Strafrechtliche Probleme: Schriften aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Günter Kohlmann [1 ed.] 9783428497508, 9783428097500

Das Buch enthält Arbeiten, die der bekannte Kölner Strafrechtler Hans Joachim Hirsch in den zurückliegenden drei Jahrzeh

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Strafrechtliche Probleme: Schriften aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Günter Kohlmann [1 ed.]
 9783428497508, 9783428097500

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Hans Joachim Hirsch . Strafrechtliche Probleme

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Klaus Bernsmann, Hans Joachim Hirsch Günter Kohlmann, Michael Walter Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln

Band 29

HANS JOACHIM HIRSCH

Strafrechtliche Probleme Schriften aus drei Jahrzehnten

Herausgegeben von

Günter Kohlmann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hirsch, Hans Joachim:

Strafrechtliche Probleme: Schriften aus drei Jahrzehnten I von Hans Joachim Hirsch. Hrsg. von Günter Kohlmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Kölner kriminal wissenschaftliche Schriften; Bd. 29) ISBN 3-428-09750-5

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1999 Duncker &

ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-09750-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Am 11. April 1999 vollendet der verehrte Kollege Universitätsprofessor Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch sein 70. Lebensjahr. Als akademischer Lehrer und Forscher hochgeschätzt und vielfach geehrt, kann er auf ein umfangreiches wissenschaftliches Werk verweisen, das seinesgleichen sucht. Seine Veröffentlichungen haben die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft in den letzten dreißig Jahren mitgeprägt und beeinflußt. Ihre Bedeutung reicht über den Tag hinaus. Dies und der Umstand, daß sie nicht immer leicht zugänglich sind, führte zu dem Entschluß, den vorliegenden Band zusammenzustellen. Die Vielzahl der Beiträge aus der Feder des Jubilars machte eine Auswahl unerläßlich. Sie erwies sich als schwierig. Ich habe mich von der Überlegung leiten lassen, welche der Jubilar wohl selbst für den Band ausgewählt hätte. Es bleibt die Hoffnung, daß die Auswahl geglückt ist und vor allem, daß ihm der umfangreiche Band Freude bereitet.

COLLEGAEBENEMERENTI AD MULTOS BENEDICfOSQUE ANNOS

Köln, im Januar 1999

Güllfer Kohlmann

Inhaltsverzeichnis Grundsätzliche Fragen Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht (Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1969, S. 304-327) ................................................................................................................

3

Bilanz der Strafrechtsreform (Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin 1986, S.133-165)..........................

25

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel (Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln 1988, S. 399-427)..

60

Zum Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht (Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag, Berlin 1989, S. 19-40) .........

93

Rechtsstaat und Strafrecht (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu, Seria doktorzy honoris causa Nr.14,PoznaflI991, S. 36-50) ................................................................................ 115 Gibt es eine national unabhängige Strafrechtswissenschaft? (Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag, Berlin 1992, S. 43-58) ..... 128 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts (25 Jahre Rechtsentwicklung in Deutschland - 25 Jahre Juristische Fakultät Regensburg, Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg Heft 11, München 1993,S.35-56) ......................................................................................... 144 Straf- und Strafprozeßrecht gegenüber neuen Formen und Techniken der Kriminalität (Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Strafund Strafprozeßrecht, Hirsch, Hofmanski, Plywaczewski, Roxin [Hrsg.], Bialystok 1996,S. 33-53) .................................................................................................. 162

VIII

Inhaltsverzeichnis

Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 342, Opladen 1996,32 S.) ....................................................................................................... 180

Allgemeiner Teil Soziale Adäquanz und Unrechtslehre (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 74(1962), S. 78-135) ......... 213 Zur Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte (Goltdammer's Archiv 1972, S. 65-78) .................................................................... 269 Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs (Festschrift für Eduard Dreher, Berlin 1977, S. 211-233) ....................................... 288 Strafrecht und rechtsfreier Raum (Festschrift für Paul Bockelmann, München 1979, S. 89-115) ............................... 310 Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, insbesondere im Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 93 [1981], S. 831-863)....

336

Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, insbesondere im Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Teil 11) (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 94 [1982], S. 239-278) ........

366

Rechtfertigungsgründe und Analogieverbot (Gedächtnisschrift für Zong Uk Tjong, Tokio 1985, S. 50-68) ............................... 405 Der "unmittelbare" Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt (Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, Köln 1985, S. 111-133)... 422 Hauptprobleme des dogmatischen Teils der deutschen Strafrechtsreform (Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1986. Hirsch [Hrsg.], BadenBaden 1987, S. 47-79) ....................................................................................... 448

Inhaltsverzeichnis

IX

Zur Stellung des Verletzten im Straf- und Strafverfahrensrecht. Über die Grenzen strafrechtlicher Aufgaben (Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln 1989, S. 699-721) ......................... 475 Wiedergutmachung des Schadens im Rahmen des materiellen Strafrechts (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 102 [1990], S. 534-562) ... 501 Die Stellung von Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem (Rechtfertigung und Entschuldigung 111. Eser und Perron [Hrsg.], Freiburg 1991,S. 27-54) .......................................................................................................... 529 Gefahr und Gefährlichkeit (Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Köln 1993. S. 545-563) ... 556 Können strafgesetzliche Rechtfertigungsgriinde, insbesondere der rechtfertigende Notstand, als Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe dienen? (Problemy kodyfikacji prawa karnego. Ksiega ku czci Profesora Mariana Cieslaka,Krak6w 1993,S. 111-130) ............................................................................... 577 Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 324, Opladen 1993,28 S. ) ....................................................................................................... 597 Konkrete und abstrakte "Gefährdungsdelikte" (Problemy odpowiedzialnosci karnej. Ksiega ku czci Profesora Kazimierza Buchaly, Krak6w 1994, S. 151-163) ...................................................................... 623 Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 106 [1994], S. 746-765) ... 637

Besonderer Teil Hauptproblerne einer Reform der Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 83 [1971], S. 140-176) ....

659

Einwilligung und Selbstbestimmung (Festschrift für Welzel zum 70. Geburtstag, Berlin 1974, S. 775-800) ................... 692

x

I nhal tsverzeich n is

Zur Rechtsnatur der falschen Verdächtigung (Gedächtnisschrift für Horst Schröder, München 1978, S. 307-329) ...................... 718 Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland (Beiträge zum VI. Deutsch-jugoslawischen Juristentreffen 1980, Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, hrsg. von Jescheck, Berlin 1981,S. 2-38) ............................................................................................................ 739 Zur Reform der Reform des Widerstandsparagraphen (§ 113 StGB) (Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag, Band 11, Köln 1983, S. 235255) ............................................................................................................................ 772 Entwicklungstendenzen der Reform des Besonderen Teils (insbesondere aus der Sicht des bundesdeutschen Strafrechts) (Libro homenaje al Luis Jimenez de Asua, Madrid 1986, S. 381-396 [spanisch])

797

Behandlungsabbruch und Sterbehilfe (Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, Berlin 1987, S. 597-620) ......... 814

Strafverfahrensrecht, Strafrechtsvergleichung, Rechtstheorie Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens (Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, Berlin 1976, S. 815-836) ...... 841 Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Unter Berücksichtigung der Stellung der Staatsanwaltschaft (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 92 [1980], S. 218-254) ........

863

Gegenwärtige Tendenzen zur Reform des Strafprozeßrechts in der Bundesrepublik Deutschland (Zeszyty Naukowe. Wydzialu Prawa i Administracji Uniwersytetu Gdanskiego, Band 12, Danzig 1984, S. 80-102) ........................................................................... 897 Probleme der Körperverletzungsdelikte nach deutschem und japanischem Strafrecht im Vergleich (Recht in Ost und West. Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokio 1988, S. 853-872) .................. 912

Inhaltsverzeichnis

XI

Die Regelung des Notstands im deutschen und spanischen Strafrecht im Vergleich (Jomadas sobre la "Reforma dei Derecho Penal en Alemania", Cuademos dei Consejo General dei Poder Judicial, Madrid 1991, S. 59-76 [spanisch])................ 932 Richterrecht und Gesetzesrecht (Juristische Rundschau 1966, S. 334-342) ........................................................ ....... 955 Sachverzeichnis .............. ............ .. ....... .. ....... ............................................................

981

Grundsätzliche Fragen

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

1969

I.

1) Durch den Beschluß des Großen Zivilsenats des BGH vom 6.7.1955 (BGHZ 18, 149) und die seitherige st. Rspr. ist, vom strafrechtlichen Schrifttum kaum beachtet!, eine Frage wieder aktuell geworden, die bis Anfang des Jahrhunderts gerade auch von den Kriminalisten auf das Lebhafteste diskutiert worden war: die Frage der Abgrenzung von Strafrecht und Zivilreche. 2) In dem Plenarbeschluß wird abweichend von BGHZ 7, 223 und 10, 104 die Ansicht vertreten, daß dem Schmerzensgeld (§ 847 BGB) im Unterschied zum Ersatz des Vermögensschadens nicht der Gedanke des Schadensausgleichs als alleiniges Prinzip zugrunde liege. Der Schmerzensgeldanspruch aus § 847 BGB sei vielmehr ein Anspruch eigener Art mit einer doppelten Funktion: Er solle dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, zugleich aber auch dem Gedanken Rechnung tragen, daß der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung schulde für das, was er ihm angetan hat. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes könnten somit grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge gäben, insbesondere der Grad des Verschuldens sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verpflichteten. Auf Grund des Genugtuungsgedankens sei es daher zulässig, Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit oder günstige wirtschaftliche Verhältnisse zuungunsten, besonders leichte Fahrlässigkeit dagegen zugunsten des Schädigers in Ansatz zu bringen. Auch müsse dem Tatrichter die Befugnis zustehen, das Schmerzensgeld für die

! Die einzige Stellungnahme von strafrechtlicher Seite bildet bisher ein Aufsatz von Hellmer, H. Mayer-Festschrift, S. 665 ff. 2 Aus dem damaligen Schrifttum sind besonders hervorzuheben: A. Merkel, Abhandlungen I, 1867, S. 57 ff.; Bindillg, Normen 1,2. Aufl., 1890, S. 270 ff., 284 ff. (mit weit. Nachw.); v. Liszt, Die Deliktsobligationen im System des Bürgerlichen Rechts, 1898, S.1 ff.; Gra/zu Doltna, Die Privatgenugtuung, Vergl. Darst. Allg. Teil I, S. 225 ff.

4

Grundsätzliche Fragen

die Folgen eines Verbrechens höher festzusetzen als beispielsweise für die äußerlich gleichen Folgen eines Fehlverhaltens im Verkehr'. Daß unter Genugtuungsgesichtspunkten vor allem ein den Schadensausgleich

übersteigendes Schmerzensgeld zulässig sein soll, ist inzwischen durch die weitere Judikatur bestätigt worden. So ist im BGH VersR 1961, 164 die Rede von einem "besonderen Grad des Verschuldens, der eine Erhöhung des Schmerzensgeldes über den sonst gebotenen Betrag hinaus rechtfertigen würde". Und ein zusätzlicher Schritt wird - im Anschluß an Larenz 4 - in BGHZ 35, 363 (GinsengFall) getan. Hieß es im PIenarbeschluß noch, daß der Ausgleichsgedanke auch fernerhin ,,an der Spitze" stehe, wird nun weitergehend erklärt, daß bei Verletzungen des sog. allg. Persönlichkeitsrechts die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes gegenüber der Ausgleichsfunktion durchaus in den Vordergrund trete s.

Das ziviIrechtIiche Schrifttum hat sich der Genugtuungslehre inzwischen ganz überwiegend angeschlossen(,. Auch die zivil rechtliche Abteilung des 45. Deut-

J Ansätze zu der im PIenarbeschluß vertretenen Auslegung des § 847 BGB finden sich übrigens schon in der Rspr. des RG, worauf der Große Zivilsenat auch ausdrücklich hinweist. In der im Jahre 1932 ergangenen Entscheidung RGZ 136,60 hieß es erstmals, daß es möglich sei, für die Höhe des Schmerzensgeldes ein besonders grobes Verschulden des Schädigers zu berücksichtigen; denn es könne auf den Geschädigten verbitternd wirken. Schon seit RGZ 63, 104 wurden die Vermögensverhältnisse des Schädigers, aber auch des Geschädigten bei der Schmerzensgeldbemessung mit herangezogen. Während diese Dinge jedoch damals lediglich im Rahmen allgemeiner Billigkeitserwägungen auftauchten § 847 BGB spricht von billiger Entschädigung - und deshalb noch nicht in einer dogmatischen Konzeption der Schadensersatzjudikatur ihren Niederschlag gefunden hatten, sind sie durch BGHZ 18, 149 auf juristische Formeln gebracht worden und haben eine die Grundprinzipien der Schadensersatzlehre in Bewegung bringende, tiefgreifende Bedeutung erlangt. Theoretische Ansätze hierzu finden sich bereits bei Heinrich StolI, Vertrag und Unrecht 11, 1936, S. 202, der neben dem ,,Ausgleichszweck" (Wiedergutmachung) einen "Genugtuungszweck" ("ideelle Genugtuung für das durch die Störung der Gemeinschaftsordnung verletzte Rechtsempfinden") annahm. Gegen die Beschränkung auf den Ausgleichsgedanken auch schon ausdrücklich Heinrich Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, 1934, S. 64. 4

NJW 1958, 828.

5

Weitere Entscheidungen bei HelLmer, a.a.O.

(, Enneccerus-Lehmann, 15. Aufl., S. 1005 (allerdings dort Bedenken bzgl. der Anrechnung der Vermögensverhältnisse des Schädigers); Ermall-Drees, 4. Aufl., 2 u. 3 b bb zu § 847 BGB; Esser, Schuldrecht, 2. Aufl., S. 922 ff. (insbes. S.924); Fikentscher, Schuldrecht, S. 610; LarellZ, Schuldrecht 11, 8. Aufl., S. 469 f; Palandt-Gramm, 27. Aufl.,

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

5

sehen Juristentages hat sich - durch ein von Hans Stoll erstattetes Gutachten bestärke - mit Mehrheit für sie ausgesprochen R• Nicht zuletzt findet sie sich in der Neufassung des § 847 BGB, wie sie im vonnaligen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeits- und Ehrenschutzes vom 18.10.1959 und jetzt im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom Januar 1967 vorgesehen ist. Die Problematik der Genugtuungslehre wird bisher so behandelt, als gehe es um eine rein zivilrechtliche Angelegenheit. Wenn jedoch bei einem deliktischen Verhalten auf den auszugleichenden immateriellen Schaden ein weiterer Betrag unter Genugtuungsgesichtspunkten draufgeschlagen werden kann, weil der Täter sich ,,besonders schuldhaft9 " verhalten hat (z.B. bei einer Beleidigung zu dem auszugleichenden immateriellen Schaden von 5000 DM weitere 15 000 DM wegen des besonderen Grades des Verschuldens), so sind das Entwicklungen, die dem Strafrecht kaum gleichgültig bleiben können. Erhebt sich doch die Frage, ob sich hinter dem Genugtuungsgedanken nicht die als überwunden geltende Privatstrafe verbirgt - wie das schon von Bätticher eingewandt worden ist lO - und damit die Funktionsteilung von Zivilrecht und Strafrecht berührt wird. 3) Aus dem schillernden Begriff "Genugtuung" allerdings läßt sich für die Frage, ob es hier um die Privatstrafe geht, nicht ohne weitere etwas entnehmen. Eine Genugtuungswirkung hat es für den Geschädigten auch, daß der schuldige Schädiger zum Ausgleich des Schadens verurteilt wird. Alle den Schädiger belastenden Rechtsfolgen der rechtswidrig-schuldhaften Tat haben einen mehr oder weniger großen Genugtuungseffekt. Es kommt daher auf das "Wie" der Genugtuung: die Art der betreffenden Maßnahme an. Dieses "Wie" besteht bei der Genugtuungslehre des BGH darin, daß zum Zwecke der Genugtuung des Geschä-

1 b u. 4 zu § 847 BGB; RGRK (Kreft), 11. Aufl., 7 zu § 847 BGB; Soergel-SiebertSclzräder, 9. Aufl., 3 u. 10 zu § 847 BGB. Jedoch sind Palandt-Gramm, 27. Autl., 6 i zu § 823,1 zu § 847 BGB dem BGH nicht bei der späteren Erstreckung des § 847 BGB auf das sog. allg. Persönlichkeitsrecht gefolgt. Zweifelnd insoweit auch Fikelltscher, a.a.O. S. 570, 610. 7 Empfiehlt sich eine Neuregelung der Verpflichtung zum Geldersatz für immaterielle Schaden? in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages I 1.

8

Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 11, S. C 113 ff, C 128.

9 Dabei braucht hier nicht weiter differenziert zu werden, inwieweit das besondere Verschulden sich als Folge eines erhöhten Handlungsunwerts (personale Unrechtslehre) ergibt.

10

MDR 1963,357 ff.; Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 11, S. C 20, C

114 ff. 2 Hirsch

Grundsätzliche Fragen

6

digten ein größeres Verschulden oder die besonders guten Vermögensverhältnisse des Schädigers in der Weise berücksichtigt werden, daß bei der Bemessung des Schmerzensgeldes über den Schadensumfang hinausgegangen wird. Ein solches Plus aber würde, da es keinen Ausgleich für irgendwelche materiellen oder immateriellen Schäden darstellen soll, ein reiner Ahndungsbetrag sein. Und so heißt es auch in dem Plenarbeschluß: Wenngleich dem Schmerzensgeldanspruch kein unmittelbarer Strafcharakter mehr innewohne, so schwinge in ihm doch auch heute noch etwas vom Charakter der Buße mit ll . Bevor man hieran Schlußfolgerungen knüpft, ist allerdings noch eine Möglichkeit auzuschließen: daß nämlich entgegen dem Plenarbeschluß der besondere Verschuldensgrad überhaupt schon zu einer Erhöhung des immateriellen Schadens führt und deshalb - wie Wiese behauptet 12 - das Ausgleichsprinzip in Wahrheit gar nicht durchbrochen ist. Zwar scheint die stark auf die Gefühlswelt hin orientierte herkömmliche Auffassung des immateriellen Schadens zusammen mit dem Gedanken, daß der Grad des Verschuldens besonders verbittern kann 1\ derartiges sogar nahezulegen. Jedoch ist zu beachten, daß es beim Schaden um Nachteile geht, die aus dem Erfolg entstehen, während die Verbitterung über den Verschuldensgrad aus dem Zuwiderhandeln gegen den Normbefehl resultiert und deshalb den Erfolgseintritt nicht einmal voraussetzt. Es handelt sich lediglich um die durch die schuldhafte Normverletzung erfolgte Kränkung des Rechtsgefühls, die Entrüstung über das schuldhafte Unrecht l4 • Daher geht es bei dem das Schmerzensgeld erhöhenden Genugtuungsbetrag nicht um Schadensersatz, sondern um eine über den Schadensumfang hinausgehende Buße, wie der Große Zivilsenat durchaus konsequent annimmt. Hans StolI, der sich am eingehendsten mit der - vom ihm bejahten - Genugtuungslehre befaßt hat, spricht deshalb davon, daß es sich um Genugtuung für den Verletzten durch ,,sühnung der Tat" handeleIs. Auch Bötticher und Esser weisen auf den in der Genugtuungslehre steckenden Sühnegesichtspunkt hin l6 • Er spiegelt sich darin wieder, daß der Schadensum-

11

A.a.O., S. 155.

12 Der Ersatz des immateriellen Schadens, 1964, S. 55 ff.; ähnlich Bydlillski, Österr Jurist.Blätter 1965,254. n Vgl. RGZ 136,60; BGHZ (GS) 18,149 (158). 14

So schon treffend Halls StolI, a.a.O. S. 154.

A.a.O., S. 152 ff. Vgl. schon Heinrich StolI, a.a.D. S. 202, der für den "Genugtuungszweck" anführte: "Der uralte Sühnegedanke ist nicht allein dem Strafrecht zu überlassen, sondern auch zivilrechtlich noch heute in manchen Fällen am Platz". 16 Bötticher, AcP 158,394 ff.; MDR 1963,357 ff.; Esser, a.a.O., S. 924; auch Reme, Die Aufgaben des Schmerzensgeldes im Persönlichkeitsschutz, 1962, S. 28 ff.; Mertens, Der Begriff des Vermögensschadens im Bürgerlichen Recht, 1967, S. 96. lS

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

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fang gerade dann überschritten sein soll, wenn ein schweres Verschulden vorliegt oder die Vennögensverhältnisse des schuldigen Schädigers besonders günstig sind. Denn das bedeutet, daß zum Zwecke der Genugtuung der Schädiger qua Täter getroffen werden soll: Hat er sich in erheblichen Maße schuldhaft verhalten, und sind seine Vennögensverhältnisse besonders günstig, so ist dies gebührend zu berücksichtigen, um eine Sühne zu erzielen. Das sind Überlegungen, wie sie von der Strafzumessung her geläufig sind. Auch spricht für den Strafcharakter, daß die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nach dem Plenarbeschluß "eine gewisse durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem" zum Ausdruck bringen soll17. Von seiten der Genugtuungslehre ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß der über den Schadensumfang hinausgehende Genugtuungsanspruch wegen seiner höchstpersönlichen Natur nicht von einem Dritten erbracht werden könne. Der persönliche Bußeffekt gehe sonst verloren l8 • Daher sei ein Anspruch auch nicht passiv vererblich und werde nicht von einer etwaigen Haftpflichtversicherung des Täters gedeckt 19 • Damit aber, daß es sich um eine Sühnesanktion handelt, erhebt sich die Frage, worin eigentlich der Unterschied zur alten Privatstrafe liegt. Hans Stoll schreibt: ,,Anders als bei der Strafe ist ... bei der Genugtuung die Sühne nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, nämlich zur Besänftigung des Verletzten. Die Genugtuung geschieht allein dem Verletzten zuliebe. Erwägungen, welche die Interessen der Allgemeinheit betreffen, sind nicht ausschlaggebend ...Der Genugtuungsanspruch ... wird hinfallig, wenn ... der Verletzte dem Täter verzeiheo. Aber diese Analyse der Genugtuung ist nichts weiter als eine präzise Charakterisierung der früheren PrivatstraCe. Denn deren Wesen bestand ja darin, daß der einzelne den Strafanspruch besaß und zum Zwecke der eigenen Genugtuung Zahlung einer - vom ihm der Höhe nach benannten - Geldstrafe an sich selbst verlangen konnte. Die vor dem Zivilrichter einklagbare Privatstrafe war das Mittel zur eigenen Genugtuung des Verletzten. Und hatte dieser dem Schädiger verziehen, so erlosch der Strafanspruch. Die Übereinstimmung mit der früheren Privatstrafe wird durch die folgenden Zitate aus der Literatur des gemeinen Rechts bestätigt. Bei Abegg heißt es: "Auf eine Privatstrafe im Sinne des römischen Rechts, d.h.

17

A.a.O. S. 157 (Hervorhebung von mir).

18 Hans 19

StolI, a.a.O. S. 155.

