasse ich mich vom Maschinisten über seine Maschine, vom einfachsten Gartenarbeiter über seine Kunst­ griffe belehren, und freue mich, daß jeder, der etwas kann, sich eben grade dadurch für sein größeres oder kleineres Ge­ biet über eine ganze Anzahl seiner Mitmenschen hinaushebt, mag im übrigen seine Lebensstellung noch so bescheiden sein. Soll der Jurist allein dieses erarbeiteten Vorzugs entbehren? Soll er sich auf seinem eigenen Gebiete von Unkundigen meistern lassen? Wahrlich, unser Juristenstolz müßte uns verloren gegangen, wir müßten uns selbst verächtlich geworden sein, wenn wir schweigend diese Degradation dulden wollten. Wir können nicht anders, als grade den schönsten juristischen Beruf, die Ausübung des Richtertums, für den Rechts­ gelehrten als den allein tauglichen, weil geschulten, Richter reklamiren! Eine ganze Reihe von Staatsprüfungen, deren siegreiche Überwindung langjährige Vorbereitung erfordert,

verschließt den Zugang zum Advokatenstand und zum Richter­ amt. Und in demselben Atemzuge begehen wir die In­ konsequenz, Männer, deren Rechtsunkenntnis notorisch ist, zu Richtern über Leib und Leben zu machen? Nimmt sich etwa der durchgefallene Rechtskandidat auf der Geschworenen­ oder Schöffenbank besser aus wie als Verteidiger oder Staats­ anwalt? So werden die Männer des Rechts immer lebhafter für sich fordern, was die Männer aus andern Berufszweigen immer mehr von sich abzustoßen bemüht sein werden. Reichen sich aber Laien und Juristen in dieser Beziehung

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die Hand, so werden die Regirungen in der glücklichen Lage sein, ein Institut beseitigen zu können, für dessen Abschaffung alle, für dessen Beibehaltung, von den politischen Vorurteilen des Volkes abgesehen, keine Gründe sprechen! Denn wenn zur Verteidigung des Laienrichters der leicht zu Blendende hingewiesen wird auf die Teilnahme des Volks am Staatsleben überhaupt und in den Kammern der kon­ stitutionellen Staaten insbesondere, als seien beide zwei Äpfel, gewachsen auf demselben Zweige, so widerfährt ihm eine große Täuschung Da mit ihr ein gradezu grenzenloser Mißbrauch getrieben wird, will ich sie in ihrer Größe bloßlegen. In vier Richtungen sehen wir den Staat die persönlichen Dienste seiner erwachsenen männlichen Angehörigen ohne Rücksicht auf ihren Lebensberuf in Anspruch nehmen: in den Parlamenten, in den Organen der Selbstverwaltung, im Heer und im Gericht. Diese vier Fälle zeigen nach zwei Richtungen hin auf­ fällige Verschiedenheiten: bezüglich der Notwendigkeit des Eintritts in diese Stellungen und bezüglich der Gewährleistung der Fähigkeit zu ihrer Über­ nahme. Niemand wird gezwungen zum Eintritt in den Reichs­ tag oder den Landtag, regelmäßig auch niemand zum Ein­ tritt in die Organe der Selbstverwaltung. Ganz anders verhält es sich mit der Heranziehung zum Heer. Hier muß jeder dem Ruf des Staates folgen, und ebenso müssen Schöffen und Geschworene auf der Urteiler­ bank sitzen, mögen sie wollen oder nicht.' Was aber die Gewährleistung der Fähigkeit der Laien zur Teilnahme am Leben des Staates anlangt, so überläßt der Staat die Auswahl der Parlamentarier der öffentlichBei den Verteidigern der Jury aus den vierziger Jahren begegnet man wol der Wendung, das Geschworenengericht habe „den konstitutionellen Geist zur Voraussetzung". So bei Köstlin, Wendepunkt S. 4.

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keit, sowie der Selbstprüfung der Kandidaten und der Ge­ wählten. Dadurch wird eine doppelte Garantie für die Taug­ lichkeit der Abgeordneten gewonnen. Ganz anlog verhält sich der Staat zu den Mitgliedern der Organe der Selbstverwaltung. Grade umgekehrt aber verhält er sich zur Einberufung der Dienstpflichtigen zum Heer und der Laien auf die Schöffenund die Geschworenenbank. Hier fehlt den Einberufenen zum vollendeten Soldaten einerseits, zum ausgebildeten Richter andererseits nichts weniger als Alles. Und wie ver­ schieden verfährt der Staat in beiden Fällen! Welche Mühe gibt er sich jahrelang, um den Wehrpflichtigen für die seltene Eventualität des Krieges zum tüchtigen Soldaten auszu­ bilden. Auf die Richterbank aber wird der Laie berufen nicht zur Mitwirkung in einer unvoraussehbaren Zukunft, sondern zu sofortiger Tätigkeit in der Gegenwart. Keine Lehrzeit wird ihm zuteil, nicht einmal die Gelegenheit zur all­ gemeinen Orientirung über seine konkrete Aufgabe. Wenn er Bedenken trägt, seine verantwortliche Pflicht zu erfüllen und einen Spruch zu finden, von dem die Freiheit, viel­ leicht das Leben des Angeklagten abhängt — niemand nimmt auf seine Bedrängnis Rücksicht! Wenn er seine Unsicherheit fühlt, an seiner Fähigkeit zweifelt — niemand gewährt ihm Befreiung! — Wenn er sich aus Gewissenhaftigkeit weigert, mitzurichten, verfällt er der Strafe. Und so steht die Forderung des Staates an die Laien, mitzurichten in den Schöffen- und den Geschworenengerichten, in ihrer Unbilligkeit und Rücksichtslosigkeit ganz isolirt und ohne jede Analogie da. Insbesondere ist die vielgerühmte Analogie zwischen der parlamentarischen und der laienrichterlichen Tätigkeit weiter nichts als eine große Unwahrheit^! -° A. M. leider auch Oetker, Gerichtssaal OXVIII S. 83.

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So kann ich dem Götzen der Zeit, dem Laienrichter, nicht opfern^. Und ich stehe in dieser Ketzerei nicht allein. Es hat sich Schütze mit sehr beachtlichen Gründen von ihm losgesagt ss; es hat, gestützt auf langjährige praktische Er­ fahrung, Staatsanwalt und Professor C. Fuchs in Breslau ihm gleichfalls den Respekt geweigert"; und ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß die Zahl seiner Gegner unter den jüngeren Kriminalisten stark im Wachsen ist. Auch die energische Stimme aus der Praxis, die mich so woltuend berührte, als ich zuerst über den Gegen­ stand schrieb, da sie schlecht und recht dem Juristenstand vindizirte, was allein ihm gebührt, ist nicht vereinzelt geblieben". In Zeitungen und Zeitschriften hat sie Nachfolge gefunden, und es wäre nur sehr zu wünschen, daß die Gegner des Laienrichtertums unter Laien wie Juristen noch mehr aus Am wenigsten nach der treffenden Schilderung eines eifrigen Gegners des Schöffengerichts und ebenso eifrigen Anhängers der Jury, der, ohne es zu wollen, zum abschreckenden Exempel die Tätigkeit des Laienrichters folgendermaßen ausmalt: „Die Auffassungsweise auf feiten des Laien ist eben eine durchaus verschiedene; Beweisfrage, Schuldfrage, Ausschließungs-, Milderungsgründe, Straffrage, alles das geht bei seiner Begutachtung und Beurteilung des Falles durcheinander, indem ihm als Ariadnefaden instinktiv sein eigenes Rechtsbewußtsein, seine individuelle Auffassung des fraglichen Strafgesetzes vor Augen schwebt." Petsch in Holtzendorffs Strafrechts­ zeitung XII S. 333. 38 Laien in Strafgerichten?

Ein rechtliches Bedenken.

»s In einer Reihe von Artikeln der Schles. Ztg. 355; 1873 Nr. 407.

Leipzig 1873.

S. 1871 Nr. 335 u.

io S. v. Lauhn (Oberstaatsanwalt beim Appellationsgericht in Halber­ stadt), Von der Einführung der Schöffengerichte ist für die Criminalrechtspflege kein Gewinn zu hoffen. Köln 1873, 28 S.S. Ich stimme Herrn v. Lauhn keineswegs durchweg bei. Was er aber S. 10 u. 11 gegen den Laienrichter sagt, trifft den Nagel auf den Kopf. Derselben Ansicht Plato, Jur. Wochenschr. 1873 S. 277. 278. — S. auch S. Mayer, Geschworenen­ gerichte und Schöffengerichte, der die rein rechtsgelehrten Beamtengerichte für Strafsachen mittlerer Ordnung warm gegen die Schöffengerichte wie gegen die von Merkel proponirten kleinen Schwurgerichte verteidigt, insbes. S. 166.

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ihrer Stille heraustreten und die Öffentlichkeit mit ihren Am sichten bekannt machen möchten"". Unser gefährlichster Feind ist nicht die Unbildung; denn über diese wird die Schule und der Schulzwang Herr werden, wol aber die Halbbildung, der Dilettantismus: sein gefähr­ lichster Gehilfe aber ist das Kokettiren mit dem Dilettantis­ mus, was in gewissen Kreisen — die Naturwissenschaften haben sich davon freigehalten und gehen uns auch hier stolz voran — sich eingefressen und Schwamm im Hause geworden ist. Jedenfalls steht es den Juristen sehr übel zu Gesicht, im Laien den gleichtauglichen Richter anzuerkennen. I V. Nun könnte man die völlige Untauglichkeit der Laien zur Lösung der richterlichen Aufgabe, gefaßt als strenge Anwendung des Gesetzes auf den gesetzlich festgestellten Fall, ruhig zugeben, aber die Einseitigkeit dieser Auffassung der richterlichen Aufgabe anfechten und ihr vorwerfen, daß bei ihr das Rechtsgefühl schlechterdings nicht zu seinem Rechte komme. Und doch finde das Strafurteil nur dann die volle Resonanz sowol bei dem Angeklagten als bei dem Volke, wenn es auch dem Rechtsgefühl entspreche". In keiner Weise dürfe das Urteil nur Gefühlsurteil sein, aber dem Inhalt des Rechtsgefühles müsse sein Einfluß auf die Auslegung und Anwendung des Gesetzes gewahrt werden. Da aber der Rechtsgelehrte rechtsgefühllos gewordener Gesetzesmensch geworden, das un­ verkümmerte Rechtsgefühl deshalb nur beim Laien zu finden sei, müßten im gut und voll besetzten Strafgericht neben den " Die Anhänger des rein mit Rechtsgelehrten besetzten Strafgerichts in der neueren Literatur s. bei Oetker a. a. O. S. 651. Eine sehr gute Zusammenstellung der Gründe angeblich für und in Wahrheit wider den Laienrichter s. bei Kisch, Unsere Gerichte S. 22 ff. * 2 Gegner des Laienrichters sind auch alle diejenigen, welche, wie im englischen und nordamerikanischen Recht, die Geschworenen an die Rechtsbelehrung des Gerichtshofes streng gebunden sehen wollen. So Gneist, Vier Fragen S. 158 ff. " S. oben S. 31 ff.

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verknöcherten Gesetzesmenschen Männer des unverdorbenen und unverschnörkelten Rechtsgefühls zur Mitfindung des erst dann gerecht ausfallenden Urteils zugezogen werden". Es ist bekannt, welch weitgehenden Einfluß das Rechts­ gefühl auf den Ausfall der Juryverdikte noch mehr wie bei uns bei den romanischen Völkern tatsächlich ausübt. Ich erinnere nur an die Freisprechungen sich irgendwie interessant machender, zweifellos schwer verbrecherischer Frauenzimmer, be­ sonders in Frankreichs. Auch kann nicht geleugnet werden, daß grade diese Ge­ fühlsjudikatur die Hauptquelle für die Popularität der Jury bildet, soweit solche Popularität überhaupt noch besteht. Aus den neueren Strafgesetzentwürfen könnte man für Zuziehung solcher Gefühlsrichter die Bestimmungen zu­ die ziehen, wonach in besonders leichten Fällen das Gericht die Strafe nach freiem Ermessen mildern, und wo dies ausdrück­ lich zugelassen ist, von einer Strafe „überhaupt absehen" darf", — Vorschläge, die in der Tat darauf abzielen, den Richter trotz der logischen Subsumirbarkeit der Tat des An­ geklagten unter das Strafgesetz von der Subsumtion zwecks Aburteilung zu entbinden. Wollte man diesen Gedanken zur Durchführung bringen, so dürfte der Laienrichter nicht auf getreue Anwendung des Gesetzes, sondern auf getreues Richten nach Rechtsgefühl vereidigt werden". Die Folgen solcher Maßnahmen wären aber die denkbar unheilvollsten. Das Strafgesetz würde für einen Teil der " Vgl. dazu Binding, Gerichtssaal I-XXIV S. 21.

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behalten, daß die Unparteilichkeit der reinen Beamtengerichte bei uns in Deutschland im Großen und Ganzen unangezweifelt dasteht. Nur die radikalen Parteien sind kraft Parteipro­ grammes verpflichtet, sie in Frage zu stellen. Was die Urteile der rechtsgelehrten Beamtengerichte öfter in weiteren Kreisen in Mißkredit bringt, ist nach meiner Beobachtung ein Aus­ fluß übertriebener Gewissenhaftigkeit: die Überschätzung des

Wortlauts der Gesetze führt sie nicht selten dazu, diesem Wort­ laut die materielle Gerechtigkeit zu opfern. Und insoweit sind sie allerdings auf dem falschen Wege. Der gleichen Versuchung dürfte das unbeamtete Laienelement nicht unterliegen. Ob es aber kräftig genug wäre, die nötige Korrektur und zugleich die richtige Korrektur an den Voten der rechtsgelehrten Beamtenrichter zu üben, ist eine schwer mit Sicherheit zu be­ antwortende Frage.

III. Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der richterlichen Aufgabe? Gerichtseinheit oder Gerichtsmehrheit" ? Drei Akte bilden das Drama eines Richterspruchs in Strafsachen: 1. die Feststellung dessen, was der Angeklagte im Sinne des materiellen wie des Beweisrechts getan hat, die Entscheidung der sog. Schuldfrage, 2. die Subsumtion dieser erwiesenen Tat unter das Strafgesetz, die Entscheidung der sog. Subsumtionsfrage, und 3. die Ziehung des Schlusses aus Obersatz und Untersatz — zu eng bezeichnet als die Entscheidung der sog. Straffrage °». 62 Ich darf nochmals hervorheben, daß die heute im Deutschen Reich gesetzlich sanktionirte Form des Schwurgerichts nur eine von mehreren sehr verschiedenen Arten des Schwurgerichts darstellt. S. oben S. 24. 25. Aber daß der selbständige Gerichtshof über die Schuldfrage bei uns je mit rechtsgelehrten Beamtenrichtern oder auch nur mit unbeamteten Juristen besetzt würde, ist eine auszuschließende Annahme. So kann man wol über den Grundgedanken des Schwurgerichts sprechen und urteilen, wird aber nie umhin können, dabei stets gleichzeitig an das bestehende Schwurgericht zu denken. 5*

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Wenn die gesamte Urteilsfällung über den konkreten Einzelfall nicht einem einzigen, sondern mehreren Organen übertragen werden soll, so bieten sich dafür zwei Wege dar. Entweder man überträgt einen oder zwei Akte ausschließlich einem Organ, etwa der Jury, und den übrig bleibenden aus­ schließlich einem andern Organe, etwa der Gerichtsbank. Nur diese Art der Teilung, vermöge deren den verschiedenen Ge­ richtsorganen ganz verschiedene Aufgaben zufallen sollen, ist bisher warm verteidigt worden. In unsern Schwurgerichten wird ja auch im Großen und Ganzen der erste Akt der Jury, der zweite und dritte aber der Richterbank überwiesen^. bb fZu S. 67.j Ohne irgendwie untertauchen zu wollen in das Meer der Kontroversen über das moderne Schwurgericht, muß ich hier und in der Note 64 notwendig einige Punkte klarstellen. Zunächst zeigt sich in der neueren Literatur eine böse Fälschung der Schuldfrage. Dadurch wird in diesem Chaos der Lehre von der Trennung der Kompetenzen zwischen Jury und Gerichtshof noch ein besonderes chaotisches Zentrum geschaffen. Natürlich spreche ich von der Schuldfrage im Sinne der Wissenschaft und lasse P. Z 262 ganz beiseite. Die Schuldfrage ist ganz reinlich die Frage, ob der Angeklagte ein vom bejahenden Strafgesetz in seinem Tatbestand verwertetes Delikt mit seinen gesetzlichen Schärfungs- oder Milderungsgründen begangen habe? Mit der konkreten Strafbarkeit dieses Delikts haben Schuld­ frage und Verdikt gar nichts zu schaffen. Aus P. Z 296, 2 ergibt sich zur Evidenz, daß die Schuldfrage zu bejahen ist, auch wenn eine Neben­ frage auf einen Strafaufhebungsgrund gerichtet wird. Die Schuldfrage gegen den Ehemann, der Sachen seiner Frau gestohlen hat, würde, wenn zu Unrecht gestellt, unbedingt zu bejahen sein. Es ist deshalb falsch, wenn v. Kries, Strafprozeß S. 442, die Strafbarkeit der Tat zur Schuldfrage rechnet. Ebenso verkehrt Bennecke-Beling, Strafprozeß S. 205; fast noch schlimmer Beling, Verbrechen S. 90: „Ist schuldig?" heißt soviel: „besteht gegen ihn ein Strafanspruch"? „Schuldfrage ist Strafanspruchsfrage." Falsch auch Goerres, Wahrspruch S. 46. Ders. Ansicht Rosenfeld, Strafprozeß S. 95; Rittler, Fragestellung, bei Mittermaier u. Lieb­ mann, Schwurgerichte und Schöffengerichte I S. 468; Singewald, Gerichtssaal I.XXXI S. 364/5. — Nicht ganz richtig auch Graf Dohna, Strafverfahren S. 78. S. dagegen Birkmeyer, Strafprozeß S. 648/9; Oetker in Glaser-Oetker III S. 24. 25. 618 ff. — S. die folgende Note! b* Bei der oft außerordentlich großen Schwierigkeit in der Sub­ sumtion der festgestellten Handlung unter das Gesetz und bei der regelmäßig bestehenden Rechts- und Gesetzesunkenntnis der Jury ist Klarheit

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Allein es ließe sich auch noch eine andere Art der Teilung denken: die nämlich, daß zwei Organe nebeneinander berufen darüber unbedingt erforderlich, ob die unteilbare Subsumtionsfrage der Jury oder dem Gerichtshof überwiesen ist? Ich kann aber die volle Klarheit in der Literatur nicht finden — selbst in Oelkers trefflickem Werke nicht. S. Glaser-Oetker IH S. 5ff. 10. 619 ff. Es ist gewiß nicht richtig, wenn Oetker das. S. 5 sagt: „Die Geschworenen vollziehen durch die Bejahung der Schuld auch die Subsumtion unter das Strafgesetz." Nein! Sie bahnen sie an, sie bestimmen sie nicht. Die Subsumtion selbst aber vollzieht das Gericht! Die richtige Ansicht gehe allein dahin, daß die Jury an der Lösung der Subsumtionsfrage nicht den allergeringsten Anteil besitzt. Falsch m. E. RG. II vom 16. April 1886 (E LIV S. 93). Was Planck, System. Darstellung S. 198, unter „Subsumtion" versteht und der Jury zuweist, hat mit der hier erörterten Subsumtion nichts zu schaffen. 1. Zunächst steht die Jury in gar keinem Verhältnis zum Gesetz, sondern allein in einem solchen zur Frage. Der fragestellende Gerichtshof freilich formulirt die Frage, indem er die Handlung dem Tatbestands eines Gesetzes in Gedanken unterstellt — richtiger unterstellen möchte. Denn falsche Fragestellung bewirkt vielleicht, daß auch bei voller Bejahung der Frage kein Verbrechenstatbestand vorhanden ist. 2. Man könnte nun sagen: es gebe für die Jury eine besondere Subsumtionsfrage, also für das Jury-Verfahren eine doppelte. Die Jury habe die Frage zu beantworten, ob die von ihr als festgestellt betrachtete Handlung der in der gerichtlichen Frage charakterisirten entspreche. Dem Gerichtshof aber sei die eigentliche Frage der Subsumtion der fest­ gestellten Handlung unter das Gesetz vorbehalten. Dieser Gedanke wäre an sich nicht unrichtig; nur müßte man dann vom rechtsgelehrten Gerichtshof zu voller Gerichtsbarkeit auch behaupten, daß jede Feststellung eines gesetzlich wesentlichen Verbrechensmerkmals auch schon teilweise Lösung der Subsumtionsfrage sei. Es handelt sich dabei aber allein um die vorläufige Unterstellung einer Handlungs­ eigenschaft unter einen gesetzlich verwendeten Merkmals­ begriff, und noch gar nicht um Unterstellung der Handlung unter den gesetzlichen Tatbestand. Denn 3. erst nachdem die Handlung in allen ihren Merkmalen festgestellt ist, taucht überhaupt die Frage auf, ob die Feststellung den Tatbestand eines Strafgesetzes decke, und welches Strafgesetz das sei? Mit der Feststellung im engsten Anschluß an die Frage ist aber die prinzipielle Aufgabe der Jury erschöpft. Die ganze Subsumtionsfrage verbleibt dann dem Gerichtshof. 4. Damit stimmt allein, daß der Gerichtshof trotz der grundsätzlichen Bejahung der Schuldfrage bei teilweiser Verneinung derselben, ja vielleicht

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würden, um den gleichen Akt der richterlichen Tätig­ keit, etwa die Schuldfrage, durch getrennte, aber sich ergänzende Arbeit zu erledigen. Prüft man die drei Teile der richterlichen Aufgabe auf ihre Teilbarkeit in diesem letztern Sinne, so stellen sich zwei von ihnen als elementar, somit als unteilbar heraus. Die Frage, unter welches Strafgesetz die festgestellte Handlung des Angeklagten subsumirt werden muß, ist nie nur zu einem Teil, sondern immer nur vollständig und auf einmal zu be­ antworten ; ebenso die Frage, welche Strafe die im konkreten Falle gerechte Strafe sei°°? Das Urteil aber, welche juristisch wesentliche Handlungsmerkmale bewiesen seien — es bildet den ersten Akt der richterlichen Tätigkeit —, kann ebenfalls, wie ja immer im Falle des englischen Spezialverdiktes und häufig bei uns trotz unserer Generalverdikte (man denke an P. Z 262, 3), von zwei sich ergänzenden gerichtlichen Kollegien, wie Jury und Richterbank, je zu einem Teile abgegeben werden. Daß diese Zerreißung der Schuldfrage unbeschadet der Gcsamtantwort geschehen könne, ist angesichts des festen Zusammenhanges aller Merkmale eines Verbrechenstat­ bestandes wahrlich nicht zu behaupten. Auch ist dann eine prinzipielle Abgrenzung der Aufgaben dieser beiden Kollegien absolut unmöglich: dem zweiten verbleibt nur der Teil der bei falscher Fragestellung auch trotz voller Bejahung der gestellten Frage zur Freisprechung genötigt sein kann. 5. Beachtlich aber ist die sehr eigentümliche Tatsache, daß P. die Subsumtionsfrage als solche nicht kennt, sie vielmehr in P. § 262 einfach zur Schuldfrage schlägt, ohne sie jedoch in ß 293 in die von der Jury zu beantwortende Schuldfrage auf­ zunehmen! Daraus ergibt sich, daß auch für die Bejahung der Sub­ sumtionsfrage zu Ungunsten des Angeklagten die Zweidrittelmajorität not­ wendig wird. S. Loewe-Hellweg zu Z 262 N. 2»; Binding, Grundriß S. 176 sub VUl; Glaser-Oetker III S. 619. °° Die Zerreißung auch noch der Straffrage in der Gesetzgebung über die Jury, sofern das Gesetz wie P. Z 297 der Jury die Frage nach mildernden Umständen vorlegen läßt, ist in dieser unerfreulichen Gesetzgebung doch das stärkste Stück an Torheit, intellektueller Charakterlosigkeit und zugleich an Gunstbuhlerei mit diesem exquisiten Volksgericht!

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Schuldfrage, den das erste Organ noch nicht beantwortet hat, mit andern Worten das zweite bildet die Reserve des ersten und zugleich ein trauriges Armutszeugnis für dessen richter­ liche Fähigkeit. Teile man aber auch, wie man wolle — stets würde ein Bedürfnis für solche Teilung der einen richterlichen Aufgabe auf zwei Organe nur dann anzuerkennen sein, wenn jedes der beiden Organe isolirt betrachtet als zur Lösung der ganzen Richteraufgabe unfähig oder jedes von ihnen als zur Lösung seines Teiles besser als das andere befähigt erschiene. Daß im französisch-deutschen Schwurgericht die Richter­ bank zur Beantwortung auch der Schuldfrage durchaus die nötige Tauglichkeit besitze, wird nirgends geleugnet. Aber törichte Mystiker schwören darauf, daß ungeschulte Dilettanten eine vorzüglichere Lösung für sie zu finden vermöchten: PSI' Inspiration sm natürlich! Wogegen die Untauglichkeit der Jury zur Lösung der Straffrage auf eigene Hand ziemlich allgemein zugestanden wird. Da ist die Inspiration schwieriger! Nun hat sich bezüglich des Geschworenengerichts die Reihen­ folge der Fragen ganz unwissenschaftlich verschoben. Seine Notwendigkeit wurde behauptet und zu beweisen gesucht, bevor seine tadellose prozessuale Leistungsfähig­ keit untersucht und festgestellt war. Die präjudizielle Frage wurde hinter die präjudizirte geschoben — nämlich hinter die, ob das Aufgeben der Gerichtseinheit zu Gunsten der Gerichtszweiheit, die Zerreißung der Urteils­ aufgabe in zwei Stücke und die Zuteilung je eines ihrer Teile an einen Gerichtshof unbe­ schadet der Lösung der richterlichen Gesamtaus­ gabe geschehen könne? I. Die Notwendigkeit der Teilung, um gleichfalls mit dieser zu beginnen, wurde im wesentlichen nur aus drei ver­ schiedenen Grundgedanken heraus zu beweisen gesucht, zu denen ganz neuerdings ein vierter gestellt worden ist: ent­ weder aus dem Berufe des Volkes wie an dem öffentlichen

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Leben des konstitutionellen Staates so auch an der Straf­ rechtspflege tätigen Anteil zu nehmen, oder aber aus der teilweisen Unfähigkeit des rechtsgelehrten Beamtengerichtes, oder endlich aus der Übermacht desselben bei vollständig vor­

handener richterlicher Qualifikation °«. I. Die absolute Unstichhaltigkeit des ersten Grundes ist schon zur Genüge nachgewiesen. Von dem Berufe des Volkes zur Teilnahme an der Strafrechtspflege als von einem selbst­ verständlichen reden, bedeutet eine vollständige Verkennung der Sachlage: dieser Beruf folgt mitnichten aus dem Berufe des Volkes, sich zum Parlament zu konstituiren Selbst wenn aber diese Folgerung einmal zugegeben würde, so wäre da­ mit noch nicht entfernt bewiesen, daß dieses Strafgericht mit volkstümlichen Elementen die Mißgestalt des Schwurgerichts tragen müsse. 2. Die Vereinigung des ganzen Richteramtes in einer Hand würde — so lautet ausführlicher der dritte Grund — die richterliche Allmacht bedeuten. Die aus ihr drohende Gefahr ist durch Verteilung der Gewalt auf zwei Organe zu paralysiern. Die Montesquieusche Theorie von der Teilung der Staatsgewalt, um sie unschädlich zu machen, wird übertragen auf das Gebiet der Gerichtsverfassung. In diesem Sinne erklärte schon Ludwig LVI. in der Prokla­ mation des Jurygesetzes: „Die Teilung der Gewalten ver­ hindert Unterdrückung und Tyrannei." Ihm beistimmend äußerte sich Napoleon I. in der Staatsratssitzung vom 6. Februar 1806: Os IsAislutsui' cloit so 666or clos passions st ns msttrs ontro Iss mains äs psrsonns Is wo^sn äs satisLs-irs ckss rssssntiwsnts psrsonnsls. In einer Zeit, wo das Gedächtnis an die schrankenlose Gewalt des Jnquisitionsrichters und ihre Mißbräuche noch lebhaft war, mochte ein solcher Versuch sehr einleuchtend er­ scheinen. Von zweien der bedeutendsten Kriminalisten Deutschb« Über den vierten Grund s. unten S. 79 ff. " S. oben S. 53 ff.

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lands aber, Anselm von Feuerbach und dem früheren österreichischen Justizminister Glaser, ist die Notwendigkeit, diese richterliche Allmacht zu beschränken, angeknüpft worden an die Aufhebung der sog. gesetzlichen Beweistheorie. „Zwei Wege — sagt Feuerbachs — wurden bisher von der Gesetzgebung versucht, um dem Volke die gerechte Ausübung der Strafgewalt zu verbürgen: entweder man ließ das Ur­ teil über die Strafe selbst in einer und derselben physischen oder moralischen Person vereinigt, stellte aber gesetzliche Regeln über den Schuldbeweis auf, und verpflichtete den Richter, feinen Ausspruch über Schuld und Nichtschuld durch Sub­ sumtion seiner Überzeugungsgründe unter die gesetzlichen Be­ weisregeln äußerlich zu rechtfertigen; oder man beschränkte das Gericht lediglich auf das Urteil über die Strafe und machte dieses abhängig von der erklärten übereinstimmenden Überzeugung anderer, von dem Gerichte selbst verschiedener Personen über das Dasein der Schuld, mit andern Worten: von dem Schuldausspruche unbeteiligter Mituntertanen (Pairs) des Angeklagten (Geschworenen)." „Es gibt keine andern Wege als entweder keine allgemeinen gesetzlich vorgeschriebenen Beweisnormen, alsdann aber zum wenigsten ein Geschworenen­ gericht, oder kein Geschworenengericht, alsdann aber eine all­ gemeine gesetzlich vorgeschriebene Beweislehre, nach welcher der zugleich über die Schuld erkennende Richter seinen Schuld­ ausspruch zu rechtfertigen hat." Neben Rudolf Heinze der geistvollste Verteidiger der Jury in neuerer Zeit, dessen ebenso lichtvollen als maßvollen Ausführungen jedermann mit der größten Freude folgen wird, weil die hohle Phrase darin fehlt und die Wärme der Neigung für das Institut Hand in Hand geht mit dem so seltenen Bestreben, es sachlich zu begründen, hat sich Glaser in seiner Schrift: „Zur Juryfrage. Wien 1864" im Wesent­ lichen dieser Feuerbachschen Deduktion angeschlossen. „Der Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Ge­ rechtigkeitspflege II S. 398.

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Gedanke der Jury — spricht Glaser mit anerkennenswerter Bestimmtheit aus^ — wurzelt in der Tat nicht im Miß­ trauen gegen die Befähigung und gewiß nur ganz aus­ nahmsweise hie und da in der Besorgnis vor der Abhängig­ keit der Richter; er erzeugt sich vielmehr . . . aus der Er­ wägung ihrer schwindelerregenden Gewalt."

Dieser ganze Rechtfertigungsgrund für die Jury ist zu­ nächst ein rein negativer, der sich noch außerdem mit der Entstehungsgeschichte der Jury und dem Beweisrechte ihres Vaterlandes England in schneidendem Widerspruche findet. Die Entstehung der Jury und ihre Beibehaltung in Eng­ land hat mit der Aufhebung einer gesetzlichen Beweistheorie gar nichts zu tun, und grade das Organ, welches Feuer­ bach und Glaser als Ersatz für diese beanspruchen, welchem sie somit die freieste Beweiswürdigung übertragen wollen, funktionirt in England, gebunden durch ein ausgebildetes Beweisrecht, die sog. lav ok sviäsnos. Außerdem überschätzen Feuerbach und Glaser hiebei die Aufhebung der gesetzlichen Beweistheorie und die Wirkungen dieser Aufhebung. Kein Strafprozeß der Welt kann eine Beweistheorie völlig entbehren: es sind also nur einige Sätze derselben abgeschafft worden, welche die beweisende Kraft einzelner Beweismittel, der Indizien, der Zeugen normirt haben, und wonach der Richter unter Umständen etwas für bewiesen annehmen mußte, an dessen Existenz er nicht glaubte, oder wonach er etwas für bewiesen nicht annehmen durfte, während er persönlich davon überzeugt war. In der großen Mehrzahl der Untersuchungen aber stimmte die richterliche Überzeugung mit dem Resultat der Beweisaufnahme

nach Auffassung der Beweistheorie zweifellos überein; hier erschien der Richter durch die Beweistheorie in keiner Art gebunden: er beurteilte nach seinem eigenen Ermessen Schuldund Straffrage, und war nur zu sehr zu seinem Glücke durch "" Das. S. 64.

(Schwurgericht!. Erörter. S. 146.)

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die Beweistheorie nicht genötigt, das Ergebnis seines Urteils mit dem Ergebnisse der Beweistheorie zu vertauschen. Wo aber der Richter unter Preisgebung seiner eigenen Über­

zeugung zu urteilen gezwungen war, mußte dies ebenso oft zu Gunsten als zu Ungunsten des Jnquisiten geschehen: die Aufhebung dieser Schranken des richterlichen freien Er­ messens bringt also dem Angeschuldigten genau so viel Vor­ teil wie Nachteil, d. h. seine Lage gegenüber dem Richter bleibt unverändert. Der Machtzuwachs aber, den der Richter dadurch erfährt, ist wirklich viel zu minimal, um Besorgnisse zu erregen. Glaser selbst nennt die Garantien gerechter Entscheidung, welche die gesetzliche Beweistheorie gewährt habe, „allerdings schwache und bedenkliche" um so seltsamer, daß Glaser die Jury zu ihrem Ersätze zu bedürfen glaubt! Jener Grund für die Jury verliert aber vollständig sein Gewicht, wenn man sich der ganz gewaltigen Machtbeschränkung des Richters bewußt wird, die er durch die Prozeßreform, ins­ besondere durch Einführung der akkusatorischen Form und der Öffentlichkeit des Verfahrens, erfahren hat. Der alte Jnquisi-

tionsrichter war angeblich Ankläger, Verteidiger und Richter in einer Person. Der reformirte Prozeß hat ihn in seiner Macht in zwei, ja in drei Teile gespalten. Neben dem Richter wurde, wesentlich aus dem Schatze seiner Gewaltfülle ausgestattet, die mächtige Magistratur der Staatsanwaltschaft errichtet. War der Jnquisit früher lediglich Beweisinstrument in der Hand des Richters, so steht diesem heute der Angeklagte als Prozeß­ partei mit seinem rechtskundigen Verteidiger gegenüber, deren Parteirechte wieder nur aus der Gewalt der Jnquisitionsrichter abgezweigt wurden. Der frühere Prozeß hatte nur ein Prozeßsubjekt, der jetzige hat deren drei: diese Worte umschließen eine ganz gewaltige Veränderung der Macht­ verhältnisse im Strafverfahren! Aber weiter! Der alte Jnquisitionsrichter war aller" Zur Iuryfrage S. 14.

(Schwurgericht!. Erörter. S. 80.)

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dings bei Würdigung der Beweise in etwas beschränkt durch die Beweistheorie. Indessen, wenn der Schuldbeweis nicht vollständig gelang, konnte er den Jnquisiten doch in die ver­ werflichste aller Strafen, in die sog. Verdachts st rase, verurteilen; oder er sprach ihn weder frei, noch kondemnirte er ihn, sondern er setzte durch die sog. absolutio ab instantia die Untersuchung bis auf günstige Gelegenheit zu ihrer Wiederaufnahme aus. Wo sind diese verwerflichen Rechte des Richters geblieben? Der reformirte Prozeß hat sie ihm stillschweigend abgestreift. Und endlich! Jener gewaltige Inquirent tagte hinter verschlossenen Türen, und niemand vermochte zu kontrolliren, ob er auch nur die Grenzen seines überspannten Macht­ gebietes zu achten für gut fand. Heute aber ist der Prozeß ein öffentlicher, und das ganze Volk kann Zeuge sein, wie der Richter seine beschränkte Macht handhabt. Wahrlich! Vergleicht man den Richter von heute, den eine sog. Beweistheorie nicht bindet, mit dem durch sie ge­ bundenen Jnquisitionsrichter, so muß man sagen, die Zeit des absoluten Staates war auch die Zeit der absoluten Richtergewalt; damals stand trotz der Beweistheorie der Richter im Zenith seiner Macht, richtiger seiner Übermacht, und der heutige Richter ist klein gegen ihn. Aber die Über­

macht von damals war ungesund, die heutige Macht ist dem heutigen Richter zu seiner Gesundheit unentbehrlich! Gehe man nicht aus Sorge vor Gefahren, die längst samt ihren Quellen beseitigt sind, so weit, die Gewalt des Richters zu brechen, indem man sie zerkrümelt! So bleibt von der Glaserschen Beweisführung nichts übrig als der unbestreitbar richtige Gedanke, daß es von Übel sei, wenigstens in allen wichtigeren Strafsachen die Gerichtsbarkeit in die Hand eines einzelnen Mannes zu geben. Glaser beweist gegen den Einzelrichter, für einheitliche Richterkollegien, aber nicht für die Jury!