Hans StolI, a.a.O. S. 155; siehe auch die Glosse "Genugtuung durch andere?" in

NJW 1956 S. 1387. In BGHZ 18, 149 (165 ff.) wird ein Anspruch des Schädigers gegen den Versicherer auf Freistellung schlechthin bejaht, ohne daß geprüft wird, ob das mit den grundsätzlichen Ausführungen zur Genugtuung (S. 150 ff.) vereinbar ist. 20 A.a.O. S. 152. 2'

8

Grundsätzliche Fragen

auf eine von dem Schuldigen dem Verletzten zu gewährende pecuniäre Vergütung ... kann ... mittels der prätorischen iniuriarum aestimatoria actio ... angetragen werden". ,,Das Recht, wegen erlittener Unbill auf (Privat-) Strafe anzutragen ... , fällt weg, wenn jemand ... dem Beleidiger verzeiht" oder "wenn der Beleidiger starb"21. Ähnlich bemerkte MarezoLl: ,'privatstrafen ... bezwecken ... nur eine Privatgenugtuung für den einzelnen, durch das Unrecht Verletzten". Die Privatstrafe ist ,,gerichtet... auf eine von dem Injurianten dem Injuriierten zu bezahlende, von dem letzteren selbst, jedoch ... unter richterlicher Ermäßigung, nach der Größe der erlittenen Injurie zu bestimmenden Geldsumme'c22. Und Wächter, der von der "Genugtuungsstrafe" sprach, führte an, daß der Anspruch u.a. durch Verzeihung und - eine Konsequenz des pönalen Charakters - durch den Tod des Beleidigers ausgeschlossen werde2.1. Hinzuweisen ist auch auf die spätere Darstellung der auf die Privatstrafe gerichteten Klagen bei Binding , der schrieb: ,,Diese Klagen stehen nur dem bei der Klageerhebung Interessierten zu ... , gehen stets auf eine Buße, die in die Tasche des Klägers fällt, und werden vor dem Zivilrichter erhoben"24. An anderer Stelle sprach er von der - wie er damals meinte - überholten Auffassung, wonach dem verletzten einzelnen "das Recht auf Genugtuung in Gestalt des Anspruchs auf Privatstrafe zusteht"25. Auch machte Ernst Levy in seiner Monographie über ,'privatstrafe und Schadensersatz im klassischen römischen Recht" (1915) darauf aufmerksam, daß bereits im klassischen römischen Recht ein Kriterium für den Unterschied zwischen Schadensersatz und Privatstrafe darin gesehen wurde, daß die Strafklage im Gegensatz zur reipersekutorischen nicht passiv vererblich ist. Es habe als römisch-rechtlich von jeher anerkannte "certissima iuris regula" gegolten, daß "ex maleficiis poenales action es in heredem nec competere nec dari solere"26. Mithin läßt sich konstatieren, daß die - wenn auch unbewußte - Kongenialität der heutigen Genugtuungslehre mit der früheren Privatstrafendoktrin bis in die Nuancen reicht. Beim Schmerzensgeld hat sich unter dem Etikett "Genugtuungs-

21 Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 413, 417 f. 22 Das gemeine deutsche Criminalrecht, 3. Aufl., 1856, S. 143,444. 23

Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, 2.Teil, 1826, S. 98,106,108.

24 Grundriß des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 5. Aufl., S. 15. 25 Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. 1, S. 81. 26 S. 3 (Gai. IV 112). - Zur mittelalterlichen Theorie siehe Hermaml Lange, Schadensersatz und Privatstrafe in der mittelalterlichen Rechtstheorie, 1955, S. 129 ff., 146 ff.

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funktion des Schmerzensgeldes" eine Rückkehr zur Privatstrafe vollzogen. Da sie parallel zur Anerkennung des sog. allg. Persönlichkeitsrechts, sprich der alten iniuria-Lehre, erfolgt, handelt es sich um die Renaissance der actio iniuriarum aestimatoria des gemeinen Rechts. Es rundet das Bild nur ab, wenn in der Kommentierung des Plenarbeschlusses durch Pagendarm bei Lindenmaier-Möhring ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß der in BGHZ 7, 223 noch betonte Standpunkt, dem Schmerzensgeld wohne kein Strafcharakter inne, durch den Plenarbeschluß mit der Bejahung der Genugtuungsfunktion aufgegeben worden ist 27 •

11. 1) Es würde der Genugtuungslehre jedoch nicht gerecht werden, wollte man sie allein schon auf Grund der Feststellung ablehnen, daß es bei ihr in Wahrheit um eine Wiedererweckung der Privatstrafe geht. Es wäre immerhin denkbar, daß die Privatstrafe doch nicht ganz verzichtbar ist und daß trotz der in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts erreichten grundsätzlichen Abschaffung später in § 847 BGB eine Ausnahme entstanden ist. Der Große Zivilsenat beruft sich darauf, daß die Vorschrift eine billige Entschädigung fordert, und meint, daß der Ausgleichszweck deshalb nicht allein maßgebend für das Ausmaß der Leistung sein könne, vielmehr müsse die Entschädigung des § 847 BGB "billig" sein im Hinblick auf alle Umstände, die dem zu beurteilenden Schadensfall ihr Gepräge gäben 28 • Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß so ein schillernder Begriff wie der der Billigkeit nicht isoliert interpretiert werden darf, sondern nur aus der Vorschrift heraus, in der er auftaucht. Nach dem Gesetzeswortlaut handelt es sich bei § 847 BGB um einen echten Schadensersatzanspruch, der gegenüber anderen Schadensersatzansprüchen nur den Unterschied aufweist, daß der Schaden nicht in einem Vermögensschaden besteht. Es heißt in Abs. 1, daß der Verletzte im Falle der nicht angegebenen Rechtsgutsverletzungen auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen kann. Danach handelt es sich lediglich um eine Erweiterung des ersatzfähigen Schadens, nicht aber darum, daß abweichend vom übrigen Recht der unerlaubten Handlungen etwas anderes als echter Schadensersatz in Frage stehen soll. Außerdem ist § 847 BGB nicht ohne § 253 BGB zu sehen, der die Fälle des immateriellen Schadens, soweit das Gesetz sie berücksichtigt, als reine Schadensregulierung behandelt. Daß das Gesetz von ,,billiger" Entschädigung spricht, hat 27 LM Nr. 8 zu § 847 BGB, Anmerkung BI. 5 Rückseite. Siehe auch Krüger-Nieland in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 11, S. C 42; Hellmer, a.a.O. S. 673 ff. 28 A.a.O. S. 150, 157.

10

Grundsätzliche Fragen

auch auf dieser Grundlage seinen guten Sinn; denn der immaterielle Schaden läßt sich seinem Wesen nach nicht exakt rechnerisch bestimmen. Es ist lediglich eine Abfindung in Geld als Ausgleich möglich. Infolgedessen bedarf es einer Schätzung des Richters, welcher Abfindungsbetrag zum Ausgleich der immateriellen Nachteile geeignet ist. Diese im Schätzungswege zu ermittelnde Abfindung für die durch die unerlaubte Handlung herbeigeführte nichtvermögensrechtliche Benachteiligung ist gemeint, wenn § 847 BGB von einer "billigen" Entschädigung in Geld sprichf9 • Auf den Gesetzeswortlaut kann sich die Genugtuungslehre deshalb nicht berufen~o. Der BGH hat nun aber ferner behauptet, daß Ausgleichs- und spezifische Genugtuungs-, sprich Sühnegesichtspunkte nicht voneinander getrennt werden könnten~l. Wäre das richtig, so ließe sich immerhin daran denken, daß das Gesetz mit der Gewährung des Schmerzensgeldanspruchs vielleicht weiter gegangen ist, als es dem Gesetzgeber bei der Formulierung des Wortlauts bewußt war. Aber stimmt denn die These von der mangelnden Trennbarkeit? Sie hängt offensichtlich mit der herkömmlichen Schmerzensgeldlehre zusammen, nach der die psychische Wirkung auf den Geschädigten eine ganz entscheidende Rolle spielt. Danach scheint es nur darauf anzukommen, welche Unbill der Geschädigte tatsächlich insgesamt empfunden hat, nicht aber noch differenziert werden zu können, inwieweit der Seelenschmerz nur das Resultat des objektiven Erfolges und inwieweit er die Verbitterung über die besonders schuldhafte Handlungsweise des Schädigers ist. Aber auch wenn man davon ausgeht, daß die Gefühlstheorie beim immateriellen Schaden das Wesentliche zum Ausdruck bringt - worauf noch zurückzukommen ist -, so handelt es sich bei ihr doch um Bewertungen, so daß sich die Impression, die der Verschuldensgrad hervorruft, ausklammern läßt. Die Unbill des Geschädigten ist so zu veranschlagen, als liege überhaupt kein Verschulden des Schädigers an der eingetretenen Rechtsverletzung vor12 •

29 So auch früher BGHZ 7, 223 (225 f, 229). - Ob bei dem Merkmal der Billigkeit der Grad des Verschuldens des Täters und die Vermögensverhältnisse der Beteiligten schadensmilldemd berücksichtigt werden dürfen, ist eine Frage, die den reinen Schadensersatzcharakter des § 847 BGB unberührt läßt. Dazu näher ßötlicher, MDR 1963,356 f. JO In BGHZ 35, 363 (369) scheint die Beziehung zum Wortlaut des § 847 BGB sogar expressis verbis aufgegeben zu werden, indem an die Stelle der bisherigen Subsumtion von Genugtuungsfunktion und Ausgleichsfunktion unter den Begriff der "billigen Entschädigung" nunmehr von Genugtuungsfunktion und Entschädigungsfunktion des Schmerzensgeldes die Rede ist, obwohl die Vorschrift Ilur von Entschädigung spricht. 31 BGH VersR 1961, 164 f; auch Pagendarm, LM NT. 8 zu § 847 BGB, Anmerkung (Ziff. 3 b); Krüger-Nielalld, Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 11, S. C 40.

J2

Ebenso ist es möglich, außer Betracht zu lassen, daß das Vermögen des Schädigers

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

11

Darüber hinaus ist die Genugtuungslehre selbst genötigt, scharf zwischen Schadensausgleich und Sühneaktion zu trennen, wie übrigens auch Hans Stall einräumeJ • Und zwar folgt die Notwendigkeit hierzu aus der sich vom Sühnegedanken her ergebenden passiven Höchslpersönlichkeit. Leugnet man wie der BGH die Trennbarkeit, so würde damit der Schmerzensgeldanspruch contra legern in loto passiv höchstpersönlich. Stirbt der Verpflichtete (ohne daß die Verpflichtung zuvor durch Vertrag anerkannt oder rechtskräftigJ4 geworden ist), wäre der Anspruch aus § 847 BGB insgesamt erloschen. Auch ergäbe sich die Konsequenz, daß eine Haftpflichtversicherung in bezug auf Schmerzensgeld überhaupt nicht mehr möglich wäreJ5 • Außerdem darf nicht übersehen werden, daß der Schmerzensgeldanspruch auch in gewissen Fällen der Gefährdungshaftung besteht und es de lege ferenda vorgesehen ist, ihn dort in weiterem Ausmaß zuzulassenJ6 • Das bestätigt nicht nur, daß dieser Anspruch auch ohne Sühneaspekt möglich ist - eine Sühne kommt nur bei rechtswidrig-schuldhafter Tat in Betrache 7 -, es bedeutet vielmehr auch, daß der Anspruch auf der Grundlage der nicht differenzierenden Ansicht des BGH verschiedener Natur wäre, je nachdem, ob er sich auf Delikts- oder Gefährdungshaftung stützt. In einem Fall ginge es in toto um eine höchstpersönliche Schuld, im anderen um eine von Dritten erfüllbare und übemehmbare sowie in den Nachlaß sich fortsetzende Verpflichtung. Es wird jedoch wohl niemand behaupten wollen, daß es sachgerecht sein könnte, den Geschädigten hinsichtlich des Ausgleichsbetrages besser zu stellen, wenn es sich lediglich um die Gefährdungshaftung handelt. Demnach ist es nicht nur durchführbar, sondern auch notwendig, Schadensausgleich und Sühnegesichtspunkt voneinander zu trennen. Damit aber erweist sich der Gedanke der Untrennbarkeit als ungeeigneter Ausweg, die Auffassung des Großen Zivilsenats mit § 847 BGB und der Abschaffung der Privatstrafe für vereinbar zu erklären.

besonders groß ist, wie nicht zuletzt die st. Rspr. zu Ansprüchen aus § 847 BGB gegen den Fiskus beweist. Im übrigen wäre nach der personalen Unrechtslehre noch präziser wie folgt zu formulieren: Die Unbill des Geschädigten ist so zu veranschlagen, als läge nur Erfolgsunwert, nicht aber auch Handlungsunwert vor. JJ

A.a.O. S. 154 f. (er hält sie mit Recht für möglich).

J4

Zur Belastung des Nachlasses bei Rechtskraft vgl. § 30 StGB.

J5

Vgl. Hansrudolf Hartullg, NJW 1957, 125 ff.

Vgl. die Art. 3 Nr. 5 und 4 Nr. 2 des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom Januar 1967 sowie die Begründung S. ]57 f., 209, 219. J6

J7

Vgl. auch die Begründung zu dem vorgenannten Referentenentwurf, S. 158,209.

12

Grundsätzliche Fragen

2) Wie die Dinge im Bereich der §§ 823 ff BGB gegenwärtig liegen, wird man jedoch nicht darauf rechnen dürfen, mit dem Hinweis auf entgegenstehende gesetzliche Regelungen überzeugen zu können. Gerade § 847 BGB bildet eine Domäne des sog. Richterrechts. Reformideen, die hier abweichend vom Gesetz ständige Rechtsprechung geworden sind, werden als geltendes ,,Richterrecht" für sakrosankt betrachtet. Aber auch unabhängig von diesem wenig erquicklichen Zustand wird man sich die Frage vorlegen müssen, wie nun eigentlich die sachlich angemessene Lösung auszusehen hat - und nicht zuletzt im Hinblick auf die vorgesehene Neugestaltung der Schadensersatzregelungen des Deliktsrechts. War die generelle Beseitigung der Privatstrafe vielleicht doch eine Fehlentwicklung, die der - zumindest teilweisen - Korrektur bedarf? Es ist daran zu erinnern, daß [hering, nachdem er zunächst in seiner Abhandlung ,,Das Schuldmoment im römischen Privatrecht" die Beseitigung der Privatstrafe nicht ohne Pathos gefeiert hatte38 , einige Zeit später, nämlich im ,,Kampf um's Recht", ihre Wiederbelebung versucht hat. Sie sei - meinte er nunmehr - Ausdruck eines der gesündesten Gedanken im Reche 9 • Zweifel an der Richtigkeit der völligen Abschaffung haben später auch andere Autoren geäußert 41l , und die auf die Privatstrafe hinauslaufende heutige Genugtuungslehre könnte ebenfalls für die praktische Unentbehrlichkeit sprechen. Aber bedeutet eine auch nur teilweise Wiederbelebung nicht, daß das Zivilrecht in den Aufgabenbereich des Strafrechts vordringt? Ist es sachlich möglich, außer der öffentlichen Strafe auch eine der früheren Privatstrafe entsprechende "Genugtuungssanktion" anzuerkennen? Für eine solche Möglichkeit wird angeführt, daß der "Genugtuung" der für die echte Strafe kennzeichnende Abschrekkungszweck fremd sei; bei ihr sei die Abschreckung nur eine erwünschte Nebenwirkung41 • Dabei wird jedoch übersehen, daß der Abschreckungszweck weder im geltenden Strafrecht allein für das Wesen der Strafe kennzeichnend ist42 , noch im Gebiet der §§ 823 ff BGB nur eine erwünschte Nebenwirkung darstellt. Vielmehr ist die Abschreckung hier wie dort einer der Normzwecke, so daß sie für die

38

1867; in: Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879, S. 158,227,229.

J9

13. Aufl., 1897, S. 75 ff., 78, 90.

40 Seng, Arch. für Bürger!. Recht 5, 336 ff. (375 f.); Roh. v. Hippel, Deutsches Strafrecht I, S. 33 ff; Heinrich Lange, Vorn alten zum neuen Schuldrecht, 1934, S. 64; Grossfeld, Die Privatstrafe, 1961, S. 104 ff.; HallS Stall, a.a.O. S. 156 f.; Hellmer, H. MayerFestschrift, S. 672 ff.; wohl auch H. Mayer, Strafrechts reform für heute und morgen, 1962, S.64 f. 41

HallS Stall, a.a.O. S. 152.

42 So die eindeutig vorherrsch. Meinung, vgl. Schönke-Schröder, 13. Aufl., 4 ff. vor § 13 StGB (mit weit. Nachweisen).

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

13

Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht ein untauglicher Gesichtspunkt ist. Es entspricht der durchaus herrschenden Meinung, daß auch im Schadensersatzrecht in der Abschreckung mehr als eine nur erwünschte Nebenwirkung zu sehen ist 4J • Denn es geht bei den Tatbeständen der unerlaubten Handlungen, soweit nicht bloße Gefährdungshaftung in Rede steht, um die Verletzung rechtlicher Verbote und Gebote. Deliktisches Verhalten soll verhindert werden und damit die Sicherheit der geschützten Güter und Rechte gewährleistet werden. Die Rechtsfolge des Schadensersatzes hat deshalb auch eine wesentliche Präventivfunktion, gegenüber der Allgemeinheit wie gegenüber dem einzelnen Schädiger, und das gilt natürlich erst recht für die von der Genugtuungslehre behauptete Rechtsfolge der Sühnesanktion. Hierzu läßt sich auch gerade die Rechtsprechung des BGH anführen, in welcher der Abschreckungsgedanke in dem Hinweis auftaucht, daß der Schädiger durch das Schmerzensgeld mit dem Risiko eines fühlbaren materiellen Verlustes zu belasten sei44 • Auch der Gedanke, daß es einen für das Wesen der Rechtsfolge ausschlaggebenden Gesichtspunkt darstelle, ob sie als öffentliche Strafe oder im Gewande einer zivilrechtlichen Genugtuungssanktion auftrete und im ersten Fall Gegenstand eines Strafprozesses, im zweiten nur eines Zivilprozesses sei, wäre kaum überzeugend. Denn der Unterschied zwischen von Strafrecht und Zivilrecht ist mehr als eine Frage der Etikettierung. Indem man die Termini und die Prozeßart verwechselt, ändert sich noch nichts am Wesen einer Sache. Zwar wird in der Regel eine Verurteilung im zivilrechtlichen Gewande ein Minus gegenüber einer strafrechtlichen Verurteilung darstellen. Aber das wäre doch nur ein quantitativer Unterschied, ähnlich der Abstufung von Ordnungswidrigkeit und Straftat i.e.S., wie sich vor allem daran zeigt, daß für die öffentliche Strafe daneben kein Raum mehr wäre, vielmehr würde sie bereits mit der zivilrechtlichen Genugtuungssanktion verbraucht sein. Der Unterschied von Strafrecht und Zivilrecht ist jedoch notwendig ein qualitativer45 • Beide Rechtsgebiete haben verschiedene Funktionen, lassen sich deshalb gegenseitig unberührt und sind prozessual so ausgestaltet, daß sie die qualitative materiellrechtliche Verschiedenheit widerspiegeln.

4J BAGE 6, 321 (377); Bätticher, AcP 158,385; Elllleccerus-Nipperdey, Allg. Teil I, 15. Aufl., S. 597; Grossfeid, a.a.O. S. 80; Larem., NJW 1958,827 ff.; 1959,865; Strasser, Der immaterielle Schaden im österreichischen Recht, 1964, S.18 f.; Wiese, a.a.O. S. 52, 57; Mertells, a.a.O. S. 109. 44

BGHZ 35,363 (369).

Wenn auch der qualitative Unterschied nicht auf der Ebene des Unrechts zu suchen ist. Darüber im einzelnen Bindillg, Normen I, 1. Aufl., S. 142 ff.; vgl. auch Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 55 ff. 45

14

Grundsätzliche Fragen

Die Anhänger der Genugtuungslehre führen nun aber an, ein sachlicher Unterschied zwischen Strafe und "Genugtuung" sei daraus herzuleiten, daß die zivilrechtliche Sühnesanktion dem Geschädigten zugute kommen soll. Entscheidend sei bei ihr ja nicht eine als Vergeltung gedachte Nachteilszufügung gegenüber dem Schädiger, sondern die Vorteilszufügung an den Geschädigten, schreiben Strasser und Wiese 4fi • Ähnliches scheint der Große Zivilsenat im Auge zu haben, wenn er den unmittelbaren Strafcharakter der Verurteilung zur Genugtuung verneinen will 47 . Auch wurde oben schon die Bemerkung von Hans Stall zitiert, daß abweichend von der echten Strafe bei der Genugtuung die Sühne nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck sei, nämlich zur Besänftigung des Verletzten; die Genugtuung geschehe allein dem Verletzten zuliebe. Und KrügerNieland formulierte: Im Gegensatz zur echten Strafe werde die Genugtuung "nicht dem Verletzer zuleide, sondern dem Verletzten zuliebe festgesetzt"4K. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Genugtuungszweck nichts daran ändert, daß mit der Sühnesanktion tatsächlich Vergeltung geübt wird. Sie wird durchaus dem Verletzer zuleide gefügt; denn die ,,Leidzufügung" ist ja gerade das Mittel, mit dem die Genugtuung des Verletzten erreicht werden soll. Die Sühne dient hier, wie Hans Stall es treffend charakterisiert, als Mittel zum Zweck der Besänftigung des verletzten Rechtsgefühls des Geschädigten. Entscheidend ist für unsere Abgrenzungsfrage aber nicht, daß etwas Mittel der Genugtuung ist, den Ausschlag gibt vielmehr, wie wir gesehen haben, die Art des gegen den Geschädigten angewandten Mittels. Für den Schädiger bedeutet es keinen Unterschied, ob der Ahndungsbetrag in die Tasche des Geschädigten oder des Fiskus fließt, aber wesentlich ist für ihn, daß es sich überhaupt um eine Ahndungsmaßnahme handelt. Und sollte es etwa auch noch Zivilrecht sein, wenn eine ,,Besänftigung des verletzten Rechtsgefühls" überhaupt erst durch eine Freiheitsstrafe erreicht werden könnte? Ebenso wie die ,,Besänftigung" in einem solchen Fall auf Grund von Reaktionen verschiedener Zweige der Rechtsordnung (Zivilrecht: Schadensersatz; Strafrecht: Freiheitsstrafe) erfolgt, verhält es sich, wenn allein Geldsanktionen in Betracht kommen 49 . Vor allem erheben sich Zweifel, ob sich überhaupt sagen läßt, dem Geschädigten stehe gegen den Schädiger ein Anspruch auf Sühne zu. Denn wenn es auch eine typisch zivilrechtliche Aufgabe ist, die Anspruche der Rechtsgenossen untereinander zu regeln, so bleibt die Bejahung eines solchen Anspruchs

Strasser, a.a.O. S. 18 f.; Wiese, 3.a.0. S. 55. 47 Aa.O. S. 151,155. 46

48

A.a.O. S. C 39.

49 Vgl. zum vorhergehenden insbesondere Binding, Normen 1,4. Aufl., S. 288 ff.; HA. Fischer, Der Schaden, S. 263. - Im übrigen zeigt sich hier, daß es für das Ergebnis unerheblich ist, welche Straftheorie man vertritt, da zum Wesen der Strafe jedenfalls die Übelszufügung gehört.

Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht

15

durch die Genugtuungslehre nicht nur eine unbewiesene Behauptung, sondern stellt auch eine rechtsethisch unhaltbare These dar. Die Sühne bezieht sich doch auf die Verletzung deliktsrechtlicher Verbote oder Gebote. Der strafwürdige Verstoß gegen eine deliktsrechtliche Norm wird vergolten. Es geht dabei um die Verletzung der Rechtsordnung als Ausschnitt der sozialethischen Ordnung. Diese verlangt Sühne. Infolgedessen schuldet der Täter sie der staatlichen Gemeinschaft als Träger der Rechtsordnung und nicht etwa dem einzelnen Verletzten. Deshalb steht nur dem Staat der Strafanspruch - damit der Anspruch auf die Geldstrafe zu. Gerade aus dieser Erkenntnis heraus ist die Privatstrafe historisch überwunden worden 50 • Es ist in zivil rechtlich näher zu bestimmenden Grenzen notwendig, daß der Verletzte einen Ausgleich für seinen immateriellen Schaden erhält. Daß er die schuldhafte Verletzung der Rechtsordnung schmerzlich empfilldet, ist dagegen nur ein positiver Ausdruck seines Rechtsempfindens, bezahlen lassen kann er sich das nicht. Wenn daher davon die Rede ist, der Sühnebetrag an den Verletzten sei zur Besänftigung des verletzten Rechtsgefühls notwendig, so ist das ein juristischer und kultureller Atavismus51 • Es kommt daher nicht von ungefähr, daß sogar der Gedanke auftaucht, den Beklagten zur Zahlung des Genugtuungsbetrages an eine karitative Einrichtung zu verurteilen 52 • Aber damit sind dann auch die letzten Brücken zum Zivilrecht abgebrochen. Es läßt sich mithin feststellen: Die Wiederbelebung der Privatstrafe durch die Genugtuungslehre bedeutet, daß man sich auf frühere Entwicklungsstufen des Rechts zurückbegibt, nämlich zu den Verhältnissen, in denen der Staat den allein ihm zustehenden Strafanspruch noch nicht vollständig begründet hatte - Verhältnissen, in denen der Besänftigungsdrang noch nicht dadurch eingefangen war, daß man den Verletzten darauf beschränkte, mit der Strafanzeige, der Privat- oder Nebenklage und dem Klageerzwingungsverfahren auf die Verfolgung des öffentlichen Strafanspruchs Einfluß zu nehmen. Es handelt sich bei der Genugtuungslehre um echtes Strafrecht. So schrieb schon Wächter: " ... wenn das Recht eines Staates Privatdelikte kennt und Privatstrafen verhängt, so läßt es sich so wenig rechtfertigen, sie vom Strafrecht auszuschließen, als es sich rechtfertigen lassen

50

Darüber Gra/zu Dolllla, a.a.O. S. 226 ff.

Bezeichnenderweise findet er sich nicht bei der - wissenschaftlich stärker erforschten - Verletzung von Vermögensrechten, obwohl dort ebenso die Verletzung des Rechtsgefühls einhergeht. Zu bedenken ist ferner, daß das Rechtsgefühl gottlob zumeist unabhängig davon reagiert, ob man selbst der von der Tat Betroffene ist. Für die Genugtuungslehre stellt sich deshalb die (theoretische) Frage, weshalb eigentlich nicht auch Dritte etwas zur Besänftigung ihres Rechtsgefühls bekommen sollen. 51

52

Boehmer, AcP 155, 197 unter Hinweis auf die schweizerische Praxis.

16

Grundsätzliche Fragen

würde, nur die schwereren öffentlichen Verbrechen unter dem Strafrechte zu begreifen 'enschaft die personale Unrechtslehre mit Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils durchgesetzt hat. Der Reformgesetzgeber war sich bewußt, daß die gesetzliche Festschreibung von dogmatischen Lösungen voreilig sein und die weitere wissenschaftliche Entwicklung blockieren könnte 29 • Daß sich die Dogmatik des Allgemeinen Teils in Deutschland während der vorhergehenden 100 Jahre so fruchtbar entwickelt hat, war zu einem erheblichen Teil durch die Zurückhaltung der alten Fassung des StGB begünstigt worden. Mit Recht hat man deshalb im neuen Allgemeinen Teil einige Festlegungen vermieden, so etwa bezüglich der Definition von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder bei den Garantenstellungen. Im Rückblick erweist es sich auch als vorteilhaft, daß es entgegen §§ 20,39 Abs. 2 E 1962 und § 19 Abs. 1 AE nicht zu einer Regelung des Irrtums über einen rechtfertigenden Sachverhalt gekommen ist. Die Entwicklung ist hier weiterhin in Huß, wie die Hinwendung

28 Zur Ausgewogenheit von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten im dogmatischen System näher Hirsch, ZStW 94 (1982), 240 ff., 261 f., 266 ff., 271. 29

Vgl. BT-Drucks. V/4095, S. 7 f.

36

Grundsätzliche Fragen

der eingeschränkten Schuldtheorie vom Vorsatzausschluß zur Vemeinung der spezifischen Vorsatzschuld einer vorsätzlichen Tat zeigen. Trotz der für den dogmatischen Bereich der Reform charakteristischen Perfektion zeigen sich inzwischen auch einige Schwächen. So war es sachlich verfehlt, die alte Regelung der Akzessorietätsfrage bei qualifizierenden und privilegierenden besonderen persönlichen Merkmalen beizubehalten (jetzt § 28 Abs. 2 StGB). Diese aus dem Altbestand des StGB stammende Vorschrift paßt logisch nicht mit der im Jahre 1968 eingeführten Regelung zusammen, die jetzt in § 28 Abs. 1 StGB steht. Denn wenn im Falle des Absatzes 2 nur Bestrafung wegen Beteiligung am Grundtatbestand möglich sein soll, dann ergibt sich als logische Konsequenz für strafbegründende besondere persönliche Merkmale, daß der Extraneus dort entgegen Absatz 1 überhaupt nicht bestraft werden dürfte. Will man ein derart sachwidriges Ergebnis vermeiden, so müßte auch für die Fälle des Absatzes 2 die Regelung lauten, daß der anstiftende oder unterstützende Extraneus wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum qualifizierten oder privilegierten Delikt zu bestrafen ise l . Der Gesetzgeber wird daher wohl nicht umhinkönnen, den Fehler des § 28 StGB zu korrigieren JI •• Auch mehren sich die Zweifel, ob es sachlich richtig ist, den absolut untauglichen Versuch als strafbar anzusehen J2 • Es war daher verfrüht, in § 23 Abs. 3 StGB die subjektive Versuchstheorie mittelbar festzuschreiben, indem dort selbst bei grobem Unverstand des Täters nur ein Absehen von Strafe oder eine Strafmil-

JO So Gal/as, in: Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 177; lescheck, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1979, Vor § 13 Rdn.75; Lellckller, in: Schönke/Schröder, StGB, 22. Aufl. 1985, Vor § 13 Rdn. 120; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 1985, § 16 Rdn.3; Wesseis, Strafrecht, Alig. Teil, 15. Aufl. 1985, S. 112; u. a.

JI Der im Schrifttum teilweise unternommene Versuch, die Widersprüchlichkeit dadurch auszuräumen, daß man den Absatz 2 als reine Strafzumessungsregelung behandelt (vgl. Wagller, Amtsverbrechen, 1975, S.386; Cortes Rosa, ZStW 90 [1978],413; RoxiII, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1978, § 28 Rdn. 4 ff.), ist wegen des auf eine Tatbestandslösung hindeutenden Wortlauts und einer sich mehr als 100 Jahre daran orientierenden Auslegung recht problematisch, zumal jene Umdeutung zu Lasten des jeweiligen Extraneus gehen würde und die Friktionen zwischen Absatz 1 und 2 auch auf der Strafzumessungsebene bestehen blieben. Jla Fehlerhaft war es auch, die besonderen persönlichen Merkmale in § 14 StGB zu definieren, da sie hier eine andere Bedeutung als in § 28 StGB haben; vgl. Lellckller (Fn 30), § 14 Rdn. 8 m.w.N. J2 Vgl.lakobs, ZStW 97 (1985), 763 f, und die Diskussion auf der Strafrechtslehrertagung 1985, vgl. den Tagungsbericht von Gropp, ZStW 97 (1985), 919 ff.

Bilanz der Strafrechtsreform

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derung ermöglicht und damit vom Vorliegen eines strafbaren Versuchs ausgegangen wird. Unbefriedigend ist ferner die Ausbreitung der Kombination von besonders schweren Fällen mit Regelbeispielen. Man fragt sich, nach welchen sachlichen Gesichtspunkten der Gesetzgeber eigentlich den jetzt in § 12 Abs. 3 StGB ausdrücklich verankerten Unterschied zwischen ihnen und qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen vornimmt. Besonders augenfällig wird diese Frage, wenn ohnehin die Strafrahmenuntergrenze unter der für Verbrechen bleibt und deshalb auch bei der Regelung als qualifiziertes Delikt weiterhin nur ein Vergehen vorliegen würde. Die Gesetzgebung läßt in diesem Bereich ein wissenschaftlich nachvollziehbares Konzept vermissen. Sehr umstritten war bereits während der Beratungen die durch § 21 AE angeregte Neufassung der Vorschriften über die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit . Der Gesetzgeber entschied sich für eine Erweiterung des Anwendungsbereichs, indem er als zusätzlichen Fall die ,,schwere andere seelische Abartigkeit" in die §§ 20 und 21 StGB aufnahm. Hierdurch sollten alle nicht somatisch begründbaren Störungen, wie Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien, erfaßt werden. Er setzte sich damit über die Bedenken der Vertreter der sogenannten differenzierenden Lösung hinweg. Diese meinten, daß die seelische Abartigkeit nur zur Schuldminderung führen könneJJ • Sonst könnten sich viele Täter durch die völlige Exkulpationsmöglichkeit der strafrechtlichen Verantwortung gänzlich entziehen. Demgegenüber ging der Gesetzgeber davon aus, daß auch in Fällen der seelischen Abartigkeit eine völlige Schuldunfähigkeit möglich sei. In der Praxis ist der von den Gegnern der Neuregelung befürchtete Bruch der die Schuldunfähigkeit begrenzenden Dämme bisher ausgeblieben J4 • Die Anzahl der Fälle, in denen von den Gerichten Schuld unfähigkeit bejaht wird, hat sich seit der Reform nicht erhöht. Andererseits ist eine stetige Steigerung bei der Bejahung der verminderten Schuldfähigkeit zu beobachten. Sie ist von 1,25 % der erwachsenen Verurteilten vor der Reform auf jetzt 2,16 % jährlich gestiegen J5 • Es wird vermutet, ohne daß darüber zuverlässige Angaben vorliegen, daß die Judikatur in Fällen schwerer seelischer Abartigkeit vermehrt verminderte Schuldfähigkeit

~J So noch §§ 24, 25 E 1962 mit Begründung, S. 141 f.; dagegen Hilde Kaufmaml, JZ 1967, 140 ff. Zur Entstehungsgeschichte der jetzigen Regelung eingehend Leflckfler, in: Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie 1, 1972, S. 109 ff. ~4 Vgl. H. -L. Schreiber, NStZ 1981,46; RaschlVolbert, MSchrKrim. 1985, 137. J5 RaschlVolbert (Fn 34), S. 140.

4 Hirsch

38

Grundsätzliche Fragen

annimmt. Der Sache nach scheint sich die Praxis daher im Sinne der differenzierenden Lösung zu entwickeln. Im übrigen ist weder unter Juristen noch unter Medizinern geklärt, wie der Begriff der schweren seelischen Abartigkeit zu umgrenzen ist. Die vom BGH16 vertretene Differenzierung zwischen psychopathischen Charakterzügen und nicht vom Begriff erfaßten bloßen Charaktermängeln wird in der Psychiatrie als unbrauchbar abgelehne 7 • Ein anderer juristischer Abgrenzungsvorschlag sieht vor, nur solchen Fällen seelischer Abartigkeit Bedeutung beizumessen, die entsprechend den übrigen Schuldunfähigkeitsmerkmalen Krankheitswert haben18 • Sie sollen also in ihrer Schwere den ,,krankhaften seelischen Störungen" gleichwertig sein. Die Frage ist aber, bei Vorliegen welcher Voraussetzungen dies anzunehmen wäre. Bei alledem dürfte unter Juristen und Medizinern wohl wenigstens Einverständnis darüber bestehen, daß die Reform die Abgrenzungsprobleme der Schuldfähigkeit nicht beseitigt, sondern eher noch verschärft hat. Schließlich ist bei den dogmatischen Neuregelungen des Allgemeinen Teils noch zu registrieren, daß die gesetzliche Vertypung des bis dahin nur gewohnheitsrechtlich anerkannten rechtfertigenden Notstands ein unerwartetes neues Problem heraufbeschworen hat: die Frage, ob der neue § 34 StGB als Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe dienen kann19 • Indem die bisherige h.M. dies voreilig bejaht, setzt sie sich über die bestehenden öffentlichrechtlichen Einwände und die sich bereits in der Praxis abzeichnende Gefahr40 hinweg, daß man sich in Form des § 34 StGB eine Generalklausei zulegt, mit deren Hilfe man den Katalog der gesetzlichen Eingriffsbefugnisse nach Bedarf am Gesetzgeber vorbei ergänzt. In Wahrheit geht es bei den kritischen Fällen, nämlich lediglich solchen seltener Extremsituationen, um eine rein verfassungsrechtliche Problematik, die deshalb auch ausschließlich im Verfassungsrecht - und zwar eng umgrenzt - zu lösen und nicht einer ,,Jedermannsvorschrift" wie § 34 StGB zuzuordnen ist41 • Die dies außer acht lassende tatsächliche Entwicklung läßt sich indes nicht als Argument dafür anführen, daß die gesetzliche Typisierung des rechtfertigenden Notstands besser unterblieben wäre. Vielmehr war es, nachdem der allgemeine

16

Vgl. BGHSt. 14,30; 23,176,190; BGH NJW 1982,2009.

Näher H. -L. Schreiber, in: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, 1981, S. 80 ff. 17

18 So Lange, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1978, §§ 20/21 Rdn. 48; Lellckner (Fn 30), § 20 Rdn. 23.

19

Näher dazu Hirsch (Fn 5), § 34 Rdn. 6 ff. mit Nachw. zum Streitstand.

411

Vgl. die Nachw. bei Hirsch (Fn 5), § 34 Rdn. 8 u. 17.

41

Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 17.

Bilanz der Strafrechtsreform

39

rechtfertigende Notstand bereits seit Ende der zwanziger Jahre als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund anerkannt und in vielfältiger Weise praktisch geworden war, an der Zeit, ihn ebenso wie die Notwehr im Gesetz zu vertypen.

III. Wichtigste Punkte der Reform des Besonderen Teils

1. Der Reformgesetzgeber trat Ende der sechziger Jahre mit dem Ziel an, durch Reformen des Besonderen Teils die Strafbarkeit tatbestandlich einzuschränken, also mit dem Ziel tatbestandlicher Entkriminalisierung. a) Daß durch das 1969 ergangene 1. StrRG einige schon faktisch abgestorbene Strafbestimmungen, nämlich Ehebruch, Zweikampf und Sodomie, beseitigt und außerdem die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität aufgehoben wurden, war eine überfällige Entrümpelung des StGB. Ihre Notwendigkeit steht nicht mehr zur Diskussion. Auch die Herunterstufung des schweren Diebstahls (§ 243 StGB) vom Verbrechen zu einem Vergehen war angesichts des weiten und teilweise willkürlich erscheinenden Anwendungsbereichs, den diese Vorschrift durch die Rspr. erlangt hatte, prinzipiell angezeigt. Sie wird heute ebenfalls allgemein gebilligt. Eine andere Frage ist freilich, ob die Entwicklung der schweren Eigentumsdelinquenz vielleicht weniger explosiv verlaufen wäre, wenn man den alten § 243 StGB auf einen Bereich besonders gravierender Begehungsweisen eingegrenzt, diese aber weiter als Verbrechen eingestuft hätte. b) Im Unterschied zum 1. StrRG ist die Demonstrationsnovelle (3. StrRG 1970) weitgehend von der damaligen Tagespolitik bestimmt worden. Man wollte den Studentendemonstrationen, mit deren Zielen die linken Flügel der damaligen Regierungsparteien sympathisierten, nicht mit der Schärfe des bis dahin geltenden Rechts entgegentreten. Im Mittelpunkt stand die Einschränkung des Tatbestands des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB). Dieser sah bis zur Reform die Strafbarkeit aller Personen vor, die sich bewußt in einer gewalttätigen Menschenmenge befinden, ohne daß sie selbst gewalttätig zu sein brauchen. An ihre Stelle trat die Beschränkung der Strafbarkeit auf denjenigen Personenkreis, der nachweislich an Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen als Täter oder Teilnehmer beteiligt ist. Diese Gesetzesänderung, die trotz Abratens der konsultierten Polizeifachleute erfolgte42 , hat in der polizeilichen Praxis große Probleme, insbesondere körperliche Gefahren für die Polizeibeamten, heraufbeschworen. Die Diskussion ist dar-

42 Siehe dazu die öffentliche Anhörung auf der 4. und 5. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Pro!. 6, S. 29 ff.

4'

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Grundsätzliche Fragen

über deshalb nie verstummt. In den daher nach dem Regierungswechsel von 1982 aufgenommenen Beratungen für eine erneute Reform zeigte sich jedoch alsbald, daß der liberale Koalitionspartner, der die Reform von 1970 mitgetragen hatte, nur zu geringfügigen Änderungen bereit war. Man war sich deshalb wohl auch darüber klar, daß das nach langem Hin und Her schließlich herausgekommene strafrechtliche "Vermummungsverbot" und der neue Tatbestand des Mitführens von Schutzwaffen4J an den in der Praxis entstandenen Problemen nur wenig ändern werden. Eine über die Tagespolitik hinausgehende Reform bildete dagegen - wenigstens teilweise - die in der Demonstrationsnovelle enthaltene Neufassung der Stratbestimmung des Widerstands gegen die Staatsgewalt (§ 113 StGB). Hier hat man einer von der Wissenschaft seit langem erhobenen Forderung, dem Irrtum des Widerstandleistenden über die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung Relevanz zuzusprechen, Rechnung getragen. Andererseits wurde die Regelung so relativiert und verklausuliert, daß sie eine gedanklich klare Linie vermissen läßt. Darüber hinaus gerieten die Beratungen in ein ideologisches Fahrwasser, indem dort ernsthaft davon ausgegangen wurde, der Widerstand gegen Vollzugsbeamte sei ein privilegierter Fall der Nötigung und des Nötigungsversuchs. Auf diese Weise sind Friktionen entstanden, wenn der Widerstandleistende nicht mit Gewalt, sondern nur mit einem anderen empfindlichen Übel droht. Um eine Reform der Reform des § 113 StGB wird der Gesetzgeber auf die Dauer nicht herumkommen 44 • c) Eine Einschränkung der Stratbarkeit hatte weiterhin die 1973 erfolgte Reform des Sexualstrafrechts (4. StrRG) zum Ziel. Positiv war an ihr zum einen, daß sie die antiquiert wirkende Abschnittsüberschrift "Vergehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit" durch die Formulierung "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" ersetzte und den verstaubten Begriff "Unzucht" beseitigte. Außerdem entsprach die Einschränkung insbesondere der Stratbestimmungen des Mißbrauchs von Abhängigen, der Prostitution und der Verbreitung pornographischer Schriften sowie das rigorose Zusammenstreichen des Kuppeleitatbestands dem die sexuelle "Selbstverwirklichung" betonenden Zeitgeist. Die anfangs nicht auf ungeteilten Beifall stoßende Reform dürfte heute zunächst einmal im wesentlichen akzeptiert sein - von Einzelpunkten abgesehen, 4.1 Vgl. die Neufassung des § 125 Abs. 2 StGB durch das ÄndGStGBNersG vom 18.7.1985,BGBI.I1511. 44 Näher zum Ganzen Hirsch, in: Klug-Festschrift 11, 1983, S. 235 ff.; teilweise anders Dreher, JR 1984,401 ff.

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wie etwa einem äußerst fragwürdigen Erzieherprivileg bei der Strafbestimmung der Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 Abs. 1 S.2 StGB). Die Reform des Sexualstrafrechts stellt im großen und ganzen eine Anpassung strafrechtlicher Vorschriften an die gewandelte gesellschaftliche Auffassung dar. Andererseits zeigt sich hier aber auch die Schnelligkeit, mit der sich solche Auffassungen wieder wandeln. Denn heute werden Teile der Liberalisierung des Sexualstrafrechts, etwa im Bereich der Pornographie, von der weiblichen Emanzipationsbewegung kritisiert. d) Ein dringend reformbedürftiger Bereich war die Abtreibungsstrafbarkeit . In großen Teilen des Bundesgebiets gab es nicht einmal eine gesetzliche Bestimmung für den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch 45 , von anderen Indikationsfällen gar nicht zu reden. Auch entsprach die Klassifizierung der gewöhnlichen Fremdabtreibung als Verbrechen seit langem nicht mehr der sozialen Bewertung, so daß es nur folgerichtig war, daß bereits im 1. StrRG von 1969 eine Herabstufung zum Vergehen erfolgte. Zu einer heftigen weltanschaulichen Auseinandersetzung entwickelte sich jedoch die Beratung der eigentlichen Reform. Das 5. StrRG von 1974, das im Anschluß an den Mehrheitsvorschlag des Alternativkreises die Fristenlösung enthielt, wurde von der damaligen sozial-liberalen Koalition nur mit knapper Mehrheit im Parlament verabschiedet. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Fristenlösung zwar für verfassungswidrig46 • Die von der damaligen Parlamentsmehrheit daraufhin beschlossene Indikationenlösung47 wurde jedoch durch die konturenlose allgemeine Notlagenindikation und die noch darüber hinausgehende Straffreiheit der Schwangeren stark verwässert. In der Praxis hat das dazu geführt, daß heute praktisch jede von der Schwangeren subjektiv empfundene Kollisionslage als Fall der Notlagenindikation behandelt wird 48 • Die Anzahl der Schwangerschaftsabbruche wird auf jährlich 200 000 bis 300 000 geschätzt. In der Kriminalstatistik tauchen Fälle des noch strafbar verbliebenen Bereichs mit nur 24 Verurteilungen jährlich auf'9. Bemerkenswert ist auch, daß das komplizierte Gebäude von Straftatbeständen, das für den Verstoß gegen Beratungspflichten eingeführt worden ist, in der Praxis keine Bedeutung erlangt hat.

45

Zur damaligen Gesetzeslage näher BGHSt. 2, 111 und 242.

46

BVerfGE 39, 1.

47

5. StrRG vom 18.6.1974, BGB1.11297.

Siehe dazu den Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des Strafgesetzbuches, BT-Drucks. 8/3630, S. 81 ff. 4H

49

Statistisches Jahrbuch 1985, S. 343.

42

Grundsätzliche Fragen

Die Neuregelung stößt nach wie vor auf Widerstand, insbesondere bei der katholischen Kirche, aber auch in Kreisen der Ärzteschaft und in Teilen der Bevölkerung. Eine politische Mehrheit für eine erneute Änderung der Gesetzeslage ist jedoch nicht vorhanden. Sie existiert nicht einmal in bezug auf die Einhaltung der durch die geltende Indikationenregelung markierten Grenzen. Die Strafverfolgungsbehörden sind an diesem Bereich völlig uninteressiert. Wenn sie ihm Beachtung schenken würden, könnten sie dabei auch kaum auf Rückhalt in der Presse und bei den politisch verantwortlichen Organen rechnen. Die Rechtswirklichkeit besteht daher in einer verschleierten Fristenlösung. Faktisch ist deshalb kaum ein Unterschied zu den benachbarten Ländern festzustellen, in denen die Fristenlösung ausdrücklich gilt51l • e) Das voluminöse EGStGB 1974, das gleichzeitig mit dem neuen Allgemeinen Teil am 1. 1. 1975 in Kraft trat, brachte außer der technischen Anpassung der Strafrahmen des Besonderen Teils an die Neuregelung des Allgemeinen Teils und der schon erwähnten Einführung des § 153 a StPO mehrere Neuformulierungen von Vorschriften des Besonderen Teils. Es ging dabei um Änderungen, bei denen der Gesetzgeber .glaubte, daß sie unproblematisch seien und daher keiner öffentlichen Erörterung bedürften. Sie standen außerhalb des Blickfelds der auf die Strafrechtsreformgesetze fixierten Öffentlichkeit. Das um so mehr, weil der Entwurf des EGStGB 1974 nicht vorher publiziert wurde. Neben einer Reihe positiv zu beurteilender Änderungen, wie etwa der Neufassung des § 259 StGB, der Einführung der Versuchsstrafbarkeit bei § 223 a StGB und der tatbestandlichen Trennung von sachlicher Begünstigung und Strafvereitelung (§§ 257, 258 n. F. StGB), sind auf diese Weise einige unzureichend durchdachte Neuformulierungen ins Gesetz gekommen, die lediglich alte Auslegungsprobleme durch neue ersetzt haben. Besonders zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Neufassungen der §§ 147 und 233 StGB sowie die Regelung des § 258 Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikt. Auch bietet der endlose § 203 n. F. StGB Anlaß zu Reflexionen über die Qualität heutiger Gesetzgebungstechnik. Durch die Eingriffe des EGStGB 1974 ist zudem die Homogenität des StGB nicht unerheblich beeinträchtigt worden. So nahm man - einen Gedanken des E 1962 aufgreifend - die sog. unechten Amtsdelikte aus dem Abschnitt "Straftaten im Amte" heraus und regelte sie, soweit sie beibehalten wurden, im

50 Zum Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich jüngst Koch, ZStW 97 (1985), 1043. Eine für das deutsche Recht sich jetzt stellende Frage ist, ob es nicht für die bereits selbständig lebensfähige Leibesfrucht einer qualifizierenden Strafdrohung bedarf; vgl. dazu Hirsch, JR 1985,340 unter Hinweis auf "child destruction" im englischen Strafrecht.