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3. Interessanter, weil tiefer aus der Natur der richter­ lichen Aufgabe argumentirend, ist der Versuch Heinzes, das rechtsgelehrte beamtete Richterkollegium als zu deren Erledigung nicht genügend be­ fähigt zu erweisen. Heinze vergleicht den einzelnen Juristen mit dem einzelnen Nichtjuristen und gesteht gern zu, daß jener dann „in dem gesamten weiten Umkreise der von dem Richter zu erfassenden und zu beurteilenden Dinge, Personen, Handlungen, Ereignisse rascher und leichter sich zu orientiren verstehe als ein Nichtjurist." „Aber," fährt Heinze fort?*, und Glaser hat sich ihm hierin angeschlossen, „das Er­ gebnis ändert sich, sobald man eine Mehrzahl von juristisch gebildeten Richtern mit einer Mehrzahl ver­ schiedenen Ständen, Lebens- und Beobachtungskreisen an­ gehöriger Nichtjuristen vergleicht; . . . hier tritt die ent­ scheidende Tatsache entgegen, daß Bildung, Gesichtskreis und Weltkenntnis unserer praktischen Juristen ... verhältnis­ mäßig ziemlich genau übereinstimmen." Dem einzelnen Nicht­ juristen „fehlt zwar der künstlich erweiterte Gesichtskreis des praktischen Rechtsgelehrten; aber soweit sein eigener Lebens­ horizont reicht, weiß jener nicht bloß von Hörensagen Be­ scheid, sondern hat er alles, was hier einschlägt, selbst ge­ sehen, gehört, empfunden... Der Einzelne vermag allerdings in der Regel nur auf seinem eigenen Acker dem Juristen die Spitze zu bieten ... Es läßt die Mitgliederzahl und Be­ setzungsweise einer nichtjuristischen Richterbank dergestalt sich einrichten, daß diese mit ihren eigenen Augen den ganzen Umkreis der Dinge umspannt, welche der Jurist nur durch " Ein deutsches Geschworenengericht. Leipzig. 2. Ausl. 1865. S. 51. 52. Vgl. dens. in Goltdammers Archiv XVI S. 612 ff u. 673 ff., und dann dess. Verfs. Strafprozessuale Erörterungen, Stuttgart 1875, S. 64 ff. Die Schriften von Glaser und Heinze bilden auch heute noch das Bedeutendste, was in der deutschen Literatur zur Verteidigung der Jury erschienen ist. Die Heinzeschen Ausführungen klingen mehrfach an die von Köstlin in dessen Wendepunkt gegebenen an. S. etwa das. S. 22 ff. Zur Juryfrage S. 15. 16. (Schwurgericht!. Erörter. S. 82. 83.)

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Dritte, in allgemeinen, unsicheren Umrissen kennen gelernt hat." Was bei diesen Heinzeschen Ausführungen so woltätig berührt, ist der Ernst, der die Besetzung der Gerichtsbank mit Sachverständigen und nur mit Sachverständigen fordert, und es unternimmt, den Nachweis von dieser Sachverständigen­ qualität der Laien in geistvoller Weise zu führen. In der Forderung des allein sachverständigen Richters prinzipiell mit Heinze ganz einig, muß ich aber seine Beweisführung zu Gunsten der Laien für ganz mißlungen erklären. Heinze kennt nämlich noch eine Tatfrage, die nicht Rechtsfrage ist ; er übersieht, daß die richterliche Tätigkeit auch in ihren Atomen durch und durch juristische Natur besitzt; und während er den Juristen und den Laien in ihren Fähigkeiten mit seltener Sorgfalt und Unparteilichkeit gegen einander abwägt, ist ihm wegen seiner falschen Auffassung der Tatfrage der größte Mangel des Letzteren, seine Rechtsunkenntnis, nicht ein­ mal anstößig". So läßt er sich verleiten, ein Beweis­ mittel, den sog. Sachverständigen, auf die Richterbank zu fetzen, und statt ihn dem Richter als unjuristischen Ge­ hilfen zu juristischer Tätigkeit zur Seite zu stellen, wenn dieser nicht imstande sein sollte, Beweistatsachen zu erkennen oder erkannte Tatsachen in ihrer Tragweite auszudeuten, be­ kleidet er ihn mit richterlichen Attributen. Nehme ich momentan aber einmal an, was ich nicht zugebe, daß der Laie gewisse Fähigkeiten zur Wahrnehmung des Richteramtes besitze, die dem Rechtsgelehrten abgehen, so wird doch die Gerichtsbank die bestbesetzte sein, auf welcher sich die Fähigkeiten des Laien und des Rechtskundigen vereinen. Die Konsequenz des Heinzeschen Grundgedankens wäre das gemischte Beamten- oder das Schöffen72 S. dagegen oben S. 41 ff. 74 Vgl. auch John, Geschworenengerichte und Schöffengerichte S. 32: »Der Richter aus dem Volke versteht nichts, was zur Aburtheilung des Straffalls gehört, besser als der rechtsgelehrte Richter."

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gericht, und nicht eine Jury mit einem „richter­ lichen Berater im Geschworenenzimmer", wie sie Heinze projektirt. 4. Neuerdings hat Oetker einen weiteren Recht­ fertigungsgrund für die Jury aufgestellt. Er proklamirt die „Unabhängigkeit der Urteilsfindung von der Verhand­ lungsleitung", wie sie im altdeutschen Gerichtsverfahren be­ standen habe. Diese Unabhängigkeit bestehe mit Nichten im Schöffengericht, wol aber im Schwurgericht, und darin gründe dessen große Überlegenheit. Dieser wichtige Punkt sei in der ganzen Literatur noch nicht zu seinem Rechte gekommen'°. Es war selbstverständlich, daß die Gesinnungsgenossen Kahl und Liepmann diesen Gedanken aufnahmen". Dagegen betone ich zunächst die absolute Abhängig­ keit der Verdiktsfindung in England, dem vorbild­ lichen Land für das Schwurgerichtsverfahren, von den Weisungen des Richters. Des weiteren wäre die Ausschaltung des Vorsitzenden bei der Urteilsfindung durchaus möglich auch im einheitlichen Kollegialgericht". Die verzwickte Zerreißung der richterlichen Aufgabe hat damit gar nichts zu tun. Der Grund besitzt für die Notwendigkeit der Schwurgerichte nicht die geringste Beweiskraft!

An dritter Stelle aber behaupte ich: Die Aus­ schaltung des Vorsitzenden von der Urteils­ findung bedeutet die Ausschaltung des best" Oetker, Gerichtssaal DXV 1905 S. 325 ff.; ders., Gerichtssaal DXVIII 1906 S. 83 ff. - S. übrigens schon Geyer, Strafprozeß S. 21; v. Kries, Strafprozeß S. 1 u. 2. S. Kahl bei Mittermaier u. Liepmann, Schwurgerichte und Schöffengerichte I S. 21/2; Liepmann, das. Reform des Schwurgerichts II S. 186.

" Der vorsichtige Kahl a. a. O. S. 21 möchte ihn sogar „für die Funktion der Rechtsbelehrung. . . ausgeschaltet wissen". Vielleicht könnte man den so Gefährlichen überhaupt .ausschalten"!?

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orientirten Richters, des Richters, der den viel­ leicht höchst komplizirten Fall in allem Großen und Kleinen ganz allein beherrscht, von der Urteilsfindung, bedeutet also einen gradezu un­ ersetzlichen Verlust für diese. Ich halte die zurzeit bestehende Überlastung des Vor­

sitzenden in der Hauptverhandlung für einen großen Mangel unseres Verfahrens. Insbesondere muß und wird später die Beweisaufnahme an erster Stelle durch die Parteien und nur die nötige Ergänzung von dem Vorsitzenden vorgenommen werden. Aber diese schwere Belastung kann doch nicht hindern, daß der Vorsitzende der ganzen Beweisaufnahme, grade weil er die Verantwortung dafür zu tragen hat, mit gespanntester Aufmerksamkeit folgen muß, ferner daß ihm zufolge genauester Kenntnis der Akten der ganze Zusammenhang der Beweis­ ergebnisse am klarsten vor Augen steht und von ihm am sichersten beurteilt werden kann. Dem gegenüber behauptet Oetker", grade das Akten­ studium nehme dem Vorsitzenden die nötige Unbefangenheit; das dadurch gewonnene „Tatbild" verdichte sich „in vielen Fällen dem Vorsitzenden zu einer mehr oder weniger be­ stimmten Schuldauffassung"", und Niemand könne „gegen­ über den Ergebnissen der eigenen Arbeit ein voll unbefangener Beurteiler sein". Beide Behauptungen sind m. E. gleich unrichtig. Jeder Richter im mündlichen Verfahren weiß genau, daß die Akten ihn orientiren, aber nie zu einem Vorurteil be­ stimmen dürfen. Es ist mir doch nie eingefallen, wenn ich behufs späterer Urteilsverfassung die Akten sorgfältig studirt hatte, in der Gerichtssaal I-XV S. 326. 327. Vgl. Liepmann a. a. O. S. 186/7. Graf Dohna, Strafverfahren S. 87, betrachtet es gar als selbst­ verständlich, daß der Vorsitzende „sich sein eigenes Urteil schon vor Beginn der Hauptverhandlung gebildet" habe. Dann ist ja die ganze Haupt­ verhandlung der reine Schwindel!

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Hauptverhandlung die Beweisfrage anders als eine noch voll­ ständig offene Frage zu betrachten — selbst wenn ein um­ fassendes Geständnis vorlag. Oetkers Behauptungenthält einen sicher ganz unbeabsichtigten, aber doch sehr schweren Vorwurf gegen der Präsidenten Amtstreue wie Fähigkeit.

Und warum der Vorsitzende das Ergebnis seiner Beweis­ aufnahme nicht solle unbefangen beurteilen können, weil es seine Beweisaufnahme sei, ist schlechterdings nicht einzusehen. Er hat doch nicht die Aufgabe, den Schuldbeweis zu erbringen, sondern die Wahrheit ans Licht zu stellen, und alle andern Richter, Schöffen und Geschworenen haben doch nur genau die Beweisaufnahme zu beurteilen, die der Vorsitzende ge­ macht hat. Auch erinnere ich mich aus meiner langjährigen praktischen Tätigkeit keiner Spur von Befangenheit des Vorsitzenden in der Beurteilung der Beweisfrage, noch viel weniger der Spur eines chronischen Gegensatzes bei dieser Beurteilung zwischen dem Vorsitzenden und uns vier Beisitzern. Und so kämpfen Oetker und seine Anhänger in diesem Punkt mit ganz ungerechtfertigten Behauptungen! Grade die beste Urteilskraft des Vorsitzenden muß der Urteilsfindung erhalten bleiben. Jedenfalls hat aber diese Frage mit der Organisation der Schwurgerichte gar nichts zu tun »° Einen sehr seltsamen „Grundgedanken der Jury" hat John a. a. O. S. 32 aufgestellt. Nach ihm „ist die Berechtigung der Geschworenen viel­ mehr nur darin zu finden, daß sie folgenden Gedanken realisiren: Wenn der rechtsgelehrte Richter dazu gelangt, einen Angeklagten zu verurteilen, so gelangt er dazu durch seine Wissenschaft, durch seine Technik. Um nun eine noch höhere Garantie dafür zu finden, daß dieses juristische Wissen und Können zu einem richtigen Resultate geführt habe, wird verlangt, daß auch solche Personen, welchen das spezifisch juristische Wissen und die spezifisch juristische Technik abgeht, die Überzeugung zu gewinnen vermögen, daß der Angeklagte etwas nach den Vorschriften des bestehenden Gesetzes Strafbares begangen habe". Hat John Recht, dann um so schlimmer für die Jury! Denn dann ist ihr das Todesurteil gesprochen. Voraussetzung der Jury ist ja nach Binding, Strafrechtliche uni, strafprozessuale Abhandlungen. II. 8

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II. Die Vorfrage aber, ob denn diese Zerreißung der richterlichen Aufgabe behufs ihrer Ver­ teilung auf verschiedene Organe innerlich mög­ lich sei, und wenn sie sich als theoretisch möglich ergebe, ob sie nicht die innere Einheit des Schluß­ urteils, also dessen Gerechtigkeit, beeinträchtige, ist ebensowenig von den Gegnern der richterlichen Allmacht, als von den Lobrednern der Fähigkeiten der Laien zum Richtertum, als endlich von denjenigen eingehend geprüft worden, welche die Jury positiv aus der Notwendigkeit der Teilnahme des Volks bei der Strafrechtspflege begründen wollen. Hier, und nicht, wie häufig behauptet wird^, in der Fragestellung, liegt der Kern der Juryfrage. Die Fragestellung mit ihren Konsequenzen bildet allerdings ein unheilbares Krebsgeschwür in unserm Schwurgerichtsverfahren; aber auch wenn der ganze Frage­ bogen kassirt werden könnte, bliebe die Berechtigung des Schwurgerichtes immer noch problematisch. Der Grundgedanke unserer Schwurgerichte, der übrigens keineswegs rein zur Durchführung gelangt, ist der, daß die rechtlichen Folgen der Beantwortung der Schuldfrage (des sog. Verdikts) nicht von demselben Kollegium, der GeJohn Verurteilung des Angeklagten durch den rechts gelehrten Richter; hat dieser freigesprochen, dann hat sie keinen Anspruch auf Existenz. Ist aber verurteilt, so wird die Probe aufs Exempel dadurch ge­ macht, daß Leute, die eben den Vorzug besitzen, keine juristischen Rechen­ künstler zu sein, ein Superarbitrium über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Fazits abgeben. Sonderbar! Sehr entschieden von Goltdammer, Archiv d. preuß. Strafrechts VII S. 181, und von Schwarze, Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform. Erlangen 1865, S. XI. Auch von Hye-Glunek (Über das Schwurgericht. Wien 1864), dem das Verdienst zugeschrieben werden muß, dem naturwidrigen Dualismus im Geschworenengericht sehr ernsthaft zu Leibe gegangen zu sein, sieht ihn zu einseitig darin: „daß die Entscheidung über die Schuldfrage zwischen dem fragenden und dem ant­ wortenden Kollegium sich spaltet." S. Mayer, Geschworenen­ gerichte und Schöffengerichte (Frankfurt a. M. 1872), bezeichnet gar die Frage­ stellung „als Kern der Einrichtung".

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schworenenbank, festgestellt werden, welches das Verdikt ab­ gegeben hat; daß aber dieses zweite Kollegium, dem der Gang der Beratungen des ersten vollständig fremd ist, att den Tenor des Verdikts formell gebunden wird. Das Verdikt zwingt den Gerichtshof, ihm beizustimmen, und auf Grund desselben hat er nun zu entscheiden, ob Freisprechung oder Verurteilung erfolgen müsse (Subsumtionsfrage, s. oben S. 67 u. 68), und im letzteren Falle, welche Strafart und welches Strafmaß über den Schuldigen zu verhängen sei (Straffrage, s. oben S. 67)? Daraus erhellt, von den drei Sätzen, welche den Syllogismus des Urteils bilden, ist die Findung des Untersatzes und des Schlußsatzes der Jury entzogen und der Gerichtsbank übertragen^. Warum sollte dies nicht möglich sein? Wenn der Obersatz durch das Verdikt festgestellt ist, läßt sich die fest­ gestellte Handlung zweifellos durch ein anderes Gericht unter das Gesetz subsumiren, und scheinbar ergibt sich ja der Schlußsatz von selbst und enthält gar keine neue Wahrheit: jeder Primaner kann ihn dann finden, also auch jeder Richter, der im Geschworenenzimmer nicht mitgetagt hat! Dies wäre ganz richtig, wenn unsere Strafgesetze wie die römischen IsAss jnäioiorum publioorum absolute Bestimmt­ heit in ihren Strafsatzungen besäßen, wenn sie also eine ganze Verbrechensgattung mit einer und derselben Strafart in einer und derselben unwandelbaren Höhe bedrohten. Steht auf dem Morde der Tod, und lautet das Verdikt dahin, daß der Angeklagte seinen Brotherrn vorsätzlich und mit Über­ legung getötet habe, so braucht es eines Minimums von Verstand, um das Todesurteil zu finden. Die Aufstellung 82 Gegen diese Trennung der Entscheidung über die Straffrage von der über die Schuldfrage sehr beachtenswert Zachariae, Das moderne Schöffengericht S. 47 ff.; H. Meyer, Die Frage des Schöffengerichts S. 37 ff. Vgl. auch Oberappellationsgerichtsrat O. Becker in den Ver­ handlungen des 10. deutschen Juristentages II S. 165 und die „Denkschrift" S. 23 u. 24. Auch in der späteren Literatur ist sie sehr energisch bekämpft worden. 6*

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eines Doppelgerichtes auf dieser Grundlage enthielte freilich einen ganz entwürdigenden Hohn auf die regelmäßig ja mit Rechtsgelehrten besetzte Gerichtsbank; sie säße da aller juristi­ schen Tätigkeit entkleidet, und ein Dutzend Gewürzkrämer, Handwerker, Pächter handhabten allein Recht und Gesetz; denn sie allein gäben das bindende Verdikt ab, und der Richter wäre im Gericht nur berufen auszusprechen, was der Gerichtsweibel, der Angeklagte, ja jedes alte Weib im Zu­ hörerraum ebenso gut vermöchte. Nun aber sind alle unsere Strafgesetze mit einem ver­ schwindend kleinen Prozentsatz von Ausnahmen sog. relativ bestimmte Strafgesetze. Der Gesetzgeber stellt dem Richter entweder verschiedene Strafarten oder verschiedene Straf­ äquivalente derselben Strafart oder beides zur Wahl. Wenn das deutsche Strafgesetzbuch die Überschwemmungsstiftung

mit 3—15 Jahren Zuchthaus bedroht, so stehen dem Richter, da die Zuchthausstrafe nur nach vollen Monaten wächst, 12X12 4-1-^145 Strafgrößen für dies Verbrechen zur Disposition (3 Jahre, 3 Jahre ->-123- oder - 4 ... Mo­ nate). Die Strafe des einfachen Diebstahls läuft von 1 Tag bis zu 5 Jahren Gefängnis: es kann also der Richter zwischen 1826 (5 X 365 ->-1) verschiedenen Strafgrößen wählen. Ist eine Handlung, wie die Tötung im geschärften Zweikampf, mit Festung von 2—15 Jahren bedroht, so steigt die Zahl der möglichen Strafgrößen auf 13X365 4-3 Schalttage 4748! Darüber nun, welche Strafe aus diesen Straf­ massen im einzelnen Falle die gerechte sei, gibt das Verdikt dem Richter unmittelbar gar keinen Aufschluß. Denn es stellt ja nur fest, daß der Angeklagte im Sinne des Gesetzes eines bestimmten Verbrechens schuldig sei; was das Gesetz in seinem ersten Teile im Allgemeinen sagt, übersetzt das Verdikt ins Spezielle. Es verweist also den Richter allerdings auf eine bestimmte Strafdrohung des Gesetzbuchs, die vielleicht 4000 Stufen besitzt, läßt ihn aber des weiteren vollständig im Stich. Dürfte er nun die zu

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erkennende Strafe auswürfeln, dann käme er leicht aus der Verlegenheit! Er soll sie aber ausmessen. Die Strafzumessungsgründe aber liegen in nichts Anderm als in bestimmten Eigenschaften der Handlung, deren der An­ geklagte für schuldig erkannt worden ist. Die Jury wird sich in den meisten Fällen bei Beantwortung der Schuldfrage überhaupt auch eine bestimmte Ansicht über das Vorhanden­ sein der wichtigsten Straferhöhungsgründe und Straf­ minderungsgründe gebildet haben; allein diese Ansicht kommt in dem Verdikt nicht zum Ausdruck, der Richter erfährt so­ mit nichts davon: und erführe ers, er wäre dadurch nicht gebunden. Während nun die der Jury zugewiesene Schuldfrage grundsätzlich doch auch die Frage nach der Größe der Verschuldung mitumfaßt, während die Jury nach allen Strafbarkeitsmerkmalen gefragt wird, die das Gesetz selbst ausdrücklich hervorhebt, wie die Überlegung beim Mord, die Tatsache, daß der Diebstahl in einer Kirche oder mit Waffen oder von Bandenmitgliedern geschehen ist, also nach allen sog. Strafschärfungs- und Strafmilderungs­ gründen, so löst sie die Schuldfrage insofern nicht, als es sich handelt um die sog. Straferhöhungs- und Straf­ minderungsgründe, d. h. um die nicht ausdrücklich her­ vorgehobenen Strafbarkeitsmerkmale, in deren zahlreicher Existenz der halbe Grund für die sog. relativ bestimmten Strafdrohungen gelegen ist. Diese Strafzumessungsgründe muß also jetzt die Richterbank feststellen: sie muß sich die Frage vor­ legen, welche Strafbarkeitsmerkmale zu historischer Gewißheit erhoben sind, sie muß also den noch unbeantwortet gebliebenen Rest der Schuldfrage nachholen. Die weitverbreitete Meinung, die Richterbank finde im Verdikt die ganze Beweisfrage erledigt vor, ergibt sich also als irrig: sie muß vielmehr selbst nochmals tief in die Würdigung der erbrachten Beweise hineinsteigen, wenn sie

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allerdings auch nur die Ährenleserin auf dem Felde des Be­

weises darstellt. So zeigt sich zunächst: unmöglich ist es, einen Teil der richterlichen Tätigkeit ausschließlich der Jury, einen andern ausschließlich der Richter­ bank zu überweisen; denn wenn letztere die ge­ rechte Strafe finden soll, muß sie einen Teil der Schnidfrage, die Frage nach den im konkreten Fall bewiesenen Strafzumessungsgründen, selb­ ständig beantworten. So teilen sich die beiden Gerichtshöfe im Schwurgericht in den gleichen Bestandteil der Richtertätigkeit, statt, wie man immer behauptet, wesentlich verschiedene Kom­ petenzen zu erhalten. Umgekehrt aber nimmt die Jury teil an der Beantwortung der Straffrage, die angeblich rein dem Gerichtshöfe überwiesen ist"b. Alle Verbrechens­ begriffe bestehen aus zwei Klassen von Merkmalen: durch die Einen werden sie charakterisirt in ihrem Widerspruche zu einem bestimmten Verbote, z. B. dem Verbote der Tötung, während die andern Merkmale nur dazu dienen, den Straf­ gehalt einer Gruppe von verbotenen Handlungen derselben Art gegenüber von andern Gruppen gleicher Gattung zu präzisiren. Mord, Totschlag an Aszendenten, Tötung eines Einwilligenden, Kindesmord, alle diese Handlungen sind gleicherweise verbotene Tötungen: sie werden vom Gesetz lediglich deshalb scharf unterschieden, weil es die Verschieden­ heit ihres Strafgehaltes markiren will. Wenn nun die Jury eines dieser Strafbarkeitsmerkmale feststellt, etwa die Über­

legung bei der vorsätzlichen Tötung oder den Mangel der Ich lasse hier die Anomalie, daß der Jury die Feststellung des Vorhandenseins mildernder Umstände (das sind unbenannte Strafminderungs­ gründe) überwiesen wird, absichtlich ganz unberührt. Diese läßt sich be­ seitigen, die im Text nachgewiesene Teilnahme der Jury an der Lösung der Straffrage nicht.

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Überlegung dabei: was tut sie damit gegenüber der Gerichts­ bank? Sie engt die richterliche Strafzumessung ganz außer­ ordentlich ein. Im ersten Falle löst sie die Straffrage tatfächlich sogar allein; denn die unausbleibliche Folge ihres Spruchs ist das Todesurteil; im zweiten nimmt sie dem Richter die Möglichkeit, auf die Strafe des Mordes oder die der fahrlässigen Tötung zu erkennen; in einem dritten be­ schränkt sie ihn auf die Strafe des qualifizirten Dieb­ stahls oder bindet ihn an die Strafe der privilegirten Tötung. Und in dieser Präzisirung des Strafgehalts einer verbreche­ rischen Handlung soll keine Teilnahme an der Lösung der Straffrage enthalten sein? Sieht man denn nicht, daß die Strafbarkeitsmerkmale des Gesetzesrechtes von der Jury, die gradeso wichtigen Strafbarkeitsmerkmale, die zufällig vom Gesetz unerwähnt geblieben sind, von der Richterbank fest­ gestellt werden"? Wer könnte leugnen, daß die strafbedingen­ den Faktoren also zu einem Teile durch das Verdikt, zum andern Teil durch Beschluß der Gerichtsbank festgestellt werden? Oder will man etwa zu behaupten wagen: wer die Ursachen erzeuge, erzeuge nicht auch die Folgen, wer Strafbarkeitsmerkmale feststelle, stelle nicht zugleich die Strafe zu einem Teile selbst fest? So ist es Chimäre, die Jury allein erledige die Schuldfrage, und ebenso Chimäre, der Ge­ richtshof allein löse die Straffrage: beide Ge­ richtshöfe partizipiren an beiden Aufgaben. " Das Strafbarkeitsmerkmal der Überlegung z. B. ist bei dem Mord von der Jury, bei der Körperverletzung von der Gerichtsbank festzustellen. Das Strafbarkeitsmerkmal des Einschleichens ist von der Jury festzustellen wenn das Gesetz den Diebstahl mit Einschleichen qualifizirt, wäre von der Gerichtsbank festzustellen, falls dies nicht geschieht. — Bezüglich der quali­ tativen Gleichheit gesetzter und ungesetzter Strafbarkeitsmerkmale s. man schon v. Wächter, Sächs.-Thür. Strafrecht S. 294, und meine Normen I 2. Aufl. S. 194 ff. — Demgemäß gehören zu ihrer Feststellung ganz dieselben richterlichen Fähigkeiten, und die Bestellung verschieden qualifizirter Richter dazu ist gradezu wider­ sinnig.

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Ist denn aber Jedem von beiden sein Anteil nach reif­ licher Überlegung, mit vorsichtiger Hand und scharfem Messer zugeschnitten, so daß das Auge roolgefällig auf scharf ab­ gegrenzten Tätigkeitsfeldern des Gerichtshofes einerseits, der Jury andrerseits ruhen kann? Leider nichts weniger als das! Die Grenzen für die Beteiligung der Jury an der Ent­ scheidung der konkreten Schuldfrage zieht im konkreten Fall ein willkürlicher Machtspruch des Gerichts, die Fragestellung, gleichsam der Entscheid einer Gerichtspartei gegen die andere! Die Grenzen für die Teilnahme des Gerichtshofes an der Be­ antwortung der Frage nach der Größe der Schuld und die Teilnahme der Jury an der Beantwortung der Straffrage bestimmt generell allerdings das Strafgesetzbuch, allein zu einer Zeit, in der es an nichts anderes denkt als daran, die gerechten Strafen für die verschiedenen Verbrechen zu finden, und nichts weniger im Auge hat, als die Kompetenz­ abgrenzung zwischen Gerichts- und Geschworenenbank. Den Ausschlag gibt ja hierfür der prozessualisch ganz zufällige Umstand, ob ein Strafbarkeitsmerkmal, wie Ort und Zeit des Diebstahls, Länge der Freiheitsberaubung, Schwere der Körperverletzung usw. unter die gesetzlich wesentlichen Merk­ male eines Verbrechenstatbestandes Aufnahme gefunden hat oder nicht? Damit fallen wie Kartenhäuser alle jene stolzen Argumentationen zusammen, es stelle das Geschworenengericht mit seiner doppelten Gerichtsbank die Fleisch gewordene innerliche Verschiedenheit der verschiedenen Bestandteile des Richteramtes dar: scharf und glatt abgegrenzt lägen die beiden Tätigkeitsgebiete nebeneinander; zur Lösung der Aufgabe der Geschworenenbank seien andere Fähigkeiten so nötig wie ausreichend als zur Lösung der richterlichen Auf­ gaben. Damit aber fällt auch ein Vorschlag bezüglich des Schöffengerichtes als jeder innerlichen Berechtigung ent­ behrend zu Boden. Niemand anders als sein eifrigster Ver­

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leidiger, Generalstaatsanwalt Schwarze^, will die Schöffen auf die Mitwirkung nur bei Beantwortung der Schuldfrage beschränken, wogegen sie bei der Strafabmessung zwar mit­ raten, aber nicht mittaten sollen. Grade die Entscheidung der Schuldfrage, wie sie heute gefaßt wird, schließt die aller­ wichtigsten Entscheidungen über die Strafzumessung in sich: es ist deshalb eine Inkonsequenz, den Schöffen bei der Fest­ stellung der Strafbarkeitsmerkmale zum wichtigeren Teil be­ schließende, zum unwichtigeren nur beratende Stimme ein­ räumen zu wollen. Mit vollem Rechte erklären sich in dieser Beziehung Zachariae, Hugo Meyer und die „Denk­ schrift über die Schöffengerichte" vom preußischen Justizministerium gegen Schwarze. Der eifrige Verteidiger des Geschworenengerichts ist nun in die letzte Position zurückgedrängt: er wird zum Ankläger seiner Gegner als unpraktischer Doktrinäre, die mit den Waffen der Logik die Waffen der Zweckmäßigkeit bekämpften. Er kann nicht leugnen, daß beide Gerichtshöfe an den beiden Entscheidungen über die Schuld und über die Strafe teil­ nehmen: allein, was tut's? meint er, es schadet ja nichts; werden ja doch fast alle richterlichen Ent­ scheidungen kollegialisch gefaßt, warum sollen die Stimmen nicht auch Kollektivstimmen ver­ schiedener Kollegien sein können^? Man könnte zur Widerlegung zunächst auf die Geschichte 86 Vgl. dessen Buch: Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform. 1865, S. 172 ff. 86 So will Glaser, Zur Juryfrage S. 56, die wichtigsten Einwürfe gegen diese Teilung des Gerichts dadurch entkräften, daß er sagt: „... überall zeigt sich dasselbe Resultat: die großen Schwierigkeiten, welche daraus ent­ stehen, daß die Einheit des Urtheils eine Fiktion ist, daß das Urtheil nicht von einer physischen, sondern von einer (?) Collektivperson gefällt wird, bleiben der Jury so wenig als dem ständigen Richterkollegium erspart." (Schwurgericht!. Erörter. S. 135.) Allein dies träfe ja doch nur dann zu, wenn der Jury und der Richterbank ganz dieselben Fragen vorgelegt wären, über die sie nun Kollektivstimmen abgäben. Dies ist ja aber grade nicht der Fall!

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verweisen, wo kein Volk der Welt irgendwo noch irgendwann eine solche Gerichtsorganisation gebilligt hat. Es ließe sich betonen, daß die Quelle der Jury, der sog. Jnquisitionsbeweis, zu Karls des Großen Zeit fränkisches Königsrecht ge­ wesen, aber weder in Frankreich noch in Deutschland sich zur Urteilsjury entwickelt habe; daß also Wellmann kein Recht hat, sie höchst poetisch die „Perle germanischer Rechtserfindung" zu nennen^; daß sich in der englischen Geschichte der Zeit­ punkt angeben läßt, an welchem aller Wahrscheinlichkeit nach die Kriminaljury gefallen wäre, hätte die Ziviljury sie nicht gehalten; daß selbst heute die Jury in England wenigstens der Idee nach Beweismittel ist, — das bessere Beweismittel des Geständnisses und das der öffentlichen Urkunde schließt das schlechtere der Jury heute noch aus; daß nur bei den Nachahmern der englischen Einrichtung das Doppelgericht mit seiner irrationellen und gewaltsamen Zerreißung der richterlichen Aufgabe Aufnahme gesunden hat; daß endlich sein Siegeslauf eine Sache der Mode und Folge „einer zeit­ weiligen Unfähigkeit der europäischen Völker zur Hervor­ bringung eigener nationaler Schöpfungen" gewesen ist, und seine Ausdehnung auf halbzivilisirte Nationen, von deutschen Gelehrten mit ebensolcher Freude begrüßt als die Ausbreitung des konstitutionellen Staatswesens auf solche, ein vernichten­ des Zeugnis rechtspolitischen Unverstandes darstellt. Allein diese allgemeineren Gründe ermangeln der zwingenden Kraft, und so soll die letzte Position der Geschworenenverteidigung angegriffen werden in ihrer angeblichen Hauptstärke, dem Satze nämlich, daß diese Zerteilung der richterlichen Aufgabe auf zwei separat arbeitende Organe wenigstens nichts schade. Er ist freilich nur eine Ver­ neinung und beweist für die Jury sehr wenig: allein das zurzeit bestehende Geschworenengericht könnte hinter diesem Schild doch sein Leben verteidigen. S. Wellmann, Geschworene und Schöffen? Berlin 1873, S. 88. So treffend die „Denkschrift über die Schöffengerichte" S. 15.

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Zwei Gerichte spannen wir an denselben Pro­ zeß, Jedem von ihnen einen Teil desselben Ur­ teils überweisend. Was natürlicher, als daß beide Sprüche oft genug einander widerstreiten? Was unbestreitbarer, als daß dieser Widerstreit, grade weil er zwischen koordinirten Gerichten ausgebrochen ist, die ein Urteil zustande bringen müssen, durch kein Mittel vermieden, durch keines gehoben werden kann? Was endlich unerträg­ licher, als daß der Spruch über Schuld und Strafe, der nur gerecht sein kann, wenn er innerlich ein­ heitlich ist, durch den Dualismus zweier gleich souveräner Gerichtsorgane zu einem in sich zwie­ spältigen, somit in sich selbst ungerechten werden mußsv? Keine Gerichtsorganisation der Welt wird die ersehnte Gerechtigkeit aller Urteile im Gefolge haben; denn alle Richter sind Menschen. Allein eine Gerichtsorganisation, welche die Zahl der wegen der menschlichen Trüglichkeit un­ gerecht ausfallenden Urteile durch die eigene Unvollkommen­ heit notwendig noch erheblich steigern muß, ist unannehmbar °". Der stärkste Widerspruch zwischen den beiden Sentenzen liegt dann vor, wenn die Jury schuldig sprechen wollte, der Gerichtshof aber, dem ja die Auslegung des Verdiktes gar nicht entzogen werden kann, den Inhalt desselben als unter das Strafgesetz subsumirbar nicht ansieht. Die Jury will die Schuldfrage bejahen, der Gerichtshof sieht sie als verneint an. Die Jury hat, vielleicht einstimmig, verurteilt, der Ge­ richtshof spricht frei. Umgekehrt hat die Jury durch die Art ihrer Frage­ beantwortung freizusprechen geglaubt: der Gerichtshof sieht aber in ihrem Spruch ein Schuldigverdikt und verurteilt. Sv Die öfter angeführte Schrift von Hye-Glunek enthält sehr reich­ haltiges Material über diese Zwiespältigkeit zwischen Verdikt und Urteil. vo Vgl. Schwarze, Deutsches Schwurgericht S. 87.

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In beiden Füllen fungirt er dann der Geschworenenbank gegenüber unter dem Vorgeben das Verdikt zu interpretiren als Kassationshof um es zu beseitigen. Dem gegenüber ist die Geschworenenbank völlig machtlos, denn der Gerichtshof hat das letzte Wort. Kommt der Jury, einem Gerichtshof, nicht Eine der Parteien, die Staatsanwaltschaft oder der An­ geklagte, durch Einlegung von Rechtsmitteln zu Hilfe, so be­ tritt ein Urteil die Rechtskraft, welches den Stempel der Un­ gerechtigkeit an der Stirne trägt, und allen prozessualischen Anstrengungen, die materielle Wahrheit zu erlangen, Hohn spricht. Will man etwa behaupten, solche Fälle kämen nicht vor oder seien sehr selten? Wer hat nicht oft genug Gelegenheit gehabt, das sprachlose Erstaunen der Geschworenen zu be­ obachten, wenn sie das Urteil hörten und grade das Um­ gekehrte erwartet hatten? Ist das eine Justiz, die des 19., des 20. Jahrhunderts würdig ist? Etwas versteckter liegen die Widersprüche in andern außerordentlich zahlreichen Fällen. Die prinzipale Frage laute auf Mord, die eventuelle auf Totschlag; die Jury ver­ neint die erste und bejaht die zweite Frage; damit ist fest­ gestellt, daß die Tötung nicht „mit Überlegung" ausgeführt sei, und somit ist dieses Strafbarkeitsmerkmal negirt. Nun hat der Gerichtshof die adäquate Strafe des Totschlags zu finden: er ist der Ansicht, daß das Moment der Überlegung

mit Unrecht verneint worden sei; er kann diesen Straserhöhungsgrund gar nicht unberücksichtigt lassen, selbst wenn er wollte: er hat die Intensität des verbrecherischen Vorsatzes abzuwägen, und ist doch außer Stande, die Kaltblütigkeit des Täters, die ihm selbst bewiesen scheint, zu ignoriren, sich viel­ mehr den Täter im Affekt handelnd zu denken und nun die Heftigkeit eines Affektes auszumessen, an dessen Existenz er nicht glaubt. Dies von ihm fordern, heißt Unmögliches fordern! So wird vielleicht das Maximum der Totschlags­ strafe ausgesprochen, weil die Jury den Mord und die Mord-

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strafe ausschloß, der Gerichtshof aber Totschlag nicht an­ nimmt und die Mordstrafe doch nicht aussprechen darf: das Maximum der Totschlagstrafe rechtfertigt sich aber nur da­ durch, daß die Richter die Handlung als Mord ansehen, somit als Mordstrafe, während die gesetzliche Strafe des Mordes der Tod ist. Dies eine Beispiel möge für tausend ganz analoge genügen! Differiren die Geschworenen und die Richter über das Vorhandensein gesetzlicher Strafbarkeits ­ merkmale, so werden ganz regelmäßig das Verdikt und die richterliche Sentenz einander schnurstracks widersprechen; Jury und Gerichtshof messen dann mit zweierlei Maß: das gerechte Maß aber ist nur Eines. So versagt im Schwurgericht der ganze sorgfältige Apparat unseres modernen Strafprozesses wegen der Verfehltheit dieser Institution. Angestrengt kämpfen die Parteien um ihr Recht; die Mündlichkeit des Verfahrens ermöglicht die vollständigste Ausnutzung der Beweismittel; die Öffent­

lichkeit schärft die Sinne von Richtern und Geschworenen: eben aber, wie das Schiff nach klippenreicher Fahrt in den Hafen der Urteilsfällung einlausen will, birst es gewaltsam in zwei Teile, und alle Versuche, diese gesondert in den Hafen zu lotsen und sie dort wieder zusammenzufügen, ergeben im besten Fall ein dürftiges Flickwerk, im schlimmsten einen un­ heilbaren Rechtsbruch.