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43

Anschluß an die Grundtatbestände. Den Tatbestand der Körperverletzung im Amt ließ man jedoch an seinem bisherigen Platz (§ 340 StGB) zurück. Auch änderte man teilweise die erfolgsqualifizierten Tatbestände, indem man bei einigen über § 18 StGB hinausgehend Leichtfertigkeit bezüglich der schweren Folge anordnete. Wieso jedoch bei den übrigen Tatbeständen Fahrlässigkeit weiterhin genügen, bei den geänderten dagegen Leichtfertigkeit erforderlich sein soll, scheint mehr vom gesetzgeberischen Zufall als von sachlichen Differenzierungsüberlegungen beeinflußt zu seins I . Insgesamt macht ein nicht unerheblicher Teil des EGStGB 1974 den Eindruck des Überhasteten. Man wollte - unter dem Druck der Politiker - zusammen mit dem neuen Allgemeinen Teil möglichst viel von der Strafrechtsreform über die Bühne bringen und übersah darüber die Unausgereiftheit mancher Änderungen und die Flickschusterei, auf die einige von ihnen hinausliefen. 2. Ging es zunächst bei den Teilreformen des Besonderen Teils um eine Einschränkung der Strafbarkeit, so ist seit Beginn der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die gegenteilige Tendenz zu beobachten. Seither geht es um eine Erweiterung und Verschärfung. a) An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Gesetzgebung zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität zu nennen. Schon 1971 hatte der Gesetzgeber verfahrensrechtliche Verbesserungen zur Intensivierung der Verfolgung geschaffen52 • Mit den durch das 1. WiKG von 1976 eingeführten neuen Tatbeständen des Subventionsbetrugs und des Kreditbetrugs erstrebte er sodann eine materiellrechtliche Verschärfung der Bekämpfung, indem er die Strafbarkeit auf Fälle der abstrakten Vermögensgefährdung vorverlegte. Auch wenn man davon ausgeht, daß das Schutzbedürfnis hier eine Vorverlegung der Strafbarkeit rechtfertigt, so erheben sich doch Bedenken gegenüber der gesetzgeberischen Ausgestaltung. Das erste besteht in den gesetzlichen Überschriften. Sie bezeichnen die

51 Die Vernachlässigung des Homogenitätsgesichtspunkts bei diesen - nicht immer vordringlichen - Änderungen hat wohl auch verhindert, daß man die Beseitigung der vor allem im Gefolge der Novellengesetzgebung mehr und mehr entstandenen Ungleichheit der Regelung der tätigen Reue bei vollendeten Unternehmens- und Gefährdungsdelikten (z. B. § 229 und §§ 311 a, 311 c StGB) mit in das «technische« Reformpaket des EGStGB 1974 aufgenommen hat. Auf diese Weise hängt nach dem Gesetzestext und der auf ihn abstellenden Praxis die Beachtlichkeit der tätigen Reue hier weiterhin davon ab, wann eine Strafbestimmung ins Gesetz aufgenommen worden ist. Zur Notwendigkeit der Rechtsanalogie de lege lata Eser, in: Schönke/Schröder, 22. Auf). 1985, § 24 Rdn.116; Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Auf). 1981, § 229 Rdn. 22 m.w.N. 52 Durch Gesetz v. 8. 9. 1971 (BGB!. I 1513) wurden Wirtschaftsstrafkammern (§ 74 c GVG) eingerichtet.

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Grundsätzliche Fragen

neuen Delikte als Subventions- und Kreditbetrug. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Etikettenschwindel des Gesetzgebers53 • Schon der § 263 StGB zeigt, daß zum Betrug der Eintritt eines Vermögensschadens gehört, und demgemäß wird derjenige, der sogar die subjektive Tatseite des § 263 StGB aufweist, aber mit seiner Ausführungshandlung noch keinen Schaden bewirkt hat, nur wegen versuchten Betrugs bestraft. Mit der bei §§ 264 und 265 b StGB benutzten Etikettierung wird daher etwas suggeriert, was in den Fällen, in denen nur diese Vorschriften erfüllt sind, gerade noch nicht vorliegt: ein Betrug54 • Noch bedenklicher aber ist es, daß in § 264 Abs. 3 StGB auch Fälle der leichtfertigen Begehung für stratbar erklärt werden. Damit wird in den strafrechtlichen Vermögensschutz, der nur Vorsatzdelikte - und zwar in aller Regel als Verletzungsdelikte - kennt, nun sogar ein fahrlässiges abstraktes Gefährdungsdelikt hineingebracht. Eine solche Ausweitung zerstört die Ausgewogenheit des strafrechtlichen Vermögensschutzes und sprengt die Grenzen des Kriminalstrafrechts55 • Wesentliche praktische Bedeutung haben diese Vorschriften aber nicht erlangt56 • Vielmehr steht der klassische Betrugstatbestand weiterhin ganz im Vordergrund. Die eigentlichen Probleme der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität liegen nach wie vor im Verfahrensbereich, es sei denn, es handelt sich um neue Erscheinungsformen, die sich bestehenden Tatbeständen nicht subsumieren lassen. Um solche Erscheinungsformen geht es bei der Computerkriminalität, also der Manipulation von automatisierten Rechnerabläufen. Das vom Bundestag kürzlich verabschiedete 2. WiKG sieht deshalb einschlägige neue Tatbestände vor, insbesondere einen Tatbestand des Computerbetrugs (§ 263 a StGB). Un-

53 Man kann sich dafür auch nicht auf § 265 StGB berufen, da dieser - wie sein subjektiver Tatbestand zeigt - nach Art eines Unternehmensdelikts konzipiert ist. Zudem ist die Bezeichnung "Versicherungsbetrug" erst durch das EGStGB 1974 in das Gesetz aufgenommen worden.

54 Erst recht ließe sich nicht von Betrug sprechen, wenn man - wie das unzutreffend teilweise geschieht - das geschützte Rechtsgut des § 264 StGß nicht im Vermögen, sondern in der staatlichen Planungs- und Dispositionsfreiheit sieht. Denn Betrug i. S. des StGB setzt jedenfalls ein Vermögensdelikt voraus. 55 Zur Kritik näher Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, 1982, S. 122 ff. 56 Siehe dazu die Angaben bei Kaiser (Fn 6), S. 356 ff.; Kießller, Kreditbetrug § 265 b StGB, 1985, S. 83 ff.; auch schon lescheck, in: Max-Planck-Gesellschaft, Jahrbuch 1980, S. 26 f. Im Jahre 1984 wurden lediglich 113 Personen aus § 264 StGB verurteilt, nach § 265 b StGB sogar nur 5 Personen; vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1984, S. 18.

Bilanz der Strafrechtsreform

45

streitig besteht ein kriminalpolitisches Bedürfnis für solche Vorschriften. Denn der klassische Betrugstatbestand versagt, wenn es nicht um die Täuschung eines Menschen geht. Auch in zahlreichen ausländischen Staaten gibt es entsprechende Reformbestrebungen 57 • Das 2. WiKG enthält ferner einen Tatbestand des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs (§ 266 b StGB). Zur Aufnahme dieser Vorschrift sah man sich durch schwerwiegende juristische Fehler der höchstrichterlichen Judikatur veranlaßt 5N • Denn zunächst wurde in der Scheckkartenentscheidung BGHSt. 24, 386 fälschlich - und unter Übersehen der langjährigen gegenteiligen Rspr. zu den Sparbuchfällen - der § 263 StGB (z. N. der ausstellenden Bank) bejaht, dagegen der nach der bis dahin anerkannten Auslegung anzunehmende § 266, 1. Alt. StGB verneint. In der späteren Kreditkartenentscheidung BGHSt. 33, 244 sah man dann zwar zutreffend, daß § 263 StGB nicht einschlägig ist, gelangte jedoch nun zum Freispruch, weil man nicht gleichzeitig zum § 266, 1. Alt. StGB zurückfand. Wenn der Gesetzgeber deshalb jetzt einen § 266 b StGB schafft, so handelt es sich dabei lediglich um eine KlarsteIlung, daß hier eben doch eine Untreue anzunehmen ist. Die Rspr. muß sich bei dieser "Reform" den Vorwurf gefallen lassen, durch mangelhaft durchdachte Entscheidungen zur Deformierung des StGB beizutragen. Neben qualifizierenden und privilegierenden Tatbeständen bekommen wir nun auch noch einen klarstellenden, und wegen der sachlichen Überflüssigkeit läßt sich unschwer voraussehen, welche neuen Rechtsprobleme eine solche Sonderregelung produzieren wird. b) Auch gegenüber dem Terrorismus sah sich der Gesetzgeber im Jahre 1976 veranlaßt, die Strafbarkeit auszudehnen und zu verschärfen. Durch das sogenannte Anti-Terroristen-Gesetz59 wurde die Strafbestimmung der Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129 a StGB) eingeführt. In zwei anderen neuen Strafbestimmungen (im 14. StÄG) ging es um die verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten und die Anleitung zu Straftaten (§§ 88 a, 130 a a. F. StGB). Diese beiden Vorschriften waren von Anfang an umstritten. Man bezweifelte ihre Effektivität und befürchtete eine zu starke Einschränkung der Meinungsfreiheit. Bereits 1981, also fünf Jahre später, sind sie deshalb wieder aufgehoben worden. c) Um Ausdehnung der Strafbarkeit geht es ebenfalls bei dem neuen UmweLtstrafrecht von 1980. Das verstärkte Umweltbewußtsein ruft nach entsprechenden 57 Dazu Sieber, Informationstechnologie und Strafrechtsreform, 1985, S. 27 ff. Zur Problematik der konzipierten tatbestand lichen Ausgestaltung ders., S. 31 ff.; außerdem Winkelbauer , Computer und Recht 1985, 43. 5N

Vgl. auch den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 10/5058, S. 32.

59

ÄndGStGB/StPO v. 18.8. 1976, BGB1.12181.

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Grundsätzliche Fragen

strafrechtlichen Sanktionen für schwerwiegende Fälle. Aber die neuen Vorschriften (§§ 324 ff. StGB) sind wenig befriedigend. Sie enthalten einerseits viele unscharfe und auch in den Bagatellbereich sich erstreckende Tatbestandsmerkmale. Andererseits besteht zumeist eine blankettmäßige Verknüpfung mit verwaltungsrechtlichen Vorschriften, so daß die neuen Strafbestimmungen oft tatsächlich nicht angewandt werden können, weil die betreffende Umweltverschmutzung von einer Verwaltungsbehörde genehmigt is(~). Man hat bei diesem Teil der Reformgesetzgebung deshalb etwas den Eindruck, daß er den Politikern damals vor allem als Alibi diente, um schnell und ohne Budgetaufwand sagen zu können, für den Umweltschutz etwas getan zu haben. In der Kriminalstatistik beläuft sich die Zahl der Verurteilungen inzwischen aber immerhin auf rund 1000 Personen jährlich, wobei eine leicht ansteigende Tendenz zu verzeichnen ist61 • Auffallend ist jedoch, daß die meisten polizeilich eingeleiteten Verfahren schon vor Anklageerhebung eingestellt werden. Zudem sind die verhängten Strafen recht niedrig: in 85 % der Fälle liegt die Geldstrafe nach Umrechnung der Tagessätze unter 1000 DM 62 • Außerdem ist allgemein zu fragen, ob die Grenzen des Umweltschutzes wirklich sachgemäß gezogen werden. So fällt unter den Wortlaut des Umweltstrafrechts, wer in ein Gewässer uriniert, dagegen bleiben Architekten und Bauherm, die durch das Errichten von Betonklötzen die Landschaft auf unabsehbare Zeit ruinieren, schon von vornherein außerhalb der Tatbestände. d) Zu einer Ausweitung und Verschärfung der Strafbarkeit führte auch die Entwicklung der Drogenszene. Das neue Betäubungsmittelgesetz von 1982 enthält neben der Einführung therapiebegünstigender Rechtsfolgenregelungen die Verschärfung der Strafdrohungen für besonders schwerwiegende Handlungsweisen. Außerdem hat es durch die Bildung zahlreicher selbständiger Tatbestände im Bereich materieller Vorbereitungs-, Versuchs- und Teilnahmehandlungen eine im Vergleich zum sonstigen deutschen Strafrecht ungewöhnliche Vorverlegung der Strafbarkeit gebracht. Interessant ist, daß in der Praxis jedoch nur 3 % aller überhaupt wegen Drogenvergehen erfolgten Aburteilungen den neu pönalisierten Bereich betreffen63 •

60

Näher zur Kritik Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Bem. 1 vor § 324 m.w.N.

61 In den Jahren 1981 bis 1984 ist die Verurteiltenziffer von 928 auf 1139 angestiegen; vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1981, S.20; 1984,

S.20. 62 Zu diesen Ergebnissen kommt eine im Auftrag des Umweltbundesamtes durchgeführte Untersuchung der Universität Bonn, vgl. FAZ vom 25.2. 1986. 63 BT-Drucks.1O/843, S.18 f.

Bilanz der 5trafrechtsreform

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e) Schließlich ist die im Sommer 1985 in Kraft getretene ,Auschwitz-Novelle" zu erwähnen. Ein Referentenentwurf aus dem Jahre 1982 sah vor, den Tatbestand des § 140 StGB um das Leugnen oder Verharmlosen von Völkermord und die Verbreitung von Schriften solchen Inhalts zu erweiternM. Damit sollte die Strafbarkeit von Äußerungen, mit denen die Ermordung der Juden in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten abgeleugnet oder bagatellisiert wird, gewährleistet werden. Die stark von Emotionen und politischen Pressionen geprägte Diskussion führte schließlich zu dem Ergebnis, daß sich die Regierungsparteien auf eine Lösung innerhalb des Beleidigungsrechts einigten. Ausgehend davon, daß derartige Äußerungen Beleidigungen der Überlebenden oder eine Verunglimpfung der Ermordeten seien, strich der Gesetzgeber für jene Fälle und auch solche, in denen es um Opfer einer anderen Gewalt- oder Willkürherrschaft geht, in § 194 StGB das Antragserfordernis. Dieser Komprorniß hat die allgemeinen strafrechtstheoretischen Fragen, die der Gedanke, man könne schon das Leugnen oder Verharmlosen historischer Ereignisse pönalisieren, zwangsläufig aufwirft, nicht aus der Welt geschafftM . Sie sind nun unter den - auch nicht nach Belieben interpretierbaren - Begriffen ,,Beleidigung" und ,Verunglimpfung" verdeckt. 3. In die aktuelle Reformdiskussion sind auch noch einige andere Bereiche des Besonderen Teils geraten, ohne daß sich indes ein Tätigwerden des Gesetzgebers abzeichnet. a) An erster Stelle sind hier die Tötungstatbestände zu nennen. Die heutige Abgrenzung der Strafbestimmungen des Mordes und des Totschlags ist problematisch geworden, weil die lebenslange Freiheitsstrafe in einer Reihe von Fällen, in denen nach Auffassung der Strafjustiz der Mordtatbestand gegeben ist, als unangemessen hohe Strafe erscheint. Das Bundesverfassungsgericht hat sich deshalb bekanntlich für die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der restriktiven Auslegung ausgesprochen, insbesondere bei den Merkmalen der Heimtücke und der Absicht der Verdeckung einer Straftat61i • Der BGH hat sich jedoch nicht zu einer einschränkenden Interpretation dieser Tatbestandsmerkmale entschließen können, sondern hat einen übergesetzlichen Strafmilderungsgrund aufgestellt, mit Hilfe dessen der Strafrahmen im kritischen Bereich des Merkmals Heimtücke

64

BT-Drucks. 10/1286.

65 Zur Kritik siehe Ostendorf NJW 1985, 1062. Kritisch zur Entstehungsgeschichte DrelterlTrölldle, 5tGB, 42. Auf]. 1985, § 130 a a. F.; Lachter (Fn 60), § 194 vor Anm.l. r.r,

BVerfGE45, 187.

48

Grundsätzliche Fragen

relativiert werden sollfi7. Diese Rechtsfolgenlösung ist im Schrifttum überwiegend auf berechtigte Kritik gestoßen 6H • Sie überschreitet nicht nur die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung, sondern bewirkt, weil sie nicht in einer einschränkenden Neudefinition der fraglichen Tatbestandsmerkmale, sondern in einer vom Gesetzeswortlaut gelösten Milderungsklausel besteht, einen Schwund an Rechtssicherheit. Darüber hinaus beläßt es jene Konstruktion einerseits dabei, daß die Täter doch jedenfalls tatbestandlich einen Mord begangen haben, andererseits führt sie zu einer Strafuntergrenze von nur 3 Jahren, wodurch sogar die Mindeststrafe des Totschlags unterschritten wird. Ohne Eingreifen des Gesetzgebers ist dieser exponierte Bereich des Besonderen Teils daher wohl nicht wieder ins Lot zu bringen. Andererseits besteht nicht der Eindruck, daß der Gesetzgeber dazu schon im gegenwärtigen Zeitpunkt in der Lage wäre. Ein Lösungsmodell, das auf breitere Zustimmung rechnen könnte, ist bisher nicht in Sicht. Auch der Deutsche Juristentag, der sich 1980 mit dem Thema befaßte, konnte sich lediglich auf allgemein gehaltene Leitlinien für die Reform der Tötungsdelikte verständigen 69 • Zu dem Fehlen eines konsensfähigen Lösungskonzepts tritt möglicherweise beim Gesetzgeber die Sorge hinzu, es könne eine neue Diskussion über die beim Mord als absolute Strafe angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe entbrennen. b) Hinzu kommt, daß eine Reform der Tötungsstrafbestimmungen auch das Thema Sterbehilfe berühren würde. Über sie wird seit Mitte der siebziger Jahre mehr oder weniger lebhaft in der Öffentlichkeit diskutiert. Beim Aufkommen dieser Diskussion trafen zwei Faktoren zusammen: Erstens der Fortschritt der Medizin, der es ermöglicht, daß das Sterben des Menschen in sinnloser und unwürdiger Weise verlängert wird. Zweitens eine individualistische Zeitströmung, die nach der weitgehenden gesetzlichen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nun die Freigabe der Euthanasie zur Reformforderung erhob. Nachdem die Debatte zeitweilig in ein ruhigeres Fahrwasser geraten war, ist sie seit 1984 wieder stark in Bewegung geraten. Den Anlaß dazu haben der Fall Dr. Hackethai und die Rechtsunklarheit schaffende Begründung der Entscheidung BGHSt. 32, 367 gegeben.

67

BGHSt. (GS) 30,105.

Siehe etwa BrulIs, JR 1981, 358; ders., in: Kleinknecht-Festschrift, 1985, S.49; Günther, NJW 1982, 353; Jescheck, SchwZStR 100 (1983), 27; DrelzerlTrölIdle (Fn. 65), § 211 Rdn. 17 m.w.N. 68

69 Vgl. die Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 53. Deutschen Juristentages, 1980, M 163 ff.

Bilanz der Strafrechtsreform

49

Bisher besteht bei den politischen Parteien begreiflicherweise wenig Neigung, sich auf die Inangriffnahme einer strafgesetzlichen Regelung der Sterbehilfe einzulassen. Denn sie würde bis einschließlich der indirekten aktiven Euthanasie überflüssig sein 70, andererseits leicht die bisher vor der direkten aktiven Euthanasie stehenden Barrieren zum Einsturz bringen können. In der Tat sind die Bedenken gegenüber der Straffreiheit der letztgenannten Fallgruppe schwerwiegend. Im Interesse der Wahrung des Schutzes des Rechtsguts Leben vor aktiven Tötungshandlungen ist die prinzipielle Unantastbarkeit fremden Lebens unverzichtbar71 • Soweit sich in Extremsituationen einmal ergeben sollte, daß das Eingreifen des Strafrechts verfehlt wäre, würde der als Rechtsinstitut anerkannte übergesetzliche entschuldigende Notstand dann immer noch ein ausreichendes ,,Notventil" bilden 72. Daher wird der Gesetzgeber wohl gut daran tun, wenn er sich nicht zu einer strafgesetzlichen Initiative zur Regelung der Sterbehilfe drängen ließe. c) Dagegen wird die stünnische Entwicklung der Naturwissenschaften den Gesetzgeber bald dazu zwingen, im Bereich von Fortpjlanzungstechnologie und Humangenetik tätig zu werdenn. Strafrechtlich geht es vor allem darum, daß pönalisiert wird, menschliche Embryonen nach dem Eintritt der ersten Zellteilung außerhalb des Mutterleibs für Forschungszwecke oder kommerzielle Verwendung weiterzuzüchten. Außerdem wird es notwendig sein, das Klonen von Menschen unter Strafe zu stellen; denn Klonen wäre mit der Menschenwürde unvereinbar, da jeder Mensch das Recht auf eigene unwiederholbare Identität hat 74. d) Schließlich zeichnet sich ab, daß der Gesetzgeber sich mit dem Nötigungstatbestand befassen muß. Die jetzige Fassung, die das Produkt einer mißlungenen Refonn aus dem Jahre 1943 ist, entsprach hinsichtlich der Begehung durch Drohung von Anfang an nicht rechtsstaatlichen Anforderungen. Durch die inzwischen erfolgte Aufweichung des GewaItbegriffs hat sich dieser Mangel auch auf die erste Begehungsfonn ausgedehnt. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht 70 Zur Straflosigkeit der bloßen Teilnahme an der Selbsttötung, der passiven Euthanasie sowie der indirekten aktiven Euthanasie, vgl. Geilen, FamRZ 1968, 125 f.; Engisch, in: Eser, Suizid und Euthanasie, 1976, S. 315 ff.; Eser, in: Eid, Euthanasie, 1975, S. 59; Hallack, in: Hiersche, Euthanasie, 1975, S. 163; Jällllke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1980, Vor § 211 Rdn.llff. m.w.N. 71

Näher Hirsch, in: Welzel-Festschrift, 1974, S. 787 ff.

72

Vgl.Hirsch (Fn 5), Vor § 32 Rdn. 204 m. w. N.

n Der Bundesminister der Justiz hat jetzt ein ,,Embryonenschutzgesetz" angekün-

digt, vgl. FAZ vom 4. 3. 1986. Mit den betreffenden Fragen befaßt sich auch eine Enquete-Kommission; zu deren Aufgaben siehe den Bericht von Bellda, NJW 1985, 1730. 74 Zum Ganzen siehe Arthur Knufmallll, in: Oehler-Festschrift, 1985, S. 649; Mersson, Fortpflanzungstechnologien und Strafrecht, 1984.

50

Grundsätzliche Fragen

entgegen der im Schrifttum verbreiteten Auffassung75 nicht zur Annahme von Verfassungswidrigkeit gelangen sollte, wird der Gesetzgeber wegen der zutage tretenden Problematik an einer Präzisierung des Tatbestands nicht vorbeikommen.

IV. Gesamtbewertung der Reform 1. Hier bedarf als erstes der große Qualitätsunterschied 'Zwischen dem neuen Allgemeinen Teil einerseits und den Teilreformen des Besonderen Teils andererseits der Hervorhebung. Der neue Allgemeine Teil entspricht - von gelegentlichem übertriebenen Perfektionismus abgesehen - gesetzestechnisch dem Niveau der herkömmlichen deutschen Strafgesetzgebung. Von der bisherigen Reformgesetzgebung zum Besonderen Teil läßt sich das dagegen nicht behaupten 76. Sie enthält bedauerliche Gesetzgebungspannen, so beispielsweise bezüglich der Koordinierung der Neuregelung des § 113 StGB mit dem allgemeinen Nötigungstatbestand des § 240 StGB oder bei der Neufassung des § 147 StGB. Außerdem produziert sie monströse Strafbestimmungen, bei denen man den Eindruck hat, der seit dem Feuerbach'schen Strafgesetzbuch von 1813 erfolgte Übergang zu griffigen Tatbestandsbildungen habe nicht stattgefunden: Einige neue Vorschriften erstrecken sich jede über nicht weniger als eineinhalb Seiten des Gesetzbuches und machen eher den Eindruck eines Verordnungstextes77 • Auch hat man manche Regelungen so kompliziert gefaßt, daß sie nur mühsam durchschaubar sind. Dies gilt insbesondere für die Neuregelung der §§ 218 ff. StGB. Zum anderen ist aber auch eine Vorliebe für Generalklausein zu beobachten. Das neue Umweltstrafrecht bildet hierfür ein Beispiel. Die Erklärung für diesen Qualitätsunterschied ist leicht zu finden. Er beruht auf den Auswirkungen des eingangs genannten Gesetzgebungskonzeptes, die Reform des Besonderen Teils von der des Allgemeinen Teils abzukoppeln und nach und nach durch Gesetzesnovellen zu vollziehen. Aus den bereits erwähnten Gründen blieb dem Gesetzgeber keine andere Wahl, als diese Abkoppelung vorzunehmen, zumal sich auch bis in die Gegenwart gezeigt hat, daß er durch in schneller Folge auftretende neue Erscheinungsformen sozialwidrigen Verhaltens 75 So bereits H. Mayer, Mal. I 267 ff.; Wehet, Das Deutsche Strafrecht, 11. Auf!. 1969, S. 327; Hirsch, 'Z1)tW 74 (1962), 122 ff.; neuerdings insbesondere Calliess, NJW 1985,1506.

76 Kritisch schon Lenckner, in: Tübinger Festschrift, 1977, S. 239, 253 ff.; Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S. 50 ff. 77

Vgl. §§ 184,203,284 StGB.

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fortwährend mit besonders aktuellen Reformproblemen in Teilbereichen konfrontiert wird. Der eingeschlagene Weg hatte dann allerdings folgende Konsequenz: Während der AlIgemeine Teil unter starker unmittelbarer oder mittelbarer Beteiligung der Wissenschaft zustande kam, wie es bei einer Kodifikation von der Dignität eines Strafgesetzbuchs von jeher selbstverständlich ist, handelt es sich bei der Reformgesetzgebung zum Besonderen Teil um Regelungen, an deren Abfassung die Wissenschaft oft nur wenig beteiligt worden ises. Ein weiterer Punkt ist der, daß bei Fragen der Reform des Besonderen Teils weltanschauliche und tagespolitische Gesichtspunkte verstärkt Einfluß zu gewinnen suchen. An der Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit ein Rechtsgut strafrechtlich zu schützen ist, entzünden sich leicht die Leidenschaften. Deshalb besteht bei den Gesetzgebungsorganen auch nicht selten die Tendenz, Meinungsverschiedenheiten durch Generalklauseln oder sonstige verschleiernde Formulierungen zu überspielen, um die Entwürfe im Parlament rnehrheitsfähig zu machen. Außerdem hat die nur schrittweise Reform des Besonderen Teils zur Folge, daß ein Gesamtplan, wie er nun einmal einer Kodifikation zugrunde liegen muß, nicht mehr recht erkennbar ist. Inzwischen sind zahlreiche Ungereimtheiten entstanden: von der Einführung eines fahrlässigen abstrakten Gefährdungsdelikts im Bereich der Vermögensdelikte über die Uneinheitlichkeit der Regelung der Erfolgsqualifizierungen und die Zufälligkeit bei der Einordnung als besonders schwerer Fall oder Qualifizierung bis hin zu der uneinheitlichen Plazierung der Amtsdelikte. Als weiterer Mangel kommt hinzu, daß die Bereitschaft der politischen Parteien gewachsen ist, Strafgesetznovellen auch mit knapper Mehrheit zu verabschie-

78 Der parlamentarischen Beratung des Allgemeinen Teils lag der in der amtl. Großen Strafrechtskommission unter starker Beteiligung von Professoren vorbereitete Entwurf, der 1962 als Regierungsentwurf in den Bundestag eingebracht worden war, und der von einem Professorenkreis erarbeitete AE 1966, den die FDP-Fraktion einbrachte, zugrunde. In den Beratungen des Sonderausschusses des Bundestages sicherten Dreher, welcher der Großen Strafrechtskommission angehört hatte, und Horstkotte, der in enger Verbindung zum Alternativkreis stand, als Vertreter des Bundesjustizministeriums diesen wissenschaftlichen Bezug. Die Vorbereitung der Novellen zum Besonderen Teil befand sich dagegen vielfach ganz oder vorherrschend in den Händen von Justizverwaltung und Parteijuristen. Zeitweilig waren zwar einige Teilreformen mehr oder weniger durch Entwürfe des Alternativkreises beeinflußt, aber die Gewichte verlagerten sich doch zunehmend von der Wissenschaft weg zu Parlamentariern und Beamten. Die Anhörung einzelner - zudem nicht selten unter parteipolitischem Blickwinkel ausgesuchter - Theoretiker durch den jeweiligen Parlamentsausschuß hatte zumeist nur punktuelle Bedeutung.

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Grundsätzliche Fragen

den, selbst auf die Gefahr hin, daß bei veränderten Mehrheitsverhältnissen die betreffenden Vorschriften erneut geändert werden. Auf solche Weise wird nicht nur die Wichtigkeit verkannt, die dem Gesichtspunkt der Kontinuität gerade bei Reformen des Strafrechts zukommt, sondern auch die Autorität des Gesetzgebers untergraben 79. Der neue Allgemeine TeiL wird dagegen als zusammenfassendes Ergebnis einer bis an den Anfang des Jahrhunderts zurückreichenden Reformdiskussion mit Recht von Wissenschaft und Praxis als beeindruckende gesetzgeberische Leistung betrachtet. Allerdings läßt sich die Reform von 1975 für sich allein gesehen der Bedeutung nach kaum in eine Reihe stellen mit Marksteinen der Entwicklung bildenden Gesetzeswerken früherer Jahrhunderte. Wie sich im vorhergehenden zeigte, enthält der neue Allgemeine Teil weniger prinzipiell Neues als vielmehr überwiegend einen Ausbau des bereits Vorhandenen. Das heißt natürlich nicht, daß es bei der Grundkonzeption, die das StGB bei seinem InkrafUreten 1871 verfolgte, im wesentlichen geblieben wäre. Man muß jedoch beachten, daß das StGB schon in den zurückliegenden Jahrzehnten fortlaufend an den gesicherten Stand der wissenschaftlichen Forschung durch Gesetzesnovellen angepaßt worden ist. Es läßt sich deshalb sagen, daß wir bereits seit Jahrzehnten eine permanente Strafrechtsreform haben, also gewissermaßen eine Strafrechtsreform in Raten. Das aber heißt, daß die drei bedeutendsten Reformen des Allgemeinen Teils des StGB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen worden sind: nämlich als wichtigstes Ergebnis einer jahrzehntelangen Reformdiskussion die Einführung von Maßregeln der Besserung und Sicherung am Anfang der dreißiger Jahre, die Abschaffung der Todesstrafe 1949 und die Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung 1953. Der neue Allgemeine Teil hat daher eher den Charakter eines Ausbaues des durch jene grundsätzlichen Weichenstellungen bereits eröffneten Weges. 2. Sieht man sich die Zielsetzungen der Reform des Allgemeinen Teils und der übrigen bis 1975 ergangenen Reformgesetze an, so ging es in den parlamentarischen Beratungen um drei Gesichtspunkte: Resozialisierung, Entkriminalisierung und HumanisierungKo • a) Der Resozialisierungsgedanke spielte bei der Reform des Allgemeinen Teils eine zentrale Rolle, zwar noch nicht im E 1962, aber im AE AT und in der parlamentarischen Beratung. Das bisherige Recht trug ihm, auch in der durch die 79

So schon Lellckner (Fn 76), S. 261.

Siehe zu diesen Leitprinzipien auch Tiedemallll, ZStW 86 (1974),347 f.; Kaiser, ZStW 86 (1974), 350 ff.;Jesclleck, SchwZStR 91 (1975),14 ff.; Blau, ZStW 89 (1977), 515 f.;Ebert,JR 1978, 136. M

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Novellengesetzgebung schrittweise modifizierten Fassung, noch zu wenig Rechnung. Die vom Anfang der sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre zu beobachtende Resozialisierungseuphorie verführte den Gesetzgeber aber glücklicherweise nicht dazu, sich einseitig am Behandlungskonzept zu orientieren, wie dies in den USA und in Schweden geschehen war. Infolgedessen ist es auch nicht zur Einführung der unbestimmten Freiheitsstrafe und auch nicht zu einem obligatorischen sozialtherapeutischen Behandlungsvollzug gekommen. Bekanntlich ist in den USA, in Schweden und in anderen Ländern inzwischen der Resozialisierungseuphorie eine Resozialisierungskrise gefolgt, und das Pendel scheint dort ins entgegengesetzte Extrem auszuschiagen K1 • Angesichts dieser neuen Krise der Kriminalpolitik besteht die Gefahr heute darin, daß unter dem Einfluß jener internationalen Entwicklung die positiven Seiten des ResozialisierungskonzeptsR2 wieder verlorengehen. Da sich die deutsche Reform nicht einseitig am Resozialisierungsgedanken orientiert, sondern sich um ein ausgewogenes kriminalpolitisches Konzept bemüht hat, zeichnet sich bei uns eine derartige Entwicklung aber bisher nicht ab. b) Eine zweite Zielsetzung der Strafrechtsreform war die Entkriminalisierung, also der ultima-ratio-Gedanke. Diese Zielsetzung ist, wie sich im vorhergehenden gezeigt hat, nur begrenzt durchgehalten worden. Der Umfang der im Gesetz für strafbar erklärten Verhaltensweisen nimmt schon seit 1975 nicht mehr ab, sondern im Gegenteil immer mehr zu. Auch die Entkriminalisierung der Bagatelldelinquenz ist wegen der erwähnten prozessualen Ulsung rechtlich nur unzulänglich erfolgt, weil sie die Einstufung als Straftat unberührt läßt und nur die Rechtsfolge und das Verfahren betrifft. Nicht weniger problematisch ist, daß der § 153 a StPO inzwischen einen Anwendungsbereich erlangt hat, der weit über die Fälle geringer Schuld hinausgeht. Dies ist faktisch möglich, weil es gegen diese Einstellungsbeschlüsse keinen Rechtsbehelf gibt. Was als geringfügig im Sinne der Vorschrift anzusehen ist, bestimmen daher praktisch diejenigen, die über die Einstellung zu befinden haben. Auch kann seit dem EGStGB 1974 bei Eigentums- und Vermögensdelikten die auf § 153 oder § 153 a StPO gestützte Einstellung im Vorverfahren sogar vom Staatsanwalt allein vorgenommen werden. Durch diese ausdrückliche Herabstufung von Eigentum und Vermögen gegenüber anderen Rechtsgütern hat der Re-

RI

Dazu Jescheck, ~tW 91(1979),1037; 98 (1986), 20 f.

R2 Wie auch Hilde Kaufma1l1l (Fn 20), S. 202, betont hat, gibt es "keine Alternative zur Sozialtherapie".

5 Hirsch

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Grundsätzliche Fragen

fonngesetzgeber mit zu dem inzwischen für jedennann spürbaren Rückzug des Eigentumsschutzes beigetragen K3 • Ein anderer Bereich, in dem die Einstellungspraxis (hier nach §383 Abs. 2 StPO) zu einem breiten Rückzug der Strafverfolgung geführt hat, betrifft §223 StGB und §§185 ff StGB, also Privatklagedelikte. Bei ihnen ist der Strafschutz praktisch zum Erliegen gekommen. Diese Entwicklung hat bereits vor der Strafrechtsrefonn begonnen und ist durch sie weiter beschleunigt worden K4 • Dieser Sachlage bei den Delikten gegen den einzelnen steht das Bemühen um lückenlose Verfolgung nicht nur aller Straftaten gegen die Allgemeinheit, sondern auch aller Ordnungswidrigkeiten gegenüber. Letzteres ist um so bemerkenswerter, als bei Ordnungswidrigkeiten gerade nicht das Legalitätsprinzip, sondern allgemein das Opportunitätsprinzip gilt. Der Versuch, die Entkriminalisierung auf rein prozessualem Wege durchzuführen, hat deshalb über die schon in anderem Zusammenhang aufgezeigten negativen Auswirkungen hinaus auch zu einer starken Verzerrung der Verfolgungspraxis geführt. Nicht die geringe Schuld gibt den Ausschlag, sondern das, was die Verfolgungsorgane als öffentliches Interesse ansehen. Hier hat sich die Refonn einseitig zu Lasten des Strafschutzes des einzelnen ausgewirkt, und zwar gerade auch der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten, für die andere Fonnen des Schutzes nicht zur Verfügung stehen. Darüber hinaus hat die durch die Einführung des § 153 a StPO ausgelöste Entwicklung wohl dazu beigetragen, daß das Vertrauen in die Objektivität der Staatsanwaltschaften nicht unerheblich nachgelassen hat K5 •

83 Zur Kritik vgl. BaumallII, ZRP 1972, 275. Der Rückzug des Eigentumsschutzes wird zudem dadurch bestätigt, daß in mehreren Bundesländern pauschalierende Richtlinien der Justizverwaltung bestehen, bei Diebstählen bis 50 oder 100 DM Schadenshöhe das Verfahren einzustellen; vgl. z. B. die nieders. "Richtlinien für die Behandlung der Kleinkriminalität", Nds.Rpfl. 1976, 48, und den nordrh.-westf. Ministerialerlaß von 1986; kril. hierzu FAZ vom 26.2.1986 und der Bundesjustizminister Ellgelhard, bei Weck, NJW 1986, XXV. K4 Zur Entwicklung des Privatklageverfahrens Dörillg, Beleidigung und Privatklage, 1971; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage, 1974; Hirsch, in: LangeFestschrift, 1976, S. 815.

85 Dadurch, daß die Staatsanwaltschaften einen gewissen - von ihnen großzügig gehandhabten - Entscheidungsspielraum erhalten haben, werden sie jetzt auch häufiger in politische Auseinandersetzungen verwickelt, in denen der Vorwurf erhoben wird, bei bestimmten Anklagen und Einstellungen seien politische Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen. Da im Rahmen des Opportunitätsprinzips Weisungsmöglichkeiten

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c) Eine dritte, sich mit den beiden vorgenannten Zielen teilweise überschneidende Zielsetzung ist die Humanisierung des Strafrechts. Insbesondere spiegelt sich diese Tendenz heute in der Zurückdrängung der Freiheitsstrafe wider. Auf Freiheitsstrafe lauten heute nur noch 19 % aller Verurteilungen. Da von diesen 65 % zur Bewährung ausgesetzt werden, liegt der Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen unter Einbeziehung der widerrufenen Aussetzungen jetzt bei 10 % aller VerurteiltenR6 • Angesichts der schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen, die das Verbüßen einer mehr als kurzzeitigen Freiheitsstrafe für den einzelnen und seine Umgebung hat, ist sie nur dann angebracht, wenn das Gewicht der Tat sie unbedingt erforderlich macht. Auch hat sich gezeigt, daß verschärfte Geldstrafen das Strafbedürfnis vielfach durchaus befriedigen können. Andererseits wurde im vorhergehenden schon darauf hingewiesen, daß die Geldstrafe keineswegs immer die geeignete Alternative zur Freiheitsstrafe darstellt. Abgesehen davon, daß sie entsprechende finanzielle Voraussetzungen beim Verurteilten erfordert, wird durch sie detjenige Täter, für den die Freiheitsstrafe unangemessen wäre, aber die Geldstrafe eine nur unzureichende Ansprache bietet, nicht ausreichend erfaßt. Die Versuche ausländischer Rechte, die Lücke zu schließen, etwa durch die Verurteilung zu community service, wurden noch nicht beachtet87 • Auch die differenzierte Rechtsfolgenregelung des Jugendstrafrechts empfand man nicht als Anregung. Es ist daher zu registrieren, daß neben der mißlungenen Lösung der Bagatellkriminalitätsfrage eine gewisse Phantasielosigkeit bei den Rechtsfolgen einen weiteren Mangel der deutschen Strafrechtsreform darstellt88 • politischer Instanzen bestehen, erhöht sich die Neigung, solche Mutmaßungen zu äußern. 86

Siehe die Angaben bei Kaiser (Fn. 6), S.158, 172.

Das hing u. a. damit zusammen, daß das Bild der früheren Arbeitsstrafe und die Erinnerung an die Zwangsarbeit der NS-Zeit solchen Erwägungen nicht günstig waren. 87

88 Zu Möglichkeiten eines stärker differenzierenden Sanktionensystems lescheck, in: Dando-Festschrift, 1983, S. 88 ff. Siehe auch Hirsch, ZStW 92 (1980), 250 und ZStW 95 (1983), 650, wo betont wird, daß wir zwischen Freiheits- und Geldstrafe einzuordnende Strafsanktionen brauchen, die als FreizeitstraJe1l weder die Nachteile der bisherigen Freiheitsstrafe noch der Geldstrafe mit sich bringen. Keinen Gewinn würde dagegen die als » Diversion" bezeichnete Strategie der informellen Sozialkontrolle bringen. Zum einen betrifft die aus spezifischen verfahrensmäßigen Gegebenheiten der USA entstandene Richtung vor allem jugendliche Straftäter. Für diese ist sie in der Bundesrepublik wegen der ohnehin erziehungsorientierten Ausgestaltung des deutschen Jugendstrafrechts (siehe hier insbesondere § 45 JGG) jedoch entbehrlich; vgl. Kaiser, in: Kriminologisches Wörterbuch, 2. Auf!. t 985, S.74. Darüber hinaus erheben sich rechtsstaatliche Bedenken, da mit Diversion alle zu Gunsten des Beschuldigten bestehenden Garantien des Strafverfahrens (beginnend mit dem justizförmigen Tatnachweis)

S'

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Grundsätzliche Fragen

Dieser Punkt wird dadurch verschärft, daß man die kurze Freiheitsstrafe generell abgeschafft hat. Die Humanisierungstendenz ist erneut hervorgetreten bei der 1981 geschaffenen Möglichkeit, den Rest der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn 15 Jahre der Strafe verbüßt sind (§ 57 a StGB). Diese Regelung wird mit Recht ganz überwiegend als notwendige Ergänzungsvorschrift zur lebenslangen Freiheitsstrafe betrachtet. In der Öffentlichkeit wird dem modemen Strafrecht oft zu große Milde gegenüber dem Straftäter vorgeworfen. Betrachtet man die heutigen Strafdrohungen und die Rechtsfolgeregelungen des Allgemeinen Teils, läßt sich das jedoch nicht belegen. Allenfalls könnte die Handhabung des geltenden Rechts durch Staatsanwaltschaften und Instanzgerichte, in der sich indes neben justizökonomischen Erwägungen nur der jeweilige Zeitgeist widerspiegelt, in einigen Bereichen Gegenstand der Kritik sein. 3. In den entscheidenden Beratungen der Reform des Allgemeinen Teils, die Mitte und Ende der sechziger Jahre stattfanden, ist wenig von der Effizienz und Schutifunktion des Strafrechts die Rede gewesen. Man interessierte sich damals vorwiegend für den Täter. Allerdings wird man nicht übersehen dürfen, daß mit dem Resozialisierungskonzept das Ziel verknüpft ist, die Rückfallkriminalität einzudämmen. Aber das ist natürlich nur ein, wenn auch wichtiger, Ausschnitt aus der Effizienzfrage. Betrachtet man die Kriminalstatistik, so ist festzustellen, daß die Strafrechtsreform keinen Rückgang der Kriminalität bewirkt und darüber hinaus einen teilweise rapiden Anstieg nicht verhindert hat. Nicht nur die Fälle einfachen Diebstahls haben sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vervielfacht. Auch die Gewaltkriminalität und der schwere Diebstahl haben stark zugenommen. So zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik seit 1963 eine Verdreifachung der Raubfälle und eine Vervierfachung des schweren DiebstahlsR9 • Aber läßt sich daraus eine negative Bewertung der Strafrechtsreform ableiten? Vergleicht man die deutsche Situation mit der in anderen Ländern, so zeigt sich, daß die Kriminalitätsentwicklung in allen Industriestaaten Westeuropas und

verlorengehen würden. Außerdem wäre die schon durch § 153 a StPO erfolgte Erosion des Legalitätsprinzips noch vergrößert. R9 Siehe die Angaben bei Göppinger, Kriminologie, 4. Auf!. 1980, S. 642. Diese Entwicklung ist bis heute kaum rückläufig; vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 1984, S. 77, 101.

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Nordamerikas ähnlich verläuft90 • Offensichtlich handelt es sich bei der Kriminalitätszunahme um einen Befund, der nicht auf Eigenheiten der bundesdeutschen Strafgesetzgebung beruht, sondern auf dem gegenwärtigen inneren Zustand der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Die Möglichkeit, auf diese Entwicklung durch Verschärfung der Strafdrohungen Einfluß zu nehmen, ist nicht groß. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die heutigen gesetzlichen Strafrahmen keineswegs niedrig sind. Eine Verschärfung würde zudem, um wirklich effizient zu sein, ein entsprechend verschärftes Verfolgungs- und Überwachungssystem erforderlich machen. Solche Tendenzen gerieten jedoch schnell in Kollision mit den freiheitlichen Vorstellungen unserer Gesellschaft91 • Was allerdings möglich sein würde, wäre eine stärkere Ausschöpfung der vorhandenen gesetzlichen Strafrahmen durch die Gerichte. Aber eine Trendwende ist auch dadurch nicht zu erreichen, wie das Beispiel England zeigt, wo die Verhängung höherer Strafen üblich ist. Vor allem aber wird bei der Kritik am Strafrecht leicht übersehen, daß es gar nicht das Hauptmittel der Kriminalitätseindämmung sein kann. Bei der Anwendung seiner Strafbestimmungen kommt das Strafrecht ohnehin stets zu spät, weil das Delikt bereits begangen ist, und bei Tätern mit krimineller Karriere ist die Chance, sie zu resozialisieren, eben nur noch eine Chance. Nun ist zwar richtig, daß die primäre Aufgabe des Strafrechts gar nicht die ist, gegenüber dem Täter nach begangener Tat mit den strafrechtlichen Rechtsfolgen zu reagieren. Primär geht es vielmehr darum, durch Aufstellung des Katalogs der Strafbestimmungen und der Angabe der an ihre Verletzung geknüpften Sanktionen jedermann davon abzuhalten, überhaupt eine Straftat zu begehen. Aber diese im Vorfeld liegende präventive Aufgabe kann es niemals für sich allein erfüllen. Hinzu kommen müssen stabile kriminalitätsverhütende gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Der gegenwärtige Kriminalitätsanstieg ist nur sekundär in Schwächen der Strafgesetzgebung begründet, vielmehr beruht er vornehmlich auf Mängeln dieser Rahmenbedingungen. An erster Stelle ist hier die Krise des Erziehungssystems zu nennen. Die traditionellen Erziehungsträger - Familie, Schule und Kirche - erbringen in der frei-

90

Vgl.Jescheck, 'ZStW 91 (1979), 1046.