So stehen die einzelnen Akte richterlicher Tätigkeit derart in unlöslicher Verbindung, daß nur, wer die früheren erledigt hat, die späteren im Einklänge mit dem Gesetze zu vollführen ver­ mag. Ihre Zerreißung und Verteilung auf verschiedene Ge­ richte muß zu zweizüngigen, also ungerechten Urteilen führen^. So ist das Schwurgericht absolut ver­ werflich, weil sein Grundgedanke verfehlt und Gut Ortloff, Strafverfahren, 1858 S. 81 ff.

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sein Grundgebrechen unheilbar ist^. Die Verwand­ lung eines Beweismittels — das ist ja die Jury ursprünglich gewesen und ist sie in England noch — in eine Gerichtsbank hat in unsere Strafjustiz einen unheilvollen Dualismus hin­ eingetragen, der daraus verschwinden muß und — wir sind dessen ganz sicher — in Bälde auch verschwinden wird, der aber nur so verschwinden kann, daß an Stelle des Doppel­ gerichts im Geschworenenprozeß ein Gerichtshof tritt, dem die Erledigung der gesamten richterlichen Aufgabe durch ge­ meinsame Tätigkeit seiner Beisitzer befohlen ist^. Hoffentlich bieten dazu auch diejenigen die Hand, die früher eifrigst nach der Jury gegriffen und sich in edelster Absicht, das Gute an Stelle des Schlechten zu setzen, darin vergriffen haben. Denn: „Ist das Geschworenengericht ein an sich schlechtes und unverläßliches Mittel zum Austrag der ein­ zelnen Strafsachen, setzt es mehr als eine andere Einrichtung die Staatsgewalt der Gefahr aus, durch ihre eigenen Gerichte Recht in Unrecht ver92 Der Mangel liegt tief in der Sache und nicht in den Personen, die mit dem verfehlten Institute zu schaffen haben, am wenigsten in den Juristen, denen Gneist, Vier Fragen S. 161, in allzu großer Bescheidenheit die „Schuld der vorhandenen Mißstände" alleinaufbürdet. S. dagegen v. Jhering, Zweck I S. 415: „Soll ich mein Urtheil über das Geschworeneninstitut zu­ sammenfassen, so kann ich es nur dahin abgeben, daß die Geschworenen, von dem einzigen Moment ihrer Unabhängigkeit von der Regierung abgesehen, sonst in aller und jeder Beziehung die Eigenschaften in sich vereinigen, die der Richter nicht haben soll." ss Da besonders in Bayern die Jury viel Anhänger besitzt, so mag hier noch eine Äußerung des Mannes stehen, der Bayern die Hegemonie im deutschen Strafrecht für die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts verschafft hat. Anselm v. Feuerbach schreibt am 24. Febr. 1819 an M. v. Seuffert (s. Seuffert, Über Schwurgerichte und Schöffengerichte S. 20 N. 14): „Wird mit der Oeffentlichkeit des Verfahrens zugleich das Geschworenen­ gericht in Bayern eingeführt, so fürchte ich nicht blos, sondern ich weiß so zuversichtlich, als ich die bekanntesten Thatsachen der Vergangenheit weiß, daß man das Geschworenengericht, nachdem es eine Zeitlang seine Gräuel ausgeübt hat, beschämt wieder aufheben wird." Zur „beschämten" Aushebung sehe ich keinen Grund; denn auch die Völker müssen durch Erfahrungen lernen: die Aufhebung selbst aber sollte nicht länger aufgeschoben werden!

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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kehren zu sehen, so wird keine Rücksicht der Poli­ tik, der Homogenität mit andern Staatsein­ richtungen ihre Einführung (also auch ihre Bei­ behaltung) rechtfertigen können. Diese Rück­ sichten werden auch wol selbst dann verstummen müssen, wenn sich zeigen sollte, daß die Zwecke, welche der Rechtspflege gesteckt sind, ebensogut und vollständig als durch Geschworenengerichte, durch Kollegien ständiger Richter erreicht werden können, weil die letztere Einrichtung, jedenfalls als die einfachere, leichter durchführbare erkannt werden muß^. III. Es ist ein untrüglicher Beweis für die Überlegen­

heit des Gefühls über die Vernunft, daß, trotzdem alle Ver­ nunftgründe gegen das Geschworenengericht in allen seinen Formen sprechen, immer noch ein Kreis frommer Schwärmer dasselbe verteidigt — als die teure Errungenschaft wie das teure Erbe des Liberalismus! Halte ich in diesem Kreise Umschau, so suche ich vergeblich jeden ernsten Nachweis auch nur der Tauglichkeit der Jury für die Beantwortung der Schuldfrage, noch viel weniger der Überlegenheit der Jury über die Richterbank in der Lösung dieser so eminent schwierigen Aufgabe. An Stelle des exakten wissenschaftlichen Beweises tritt bei ihnen allen ein mystischer Glaube an die Kraft des Dilettantismus. Dieser Glaube ist in ihnen allen bei näherem Zusehen ein bedingter. Denn alle geben zu, das Geschworenengericht, wie es jetzt bestehe, sei krank, heilungsbedürftig, heilbar, aber nach feiner Heilung zu trefflicher Leistung zweifellos befähigt. Betrachtet man aber aller dieser Ärzte Diagnosen, die alle

verschieden sind, lernt man ihre Heilmittel kennen, von denen jeder mindestens Eines, manche aber bis zu einem halben " So Glaser, Zur Juryfrage S. 12. (Schwurgericht!. Erörter. S. 78.)

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Dutzend empfehlen, von denen jeder behauptet, seines sei un­ fehlbar, die andern aber wirkungslos, ja gradezu schädlich, so gewinnt man den Eindruck wie von der lustigsten Molisre'schen Komödie. Man kann sich Heitereres über ein so ernstes Thema gar nicht vorstellen! Diese Komödie näher zu beleuchten, versage ich mir. Sehr ernsthaft und sehr verdienstlich hat sie Kronecker bei Mittermaier und Liepmann zur Darstellung gebracht^. Auf einen sehr charakteristischen Punkt aber, der ganz be­ sonders von den Freunden der Jury ignorirt wird, möchte ich doch einmal energisch Hinweisen: auf das hoch gesteigerte Mißtrauen gegen die Jury und ihre Tätigkeit, das der ganzen französisch-deutschen Gesetzgebung über das Juryversahren zu­ grunde liegt, das alle Freunde der Jury ganz programm­ widrig teilen (!), und das seltsamster Weise doch weder die Ge­ setzgebung noch jene Freunde bestimmt, das so öffentlich be­ argwöhnte und dadurch diskreditirte Verfahren fallen zu lassen.

Verdeckt wird dieses Mißtrauen durch die Lehre von der Koordination der beiden Gerichtshöfe, der Richterbank und der Geschworenenbank, also von ihrer Gleichordnung. Diese Lehre ist im höchsten Grade irreführend. Die Koordination besteht nur insofern, als beiden Gerichtshöfen ein Teil der Urteilsaufgabe erster Instanz überwiesen ist. Im Übrigen herrscht größte Ungleichheit zu Gunsten der Richterbank, die sich in einem Moment dahin steigert, daß sie die höhere In­ stanz über der Jury wird. Es ist nicht ganz richtig, daß das Juryverfahren heute mit zwei Gerichten arbeitet: es find ihrer vielmehr drei, — nur daß die Richterbank zugleich erste und zweite Instanz bildet: drei Richter über zwölf! Die einzige Bank, von der die ganze Gesetzgebung über­ zeugt ist, daß sie weiß, worauf es beim Urteilen ankommt, ist die Richterbank. Ohne sie erscheint die Jury verraten und „Vorschläge zur Verbesserung der Schwurgerichte" I S. 321—374.

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verkauft. Die Richterbank stellt der dazu für absolut unfähig erklärten Geschworenenbank ihre Aufgabe, gibt ihr als Schul­ meisterin ihre Lektion auf. Seitens des Vorsitzenden wird ihr die so unentbehrliche Rechtsbelehrung erteilt. Grade er sendet sie auch kraft Gerichtsbeschlusses zu dem sie so ent­ würdigenden Berichtigungsverfahren in ihr Beratungszimmer, ihr „Gefängnis", zurück. Die Richterbank endlich kafsirt eventuell das Schuldig­ verdikt, wenn sie es einmütig für ungerecht hält. So fragt sich der Verständige mit vollem Fug: wenn der Richterbank in den Augen des Gesetzes die unbedingte Über­ legenheit im Verständnis der Urteilsaufgabe und in der Fähig­ keit zu ihrer Lösung zukommt, ist es dann nicht der nackte Widerspruch, wenn dasselbe Gesetz das urteilsunfähige Ge­ richt nicht einfach beseitigt, sondern ihm den schwersten Teil der Urteilsaufgabe überweist? Und diese Frage muß er sich rückhaltlos bejahen. Von allen den gläubigen Verehrern der heutigen Jury will aber Keiner auch nur Eines dieser Mißtrauensvoten gegen die Jury beseitigt sehen. Die Fragestellung, die Rechts­ belehrung, das Berichtigungsverfahren, sogar das Kassations­ recht der Richterbank sollen bei Bestand bleiben, wenn auch vielleicht nicht unbedingt in der jetzt geltenden Form. Ich zeihe die Gesetzgebung aber nicht nur des größten Widerspruchs: ich zeihe sie auch der Unwürdigkeit! Ich finde sie voll unverantwortlicher, weil rechtlich wie ethisch gleich an­ stößiger Zumutungen nach den verschiedensten Seiten. 1. Am stärksten zu beanstanden ist m. E. die rücksichtslose Mißachtung des Schicksals des An­ geklagten, der ja gradeso gut schuldig wie unschuldig sein kann. Im Strafprozeß handelt es sich doch für ihn um seine ganze Existenz: um seine Unbescholtenheit, sein Leben, seine Freiheit — vielleicht auf Lebenslang —, feine Ehre. Er kann verlangen, daß das einschneidende Urteil über seine Zukunft von den bestdenkbaren Richtern gefunden werde. Die denkbar Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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Besten aber sind diejenigen, welche mit der nötigen Gewissen­ haftigkeit die nötigen Kenntnisse zur Urteilsfindung und die nötige Übung zu ihr verbinden. Statt dessen wird sein Schicksal in die Hände vollständiger Dilettanten gelegt, denen im konkreten Fall nur eine ganz oberflächliche, in ihrer Wirkung höchst zweifelhafte, jedenfalls gar nicht zu kontrollirende Anweisung für die Art ihrer verantwortungs­ vollen Tätigkeit von der rechtsgelehrten Richterbank erteilt wird. Es ist dies eine Gewissenlosigkeit sonder Gleichen gegen den Angeklagten! Das Gesetz schämt sich auch der Zumutung, die es ihm macht. Das zeigt sich besonders darin, daß bei der Ver­ kündung des Verdikts durch den Obmann der Angeklagte zu­ nächst nicht zugegen ist. Erscheint das Verdikt unbrauchbar, so soll der Angeklagte nicht merken, daß Stümper fehlerhafte Schülerarbeit zwecks Bestimmung seines Schicksals gemacht haben 2. Die zweite ganz unerhörte Zumutung macht das Gesetz der rechtsgelehrten Richterbank. Sie ist nach seiner Auffassung zur Entscheidung auch der Schuld­ frage weitaus am besten geeigenschaftet: denn sie grade soll ja der Jury die Anleitung zu deren Lösung geben, und sie soll in der Lage sein, falls sie die Schuldfrage einmütig anders entscheidet, als die Jury, das Verdikt zu vernichten. Obgleich das Gesetz dadurch ihre absolute Überlegenheit an­

erkennt, mutet es ihr zu, auf den edelsten Teil des Urteils zugunsten ihrer Schülerin zu verzichten, und — noch un­ erhörter — wird sie auch noch an das Ergebnis von deren erster höchst problematischer Schularbeit rechtlich gebunden. Das ist eine Unwürdigkeit sonder Gleichen gegen die Richterbank! 3. Eine dritte ungerechtfertigte Zumutung wird den Geschworenen selbst gemacht. Mögen sie »« S. auch Glaser-Oetker III S. 450.

I. Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts.

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ihre richterliche Unfähigkeit noch so tief empfinden, dennoch wird ihnen zugemutet, die Verantwortung für das Schicksal des Angeklagten auf sich zu nehmen. Was das heißt, dafür ist mir ein kleines eigenes Erlebnis sehr lehrreich geworden. Vor langen Jahren kam ich mit einem Mann, der ebenso ausgezeichnet war als Charakter wie als Gelehrter, auf den Dienst in der Jury zu sprechen, und er klagte mir seine Not: er habe vergeblich versucht, sich von diesem Dienste zu be­ freien, da er sich dafür durchaus untauglich fühle. Es sei ihm nicht gelungen, davon freizukommen. Dadurch gerate er stets bei seiner Einberufung zum Geschworenendienst in den peinlichsten Gewissenskonflikt, und wenn es sich um ein todes­ würdiges Verbrechen handle, so spreche er immer frei, ob­ gleich er dadurch wissentlich seinen Eid verletze: denn un­ gerechte Blutschuld könne er nicht auf sich laden. Das nennt man Eidbruch wegen nicht zu großer, sondern wegen des richtigen Maßes von Gewissenhaftigkeit! 4. Zu dieser einen Zumutung an die Geschworenen, eine große Verantwortung auf sich zu nehmen, zu deren Über­ nahme ihnen alle Vorbildung fehlt, gesellt sich noch eine zweite. Ich denke jetzt nicht an die traurige Notwendigkeit, sich zum Berichtigungsverfahren in ihr Beratungszimmer wie gescholtene Schuljungen zurücksenden lassen zu müssen. Denn wenn man den Dilettanten zum Urteilen verwendet, so muß er schließlich froh sein, wenn er ernstlich davon abgehalten wird, schwere Fehler zu begehen. Ich denke vielmehr an das Recht des Gerichtshofes, das Verdikt zu kassiren. Da haben zwölf Männer eifrig, gewissenhaft und pflichttreu, ihrer Überzeugung nach entsprechend der Rechts­

belehrung des Vorsitzenden, das Schuldigverdikt gefunden, und nun stehen drei Männer auf und sagen: „Jeder von uns ist mehr als viermal so klug als jeder von euch, und deshalb erklären wir euren Spruch für null und nichtig." Ich möchte nicht mißverstanden werden! Ich plädire keineswegs für die Aufhebung dieses Kassationsrechtes; ich bin sachlich rsbus sie 7*

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stantibus dafür. Ich behaupte aber, daß eine Gerichts­ organisation, in der es anerkannt werden muß, eine gradezu korrupte Organisation ist, und ich empfinde mit den Ge­ schworenen diese Behandlung als eine durch ihre Unwürdig­ keit für sie empörende. Es ist tragisch zu beobachten, wie der erste Schritt vom rechten Wege immer eine ganze Anzahl von weiteren Fehl­ schritten zur Folge hat. Nicht durch Reform, nur durch völlige Beseitigung des Geschworenengerichts sind diese Verirrungen der Gesetzgebung wieder gut zu machen. Es handelt sich eben um ein Institut, das auf absolut unrichtige Grundgedanken basirt worden ist. Man kann wol verstehen, wie die Franzosen in ihrer Revolutionszeit auf diese Umbildung und Verderbnis der englischen Jury gekommen sind. Durch die beiden Irrlichter der Volkssouveränität und der „nackten Tatfrage" ließen sie sich zu diesem Experiment verleiten. Cs war von Anfang an vollständig mißraten, hat sich in der Revolutionszeit mit unauslöschlicher Schmach bedeckt, und hätte nie Nachahmung finden sollen. Jetzt aber über 130 Jahre nach diesem Ex­ periment haben wir wahrhaftig keinen Grund mehr, bei ihm zu beharren, und müssen nun endlich die Forderung durch­ setzen, die schon längst hätte erfüllt werden sollen: „Fort mit der Jury und der unwürdigen Gesetzgebung über sie!"

IV. Das zweckmäßige Strafgericht für Deutsch­ land? So fällt der Preis meiner Überzeugung nach nicht den

rechtsungelehrten, sondern den rechtskundigen, nicht den un­ beamteten, sondern den beamteten Richtern, nicht den doppel­ züngigen Geschworenengerichten, sondern allein solchen Ge­ richten zu, worin das Richterkollegium in gemeinsamer Tätig­ keit die ganze richterliche Aufgabe erledigt. Ich bin ein

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Anhänger des reinen Beamtengerichts, welches zugleich reines Gelehrtengericht ist2'. Ich fordere dabei die nötigen Garantien, daß der Richter ein wirklicher Kenner des Rechts, und daß er ein in jeder Beziehung unabhängiger Mann ist. Die Machtfülle eines solchen richterlichen Kollegiums hat für mich nicht wie für Glaser etwas Erschreckendes, sondern im Gegenteil etwas Beruhigendes und zugleich Jmponirendes. Über dem Getriebe der Parteien, den Leidenschaften der Regirenden und der Regirten steht, lediglich von dem Gesetze abhängig, berufen, es anzuwenden gegen Groß und Klein, gegen Freund und Gegner, der Richter in fester Unabhängig­ keit, an seine Pflicht feierlich durch seinen Eid gebunden, vor Pflichtverletzungen gewarnt durch strenge Strafsatzung, in seiner Amtserfüllung überwacht durch die Öffentlichkeit des

Verfahrens. Diese Institution wird sicher mit der Zeit die Freunde wieder gewinnen, die sie verloren hat durch den entarteten, in seiner Entartung aber doch wahrlich dem Richterstand nicht allein zur Last zu legenden Jnquisitionsprozeß, ferner durch schwer verantwortliche Versuche der Regirungen, die Richtersprüche zu beeinflussen, und endlich infolge der grade dadurch hervorgerufenen Angriffe der liberalen Parteien wider den beamteten Richter. Aber auch heutzutage noch würde wie in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Entwurf eines Gerichtsverfaffungsgesetzes, das dem deutschen Volke, also dem Reichstage, zumutete, die Mitwirkung der Laien und der unbeamteten Richter im Strafprozeß zu beseitigen, auf Annahme schon um deswillen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht rechnen können. Man mag dies beklagen, kann es aber d? Zu meiner Freude unterrichtet mich Seuffert, Über Schwur­ gerichte und Schöffengerichte S. 22, die Jahre 1866 und 1870 hätten die Folge gehabt, „daß man über die Anhänger des reinen Beamtengerichts zur Tagesordnung überging". Diese Geschichtsauffassung der Jahre 1866 und 1870 ist ebenso neu, als die Vorstellungen desselben Verf. über altgermanisches Strafrecht auf S. 11.

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nicht leugnen, und deshalb haben die beiden ersten Entwürfe einer deutschen Strafprozeßordnung und der erste Entwurf eines Gerichtsoerfasfungsgesetzes damals ganz recht gehabt, wenn sie das rein rechtsgelehrte Beamtengericht beiseite ließen und ihre Vorschläge innerhalb der Grenzen des Erreichbaren zu halten suchten. Diese Entwürfe wollten aber nicht nur für Strafsachen die rein rechtsgelehrten Beamtengerichte, sondern auch die Schwurgerichte beseitigen. Solche Kühnheit ist als unpolitisch selbst von Gegnern der Schwurgerichte vielfach getadelt worden. Ich kann weder in den Tadel einstimmen, noch seine Motivirung billigen. Wer die Geschichte der deutschen Strafgesetz­ gebung seit 1848 überblickt, der muß mit Bedauern wahr­ nehmen, daß sich der Gesetzgeber viel zu sehr dem Drucke der politischen Tagesmeinung gebeugt und hochzuhaltende Inter­ essen der Rechtspflege ihr zum Opfer gebracht hat. Es lag Folgerichtigkeit in der Inkonsequenz! Denn auch die Regirungen ihrerseits verfolgten mit der Strafrechts- und Strafprozeßkodifikation politische Zwecke, und wollten sie die Kammern zu Konzessionen bewegen, so mußten sie ihrerseits Konzessionen machen. Umsonst ist nur der Tod! Ich hatte nun der Hoffnung gelebt, daß die deutsche Reichsgesetzgebung diesen schlüpfrigen Weg verlassen werde. Ihr Beruf war es, wenigstens zu versuchen, ob nicht strenges Festhalten des Rechts st andpunktes bei den großen Justizvorlagen unter Ausschluß politischer Hintergedanken und politi­ scher Rücksichten das deutsche Volk von seinem Mißtrauen gegen den Gesetzgeber zu heilen und zu einer rein sachlichen Prüfung der Regirungsvorschläge zu veranlassen vermöchte. Wahrlich, eine Regirung, die das Vertrauen gewonnen hätte, daß sie Gesetze vorschlüge, um Recht zu schaffen, und nicht, um aus den Gesetzen politisches Kapital zu schlagen, dürfte ruhig wagen, eine Proposition, die sie für gut hält, auch in Widerspruch mit der herrschenden Volksneigung zu stellen: und sie könnte vielleicht auf deren Bekehrung, jedenfalls

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auf leidenschaftslose Prüfung der Vorschläge seitens der ge­ bildeten Stände rechnen! Freilich, wenn der Regirungsvertreter bei einer so eminent wichtigen Vorlage wie der des Strafgesetzentwurfes am 22. Februar 1870 im Reichstag er­ klärt, daß selbst die bedeutenden juristischen Gesichtspunkte hiebei hinter den politischen zurückzutreten hätten, so heißt dies ja gradezu alle Welt zu dem Mißtrauen auffordern, daß die Regirung auch bei solchen Gesetzcsvorschlägen, wo alles auf Gerechtigkeit ankommt, die Justiz an die Peripherie und die Politik ins Zentrum stelle. Wenn aber der Justizminister der Justiz untreu wird, wer soll ihr treu bleiben? Man versuche doch einmal, sachlich und formell gute Ge­ setze zu machen: und die von selbst eintretende günstige politische Wirkung wird weit größer und dauerhafter sein als bei einer absichtlich politischen Gesetzmacherei! Ganz im Einklänge mit dieser Anschauung hatten es die Prozeßentwürfe damals zugleich ehrlich und geschickt ver­ mieden, politische Erwägungen ungehörig in den Vorder­ grund zu drängen. Sie wie ihre Motive wendeten sich aus Überzeugung an die Überzeugung: und die gute Wirkung ruhiger Sachlichkeit war unverkennbar! Die Regirung durfte freilich bei diesem ersten kühnen Versuche nicht darauf rechnen, daß auch die politischen Parteien, welche das Schwurgericht „als schönsten Edelstein in der deutschen Strafgerichtsverfassung" zu preisen pflegen, sofort in ähnliche sachliche Erwägung eintreten würden. Es ist kein kleiner Schritt von der leichten schönklingenden De­ klamation zur verständigen sachlichen Debatte! Eine an­ gefachte Parteibewegung gegen die Regirungsvorschläge war vorauszusehen, und es mußte die Regirung ihre Maßregeln darauf hin getroffen haben. Auch war ihre Stellung dieser Bewegung gegenüber durch ihre bisherigen Schritte klar vorgezeichnet. Sie hatte mit glänzender Objektivität und in jener einfachen Schlichtheit, die den Ohren der Hörer eingeht

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und ihr Urteil bestimmt, die Mängel der Rechtsfindung im Geschworenengericht klar gelegt; sie hatte in einer offiziellen Denkschrift den Vorzug des Schöffengerichts vor dem Schwur­ gericht bewiesen; sie hatte in einem „Nachtrag zu den Motiven des Entwurfs einer deutschen Strafprozeßordnung" (Berlin 1874) auf 135 Quartseiten günstige Erfahrungen über das Schöffengericht in seiner Wirksamkeit zusammengestellt; sie konnte und durfte sich nicht Lügen strafen lassen und ihre eigenen wohlgepflegten Kinder plötzlich verleugnen. Sie mußte, sollte ihr Ansehen auf dem Gebiete der Justizgesetzgebung nicht schweren Schaden leiden, ihren Schöffengerichtsentwurf als ihren Vorschlag vor den Reichstag bringen und ihn dort vertreten. Und wenn dies kühn und geschickt geschah, so errang aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Vorschlag den Sieg. Es ist aber bedauerlicherweise nicht geschehen. Jene Entwürfe wollten nun die Bank des deutschen Straf­ gerichts erster Instanz durchweg besetzen mit je zwei Elementen: mit ständigen rechtsgelehrten Richtern und mit wechselnden unbeamteten Schöffen, die regelmäßig Laien sein würden, aber dies nicht zu sein brauchten. Alle erkennenden Strafgerichte sollten danach zerfallen in Große, Mittlere und Kleine Schöffengerichte. Das kleine Schöffengericht sollte aus dem Amtsrichter und zwei Schöffen, das mittlere und große aus je drei Mitgliedern der Strafkammer und vier bzw. fechs Schöffen bestehen. Über die Aufgabe dieser Schöffen äußerte sich die Denk­ schrift (S. 22) dahin: „Die Laien sollen nicht bloß an der Urteilsfällung in ihrem ganzen Umfange, also einschließlich der Strafzumessung, teilnehmen, sondern auch bei allen sonstigen im Laufe der Hauptverhandlung vorkommenden Entscheidungen mitwirken, sofern diese nicht von dem Gesetze dem Vorsitzenden allein zugewiesen sind." Man sieht, daß der Entwurf die sämtlichen Strafgerichte erster Instanz aus einem einzigen Grundgedanken heraus organisiren wollte. In weiterem Umfange als irgendwo in

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Deutschland, mit Ausnahme Württembergs, sollte der Lieblingsgedanke der Gegenwart, die Mitwirkung der Laien als unbeamteter Richter bei der Strafrechtspflege, verwirklicht werden; alle Gerichte erster Instanz sollten sich zusammensetzen aus gleichwertigen Mitgliedern, denen allen der gleiche Teil an der Fällung der richterlichen Entscheidungen zukommen sollte. Es ist bekannt, wie die Regirung diese Vorschläge selbst fallen ließ, und wie sie Gesetz nicht geworden sind. Auf diesen Grundgedanken hat dann aber 30 Jahre später „die Kommission für die Reform des Strafprozesses" von 1903—1905 zurückgegriffen und, um in Konsequenz ihres Vorschlags die Berufung wieder einzuführen, die Form des Schöffengerichts auch auf die Berufungsgerichte ausdehnen wollen. Und in der Tat: Soweit Kollegialgerichte für nötig oder wünschenswert gehalten, die rein rechtsgelehrten Beamten­ gerichte und die Schwurgerichte aber verworfen werden, so­ weit bleibt das Schöffengericht als das allein mögliche übrig. Nun sind aber in neuester Zeit bezüglich der richtigen Besetzung der deutschen Strafgerichte anderweite wichtige Fragen aufgeworfen worden, so daß, wer das zweckmäßige Strafgericht Deutschlands klarstellen will, sich nicht begnügen darf, jetzt etwa nur noch den Wert des Schöffengerichts im Verhältnis zum rechtsgelehrten Beamtengericht und dem Schwurgericht zu erörtern. Er muß weiter ausholen, ins­ besondere auch der so viel besprochenen Frage nach der Ver­ einfachung unserer ganzen Strafgerichtsverfassung näher treten Großes Aufsehen hat der Fehdebrief gemacht, den Ad ickes unter dem Titel: „Grundlinien durchgreifender Justizreform", Berlin 1906, gegen unsere ganze Gerichtsverfassung erhoben hat. Die zum Teil sehr beachtliche Schrift ist aber auch sehr einseitig und schüttet gern das Kind mir dem Bade aus. Ihr Vorschlag bezüglich der Strafgerichte: „einerseits Amts- und Schöffengerichte mit summarischem Verfahren und Berufung und auf der andern Seite Geschworenengerichte für mittlere und schwere Fälle (I!) ohne Berufung" (S. 104/5) ist ganz unglaublich. — Adickes hat dieser Schrift ein

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I. Die Bedeutung der ersten Instanz. Jnstanzensucht. Zahl der Erstinstanzgerichte. 1. In demselben Maße, in dem wir die Zahl der In­ stanzen vermindern, steigt nicht nur das Ansehen der Ge­ richte erster Instanz, sondern das der Gerichte überhaupt. Nichts hat deren Autorität tiefer untergraben als die ab­ scheuliche Krankheit der „Jnstanzensucht". Solange ich auf dem Katheder gestanden, habe ich meine Zuhörer vor ihrer Ansteckungskraft gewarnt. Neuerdings ist auch Adickes energisch wider sie vorgegangen Wenn Staatsorgane wie die Zweitinstanzgerichte nur dazu da sind, um — einmal bildlich zu sprechen — nach unten Nasenstüber auszuteilen und sie von oben zu empfangen, so muß ja die ganze Or­ ganisation verächtlich werden. Warum schafft man denn Ge­ richte, deren Sprüche beständig korrigirt werden müssen? Mit andern Worten: warum besetzt man das Erst­ instanzgericht nicht so gut, daß so selten als irgend möglich ein Rechtsmittel gegen sein Urteil erfolgreich eingelegt werden kann? Für die Rechts­ pflege wäre unendlich viel vorteilhafter, wenn die erste Instanz wirklich gut und die zweite Instanz mittelmäßig wäre, als wenn über einer mittelmäßigen ersten Instanz eine gute zweite stände. Das läuft freilich ganz gegen die Ansichten der gesetzgeberischen Kreise des Deutschen Reichs, denen wir die neuesten offiziösen strafprozessualen Entwürfe verdanken, deren Weisheit vielmehr dahin geht: schlechte ErstinstanzJahr später eine zweite „Zur Verständigung über die Justizreform", Berlin 1907, folgen lassen. Seinen ganz unannehmbaren Vorschlägen bezüglich der Reform der Strafgerichtsverfassung setze ich denselben Widerspruch wie Oetker, Gerichtssaal OXXIV S. 260 ff., entgegen. Es fehlt bei Adickes durchaus die Kenntnis und das Verständnis der deutschen Praxis. Sein Steckenpferd, die Richterersparnis, reitet er bis zur Erschöpfung. Seine Reformvorschläge sind zu nicht geringem Teile Verschlechterungsvorschläge. Gegen Adickes sehr beachtlich auch Stein, Zur Justizreform, 1907. "o Treffend bemerkt Adickes, Grundlinien S. 103: „In der That, unsere Einrichtungen sind gradezu ein Anreiz zum Anrufen höherer In­ stanzen und eine Verlockung zum prozessualen Glückspiel."

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gerichte und darüber mittelmäßige Berufungs­ gerichte. Wer aber ernsthaft für eine Berufung im münd­ lichen Verfahren sein kann, von dem behaupte ich, daß er es einfach nicht versteht, und von der raschen Verschlechterung der Beweismittel überhaupt und schon gebrauchter Beweis­ mittel noch ganz insbesondere keinen Begriff hat"". Berufung gegen Strafurteile des mündlichen Prozesses bedeutet eine Berufung vom zuäsx melius mtormatus aä zuäiesm pozus inkormatum — also einen Widersinn. Also nur eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen die Urteile einermög­ lichst guten ersten Instanz — nie mehr als zwei Instanzen 2. Ehe ich auf die Garantien dieser Güte eingehe, möchte ich auf die Zahl der Arten der Erstinstanzgerichte eingehen. Das Reichsgericht als Hoch- und Landesverrats­ gericht lasse ich beiseite. Zu Folge der furchtbaren Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen und

ihrer völligen Unbrauchbarkeit für die Verteilung der sach­ lichen Gerichtsbarkeit sind wir zu einer gradezu abscheulichen Abgrenzung der Zuständigkeit unter drei Gerichte erster In­ stanz gedrängt worden. Die Organisation läßt sich aber ungemein günstig ver­ einfachen, wenn man sich mit dem Gegensatz von Amtsgericht und Landgericht begnügt, dementsprechend die strafbaren Handlungen in die zwei Gruppen der leichteren und schwereren einteilt — auf die Abgrenzung derselben gegen einander hier genauer einzugehen habe ich keinen Anlaß —, und die 100 Gut Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie S. 186: „Die Quotienten aus Behalten und Vergessen verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit." Wie unendlich oft erlebt der Richter schon der ersten Instanz, daß der Zeuge, dem der Widerspruch seiner Aus­ sage mit der der Voruntersuchung vorgehalten wird, durchaus glaubhaft sagt: „Was ich damals gesagt, war durchaus richtig! Ich kann mich heute nicht mehr so genau entsinnen." Und nun denke man sich dies Gedächtnis noch ein paar Monate abgeblaßter! ioi Den erbärmlichen Ausdruck „Revision" müssen wir auch los werden.

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leichteren dem Amtsgericht, alle schwereren aber dem Landgericht überweist. II. Kollegialgericht und Einzelrichter. Das geltende Recht steht durchaus auf der Überzeugung von der unbedingten Überlegenheit des Kollegialgerichts über dem

Einzelrichter. Dessen heutige Vollmacht zur Urteilsfindung ist minimal. Aber das Ansehen des Einzelrichters ist zur Zeit in steigendem Wachstum begriffen. Grade sein Lob hat ganz besonders Adickes verkündet. Unheimlich wächst seine Zuständigkeit in den neueren deutschen Entwürfen. Schon die Strafprozeßkommission hatte — wenn auch erst in zweiter Lesung — leider den Beschluß gefaßt, für alle Übertretungen solle der Amtsrichter ohne Zuzug von Schöffen zuständig sein ^2. Der Entwurf von 1909 erweitert in § 23 Abs. 2 des GVG. seine Zuständigkeit auch noch auf alle Vergehen, die nur mit Geld bis 300 Mk., allein oder neben Haft oder in Verbindung mit Einziehung bedroht sind, sowie auf die nach GewO. 8 146 g, strafbaren Vergehen. Daß der gute Amts­ richter mit den Bagatellfällen der Übertretungen müßte fertig werden können, bin ich der Letzte zu leugnen. Aber grade dazu sind seinerzeit die Schöffengerichte in Hannover eingeführt worden, daß in den kleinen Strafsachen, worin es sich so oft um einen Konflikt des Untertanen mit der Polizei­ norm oder dem Polizeibefehl handelt, die Strafe nicht vom Staatsrichter allein verhängt werde. Nichts wäre unkluger und verderblicher, als diesen politisch so klugen und gesunden Gedanken für die neue Gerichtsorganifation fallen zu lassen! Auch ich bin durchaus für die Verwendung des Einzel­ richters in einem vereinfachten Verfahren, aber nur in den zu seiner prinzipiellen Zuständigkeit gehörigen Fällen, in denen entweder volles Geständnis oder Betretung auf frischer S. Protokolle I S. 381; II S. 9 ff. 355.

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Tat vorliegt, und in welchen zugleich die Zurechnungsfähig­ keit des Angeklagten dem Richter nicht zweifelhaft ist. So gut aber auch der Einzelrichter sein mag — seine Fehlbarkeit ist jedenfalls relativ viel größer als die des guten Richterkollegiums, worin jedes Mitglied bei seiner Urteilsfindung stets von den übrigen Mitgliedern kontrollirt, berichtigt, auf ein Versehen oder Verhören aufmerksam ge­ macht werden kann"^. Dankbar gedenke ich der guten Erfahrungen, die ich im Gericht an mir selbst gemacht habe, obgleich es mir kaum an den nötigen Rechtskenntnissen und vielleicht auch nicht an der Fähigkeit zur richtigen Auffassung der vorgelegten Be­ weismittel gefehlt hat. Wahrlich, mit bestem Grunde sind alle unsere erkennen­ den Strafgerichte kollegial organisirt ! Aber ein Glaubenssatz, der dieser Organisation zu Grunde liegt, ist als unrichtig anzufechten. Die Güte und die Leistungsfähigkeit eines Kollegialgerichts wächst nicht im gleichen Verhältnis zur Zahl seiner Mitglieder. Sehe ich ein­ mal von der Zwölfzahl der Geschworenen ab, die sich ge­ schichtlich erklärt und die wol mit Rücksicht auf die Hilflosig103 Noch immer beachtlich Feuerbachs Philippika gegen den Einzel­ richter im mündlichen Verfahren, Öff. u. Mündl. S. 345 ff. io4 In seinen „Gedanken und Erinnerungen" hat Bismarck I S. 13 gesagt: „Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entscheidungen an Ehrlich­ keit und Angemessenheit dadurch nicht gewinnen, daß sie kollegialisch gefaßt werden; abgesehen davon, daß Arithmetik und Zufall bei dem Majoritäts­ votum an die Stelle logischer Begründung treten, geht das Gefühl persön­ licher Verantwortlichkeit, in welcher die wesentliche Bürgschaft für die Ge­ wissenhaftigkeit der Entscheidung liegt, sofort verloren, wenn diese durch anonyme Majoritäten erfolgt." Hier urteilt die automatischste Natur des 19. Jahrhunderts nach Napoleon über das Kollegialsystem und schüttet dabei das Bad mit dem Kinde aus. Das Kollegialprinzip tut doch wahrlich der „Ehrlichkeit" der Entscheidung keinen Abtrag und läßt auch das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit unberührt. Denke man sich, ein Richter könne den Angeklagten zum Tode verurteilen, so wäre ihm bei dem Bewußt­ sein seiner Fehlbarkeit ein Übermaß von Verantwortung zugewiesen. S. auch Kisch, Unsere Gerichte S. 17 ff.

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keit der Geschworenen beibehalten worden ist, um den Ein­ zelnen nicht mit zu großer Verantwortlichkeit zu belasten, so halte ich Plenarentscheidungen eines großen Gerichtshofes für gradezu unsinnig — die Mehrheit ist dann nicht eine Mehr­ heit des Intellekts, sondern des Zufalls ; der vereinigte zweite und dritte Strafsenat des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratsprozessen leistet zusammen sicher nichts Besseres, als Jeder der beiden Senate für sich selbst geleistet haben würde — eine Ansicht der, soviel ich weiß, das Reichsgericht selbst beipflichtetJa selbst die Siebenzahl der Mitglieder in den Reichsgerichtssenaten scheint mir eine Kraftvergeudung zu bedeuten. Ein Hinausgehen über die Fünfzahl halte ich auch in der höchsten Instanz nicht nur nicht für geboten, sondern für bedenklich. „Wo die Menge, da ist Irrtum," sagt das deutsche Sprichwort"". Die größere Zahl gefährdet m. E. die feste Konsolidirung des Gerichtshofes. Die Fünfzahl bietet außer­ dem den großen Vorzug, daß die zur Bejahung der Schuld­ frage jedenfalls beizubehaltende Zweidrittelmajoritüt fast die Einstimmigkeit des Gerichtes bedeutet. So komme ich ganz von selbst zur Dreizahl von Richtern für das Strafgericht unterer und zur Fünfzahl für das höherer OrdnungDaß der Revisionshof reicher besetzt sei, halte ich für schlechterdings nicht notwendig; er soll auch nicht älter besetzt sein — aber besser! Die erprobte Auslese der Richter soll darin ihren Sitz finden. Das Anciennitätsprinzip ist stets das Grab der Tüchtigkeit! III. Der junge Richter. In Strafsachen gerecht ur­ teilen, ist eine große Kunst, deren Ausübung ohne bestimmte lob Ebenso äußerte sich der Staatssekretär des Reichsjustizamts Nieberding im Reichstag am 12. Jan. 1898 (Verhandi. I S. 388). roe S. auch Hegler, Zf.StrRW. XXXIII S. 237. Gleicher Ansicht das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914 Z 18, 2. ioi Graff und Dietherr S. 414 N. 99. io» Stein, Zur Justizreform, meint S. 77: „Drei erfahrene Richter beim Oberlandesgericht, vielleicht sogar auch beim Reichsgericht, sind genug." Dem kann ich nicht beitreten.

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Voraussetzungen undenkbar erscheint. Dazu sind unentbehr­ lich außer der Rechts- und Gesetzeskenntnis große Lebens­ erfahrung, ein tiefer Einblick in die Verbrecherwelt, reiche Er­ fahrung in der Würdigung der Beweise, ganz besonders der Zeugenaussagen und der Indizien, endlich ein gestählter Charakter, der die Regungen der Gefühle niederhält und allen Versuchungen gegenüber das Recht zur Geltung bringt. Mit gutem Grund hat man daraus gefolgert, daß auch der sog. fertige Jurist zu Anfang seiner Laufbahn noch nicht auf den Sessel des Richters gehört. Ihm fehlen noch fehr wichtige Stücke des zum Urteilerberuf nötigen Betriebskapitals. Am allerwenigsten taugt er zum Einzelrichter und zum Leiter des Schöffengerichts — also zum Amtsrichter! Weit­ aus das Beste wäre, erprobte Rechtsanwälte, die sich eine ruhigere Tätigkeit ersehnen, zu Richtern zu ernennen, wie dies ja in den Hansastädten wol auch heute noch die Regel bildet. Freilich widerstreitet diese Forderung der Praxis aller der deutschen Staaten, in denen der junge Jurist von Anfang an die Richterlaufbahn als eine besondere betreten kann. Unleugbar aber ist dies eine dem guten Richtertum sehr ab­ trägliche Einrichtung. Und für ganz besonders verwerflich halte ich die Praxis, den jungen Juristen sofort auf den Stuhl des Amtsrichters zu setzen. Der urteilende Amtsrichter müßte zuvor wenigstens eine Anzahl von Jahren als jüngeres Mit­ glied im Kollegialgericht mitgearbeitet haben. Jedenfalls kann der deutschen Justizverwaltung der Vor­ wurf nicht erspart werden, die Rechtsprechung in viel zu großem Umfang in viel zu junge Hände zu legen.

IV. Der Eintagsrichter. In ganz seltsamer Naivi­ tät hat die ganze Bewegung für Verwendung des Laien­ richters sich diesen stets als „Eintagsrichter" gedacht. Ja in der Frische dieser Eintäglichkeit wurde einer seiner Haupt­ vorzüge gefunden"". Und doch versteht sich bei *09 S. oben S. 64. 65.

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näherem Zusehen von selbst, daß von allen Richtern der Eintagsrichter der allerschlechteste sein muß. Er fühlt sich als unsicheren Neuling, und diese Unsicherheit verstrickt ihn in eine Abhängigkeit nach der andern: von seiner Unwissenheit, von seinen Vorurteilen, von seinen Empfindungen, von den Anschauungen der Kreise, aus denen er morgens heraus- und in die er abends wieder Hineintritt, von dem kundigen Richter, der neben ihm sitzt, von den Zeugen, den verlesenen Urkunden, den Parteien und ihren Vor­ trägen, vom Aussehen und den Äußerungen des Angeklagten insbesondere, von dem Publikum im Zuhörerraum, von allen diesen neuen Eindrücken, zu deren richtiger Auffassung wie Beurteilung ihm zunächst nichts weniger als Alles fehlt. Es hat Görres"" mit Erfolg versucht, sich in die Seele eines solchen Eintagsgeschworenen zu versetzen, und gezeigt, wie sie, durch die neuen Eindrücke sozusagen überwältigt, ganz außer Stande ist, die einzelnen prozessualen Akte richtig auf­ zufassen, deren Fülle zu ordnen, also ihrerseits zu bewältigen, insbesondere zu erkennen, worauf es der rechtlichen Betrachtung allein ankommen kann. Es ist aber die Urteilsfindung nicht nur Sache eines durch­ geschulten Intellekts, sondern auch Sache eines im Dienste des Rechts gestählten Charakters. Der Richter muß die Heiligkeit seiner Pflicht an der Tragweite ihrer Erfüllung erkannt haben. Wie kann man das vom Eintagsrichter verlangen oder erwarten? Treibt ihn sein Mitleid zur ungerechten Freisprechung, sein Vorurteil oder seine Angst zu ungerechter Verurteilung — wird er sich nicht vielleicht über seine Rechtsbeugung zu trösten versuchen mit dem Gedanken: „Einmal ist keinmal!"? So ist der Laie als Eintagsrichter verwerflich, und der Staat übt schweres Unrecht wider ihn, ihn die Verantwortung für ein Urteil mittragen zu lassen, zu dessen Findung ihm HO Der Wahrspruch der Geschworenen und seine psychologischen Grund­ lagen, 1903.

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alle nötigen Fähigkeiten gemangelt haben. Die teilweise Ent­ lastung der Verantwortlichkeit des beamteten Richters auf diese Kosten ist dadurch viel zu teuer erkauft. Will man also Schöffengerichte, so müssen sie mit Dauerschöffen besetzt sein, will sagen: mit Männern, die sich auf mindestens 5 oder 6 Jahre gegen mäßiges Gehalt zum Schöffendienst verpflichten, die aber nicht wie der Handelsrichter zu Staatsbeamten ernannt werden. Ob sich die genügende Zahl solcher Dauerschöffen in Deutschland finden läßt, wäre Sache der Probe. Nur da, wo sie nicht aufzutreiben wären, sollte man auf Eintags­ schöffen greifen, wenn man das reine rechtsgelehrte Beamten­ gericht schlechterdings verwirft. Richtiger wäre, in diesen Teilen Deutschlands auf Mitwirkung der Schöffen zu ver­ zichten. Es ist ja durchaus nicht notwendig, daß alle unsere arbeitenden Gerichte in der Besetzung aufs Haar überein­ stimmen. V. Der relative Wert des Schöffengerichts gegenüber dem Schwurgericht. Der relative Wert des gut besetzten Schöffengerichts verglichen mit dem des Ge­ schworenengerichts ist aber der ungleich höhere. Ja selbst dem wechselnd besetzten Schöffengericht kommt diese Überlegen­ heit zu. Es teilt mit dem Schwurgericht zwar die Eintags­ richter, beschränkt aber deren Zuständigkeit und erleichtert ihnen die Lösung der Aufgabe. Das Schwurgericht steht auf der niedersten Stufe prozessualer Organi­ sation. Eine kurze Schilderung der Hauptakte unseres deutschen Strafverfahrens, sofern sie in der Jury ihren Grund haben, und ein kurzer Nachweis, daß sie nur ungenügend reformirt werden können (s. 8. L.), mag für das Gesagte beweisen'". m Mit großem Scharfsinne und großem Erfolge hat Schwarze in seinen Schriften die Schwächen des Schwurgerichtsverfahrens und die Un­ zulänglichkeit der zu ihrer Hebung gemachten Reformvorschläge nachgewiesen. Von seinen Gegnern hat ihn hierin Niemand widerlegt, wenn auch Glaser

Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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Zugleich sollen die entsprechenden Akte des Schöffengerichts­ verfahrens zur Vergleichung zugezogen werden (s. unten s. 6.), damit klar ans Licht trete, welches Verfahren den Vorzug verdient. 1. Ein entschiedener Vorzug des Schwurgerichtsverfahrens vor dem bestehenden und auch für die Zukunft in Aussicht genommenen Schöffengerichtsverfahren mag vorausgesandt werden. Die Jury ist nur zur Teilnahme am Endurteile berufen; die auf Entscheidung prozessualer Streitfragen ge­ richteten Zwischenurteile sind ausschließlich der Richterbank vorbehalten. Nach dem geltenden Recht und auch in Zukunft sollen die Schöffen auch hierzu mit gleichem Anteile wie die beamteten Richter berufen werden. Diese Entscheidungen richtig zu fällen, ist aber unmöglich ohne die genauste Kenntnis des gesamten Prozeßrechtes ; darin jedoch hat Glaser ganz recht, daß es noch leichter ist, einem Laien die materiellrechtlichen Sätze klarzumachen, deren er zur Fällung des Endurteils be­ darf, als ihm die aufs Engste in einander greifenden Normen des Prozesses zum Verständnis zu bringen: „Man kann keine Prozeßfrage entscheiden, ohne den ganzen Organismus des Strafprozesses zu übersehen"^" Nur wenn die Schöffen Dauerrichter sind, läßt sich ihre Beteiligung auch bei allen Zwischenentscheidungen rechtfertigen. Der Eintagsrichter versteht nicht, worauf es ankommt.

2. Der Vorzug gebührt aber sofort dem Verfahren vor den Schöffengerichten, wenn Einer der markantesten Akte des Schwurgerichtsverfahrens, die berühmte und berüchtigte und Andere die Schwächen seiner eigenen Vorschläge ins Helle Licht zu stellen wissen. So ist es viel leichter, mit Wahlberg, Kritik des Entwurfes einer Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich (Wien 1873) S. 19 ff., über Schwarze spöttisch hinzureden, als gegen seine Gründe den ernsten Kampf aufzunehmen. — Vgl. auch die „Anlagen zu den Motiven des Ent­ wurfs (I) einer deutschen Strafprozeßordnung: die Rechtsfindung im Ge­ schworenengericht" S. 199—242; Anlagen zu Entwurf III S. 173—211. "2 Zur Juryfrage S. 68 A. M. Zachariae, Das moderne Schöffen­ gericht S. 46. Dagegen wieder Gneist, Vier Fragen S. 176.

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Fragestellung, der Gegenstand zahlloser juristischer Ab­ handlungen und die Quelle ebenso zahlloser Nichtigkeits­ beschwerden, ins Auge gefaßt wird. 8.. Wer die einzig bedeutende Frage an das Strafgericht zu stellen hat, ist — der Ankläger und er allein. Er tritt auf mit einem Strafanspruch, den er gründet auf eine genau individualisirte Handlung des Angeklagten und auf das Strafgesetz, welches diese Handlung zum Verbrechen stempelt: er fragt, ob sein Strafanspruch im Rechte begründet sei? Die Formulirung der Frage ist also nicht Sache des Gerichtes, sondern Sache der Partei: das Gericht hat diese Frage nur richtig zu verstehen, nicht zu stellen. Der ganze Prozeß bis zur Urteilsfällung dient allein ihrer Beantwortung. Dem ganz entsprechend nimmt das Verdikt der englischen Jury mit seinem Amlt^ oder not Anilt^ ausschließlich Bezug auf den Inhalt der Anklageschrift, das fog. mäiotmont: die An­ klage wird bejaht oder verneint. Unser französisch-deutsches Schwurgerichtsverfahren aber glaubt größere Rücksicht darauf nehmen zu müssen, daß die Geschworenen regelmäßig Laien und somit Männer sind, die sich die richterliche Aufgabe im einzelnen Strafprozeß nicht selbst formuliren können, weil sie die Frage des Anklägers nicht genügend verstehen, denen somit die Frage gestellt, und zwar wie Kindern, auf Ja oder Nein gestellt werden muß' Man vergißt dabei, wie Feuerbach seinerzeit schon schlagend bemerkt hat, daß es „eine ganz vergebliche Mühe ist, auf diese Weise den Geschworenen ein Wissen und einen richtigen Gebrauch des Wissens gleichsam einfragen zu wollen" Diese Fragestellung ist Sache des Gerichts: an seine For­ mulirung der Frage ist die Jury streng gebunden; sie muß antworten, muß die ganze Frage und nichts als die Frage mit Ja oder Nein beantworten; an ihre Antwort aber ist ii3 Diese von den Franzosen erfundene Fragestellung wird oft als Fortschritt gepriesen und ebenso oft als Rückschritt verworfen. Betrachtungen über das Geschworenengericht S. 216. 8*

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wieder der Gerichtshof streng gebunden. So ist, für den Kenner der Strafprozeßgeschichte höchst seltsam, in unsern modernen Prozeß ein Stück durch und durch formalistischen Rechtsganges ausgenommen, eine Summe von Formalakten, die an den Prozeß der I-sx galios, aus dem 5. Jahrhundert gemahnen, sich aber zu dem Streben unseres Strafprozesses, materielle Wahrheit über Schuld oder Unschuld des An­ geklagten zu erlangen, in schneidendsten Widerspruch stellen müssen. Der Schwurgerichtsprozeß ist also schon als ein durch und durch formalistischer, nur schein­ bar akkusatorischer Prozeß zu verwerfen. Diese Fragestellung hat nun eine doppelte Wirkung: zu­ nächst gegenüber dem Ankläger. Nicht die Frage, die er gestellt hat, unterliegt der Beantwortung durch die Jury, sondern eine möglicherweise erheblich abweichende. Denn eine Beschuldigung, die dem Gericht völlig unerwiesen erscheint, wird es, wenn es zu vermeiden steht, in die Frage nicht auf­ nehmen. Die Fragenformulirung bringt möglicherweise den Klageinhalt unvollständig oder mißverständlich oder gradezu irrig vor die Jury: diese beantwortet also häufig gar nicht die Schuldfrage des betreffenden Falls, sondern die Frage, welche das Gericht möglicher­ weise ohne alle Berechtigung mit ihr identifizirt hat. Die sorgfältigste Beweisaufnahme wird nicht selten durch die Fragestellung illusorisch; was den Geschworenen be­ wiesen scheint, steht nicht zur Frage ; was gefragt ist, ist nicht bewiesen: daraus resultirt ein Verdikt „Nichtschuldig", ab­ gegeben zu Gunsten einer nach Auffassung der Jury schuldigen Persönlichkeit. So feindlich steht die Fragestellung als Formal­ akt der Erlangung materieller Wahrheit gegenüber! Sie ent­ hält die definitive Unterdrückung derjenigen Bestandteile der Schuldfrage, die in die Frage des Gerichts nicht ausgenommen sind, oder auch eine definitive, wenn selbstverständlich auch unbewußte, Fälschung der vom Kläger aufgeworfenen Schuld­ frage. Wir sehen, einen Teil der Schuldsrage entscheidet der

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Gerichtshof bei Feststellung des Fragebogens dadurch, daß er ihn gar nicht vor die Jury bringt, und allein von ihm hängt es ab, diesen Teil zu bestimmen. Die Fragestellung ist tatsächlich das erste Endurteil im Schwurgerichts­ verfahren gegen den Ankläger — gefällt von der Gerichtsbank: ein Teil seiner Anklage kann dadurch de­ finitiv erledigt werden "°. Dieser Akt der Fragestellung bestimmt aber zugleich definitiv und in einer für die Jury unanfechtbaren Weise deren Anteil an der Lösung derjenigen Schuldfrage, welche nach Auffassung des Gerichtes noch übrig bleibt. Es ist bekannt, mit welchen ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten dieser Akt der Fragestellung — und keines­ wegs nur in den Fällen der Klagenhäufung — zu kämpfen hat"°. Reinlich zu lösen ist das Problem auch bei größter Beherrschung der Technik überhaupt nicht: denn stets sollen Laien verständlich gefragt werden nach dem Verwirklicht­ sein bestimmter Rechtsbegriffe, die der Frage nicht fern­ gehalten werden dürfen, obgleich die Geschworenen sie alle oder mindestens zum Teil mißverstehen. So kann es gar nicht ausbleiben, daß die Fragestellung eine unversiegbare Quelle von Nichtigkeitsbeschwerden bildet. Man mache es sich aber doch einmal klar, was die Vernichtung des Schwurgerichtsurteils bedeutet: die verhängnis­ vollste Verschleppung des Verfahrens auf lange Zeit mit ihrer unausweichlichen Folge des gänz„Die Fragestellung ist nichts Anderes, als eine anticipirte Ent­ scheidung in der Sache selbst." Denkschrift S. 18. Prozessualisch ist sie natürlich ein „Beschluß": gegenüber der Jury ein Eröffnungsbeschluß, gegenüber ihr und dem Ankläger unter Umständen auch ein Einstellungs­ beschluß. S. Glaser-Oetker III S. 245: „Nach alledem stößt die korrekte Ableitung der Frageformen aus den Strafgesetzen häufig auf nicht unerheb­ liche Schwierigkeiten . . . Gut zu fragen ist eine Kunst, die nur zu üben vermag, wer sich nicht beirren läßt am wahren Gesetzeswillen durch die Unvollkommenheiten des Gesetzesworts."

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lichen Verlustes oder der Verschlechterung der Beweismittel! Der Wegfall dieses gradezu greulichen Aktes ist ein pro­ zessualer Gewinn höchsten Wertes. Das wird freilich von Freunden der Jury lebhaft be­ stritten. Sie betonen, es sei „für jedes Kollegium, wenn es korrekt und genau verfahren wolle, nötig, sich selbst ein völliges Fragenschema aufzustellen; anders könne es gar nicht zu einem klaren Abstimmungsergebnis kommen"'." Abgesehen von der in diesen Worten enthaltenen Über­

treibung sind sie durchaus richtig. Der Hauptpunkt wird aber damit gar nicht getroffen. Daß ich großes Interesse für die korrekte Fragestellung bei der Urteilsfindung und vielleicht auch einiges Verständnis dafür besitze, glaube ich genügend bewiesen zu haben Die Fragestellung im Schwurgerichtsverfahren, die auch ich in diesem Verfahren für unentbehrlich und als eine An­ leitung der Jury zur gründlichen Beratung zugleich für nütz­ lich ansehe, ist als allgemeiner Prozeßakt gedacht so unerträg­ lich wegen seines Formalismus und wegen seiner Unabänderlichkeit'". Jeder erfahrene Richter weiß, daß nur in einer relativ kleinen Anzahl von Fällen die Fragestellung und die Ab­ stimmung Schwierigkeiten bereiten. In solchen Fällen verS. Mittermaier, bei Aschaffenburg IIS. 18. S. 2 das. wird betont, .wie unendlich viel Aufklärung und Belehrung im materiellen Strafrecht wir der Rechtsprechung über diese Einrichtung verdanken". Ich habe daraus nichts gelernt, was ich nicht vorher schon gewußt hätte. Vgl. Liepmann, Reform S. 189. Selbst Oetker, Gerichtssaal I.LVII S. 100, hält den Zwang der strengen Fragestellung für „wohlthätig, denn er dient der Gründlichkeit und damit der Gerechtigkeit des Urteils". "s S. die Ausführungen in meinem Grundriß des Strafprozesses, 5. Aufl. S. 169 ff. Dazu Oetkers Urteil in Gerichtssaal UV S. 439 und die Abhandlung II dieses Bandes. uv Treffend bemerkt Kriegsmann, Schwurgericht!. Berichtigungs­ verfahren, bei Mittermaier und Liepmann I S. 255: „Die Formalisirung der Fragestellung begünstigt solche Mißverständnisse (der gestellten Frage), und sie begünstigt ihre Verdeckung."

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greift sich vielleicht anfangs der Vorsitzende, und seine Vor­ schläge erregen dann Bedenken. Sofort werden Fragestellung und Abstimmungsmodus zur Debatte gestellt, und mit oder ohne besondere Abstimmung kommt es zu einer Änderung der Fragestellung oder des Abstimmungsmodus. Nun ist sehr leicht möglich, daß sich im Fortgang der Abstimmung wieder die Unbrauchbarkeit der getroffenen Änderung herausstellt. Sofort ist das Gericht bereit und berufen, die Abstimmungs­ frage ganz neu aufzurollen, alle bisher gefaßten Beschlüsse umzustoßen und die ganze Abstimmung gemäß der neu ge­ wonnenen Einsicht neu zu beginnen. Mit andern Worten: die Fragestellung unter­ liegt der denkbar elastischsten Behandlung, und grade diese ist für sie die allein angemessene. Es wäre eine Torheit sonder Gleichen, zu Gunsten des Formalis­ mus und der Unwandelbarkeit der gestellten Fragen einen Fragebogen nach Analogie des im Juryverfahren Eingeführten auch in den übrigen Gerichten der Urteilsfindung zu Grunde legen zu wollen. Warum denn Formalismus und Schriftlich­ keit statt sachgemäßer Schmiegsamkeit und Mündlichkeit des Verfahrens? Darum fort mit dem Fragebogen! 3. Mit diesem Fragebogen in der Hand betreten nun die Geschworenen ihr Beratungszimmer ^». Je schwieriger es ist, die Frage zu stellen, um so schwieriger ist es auch, und zwar grade für Laien, gestellte Rechtsfragen einzeln oder in ihrem vielleicht sehr verwickelten Zusammenhangs zu ver­ stehen ; der Gerichtshof aber ist nicht zugegen, um auftauchende Mißverständnisfe sofort aufzuklären. Wie häufig muß des­ halb die Jury die Frage mißdeuten! Sie beantwortet dann den Wechselbalg von Frage, den sie der richterlichen unter­ geschoben hat, und sowol die Frage des Anklägers, als die des Richters bleiben unbeantwortet. Nur 12» über den Segen des Wegfalls der Rechtsbelehrung als selbständigen Prozeßaktes s. unten S. 135.

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in den alleroffenkundigsten Fällen kann dann der Gerichtshof die Jury zum Berichtigungsverfahren in ihr Sitzungszimmer zurücksenden: berichtigt sie nicht, so bleibt ihr Verdikt in Kraft. Trotz seines harten Inhalts findet das Urteil Eines der er­ fahrensten und befähigsten Geschworenengerichtspräsidenten die Billigung Heinzes: die Tätigkeit der Jury in ihrem Zimmer bilde die dunkelste Seite des ganzen Instituts. Sollte aber auch kein Mißverständnis der gestellten Fragen Platz greifen, so müssen die Geschworenen oft in die größte Bedrängnis wegen ihrer Rechtsunkenntnis geraten, und ihr Verdikt fällt unrichtig aus, weil sie ohne alle Schuld an eine Aufgabe gestellt werden, zu deren Lösung ihnen die Kennt­ nisse fehlen. Die Unrichtigkeit des Verdikts ist dann aber meist gar nicht zu erkennen: denn es lautet auf Ja oder Nein, besitzt keine Entscheidungsgründe und über die Ver­ handlungen im Sitzungszimmer wird keine Rechenschaft ge­ geben. Das, was dennoch transspirirt, läßt die traurigsten Befürchtungen über diese Vorgänge als gerechtfertigt erscheinen. Wissen die Zwölf doch oft nicht einmal die einfachsten Grundsätze der Abstimmung in Kollegien, und sollen sich in folgenschwerster Schülerarbeit einen über Tod oder Leben des Angeklagten! Das Verdikt ist juristisch das erste, tatsächlich das zweite Endurteil im Schwurgerichtsverfahren, gefällt von der Geschworenenbank. Es ist Voll­ urteil der Jury, weil ihre Zuständigkeit erschöpfend, für den ganzen Prozeß aber nur Teilurteil, weil nur die Hälfte, eigentlich nur ein Dritteil der Urteilsaufgabe erledigend. Dieses Teilurteil darf sich seltsamerweise des Streitgegen­ standes nie unmittelbar bemächtigen, weil es nur die Frage des Gerichtshofes beantwortet, und häufig, besonders bei falscher Stellung der Frage und bei Mißverständnissen der Frage, gar keine Antwort auf die Frage des Klägers ent­ hält. Wie der Lichtstrahl durch gewisse Kristalle doppelt geS. darüber noch unten S. 121. 122.

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brachen wird, so im Schwurgerichtsprozeß die Frage des An­ klägers zuerst durch die Fragestellung, dann durch das Verdikt. 4. Das Verdikt aber, richtig oder falsch zustande ge­ kommen, infolge regelrechter oder regelwidriger Abstimmung, ist wieder bindend für den Gerichtshof. Die Jury revanchirt sich: bis jetzt Dienerin, macht sie sich durch das Verdikt zum Herrn des Gerichtshofs Dieser soll, gestützt auf den Spruch der Geschworenen, das letzte Endurteil fällen. Allein auch das Verdikt ist nicht selten dunkel und mißverstehbar; der Gerichtshof, der ja wieder in seiner eigenen Zelle getrennt von den Geschworenen arbeitet, weiß oft nicht, wie es gemeint ist: ihn bindet nicht die Meinung der Jury, sondern das Wort ihres Verdiktes, und so kann aus diesem Grunde wieder das Endurteil des Gerichtshofes mit dem Endurteil der Geschworenen­ bank in Widerstreit treten. Grade hier macht sich der sog. „Mangel von Entscheidungs­ gründen" beim Verdikt sehr fühlbar'^. Ich gehöre wahr­ haftig nicht zu denen, welche die „Gründe" grenzenlos über­ schätzen, wie es leider das Reichsgericht bei der ganz verfehlten Publikation seiner Entscheidungen tut. Aber kurze und gute Gründe dienen sehr zur Stätigung des Ur­ teils und zur Erhöhung seines Ansehens. Freunde des Schwurgerichts haben in richtiger Erkennt­ nis dieses Mangels der Verdikte vorgeschlagen, sie mit Gründen zu versehenDieser Gedanke aber ist ganz undurchführ­ bar. Der Geschworene braucht gar keinen Grund für seine 122 Richtig Glaser-Oetker III S. 440: „Die Annahme des Verdikts im Sachendurteil ist die notwendige Konsequenz seiner erkannten Mangel­ freiheit. Sie ist nicht Bestätigung." i23 Sehr richtig meint Goerres, Der Wahrspruch S. 72, daß in unserer stets nach Gründen und Beweisen fragenden Zeit „die Spruchpraxis der Geschworenen dasteht wie ein erratischer Block". Die Wahrsprüche ver­ kündeten als einzigen Grund ihrer Wirksamkeit stets wieder den Satz: Oar tsl 68ti notro p1ai8ir. i24 S. etwa Mittermaier, bei Aschaffenburg II S. 21. 22.

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Abstimmung anzugeben; formell ist er berechtigt, jede andere Frage als die auf Schuldig oder Unschuldig abzulehnen. Er kann vollkommen unsicher sein, ob er Unzurechnungs­ fähigkeit oder Notwehr annimmt, ist aber ganz sicher, für Nichtschuldig zu stimmen. Wie soll man dieser Rechtslage gegenüber die Gründe der gesamten Jury für ihren Spruch formuliren können? Und wenn man es könnte, wer sollte sie formuliren? Und wann sollte dies geschehen? Doch vor Verkündigung des Verdikts! Und wenn der Fall unendliche Komplikationen aufweist? Wie lange soll der Angeklagte denn auf sein Schicksal warten? Und wenn die Gründe mit dem Verdikt nicht stimmen? Soll die Jury dann zur Berichtigung des Verdikts oder wenigstens seiner Gründe wieder zurückgeschickt werden? Kurz: das Verdikt ohne Gründe ist das einzig mögliche! Sehe ich recht, so wünschen auch die Verteidiger der Gründe für das Verdikt viel weniger solche Gründe, als eine Ent­ stehungsgeschichte des Verdikts, um beurteilen zu können, ob es nicht — wie es sich sicher oft trifft — ganz monströs zu­ stande gekommen ist. Und wenn es nun in Inhalt ganz vernünftig, aber in seiner Entstehungsgeschichte ganz un­ geheuerlich ist — wie dann? Die Freunde der Jury lassen es eben durchaus an dem nötigen Vertrauen zu ihr fehlen. Kehren wir aber noch für einen Augenblick zurück zu der Urteilsfindung des Gerichtshofes auf Grund des Verdikts, sofern er nicht zur Freisprechung gelangt. Es ist doch eine gradezu abscheuliche Ironie, dem rechts­ gelehrten, im Amte geschulten Richter nicht den schwersten, sondern den leichtesten Teil der Urteilsfindung, die sog. Straf­ frage zu überweisen, deren Beantwortung bei allen absolut bestimmten Strafgesetzen in einfacher Einsetzung der absolut bestimmten Strafe besteht. Dazu bedarf es wahrhaftig keines geschulten Richters.

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Handelt es sich aber um die Auswerfung der relativ be­ stimmten Strafe, so kann, wie schon oben dargelegt der Gerichtshof grade weil er sich ohne jede Fühlung mit der Jury befindet, auf ihre Anschauungen darüber nur soweit Rücksicht nehmen, als das Verdikt sie erkennen läßt. Dadurch wird aber die innere Einheit zwischem dem Urteil der Jury und dem des Gerichtshofes aufs Schwerste gefährdet. Das einzige Heilmittel dagegen wäre, den Gerichtshof unter strengem Schweiggebot dem Zustandekommen des Ver­ dikts beiwohnen zu lassen. Man könnte ihn auch noch zu diesen Judasmartern verurteilen — aber es wäre doch wol der Entwürdigung zu viel! Man hat auch gemeint, die Einheit ließe sich Herstellen durch Beteiligung der Geschworenen auch an der Beant­ wortung der Straffrage. Hat man sich wol einmal vorgestellt, in welch würdige Lage die drei Richter in dem Fünfzehn­ männerkollegium geraten würden — besonders wenn ihnen die bei Findung der Verdikts bewiesenen Ungeheuerlichkeiten in den Rechtsanschauungen dieser Meister der Urteilskunst eine nach der andern entgegentreten würden? Nein! Einheit kann in diese beiden Urteile nur dadurch gebracht werden, daß sie ein Urteil werden, daß also Richter und Geschworene zu einem Kollegium vereint, sowol die Schuld als die Straffrage lösen sollen. Dann ist das Kollegium ein häßlich ungefüges, und man reduzirt seine 15 Mitglieder am besten auf 5, aber dann ist wenigstens die unerträgliche Zweizüngigkeit der Urteile vermieden. L. Der Grund der völligen Unreformirbarkeit des fran­ zösisch-deutschen Schwurgerichts liegt aber darin: es ist die Verballhornung eines in Wahrheit auch in England innerlich überlebten, weil zwiespältigen und gleichfalls unreformirbaren Institutes. Das Recht der Jury in England übertrifft das französisch­ deutsche bei weitem, weil sich in England Niemand Illusionen "° Siehe S. 48. 83. 84.

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über die Fähigkeit der Geschworenen macht, und der englische Prozeß sich nicht scheut, die Konsequenzen dieser Unfähigkeit zu ziehen. Das englische Juryverfahren kennt zunächst keinen Fragebogen und meidet damit ein wahres Meer voll der aller­ gefährlichsten Klippen: vor allem die doppelte Fragenfälschung unseres modernen Prozesses. Dann aber — und hierin ist die Stärke der englischen Einrichtung zu finden — liegt der Schwerpunkt der Gerichts­ organisation nicht in der Jury, sondern in dem einen Richter, der regelmäßig allein ihr gegenüber die Gerichtsbank besetzt. Den englischen Richter mit seiner außerordentlichen Autorität gegenüber der Geschworenenbank nach Deutschland herüber­ zunehmen, — diesen beachtenswerten Vorschlag hat noch Nie­ mand gemacht; denn unser Schoßkind ist die Geschworenen­ bank und das Aschenbrödel der Richter! Würde ihn aber auch Jemand wagen, so würde er auch sorgen müssen, unsere Richter mit dem ganzen Glanze und dem vollen Ansehen des englischen Richterstandes zu umkleiden. Nach geschlossener Verhandlung gibt der englische Richter der Jury die ollarZs, einesie bindende Anweisung. Dieser Schlußvortrag, der mit dem französischen farblosen rssums nichts gemein hat, erörtert den Geschworenen zunächst die Regeln des Beweisrechtes sla^ ok sviäsnos), die sie zur Be­ urteilung des ihnen vorliegenden Falles anzuwenden haben: er führt aus, daß und warum sie den Aussagen eines Mit­ schuldigen Glauben zu schenken oder nicht zu schenken haben, daß und warum für die Annahme dieser oder jener Tatsachen genügender Beweis erbracht sei, und schließt vielleicht mit den Worten: „Es mag eine schmerzliche Pflicht sein, es ist aber nichtsdestoweniger Ihre Pflicht, den Angeklagten schuldig zu sprechen", oder aber: „Ich glaube nicht, daß die Jury auf diesen Beweis hin mit Beruhigung und in treuer Pflicht­ erfüllung ein Schuldig sprechen könnet" Die Beispiele sind entnommen aus Glaser, Anklage, Wahrspruch und Rechtsmittel im englischen Schwurgerichtsverfahren S. 345.

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Die zweite Aufgabe dieser oÜLrAs bezeichnen die Engländer als laz^ äovn tbs la^v. Der englische Richter ist an­ erkannt der einzige Rechtskenner im Gerichts­ höfe. Er hat deshalb den Geschworenen die einschlägigen Rechtssätze vorzulegen, zu erläutern und ihnen die Richtschnur zu geben, in welcher Weise sie die Rechtssätze auf den vor­ liegenden Fall anzuwenden haben. „Es ist kein Zweifel, daß für das auf diese Weise Dargelegte der Vorsitzende den Ge­ horsam der Geschworenen in Anspruch nimmt Wie weit der Richter diesen Gehorsam verlangen will, hängt von seinem eigenen Gutdünken ab: entweder er weist, was er darf, die Geschworenen kategorisch (!) zur Freisprechung oder auch zur Schuldigsprechung an; oder aber die Anweisung ist eine hypothetische, für den Fall, daß sie gewisse Tatsachen als er­ wiesen ansehen sollten; oder aber an Stelle der Anweisung setzt er eine bloße Anleitung *^. Staatsrechtlich hat die englische Strafjury, obgleich wir sie als „Urteilsjury" bezeichnen, nicht den geringsten An­ teil an der Urteilsgewalt. Tief klafft die Kluft zwischen juäZo und juror. Die Jury ist auch heute noch formalistisches Be­ weismittel des Angeklagten, der sich auf ihren Spruch beruft. Durch das bessere Beweismittel des Geständnisses wird auch heute noch das der Jury ausgeschlossen.

Diese formalistischen Beweismittel gehören aber nach unsrer Auffassung für den Strafprozeß einer längst vergangenen Periode an. Seitdem in England der Spruch der jurats, patrias nicht mehr Gemeindezeugnis für oder gegen den Angeklagten als Genossen dieser Gemeinde war, ist die Jury in Wahr­ heit ein häßlich Zwitterding geworden, und hat jedes Anrecht *27 So Glaser a. a. O. S. 347. Ganz richtig sagt Gneist, Vier Fragen S. 155: „Mit dem Aufgeben dieser Amtspflicht der Geschworenen fallen die beiden Seiten des Schwurgerichts aus einander." Daß ganz dieselbe Auffassung von der Gebundenheit der Jury an die Rechtsbelehrung des Richters in Amerika anerkannt ist, ergeben die oben S. 32 Note 16 beigebrachten Zeugnisse.

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verloren, ein Vorbild für die Welt zu sein. Die großen eng­ lischen Richter halten die Jury, nicht die Jury sich selbst. Während aber das englische Recht sich über die Richter­ unfähigkeit der zurors ganz klar ist, lastet das französische Recht diesen schwachen Schultern die Lösung der schwersten Richteraufgabe und die volle Verantwortung für diese Leistung der Unfähigkeit auf. Mißgeburten bleiben aber Mißgeburten, auch wenn sie am Leben erhalten werden!