Dies würde erst recht für eine objektivistische Konzeption gelten, die - jedenfalls bei bestimmten Delikten - den Schuldgrundsatz durchbricht, also eine strafrechtliche Gefährdungshaftung einfÜhrt. Sie findet sich im amerikanischen Strafrecht als Doktrin der "strkt criminal liability"; näher dazu Bähr, Strafbarkeit ohne Verschulden (strict liability) im Strafrecht der USA, 1974; Burkhardt, GA 1976,337 f. Bei uns ist dagegen das Schuldprinzip als elementarer strafrechtlicher Grundsatz, der keine Einschränkungen duldet, verfassungsrechtlich garantiert; vgl. oben Fn 4. 91

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Grundsätzliche Fragen

heitlichen Industriegesellschaft die Aufgabe, dem einzelnen die sozialen Spielregeln einzuprägen, teils unzulänglich, teils gar nicht mehr. Dadurch ist ein kriminalitätsbegünstigendes Defizit in den Wertvorstellungen entstanden. Dem geht in unserer Konsumgesellschaft eine auf Optimierung des eigenen Vorteils gerichtete Einstellung einher. Das individuelle Interesse und die Stärke des eigenen Handlungspotentials sind für das Lebensgefühl der meisten Menschen entscheidend geworden. Die Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer und der Gesamtheit ist dagegen zurückgetreten. Eine dadurch begünstigte und durch die Medien noch zusätzlich vermittelte Brutalisierung des Zusammenlebens kommt hinzu. Auch dürfen die Folgen der modemen Urbanisierung und die kriminalitätsfördernde Jugendarbeitslosigkeit nicht unerwähnt bleiben92 • Die an der Kriminalitätseindämmung interessierte Öffentlichkeit hat ihre Kritik daher weniger an die Strafgesetzgebung zu adressieren, als vielmehr ihr Augenmerk in erster Linie auf die Gesellschaftspolitik zu richten. Auch die Kriminalpolitiker sollten sich endlich von der Illusion frei machen, daß die Strafgesetzgebung der entscheidende oder sogar alleinige Hebel der Kriminalpolitik sei, und ihre Aufmerksamkeit und Aktivität mehr der Verminderung der Ursachen zuwenden 93 • 4. Als Bilanz der bundesdeutschen Strafrechtsreform läßt sich nach alledem feststellen: Die im Mittelpunkt stehende Reform des Allgemeinen Teils hat sich trotz einer Reihe von Punkten, die sich inzwischen als Mangel erwiesen und durchaus negativ ausgewirkt haben, doch überwiegend bewährt und ist insgesamt betrachtet eine ausgewogene und daher dauerhafte gesetzgeberische Leistung. Sie markiert den Abschluß der Reformbemühungen, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts begonnen und deren wichtigste Ergebnisse bereits im Laufe der Zeit durch Gesetzesnovellen ins StGB aufgenommen wurden. Die

92 Zu den genannten Faktoren auch Jescheck, ZStW 91(1979), 1043 ff.ln Teilbereichen scheint überdies das Verhalten politisch Verantwortlicher für ein zeitweiliges örtliches Ansteigen bestimmter krimineller Verhaltensweisen mitursächlich zu sein. Manche Ausbreitung und Steigerung solcher Kriminalität wäre wohl frühzeitig gestoppt worden, wenn man dem sogleich entschlossen genug entgegengetreten wäre oder die Anfänge nicht sogar mit Sympathie verfolgt hätte. 93 HUde Kaufmann, JZ 1972,79, hat es als "selbstverständlich" bezeichnet, daß der gesamte Bereich der Politik irgendwie auch zugleich Kriminalpolitik ist; als Beispiele nennt sie Wirtschaftspolitik, Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrspolitik, ja selbst die Außenpolitik.

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bisherige Reform des Besonderen Teils wird man dagegen hinsichtlich ihrer Qualität zurückhaltend beurteilen müssen. Hier spielen Tagespolitik, ideologische Ziele, punktuelle Sichtweisen und gesetzestechnische Schwächen eine nicht unerhebliche Rolle. Diesem Teil der Reformgesetzgebung fehlt die große und einheitliche Linie.

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel 1988

I. Zu den bedeutenden Juristen, die zwischen den bei den Weltkriegen aus der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät helVorgegangen sind, gehört insbesondere Hans Welzel. Er wurde, neben seinem Rang als Rechtsphilosoph, der bedeutendste Strafrechtsdogmatiker seit Karl Bindini. Im Jahre 1935 habilitierte er sich bei Gotthold Bohne, dem damaligen Direktor des Kriminalwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln, für die Fächer Strafrecht, Strafprozeß, Zivilprozeß und Rechtsphilosophie. Als Kölner Habilitand und Assistent entwikkelte er bereits die Grundlagen der wissenschaftlichen Lösungen, die seinen späteren Weltruf begründet haben. In seinem Aufsatz über ,,strafrecht und Philosophie", der 1930 in der Kölner Universitätszeitung2 erschienen ist, seinen Abhandlungen über ,,Kausalität und Handlung" (1931)~ und "Über Wertungen im Strafrecht" (1933t sowie seiner Habilitationsschrift über ,,Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht" (1935) findet sich das künftige strafrechtliche Lebenswerk vorgezeichnet5 • Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stark durch die Auseinandersetzung mit

1 Näher zur wissenschaftlichen Bedeutung Welzels siehe Loos, Hans Welzel (19041977), in: Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 5, 1987, S. 486; Engisch, 'lStW 90 (1978), 1; Hirsch, 'lStW 93 (1981), 831, 836 ff., 840 ff.; Armin Kaufmann, Hans Welzel zum Gedenken, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 279.

2 Bd. 12 (1930), Nr. 9, S. 5; wieder abgedruckt bei Wehel, Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 1.

~ 'lStW 51 (1931),703. 4

GS 103 (1933),340.

Loos (Fn 1) S. 489, weist darauf hin, daß Welzel wissenschaftlich kaum etwas mit Bohne verband und daß Welzels Lehrgebäude daher in voller Selbständigkeit entstanden ist. 5

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel

61

We/zels Lehren geprägte Strafrechtsdogmatik in der ,,Nach-Welzel-Epoche" weiterentwickelt hat6 • Was von seinem strafrechtlichen Lebenswerk hat sich durchgesetzt? In welchen Punkten beschreitet oder erstrebt die heutige Strafrechtsdogmatik andere Wege? Zu weIcher Beurteilung führt eine kritische Prüfung der Entwicklungen und Entwicklungstendenzen der Zeit nach Welze!?

11. Als We/Zel im Jahre 1977 starb, hatte sich das von ihm konzipierte, auf der personalen Unrechtslehre aufbauende neue Strafrechtssystem soeben in der deutschen Strafrechtswissenschaft durchgesetze. Mit der Übernahme durch den Kommentar von Schönke/Schröder in der kurz vor We/zels Tod erschienenen 18. Auflage 8 war der Durchbruch im deutschen Schrifttum abgeschlossen. Dementsprechend ist heute in der deutschen Strafrechtswissenschaft herrschende Ansicht, daß im Gegensatz zu dem seit dem späten 19. Jahrhundert zugrunde gelegten und auch jetzt noch im Ausland vielfach vertretenen kausalen Unrechtsbegriff - einschließlich seiner Modifizierung durch die sog. teleologische Unrechtsauffassung - eine einseitig am Erfolgsunrecht ausgerichtete Dogmatik das Wesen des Deliktsunrechts nicht trifft. Deshalb wird der Forderung We/zels gemäß der Tatbestandsvorsatz heute nicht erst als Form oder Element der Schuld, sondern bereits als ein subjektives Erfordernis des Unrechtstatbestands des Vorsatzdelikts angesehen. Auch sieht man die Sorgfaltswidrigkeit, bei der es insbesondere um die Voraussehbarkeit des Erfolges geht, als ein Merkmal schon des Unrechtstatbestands des fahrlässigen Delikts an. Vorsätzliches und fahrlässiges Delikt wer-

6 Die Abhandlung ist aus Vorträgen hervorgegangen, die der Verf. an den Universitäten Krakau, Thessaloniki, C.E.U. Madrid und Cordoba über das Thema gehalten hat.

7 Siehe insbesondere Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 17. Auf!. 1977, S. 90 f., 105; Bockelmalln, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auf!. 1975, S. 50 ff.; Dreher, StGB, 37. Auf!. 1977, Vor § 1 Rnr. 9; Hirsdl, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 9. Auf!. 1974, Vor § 51 Rnr.8, 160; leseheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Auf!. 1972, S. 180 ff.; Armin KiluJmann, in: Welzel-Festschrift, 1974, S. 393; Lackner, StGB, 11. Auf!. 1977, Vor § 13 Anm. 111 3 b; Maurach/Zipj, Strafrecht, Allgemeiner Teil 1,5. Auf!. 1977, S.225 ff.; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 2. Auf!. 1977, Vor § 1 Rnr. 22 ff.; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil 1, 2. Auf!. 1976, Rnr. 230 ff., 1083 ff. Siehe auch Gallas, in: Bockelmann-Festschrift, 1979, S.155. H Lenckner,

in: Schönke!Schröder, StGB, 18. Auf!. 1976, Vor § 13 Rnr. 46 ff.

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Grundsätzliche Fragen

den demgemäß heute bereits auf der Ebene des Unrechtstatbestands unterschieden 9 • Schon vorher hatten sich nach und nach die wichtigsten Lösungen, die Wehet aus dem von ihm konzipierten Strafrechtssystem abgeleitet hatte, in Praxis, Theorie und teilweise auch ausdrücklich in der Gesetzgebung durchgesetzt. Besonders zu nennen sind: die auf der Trennung von Vorsatz und Unrechtsbewußtsein beruhende modeme Irrtumslehre, die von Welzel konzipiert und als Schuldtheorie Anfang der fünfziger Jahre der im Schrifttum damals herrschenden Vorsatztheorie entgegengestellt worden ist und der Praxis eine Lösung anbot, die ihr die Bejahung der Beachtlichkeit des Verbotsirrturns ermöglichte; außerdem die aus dem personalen Unrechtsbegriff entwickelten Erkenntnisse zur Teilnahmelehre, insbesondere hinsichtlich der Vorsatzakzessorietät, und zur Ausgrenzung verkehrsgemäßen Verhaltens aus dem Unrecht des fahrlässigen Delikts tn •

Nicht durchgesetzt hat sich aber bisher die theoretische Begründung, aus der Welzel die personale Unrechtslehre entwickelt hatte: der finale Handlungsbegriff. Weheis theoretischer Ansatzpunkt war bekanntlich folgender: Davon ausgehend, daß die hinter den Straftatbeständen stehenden Verbote und Gebote Handlungen zum Gegenstand haben, erklärte er11 : Eine Handlung könne sich nicht in einem bloßen - lediglich durch einen menschlichen Willensimpuls, gleichgültig welchen Inhalts, ausgelösten - Kausalvorgang erschöpfen, wie dies die kausale Unrechts-

9 Vgl. Blei (Fn 7), 18. Aufl. 1983, S. 60 ff., 296 ff.; Boekelmallll/Volk, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1987, S. 51 ff.; Dreher/TrölIdle, StGB, 43. Aufl. 1986, Vor § 13 Rnr. 9; Hirsch (Fn 7), 10. Aufl. 1984, Vor § 32 Rnr. 172 f.;Jeseheek (Fn 7),3. Aufl. 1978, S. 190 ff.; Laelaler (Fn 7), 17. Aufl. 1987, Vor § 13 Anm. 111 3 b; Lellelaler, in: SchönkelSchröder (Fn 7),22. Aufl. 1985, Vor § 13 Rnr. 54 ff.; MaurachIZipf (Fn 7), 7. Aufl. 1987, S. 208 ff.; Rudolphi (Fn 7), 5. Aufl. 1987, Vor § 1 Rnr. 22 ff.; Stratellwerth (Fn 7), 3. Aufl. 1981, Rnr. 236 ff., 1034 ff.; Wessel5, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 17. Aufl. 1987, S. 59 ff., 197 ff. An der älteren Auffassung halten dagegen fest: Baumallll/Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 1985, S. 20 f., 259. Siehe auch Sehmidhäuser, Studienbuch, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984,5/4 ff., 7/33 ff.; zur Kritik an dessen teleologischem System im einzelnen Roxin, 'l1)tW 83 (1971),369 ff.

10 Zum vorhergehenden vgl. im einzelnen Hirsch, 'l1)tW 93 (1981),838 ff. mit Nachw. Hinsichtlich weiterer aus dem personalen Unrechtsbegriff abgeleiteter Lösungen siehe die Angaben ebendort. Es handelt sich dabei insbesondere um die Erklärung der unrechtskonstitutiven Bedeutung des Vorsatzes beim Versuch, die Tatherrschaftslehre bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme sowie die inhaltliche Bestimmung des Merkmals der Rechtswidrigkeit des Angriffs bei der Notwehr.

11 Wehel 'l1)tW 51 (1931),718 ff.; ders., 'l1)tW 58 (1939),491; ders., Um die finale Handlungslehre, 1949; ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 30 ff., 33 ff., 37 ff., 59 ff., 129 ff.

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel

63

lehre und der ihr zugrunde liegende kausale Handlungsbegriff angenommen haben. Sie könne vielmehr nur ein vom Menschen gesteuertes Geschehen sein. Das Vorliegen einer Handlung erfordere daher den auf das objektive Geschehen inhaltlich gerichteten Willen, also beispielsweise eine Tötungshandlung den Willen, einen Menschen zu töten. Dieser Wille sei beim Vorsatzdelikt identisch mit dem Tatbestandsvorsatz, so daß der Vorsatz, weil essentieller Bestandteil der Handlung, schon mit dieser zum Unrechtstatbestand gehöre. Und auch beim fahrlässigen Delikt sei es eine Willenshandlung, auf die sich das Sorgfaltswidrigkeitsurteil beziehe. Der Handlungswille richte sich hier im Unterschied zum Vorsatzdelikt zwar nicht auf den tatbestandlichen Erfolg, aber dieser gehöre beim fahrlässigen Delikt auch nicht zur Handlung. So sei beispielsweise das willentliche Überholen in einer unübersichtlichen Straßenkurve die Handlung, an die das Sorgfaltswidrigkeitsurteil anknüpfe. Der dadurch herbeigeführte Erfolg sei ein von der sorgfaltswidrigen Handlung zu trennendes Delikterfordernis. Für Welzel stand hinter der Forderung, den Handlungsbegriff zu analysieren und daraus die Konsequenzen für den Deliktsaufbau abzuleiten, ein zentrales methodisches Anliegen: die Strafrechtsdogmatik auf den Phänomenen und Strukturen der Wirklichkeit aufzubauen und nicht normativistisch rein juristische Kunstprodukte zugrunde zu legen. Diese Forderung findet sich bereits in den erwähnten Arbeiten aus seinen Kölner Anfängen l2 • Wie eine Handlung strukturiert ist, soll sich nicht aus strafrechtlichen Wertungen ergeben, sondern aus der Analyse der Struktur menschlicher Handlungen überhaupt 1\ da das Handeln des Menschen sich nicht in strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen erschöpfe, sondern ein allgemeines Phänomen sei. Diese grundsätzlichen Überlegungen haben sich im Unterschied zu den meisten der von Welzel aus ihnen abgeleiteten juristischen Lösungen bisher aber nicht durchsetzen können.

III. Die Entwicklung der deutschen Strafrechtsdogmatik seit dem beim Tode Wel-

zels erreichten Meinungsstand ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

1. Nach dem dogmatischen ,,Kraftakt" der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte, mit dem eine Vernachlässigung der Kriminalpolitik und der Kriminologie einher-

12 Vgl. oben Fn 2 bis 4 und insbesondere die dort im Text erwähnte Habilitationsschrift, S. 64 ff. I.l Vgl. Wehel (Fn 11) passim; außerdem ders., in: GTÜnhut-Erinnerungsgabe, 1965, S.173.

64

Grundsätzliche Fragen

ging l4 , wäre eine Abkehr von der Beschäftigung mit der Dogmatik vielleicht nicht überraschend gewesen. Das um so mehr, als die sechziger und die erste Hälfte der siebziger Jahre allgemein mit einer starken Hinwendung zu den Sozialwissenschaften verbunden waren. Die sich damals zeitweilig ausbreitende antidogmatisehe Grundstimmung 15 war jedoch nicht von langer Dauer. Beendet wurde nur die Epoche der nahezu ausschließlichen Beschäftigung mit der Dogmatik, indem seither die längere Zeit vernachlässigten anderen kriminalwissenschaftlichen Disziplinen wieder zur Geltung gelangten und ihre Position nunmehr stark ausbauten. Betrachtet man die heutige Hut strafrechtsdogmatischer Veröffentlichungen, so ist - jedenfalls in quantitativer Beziehung - die literarische Produktion sogar größer als vorher. Daß die Strafrechtsdogmatik sich gegenüber den gegen sie vorgebrachten Angriffen behauptet hat, entspricht ihrer Notwendigkeit. Denn ebensosehr, wie ein Zuviel an Dogmatik schadet, weil der Bezug zur Praxis des Rechtslebens verlorengeht und damit eine Sterilität des Denkens um sich greift, öffnet ein Zuwenig den Weg zur Willkür und damit zum Verlust an Rechtsstaatlichkeit l6 • Es gilt deshalb nach wie vor das von Franz von Liszt 17 an die Strafrechtswissenschaft gerichtete Postulat, für klare, schneidige Begriffe und ein geschlossenes System zu sorgen. Ganz überwiegend wird daher weiterhin die Notwendigkeit der Dogmatik bejaht. Diese bietet jedoch im Grundsätzlichen kein einheitliches Bild. 2. a) Methodisch dominiert weiterhin und sogar verstärkt ein normativistischer Ansatz. Die herrschende Lehre hat von Wehel zwar die personale Unrechtslehre und die meisten der daraus abgeleiteten Ergebnisse übernommen, betrachtet sich aber gleichwohl nicht in seiner Nachfolge, sondern in der seiner Gegnerl8 • Das beruht darauf, daß man - wie schon erwähnt - zumeist nicht die von 14 Vgl. Würtellberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Aufl.1959,S.6 ff. 15 Literarischen Ausdruck fand sie etwa bei Richard Scltmid, in: Nedelmann u.a., Kritik der Strafrechtsreform, 1968, S. 7 ff.; Nedelmallll, in: Kritik der Strafrechtsreform, 1968, S.21 ff.;Sessar,ZStW81 (1969),372,382ff. 16 Welche negativen Auswirkungen es etwa für den Satz "in dubio pro reo" hat, wenn man auf ein dogmatisches System verzichtet, ist vor einiger Zeit in der Rspr. des italienischen Obersten Gerichtshofes deutlich geworden (Vereinigte Sektionen, Urt. v. 29. Mai 1972 NT. 3821, Marchese). Siehe dazu näher Hirsch, in: Universita di Milano, Studi in memoria di Giacomo Delitala, 1984, pag. 1931, 1933 ff.

17

Strafrecht, 1. Aufl. 1881, Vorwort.

18

Vgl.Jescheck (Fn 9), S. 170 mit weit. Nachw.

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel

65

Welzel vertretene Auffassung akzeptiert, der von ihm entwickelte personale Unrechtsbegriff ergebe sich aus der Finalstruktur der Handlung. Der Streit um Relevanz und Inhalt des Handlungsbegriffs und der von Welzel dabei eingenommene ontologische Ausgangspunkt lassen die herrschende Lehre also weiterhin zu ihm auf Distanz gehen. Man hält es für verfehlt, Vorgegebenheiten der Rechtsregelungen - also ontische Befunde, an denen sich die Rechtsregeln auszurichten haben - anzuerkennen l9 • Deshalb gibt man entweder einem von vornherein rechtlichen Handlungsbegriff den Vorzug oder aber erklärt, auf einen Handlungsbegriff könne das Strafrecht verzichten 20 • Es heißt, das Strafrecht sei völlig frei in der Bildung seiner Begriffe21 • Der methodische Gegensatz zu Welzel findet heute insbesondere in einer Renaissance der Zurechnungslehre Ausdruck. wobei es vor aIlem um die von Roxin 22 im Anschluß an Honig 23 eingeführte Lehre von der objektiven Zurechnung geht. Der Zurechnungsgedanke, bei dem es sich um die FragesteIlung handelt, ob der Täter für einen von ihm verursachten Erfolg unter dem Gesichtspunkt gerechter Bestrafung zu haften hat, war an sich seit Ende des vorigen Jahrhunderts durch eine an der normwidrigen Handlung orientierte Sicht abgelöst worden und galt deshalb seither als überho\t 24 • Roxin2.~ und ebenso Jescheck2~ betonen, daß man aber doch auf ihn zurückgreifen müsse, um den Vorrang des juristischen Maßstabs vor dem eines vorrechtlichen Handlungsbegriffs zu wahren. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist inzwischen im Schrifttum stark verbreitd 7 • Sie besagt: Die Verursachung eines tatbestand lichen Erfolges erfüllt

19 Vgl. Jescheck (Fn 9), S. 175 ff.; Roxill, ZStW 74 (1962), 515, 527; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. V f.; Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1,51. 20 Vgl. BockelmanllNolk (Fn 9), S. 48; Lachler (Fn 9), Vor § 13 Anm. 111 la; Lellckner, in: Schönke!Schröder (Fn 9), Vor § 13 Rnr. 40; Roxill, ZStW 74 (1962),548 f.; ScltülIemalln, GA 1985, 341, 346.

21

Roxill, ZStW 74 (1962),523.

22

Honig-Festschrift, 1970, S. 133.

2.1

Frank-Festgabe 1, 1930,S. 174.

Vgl. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 76 ff., 85 ff.; MeT.ger, Strafrecht, 2. Aufl. 1933, S. 102 f.; Wehel (Fn 11), Strafrecht, S. 38 ff. 2S (Fn 22), S. 148 ff. 24

26

(Fn 9), S. 230 ff.

Siehe außer Roxin (Fn 25) und Jescheck (Fn 26) etwa Dreherrrröndie (Fn 9), Vor § 13 Rnr. 17 ff.; Lenchler, in: Schönke!Schröder (Fn 9), Vor § 13 Rnr.71 ff.; Mau27

66

Grundsätzliche Fragen

nur dann den objektiven Tatbestand einer Straftat, wenn vom Täter eine rechtlich mißbilligte Gefahr geschaffen wurde, die sich in dem tatbestandlichen Erfolg verwirklicht haeK• Als Hauptanwendungsfälle, in denen die objektive Zurechenbarkeit fehlen soll, werden beim Vorsatzdelikt die wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf und die Sachverhalte mangelnder Steuerbarkeit eines als möglich vorgestellten Erfolges angeführt29 • Betrachtet man diese - peripheren - Fälle jedoch genauer, so zeigt sich, daß es um Fragen des Vorsatzes und damit nicht um Probleme des objektiven, sondern des subjektiven Tatbestands geht. Bei der Abweichung vom Kausalverlauf handelt es sich darum, daß der Erfolg auf andere Weise eintritt, als es sich der Täter vorgestellt hat. Deshalb sieht die herkömmliche Auffassung etwa in dem bekannten Beispiel, daß das von einer Brücke geworfene Opfer entgegen der Erwartung des Täters nicht erst durch Ertrinken, sondern schon durch Aufschlagen auf einen Brückenpfeiler zu Tode kommt, die zu beantwortende Frage darin, ob eine solche Abweichung vom Erwarteten noch als vom Vorsatz umfaßt angesehen werden kann, also für diesen unwesentlich iseo. Die Verlagerung der Frage in den objektiven Tatbestand erscheint demgegenüber sachwidrig. Der dabei herangezogene Gesichtspunkt, ob vom Täter eine rechtlich mißbilligte Gefahr geschaffen worden ist, die sich in dem eingetretenen Erfolg verwirklicht hat, erweist sich aus mehreren Gründen als nicht einschlägig. Der Täter hat auch bei Wesentlichkeit der Abweichung objektiv eine Gefahr herbeigeführt, da der Verletzung stets das Gefahrstadium vorangeht. Auch wenn man an Stelle der Gefahr für das Rechtsgut auf die vom Standpunkt ex ante zu bestimmende Gefährlichkeit des Täterverhaltens abstellt, handelt es sich um kein brauchbares Abgrenzungskriterium, weil ein Verhalten - und zwar auch rechtlich mißbilligt gefährlich sein, gleichwohl aber eine wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf vorliegen kann. Denn regelmäßig ist in bezug auf den tatsächlich eingetretenen Erfolg dann Fahrlässigkeit gegeben. Hier würde die Lehre von der objektiven Zurechnung zur Einebnung von Vorsatz und Fahrlässigkeit und damit zum VerrachlZipj (Fn 9), S. 244 ff.; Rudolphi (Fn 9), Vor § 1 Rnr. 38 ff.; Wessell- (Fn 9), S. 51 ff.; eingehend Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981; ders., in: Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103. 2R Vgl. DreherfTröndle (Fn 9), Vor § 13 Rnr. 17; Jesclteck (Fn 9), S. 231; Mauraclt/Zipf(Fn 9), S. 248; Rudolphi (Fn 9), Vor § 1 Rnr.57.

29 Vgl. die Aufzählung der einzelnen Fallgruppen bei Jesclteck, in: l..eipziger Kommentar zum StGB, 10. Auf!. 1979, Vor § 13 Rnr. 59 ff.; Ebert, Jura 1979,561; Rudolphi (Fn 9), Vor § 1 Rnr. 57 ff. 30 Vgl. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 79; Jescheck (Fn 9), S. 250; Wessell- (Fn 9), S. 75.

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel

67

zicht auf den konkreten Vorsatzinhalt führen. Auch im umgekehrten FaII, in dem jene Lehre die rechtlich mißbilligte Gefährlichkeit in bezug auf den abweichenden Erfolgseintritt verneinen würde, geht es nicht um eine Frage des objektiven Tatbestands. Sobald nämlich der Täter mehr weiß als ein Beobachter seines Verhaltens, muß dieses Wissen Berücksichtigung finden. Indem man es deshalb bei der Bestimmung der Gefährlichkeit mit heranzieht, zeigt sich, daß diese mit abhängig vom Informationsstand des Täters ist und sich deshalb nicht von der subjektiven Tatseite lösen läßt. Auch die betreffende rechtliche Mißbilligung des Verhaltens läßt sich daher erst als Ergebnis der Feststellung von objektiver und subjektiver Tatbestandsseite entscheiden. Die Probleme der mangelnden Steuerbarkeit der Verwirklichung eines vom Täter als möglich vorgestellten Erfolges werden zumeist an dem unter theoretischem Aspekt interessanten Fall erörtert, daß ein Erbonkel, der von seinem Neffen in der Hoffnung, jener werde bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen, zu einer Flugreise überredet wird, tatsächlich bei einem Flugzeugunglück zu Tode komme I . Auch hier zeigt sich aber, daß die objektive Zurechnung nicht das Kriterium der Lösung ist. Soweit die Gefährlichkeitsvorstellungen bei Neffe und Onkel übereinstimmen und letzterer sich frei verantwortlich für den Flug entscheidet, handelt der Neffe schon deshalb nicht tatbestandsmäßig, weil nur eine (tatbestandslose) Anstiftung zur frei verantwortlichen bewußten Selbstgefährdung in Betracht kommen würde. Darüber hinaus fehlt es, solange der Neffe keine konkreten Anhaltspunkte für einen etwaigen Defekt dar Unglücksmaschine hat, am Verletzungsvorsatz. Seine VorsteIIung bezieht sich lediglich auf das gewöhnliche, aIIgemeine Risiko des SoziaIIebens, Opfer eines Unglücksfalles zu werden, nicht aber auf ein konkretisiertes Verletzungsgeschehen. Es handelt sich mithin um ein bloßes Hoffen, nicht aber um einen steuernden Willen n . Die Sachwidrigkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung zeigt sich auch hier wieder, denn objektiv wird der Erbonkel durch die Veranlassung, die Unglücksmaschine zu benutzen, in Gefahr gebracht; und bei der Frage der ex an te zu beurteilenden Gefährlichkeit des Verhaltens zeigt sich ebenfaIIs wieder, daß der Informationsstand des Betreffenden (hier des Neffen) den Ausschlag gibt. Von dem Umfang dieser subjektiven Seite hängt dann auch die rechtliche Mißbilligung ab.

~I Für Lösung mit Hilfe des Gesichtspunkts der objektiven Zurechnung: Jescheck (Fn 9), S. 231; Roxin (Fn 22), S. 137; Wolter (Fn 27), Zurechnung, S. 79, die hierbei auf das Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos abstellen, und Hardwig, Die Zurechnung, 1957, S. 151; Ebert, Jura 1979, 569; Wessels (Fn 9), S. 57, die objektive Zurechnung mangels Beherrschbarkeit verneinen. ~2 Wehel (Fn 11), Strafrecht, S. 66.

68

Grundsätzliche Fragen

Im Bereich der Vorsatzdelikte ist deshalb für die Lehre von der objektiven Zurechnung kein Raum. Die angeblichen Anwendungsfälle betreffen vielmehr den subjektiven Tatbestand JJ • Beim fahrlässigen Delikt werden als Hauptbeispiele genannt: der zwischen sorgfaltswidriger Handlung und Erfolg erforderliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang und die Fälle des Schutzzwecks der NormJ4 • Bei beiden geht es zwar um objektive Gesichtspunkte; und zudem kann man beim fahrlässigen Delikt im Unterschied zum Vorsatzdelikt davon sprechen, daß ein Erfolg zugerechnet wird, der nicht Bestandteil (Vollendung) der Handlung, sondern erst deren Auswirkung ist, weil die Handlung sich hier im sorgfaltswidrigen (willentlichen) Handeln erschöpft. Aber für eine eigene Lehre und Systemkategorie der objektiven Zurechnung bleibt auch hier kein Raum, denn die Art der Beziehung zwischen sorgfaltswidrigem Handeln und Erfolg ergibt sich bereits aus dem Wesen des fahrlässigen Erfolgsdelikts, bei dem sich im Erfolg gerade die betreffende Sorgfaltswidrigkeit realisiert haben muß J5 • Nicht anders verhält es sich bei dem als weiteres Beispiel angeführten sog. Unmittelbarkeitszusammenhang beim erfolgsqualifizierten Delikt. Auch dabei geht es um ein Erfordernis, das sich nicht aus einem allgemeinen dogmatischen Prinzip, sondern aus der Eigenart dieser Deliktsform ergibt: daß sich in der schweren Folge das dem vorsätzlich verwirklichten Erfolg des Grundtatbestands innewohnende Folgenrisiko realisiert J6 • Es kommt daher nicht von ungefähr, daß die Versuche, den sog. Unmittelbarkeitszusammenhang aus der Lehre von der

JJ Für Vorsatzfrage bei Abweichung vom Kausalverlauf auch: RGSt. 70, 257, 258 f.; BGHSt. 7,325,329; 9, 240, 242; 23, 133, 135; Baumann/Weber (Fn 9), S. 393; eramer, in: SchönkelSchröder (Fn 9), § 15 Rnr. 55; Dreher/Tröndle (Fn 9), § 16 Rnr. 7; Hirsch, in: Oehler-Festschrift, 1985, S. 111, 119 f. mit Anm. 37; Wehel (Fn 11), Strafrecht, S.73. Zum Fehlen des Vorsatzes bei mangelnder Steuerbarkeit eines für möglich gehaltenen Erfolgs: Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, §59 Anm. V; Bockelma1l11/Volk (Fn9), S.65; Hirsch (Fn 9), Vor § 32 Rnr. 32; Armin Kilufmann, in: Jescheck-Festschrift, 1985, S. 251, 266 f.; Wehel (Fn 11), Strafrecht, S. 66. J4

Vgl. die Nachw. Fn 29.

Siehe dazu Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961, S. 20 f.; Armin Kaufmann, ZfVR 1964,53 f.; Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1981, § 230 Rnr. 7. J5

J6 ZU diesem spezifischen Zusammenhang näher Küpper, Der "unmittelbare" Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982; Hirsch (Fn 33), S. 129 ff.

Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel

69

objektiven Zurechnung zu bestimmen, zu sachwidrigen und sogar konträren Ergebnissen geführt habenJ6a • Betrachtet man die Herkunft der heutigen Lehre von der objektiven Zurechnung, so zeigt sich, daß sie ein Produkt des Objektivismus ist. Honig wollte mit ihr die Uferlosigkeit des objektivistischen Tatbestandsbegriffs der kausalen Unrechtslehre im Objektiven eindämmen J7 , und Roxin setzte später diesen Ansatz Wehel entgegen, indem er ausführte, die Aufgabe der Dogmatik bestehe nicht im Auffinden einer vorrechtlichen Handlungsstruktur und dem Ableiten sich daraus ergebender Lösungen, sondern in der Aufstellung normativ zu bestimmender allgemeiner objektiver ZurechnungskriterienJR • Während Wehel die Eingrenzung des Tatbestands durch Einbeziehung des Vorsatzes - und beim fahrlässigen Delikt der Sorgfaltswidrigkeit - vornahm, sollte diese Funktion bereits jenen objektiven Kriterien zufallen. Inzwischen ist die Dogmatik jedoch auf die personale Unrechtslehre eingeschwenkt. Jetzt geht es deshalb nicht mehr um Objektivismus oder ,,Finalismus", sondern allein darum, an welcher Stelle im Unrechtstatbestand des personalen Systems die Einordnung sachentsprechend zu erfolgen hat - also nur noch um ein Rubrizierungsproblem innerhalb des personalen Tatbestandsbegriffs. Dabei sollte dann aber beachtet werden, daß der objektive Tatbestand keine abschließende Wertungsstufe darstellt. Vielmehr ermöglicht erst das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale, also auch der subjektiven, eine Wertung. Infolgedessen sind subjektive Kriterien dort einzuordnen, wohin sie gehören: im subjektiven Tatbestand, das heißt in Fällen der Vorsatzdelikte: beim systematisch zum Unrechtstatbestand gehörenden Tatbestandsvorsatz. Die notwendige täterbezogene Eingrenzung der Tatbestände vorsätzlicher Delikte ergibt sich also nicht aus dem Gesichtspunkt der objektiven Zurechnung, sondern durch den Vorsatz als Steuerungsfaktor der HandlungJ9 • Wie sich im vorhergehenden gezeigt hat, finden auch die erwähnten Fragen des fahrlässigen Erfolgsdelikts und des erfolgsqualifizierten Delikts im Tatbestandsbegriff der personalen Unrechtslehre ihre diesen Delikten wesensmäßige Einordnung, ohne daß es eines allgemeinen Kriteriums der objektiven Zurechnung bedarf.

J~. Siehe die gegensätzlichen Resultate bei Maiwald, JuS 1984,439,442 ff. einerseits und Wolter, GA 1984,443,444 f. andererseits.

Honig (Fn 23), S. 175, 179 f., 184, 188, 196. JR Roxill (Fn 22), S. 133, 147 f. J7

J9

In dieser Richtung schon Armill KiluJmalln (Fn 33).

6 Hirsch

70

Grundsätzliche Fragen

Die Lehre von der objektiven Zurechnung veranschaulicht, wie eine einseitig nonnative Methodik dazu führt, daß die Phänomene, um die es geht, nicht mehr herausgearbeitet und dadurch Sachverschiedenheiten verwischt werden. Was objektiv und was subjektiv ist, steht nicht zur Disposition der Dogmatik. Allgemein fällt an der kritisierten Lehre auf, daß von ihr unter dem Etikett der objektiven Zurechnung Sachprobleme verschiedenster Art zusammengefaßt werden, die auch ohne diese Theorie Berücksichtigung finden, und zwar in präziserer Weise. Hinter ihr verbirgt sich heute leicht die Neigung, unscharfe Allgemeinbegriffe an die Stelle sachlich scharfer Begriffsbildung und Systematisierung zu setzen. b) Wenig überzeugend ist auch der sog. soziale Handlungsbegrijf, den die herrschende Lehre weiterhin dem finalen Handlungsbegriff Welzels entgegensetzt.

Es heißt, Handlung sei als ,,sozialerhebliches menschliches Verhalten" zu definieren 40 • Dieser wertend entwickelte Handlungsbegriff umfasse undifferenziert ebenso eine finale Tätigkeitsausübung wie eine fahrlässige Erfolgsverursachung und ein Unterlassen. Infolgedessen ergäben sich aus ihm auch keine weitreichenden systematischen Konsequenzen für die generellen Erfordernisse des Unrechtstatbestands. Die Funktion des Handlungsbegrifüs erschöpfe sich vielmehr darin, negativ den Kreis der Verhaltensweisen auszuscheiden, die für eine strafrechtliche Bewertung von vornherein nicht in Betracht kommen. Insbesondere gehe es um das Ausscheiden bloßer Körperreflexe und der Wirkungen, die nicht von Menschen ausgehen 41 • Mit diesem Handlungsbegriff begegnet einem wiederum ein dogmatisches Kunstprodukt. Seine Anhänger fragen nicht danach, wie eine menschliche Handlung unabhängig von ihrer rechtlichen Relevanz beschaffen ist, sondern beschränken sich darauf, das gemeinsame Minimum strafrechtlicher Tatfonnen wertend aufzuspüren. Daß jedoch Handeln und Unterlassen sich wie a und non-a, also Handeln und Nichthandeln, zueinander verhalten und deshalb nicht unter einem gemeinsamen Oberbegriff ,,Handlung'9. Wir kennen es insoweit bereits gemäß § 380 StPO bei bestimmten Privatklagedelikten ; es geht dabei um ein Teilgebiet der Bagatelltaten, bei dem per definitionem das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung verneint wird. Auch die bei anderen Delikten angestellten Modellversuche betreffen praktisch den Bereich der Kleinkriminalitäeo. Im übrigen taucht auch hier wieder das Problem der Gleichbehandlung von wiedergutmachungsfähigen und opferlosen Delikten auf. Nur solange man die Wiedergutmachung als eine unter mehreren möglichen Bewährungsauflagen regelt, bildet es kein Hindernis, so daß ein vorgeschaltetes Sühneverfahren sich nicht auf wiedergutmachungsfähige Delikte beschränken dürfte. De lege lata erfüllt im deutschen Recht § 153a StPO eine solche Selektion der Bagatellfälle. Daß die Vorschrift rechtsstaatlich fragwürdig konzipiert ist und darüber hinaus in der praktischen Handhabung diese Funktion weit überschreitet, wurde aber schon hervorgehoben. Schließlich erhebt sich die Frage, ob ein vorgeschalteter Täter-OpferAusgleich dem Opfer wirklich Nutzen bringt; denn der Täter ist bereits aufgrund der Tat zivilrechtIich zur Restitution verpflichtet. Zur Gegenüberstellung des Täters mit dem Opfer und der daraus erhofften Motivation zur Wiedergutmachung bedarf es keines besonderen Verfahrens. Auch gerät das Opfer in einern vorgeschalteten Sühneverfahren leicht in eine schwierige Lage. Im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs kann nur derjenige Konzessionen machen, der etwas anzubieten hat. Beim Täter ist das zumeist wenig. Vergegenwärtigt man sich die in Betracht kommenden Delikte, insbesondere die Diebstahlsfälle, so zeigt sich, daß er oft mittellos ist. Praktisch laufen die Dinge deshalb darauf hinaus, daß im Sühneverfahren das Opfer vom Verhandlungsvorsitzenden bedrängt werden würde, Konzessionen beim Entschädigungsanspruch zu machen. Das bedeutet, daß es am Ende oft weniger als nach bisherigem Recht hätte. Der seelische Druck auf das Opfer wäre zudem erheblich, weil es von dessen Konzessionsbereitschaft abhinge, ob ein Strafverfahren stattfindeeI. Es geht also bei einem vorgeschalte-

69 Zu ähnlichen Einschätzungen innerhalb anderer Rechtsordnungen siehe Hirsch in: EserIKaiserlMadlener (Anm. 6), S. 386.

70 Vgl. Kaiser, (Anm.1), S.232; BUlldesmillisterium der Justiz, "Diversion" im deutschen Jugendstrafrecht, 1989, S. 19; Schrecklillg/Pieplow, ZRP 1989, 10, 12 ff. Die Praxis beim Modellprojekt "Die Waage" umfaßt zwar darüber hinaus auch ein Drittel Fälle, die über die Kleinkriminalität hinausgehen, jedoch handelt es sich bei ihnen nicht mehr um die hier zur Erörterung stehende Problematik der Abwelldullg eines Strafverfahrens durch Täter-Opfer-Ausgleich. 71 Zu weiteren Vorbehalten siehe Hassemer, Festschrift für Klug, Bd. 2, 1983, S. 217, 226 ff.

528

Allgemeiner Teil

ten Sühneverfahren genauer betrachtet vor allem um Vorteile für den Täter und sehr viel weniger für das Opfer.

VII. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Es ist zwar nachdrücklich zu begrüßen, daß die Kriminalpolitik ihre Aufmerksamkeit wieder dem Opfer zugewandt hat. Die in diesem Zusammenhang weltweit geführte Debatte über die Wiedergutmachung im materiellen Strafrecht ist aber nicht so weltbewegend, wie das oft behauptet wird. Die Aufgaben des Strafrechts lassen sich nicht nach Belieben erweitern, sondern sind sachlich begrenzt. Daher behält die Wiedergutmachung des Schadens ihren zivilrechtlichen Charakter, auch wenn man sie ins Strafrecht einbaut. Es kann somit allein darum gehen, daß der Täter die Möglichkeit hat, sich durch Wiedergutmachung des Schadens gemilderte strafrechtliche Rechtsfolgen zu verdienen. Dies kommt dann mittelbar auch dem Opfer zugute, weil die andernfalls drohende ungeminderte Bestrafung sich als zusätzliches Druckmittel gegenüber dem Täter darstellt, für die Wiedergutmachung zu sorgen. Verfehlt ist jedoch die heute verbreitete Vorstellung, daß nach dem Scheitern des Behandlungskonzepts nun Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung kriminalpolitisch wegweisende allgemeine Konzepte sein könnten. Es geht dabei wohl doch nur um Randbereiche, und leicht sind im Ergebnis die Vorteile für die Opfer geringer als die für die Täter.

Die Stellung von Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem*

1991

I.

Die Bezeichnungen ,,Rechtfertigung" und ,,Entschuldigung" werden im deutschen Schrifttum nicht ganz einheitlich verwendet. Neben der Terminologie, nach der mit ,,Rechtfertigung" alle Unrechtsausschließungsgründe und mit ,,Entschuldigung" alle Gründe, die relevanter Schuld entgegenstehen, bezeichnet werden, findet sich eine Terminologie, die damit nur bestimmte Teilbereiche benennen will. So wird häufig von ,,Entschuldigung" lediglich in der Begrenzung auf die innerhalb der Schuldfrage bedeutsame Gruppe der sogenannten Unzumutbarkeitsfälle gesprochen!. Gegenstand dieses Freiburger rechtsvergleichenden Kolloquiums ist jedoch die Gesamtproblematik und nicht nur die von Teilbereichen. ,,Rechtfertigung" und ,,Entschuldigung" werden daher im folgenden, soweit nichts anderes gesagt ist, im Sinne aller deljenigen Gründe verstanden, die das Unrecht oder relevante Schuld ausschließen sollen.

'" Referat, gehalten am 5. Juni 1990 beim Deutsch-italienisch-portugisischspanischen Strafrechtskolloquium in Freiburg. ! Siehe etwa lescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 4. Aufl. 1988, S.429; Lenckller, in: Schönke!Schröder, StGB, 23. Aufl. 1988, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 108; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK), 5. Aufl. 1989, vor § 19 Rdn. 5 f. Auch wird teilweise zwischen Rechtfertigungs- und bloßen Unrechtsausschließungsgründen differenziert; so insbesondere von Kern, Grade der Rechtswidrigkeit, 'ZStW 64 (1952),255,257 ff., und Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, Maurach-Festschr., 1972, S. 327,335 ff.; krit. dazu Lenckller, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 22 f.; Hirsch, Strafrecht und rechtsfreier Raum, BockelmannFestschr., 1979,S. 89, 100. Zu diesen Differenzierungen siehe auch noch im folgenden bei IV 1 m. Anm. 32-34 und IV 2 b m. Anm. 48 u. 49.

530

Allgemeiner Teil

11. Die Bejahung der Notwendigkeit, innerhalb der Straftatvoraussetzungen zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsfrage abzustufen, ist gleichbedeutend mit der Entscheidung für die Notwendigkeit eines auf Wertungsstu!en abstellenden dogmatischen Systems. Denn es geht um die Abstufung von Unrecht und Schuld und damit um verschiedene Wertungsebenen. Bekanntlich hat sich jedoch der italienische Oberste Gerichtshof unter Hinweis auf die traditionelle italienische Auffassung ausdrücklich gegen ein solches System und für die Beibehaltung der nur faktischen Einteilung in objektive und subjektive Merkmale ausgesprochen 2 • Auch kann im Bereich des französischen Strafrechts und in den Ländern mit common law-Tradition von einem systematischen Verbrechensaufbau bisher kaum die Rede sein. Vor allen theoretischen Ausführungen steht deshalb die Frage, worin eigentlich der praktische Nutzen eines in Wertungsstufen gegliederten Systems, wie es sich vom deutschen Strafrecht her ausgebreitet hat, zu sehen ist. So wird etwa von angelsächsischer Seite nicht selten der Einwand erhoben, daß es im Strafrecht letztlich doch darum geht, ob sich jemand strafbar gemacht hat oder nicht, weshalb es keiner Differenzierung bedürfeJ • Dies um so weniger, weil alle Gesichtspunkte für die Frage der Strafbarkeit von gleicher Relevanz seien.

2 Vgl. Vereinigte Sektionen, Urt. v. 29.5.1972 Nr. 3821 (Angekl. Marchese), Cass. pen. 1972, 1149 ff., und dazu Riz, Zum derzeitigen Stand der Verbrechenslehre in Italien, ZStW 93 (1981), 1005, 1008 (mit wörtlicher Wiedergabe des betreffenden Teils der Gründe und mit weit. Rspr.-Nachw.); Hirsch, Die Diskussion über den Unrechtsbegriff in der deutschen Strafrechtswissenschaft und das Strafrechtssystem Delitalas, in: Studi in memoria di G. Delitala, 1984, S. 1933. In dem Plenarurteil ging es konkret um die Frage, ob auch für Rechtfertigungsgründe der Satz in dubio pro reo gilt. Dies wurde in der Entscheidung unzutreffend verneint, wobei neben der oben erwähnten dogmatischen Auffassung vor allem kriminalpolitische Argumente eine Rolle spielten. Inzwischen stellt jedoch der neue Art. 530 Abs. 3 c.p.p. ausdrücklich klar, daß jener Satz auch für Rechtfertigungsgründe zu gelten hat. Entgegen Marinucci (in: Digesto delle discipline penalistiche I, 4. Aufl. 1987, Stichwort ,,Antigiuridicita", S. 187) ändert der kriminalpolitische Aspekt der Entscheidung und dessen Korrektur durch den italienischen Gesetzgeber aber nichts daran, daß sich jedenfalls die im vorliegenden Zusammenhang interessierende negative Stellungnahme zum normativen System in dem Urteil findet und daß der Gerichtshof davon bisher nicht abgerückt ist. J Siehe dazu Greellawalt, Die fragwürdige Grenze zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, in: Eser/F1etcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. I, 1987, S. 263 m.w.N.

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

531

Der Nutzen eines zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, damit zwischen Unrecht und Schuld (oder auch einem Schuldsurrogat) abstufenden Systems ist in mehreren Vorteilen zu sehen: An erster Stelle geht es um die hierdurch eröffnete Möglichkeit, historisch punktuell entstandene AusschlußgTÜnde unter dem Gesichtspunkt übergreifender leitender Maßstäbe zu gliedern und dadurch exakt zu konturieren und weiter zu ergänzen. So werden beispielsweise auf solchem Wege grundsätzliche Sachverschiedenheiten innerhalb des Notstands deutlich - nämlich Konfliktentscheidung durch die Rechtsordnung bei den einen und täterbezogene Nachsicht wegen extremen Motivationsdrucks bei den anderen Fällen. Dies bewirkt, daß daraus bei der Gesetzesauslegung und der Weiterentwicklung der Gesetzgebung Folgerungen gezogen werden. Allgemein wird der ~lick dafür geöffnet, auf welche generellen Erfordernisse es bei den jeweiligen Rechtsfiguren anzukommen hat, woraus sich sachbedingt ebenso Erweiterungen wie Restriktionen ergeben können 4 • Ein weiterer Vorteil besteht darin, daß ein für den Täter elementarer Unterschied in den Urteilsgründen zum Ausdruck gelangen kann: Ob der Freispruch sich darauf stützt, daß der Täter sich in Einklang mit der Rechtsordnung gehalten hat oder aber daß er rechtswidrig gehandelt hat und nur die Schuld, etwa wegen Schuldunfähigkeit, zu verneinen ist5 • Auch muß man im Blick haben, daß in strafrechtlichen Fällen zumeist mehrere Personen eine Rolle spielen: neben dem Täter das Opfer oder auch eine Anzahl von Tätern oder Opfern. Deshalb ist bei der wsung eines Falles oft nicht nur das Verhalten einer Person, sondern die Beziehung zwischen den Verhaltensweisen mehrerer zu beurteilen. Das wird am deutlichsten bei der Notwehr mit deren Erfordernis der Rechtswidrigkeit des Angriffs. Hier ist zu entscheiden, auf weicher Seite ein rechtswidriger Angriff vorliegt. Daran kann es bei dem zuvor Handelnden fehlen, wenn ihm bereits selbst Notwehr zur Seite stand, aber auch wenn

4 So hat man etwa im deutschen Recht in diesem Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt der Güter- und Interessenabwägung die Fälle des rechtfertigenden Notstands über die im dt. BGB enthaltenen Teilregelungen hinausgehend fortentwickelt. Umgekehrt hatte man schon früher herausgearbeitet, daß entschuldigender Notstand nur bei einer Gefahr für fundamentale Individualrechtsgüter und nur für eine Rettungshandlung des Gefährdeten selbst oder eines ihm persönlich nahestehenden Menschen (wobei man zunächst allein an Angehörige dachte) in Betracht kommt.