0. Vergleicht man nun mit dem französischen und deutschen Juryverfahren das Verfahren vor den Schöffen­ gerichten, so zeichnet sich Letzteres zunächst durch eine weit größere Einfachheit aus, und dieser äußerliche Vorzug wird zu einem inneren, sobald man wahrnimmt, daß diese Ver­ einfachung grade durch Wegfall der allerbedenklichsten, pro­ zessualisch schädlichsten Akte des Schwurgerichtsverfahrens be­ wirkt wird. 1. Zunächst fehlt der ganze verzweifelte Akt der richterlichen Fragestellung an die Geschworenen, und damit die prinzipiell verwerfliche Verwandlung der Frage des Klägers an das Gericht in eine Frage des einen Gerichtes an das andere Gericht. Dadurch und dadurch allein kommt in allen Fällen der volle Gehalt der prozessualischen Ver­ handlung unbeschnitten und in die spanischen Stiefel weniger Fragen nicht eingeschnürt zur richterlichen Würdigung behufs Fällung des Endurteils. Glaser hat diesen evidenten Vor­ zug des schöffengerichtlichen Verfahrens sehr geschickt, weil ganz im Geiste der herrschenden Vorurteile, zu eliminiren gesucht: „Die Unbequemlichkeiten der Fragestellung — meint Glaser'^, indem er die Schäden der Fragestellung sehr schonend tauft — werden weit ausgewogen durch den großen Vorteil, den es gewährt, daß dieser entscheidende Akt des Prozesses nicht im Dunkel des Beratungszimmers verschwindet. '22 Zur Juryfrage S. 69.

(Schwurgericht!. Erörter. S. 152.)

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sondern von all jenen Garantien umgeben ist, welche die öffentliche und mündliche Verhandlung der Rechtssachen an­ erkanntermaßen überhaupt gewährt." Mit andern Worten: die Aufhebung der Fragestellung ist eine Konzession an das verhaßte heimliche Verfahren, also selbst hassenswert. Selten aber ist das wahre Sachverhältnis in so falsches Licht gestellt worden. Es wurde früher ausgeführt, wie diese Formulirung der Frage für die Geschworenen durch das Ge­ richt in schneidendem Widerspruch mit dem Streben nach materieller Wahrheit und mit den Grundsätzen des akkusatorischen Verfahrens steht: ersteres, weil das Endurteil auf eine andere Frage als die vom Ankläger gestellte antwortet, letzteres weil Jemand anders als der Ankläger, der dazu allein berufen ist, der Schwurgerichtsbank die Frage vorlegt. Und wenn dieser seine Anklage in öffentlicher Sitzung erhebt, die ganze öffentliche Verhandlung sich um sie dreht, und das Ge­ richt in öffentlicher Sitzung auf die ihm öffentlich vorgelegte Rechtsfrage antwortet, soll sich die Fragestellung als „ent­ scheidender Akt des Prozesses" im Dunkel des richterlichen Beratungszimmers verbergen? Diese Befragung des einen Gerichts durch das andere fällt vielmehr ganz weg, und mit vollem Recht! Denn etwas Widerspruchs­ volleres, wie die Einpfropfung dieses Formalaktes in unser freies Anklageverfahren und die Versperrung des unmittel­ baren Verkehrs zwischen Ankläger und Richter läßt sich nicht denken! 2. Wenn das Schöffengericht sich in das Beratungszimmer zurückzieht, so kennt es die Klage und damit die ihm vor­ gelegte und von ihm zu beantwortende Frage: etwaige Zweifel über den Anklageinhalt können zur Diskussion ge­ stellt und durch dieselbe gelöst werden; Mißverständnisse der Laien finden sofort ihr Korrektiv in dem Beirat der rechts­ gelehrten Richter; für einen weiteren Akt der Fragestellung „im Dunkel des Beratungszimmers' ist gar kein Raum mehr. Nur die Beantwortung der Frage steht noch aus, und

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an dieser beteiligen sich ganz in demselben Umfange die be­ amteten und die unbeamteten Richter. Alle die ganz eminenten Nachteile, welche bei der Jury aus der Zerreißung der richter­ lichen Aufgabe und der Auflösung des einen Gerichtes in zwei Gerichtsbänke resultiren, fallen hiebei weg. Nicht lösen die Einen ausschließlich und hermetisch für sich abgeschlossen ein Stück der Schuldfrage, die Andern ebenso den Rest derselben; nicht stellen die Schöffen die gesetzlichen Strafbarkeitsmerk­ male, die Richter dann wieder den Rest der Strafzumessungs­ gründe fest: sondern die ganze Schuldfrage und die ganze Straffrage finden von demselben Kollegium ihre Erledigung. Alle einzelnen Beschlüsse werden gemeinsam gefaßt; jeder Richter kennt die ergangenen Beschlüsse samt ihren Gründen genau; jeder ist durch sie gleichmäßig gebunden und befähigt, den späteren Beschluß im Einklang mit allen früheren zu halten. Damit fällt weg, was selbst bei der besten Jury nie zu vermeiden ist: die reichlich vorhandene Möglich­ keit des Widerspruchs zwischen Verdikt und richterlicher Sen­ tenz, zwischen der Lösung der Schuldfrage einerseits und der Strasfrage andrerseits, ferner zwischen der Lösung der Straf­ frage, soweit die Geschworenen sie geben, und der der Straf­ frage, soweit sie der Gerichtshof vornimmt. Zum Glück entfällt endlich auch das häßliche, den Staat wie die Jury gleich stark bloßstellende Berichtigungsverfahren! So bringt uns das Verfahren vor den Schöffengerichten Eines der höchsten strafprozessualen Güter zurück: mit der Einheit des entscheidenden Gerichts den Sieg über die zweizüngigen und oft genug doppel­ züngigen Urteile der Schwurgerichte: die innere Einheit des Strafendurteils. 3. Im engen Anschluß hieran wird aber noch ein Anderes gewonnen, was freilich zu Glasers Vorwürfen wenig stimmen will. Während Glaser die Heimlichkeit der gar nicht vorhandenen Fragestellung tadelt, wird durch das Schöffengericht und seine Vorzüge eine ganz unerträgliche

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Dunkelheit der Schwurgerichtsurteile beseitigt. Die Jury gibt ihr Verdikt ohne Entscheidungsgründe: der wichtigste Be­ standteil des Strafendurteils, dessen Zustandekommen, grade wenn er in die Hände der Laien gelegt ist, am meisten kontrollirt werden müßte, muß ohne Begründung in die Außen­ welt treten. Daher die Sterilität der Schwurgerichtsurteile und ihrer Entscheidungsgründe daher die undurchdring­ liche Maskirung der sicher so häufigen Gegensätze zwischen dem Verdikt und seinen Gründen! Die Schöffengerichtsurteile aber lassen in ihrer Totalität Entscheidungsgründe zu Aus „dem Dunkel des Beratungszimmers", das bei der Jury nur dunkele Verdikte verlassen, treten hier die Motive des Gerichts und in ihnen der Kern der ganzen richterlichen Beratung klar an den lichten Tag. Ist dies nicht ein ganz eminenter Zuwachs für die Öffentlichkeit des Verfahrens? Steigert sich dessenWert nicht noch dadurch unendlich, daß damit die Unfruchtbar­ keit der Schwurgerichtspraxis überwunden und eine Praxis ermöglicht wird, die nicht nur reiche Anregung für die Gesetzgebung, sondern auch reiche Befruchtung für die Wissenschaft gewährt? Dadurch wird zum größten Teil schon ein Einwand widerlegt, den Gneistes gegen das Schöffengericht erhebt. Gneist will die deutsche Geschworenenbank unbedingt ge­ bunden sehen an die Rechtsbelehrung des Schwurgerichts­ präsidenten, die dieser „unter Kontrolle eines obersten Ge­ richtshofes" in öffentlicher Gerichtssitzung zu erteilen hat. 130 „Die Verdikte können nie die normale Bedeutung der Urtheile er­ langen: wesentlicher Faktor sür die Fortentwicklung des Rechts zu werden." Denkschrift S. 25. S. auch oben S. 121 ff. über diesen „bedeutsamen Vorzug des Schöffengerichts" s. H. Meyer, Die Frage des Schöffengerichts S. 41 ff.; „Denkschrift" S. 25. Vgl. auch Motive des Sachs. Entwurfs bei Schwarze, Komm, zur Strafprozeß­ ordnung des Königreichs Sachsen I S. 52. 122 Vier Fragen S. 181. 182. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. H. 9

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Dieser Faden soll eben die beiden Gerichtshöfe im Schwur­ gerichtsverfahren zur Einheit verknüpfen. Um jene Kontrolle zu ermöglichen, muß selbstverständlich die Rechtsbelehrung in offener Gerichtssitzung erfolgen, und Gneist bezeichnet es nun als einen Hauptmangel des Schöffengerichtes, daß dieser Akt in die Heimlichkeit des Beratungszimmers verlegt werde, und dadurch die übrigen rechtsgelehrten Richter Gelegenheit erhalten, auch ihre abweichende Meinung den Schöffen zur Kenntnis zu bringen. Ich will mich für einen Augenblick auf Gneists Stand­ punkt stellen. Ich nehme an, daß wirklich ein kleines Priva­ tissimum über einzelne Strafrechtsfragen, erteilt von dem Prä­ sidenten in öffentlicher Sitzung an die Geschworenen, diesen sofort etwas helfen kann — einem akademischen Lehrer fallen freilich Beispiele in Masse ein, wo sehr ausführliche Lehr­ vorträge vor einer viel lernfähigeren Zuhörerschaft für den Augenblick unverstanden geblieben sind; aber das liegt selbst­ verständlich am Lehrer! —; ich nehme auch an, daß der oberste Gerichtshof nicht nur die richtige Anwendung der Gesetze, sondern auch die Korrektheit jener Lehrvorträge zu kontrolliren vermöchte: was hindert denn, in das Schöffengerichtsverfahren ganz denselben Akt einzuführen? Die Mehrzahl der beamteten Richter? Dann nehme man nur Einen! Trägt man aber Be­ denken, diesen Akt in die Öffentlichkeit zu verlegen, so ver­

pflichte man den Präsidenten, die Rechtsbelehrung in dem Beratungszimmer vorzunehmen, und lasse ein ausführliches Protokoll darüber aufzeichnen! Aus diesem in Verbindung mit den Entscheidungsgründen und dem Protokoll über die einzelnen abgegebenen Vota dürfte sich doch zur Genüge er­ geben, ob die Schöffen der Rechtsbelehrung nachgekommen sind oder nicht. Blicke ich nun aber auf diesen Standpunkt kritisch herab, so muß ich die Frage erheben: wer kontrollirt denn nach. Gneists Auffassung, ob die Geschworenen ihr Kolleg auch verstanden haben, und ob sie nicht auf Grund ärgster Ver­

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wirrung zu ihrem vielleicht Halbwegs erträglichen Verdikt gekommen sind? Ich vermisse den Examinator! Ferner scheinen mir Richter, die gebunden sind an den Vortrag Eines ihrer Kollegen, dem Gedanken des Richtertums zu wider­ sprechen: es ist ein ganz natürlicher Zug in unsern Ge­ schworenen und Schöffen, daß, wenn man sie einmal zu Richtern einberuft, sie sich nicht gern die eigenen Beine abhacken lassen. Schließlich aber gebe ich auf Grund reicher Lehrerfahrung ein Verdikt dahin ab, daß eine momentane Belehrung über schwierige, dem Hörer ganz fernliegende Gegen­ stände in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle gar nichts hilft, daß wir also, wollen wir die Geschworenen an die Rechtsansicht des Richters binden, diesem die Befugnis er­ teilen müssen, den Geschworenen die Findung eines bestimmten Verdikts anzubefehlen. Dann findet er in ihnen zwar keine gelehrigen Schüler, aber gehorsame Diener; dann erst kommen wir zu englischen Zuständen! Dann aber wird auch von den deutschen Geschworenen eine solche Opposition gegen die Jury ausgehen, daß diese einfach über den Haufen ge­ worfen wird E. 4. So bleibt nur noch der letzte Vorwurf gegen das Schöffengericht zu berücksichtigen, allerdings ein Vorwurf schwersten Gewichts. Man verdammt es als das Grab der Unabhängigkeit des unbeamteten Richters, denkt ihn dabei freilich durchweg als Eintags-, nicht als Dauerrichter. Im Geschworenenzimmer arbeiteten die Geschworenen völlig un­ beeinflußt vom Gerichtshöfe, während die Schöffen bei ihrer gemeinsamen Beratung mit den beamteten Richtern unter den Hammer juristischer Dialektik geworfen und von diesem in ihrer Selbständigkeit zermalmt würden. Daß bei diesem ras Klassisch behauptet Birkmeyer, Strafprozeß S. 223, das Schöffen­ gericht bedeute nicht eine bessere Beteiligung des Laienelements, „als vielmehr eine Anullirung dieser Beteiligung". „Die Laien können ihre Vorzüge vor den Juristen (!) in der Beantwortung der Schuldfrage nur dann bethätigen, wenn man sie dieselbe selbständig, auf sich allein gestellt, lösen läßt." Ja: der souveräne Unverstand ist immer der beste Richter! 9*

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Vorwurfe Geschworene und Schöffen wieder fälschlich durch­ gehends als Laien betrachtet werden, liegt auf der Hand; ich will aber diese Jdentifizirung einmal momentan zugeben uud prüfen, in welchem Gerichte für die Laienrichter die größere richterliche Unabhängigkeit, die ja identisch ist mit der richterlichen Abhängigkeit allein von dem Gesetz, zu suchen sein dürfte? Nirgends nun ist die Abhängigkeit der Laienrichter von andern Mächten als dem Gesetze größer als im Geschworenen­ gericht. Zunächst hängt die Jury von der Richterbank ab: diese schneidet ihr die Fragen vor und herrscht sie an, diese und nur diese mit ja oder nein zu beantworten; und mißfällt die Fragebeantwortung der Gerichtsbank, dann kann sie die Jury zur Strafe des sog. Berichtigungs­ verfahrens verurteilen. Ist dies nicht eine ganz unerträgliche Abhängigkeit der Laien, die im Schöffengerichte vollständig fortfällt? Hier kann Jeder von den Laien Fragen aufwerfen und beantragen, die Diskussion und die Entscheidung auf diesen oder jenen Punkt mit zu erstrecken; seine Teilnahme an der Entscheidung einer Strafsache wird lediglich durch diese selbst und nicht durch richterliches Machtwort beschränkt. Dann nimmt die Jury vier Gesellen mit in ihr Be­ ratungszimmer, die ebensoviele unberechtigte Herren derselben darstellen. Zunächst die oberflächliche persönliche Kenntnis oder die volle Unbekanntschaft derGeschworenen untereinander. Bewohner des Landes und der Städte, Angehörige der verschiedensten Stände, Leute, die sich im Leben noch nie begegnet und noch nichts von einander gehört haben, sitzen neben einander, um Eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben zu erledigen. Schon die Wahl des Obmanns erfolgt nach den äußerlichsten Ein­ drücken, und doch soll er Vertrauensmann der Jury sein, und doch bestimmt seine Obmannschaft häufig das Verdikt! Wie oft erfolgen hier Mißgriffe, und wie oft bewirken diese eine Abhängigkeit der Geschworenen von einem Manne sehr

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fraglicher Klugheit! Wie unausbleiblich entstehen ferner Unterordnungen aus den allerzufälligsten Gründen: dem Redeungeübten imponirt die Wortfähigkeit des Schwätzers, dem Schwankenden die Schnellfertigkeit des Urteils, dem ein­ fachen Landmanne das ernste Wort des angesehenen Städters, dem Unentschlossenen die Hartnäckigkeit, die keineswegs immer mit der Klugheit gepaart ist, der Dreiste dem Bescheidenen, der Reiche dem Armen, der Formgewandte dem Unbehilf­ lichen! Es gibt ja überhaupt so wenige Menschen im sicheren Besitz der Gabe der Unabhängigkeit, und der größte Charakter wird unsicher, d. h. abhängigkeits­ bedürftig, wenn er zur Lösung von Aufgaben berufen wird, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Im Schöffengerichte aber fällt der Laie weit seltener seiner Personalunkenntnis zum Opfer: er sitzt neben den beamteten Richtern, die das Vertrauen des Staates zu diesem Amte berufen hat, die diese Stellung vielleicht schon länger ein­ nehmen, über die sich wenigstens häufig ein öffentliches Urteil festgestellt hat; er kann deshalb weit sicherer zu seinen richter­ lichen Genossen Stellung nehmen, und diese sind im Stande, nachteilige Beeinflussungen einzelner Schöffen durch Mitschöffen zu paralysiren. Die zweite Macht, unter welcher die richterliche Unab­ hängigkeit der Geschworenen empfindlich leidet, ist ihre leicht erregbare Empfindung, die ihr Urteil beein­ trächtigt. Sie sind grade wegen mangelnder Gewohnheit, dem Verbrechen ruhig ins Auge zu sehen, von dem Elend, was ihnen, sei's auf Seiten des Verletzten oder des Ver­ brechers, entgegentritt, heftig gepackt, von der wirklichen oder erheuchelten Reue des Angeklagten tief bewegt, von der Unverschämtheit des Beschuldigten ungebührlich gegen ihn empört. Im Beratungszimmer erhalten diese Affekte vielleicht beredte Anwälte, die den Sieg des Gefühls über das Recht um so mehr entscheiden, als der sachverständige Beirat fehlt.

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der diesen verderblichen, weil nicht unedlen Feind der Ge­ rechtigkeit mit den Mitteln einer reichen Gerichtserfahrung zu bekämpfen weiß Im Schöffengerichte sind aber die Richter trefflich geeignet, die übertriebenen Empfindungen der Schöffen zu Gunsten oder zu Ungunsten der Angeklagten zu dämpfen und zu bekämpfen und in dem Kampf zwischen Gesetzanwendung und Gefühls­ urteil den Schöffen die Pflicht der Unterordnung ihres Spruches unter das Gesetz klar zu machen. Die Richter also verhelfen den Laien grade aus falscher Abhängigkeit heraus zur richter­ lichen Unabhängigkeit. Die dritte, die Unabhängigkeit der Geschworenen beein­ trächtigende Macht ist ihre Unkenntnis des keineswegs einfachen Geschäftsganges beiBeratung undAbstimmung in kollegialen Körpern: eine Unkenntnis, die für das Zustandekommen von Beschlüssen gradezu ver­ hängnisvoll sein kann, und deren Wirkung zu paralysiren, keineswegs immer geeignete Retter aus der Not im Schoße der Jury zu finden sind. Im Schöffengerichte aber sitzt dieser Retter immer in Gestalt des beamteten Richters, der das Kollegium vor Beschlüssen bewahrt, die eben nicht Kol­ legialbeschlüsse sind. Endlich — last von least — der gefährlichste Gegner der Geschworenen: ihre Unkenntnis von Recht und Gesetz, die ihnen die Unterordnung unter Recht und Gesetz bei der Lösung rein juristischer Aufgaben unmöglich macht. O'ost au tribunal äss oonjsoturss gus ss portsnt 1'üonnsur st la vis äss llommss! äußerte treffend Prugnon in der franzö­ sischen Nationalversammlung vom 3. Januar 1791. Die „Die Jury — gesteht Glaser — ist mehr als ein wohlbesetztes Kollegium ständiger, unabhängiger, geschäftskundiger Richter der Gefahr ausgesetzt, durch politische, nationale, religiöse Leidenschaften fortgerissen, durch Deklamation und Sophismen einerseits, andererseits durch das An­ sehen der Staatsanwaltschaft oder eines voreingenommenen Präsidenten vom richtigen Wege abgelenkt zu werden." Zur Juryfrage S. 13. (Schwurgericht!. Erörter. S. 79.)

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Rechtsbelehrung unserer Präsidenten, die sie der Jury mit in ihr Beratungszimmer geben, ist ein sehr schwacher Schild gegen diesen Feind : denn erst während der Beratung wird sich zeigen, ob die Jury sie verstanden oder völlig falsch auf­ gefaßt hat. Und grade diejenigen Punkte, die den Geschworenen am meisten zu schaffen machen, kann der Präsident, ohne daß ihn irgendeine Schuld trifft — denn wer könnte den Gang der Beratung eines Kollegiums und noch dazu eines Laienkollegiums so genau vorher berechnen? — gar nicht berührt haben. Was bleibt den Geschworenen in solchem Fall übrig? Immer neue Belehrung zu erbitten? Dies wäre das Richtige, aber hart ist es auch! Viel einfacher durchhaut man den Knoten, den man zu lösen un­ vermögend ist, unbekümmert um die Wunden, die dadurch dem Gesetze selbst geschlagen werden. „Mir ist — sagt Feuerbach von den Geschworenen in ihrem Verhältnis zur Rechtsbelehrung —, als hörte ich einen geübten Fechter einem Unwissenden die Regeln der Fechtkunst erklären, und sodann auf diese Erklärung hin ihm die Zumutung machen, daß er nun sogleich einen Kampf auf Tod und Leben bestehen sollet" Und ein warmer Verteidiger der Jury, Heinze, äußert unbedenklich: „Sobald erst die täglichen Vorgänge im Innern des Geschworenenzimmers zum allgemeinen Bewußt­ sein gelangt sein werden, ... dann alsbald wird grade von hier eine nachdrückliche Gegenbewegung ihren Ausgang nehmen 's«." Ein wahrhaft erquickendes Bild gewährt dem gegenüber das Schöffengericht. Wenn irgendwo den Mängeln der Laienrichter Hilfe gebracht werden kann, so ist es hier; an jedem Punkte, wo der Schöffe sich des Rechtes nicht weiß, kann er Auskunft nicht nur verlangen, sondern auch sicher erhalten; wo er unbewußt irrt, wird ihn der Präsident oder einer seiner rechtsgelehrten Kollegen von sich aus aufzuklären verA. a. O. S. 197. »» A. a. O. S. 9.

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suchen; hie und da wird dies nicht gelingen, denn eine An­ zahl von Rechtsbegriffen erfassen sich schwer und allmählich ; aber in einer großen Zahl von Fällen wird der Schöffe dankbar die nötige Belehrung entgegennehmen, und wo er als Geschworener verurteilt gewesen wäre, im Dunkeln durch­ zutappen, geht er hier den Hellen erfreulichen Weg eigenen Verständnisses. Was aber Viele diese Vorzüge verkennen läßt, ist die Tatsache, daß die Schwäche der Laienrichter, die in der Jury der Schleier des Verdiktes meistens dem öffent­ lichen Auge verdeckt, im Schöffengericht klarer hervortreten: lieber sollen die Laien in souveränem Unverstand mehr Unheil stiften im Dunkel des Geschworenenzimmers und unter der eisernen Maske des Verdiktes, als daß im Schöffen­ gerichte ihre Schwäche sich allerdings unverhüllter zeige, zu­ gleich aber auch im einzelnen Falle gehoben oder gemindert und somit ihrer schlimmen Folgen zum größeren Teile be­ raubt werde!? Wahrlich, es gehört mehr Mut als Verständnis dazu, die größere richterliche Unabhängigkeit, die ja nichts Anderes ist als die ausschließliche Gebundenheit des Richters durch das Gesetz, dem Laien als Geschworenen zu vindiziren, während diese durchweg dem Laien als Schöffen zukommt.

Differiren beamtete Richter und Schöffen in ihren An­ sichten, und läßt sich der Schöffe von der Unrichtigkeit seiner Auffassung überzeugen, so wird in der erdrückenden Anzahl von Fällen die Wahrheit auf der Seite der von ihm neu angenommenen Meinung stehen. Unmöglich ist es freilich nicht, daß er sich durch falsche Gründe von seiner ursprünglich richtigen Auffassung abbringen läßt; allein würde seine Un­ selbständigkeit im Geschworenengericht davor sicherer gewesen sein, würden ihn dort nicht noch weit zahlreichere und ge­ fährlichere Abwege gelockt haben?

In der Jury steht also der Laie in einer für ihn als Richter weit unwürdigeren, für die Rechtspflege weit ver-

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Leiblicheren Stellung. So fällt der Würfel durchweg gegen die Jury und für das Schöffengericht. Wer es ernst meint mit der Gerechtigkeit der Urteile, darf keine Gerichtsorganisation gutheißen, bei welcher die Urteile massenhaft doppelzüngig, also in sich selbst ungerecht werden müssen; die Regirung eines Rechtsstaates darf es felbst dann nicht, wenn ein weitverbreitetes Vorurteil die Jury von ihr verlangen würde. Aber die Zeit der Be­ geisterung für die Jury ist längst vorüber. Nicht ohne tiefen Schmerz würde ich unsere Straf­ kammern in Schöffengerichte sich verwandeln sehen: denn eine Umwandlung zum Besseren liegt darin nicht. Ich könnte sie auch nur unter der Voraussetzung gut­ heißen, daß die Jury fiele, und die deutschen Strafgerichte aus Einem Gedanken heraus geschaffen würden. Dann würde ich vertrauen auf die Kraft und die Geduld des deutschen Richtertumes, die vielen Laien unter den Schöffen zu wahrer Rechtspflege in den Stand zu fetzen, und würde es als Äquivalent für die Erschwerung

der richterlichen Aufgabe betrachten, daß sich unsere beamteten Richter im Schöffengericht das allgemeine Vertrauen wieder­ erkämpfen können, was ihre Vorgänger, die Jnquisitionsrichter, eingebüßt haben. Ist dies gelungen, dann ist alte Schuld gesühnt; dann wird der Schöffe von selbst dem Ge­ schworenen nachfolgen und verschwinden; das Volk aber wird zu schätzen gelernt haben, was es an einem stolzen Richterstande besitzt, und wird gern sein Recht aus dessen Händen empfangen. Bis dahin sind uns aber die Schöffen unentbehrlich. Denn drei Grundpfeiler tragen die Rechtsordnung: gute Gesetze, starke Gerichte, gutes Zutrauen des Volkes zu seiner Justiz! Revision beendet 26. Oktober 1914.

II.

Die Beschlußfassung im Kollegialgericht.

Das Folgende ist eine vollständige tiefgreifende Umarbeitung des ß 89 meines vergriffenen Grundriffes des Deutschen Strafprozeßrechtes, 5. Auflage, Leipzig 1904, S. 169 ff.

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An allen kollegialen Körperschaften stößt die Entstehung

von Beschlüssen auf eigentümliche Schwierigkeiten, weil Subjekt des Beschlusses das Kollegium, also die ideale Ein­ heit seiner Mitglieder, sein soll, die Elemente der Beschlußeinheit aber in den einzelnen Stimmen bestehen, und aus diesen ein Gesamtresultat bald leichter, bald schwerer, stets aber künstlich erst gebildet werden muß. Bei den gerichtlichen Kollegien gestaltet sich die Aufgabe leichter als bei solchen der Verwaltung und bei den Parlamenten, weil bei ihnen bestimmte Fragen immer wiederkehren, sich also leichter bestimmte Regeln bilden lassen. Die Parlamente suchen sich durch ihre Geschäftsordnungen zu helfen; das interkollegiale Frag- und Antwortspiel zwischen der Richter­ und der Geschworenenbank ist gesetzlich geregelt und hat schon wegen seiner interkollegialen Natur hier auszuscheiden ^. Im Übrigen enthalten unsere Prozeßordnungen über die Art der

Fragestellung und die Abstimmung im Kollegialgericht ein Minimum von Bestimmungen 2, und mich interessirt am meisten grade das, was sie nicht enthalten. Wenn ich die folgenden Ausführungen über die Beschluß­ fassung im strafrichterlichen Kollegium trotz ihrer Kürze und nur mit sehr wenig Polemik versehen in meine Abhandlungen aufnehme, so bestimmt mich die in der Praxis bestätigte Über­

zeugung, daß der kurze Ratschlag grade an dieser Stelle unsern Gerichten durchschnittlich mehr hilft als der ausführ­ liche, der nur von Wenigen gelesen wird, und daß die reiche Polemik grade hier mehr verwirrt als klärte ' Es hat eine ausgezeichnete Darstellung von Oetker, in GlaserOetker, Strafprozeß III 1907 erhalten. 2 S. bes. Gerichtsverfassungsgesetz (G.) ZI 194—199.

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Für die Geschworenenbank gelten, soweit der Jury ihr Weg nicht durch die richterliche Fragestellung kategorisch vor­ geschrieben ist, ganz die gleichen Abstirmnungsnormen wie für die Staatsgerichte „Ob die richtigen Abstimmungsgrundsätze auch eingehalten werden, ist freilich nichts weniger als sicher." ° I. Damit das Gerichtskollegium stets die gleiche Summe richterlicher Einsicht und Energie darstelle, und damit der Verwaltung der Einfluß auf die konkrete Gerichtsbesetzung genommen werde, bestehen unsere heutigen kollegialen Straf­ gerichte durchweg aus einer gesetzlich fest geschlossenen Zahl von Richtern. S. G. Z 194,1. Grade im Inter­ esse der Beschlußfassung ist diese Zahl eine ungerade^. b fZu S. 141.^ Ich verweise auf folgende Literatur: Zachariae, Hand­ buch II S. 472 ff.; Glaser, Strafprozeß Z80II S.264ff.; Bennecke-Beling § 94 S. 385 ff.; v. Kries tz 55 S. 137 ff.; Ullmann § 70 S. 275 ff.; Virkmeyer § 76 S. 470 ff.; Glaser-Oetker III, bes. S. 387 ff.; Rosen­ feld ß 35 S. 94 ff.; Dohna S. 77 ff. — Loewes Kommentar ist in der 13. Auflage von Rosenberg zitirt. — Waldeck, Neues Archiv f. Preuß. Recht, Hrsg, von Ulrich, VII 1841 S. 426 ff.; Kitka, Zeitschrift f. österr. Rechtsgelehrs. 1844 II S. 133 ff. — Abegg, Goltdammers Archiv VI 1858 S. 738 ff., VII 1859 S. 3 ff., 145 ff.; v. Bar, Neues Magazin für Hannöv. Recht IV, Hannover 1863, S. 401 ff.; Zacke, Ueber Beschlußfassung in Versammlungen und Collegien, Leipzig 1867; v. Bar, KrVJSchr. X 1868 S. 467 ff.; de Fontenay, Ueber die Abstimmung im Richtercoll., 2. Aufl. Kiel 1868; Dochow, in Holtzendorffs Rechtslexikon s. v. Abstimmung I S. 27 f.; Bolgiano, Civ. Archiv I.XXVI1I 1891 S. 145 ff.; Heckscher, Afstemningslare, Kopenhagen 1892; Heinemann, Zs.StrRW. XV 1895 S. 1 ff. 217 ff.; Faeilides, Zf.StrRW. XVI 1896 S. 790 ff.; Wittern, Abstimmung in Strafkammern ... in den Fällen des § 46 Nr. 1 u. 2 Strafgesetzbuchs. Erlang. Diss. 1899. — Vgl. auch Heinze, Die Einstimmig­ keit des Juryverdictes, in Goltdammers Arch. XII1 1865 S. 616 ff. 665 ff. * Für die Abstimmung, aber nicht für die Fragestellung. Un­ richtig Wittern a. a. O. S. 8. b Glaser-Oetker III S. 388. b Drei Richter bilden das Schöffengericht, die Richterbank im Geschworenenverfahren, die Strafkammer als kollegiales Untersuchungsgericht und zum Teil auch als Berufungsgericht; fünf Richter die erkennende Strafkammer und die Strafsenate der Oberlandesgerichte; sieben Richter die Strafsenate des Reichsgerichts.

II. Die Beschlußfassung im Kollegialgericht.

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Die einzigen Ausnahmen davon bilden 1. das Plenum des Reichsgerichts, das Plenum seiner vereinigten Strafsenate und der vereinte 2. und 3. Senat in Hoch- und Landesverratssachen. Diese Gerichte müssen mit mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder der vereinten Senate besetzt sein. G. 137 und 139. Ihre Richterzahl kann auch eine gerade sein; dann hat aber Einer, und zwar regelmäßig der Dienst-Jüngste, kein Stimmrecht. S. Genaueres G. ß 139, 2; 2. das Kollegium der Geschworenen, das stets aus der geraden Zahl von zwölf Mitgliedern besteht. Nur bei der Wahl des Obmannes kommt ein Beschluß trotz Stimmen­ gleichheit zu Stande: s. P. Z 304. Vgl. im übrigen G. 8 198; P. ß 262, 1 u. § 297, 2. II. Die Reihenfolge, in welcher die Mitglieder des Kollegiums ihre Stimmen abgeben, ist behufs Erhaltung der Unbefangenheit der jüngeren Richter gesetzlich fest geregelt. Der dem Dienstalter, in Schöffengerichten der dem Lebensalter nach Jüngste stimmt zuerst; dann der Nächstälteste an Dienst- oder Lebensjahren und so fort. Der Vorsitzende (bzw. der Obmann) stimmt zuletzt, der ernannte Berichterstatter zuerst, die Ge­ schworenen in der Reihenfolge ihrer Auslosung: G. § 199. III. Alle Entscheidungen der Kollegialgerichte müssen in einer Sitzung, also zwecks Aussprache und Ausgleichs der Ansichten auf Grund einer mündlichen Beratung erfolgen. Einholung schriftlicher Voten ist unstatthaft. Die Beratungen und Abstimmungen erfolgen stets unter Ausschluß der Öffent­ lichkeit. Diese Heimlichkeit ist eine absolute für die Beratung der Geschworenen (s. P. Z 303); im übrigen kann das Ge­ richt nach der engherzigen Formulirung von G. § 195 in der Fassung des Gesetzes vom 5. April 1888 nicht einmal andere Richter desselben Gerichts, noch zur Revision gesandte Delegirte des Justizministeriums, noch den Gerichtsschreiber, wol.aber kann der Vorsitzende die bei dem Gerichte zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen zulassen —

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den Gerichtsschreiber also dann, wenn er Referendar ist. Leider nicht mehr zutreffend RG. II vom 26. Okt. 1880, E II S. 393 ff. Ungenügend schon ursprünglich G. § 195, 2. IV. Was gilt denn nun aber als Beschluß des ganzen Kollegiums? Die Antwort gibt sich leicht bei Stimmeneinheit aller seiner Mitglieder. Aber das Ein­ stimmigkeitsprinzip, das heute noch für die englische sog. Urteilsjury gilt, das vor dem 1. Oktober 1879 für die Ver­ dikte der Jury in Braunschweig und Waldeck und für den „Wahrspruch" der braunschweigischen Kreis­ gerichte über die Schuldfrage adoptirt war, ist von G. und P. verworfen. Vielmehr bestimmt G. § 198, 1: „Die Ent­ scheidungen erfolgen, soweit das Gesetz nicht ein Anderes bestimmt, nach der absoluten Mehrheit der Stimmen." In zwei Fällen aber — einem kleinen und einem sehr bedeutenden — bestimmt das Gesetz allerdings anders: es verlangt 1. Einstimmigkeit zur Verwerfung des Verdikts der Jury durch den Gerichtshof, weil sich „die Geschworenen in der Hauptsache zum Nachteile des Angeklagten geirrt haben". P. 8 317, 1; 2. Zweidrittelmajorität „zu einer jeden dem An­ geklagten nachteiligen Entscheidung (anläßlich der Findung eines .Urteils' im e. S.), welche die Schuldfrage betrifft." P. 8 262, 1. Vgl. MilGO. 8 323. Die Schuldfrage im Sinne dieser gesetzlichen Be­ stimmung umfaßt außer der Frage nach dem Vorhandensein des Delikts mit seinen Schärfungs- und Milderungsgründen (s. unten S. 154) noch die der Subsumtion unter das Straf­ gesetz (s. unten S. 163). Für die Abstimmung aber ordnet P. an, daß die ' Richtig Loewe zu P. Z 262, 2 n. 2^. " Die „abstrakte Rechtsfrage" über die Auslegung des Gesetzes gehört nie zur Schuldfrage. So v. Kries S. 453.

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„von dem Strafgesetze besonders vorgesehenen Umstände, welche die Strafbarkeit ausschließen", einen Teil der Schuld­ frage bilden, der Rückfall aber einen solchen nicht bilden soll. Letzterer wird also durch einfache Majorität festgestellt. Das Gesetz stellt somit für die Abstimmung den echten Schuldausschließungsgründen, wie der Unzurechnungs­ fähigkeit, der Notwehr und ihrem verzeihlichen Exzeß, dem Notstand, der Jugend, dem verzeihlichen Irrtum, dem frei­ willigen Rücktritt (GB. 46. 51. 52. 53. 54. 55. 59. 173, 4. 209) die Strafausschließungsgründe gleicht Die Forderung von P. § 262, 1 ist inhaltlos für das Schöffengericht und für die Strafkammer in der Besetzung von drei Mitgliedern: hier fallen einfache und Zweidrittel­ mehrheit zusammen. Für die mit fünf Mitgliedern besetzten Gerichte bedeutet sie das Erfordernis einer Vierfünftel-, für den Strafsenat des Reichsgerichts einer Fünfsiebentel­ mehrheit. In allen Fällen, in welchen eine höhere als die einfache Mehrheit verlangt wird, gilt also seltsamer Weise der Wille der Minorität als Wille des Ganzen. Nimmt von den fünf Richtern der Strafkammer einer Notwehr, der andere Unzurechnungs­ fähigkeit des Angeklagten an, während die drei anderen die Schuldfrage bejahen, so beschließt das Kollegium die Freisprechung. V. In der Sitzung bestimmt nun der Vorsitzende, welche Fragen und in welcher Reihenfolge sie zur Beratung und Abstimmung verstellt werden sollen. Er sammelt die Stimmen und stellt das Ergebnis der Abstimmung fest: G. § 196. Die Geschworenen stimmen über die ihnen vor­ gelegten Fragen nach der Reihenfolge ab, in welcher sie ihnen gestellt sind, es müßte denn eine spätere durch Beantwortung ' Die Abgrenzung beider Gruppen kann hie und da zweifelhaft sein. Zu letzteren gehören im GB. m. E. die Fälle der HZ 163, 2. 204. 247, 2. 257, 2. 310. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. H. 10

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einer früheren wegfällig geworden sein. Entstehen in dem Richterkollegium verschiedene Ansichten über den Gegenstand, die Fassung und die Reihenfolge der Fragen oder über das Ergebnis der Abstimmung, so entscheidet nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht: G. § 196, 2. Das Analoge gilt von der Jury. VI. Bezüglich der Reihenfolge der zur Abstimmung zu bringenden Fragen ist zu beachten, daß natürlich die prä­ judizielle vor der präjudizirten gestellt sein muß, also z. B. die Schuld- vor der Straffrage, die Frage, ob der erforder­ liche Antrag vorliege oder ein Klagerecht begründet sei, vor der Schuldfrage usw. S. auch MilGO. ß 320, 2. Mit Recht be­ tont aber Oetker, daß sich vereinzelt das logische Verhältnis umdrehen kann, und daß insbesondere das zweifellose Fehlen der Strafbarkeit — etwa infolge der Verjährung — „geeignet ist, die Schuldfeststellung auszuschließen". Verhalten sich verschiedene Fragen einfach zu einander wie minus und plus, ist z. B. zweifelhaft, ob Unterschlagung oder einfacher oder qualifizirter Diebstahl oder Raub vor­ liegt, so ist die allein zweckmäßige Anordnung der Fragen die, daß die weitestgehende voransteht, dann die nächst weit gehende folgt, und fo fort, daß also im vorliegenden Beispiel erst nach Raub, dann nach qualifizirtem, dann nach einfachem Diebstahl, dann nach Unterschlagung gefragt wird. Nur bei der Festhaltung dieser Ordnung läßt sich der Satz beschwerde­ los durchführen, daß der überstimmte Votant bei den folgen­ den Abstimmungen sich auf den Standpunkt der Majorität stellen muß (s. unten sub X). Handelt es sich aber beispielsweise um eine Anklage wegen Kindsmords, und es wird zweifelhaft, ob nicht Mord oder Totschlag vorliegt, so muß die Kindsmordfrage vorauf­ gehen : denn erst ihre Verneinung läßt die andern auftauchen. Hier handelt es sich eben nicht einfach um plus oder minus. Die scharfe Begründung dieser Notwendigkeit hat erst "> Gerichtssaal LXV S. 440.

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Oetker gegeben". Es konkurrirt hier eine Frage auf ein privilegirendes äsliotum 8ni Asnsris mit den Fragen auf die privilegirten Grunddelikte. „In der Tötung des Ein­ willigenden, in Kindsmord sind Mord und Totschlag, in Mundraub Diebstahl und Unterschlagung ungeschieden ent­ halten. Erst nach Ablehnung des Kindsmords, des Mund­ raubs usw. kann die Unterscheidung von Mord oder Totschlag, von Diebstahl und Unterschlagung in Betracht kommen." M. a. W. die Kindsmordfrage ist für die Frage nach Mord und Totschlag in solchem konkreten Falle präjudiziell ", VH. Art der Abstimmung. 1. Die berüchtigte Streitfrage, wie denn im einzelnen Falle der Kollegialbeschluß zu Stande gebracht werden solle, ob durch ganz falsch sog. Abstimmung nach Gründen oder durch sog. Totalabstimmung, auch Abstimmung nach demEndresultat genannt, ist lediglich ein Streit darüber, ob der Beschluß, auf den es ankommt, auf einmal (Total­ abstimmung) oder nur sukzessive nach Fassung eines oder verschiedener Vorbeschlüsse zur Entstehung gebracht werden kann ". Schon daraus ergibt sich klar die verhängnisvolle Un­ richtigkeit der Bezeichnung des Gegensatzes, die zu so vielen verkehrten Einwendungen gegen die richtige Art der Ab­ stimmung geführt hat. Jede Abstimmung ist Totalabstimmung. Sie entscheidet stets über die gestellte Frage auf einmal und vollständig. " Glaser-Oetker, Strafprozeß III S. 175. Über den eigentümlichen Abstimmungsmodus, der in solchen Fällen in der Jury entsteht, s. Oetker III S. 175/6. ib über die Behandlung der Verjährungsfrage s. Binding, Hand­ buch I S. 830 ff. S. auch Oetker, Gerichtssaal I,XV S. 441. Sie ist mit einfacher Majorität zu entscheiden. " Material über die Kontroverse bei Heinemann, a. a. O. S. 4ff. — Die Behauptung Bennecke-Belings S. 387 N. 5, daß ich die Ab­ stimmung nach Gründen vertrete, trifft in keiner Weise zu. — Die Bemerkung Rosenfelds, Reichs-Strafprozeß S. 97, das Ergebnis der Abstimmung nach Gründen müsse „verblüffend und absurd" erscheinen, ist selbst verblüffend. 10*

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Der Gegensatz liegt also gar nicht in der Ab­ stimmung, sondern in der Fragestellung. Es han­ delt sich darum, ob Fragen, die wie die wichtigste Frage des ganzen Strafprozesses, die Schuldfrage, sich logisch in Teilfragen auflösen lassen, stets ungeteilt gestellt werden müssen oder auch in Teilform gestellt werden können? Auf elementare, also unzerlegbare Fragen, auf Fragen ganz verschiedenen gegenständlichen Inhalts, wie Schuldund Straffrage, die Frage, ob ein Antrag gestellt ist, und die Schuldfrage, ist der Gegensatz ganz unanwendbar. Wie sollte in Fällen der letzten Art eine Generalfrage gestellt werden können? Diese Frage aber, ob die Stellung zerlegbarer Fragen stets iu toto zu geschehen habe, ob also die sog. Total­ abstimmung so weit die Alleinherrschaft beanspruche, als sie denkbar sei, ist selbst wieder eine Frage, wie sie nur der ödeste Doktrinarismus zu stellen vermag. In größter Klugheit und mit gerechtem Vertrauen über­ läßt unsere Gesetzgebung den Gerichten, im konkreten Fall zu der Art Fragestellung und Abstimmung zu greifen, die jeweilen die größere Garantie für den gerechten Ausfall der Entscheidung bietet. Den Gegensatz der sog. Totalabstimmung bildet also nicht — wie der unlogische Sprachgebrauch sagt — die nach Gründen, sondern die nach Teilen, also wenn beispiels­ weise ein Gericht der Entscheidung der Schuldfrage so beikommen wollte, daß es erst den sehr zweifelhaften objektiven Tatbestand feststellte und dann erst zur Vorsatzfrage Stellung nähme. Der ganze unnütze Streit hängt mit dem gesetzlichen Erfordernisse von sog. „Entscheidungsgründen" (s. bes. P. ß 34) nur geschichtlich, nicht dogmatisch zusammen. — Dies erhellt schon daraus, daß die nicht zu motivirende Entscheidung der Schuldfrage durch die Jury wesentlich auf die gleiche Art wie die zu motivirende Entscheidung der Schuldfrage durch die Strafkammer beschafft werden muß.

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Vor allem aber sind die von unseren Prozeßgesetzen ge­ forderten „Entscheidungsgründe" durchaus nicht immer die Gründe, welche die Entscheidung veranlaßt haben (schon des­ halb nicht, weil nicht immer nach Gründen gestimmt wird) -°, wol aber stets dieGründe, womit dasGerichtzunächst den durch die Entscheidung Betroffenen und dann allen Anderen, die sich über das Urteil informiren wollen, zu beweisen sucht, daß dieses auf einer gründlichen und unparteiischen Wür­ digung der tatsächlichen und rechtlichen Urteils­ grundlagen beruhe. Die Gründe für richterliche Entschließungen, die auf Totalabstimmungen beruhen, können also in Wahrheit erst nach der Entschließung selbst festgestellt werden, und es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß, wenn die ab­ stimmenden Richter in den Gründen auseinander gingen, eine alternative Begründung unausweichlich sei'°. Auch wird kein Gericht Bedenken tragen, wenn ihm nach Findung des Urteils noch triftigere Gründe einfallen, als die waren, auf die es gestützt wurde, diese besseren zur Begründung des Urteils zu verwerten". Nichts wäre sinnloser, als einen Beschluß, über dessen Sachgemäßheit das Gericht einstimmig ist, nicht zu fassen, weil die Mitglieder über seine Gründe auseinander gehen, nichts verkehrter, als statt eine Sachabstimmung vorzunehmen, die Rücksicht auf die spätere Abfassung der Entscheidungs­ gründe für den Modus der Abstimmung maßgebend werden zu lassen! " Ganz verkehrt Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß S. 99: »die Ent­ scheidungsgründe sollen ein objektives Referat über die Art sein, wie das verkündete Resultat zustande gekommen ist". Davon wissen unsere Gesetze doch keine Silbe! -»Oetker, Gerichtssaal OXV S. 439. -- Daß die Entscheidungsgründe sich zur Entscheidung verhielten wie »die Prämissen zur Schlußfolgerung" (so Loewe zu G. 8 196 n. 8^), ist also nicht durchweg richtig.

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Aber allerdings ist richtig: wenn Entscheidungsgründe für den Kollegialbeschluß verlangt werden, so muß das Kollegium darüber beschließen. Dieser Beschluß kann der zu motivirenden Entschließung aber auch zeitlich erst nachfolgen. 2. Es wird nun behauptet, je nach der einen oder andern Methode der Abstimmung könne der Beschluß über dieselbe Frage in ganz entgegengesetztem Sinne fallen". Diese Behauptung ist durchaus richtig, wenn wirklich die Fragen auf Gründe eines Beschlusses, statt auf Teile desselben gestellt würden. Die richtigen Teilabstimmungen aber müssen bei richtiger Berechnung der Stimmen genau das gleiche Ergebnis haben wie die Totalabstimmung. Darauf ist später zurückzukommen". Ich stelle drei Beispiele zusammen, von welchen behauptet wird, der verschiedene Modus der Abstimmung führe zu genau entgegengesetzten Ergebnissen 2°. L. Handelte es sich um Fassung des Haftbeschlusses gegen den Beschuldigten in der Strafkammer, und ein Mitglied wäre gewillt dafür zu stimmen wegen Kollusionsgefahr, der zweite wegen Fluchtgefahr, der dritte aber wäre dagegen, ein juristisch ganz verunglückter Vorsitzender wollte nun wirklich das Kol­ legium über die Gründe der Verhaftung statt über diese selbst abstimmen lassen, so ergäbe sich für keinen der Gründe eine Majorität, und seine juristische Unerfahrenheit könnte viel­ leicht gar glauben, infolge dieser Abstimmung sei der Antrag auf Verhaftung zu Fall gekommen. Hätte er die durchaus elementare Frage direkt auf die Verhaftung selbst gestellt, so wäre sie bei dieser sog. Total­ abstimmung mit zwei gegen eine Stimme beschlossen worden. d. Bei der Strafkammer steht Hauptverhandlung gegen einen 17 jährigen Laufburschen wegen Totschlags an. Bei der Urteilsfindung wird angeblich nach Gründen, 'S Im Grundriß S. 172 habe ich dies selbst noch gesagt. 's S. unten S. 157 ff. 20 Zwei davon habe ich früher schon selbst verwertet.

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in Wahrheit auf Grund von Teilfragen gestimmt. Erste Frage nach der tödlichen Kausalität der Handlung. Er­ gebnis: Ja mit vier gegen eine Stimme; zweite Frage: Zurechnungsfähigkeit. Ergebnis: Ja mit vier gegen eine Stimme. Die eine Stimme in eins und zwei ist aber nicht die gleiche; dritte Frage: Vorsatz. Ergebnis: Ja mit vier gegen eine Stimme. „Bei einer (solchen) Abstimmung nach Gründen, wäre der Angeklagte zu verurteilen." Bei der Totalabstimmung würde es zweifellos zur Freisprechung ge­ kommen sein". o. Bei der Findung eines Verdikts in einem Prozesse wegen Mordes nehmen von den zwölf Geschworenen vier Mord an, vier Notwehr, vier halten den Täter für unzu­ rechnungsfähig. Bei Totalabstimmung ergibt sich mit acht gegen vier Stimmen das Unschuldigverdikt. Würde aber erst die Zurechnungsfähigkeit zur Abstimmung gestellt, so würde sie mit acht gegen vier Stimmen bejaht. Würde dann nach der Notwehr gefragt, so würde sie mit acht gegen vier Stimmen verneint. Würden endlich noch Kausalität und Vorsatz fest­ gestellt, so scheint das Schuldigverdikt sich zu ergeben. 3. Die Schlüssigkeit der beiden letzten Beispiele bleibe für einen Augenblick dahingestellt, da es sich in ihnen um echte Teilabstimmungen handelt. (S. aber unten S. 157 ff.) Bezüglich des ersten Beispiels ist aber zu sagen, daß in ihm grade die einzige Abstimmung vollständig unterblieben ist, die das Gesetz verlangt: die über die Verhaftung. Eine Abstimmung über Gründe einer Maß­ nahme ist nie eine Abstimmung über die Maß­ nahme selbst: sie ist keine Abstimmung imRechtssinne. Denn die Abstimmung im Gericht bezweckt weder eine Einigung der Mitglieder auf intellektuellem Gebiete, noch eine Feststellung ihrer Einzelansichten, sondern ist ein Akt der gerichtlichen Willensbildung. Das Gericht So Dohna, Strafverfahren S. 78, wie schon Viele vor ihm.

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soll sich über das zu Wollende, nicht aber über dessen Motive einigen. Der Richter jedoch, der abstimmend sagt, er nähme Kollusionsverdacht an, es dabei aber bewenden läßt, nimmt an dieser Willensbildung nur negativen Anteil. Wir stellen also fest: eine wirklicheAbstimmung nach Gründen gibt es nicht. 4. Aber der Gegensatz zwischen einmaliger „Totalabstimmung" und mehrmaliger Teil­ abstimmung — der besteht in der Tat. Der Einfach­ heit des Ausdrucks zu Liebe will ich den t6rwiou8 Total­ abstimmung wissenschaftlich ungenau auf alle einmaligen Abstimmungen, also auch auf die über unteilbare Fragen, ausdehnen. Dem Ansprüche der Totalabstimmung auf Alleinherr­ schaft aber auch für die Abstimmung über teilbare Fragen stelle ich zwei Einwände entgegen: a. das Gericht hat stets so vielFragen gesondert zu beantworten, als ihm dasGesetz und der kon­ krete Prozeß gesondert stellt?^; b. das richtig verstandene Ergebnis richtig gehandhabter Totalabstimmung und richtig ge­ handhabter Teilabstimmung ist auf das Haar das gleiche^. Deshalb kann die hartnäckige Fehde zwischen beiden Abstimmungsarten endlich er­ löschen! 22 Treffend Birkmeyer, Strafprozeß S. 472, nur daß ich „die Selb­ ständigkeit" der Frage etwas anders fasse. 22 Deshalb ist auch durchaus richtig, daß, wenn eine Revision auf zwei verschiedene Gründe gestützt wird, und von den sieben Revisionsrichtern drei den einen, drei den andern Grund bejahen, der siebente aber beide verneint, die Revision verworfen werden muß, obgleich sechs Stimmen dafür waren. S. Loewe zu G. 196 n. 3d. Hier hat der Revident dem Gericht zwei ganz gesonderte Fragen vorgelegt, und das Gericht muß sie gesondert beantworten. Damit soll nicht gesagt sein, daß beide Arten sich für alle Gerichte gleich gut eignen. Mit gutem Grunde führt Oetker, Glaser-Oetker, Strafprozeß III S. 23, aus, daß sich die Totalabstimmung für die juristisch ungebildeten Geschworenen besser eigne als ihr Gegenstück.

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vm. Nun ist jeder richterliche Beschluß An­ wendung des Gesetzes, wie das Gericht es aus­ legt, auf den einzelnen Fall. Gesetzt nun, das Gericht soll beschließen, ob es eine be­ stimmte Maßnahme im Prozesse ergreifen will oder nicht? Ihm ist dann eine elementare, weil unteilbare Frage gestellt. Die Fälle sind ungemein häufig. Soll der Angeklagte verhaftet, eine Sache mit Beschlag belegt, ein Augenschein eingenommen, ein Zeuge vereidet oder die Ver­ eidigung ausgesetzt, ein zu spät gekommener Zeuge bestraft werden — auf alle diese Fragen gibt es nur Totalantworten. Und zwar bewendet es regelmäßig bei einer. Aber eine Mehrheit von Abstimmungen, schlechterdings nicht durch eine Gesamtabstimmung ersetzbar, kann sich auch in solchen Fällen nötig machen, und aus verschiedenen Gründen. I. Tauchen in dergleichen Fällen Zweifel auf über den Sinn des zur Anwendung strebenden Gesetzes, so stehen nun statt der einen Frage deren zwei zu gesonderter Beantwortung. Denn das Gesetz soll im Sinne des Kollegiums zur Anwendung kommen. Und so muß erst diese Auslegung durch einfache Majorität festgestellt, dann über die Maßregel selbst abgestimmt werden. Nicht aber geht diesen beiden Fragen noch eine Gründefrage vor­ aus: warum etwa das Gericht das Gesetz so und nicht anders auslegt? 2. Die eine Elementarfrage ist sehr oft mit einer andern verknüpft. Das Gericht steht vor der Frage, auf Grund der Voruntersuchung das Hauptverfahren zu eröffnen. Es hegt dagegen Bedenken. Dann muß es ein­ stellen, und das Gesetz fordert die Entschließung, ob definitiv oder nur vorläufig? Der geladene Zeuge ist ausgeblieben. Soll er gestraft werden und wenn ja — wie? 3. Gesetzt, die Strafkammer beschließt mit zwei gegen eine Stimme die Verhängung der Untersuchungshaft. Die beiden

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ersten Votanten differiren bezüglich der Gründe. Nun ist der Beschluß nach P. Z 34 mit Gründen zu versehen: über den beizufügenden Grund ist dann nachträglich noch beson­ derer Beschluß zu fassen?". IX. Bei den Strafendurteilen aber liegt die Sache wesentlich anders.

Die freisprechenden Urteile können, die ein­ stellenden müssen wol regelmäßig in Totalabstimmung gefunden werden. L. Bei den verurteilenden ist dies ganz un­ denkbar, und bei ihnen sind nicht mindestens zwei Fragen, wie regelmäßig gelehrt wird, sondern drei durch gesonderte Abstimmung zu beantworten?". 1. Die erste Frage geht dahin, welcher Hand­ lung im Rechtssinne der Angeklagte beweismäßig überführt sei? Sie ist die sog. Schuldfrage, auch Beweisfrage genannt?'. Das Gericht muß sich darüber schlüssig machen, was seiner Meinung nach der Angeklagte im Sinne des Gesetzes getan hat? Die Frage ist schon innerlich zweiteilig; sie zerfällt in die beiden, ob der Angeklagte nachweislich den ganzen objek­ tiven Tatbestand gesetzt, und ob er dies schuldhaft getan habe? a. Daß diese Doppelfrage vereinigt gestellt werden und eine Totalantwort erhalten kann, unterliegt keinem Zweifel??. Die sie dann aber bejahen und verneinen, müssen sich 26 Dagegen m. E. grundlos v. Kries, Lehrbuch S. 454. 26 Die wenig klaren Ausführungen H. Heinemanns, a. a. O. S. 30 ff., können an dieser Wahrheit nichts ändern. 2i Über die starke Verkennung der Schuldfrage in einem Teile der heutigen Doktrin s. Abhandlung I oben S. 68 N. 63. 2« Zweifache Abstimmung muß unbedingt erfolgen, wenn die Anklage wegen vorsätzlicher Begehung eines Delikts erhoben worden ist, das auch im Falle fahrlässiger Begehung gestraft wird, und die Vorsatzfrage Verneinung erfahren hat.

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zuvor in ihrem Innern selbst eine Mehrheit von Teilfragen gestellt und beantwortet haben: die nach dem Vorliegen des objektiven Tatbestandes, darin liegt schon die weittragende Frage nach den Gründen ausgeschlossener Rechtswidrigkeit; dann die nach der Schuld, darin liegt schon die andere weittragende Frage nach dem Vor­ handensein von Schuldausschließuugsgründen, und stets begleitend die Frage, ob genügender Be­ weis für Tat und Schuld erbracht ist? Es leuchtet ein, daß die mehreren Mitglieder des Gerichts sich diese Teilfragen außerordentlich verschieden beantworten und trotzdem im gleichen Sinne votiren können. Die Gleich­ heit der Endantwort trotz verschiedener Beantwortung der Vorfragen kann die verschiedensten Gründe besitzen. Der Eine hat festgestellte Momente des Tatbestandes übersehen, hat dann durch einen zweiten Fehler den ersten kompensirt, und ist dadurch in Übereinstimmung mit den Andern geraten. Der Eine hat freigesprochen wegen mangelnden Beweises, der Andere wegen festgestellter Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten, der Dritte wegen Notwehr oder Einwilligung des Verletzten, der Vierte, weil er die vorhandene Schuld nicht erkennen konnte. Denkt man sich in diese Urteilsfindung einmal hinein, so ist es richtig, daß sie auf die denkbar einfachste Weise zu Stande kommt, aber noch richtiger, daß sie auf der allertiefsten Stufe richterlicher Gründlichkeit steht. Das Urteil kann die einheitliche Maske der aller­ verschiedensten Beurteilungen desselben Falles durch die Mit­ glieder desselben Kollegiums sein! Der Heiligkeit der richter­ lichen Aufgabe gewissenhaftester Prüfung des Falles bis in die kleinste Einzelheit entspricht dies Verfahren ganz zweifel­ los nicht! Gewiß! Bei ganz einfachen, durchsichtigen Fällen wird gegen diese Findung des Urteils durch Totalabstimmung nichts einzuwenden sein. b. Allen komplizirteren Fällen gegenüber ist sie zwar durch

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das Gesetz nicht verboten, sollte die Praxis jedoch sie sich selbst verbieten. Ich habe es auch nie anders erlebt, als daß wir im Gericht an jede zweifelhafte Frage selbständig heran­ traten, nicht lediglich debattirend, sondern die Meinung des Gerichts darüber feststellend Dann geschieht wirklich, was bei der Totalabstimmung nur scheinbar geschieht. Denn durch sie werden alle Einzel­ feststellungen implicite auch getroffen — aber auf welch un­ gründliche Weise! —, und rein formell, nicht in sachlicher Wirklichkeit! Ich möchte hier noch auf einen andern Gesichtspunkt Hinweisen, aus dem das System der Teilabstimmung zu be­ fürworten ist. Mir will scheinen, es gingen unsere Praxis und auch unsere Theorie viel zu einseitig von der Annahme aus, daß allein der Ankläger die eine große Urteilsfrage an das Gericht zu stellen, und das Gericht ihm allein zu antworten berufen sei. Wären aber nicht auch Rechte des Angeklagten in der gleichen Richtung anzuerkennen? Da stützt dieser seine ganze Verteidigung auf die Behauptung der Not­ wehr und verwendet zu deren Bekräftigung ein großes Beweis­ material. Liegt es da nicht durchaus im Geiste unseres Anklage­ prozesses, daß die angeklagte Partei eine Anwartschaft besitze, vom Gerichte die Notwehrfrage gesondert beantwortet zu er­ halten? Ein formelles Recht darauf besitzt sie zur Zeit noch nicht, ja in dem öden Schwurgerichtsverfahren darf eine darauf gerichtete Frage der Jury nicht einmal gestellt werden. In den andern Gerichten wird aber kaum ein Vorsitzender, wenn nicht die Berufung auf die Notwehr offenbarer Schwindel ist, sich auch heute schon dieser Billigkeitsanforderung ent­ ziehen. 2^ Glaube man ja nicht, die Debatte könne hier die Abstimmung er­ setzen. Zur Abstimmung gehört bedeutend mehr Konzentration und Über­ legung als zum Anhören der Debatte. Auch halten noch junge, unerfahrene Richter oft sehr zweifelhafte Fragen für unzweifelhaft.

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Es versteht sich, daß die gestellten Teilfragen sich zusammen über den ganzen Tatbestand zu erstrecken haben, wenn nicht über die eine oder die andere das Einverständnis des Kol­ legiums ohne weiteres einleuchtet. Nur wenn in dieser Verbindung von Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit verfahren wird, können die Urteilsgründe wirklich, wie P. H 266 Abs. 1 und 4 verlangen, und ohne Nach­ tragsabstimmung, die doch möglichst zu vermeiden ist, „die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetz­ lichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden", und bei Freisprechungen erkennen lassen, „ob der Angeklagte für nicht überführt, oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene That für nicht strafbar erachtet worden ist" so.

o. In einer Anzahl von Fällen führt diese Art der Urteilsfindung zu bedeutender Verein­ fachung der ganzen Tätigkeit. Ein Lehrbursche von 17 Jahren sei wegen gewinnsüchtiger Verfälschung einer öffentlichen Urkunde oder wegen Totschlags angeklagt. Im ersten Fall ist höchst zweifelhaft, ob das veränderte Schrift­ stück überhaupt eine Urkunde und nun gar eine öffentliche Urkunde ist, im zweiten ebenso zweifelhaft die Frage des Kausalzusammenhangs. Der Vorsitzende bringt diese Fragen sofort zur Debatte und Abstimmung. Zwei von den fünf Stimmen verneinen die Urkundeneigenschaft des Schriftstücks, zwei den Kausalzusammenhang. Er stellt fest, daß zwei Stimmen sich gegen die Bejahung der Schuldfrage aus­ gesprochen haben, und läßt zweckmäßig keine Schlußabstimmung mehr vornehmen, weil sie unnötig ist und nur irreführen kann. ä. Nun ist aber gegen diesen Modus der Abstimmung unter dem Namen „der Abstimmung nach Gründen" der Vor­ wurf erhoben worden, er könne zur Verurteilung führen, während die Totalabstimmung die Freisprechung ergebe s>. so Vgl. auch Stenglein, Kommentar zu P. Z 262 n. 2. 3* Vgl. oben S. 150. 151 die beiden Beispiele -sud d u. o.

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Ist dies richtig, dann muß er unbedingt fallen gelassen werden. Sonst hätte ja der Vorsitzende die Wahl, ob er durch die von ihm bevorzugte Art der Ab­ stimmung den Angeklagten an das Messer liefern wolle oder nicht. Freilich macht sich gegen jenen Vorwurf schon das rechne­ rische Bedenken geltend, daß die richtige Beantwortung aller Teilfragen kein falsches Gesamtresultat ergeben kann. Und nähere Prüfung zeigt, daß dies auch nie der Fall, jener Vorwurf also grundlos erhoben ist. Ich bleibe der Deutlichkeit halber bei Strafkammer­ entscheidungen stehen, bei welchen ja die Schuldfrage mit mindestens vier gegen eine Stimme bejaht werden muß, zwei Stimmen gegen sie das Gericht also zur Freisprechung zwingen. Werden alle Teilfragen einstimmig zu Ungunsten des Angeklagten bejaht, so ist das Gesamtresultat selbstverständ­ lich. Wird auch nur eine mit zwei Stimmen verneint, so muß Freisprechung Platz greifen. Schwierigkeiten aber haben die Fälle bereitet, worin alle Teilfragen mit vier gegen eine Stimme, also scheinbar mit genügender Majorität zu Un­ gunsten des Angeklagten bejaht werden. Ist der Opponent stets der Gleiche, so ist die Notwendigkeit der Ver­ urteilung unzweifelhaft. Aber wie, wenn der Opponent auch nur bei zwei Fragen nicht der Gleiche ist? Grade solche Fälle haben dem Reichsgericht zu schaffen gemacht^. Wer sich nun ernstlich in den so verkehrten Gedanken verbohrt hat, die Abstimmung „nach Gründen" sei wahre Sachabstimmung, während sie stets nur Scheinabstimmung ist ss, der muß so folgern: jeder Grund ist mit vier gegen eine Stimme, also jeder mit genügender Majorität festgestellt, also muß unbedingt verurteilt werden. 32 S. die S. 162 N. 42 angeführten Erkenntnisse. 3» S. oben S. 151.

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Wer sich aber sagt: es handelt sich nicht um die Fest­ stellung der Gründe für die Schuldannahme, sondern um Teilabstimmungen über die Schuldfrage selbst, der rechnet ganz anders und allein richtig so": auf die erste Frage nach der Tödlichkeit der Kausalität als Teil der Schuldfrage hat ein Mitglied gegen diese Tödlichkeit, also für Verneinung der Schuldfrage aus diesem Grunde, auf die zweite Teilfrage nach der Zurechnungsfähigkeit hat ein anderes Mitglied gegen die Annahme der Zurechnungsfähigkeit, also für Verneinung der Schuldfrage aus diesem Grunde gestimmt. Der einsichtige Vorsitzende würde also in demselben Augenblicke sagen: zwei Mitglieder verneinen die Schuldfrage, somit ist Freisprechung geboten. Also genau dasselbe Ergebnis wie bei der Totalabstimmung !

Bei der oben fingirten Abstimmung in der Jury ist das Ergebnis richtiger Rechnung ganz analog: vier Geschworene hatten die Schuldfrage verneint wegen Notwehr, vier weitere wegen Unzurechnungsfähigkeit des Täters: also acht Stimmen für Unschuld. In demselben Augenblicke war mit aller weiteren Abstimmung innezuhalten, und das Unschuldverdikt war fertig — genau wie bei der Totalabstimmung!

Daraus ist die Regel abzuleiten: bei dem Modus der Teilabstimmungen über die Schuldfrage ist, um die Majoritätenfrage richtig entscheiden zu können, die Zahl der Frageverneiner — nicht die Zahl der verneinenden Stimmen, denn der Neinsager kann immer derselbe sein! — zu addiren. Steigt diese Summe über ein Drittel der Gesamtzahl der Votanten, so ist die Schuldfrage verneint. s. Handelt es sich darum, ob das Delikt mit Erschwerungs- oder Milderungsgründen begangen ist, so greift Ich knüpfe an das oben S. 150 8nd d gegebene Beispiel an. »° S. oben S. 151.

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das oben sub VI Gesagte Platzt. Wenn P. Z 295 für die Fragen an die Geschworenen eventuell die Stellung von Neben­ fragen, auf Schärfungs- oder Milderungsgründe gerichtet, vorschreibt, so erklärt sich dies lediglich aus der präsumirten Unbehilflichkeit der Jury bezüglich der richtigen Art der Ab­ stimmung. Wird aber diese Reihenfolge der Fragen beliebt, und z. B. erst über einfachen Diebstahl, dann über dessen Qualifikation abgestimmt, so ist v. B ar, KrVJSchr. X S. 499, Recht zu geben, daß der Richter, der das Dasein des Dieb­ stahls überhaupt verneint, auch die Schärfung zu verneinen und sich insoweit nicht auf den Standpunkt der Majorität zu stellen hat-".

t. Findet die Schuldfrage mehrere Antworten, deren keine mit ausreichender Majorität gegeben wird, und gelingt es nicht, eine Verständigung herbeizuführen, so ist das Resultat dann leicht zu bilden, wenn die mehreren Antworten im Ver­ hältnis von plus und minus stehen. Dies greift nicht nur dann Platz, wenn beispielsweise in der Strafkammer drei Stimmen für qualifizirten und zwei für einfachen Diebstahl stimmen, sondern auch dann, wenn zwei für qualifizirten, eine für einfachen Diebstahl und die beiden letzten für Unter­ schlagung, oder wenn drei für einfachen Diebstahl und zwei für Mundraub fallen^. In allen diesen Fällen müssen die dem Angeklagten un­ günstigen Stimmen den nächst günstigeren so lange zugezählt werden, bis die erforderliche Majorität da ist. S. auch MilGO. so Siehe S. 146. 147. So auch v. Kries S. 444; Bennecke-Beling S. 390. A. M. Loewe zu G. 8 196, 3ä/S. So auch Glaser-Oetker III S. 122. A. M. Loewe zu G. 8 197 n. Id. 3« Höchst befremdlich Beling, Verbrechen S. 287, über die angebliche „Exklusivität" des Verhältnisses von Diebstahl und Unterschlagung. — S. schon Bennecke-Beling S. 390. 391. Sehr verkehrt darüber auch schon Heinemann, a. a. O. S. 65, und später Dohna, Strafverfahren S. 80.— Durchaus richtig RG. IH vom 28. Jan. 1882 (E V S. 504 ff.). — Zu dieser sog. Kombinationsmethode s. Zachariae II S. 477/8.

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ß 322, 2 s». So wäre im ersten Beispiel wegen einfachen Diebstahls, im zweiten wegen Unterschlagung zu verurteilen. Bei richtiger Auffassung der beiden Schuldarten kann auch gar nicht bezweifelt werden, daß Vorsatz und Fahrlässig­ keit zu einander im Verhältnis von plus und minus stehen, obgleich natürlich davon gar keine Rede sein kann, es sei der Vorsatz eine qualifizirte Fahrlässigkeit. Sehr lehrreich hierfür ist der Fall, welcher der so außerordentlich wortreichen, zum Teil sehr fehlgehendeu Entscheidung des III. Strafsenates des Reichsgerichts vom 25. Februar 1882 zu Grunde liegt". In einer Strafsache wegen fahrlässigen Falscheides hatten zwei Mitglieder der Strafkammer vorsätzlichen, zwei fahr­ lässigen Meineid angenommen, das fünfte Mitglied den Be­ weis für letzteren als nicht erbracht angesehen. Die Kammer sprach frei! Der Senat vernichtet das Urteil, aber nicht, wie allein richtig, weil vier Stimmen für die Verschuldung die Freisprechung unmöglich machen, wenn das eingeklagte Delikt, auch nur fahrlässig begangen, der Bestrafung unter­ liegt, sondern weil nicht richtig abgestimmt worden sei. Bei der zweiten Abstimmung, gerichtet auf fahrlässigen Meineid, hätte den überstimmten Mitgliedern, die sich für Vorsatz ausgesprochen, freigestanden, gegen die Annahme der Fahrlässigkeit zu votiren. In dieser Sachlage aber eine zweite Ab­ stimmung vorzunehmen, wäre ganz falsch ge­ wesen. Denn die Verschuldung war mit vier Stimmen bejaht, die schwerere Form des Vorsatzes hatte die Majorität nicht gefunden, also mußte nach dem Grundsatz in äadiis pro rso das Kollegium die leichtere Schuldart annehmen. Z. Zweit sich die Schuldauffassung im Gericht energischer, so ist möglich, daß sämtliche Mitglieder über das Vorliegen eines Deliktes einig sind, das einen gemeinsamen Bestandteil der verschiedenen Verbrechen bildet, die nach der Auffassung so Unrichtig Loewe zu G. § 196 oud 3oF S. 229. " S. Rechtspr. IV S. 198 ff.

Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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der verschiedenen Mitglieder vorliegen. Loewe" brachte hierfür das Beispiel, daß zwei Stimmen für Raub-, zwei Stimmen für Notzuchts-Versuch fielen, die fünfte Stimme aber freispräche, und erklärt dann die Freisprechung für unum­ gänglich. Es ist ja dann aber vollendete oder versuchte Nötigung festgestellt und wegen dieser zu verurteilen. Dies ist auch in den späteren Auflagen von Loewe zugegeben. Sind aber die Schuldauffassungen nicht einmal teilweise übereinstimmend, und keine erlangt die Majorität, dann zwingt die Not allerdings zur Freisprechung". " S. noch 11. Auflage S. 179. Ich begegne relativ sehr oft der Behauptung, die Schuldfrage sei notwendig ungeteilt zur Abstimmung zu bringen. Unsere Gesetzgebung weiß davon nichts! v. Kries, Lehrbuch S. 441 ff., bes. S. 446 meint, bei dieser Methode sei „man wenigstens unbedingt sicher, zu keinen falschen Ergebnissen zu gelangen". Ich glaube das Gegenteil! Sie ist meiner Überzeugung nach eine Quelle zahlreicher unabweisbarer richterlicher Fehlsprüche. Daß das Reichsgericht sich gleichfalls für sie bezüglich der Schuldfrage ausgesprochen habe, trifft bei genauerem Zu­ sehen nicht zu. Es werden dafür RG. III vom 13. Okt. 1880, vom 14. Dez. 1881 und vom 17. April 1883 (E II S. 379; VIII S. 218 u. Rechtspr. III S. 797) angezogen (s. Loewe zu G. § 196 n. 3on). Allein RG. hat es nur als „für die Regel gewiß richtig" erklärt, „daß der Ausspruch über die Schuldfrage in einer Beantwortung zu erfolgen hat (Eli S. 380 1). In allen drei Erkenntnissen nimmt es an den getroffenen Teilabstimmungen gar keinen Anstoß, sondern allein an dem Fehlen einer definitiven Schlußabstimmung. Und diese war in allen diesen Fällen allerdings geboten. Es muß aus den Abstimmungen der Strafkammer absolut sicher erkennbar sein, daß die Schuldfrage In toto mit vier Stimmen bejaht worden ist. Auch Glaser, auf den sich Loewe, a. a. O. beruft, meint, Strafprozeß II S. 271, es scheine allerdings dem Geist des Gesetzes zu entsprechen, daß die Schuld­ frage ungetrennt zur Abstimmung gelange. Glaser stützt sich besonders auf G. 8 196 „Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuldfrage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den zunächst minder nachteiligen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt". Von einer Ungültigkeit geteilter Abstimmung sagt Glaser aber kein Wort. — Die Beweiskraft von G. 8 196 dafür, daß der analoge Modus bei der Ab­ stimmung über die Schuldfrage ganz unanwendbar sei, ist gleich Null. Bei den Abstimmungen über die Straffrage ist der Modus des Gesetzes stets anwendbar (auf gewisse Schwierigkeiten freilich macht mit Recht v. Kries

II. Die Beschlußfassung im Kollegialgericht.

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2. Die zweite, bei der Findung des Straf­ endurteils notwendig gesondert zu stellende Frage ist die nach der Subsumtion der festgestellten Handlung unter das Strafgesetz, genauer gesprochen: unter dessen Tatbestand". Tauchen keine Zweifel über die Auslegung des einzelnen Gesetzes auf, deren jeder durch Sonderabstimmung zu erledigen wäre, so ist diese Frage, soweit nur ein Gesetz zur Anwendung steht, als streng ein­ heitliche durch eine Abstimmung zu erledigen. Ihre Ver­ neinung macht Freisprechung nötig. Bestehen aber Verschiedenheiten der Ansichten im Kollegium über die juristische Eigenart festgestellter Handlungsbestand­ teile, und ist die Handlung je nach der einen oder der andern Auffassung verschiedenen Strafgesetzen zu unterstellen, so be­ darf es für die mehreren Subsumtionsfragen mehrfacher Ab­ stimmung, wenn nicht schon die erstgestellte durch die nötige Majorität Bejahung gefunden hat. In gewissen Fällen herrscht im Gericht Einmütigkeit unter der Majorität über alle juristisch wesentlichen Merkmale der Handlung des Angeklagten, aber dieselbe läßt sich unter mehrere Strafgesetze subsumiren (Alternativität oder Subsidia­ rität der Strafgesetze), und für die Subsumtion unter ein bestimmtes Strafgesetz ergibt sich nicht die genügende Majorität. Der Täter hat sich zweifellos eines Totschlags­ versuchs wider einen Bundesfürsten schuldig gemacht: gesetzt, der Fall könnte der Strafkammer unterliegen, und zwei Richter nähmen das Verbrechen der Tätlichkeit wider Bundesfürsten S. 448 aufmerksam), bei denen über die Schuldfrage dann aber nie, wenn die verschiedenen Stimmergebnisse nicht im Verhältnis von plus zu minus, sondern in dem von sliuä zu aliuä stehen. So mußte G. Z 196 die Worte „von der Schuldfrage abgesehen" in sich aufnehmen. " Man beachte das oben sud IV 2 Gesagte. — Oetker, Gerichtssaal I^XV S. 439, erklärt für verdienstlich, daß ich die „Subsumtionsfrage wieder der Vergessenheit entrissen" hätte, und verweist auf die treffliche Bestimmung in der Braunschweig. StrPrO. von 1853 H 92. — Völlige Verkennung der Schuld- wie der Subsumtionsfrage bei Heinemann, a. a. O. S. 62 ff. — Vgl. über beide Fragen auch Abhandlung I in Bd. II S. 68 Note 63 u. 64. 11*

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Zweite Wteilung.

Strafprozeß.

(GB. ß 98), zwei andere das des Totschlags (GB. 8 212) an, ein fünfter spräche frei, so würde m. E. die Handlung unter den milderen 8 98 subsumirt werden müssen. Stehen aber die relativen Majoritäten einander derart gegenüber, daß etwa drei Stimmen für Diebstahl, zwei für Entwendung der eigenen Sache (8 289) gefallen sind, so muß mangels der für die Verurteilung nötigen Majorität Freisprechung erfolgen. 3. Die dritte durchaus selbständige Frage endlich geht dahin: ist der Angeklagte auf Grund des gefundenen Strafgesetzes zu strafen, und eventuell wie? Sie löst sich, genau betrachtet, in zwei Fragen auf: a. Ist ein Strafrecht überhaupt begründet, oder liegt ein Strafausschließungsgrund vor? Diese Frage braucht dann nicht zur Abstimmung zu kommen, falls an einen solchen nicht zu denken ist. Muß sie aber ge­ stellt werden, so ist auch sie streng einheitlich und von Allen zu verneinen, die, sei's denselben, sei's verschiedene allgemeine oder besondere Strafausschließungsgründe (Begnadigung, tätige Reue nach vollendetem Verbrechen, Straflosigkeit der Handlung im Auslande) annehmen. Nicht die Tatsache, warum, sondern daß das staatliche Strafrecht nach Meinung des Kollegiums untergegangen ist, entscheidet. b. Wird ein Strafrecht angenommen, so sind nun Art und Maß der Strafe festzustellen, und ist zunächst die Hauptstrafe, dann die Frage nach den Nebenstrafen zur Ab­ stimmung zu bringen. Über einzelne Strafzumessungsgründe

darf nie, über die Annahme mildernder Umstände aber, wo das Gesetz solche hervorhebt, muß stets abgestimmt werden. Bilden sich relative Majoritäten über die Arten und das Maß der Strafen, „so werden die dem Beschuldigten nachtheiligsten Stimmen den zunächst minder nachtheiligen so lange hinzu­ gerechnet, bis sich eine Mehrheit ergiebt": G. 8 198. Neben diesen drei Hauptfragen snb 1—3 können nun aber im einzelnen Falle noch sehr verschiedenartige Fragen

II. Die Beschlußfassung im Kollegialgericht.

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notwendig werden: etwa die Vorfrage, ob die Sache spruch­ reif sei, oder die, ob in der Sache selbst erkannt werden dürfe, oder das Verfahren etwa wegen fehlenden Antrags oder aus andern Gründen eingestellt werden müsse usw.? Wie viele ihrer sind, läßt sich nicht a priori bestimmen. Soweit sie selbständig sind, erfordert jede ihre eigene Abstimmung. Vgl. übrigens oben sub VI. X. Bei jeder Abstimmung habe alle Mitglieder des Kollegiums, auch die, welche bei der voraufgegangenen Ab­ stimmung in der Minderheit geblieben sind, mitzuftimmen: G ß 197. Da der Beschluß des Kollegiums nichts ist als der Wille der idealen Einheit aller seiner Mitglieder, so versteht sich, daß im zu Stande gekommenen Beschlusse auch der Wille der Minorität enthalten ist, und daß somit auch sie bei der nachfolgenden Abstimmung sich auf den Boden des vorher gefaßten Beschlusses stellen muß, insoweit dieser gesetzlich als Grundlage der späteren Abstimmung aufgefaßt wird, — aber auch nur insoweit. Der Überstimmte hat nicht dem Willen

des Kollegiums zum Trotze nachträglich noch möglichst viel von seinem früheren Votum zu retten, sondern er hat die Konsequenzen des Kollegialbeschlusses ehrlich mit zu ziehen. Ist die Schuldfrage gegen eine Stimme bejaht, so darf deren Träger nun nicht deshalb allein, weil er den Angeklagten für schuldlos hält, für eine möglichst geringe Strafe votiren. Beachte aber das oben sub IXL1 o (S. 160) Gesagte! Wird die Vorfrage, ob genügender Beweis erbracht oder das Beweisverfahren der Hauptverhandlung wieder zu er­ öffnen sei, in ersterem Sinne beantwortet, so sind natürlich die Überstimmten, welche die Schuldüberzeugung noch nicht

erlangt haben, verpflichtet, über die Schuldfrage zwar mit abzustimmen, dieselbe aber zu verneinen. Wird aber die Vor­ frage, ob der erforderliche Strafantrag rechtsgültig gestellt sei, bejaht, so darf der überstimmte Votant nicht lediglich, weil seiner Ansicht nach der Antrag nicht vorliegt, die Schuld­ srage verneinen.

III.

Die Strafprozeßprinzipien und das Maß ihrer Prozeßgeftattenden Kraft.

Noch unveröffentlicht.

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8 1. Einleitung . I . HR er von den wissenschaftlichen Pflegern des Prozeß­ rechts hätte sich nicht immer wieder verlockt gefühlt, den Ge­ danken nachzuspüren, welche auf die Ausgestaltung eines be­ stimmten Prozeßrechtssystems, vielleicht auch auf die aller Prozeßrechtssysteme den maßgebenden Einfluß geübt haben und forthin üben werden? Von meiner Erstlingsschrift über die Wiederentstehung des Jnquisitionsprozesfes in der ' Aus der Literatur kommen besonders in Betracht: Kleinschrod, Altes Archiv des Criminalrechts II Heft 4 (1800) S. Iss.; Zachariae, Ge­ brechen und Reform des deutschen Strafverfahrens, Göttingen 1846, S. 23 ff.; (v. Savigny,) Die Principienfragen in Bezug auf eine neue Strafproceßordnung, Berlin 1846; Biener, Abhandlungen aus der Rechtsgeschichte Heft II, Leipzig 1848, S. 61 ff.; Ders., Gerichtssaal 1855 I S. 408 ff.; Köstlin, Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, Tübingen 1849, S. 157 ff.; Ortloff, Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen und Hauptformen, Jena 1858; Ders., Archiv für Öffentl. Recht LII 1897 S. 83 ff.; Heinze, in Goltdammers Archiv XXIV 1876 S. 265 ff.; Glaser, Kl. Schriften I S. 249 ff. 279 ff. 422 ff.; John, Kommentar zur StrPrO. II 1888 S. 112 ff. u. 140 ff.; H. Meyer, Die Parteien im Straf­ prozeß, Erlangen u. Leipzig 1889; Zucker, Civil- und Criminalproceß, bei Grünhut XV 1888 S. 319ff.; v. Kries, Vorverfahren und Hauptverfahren, Zf.StrRW. IX 1889 S. 1 ff.; Vierling, Zf.StrRW. X 1890 S. 251 ff.; Friedmann, Zur Theorie des Anklageprozesses, bei Grünbut XVII 1890 S. 41 ff.; R. Schmidt, Staatsanwalt und Privatkläger, Leipzig 1891; Facilides, Sog. Verhandlungsmaxime, Gerichtssaal 1^ 1895 S. 401 ff.; Eisler, Die Form im Strafprocesse, Wien 1897 (Separatabdruck aus den Jur. Blättern); Brockhausen, Die Strafpflicht der politischen Behörden, bei Grünhut XXV 1898 S. 585 ff.; Wach, Struktur des Strafprozesses, Festgabe für K. Binding, München u. Leipzig 1914, S. 4 ff. Von Lehr- und Handbüchern kommen in Betracht: Glaser I 88 4. 5. 10. 19—23, II 8 62; Planck 59. 60; Zachariae I 10. 11; BenneckeBeling 62—69; v. Kries 37—39; Ullmann 3—7; Birkmeyer 16 bis 22. 26-29; Rosenfeld (5. Aufl.) 13-19; Dohna S. 4 ff. 42 ff.

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Römischen Kaiserzeit in der ich schon mit jugendlicher Kühn­ heit zu dem berühmten Probleme Stellung nahm, durch meine ganze dozentische Laufbahn bis jetzt hat das Problem nie seine Anziehungskraft auf mich verloren. Mit größtem Inter­ esse habe ich in früheren Jahren die Literatur darüber ver­ folgt, und wenn mir der ganze moderne deutsche Strafprozeß mit seinem Legalitätsprinzip, mit seiner öffentlichen Anklage, mit seinem Streben nach materieller Wahrheit, womöglich auch mit seiner Mündlichkeit, aus einem einzigen Grund­ gedanken abgeleitet wurde, so bestaunte ich wol die sieg­ reiche Macht der Logik über die Ausgestaltung der Rechtswelt, beglückwünschte die Wissenschaft für die schöne Aufgabe dieses Nachweises wie für das Gelingen ihrer Lösung, glaubte aber an die Güte ihrer Sache und betätigte als Lehrer diesen Glauben selbst. Freilich ließ sich nicht leugnen, daß — wenn ich so sagen darf — der logische Stil bei keinem Bau ganz rein blieb. Immer zeigte er sich durch einige fatale Folgewidrigkeiten etwas verdorben. Aber das waren eben Mängel, die der Beseitigung harrten! Je mehr mich indessen das Interesse an der prozeßgestalten­ den Kraft gewisser Ideen, die man zur Würde von Prozeßprinzipien erhoben hatte, dazu trieb, ihnen in möglichst verschiedenen geschichtlichen Prozeßgestaltungen nachzugehen, desto bedenklicher wurde ich allgemach über die Vernach­ lässigung des geschichtlichen Stoffes und zugleich über den Prinzipienkultus, wie wir ihn trieben. Auch ich kam zur Erkenntnis, die Wach in die Worte gekleidet hat: „Aus einem Prinzip errichtet man kein Rechtsgebäude" Nun handelt es sich ja bei diesen Untersuchungen in keiner Weise nur um das dogmatische Verständnis geschaffener Werke, sondern genau gradeso um die Einsicht in die richtige 2 Ds natura inquiZitionis xroo68SU8 oriminalV Homanoruin Oottin§a6 KWOOOI.XIII. a Festschrift S. 14.

III. Die gestaltende Kraft der Strafprozeßprinzipien.

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Art, neue zu gründen. Und ganz besonders auch aus der letzten Rücksicht heraus drängt es mich zu zeigen, wie die scheinbar so einfachen Grundgedanken, mit denen die Wissen­ schaft so gern und augenscheinlich so wirksam arbeitet, zum Teil unrichtig, zum Teil sehr unvollständig, zugleich aber so komplizirt sind, daß sich gleichzeitig ganz verschiedene, ja einander widersprechende Folgerungen daraus ableiten lassen. H. Um einen festen Ausgangspunkt zu gewinnen, ist unumgänglich, einen Blick zu werfen auf die Tendenz und das Ergebnis der relativ fo jungen literarischen Bewegung in Deutschland, die sich der Ergründung dieser Prozeßprin­ zipien gewidmet hat. Dieses für die Strafprozeßwissenschaft im wesentlichen ganz neue Problem dankt sie dem Kampf um die Straf­ prozeßreform in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 4. Immer größeren Kreisen unserer juristischen Theoretiker wie Praktiker wurde die Reform­ bedürftigkeit des überlieferten Jnquisitionsprozesses zur festen Überzeugung Wie aber sollte reformirt werden? Man sieht, das Pro­ blem besaß von Anfang an die praktische Spitze. Zur Vergleichung standen damals wesentlich der deutsche gemeine Jnquisitionsprozeß und der Prozeß des Ooäs ä'ivstruotiov, der in den linksrheinischen deutschen Landen galt und offenbar über den Rhein drängte. Da diesem ein öffentlicher Ankläger wesentlich war, traten sich zum Kampfe auf strafrechtlichem Gebiet der Jnquisitions- und der Akkusationsprozeß gegenüber. Und unter letzterem * Im Alten Archiv des Criminalrechts II (1800) Heft 4 S. I ff. handelt zuerst Kleinschrod, „Ueber den Werth des Anklage- und Untersuchungs­ processes gegen einander", erklärt den ersteren für weit vorzüglicher und plädirt für Einführung des öffentlichen Klägers. ° Es ist immerhin bemerkenswert, daß selbst Anselm Feuerbach, der so intensiv über die Verschiedenheit der Prozesse nachgedacht hat, in seinem Lehrbuch (11. Aufl. 1832) über prozessuale Grundgedanken keine Silbe verlauten läßt. Ebenso Grolman, Grundsätze 4. Aufl. 1825.

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konnte nicht mehr der durchaus obsolet gewordene Anklage­ prozeß des deutschen gemeinen Rechts verstanden werden«. Für die ganze Bewegung ward hochbedeutsam, daß die Deutschen damals in ihrem gemeinen Zivilprozeß ein scharf ausgeprägtes Parteiverfahren besaßen — viel faßlicher aus­ geprägt als das des Ooäs ä'mstruotiou — und daß man aus ihm das Verständnis für das kriminelle akkusatorische Verfahren zu gewinnen suchte. So wurde — etwas über­ trieben gesprochen — der Zivilprozeß mit der Gleichberechtigung und dem diametralen Interessengegensätze seiner Parteien zu einer Art Vorbild für letzteres, jedenfalls ward er in die Untersuchung über die Strafprozeßprinzipien mit einbezogen. Der entstandenen Neigung nachgebend, forschte nun die deutsche Wissenschaft nach den Grundgedanken des inquisito­ rischen wie des akkusatorischen Prozesses. Als selbstverständlich ward angenommen, daß jedem Prozeß nur e i n prozeßgestaltender Gedanke zu Grunde liege; große Mühe ward darauf verwandt, dieses Jnquisitionsprinzip (auch Untersuchungsprinzip) und dieses akkusatorische Prinzip zu formuliren, um dann — das war das Charakteristischste! — aus jedem von ihnen angeb­ lich durch logische Entwicklung des Grund­ gedankens einen typischen inquisitorischen und einen gradeso typischen akkusatorischen Prozeß zu konstruirenAn diesen dogmatischen Musterformen maß man 6 Für den noch Justus Möser, Patriot. Phantasien, Ausgabe Berlin 1778 III S. 80, gegenüber dem abscheulichen „überall von Amts­ halberverfahren" eintritt. i Selbst in Plancks klassischer Systemat. Darstellung begegnet man dieser Eigentümlichkeit. Planck geht stets von einem für ihn ganz fest­ stehenden Typus des akkusatorischen Verfahrens aus, wie es nirgends gesetz­ geberisch sanktionirt ist. — Auch sonst begegnet man so vielfach der Be­ hauptung, dem akkusatorischen Verfahren sei dies oder das wesentlich, der Kläger müsse die Klage jederzeit fallen lassen können, er habe ein „exklusives Dispositionsrecht" über den Gegenstand des Verfahrens (Friedmann, bei Grünhut LVII S. 51; Ullmann, Lehrbuch S. 34), - umgekehrt habe der Angeklagte ein Recht auf Urteil, — im akkusatorischen Prozeß habe der

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kritisch, was an positivem Prozeß wirklich bestand, und suchte aus ihnen sicher zu erkennen, was äs ls^s tsrsuäa zu tun sei, wenn man etwa daran ging, einen neuen Prozeß auf Grund eines neuen Prinzipes zu schaffen. Nun hatte schon im Jahre 1804 Goennexb ohne aus­ drückliche Rücksichtnahme auf das Strafverfahren für den Zivilprozeß die Worte Verhandlungsmaxime und Unter­ suchungsmaxime geprägt und unter letzterer ganz richtig edn Grundsatz der Beweiserforschung durch den Richter ver­ standen Dem Wortsinn nach hätte das „Jnquisitions-" oder „Untersuchungsprinzip" auch für den Strafprozeß nur den Grundsatz bezeichnen können, daß der Richter allein zur Wahrheitserforschung berufen sei — mehr nicht! Wie dieser beweisführend zu seinem Urteil kam, dar­ über gab der Ausdruck wörtlich verstanden nichts aus. Da sich aber im Jnquisitionsprozesse das Streben nach materieller Wahrheit entwickelt hatte, was ihm nebenbei gesagt in keiner Weise wesentlich ist'", verstand man unter Unter­ suchungsprinzip auch das Beweisprinzip der materiellen Wahrheit". Und da für den gemeinen Ankläger ausschließlich die Beweislast (s. Glaser, Strafprozeß I S. 31) —, er dürfe die Anklage nicht weiter ausdehnen (Geyer, Lehrbuch S. 5), es hätten die Parteien allein zu beweisen, eine ergänzende Tätigkeit des Richters sei aus­ geschlossen (Ul lmann, a. a. O. S. 35) —, Sätze, die alle gleicher Maßen bestreit­ bar sind. Sehr charakteristisch für dies ganze Verfahren ist die Abhandlung von Friedmann, Zur Theorie des Anklageprozesses, Grünhut LVII S. 41 ff., und sind seine Folgerungen aus dem von ihm erfundenen „Anklagegrundsatz". b Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses I S. 183. 184. " Goenner führte aus, nur irrtümlich werde die Verhandlungsmaxime für die einzige ausgegeben, „auf welche eine Ordnung des gerichtlichen Ver­ fahrens berechnet seyn kann". Jede dieser beiden Maximen ruhe auf hin­ reichenden Gründen; keine schließe die andere aus. 'o Darüber s. unten S. 211 ff. " Richtig sagt Zachariae in seinem sehr verdienstlichen Werke „Gebrechen und Reform des Strafverfahrens" 1846 S. 41, Jnquisitionsprinzip und Prinzip der materiellen Wahrheit hätten nichts mit einander zu tun. Freilich aber ist seine Auffassung des Untersuchungsprinzips S. 49

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Jnquisitionsprozeß im scharfen Gegensatze jedenfalls zum früheren akkusatorischen Verfahren die Verbrechensverfolgung von Amts wegen als die charakteristischste Eigenschaft erschien, wurde unter dem Untersuchungsprinzip zu allermeist der Grundsatz amtlicher Verbrechensverfolgung ver­ standen. So deckte derselbe Name ganz verschiedene Begriffe", und selbst bei den gleichen Schriftstellern liefen die ver­ schiedenen Bedeutungen durch einander. Aber schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahr­ hunderts beginnt die gedankliche Klärung". Es wird er­ kannt, daß die Prozeß form unabhängig ist von dem obersten Grundgedanken jedes Strafver­ fahrens — ein erfreulich großer Fortschritt! In seinen trefflichen Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte erklärt Biener", das Jnquisitions Prinzip, gefaßt als Pflicht des Staates, alle vorkommenden Verbrechen zur Verantwortung und Strafe zu ziehen, sei für den Staat nicht nur paffend, sondern notwendig, dagegen sei der Jn­ quisitions Prozeß ungenügend, und neben dem Jnquisitionsprinzip sei die akkusatorische Form, „mithin ein Kläger von Amts wegen neben dem untersuchenden Richter" (sie!) zu verlangen. Die Notwendigkeit, Prinzip und Form zu unterscheiden, betonten Temme" und auch Köstlin", und in feiner noch recht gründlich verfehlt. Ganz anders derselbe, Handbuch des Straf­ verfahrens I S. 40 ff. Da stehen einander begrifflich gegenüber: 1. das Prinzip der materiellen und der formellen Wahrheit; 2. die Offizial- und die von der Privatwillkür abhängige Rechts­ verfolgung; 4. die Untersuchungs- und die Verhandlungs­ maxime. *2 Mit Recht gerügt von Walther, Rechtsmittel. S. Note 17 unten. iS S. dazu auch Glaser, Strafprozeß I S. 36 N. 11, der die ersten Spuren der Unterscheidung in Abeggs Strafprozeß 1833 Z 148 findet. " Zweites Heft: Begründung des Criminal-Rechts und Processes nach historischer Methode, 1848. S. bes. S. 89 ff. ib Grundzüge des deutschen Strafverfahrens S. 32 (zitirt bei Ortloff S. 25).

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Weise führten dann etwas später Ortloff" und nach ihm Heinze" die Unterscheidung durch. Von einem Grundsätze der Form — meint Ortloff — dürfe man nicht reden. Grundsatz für ein bestimmtes Verhältnis könne stets nur Eines, die Form aber könne verschieden sein. Inzwischen hatte aber Walther" für den Grundsatz der Verfolgung des Verbrechens von Amts wegen den Aus­ druck „Offizialprinzip" vorgeschlagen, der dann, von Ortloff und von Heinze des Weiteren eingebürgert, zum festen Kunstausdruck geworden ist. — Für das Gegenteil dieses Grundsatzes, „den Grundsatz der freien Disposition der Par­ teien über den Anfang und durch den ganzen Verlauf des Prozesses", die bisher sog. Verhandlungsmaxime, welcher Ausdruck aber den Kern der Sache nicht treffe, schlug dann Ortloff selbst (S. 44) das Wort Dispositions­ maxime vor. Dieser Vorschlag fand Anklang, der Terminus bürgerte sich ein, und so glaubte man jetzt die beiden Grund­ gedanken aller Prozesse gefunden zu haben, deren Einen man aus dem gemeinen und dem deutsch-französischen Straf­ prozeß, deren Andern man in Wahrheit aus dem Zivilprozeß gewonnen hatte. Gesunde tsrmini dafür waren jetzt ge­ funden 2°. Daß es auch ganz bestimmte einfache Grundgedanken 16 sZu S. 172.^ Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, 1849 S. 39. Im Übrigen eine unersprießliche Schrift Köstlins. Was soll man sagen, wenn man a. a. O. liest, das Anklageprinzip habe den antiken Staat zur Voraus­ setzung, mit dem germanischen sei das Uniersuchungsprinzip — gefaßt als das Prinzip der Verfolgung von Amts wegen — gesetzt? In seiner verdienstlichen Schrift: Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen und Hauptformen. 1858. S. bes. S. 27 ff. i6 „Dispositionsprinzip und Offizialprinzip, Verhandlungsform und Untersuchungsform", in Goltdammers Archiv XXIV S. 265 ff. Diese Abhandlung ist m. E. die gedankenreichste und förderlichste der ganzen älteren Literatur. io Die Rechtsmittel im Strafverfahren, 1853 S. XVI. 20 Leider nicht mit der Folge, daß nun die Ausdrücke Untersuchungs­ und akkusatorrsches Prinzip verschwunden wären.

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gibt, welche die Form des Verfahrens viel kategorischer be­ stimmen, als die beiden zuletzt genannten Prinzipien seinen Inhalt — diese Wahrheit wurde in der Literatur bisher m. E. nicht mit genügender Schärfe ans Licht gestellt^. Viel­ fach begegnet die Vorstellung, reine Opportunitätsrücksichten gäben für die eine oder andere Form den Ausschlags. Für die Verschiedenheit der Formen werden aber noch heute die beiden nicht unzutreffenden Ausdrücke der inquisitorischen und der akkusatorischen Form gebraucht.

III. Der Grund des tiefen Gegensatzes zwischen den beiden Prinzipien ward und wird gefunden in der Verschiedenheit der Rechtsansprüche, denen der Prozeß zur ordnungsmäßigen Anerkennung und Durchführung verhelfen soll. Und ganz zweifellos ist deren Natur maßgebend für den Prozeß- oder Streitgegenstand. Ihre Auffassung seitens des Rechtes einer bestimmten Zeit bildet das Materialprinzip des Rechtsganges dieser Zeit, der ihrer prozessualen Vergewisserung gewidmet ist Die ganze dogmatische Entwicklung der älteren Lehre von den Prozeßprinzipien, von der man sagen kann, daß sie in Heinzes Abhandlung gipfelt, arbeitete nun immer schärfer den Gegensatz verzichtbarer und unverzichtbarer Rechte heraus, als den für die Ausgestaltung der ver­ schiedenen Prozesse durchaus maßgebenden. „Die für den Prozeß entscheidendste Verschiedenheit in dem Charakter der zu verwirklichenden Rechtsverhältnisse bezieht sich auf die Ver­ fügung und den Bestand der einzelnen Rechtsverhältnisse in Sehr beachtlich grade über diesen Punkt aber Ullmann, Deutsches Strafprozeßrecht S. 30 ff. es Selbst ein Gelehrter wie Heinze, spricht sich a. a. O. S. 274 dahin aus, für die Wahl zwischen inquisitorischer und akkusatorischer Form sei keine sachliche Notwendigkeit maßgebend: nur die Zweckmäßigkeit entscheide. Mit gutem Grunde sagt Heinze a. a. O. S. 204: „Durch die qualitative Verschiedenheit der in Betracht kommenden Rechte ist die Ver­ schiedenheit der zur prozessualen Durchführung nöthigen, dienlichen, zulässigen Mittel bedingt."

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Sein und Umfang; sie besteht darin, daß diese Verfügung den Beteiligten bei gewissen Rechtsverhältnissen zugestanden, bei andern versagt ist" — sagt Heinze^. Soweit nun im Prozeß um verzichtbare Rechte gestritten würde, stehe den Parteien über den Prozeß­ gegenstand eine Verfügungsgewalt zu, die ihnen fehle, wenn ein unverzichtbares Recht oder eine Pflicht diesen Gegenstand bilde?". Denn der Verzichtbarkeit auf der einen Seite entspreche die Annehmbarkeit des Verzichtes von der andern Seite, und der Unverzichtbarkeit des Anspruchs von der einen Seite die Unmöglichkeit wirksamer Anerkennung des Verzichts von der Gegenseite. Also komme in der grundverschiedenen prozessualen Rechts­ stellung der Prozeßbeteiligten zum Prozeßgegenstand nur die grundverschiedene materiellrechtliche Natur der im Prozeß ver­ folgten Ansprüche zu prozessualem Ausdrucke. Es leuchtet ein, daß zu dieser ganzen Lehre der Gegen­ satz des heutigen Zivilprozesses zum heutigen Strafprozeß den nie aus den Augen verlorenen Hintergrund bildet und daß von den beiden Prinzipien mit ganz kleinen Aus­ nahmen das Eine ganz dem Zivilprozesse, das Andere ganz dem Strafprozesse angehört. IV. Allein so fein diese Lehre auch ist und so relativ groß ihr Wahrheitsgehalt, so trägt sie doch große Mängel an sich. I. Sie geht aus von der doktrinären Behauptung eines absoluten Parallelismus zwischen der Natur des geltend gemachten materiellrechtlichen und der zu seiner Geltend­ machung erhobenen prozessualen Ansprüche. Aus diesem A. a. O. S. 264. Heinze schiebt zwischen den beiden Haupt­ gruppen noch eine dritte ein, „die eine mittlere Stellung zwischen diesen Extremen" einnehme. 2° Treffend bemerkt Beling, Jnformativprozesse, Gießen 1907, S. 26, zur zivilprozessualen Disposition: „Die Disposition über Tatsachen ist bedeutsam nur als indirekte Disposition über die rechtlichen Beziehungen." S. dazu etwa Köstlin, Wendepunkt S. 50.

Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II.

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Parallelismus heraus werden Forderungen do IsZs ksrsnäa gestellt, und er gibt den Grund ab, über positivrechtliche Ab­ weichungen davon den Stab zu brechen. Aber den exakten Beweis für die Notwendigkeit des Parallelis­ mus hat sie gar nicht angetreten und könnte sie nie führen?'. Zunächst ist doch der prozessuale Anspruch von dem materiellrechtlichen nach Inhalt und Zweck sehr verschieden. Und dann darf man sich doch nicht einbilden, daß neben der Berücksichtigung des sog. Materialprinzips alle andern prozessualen Rücksichten ohne Weiteres still zu stellen seien! Denken wir uns eine Anklage auf eine durchaus verzicht­ bare Privatstrafe! Würden wir den Prozeßgesetzgeber des logischen Widerspruchs bezichtigen, wenn er in Rücksicht auf den Angeklagten dem Kläger den Rücktritt von der Klage nicht gestattete? Würde ihm heute einfallen, sich für diesen Prozeß mit dem Beweis des Zivilprozesses zu begnügen? Wäre er zu tadeln, wenn er heute dem öffentlichen Kläger, der sich von der Unrichtigkeit der erhobenen Anklage überzeugt hätte, das Recht der Klagrücknahme einräumte? Jeder Prozeß bedarf einer Fülle von Rücksichtsnahmen außer der auf den materiellen Streitgegenstand! 2. Mit ihrem doktrinären Gegensatze verzichtbarer und unverzichtbarer Rechte wird sie der Fülle der verschiedensten, geschichtlichen Grundgedanken für die Ausgestaltung des Strafprozesses in den verschiedenen Zeiten nicht gerecht, wor­ über unten noch zu sprechen sein wird??. V. Man hört und sagt so oft, die jeweilige Auf­ fassung der Missetat, des Verbrechens, werde von selbst zum Materialprinzip des Prozesses, der °" absolut klägers -°

Man bedenke doch nur die mit der Natur der staatlichen Strafpflicht unverträgliche, freilich auch unerträgliche Machtstellung des Privat­ im heutigen Strafverfahren! Siehe S. 181 ff.

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ihrer Verfolgung diene. Das ist mehr als nur eine Ungenauigkeit des Ausdruckes. Keineswegs soll das Ver­ brechen hier nur den aus ihm entsprungenen Straf­ anspruch bedeuten. Natürlich bildet der letztere — wenn ich so sagen darf — das prinzipale Materialprinzip des Prozesses. Aber daneben kommt gar manchmal die Natur des Verbrechens noch als sekundäres in Betracht. Und nun darf auch für die Geschichte des Strafprozesses nie vergessen werden, daß die in der Missetat enthaltene Rechtsverletzung stets weit über den durch sie vielleicht be­ troffenen Einzelnen hinausreicht, ihn aber doch auf das Härteste mitbetroffen hat. Der sog. öffentlich-rechtliche Cha­ rakter des Verbrechens ist in seiner ganzen Geschichte nie ver­ kannt worden, ja er tritt in der deutschen Rechtsgeschichte am grandiosesten ganz zu Anfang hervor: im Friedbruch, der die völlige Rechtlosigkeit des Verbrechers erzeugte. Aber neben der Allgemeinheit kann doch auch der verletzte Einzelne oder seine Sippe von dem Missetäter Genugtuung fordern. Sehe ich recht, so zeigt die Geschichte des Strafverfahrens nirgends eine gleichmäßige Berücksichtigung dieser beiden Forderungsberechtigten neben einander: bald dient der Rechts­ gang in ganz überwiegendem Maße dem Genugtuungs ­ bedürfnis des Verletzten, bald dem des Gemeinwesens — meist, wie ich zu sehen glaube, aber so, daß der eine Verletzte über dem Andern nicht ganz ver­ gessen wird. Daraus erklärt sich, daß so vielfach zur Ver­ folgung und Bestrafung des Verbrechers der Verletzte und der Staat zu gemeinsamer, Hand in Hand greifender Tätig­ keit berufen worden sind und in kleinem Maßstabe noch heute berufen werden. Daraus erklärt sich aber auch manch grobe logische Folge­ widrigkeit. Man braucht nur einmal an die Rolle zu denken, die der Verletzte im heutigen Strafverfahren spielt, als An­ tragssteller und Privatkläger, als Rücknehmer von Antrag 12*

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und Privatklage, als Erzwinger der öffentlichen Strafklage nach P. Z 170. Der Anspruch auf Strafe gebührt heute allein dem Staat. Nach der Logik könnte der Verletzte nur als Denun­ ziant und als Zeuge im Prozesse auftauchen Aber in Rück­ sicht auf seine Getroffenheit durch das Verbrechen wird ihm ein sehr bedeutender Einfluß auf das ganze Verfahren bewilligt Nun sprechen sich die Strafgesetze über ihre Auffassung vom Verbrechen und vom Strafanspruch fast nie in erkenn­ barer Weise aus. Unsere Hauptquelle grade für diese Er­ kenntnis bildet das ihnen entsprechende Strafprozeßrecht. Wir sind auf die Rückschlüsse aus ihm angewiesen. Freilich — daß diese immer ganz sicher wären, läßt sich nicht behaupten. Die Bestandteile aber, welche die relativ beste Grundlage für den Rückschluß bilden, sind nicht nur nach meiner Schätzung die Satzungen über die Initiative zum Verfahren, insbesondere die Klage, und die über die Voll­ streckung^ ss. 29 Ganz richtig sagt Heinze a. a. O. S. 287: „Das Offizialprinzip unterscheidet die prozessuale Stellung des Verletzten in nichts von der eines Zeugen.' Aber die Gesetzgebung tut es! so Ob dieser Einfluß heute nicht viel zu groß bemessen ist, stehe dahin. Das Richtige wäre m. E., ihm nur das Recht der Nebenklage einzuräumen — dies aber in allen Fällen! Über diesen wichtigen Punkt vgl. auch Zachariae, Gebrechen S. 29. — Die Veachtlichkeit des Verletzten für den Strafprozeß betont be­ sonders scharf Glaser, Kleine Schriften I S. 431 ff. Es widerstrebe allem Rechtsgesühl, diesem etwa nur den Anspruch auf vermögensrechtlichen Ersatz zu gewähren. Glaser will ihm (S. 436) das Recht der subsidiären Privat­ klage und — was auch ich durchaus richtig finde — Parteistellung neben dem StA. bewilligt wissen. — Nur darf man diese Rücksichtnahme nicht mit einer „privatrechtlichen" Betrachtungsweise des Verbrechens in Verbindung bringen. Auch ist ein Anspruch auf Strafe nie ein privatrechtlicher gewesen, auch der auf Privatstrafe nicht. — Dagegen betrachtet Hugo Meyer, Die Parteien im Strafprozeß, jede Überlassung der Strafklage an eine Privatperson als „gradezu widersinnig und verderblich". so Auch deshalb ist das Fehlen einer genauen Geschichte der Strafvoll­ streckung so empfindlich.

III. Die gestaltende Kraft der Strafprozeßprinzipien.

§ 2.

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I. Die vier Materialprinzipien -es Straf­ verfahrens.

I. In vier Hauptformen finde ich den Anspruch auf Strafe in der Strafrechtsgeschichte ausgestaltet, betone aber ausdrücklich, daß die folgende Skala in keiner Weise zugleich eine historische Reihenfolge sein soll. 1. Als reines Recht des Verletzten (resp, seiner Sippe) gegen den Verbrecher auf eine Straf­ leistung desselben an ihn, also auf sog. Privatstrafe, d. i. ein echtes Recht des Einzelnen, selbst zu strafen. Deshalb ist ihm allein das Klagerecht ein­ geräumt, von dem er Gebrauch machen kann oder nicht, und wir sehen ihn nicht verpflichtet, auf Erfüllung der durch Urteil dem Angeklagten auferlegten Pflicht zu bestehen. Das römische Privatdeliktsverfahren und der germanische Bußprozeß belegen diese Form. 2. Als Recht des Verletzten auf Bestrafung des Verbrechens durch das Gemeinwesen. Das ist nicht mehr ein Recht, selbst zu strafen, sondern nur ein Recht auf Strafe. In der deutschen Rechtsgeschichte dürfte die eine Art öffentlicher Strafen aus staatsseitig zur Vollstreckung übernommenen urteilsmäßig anerkannten Racherechten des Verletzten entstanden sein Auf diese öffentliche Strafe wird ihm ein Recht eingeräumt. Deshalb steht ihm das Recht der Anklage zu, die er erheben kann oder nicht, dem Staate aber erwächst durch das Urteil die Vollstreckungs­ pflicht. Wir stoßen hier zum ersten Male auf die sehr interessante Tatsache, die ich, soweit ich zu sehen vermag, überall in Ge82 fZu S. 178.^ Das interessante Recht des Verletzten auf urteilsmäßige Zuerkennung eines bestimmt begründeten Racherechls, das nach der Zu­ erkennung doch wol zur Vollstreckung gebracht werden mußte, laße ich hier bei Seite. S. meine Rede über die Entstehung der öffentlichen Strafe S. 39 ff. S. die vorige Note.

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schichte und Gegenwart bestätigt finde: von dem Gnaden­ rechte abgesehen, betrachtet der Staat die Pflicht zur Vollstreckung aller seiner Urteile, die auf öffentliche Strafe lauten, als selbstverständlicb. Es spricht sich darin in vollster Deutlichkeit das große Inter­ esse des Staates an der Bestrafung der Misfetat aus, lange bevor er ihre Verfolgung in die eigene Hand genommen hat. Geschichtliche Belege zu dieser zweiten Form des Strafanspruchs bieten die orimina sxtraoräinaria der Römer und in viel größerem Umfange der mittelalterliche deutsche Straf­ prozeß, sowie der der Karolina. 3. Als Recht des Staatsvolkes auf Bestrafung des Verbrechers durch das Gemeinwesen. Ein solches glaube ich annehmen zu müssen bei anerkannter aoonsatio publica, wie in den Fällen der römischen IsAss Mäiciorum publioorum. (Die Freigabe der subsidiären Privatklage würde dieses Volksrecht durch Weigerung der Klage seitens des öffent­ lichen Klägers, will sagen: des Staates, entstehen lassen.) Bei solchem Rechtszustande werden ja wahrscheinlich auch die meisten Anklagen von den Verletzten erhoben werden. Aber durch jedes Verbrechen ist das ganze Volk verletzt, deshalb steht jedem freien männlichen Volksgenossen das Anklagerecht zu. Jeder klagt aber als Mitglied des Volkes Namens des Volkes. Von einer Verfügungsgewalt des Einzelnen kann grundsätzlich keine Rede sein. Und damit er das Volk nicht um seinen Anspruch bringe, sind ihm tsrAivsr8atio und prasvarioatio untersagt. Um den einzelnen Volksgenossen vor der bewußten Falschklage zu schützen, läuft jeder Ankläger das Risiko, wegen oalumuia verurteilt zu werden. Den englischen Prozeß diesem Gedanken zu unter­ stellen, geht trotz der Freigabe der Anklage deshalb nicht an, weil jeder prosscutor im Namen der Krone klagt. Der eng­ lische Rechtszustand läßt sich nur aus der relativ großen Gleichgültigkeit des zur Verbrechensverfolgung prinzipiell allein verpflichteten Staates gegenüber dieser Pflicht erklären. Aus

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Bequemlichkeit schiebt er die Initiative zur konkreten Ver­ brechensverfolgung dem Volke zu und scheut selbst vor dem Zwange zur Klagerhebung nicht zurück^. 4. Ein Schritt weiter — und es gibt kein Rechtssubjekt mehr, welches vom Staat die Bestrafung des Missetäters fordern könnte. Dem Staate allein steht das Strafrecht zu — nicht in Gestalt des Rechtes auf Strafe, sondern in dem zur Strafe. Ihm allein liegt deshalb grundsätzlich auch die Aufgabe der Strafverfolgung ob. Er muß deshalb Staatsbehörden mit der akkusatorischen oder inquisitorischen Verbrechensverfolgung betrauen, wenn er nicht zu seiner un­ billigen Entlastung seinen Bürgern Anklagepflichten auflegen will. Da aber die Durchführung dieses Rechtes zur Strafe sich für ihn wie für fein Volk als schwere Last darstellt, muß er sich schlüssig machen, wie und wodurch sich dieses Recht in die konkrete Strafpflicht verwandeln soll. Da aber sind grundsätzlich zwei Entscheidungen möglich — durchaus nicht, wie so vielfach angenommen wird, nur eine. 1. In Anbetracht der zweischneidigen Natur der Strafe — als eines Übels sowol für den Staat, als für den Delin­

quenten — hält er zur Strafverfolgung wie zur Bestrafung sich nur in solchen Fällen für pflichtig, welche evident ein konkretes Strafbedürfnis ausgelöst haben, deren straflose Hinnahme im konkreten Falle also die Autorität des Gesetzes bedrohlich zu erschüttern scheint n«. Da bleibt freilich nichts Anderes übrig, als die Ent­ scheidung der so delikaten Frage im Einzelfall den mit der Strafverfolgung betrauten Behörden zu überlassen. Diese haben einzuschreiten, nur wo sie dies im Interesse der Auf­ rechterhaltung gesetzlicher Autorität für unentbehrlich erachten. 8° Näher auf die Ausgestaltung der Anklage im heutigen englischen Rechte einzugehen, würde zu weit führen. Erfreulich ist sie gewiß nicht! S. darüber Genaueres bei R. Schmidt, StA. und Privatkläger S. 71 ff. Gut darüber Heinze a. a. O. S. 283. Nicht ganz richtig S. 285, man dürfe die Opportunität nie zum Prinzip erheben. Der Ausdruck „Opportunität" ist aber schlecht und irreführend.

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Man sagt von solchem Staate, er huldige dem Opportunitätsprinzips. Der Name deckt den Ge­ danken sehr schlecht und hat ihm viel ungerechte Gegner­ schaft eingetragen. Denn nicht etwa alle möglichen Zweck­ mäßigkeitsrücksichten sollen in Betracht gezogen werden können, sondern lediglich die Eine, ob die Verfolgung ohne Schädigung der Autorität des Rechtes vielleicht unterbleiben kann, oder in Rücksicht auf sie geschehen muß? Norwegen hat sich dafür entschieden Es ist ein echtes Prinzip, und nicht, wie so oft und so gerne behauptet wird, eine schlechte Prinzipwidrigkeit. Denn es ist abgeleitet nicht sowol aus der Natur des Delikts, sondern aus einer zweifellos vorhandenen Eigenschaft der Strafe — also auch des Rechtes auf sie. Was aber in solchem Staate unleugbar besteht resp, ent­ steht, das ist ein Widerspruch zwischen dem Strafgesetz, wenn dieses das „Soll" der Bestrafung eines ganzen Deliktsbereiches verkündet, und der Strafrechtspflege, die eine ganze Anzahl von Straftaten unbeachtet bei Seite läßt. Solche Strafgesetze sollten, wie GB. 8 4, auf „kann" statt auf „soll" lauten. 2. Ist der Staat aber durchdrungen von der Unerträglich­ keit aller der in den für strafwürdig erklärten Delikten gleich­ mäßig enthaltenen Rechtsbrüche, so erklärt er sich in allen ihren Begehungssällen für gleichmäßig straf-, also auch straf­ verfolgungspflichtig. Dann huldigt er dem sog. Legalitäts­ prinzip, und ignorirt jene Zweischneidigkeit der Straffolge mit vollem Bewußtsein °'.

Unter des Legalitätsprinzipes Herrschaft entspricht die Rechtspflege der Anforderung der Strafgesetze, soweit dies 3? Sehr lebhaft verteidigt von Glaser, Kl. Schriften I S. 441 ff. Vgl. dens., Strafprozeß I S. 218. Übrigens ist es bei uns nicht nur (verkehrter Weise) nach StrGB. 8 4 für die Verfolgung der im Ausland begangenen Verbrechen und Ver­ gehen, sondern auch nach P. tz 416 für die Fälle der Privatklage adoptirt. 33 S. aber die vorige Note.

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überhaupt möglich erscheint Die unter der Herrschaft des Opportunitätsprinzipes notwendig fehlende Gleichbehandlung gleich schwerer Fälle entspricht durchaus einer selbstverständ­ lichen Forderung der Gerechtigkeit. Andererseits kann das Legalitätsprinzip leicht zu einer Anwendung der Strafe über das Maß der notwendigen Rechtsbewährung hinausführen, und die Nichtbeachtung des Grundsatzes: minima non curat xrastor vermag des Staates Ansehen zu schädigen, die Strafe zu diskreditiren und das Volk zu erbittern".

II. Ganz irrig wäre zu glauben, daß zu derselben Zeit in demselben Rechtskreise immer nur ein Materialprinzip seine Herrschaft üben könne. Es können mehrere neben einander verschiedene Gebiete des Rechtsganges beherrschen, und zwar grade auch einander widersprechende. Eine solche Doppel-, ja selbst Tripelherrschaft beweist stets dafür, daß mit dem Prozesse des einen Prinzips den empfundenen Bedürfnissen der Rechtspflege nicht voll genügt wird. Sie deutet auf Über­ gangszeiten. In der römischen Kaiserzeit standen, auch wenn ich die Deliktsklagen auf Privatstrafe bei Seite lasse, die Gebiete der orimma publica und die der orimina oxtraorümaria neben dem Gebiete amtlicher Verbrechensverfolgung psr iugui8itiouom. In das germanische, auf freie Privatanklage des Verletzten be­ gründete Strafverfahren dringt für gewisse Fälle frühzeitig, und zwar noch vor Einführung der Rügejury, eine amtliche Verbrechensverfolgung ein. Lab and, Reichsstaatsrecht III (5. Aufl.) S. 449, nennt es „ein staatsrechtliches Prinzip ersten Ranges"; es sichere dem Einzelnen den Schutz des Strafgesetzes, indem es die Gewährung desselben der Willkür des StA. entziehe. " Es darf übrigens nicht übersehen werden, daß der Grund­ gedanke der Gnade als „des großen Regulators der Gesetzes- und Urieilswirkungen auf kriminellem Gebiet" (mein Handbuch I S. 861) ganz dieselbe Auffassung der Strafe und des Strafrechts ist, aus der sich auch das Opportunitätsprinzip ableitet. Dessen prozessuale Wirkung kann sie freilich nur in Gestalt der Abolition üben.

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Nicht ohne auf großen Widerstand zu stoßen, stellt sich im Rechte der mittelalterlichen Kirche neben das regelmäßige, auf freiwillige Anklage begründete Akkusationsverfahren erst nur für wenige Fälle, dann immer weiter um sich greifend wiederum das amtliche Einschreiten psr inquisitionsm. Die Karolina regelt genau nur das auf freiwillige Privatanklage gegründete Verfahren, erkennt aber daneben ausdrücklich ein Verfahren auf öffentliche Anklage und ein inquisitorisches Einschreiten an. Nicht selten nimmt dann das Verhältnis der mehreren Arten des Strafverfahrens zu ein­ ander das der Subsidiarität ein. So war im kirch­ lichen und im gemeinen deutschen Rechte nach der Karolina der Jnquisitionsprozeß grundsätzlich dem akkusatorischen Straf­ verfahren subsidiär. Nur daß es dann dem Hilssverfahren leicht gelingt, das Hauptverfahren zu verschlingen. Auch finden sich nicht selten in einen Strafprozeß an­ geblich mit nur einem herrschenden Materialprinzip Stücke eingesprengt, die mit diesem in schneidendem Widerspruche stehen. So beispielsweise das Privatklageverfahren und das Strafverfahren mit Strafbefehl und Strafverfügung im heutigen deutschen Straf­ prozeß. Nichts wäre also irriger und doktrinärer, als einem und demselben Materialprinzip sozusagen die absolute Herrschaft über eines Volkes Strafprozeß in einer bestimmten Zeit zu­ zusprechen. Verschiedene Seiten der Missetat können gleich­ zeitig zur Aufstellung von Materialprinzipien verwendet werden, vor Allem aber hat die Rechtsgeschichte nie vor dem Widerspruch Halt gemacht, wenn es erforderlich schien, neu hervorgetretene Rechtsbedürfnisse zu befriedigen.

§ 3. Ihre Anwirksamkeit gegenüber dem Beweisverfahren. Den prozeßgestaltenden Auswirkungen der Material­ prinzipien an einzelnen Prozeßsystemen im Einzelnen nach-

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zugehen, ist — so interessant und lehrreich es auch wäre — hier meines Amtes nicht. Nur darauf möchte ich Hinweisen, daß wo dem Einzelnen ein verzichtbares Recht auf öffentliche Strafe zusteht (s. oben S. 181), mit der Erhebung der An­ klage sein Dispositionsrecht erschöpft sein kann. Die Rück­ nahme der Anklage kann ihm in Rücksicht auf die Rechts­ stellung des Angeklagten, der vielleicht Urteil fordern darf, aber auch in Rücksicht auf die angerufene Strafpflicht des Staates untersagt sein. Diese kann ihren Schatten rückwärts auf das Verfahren werfen. Und daß dem Ankläger nicht die Macht eingeräumt ist, die Vollstreckung des Staates zu hindern, ward schon früher gesagt. Einen negativen Nachweis aber glaube ich nicht über­ gehen zu dürfen. In den Wirkungskreis jener Prinzipien findet sich von der Wissenschaft oft das Beweisverfahren einbezogen. Ganz besonders energisch wird der Zusammenhang zwischen dem Offizialprinzip und der objektiven Wahrheit als Ziel des Beweisverfahrens betont. Nun ist ja der Strafprozeß sonder Zweifel nur dem Be­ dürfnis zur Feststellung der Missetat entstanden. Schon das älteste germanische Strafurteil war Feststellungsurteil und nicht mehr als das, und jeder Blick auf die deutschen Volks­ rechte lehrt, welches Gewicht sie auf die aäprobatio der Tat gelegt haben. Aber die Geschichte des deutschen Beweis­ verfahrens zerfällt in zwei scharf gesonderte Epochen. 1. Das germanisch-deutsche Strafverfahren bis zum Ein­ dringen der römisch-kanonischen Beweislehre in der Mitte des 15. Jahrhunderts" war ein Verfahren, das — wenn es mir gestattet ist, das Unbewußte ins Bewußte zu übersetzen, — ganz unumwunden sein Unvermögen zu dem, was wir historische Feststellung der Tat nennen, eingestand. Die *2 Ich sehe hier ab von dem Ansatz zum Sachbeweis, den die fränkischen Könige durch Einführung der Jnquisitionszeugen gemacht haben, der aber dann im Sande verlief und im Formalismus endete.

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Lösung der Aufgabe überzeugender Reproduktion eines Ge­ schehnisses der Vergangenheit, zu dem Solennitätszeugen nicht zugezogen werden konnten, überstieg noch die psychologische Fähigkeit des Volkes". Dieser Strafprozeß war ein Rechtsgang ohne Beweisverfahren in unserem Sinne, aber freilich nicht ohne Beweisverfahren in seinem eigenen. Letzteres kann indessen in unseren Augen nur als Surrogat echten Beweises betrachtet werden, dem zumal das Gericht kritiklos und machtlos gegenüberstand. Als solches Surrogat diente das Geständnis des An­ geklagten, also eine einfache Parteibehauptung, wenn dieser aber leugnete, die in ihrer Glaubwürdigkeit gestärkte Parteibehauptung. Weder der Parteieid des Angeklagten, der ja regelmäßig näher zum Beweise war, noch der des Anklägers ist echter Sachbeweis, sondern nur feierliche Parteibehauptung, und der Eid der Eidhelfer ist nur ein Überzeugungseid der Sippe­

genossen, der Eid der Partei sei rein und nicht mein. Genau grade so bestärkte das Gottesurteil je nach seinem Ausfall nur die Behauptung der einen oder der andern Partei". Auch der alte Spruch der jursts, patriae, bevor ihr sviäsnos vorgelegt wurde, war, wenn er fiel nach dem Wunsche des Angeklagten, der sich darauf berief, nur eine Bekräftigung seines Leugnens durch seine Heimatgemeinde. Der Beweis ist durchaus ein formalistischer, der Prozeß insofern ein goldener, als die Beurteilung der Beweisfrage Was nutzt es diesem Mangel gegenüber, wenn Zachariae, Ge­ brechen und Reform S. 27, behauptet, die Natur des Verbrechens habe zu allen Zeiten die Erforschung materieller Wahrheit gefordert? 44 Da die Feststellung der Wahrheit der Menschen Vermögen überstieg, mochten eventuell die Götter reden. Sie gaben aber nie freie Antwort, sondern beantworteten stets nur die Suggestivfrage, ob die Behauptung einer Partei wahr oder unwahr sei? Die älteste formelle Frage­ stellung im germanisch-deutschen Strafprozeß!

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den Richtern wie Urteilern nicht die geringste Schwierigkeit bereitete. Wie haben die Schöffen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gejammert, als diese für sie so glückliche Zeit ein Ende nahm. 2. Mit der Zeit aber erwachte der Mut, wirklichen Be­ weis für das Verbrechen erbringen zu wollen. Kühn ging hier die Kirche ganz besonders in ihrem Jnquisitionsverfahren voran, freilich nicht ohne anfangs noch auf den Reinigungs­ eid des Jnquisiten als ultimum rstuKium zurückzugreifen, wenn dem Inquirenten weder Schuld- noch Unschuldbeweis gelingen wollten, genügende iutamatio aber bestehen blieb. Als dann — wesentlich durch Rezeption der römisch-kano­ nischen Beweislehre — erst mühselig genug in die deutsche Praxis, dann in die Gesetzgebung die Überzeugung von der materiellen Beweisbarkeit des verbrecherischen Vorganges ein­ drang, also von der Möglichkeit der Reproduktion eines historischen Vorgangs bis zur vollen Übereinstimmung des Bildes mit dem wirklichen Verlauf, welche Übereinstimmung man dann als materielle Wahrheit bezeichnete, wurde ein auf dieses Ziel gerichtetes Beweisoerfahren ausgebildet, welches das gleiche blieb in allem echten Strafrechtsgang — ganz gleichgültig, unter welchem Materialprinzip es stand. Und so ist es bis heute geblieben. Nur soweit infolge der Rezeption der aotio iojuriLrum echte Strafklagen psr nsta8 an die Zivilgerichte gewiesen waren, fanden bei ihnen die Beweisregeln des Zivilprozeffes Anwendung". " Es fällt auf, in der neueren strafprozessualen Literatur öfter auf eine Art Ehrenrettung der formellen Wahrheit zu stoßen. Auch der Zivilprozeß erstrebe materielle Wahrheit. So sei der ganze Gegensatz entbehrlich. S. John, Kommentar I S. 17ff.; Zucker, bei Grünhut XV S. 327; Ullmann, Lehrbuch S. 20. 21. Dohna, Strafverfahren S. 6, bemerkt, die formelle Wahrheit sei keine „Wahrheit minderer Güte". — Der Gegensatz zwischen formeller und materieller Wahrheit ist aber nicht nur zum Verständnis der zwei großen Perioden des Beweisrechts, sondern auch zu dem der Beweisführung in der Gegenwart ganz unentbehrlich. Formelle Wahrheit ist die Gebundenheit des urteilenden Richters an den Inhalt einer Parteibehauptung ohne jede

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Man kann sagen: die Jahrhunderte von der Karolina bis heute stimmen in der Anschauung überein, daß für allen echten Strafprozeß der denkbar beste Beweis für das Verbrechen grade gut genug sei. Über diesen besten Beweis und seine beste Führung haben

die Ansichten gewechselt. Früher wurde die Führung des Beweises nach der gesetzlichen Beweistheorie für die wertvollste Garantie seines richtigen Ausfalls betrachtet, heute glauben wir der Wahrheit auf dem Wege der freien Beweiswürdigung näher kommen zu können. Früher dachte man, die Beweisführung im schriftlichen Verfahren sei die gründlichere, heute halten wir die nach dem Satze der Unmittelbarkeit oder der Mündlich­ keit geführte zwar wol kaum für die gründlichere, aber für die ausgiebigere und deshalb die wertvollere. Sehen wir aber heute in der Literatur das Streben nach materieller Wahrheit und vielleicht gar die Mündlichkeit mit der herrschenden Offizialmaxime in Verbindung gebracht, so ist dies berechtigt nur insofern, als damit gesagt sein soll, dem erhabenen Ernste des die Verbrechensverfolgung in jedem einzelnen Falle kategorisch fordernden Prinzipes entspreche Rücksicht auf das Verhältnis dieses Inhaltes zum geschicht­ lichen Verlauf der Ereignisse und zur richterlichen Über­ zeugung. Und man braucht nur an die Bedeutung des Geständnisses, des Parteieides und der übereinstimmenden Parteibehauptung im Zivilprozeß zu denken, um sich darüber klar zu werden, wie weit die Beweisführung der ersten Periode sich in den Zivilprozeß der zweiten hinein erhalten hat. Die Eigenart des Zivilprozeßgegenstandes hat dazu allerdings stark mitgewirkt I — übrigens hat die K. Sächs. Strafprozeßordnung vom 11. Aug. 1855 Art.375 —der Revid. Strafprozeßordnung vom 1.Okt.1868 Art.375 den Bestärkungs- und den Reinigungseid in recht beachtlicher Weise noch beibehalten. »Der Richter ist befugt, die Entscheidung über den that­ sächlichen Beweis einer Beleidigung oder Verleumdung von einem Eide des Angeschuldigten oder des Privatklägers abhängig zu machen." — Entspricht der Inhalt der Parteibehauptung dem wahren Sachverhalt, so ist der Richter an die Wahrheit gebunden, weil sie in der Parteibehauptung enthalten ist; entspricht sie der Wahrheit nicht, so ist er nicht gebunden, sie für wahr zu halten, sondern nur, sie als wahr zu behandeln.

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allein auch die größte Gewissenhaftigkeit in der Beweisführung, also die Adoption des besten Beweises, also für uns heute des Beweises nach dem Grundsätze der freien Beweiswürdigung und in der Form der Mündlichkeit. Aber eine Ableitung dieses Beweisverfahrens aus dem Offizialprinzip ist ganz unmöglich, und wir verwenden es grade so in dem Strafverfahren auf Privatklage, und müßten es nach meiner Überzeugung grade so verwenden,

wenn heute die Klage auf Privatstrafe ihre Auf­ erstehung feierte. Eine übereinstimmende Partei­ erklärung dürfte auch dann keinen Unschuldigen mehr zum Schuldigen machen können! Aus dem Gesagten erhellt zunächst, ein wie großer und wichtiger Teil des Strafverfahrens der Einwirkung der Material­ prinzipien vollständig entzogen ist. Dann aber zeigt sich auch, daß der sog. Grundsatz der Mündlichkeit, der heute noch eine starke prozeßgestaltende Wirkung übt, insofern er für alle verwickelteren Fälle die Zweiteilung des Verfahrens in Vorunter­ suchung und Hauptverfahren fordert, gleichfalls mit den Materialprinzipien nichts zu tun hat".

§ 4.

II. Die zwei Formalprinzipien des Straf­ verfahrens.

Läßt man die Geschichte der Strafverfolgung vor seinen Augen vorübergleiten, so fällt ihnen ein seltsamer Wechsel in der Zahl der dem Prozesse — oder wie wir neuerdings fast lieber sagen: dem Prozeßrechtsverhältnis — wesentlichen Subjekte auf. Bald sehen wir zwei, bald drei: nie aber mehr, es müßte denn — wenn ich so sagen darf — die eine Rolle in zwei geteilt sein, wie die des Inquirenten 46 Der Einteilung des Verfahrens in Vor- und Hauptverfahren wird auch der künftige Strafprozeß nicht entbehren können. Aber von dem doppelten Verfahren — dem staatsanwaltlichen und dem richterlichen — sollte er das erstere über Bord werfen. Es ist durch und durch ungesund!

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bei der inguisitio oum prossgusnts oder wie die des Ge­ richts im Schwurgerichtsverfahren. Diese Prozesse so verschiedener Form folgen bald ge­ schichtlich auf einander, lösen sich also ab, bald gelten sie neben einander. I. Schon das ganze feste und stetige Wechseln zwischen zwei und drei beweist, daß hier kein Zufall sein launisch Spiel treiben kann. Während die Zahl der Materialprinzipien für das Strafverfahren die bisher angenommene Zweizahl übersteigt, gibt es allerdings der Formalprinzipien — und darunter verstehe ich allein den Grundgedanken, der jeweilen über die Zahl der Prozeßsubjekte entscheidet — nur zwei und kann es nie mehr geben. Untersteht Jemand der Gewalt eines Ge­ walthabers, die zugleich Straf- uud Strafverfolgungs­ gewalt gegen ihn ««trennbar mit einander verbnnden ein­ schließt, dann wird für den Fall der Verbrechensbegehung oder des Verbrechensverdachtes der Gewalthaber — sei's höchst­ persönlich, sei's durch seine dazu berufene Behörde — diese seine Gewalt gegen den Gewaltunterworfenen in Aktion setzen, und die ganze Strafverfolgung spielt sich dann zwischen diesen beiden Subjekten ab in Gestalt eines Herren­ verhältnisses. Der Strafverfolger allein hat in solchem Verfahren origi­ näre Rechte, der Unterworfene entbehrt ihrer vollständig, und erwirbt abgeleitete nur etwa so weit, als sie ihm der Strafverfolger einräumt. Der Gewaltunterworfene ist ver­ pflichtet, dem Gewalthaber die Erfüllung seiner Aufgabe, soweit er irgend vermag, zu erleichtern", insbesondere schuldet er ihm die Wahrheit gegenüber der Beschuldigung. " „Im Jnquisitionsprozeß hat er an der Prozeßführung keinen An­ theil, er kann nur das Gericht unterstützen": Planck, System. Darstellung S. 163. — Wach, Festschrift S. 7, bezeichnet auch den Jnquisiten als Partei — wie mir scheint, der Grundauffassung des Jnquisitionsprozesses zuwider!

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Er wird reines Mittel in dessen Hand, vor allem sein wichtigstes Beweismittel — unerhörter Weise, um sich selbst auf das Schafott oder den Scheiterhaufen oder ins Zucht­ haus zu bringen. Diese Prozeßform hat im Anschluß an die fränkische inguisitio den Namen des Jnquisitionsprozesses er­ halten. Negativ kann solch Verfahren als der parteilose Strafprozeß bezeichnet werden. 1. Bezüglich seiner Entstehung, die in uralte Zeit zurück­ reicht, wird man mit der Annahme nicht fehlgehen, daß er entstanden ist bei Ausübung der Strafgewalt des Hauptes der Sippe über ihr schuldiges Mitglied, wie sie ja auch heute noch die Form ist, in welcher der Familienvater seine Diszi­ plinargewalt über sein Kind übt. Die Gewalt des Heerführers gegen den Heeresgenossen, der Kirche gegen ihre Diener und Mitglieder, des Staates gegen seine Beamten und Untertanen hat zu analogen Formen der Verbrechensverfolgung geführt". Sehr treffend sagt Biener von dem kanonischen Jnquisitionsprozeß: „er war bestimmt gegen die Geistlichkeit, die Verletzungen der kirch­ lichen Ordnung zu ahnden, und er ruht daher auf der Voraussetzung eines disziplinarischen Sub­ jektionsverhältnisses"". Man denke an die römische Hauszucht, kraft deren der Hausvater durchaus inquisitorisch Verbrechen der Hausgenossen verfolgte (Mommsen, Röm. Strafrecht S. 16 ff.), an das römische Kognitionalverfahren vor dem Aufkommen der aoou8atio xudlioa (Mommsen, Röm. Strafrecht S. 340 ff.), an das mächtige Wiederaufleben des Jnquisitionsprozesses in der römischen Kaiserzeit, an den gemeinrechtlichen Jnquisitionsprozeß mit seinen fränkischen und kirchlichen Wurzeln! 4s Abhandlungen II S. 84. Vgl. Biener, Englisches Geschworenen­ gericht II S. 129 ff , wo er vom Jnquisitionsprozeß im Allgemeinen sagt, »daß bei seiner Behandlung des Jnquisiten ein disziplinarisches Subjektions­ verhältnis vorausgesetzt wird, welches in dem neueren Prozeß nicht zugegeben werden kann". Vgl. dazu auch Glaser, Strafprozeß I S. 610/11. Unrichtig aber ist, wenn Biener, Abhandl. II S. 85, von dem weltlichen Jnquisitions­ prozeß verächtlich sagt, er sei nur ein polizeiliches Verfahren und entbehre »gänzlich das rechtliche Prinzip". Bindtng, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. II. 13

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2. Man kann die Aufgabe des Inquirenten gar nicht einheit­ lich genug fassen. Er schreitet ein, um zu strafen und sich zu diesem Zweck die nötigen Unterlagen des Urteils über die Schuld des Verdächtigen zu verschaffen. Die stets wiederkehrende Behauptung, der Inquirent sei in einer Person Ankläger und Richter oder gar Ankläger, Verteidiger und Richter gewesen, stellt m. E. die ganze Grundanschauung des Jnquisitionsprozesses auf den Kopf. Dieser kennt keinen Ankläger und kann auch änrants inqui8itivns 8p6oiLÜ keinen Verteidiger kennen. Wenn die kano­ nischen Quellen als Aufgabe des Prälaten, zu dem der olawor oder dje tama pnbUea gedrungen ist, bezeichnen: Ü68ooncksrs et vicioro, iä 68t, inittors et inquirsrs, utrum olainorsm, qui vsnit, vsritL8 oowitstur ", so ist das eine absolut einheitliche Aufgabe, die ohne jede Tendenz von Anklage oder Verteidigung, vielmehr durchaus objektiv, also unparteiisch gelöst werden sollte. Daß die Inquirenten diesen Standpunkt festzuhalten nicht vermochten, zum Teil auch nicht gewillt waren, das ist der große Vorwurf gegen sie: aber nicht gilt er der Ein­ heitlichkeit ihrer Aufgabe. 3. Es leuchtet ein, da deren ganze Lösung auf die Individualität des Inquirenten gestellt werden mußte, daß dieses Verfahren jeder allgemeinen festen Gliederung unfähig blieb". Die Formlosigkeit dieser Prozeßform wurde ihr aber zum Verhängnis. 4. Daß der Inquirent das alleinige Prozeßsubjekt gewesen sei, ist eine trotz häufiger Wiederholung" falsche Behauptung. Jedes Subjektionsverhältnis spinnt sich zwischen dem Gewalthaber und dem Gewaltunterworfenen, und ein großes Mißverhältnis ihrer prozessualen Rechte nimmt Letzterem noch nicht die Teilhaberschaft an dem Verhältnis. ^0 Oap. 31 X. äs Simonis, 5, 3 von 1199. S. auch Planck, System. Darstellung S. 152. 52 S. z. V. Zachariae, Gebrechen S. 53.

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Ganz rechtlos war doch der Jnquisit auch nicht, ja seine Rechtsstellung macht sich an einem Punkte so stark geltend, daß dadurch die Einheit der Jnquirentenaufgabe im gemeinen Prozeß in der Tat einen Bruch erlitt: die Urteilsfindung glitt ihm bei den schweren Straffällen aus den Händen und ward dem kollegialen Gerichte über­ tragen. Damit tritt in Wahrheit ein drittes Prozeßsubjekt in das Verfahren ein. L. Für diese Prozeßform fehlt aber die notwendige Vor­ aussetzung, wenn dem Einzelnen gegen einen ihm rechtlich nicht Untergeordneten die Strafverfolgung anheim gegeben ist ", und sie fällt fort, wenn dem Staate, also dem größten Gewalthaber der Welt, sowol das Strafrecht wie das Straf­ verfolgungsrecht zustehen, in seinen Augen aber der Bürger­ wert seiner Angehörigen so gestiegen ist, daß seine Gewalt sie schlechterdings nicht mehr zum reinen Mittel mißbrauchen darf, um sich selbst der Strafe ans Messer zu liefern". Dann muß sich seine Strafverfolgungsgemalt gegen einen verbrechensverdächtigen Gewaltunterworfenen in ein Strafverfolgungs r e ch t gegen einen in seiner rechtlichen Selbstherrlichkeit bis zum Urteil unbedingt zu achtenden angeblichen Schuldigen verwandeln. Dadurch mußte eine staatsrechtliche Scheidung zwischen der Straf- und der Straf­ verfolgungsgewalt — will sagen eine Scheidung in ihren Organen herbeigeführt werden". S. oben S. 181. " Die staatsrechtliche Hebung des Bürgers im Verhältnis zur Staats­ gewalt war der alleinige Hebel, um den Jnquisitionsprozeß aus den Angeln zu heben. Sehr gut darüber Ullmann, Lehrbuch S. 30 ff. Grade um­ gekehrt Friedmann, bei Grünhut XVII S. 41 u. 87, der den Anklage­ prozeß begründet werden läßt „durch Loslösung der Funktion der Straf­ verfolgung von dem Richteramt", wofür aber der Angeklagte gar nicht in Betracht komme. " S. oben S. 183. S. auch v. Kries, Zf.StrRW. IX S. 14 ff.; R. Schmidt, StA. und Privatkläger S. 4 ff.

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Zweite Abteilung.

Strafprozeß.

Analog den Fällen, in denen die Voraussetzung für inquisitorisches Verfahren fehlt, müssen sich dann auch hier der strafverfolgende Staat und der verfolgte Verdächtige insofern auf dem Boden der Gleichberechtigung einander gegenübertreten, als die Geltendmachung des bestehenden Gewaltverhältnisses zwischen Staat und Untertan für die Strafverfolgung ausgeschaltet wird. Dann muß aber unbedingt das Strafprozeß­ rechtsverhältnis drei Subjekte erhalten: ein Forde­ rungsberechtigter tritt einem angeblich Leistungspflichtigen gegenüber, beide werden also echte Parteien für den Rechtsgang, und fordern vom Gericht die Entscheidung über den er­ hobenen Anspruch. Aus dem Verfahren ist die Gewalt des Strafberechtigten zur sozusagen eigenmächtigen Verfolgung seines fraglichen Anspruchs ausgeschieden und die Gewalt des unparteiischen Gerichts ist die einzige, die noch in ihm waltet, der allein auch beide Parteien unterworfen sind. Der Rechtsgang hat eine große Veredlung erfahren °'. Dieser Parteienprozeß wird regelmäßig, da ihm der Kläger nicht fehlen kann, als der akkusatorische bezeichnet: entscheidend ist aber die Rechtsstellung des Verfolgten. Er steht nicht im Banne einer Verfolgungsgewalt als deren Unterworfener^. 56 v. Kries, Lehrbuch S. 2 N. 1 (vgl. S. 277), spricht dem gemeinen Jnquisitionsprozeß die Eigenschaft eines ^gerichtlichen Verfahrens" ab. Das geht viel zu weit! Aber in ihm schreitet nicht der Richter, sondern der Straf- und zugleich der Verfolgungsberechtigte ein, der sich dann schließlich in den Richter umwandelt. Die Staatsgewalt nimmt sich unmittelbar selbst Recht: s. Glaser, Strafprozeß I S. 14. k" Gut führt Wahlberg, Kleine Schriften II S. 297 aus: „In der verschiedenen rechtlichen Lage des Beschuldigten in dem Untersuchungs- und dem Anklageprozesse spiegeln sich die verschiedenartigen Subjektionsverhält­ nisse der Staatsbürger in dem absolutistischen Polizeistaate und in dem konstitutionellen Rechtsstaate." 68 Ganz unhaltbar R. Schmidt, StA. und Privatkläger S. 7: „Die vorausgehende Ermittelung, das „Vorverfahren" unter der Leitung eines

III. Die gestaltende Kraft der Strafprozeßprinzipien.

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Und da er sich in dieser Stellung nur befinden oder nicht befinden kann, so leuchtet ein, daß es mehr als diese beiden Formen der Ausgestaltung des Prozeßrechtsverhält­ nisses nicht geben kann: der Strafprozeß trägt immer entweder inquisitorische oder akkusatorische Form. Daß beide Formen neben einander bestehen können, ist von der Geschichte für die verschiedensten Zeiten bezeugt. II. In dieser Formgebung erschöpft sich aber auch im Wesentlichen die prozeßgestaltende Kraft der Formalprinzi­ pien". Mehr ist aus ihnen kaum abzuleiten. Darüber aber, was sich aus ihnen ergibt und nicht er­ gibt, bestehen seltsame Irrungen, zu denen der unparteiische französische Staatsanwalt und das Mißverständnis der Rechtsstellung des staatlichen Strafklägers ihren reichlichen Beitrag geleistet haben. I. Aus dem Grundgedanken der inquisitorischen Form ergibt sich zwar, daß die ganze prozessuale Aktion dem Inquirenten zur Last fallen muß, aber schlechterdings gar nicht, ob dieser zum Einschreiten verpflichtet ist oder nicht, welcher Beweismittel er sich bedient, welches Beweis­ ziel er zu erreichen strebt, welche prozessualen Rechte etwa dem Jnquisiten eingeräumt werden sollen, und ob der Prozeß mündliche oder schriftliche Form annimmt? 2. Aus dem Grundgedanken der akkusatorischen Form lassen sich für die Prozeßausgestaltung nur zwei Folgerungen ziehen: a. eine positive dahin, daß der Ankläger die Anklage dem erkennenden Gerichte fremden Organs, nur das ist es, was das Wesen des Anklagegrundsatzes ausmacht." Aus dem, was Zachariae, Gebrechen, »das accusatorische Princip" nennt