5 Zu dieser Kognitionspflicht vg!. Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1988, Ein!. Kap. 12 Rdn. 31, 35; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 516 f. m.w.N. Übersehen ist das im ,,spanner-Fall" BGH NJW 1979,2053; näher dazu Hirsch, Urteilsanmerkung, JR 1980, 115, 117 f.

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ihm ein anderer Rechtfertigungsgrund zustatten kam. Das zeigt gleichzeitig die erhebliche soziale Bedeutung der Einstufung als Rechtfertigungsgrund. Die Rechtsordnung entscheidet auf dieser Ebene eine Kollisionslage, die zumeist in einem sozialen Interessenwiderspruch besteht, und zwar trifft sie die Entscheidung nach für das Sozialleben geltenden objektiven Maßstäben und daher mit Wirkung über die einzelne Person hinaus". Die Auswirkung auf Dritte spiegelt sich ebenfalls in Teilnahmefällen wider: Für die Akzessorietät genügt eine rechtswidrige Haupttat, so daß auch hier die Abstufung von Rechtfertigung und Entschuldigung Bedeutung erlangt 7 • Außerdem zeigt sich die praktische Auswirkung bei der Lösung der Irrtumsfälle - ich verweise auf §§ 16, 17 dt. StGB einerseits und § 35 Abs. 2 dt. StGB andererseits. Ferner knüpfen bestimmte Maßregeln gegen Schuldunfähige im deutschen Recht und anderswo an das Vorliegen des Unrechts einer Straftat an H• Auch stellt der deutsche Besondere Teil bei der sachlichen Begünstigung (§ 257 dt. StGB) und bei der Hehlerei (§ 259 dt. StGB) auf das Unrecht der Vortat und beim Vollrauschtatbestand (§ 323a dt. StGB) auf das Unrecht der im Rausch begangenen Tat ab. Über den wissenschaftlichen Nutzen hinaus ist daher die große praktische Bedeutung der Abstufung von Rechtfertigung und Entschuldigung evident.

6 Weshalb die Rechtfertigungsgründe nicht nur für den Täter, sondern für jedermann gelten und sich aus ihnen eine Duldungspflicht für den Betroffenen ergibt. Wer sich gegenüber einem gerechtfertigten Verhalten zur Wehr setzt, begeht seinerseits einen rechtswidrigen Angriff, zu dessen erforderlicher Abwehr dann Notwehr zulässig ist. Verfehlt wäre deshalb der Gedanke, daß gegenüber einem gerechtfertigten Verhalten ein rechtfertigender Notstand möglich sein könnte. Eine solche Konstruktion würde das für jeden Rechtfertigungsgrund charakteristische Konzept objektiver sozialer Konfliktregelung aufheben und verkennen, daß in jede Rechtfertigungsentscheidung bereits alle für die Abgrenzung von Recht und Unrecht relevanten rechtlichen Gesichtspunkte einfließen. Nicht überzeugend ist es, wenn Amelung (in: Schünemann [Hrsg.], Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 85, 92) die Konfliktlösung als Spezifikum der Rechtfertigungsgründe mit der Begründung bestreitet, daß auch bei der Aufstellung der Straftatbestände Interessenkonflikte gelöst würden. Dabei wird die ausschlaggebende Sachverschiedenheit zwischen den abstrakten Wertentscheidungen, die der Gesetzgeber bei der Tatbestandsaufstellung trifft, und den im Rahmen dieser getroffenen Wertentscheidungen noch möglichen konkreten Interessenkonflikten übersehen. 7

So auch ausdrücklich die §§ 26,27,29 dt. StGB.

Im dt. StGB siehe die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) oder einer Entziehungsanstalt (§ 64), die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und die Anordnung des Berufsverbots (§ 70). 8

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III. Wenden wir uns nunmehr den Fragen der theoretischen Grundlagen und Durchführbarkeit zu und betrachten zunächst die Stellung der Rechtfertigungsgründe im Straftatsystem. 1. Die Einordnung hängt eng mit der dogmatischen Entwicklung der Lehren von Tatbestand und Irrtum zusammen. Während der herrschende dreistufige Deliktsaufbau die Rechtfertigungsgründe in einem nachfolgenden, von der Tatbestandsmäßigkeit abgestuften Deliktsmerkmal ,,Rechtswidrigkeit" zusammenfaßt 9 , wollen die Vertreter des zweistufigen Aufbaus sie bekanntlich bereits der Tatbestandsmäßigkeit als negative Erfordernisse zuweisen lO • Dieser Streit ist im Verhältnis zu der Frage, ob und wie zwischen Unrecht und Schuld abzustufen ist, aber von nur sekundärer Bedeutung. Ich habe mich zu ihm bereits eingehend in meiner Monographie über die negativen Tatbestandsmerkmale geäußert ll , so daß ich mich auf die Hervorhebung weniger zentraler Punkte dieser Seite des Problems der Stellung der Rechtfertigungsgründe beschränken möchte. Zu erinnern ist hier zunächst an das für die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vorgebrachte Argument, daß die herrschende Unterscheidung von Tatbestandsmerkmalen und Rechtfertigungsgründen nur gesetzestechnischer Natur sei, es sich dabei lediglich um eine Frage positiver oder negativer Formulierung handele l2 • Bilden jedoch die Rechtfertigungsgründe keine sachlich eigen9 Vgl. ROSt. 61, 242, 247; 66, 397, 398; BOHSt. 1, 131, 132; 2, 194,200 f.; 9,370, 375 f. Im gegenwärtigen Schrifttum insbesondere vertreten von: BaumannlWeber, Strafrecht, Allg. Teil, 9. Auf!. 1985, S. 97 f.; Dreherrrrölldle, StOB, 44. Auf!. 1988, vor § 13 Rdn.2; Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Bockelmann-Festschr., 1979, S. 155,169 f.; Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StOB (LK), 10. Auf!. 1985, vor § 32 Rdn.5 f.; Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 1983, S. 131 ff.; Jescheck, Allg. Teil, S.178, 224 ff.; Lachler, StOB, 18. Auf!. 1989, vor § 13 Anm. III 3 a; Lenchler, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 12 ff.; MaurachiZipf, Strafrecht, Allg. Teil, Tbd. 1,7. Auf!. 1987, S. 170 f., 175 ff., 323 ff.; Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil 1,3. Auf!. 1981, Rdn. 176 ff.; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 20. Auf!. 1990, S. 32 ff., 79 ff.

10 So Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschr., 1960, S. 401, 406 ff.; Arthur Kaufmallll, Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, JZ 1954, 653; Dito, Orundkurs Strafrecht, Allg. Strafrechtslehre, 3. Auf!. 1988, S. 58 ff.; SamsolI, in: Systematischer Kommentar zum StOB (SK), 5. Auf!. 1989, vor § 32 Rdn. 6 ff., 9 ff.; Schünemann, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform, OA 1985,341,347 ff. 11

Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S. 220 ff.

12 So Arthur Kaufmann (Fn 10), S. 654 f.; auch Lallg-Hinricllsen, Die irrtümliche Annahme eines Rechtfertigungsgrundes, JZ 1953,362,364.

35 Hirsch

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ständige Gruppe, so wäre zunächst einmal das Thema unseres Kolloquiums neu zu formulieren. Es ginge dann nicht mehr um die Frage der Sachverschiedenheit von Rechtfertigung und Entschuldigung, sondern wir müßten der Entschuldigung alle Unrechtsvoraussetzungen gegenüberstellen. In der gegenwärtigen deutschen Diskussion scheint jenes Argument aber wohl kaum noch eine wirkliche Rolle zu spielen. Denn auch die Anhänger der negativen Tatbestandsmerkmale behandeln heute die Rechtfertigungsgründe als ausnahmsweise Erlaubnissätze und stellen sie als unrechtsausschließende Erlaubnistatbestände material unterschieden den unrechtsbegründenden Tatbestandsmerkmalen gegenüber D • Man kann deshalb davon ausgehen, daß beiden Aufbaukonzepten heute eine sachlich eigenständige Rechtsfigur ,,Rechtfertigungsgründe" zugrunde gelegt wird. Hinsichtlich des dreistufigen Aufbaus erhebt sich als erstes die Frage, wie eigentlich das Wesen der Rechtswidrigkeit aus einem nur auf das Fehlen von Rechtfertigungsgründen abstellenden Deliktsmerkmal erklärt werden soll. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale den Kern des Unrechts bildet und es bei dem zweiten Deliktsmerkmal nur noch um ein zweites - und zwar negatives - Erfordernis des Unrechts geht. Die Auffassung von Beling l4 und Delitala l5 , die von einem wertfreien Tatbestandsbegriff ausgingen, hat bei uns praktisch keine Anhänger mehr. Die notwendig normative Sicht des Tatbestands bedeutet jedoch nicht, daß beide Elemente denknotwendig in einem Deliktsmerkmal verbunden sein müßten. Die Aufgliederung des Delikts in Wertungsstufen besagt nämlich, daß jede Stufe ein konstituierendes Element der nachfolgenden Stufe bildet und zusammen mit den bei dieser hinzukommenden Merkmalen das dort zur Prüfung anstehende Werturteil, hier: die Rechtswidrigkeit, ergibt. Das gilt ebenso für das Verhältnis von Rechtswidrigkeit und Schuld l6 . Die Vertreter des dreistufigen Aufbaus leiten die Abstufung von Tatbestandsund Rechtfertigungsfrage aus der schon erwähnten Eigenständigkeit der Rechtfertigungsgründe als Erlaubnissätzen ab. Die genauere normlogische Erklärung lautet: Bei der Tatbestandsmäßigkeit geht es um den Widerspruch zu der jeweiligen einzelnen Norm, z.B. zum Verbot einer Tötungshandlung; bei der Rechtswidrigkeit handelt es sich dagegen um die Feststellung der konkreten Rechtspflicht-

1J

Siehe etwa OUo (Fn 10), S. 60.

14 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 145,147,181; ders., Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 9,13. 15 Delitala (Fn 2). Über den Einfluß Belings auf Delitala näher Nuvolone, 11 sistema dei diritto penale, 1975, S. 7,104. 16 Zum Verhältnis dieser beiden Deliktsmerkmale zueinander siehe Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 6.

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535

widrigkeit durch die Erweiterung des Bewertungsmaßstabs auf die Frage des Eingreifens eines sich aus der Rechtsordnung etwa ergebenden Erlaubnissatzes 17 • Aus dieser Abstufung werden nicht nur von den bei uns in der Minderheit befindlichen Vertretern der strengen SchuldtheorieIR, sondern auch von den meisten Anhängern der herrschenden eingeschränkten Schuldtheorie Folgerungen für die Lösung von Sachproblemen gezogen. Diese bestehen u.a. darin, daß nach herrschender Meinung die irrige Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts, also z.B. Putativnotwehr, nicht bereits den nach heutiger Auffassung zum Tatbestand gehörenden Tatbestandsvorsatz ausschließt, sondern im Unterschied zu diesem erst die Schuldebene berührt l9 • Die Auswirkungen betreffen vor allem die Teilnahmefälle:w• Der Gegensatz zwischen eingeschränkter und strenger Schuldtheorie ist für die heutige herrschende Meinung nur noch ein Streit innerhalb des Schuldbegriffs, nämlich über eine Differenzierung innerhalb des intellektuellen Schuldelements21 •

17 Vgl. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 138 ff., 248 ff.; Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 6. 18 Wehei, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 164 ff.; Bockelmann, Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 1979, S. 127 ff.; Hirsch (Fn 11), S. 314 ff.; ders., LK, § 34 Rdn. 91; ders., Hauptproblerne des dogmatischen Teils der deutschen Strafrechtsreform, in: Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1986, 1987, S. 47, 51; Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Tbd. 2,7. Aufl. 1989, S. 165; Scllroeder, LK, 10. Aufl.1985,§ 16 Rdn.47,49,52.

Im spanischen Schrifttum spricht sich dagegen die überwiegende Auffassung für die Anwendung der Verbotsirrtumsregelung (Art. 6 bis a Abs. 3 CP) und damit für die strenge Schuldtheorie aus; siehe die Nachw. bei Romeo Casabolla, EI error evitable de prohibici6n en el Proyecto de 1980, ADPCP 1981,739,741 Anm. 1l. 19 Gal/as, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955), 46 Anm. 89; ders. (Fn 9), S.168, 170; Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 18. Aufl. 1983, S. 206 f.; Dreher, Der Irrtum über RechtfertigungsgTÜnde, Heinitz-Festschr., 1972, S.209, 224; DreherfIröndle, StGB, § 16 Rdn. 26 f.; lescheck, Allg. Teil, S. 416 ff.; Lackner, StGB, § 17 Anm. 5 b; Roxill, Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962), S. 515, 554 ff.; Rudolphi, SK, § 16 Rdn. 12 f.; Wesseis, Allg. Teil, S. 130 ff.; auch die Rspr. ordnet die Frage bei der Schuld ein; siehe BGH NJW 1981,2831,2832.

20 Vgl. dazu Hirsch, Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre (Teil 11), ZStW 94 (1982), S.239, 260; zu den Auswirkungen beim Versuch siehe die Ausführungen ebendort S. 265.

21 Während die strenge Schuldtheorie auf eine Differenzierung innerhalb des intellektuellen Schuldelernents verzichtet und deshalb bei allen Rechtfertigungsirrtümern die Verbotsirrtumsregelung eingreifen läßt, differenziert die vorherrschende Richtung der eingeschränkten Schuld theorie zwischen Fällen, in denen das konkrete Unrechtsbewußt-

35*

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Die Anhänger des zweistufigen Aufbaus, die demgegenüber bekanntlich Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit in einer Wertungsstufe verschmelzen wollen, bestreiten das Vorliegen einer rechtlich relevanten Bewertungsabstufung zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsfrage: Unrechtsbegründende und unrechtsausschließende Merkmale seien lediglich zwei Seiten derselben Sache22 • Aber ganz abgesehen davon, daß das in fast allen Rechtfertigungsgründen enthaltene Merkmal ,,Erforderlichkeit" eine relevante Abstufung erkennen läßt, gerät das zweistufige System mit der heute in der deutschen Dogmatik zur Durchsetzung gelangten personalen Unrechtslehre deutlich in Konflikt. Verneint man bei unvermeidbarer Putativnotwehr oder einem in Putativnotwehr begangenen Versuch schon die Tatbestandsmäßigkeit, so hat Putativnotwehr die gleiche Wirkung wie das Vorliegen von Notwehr, nämlich den Unrechtsausschluß. Die in den Merkmalen der Notwehr festgelegten Voraussetzungen der rechtlichen Konfliktentscheidung werden auf diese Weise einseitig zugunsten des Täters verschoben. Aber nicht nur, daß ihm damit in solchen Fällen sachwidrig mangelndes Unrecht bescheinigt und - wenn man konsequent bleibt - deshalb dem Gegenüberstehenden zulässige Notwehr abgeschnitten wird, sondern es ergeben sich auch unhaltbare Konsequenzen für die Teilnahme1ehre 23 • Obwohl die offen oder verdeckt hinter dem zweistufigen Aufbau stehende Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen bereits seit Ende des vorigen Jahrhunderts diskutiert wird 24 , hat sie sich bei uns ebensowenig wie im Ausland durchsetzen können. Roxin hat einmal treffend davon gesprochen, daß sie in Wahrheit keine Tatbestands-, sondern eine Irrtumslehre darstellt 25 • Es läßt sich aus den genannten Gründen festhalten, daß die Rechtfertigungsgründe ihre sachentsprechende Stellung in einem von der Tatbestandsmäßigkeit abgestuften Deliktsmerkmal, also der Rechtswidrigkeit, haben. sein aufgrund der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts fehlt (dann Entfallen der spezifischen Schuld einer Vorsatztat [VorsatzschuldJ), und solchen, in denen das Unrechtsbewußtsein wegen eines Irrtums über das rechtliche Bestehen (oder den rechtlichen Umfang) eines Rechtfertigungsgrundes nicht gegeben ist (dann Verbotsirrtumsregelung). Gallas (Fn 9), S. 169 f. spricht deshalb hinsichtlich der eingeschränkten Schuldtheorie von der Unterscheidung zwischen mittelbarem, d.h. durch einen Sachverhaltsirrtum vermittelten, und unmittelbarem Verbotsirrtum. 22 So etwa Otto (Fn 10), S. 59; Samson, SK, vor § 32 Rdn. 8 f., 11. 23 Näher dazu Hirsch (Fn 11), S. 326 ff.; ders. (Fn 20), S.260; Dreher (Fn 19), S. 222 ff.;Jescheck, Allg. Teil, S. 417 Anm. 49.

24 Nämlich seit Frank, Bericht über die Rechtsprechung des Reichsgerichts, ZStW 14 (1894),354,363 ff.; ders., StGB, 1. Aufl. 1897, § 59 Anm.1I2. 25

Roxin, Literaturbericht, ZStW 80 (1968), 694, 701.

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

537

2. Hinsichtlich des Aussagegehalts der Rechtswidrigkeit findet sich neuerdings die namentlich von Günther 26 vertretene Auffassung, daß es dabei nicht notwendig um die Unvereinbarkeit mit der Gesamtrechtsordnung gehe. Es sei vielmehr möglich, daß ein straftatbestandsmäßiges Verhalten nicht strafrechtswidrig, außerhalb des Strafrechts aber rechtswidrig sei. Neben den - im Strafrecht oder anderswo angesiedelten - allgemeinen Unrechtsausschließungsgründen, die ein straftatbestandsmäßiges Verhalten für die gesamte Rechtsordnung als rechtmäßig ausweisen, gebe es auch bloße strafrechtliche Unrechtsausschließungsgründe. Sie regelten, unter welchen Voraussetzungen das Strafrecht auf seine strafrechtsspezifische, gesteigerte Mißbilligung der Tat ausnahmsweise verzichte. Als Beispiele werden u.a. angeführt: Wahrnehmung berechtigter Interessen bei der üblen Nachrede, Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, Einwilligung, fehlende Verwerflichkeit bei der Nötigung 27 • Betrachtet man die Fälle, so bieten sie jedoch keine Veranlassung, das herrschende Prinzip der Einheit der Rechtsordnung in Frage zu stellen. Überwiegend geht es um allgemeine Unrechtsausschließungsgründe, so bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen und beim zulässigen Schwangerschaftsabbruch nach der Indikationenlösung. Auch bei der Einwilligung handelt es sich um eine allgemeine Unrechtsfrage, und die Verwerflichkeitsproblematik bei der Nötigung betrifft bereits die Tatbestandseingrenzung 28 • Daß die Beispiele nicht die Existenz bloßer Strafunrechtsausschließungsgründe zu beweisen vermögen, ist kein Zufall. Bei dem Deliktsmerkmal ,,Rechtswidrigkeit" geht es nämlich nicht darum, ob ein tatbestandsmäßiges Verhalten strafwürdig ist, sondern an dieser Stelle der systematischen Prüfung interessiert, ob es sich mit der Gesamtheit der Rechtsordnung in Einklang befunden hat oder nicht. Indem jene Lehrmeinung auf der Ebene des Unrechtsausschlusses den Gesichtspunkt der StrajWürdigkeit einführt, bringt sie das Deliktsmerkmal ,,Rechtswidrigkeit" um eine eigenständige - nämlich den Verstoß gegen die Gesamtrechtsordnung angebende - Funktion und droht, damit die Grenzen zwischen Unrechtsausschluß einerseits und Entschuldigung und persönlicher Strafaus26 GÜllther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 83 ff.; ders., Grade des Unrechts und Strafzumessung, in: KernerIKaiser (Hrsg.), Kriminalität, 1990, S.453, 461 f.; siehe auch Amelullg, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 85, 92 ff. 27 GÜllther (Fn 26), S. 301 ff. Als weitere Beispiele werden von ihm genannt: die mutmaßliche Einwilligung, das Züchtigungsrecht, der Nötigungsnotstand, der auf § 34 StGB gestützte hoheitliche Eingriff. 28 Näher zu den von "Güllther angeführten Beispielen die Kritik bei Hirsch, LK, vor § 32 Rdn.lO; ders., Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel, Festschr. Rechtsw. Fak. Köln, 1988, S. 399, 411 ff.; ders., Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in der Bundesrepublik Deutschland in grundsätzlicher Sicht, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 66, 71.

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schließung andererseits zu verwischen. Sie läuft also auf eine Sprengung des Straftatsystems hinaus29 •

IV. Wenden wir uns nun dem Problemkreis der Entschuldigung zu.

1. Seit dem zu Anfang des Jahrhunderts begonnenen Übergang vom psychologischen zum normativen Schuldbegriff wird auch ausdrücklich die Schuld als Wertungsstufe verstanden. Die Erkenntnis, daß sich Unrecht und Schuld nicht einfach mit der Unterscheidung von objektiver und subjektiver Tatseite gleichsetzen lassen, gab dabei den Anstoß1o • In den Vorschriften über die Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 dt.StGB) und den Verbotsirrtum (§ 17 dt.StGB) definiert unser Gesetz die Schuld als Fähigkeit oder sonstige Möglichkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Ging es beim Unrechtsausschluß um Gründe, bei denen das im Normalfall mit dem Erfülltsein der Tatbestandsmerkmale sich ergebende Unrecht ausnahmsweise nicht vorliegt, handelt es sich hier um Gründe, bei denen die im Normalfall mit dem vorsätzlichen oder fahrlässigen Unrecht auch zu bejahende Schuld ausnahmsweise zu verneinen ist oder jedenfalls als nicht in hinreichendem Maße vorhanden angesehen wird. Die Fälle erstrecken sich von der auf seelischen Störungen beruhenden Schuldunfähigkeit über den unvermeidbaren Verbotsirrtum und den entschuldigenden Notstand bis hin zum übergesetzlichen entschuldigenden Notstand. Insofern einige Autoren weitergehend bei der Schuld auf die in der rechtswidrigen Tat aktualisierte, rechtlich mißbilligte Gesinnung abstellen wollen 11 , geht man damit über diese negative Funktion des Schuldbegriffs hinaus, und man gerät in Friktionen mit dem Tatstrafrecht. Innerhalb der Schuld wird vielfach noch unterschieden zwischen echten SchuldausschLießungsgründen, z.B. der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen, und bloßen Entschuldigungsgründen, z.B. dem entschuldigenden Not-

29 Ablehnend ebenfalls Baumall1l/Weber (Fn 9), S. 260 f.; Lellckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 8; Roxill, Die notstandsähnliche Lage - ein Strafunrechtsausschließungsgrund? , Oehler-Festschr., 1985, S. 181, 183 ff.

10

Näher dazu Wehel, Strafrecht, S. 59 ff., 139 ff.

So Gallas, z;:,tW 67 (1955), S.45;Jescheck, Alig. Teil, S.379; Lellckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 119; Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil (Studienbuch), 2. Autl. 1984, S. 188; Wessels, Alig. Teil, S. 112 f. 11

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stand, wovon zu Beginn schon die Rede war12 • Dahinter steht der Gedanke, daß bei letzteren, den sog. Unzumutbarkeitsfällen, die Schuld nicht völlig fehlt, sondern nur sehr stark herabgesetzt isCJ. Dies ist zwar wegen der besonderen Probleme, die sich bei den Unzumutbarkeitsfällen stellen, von theoretischem Interesse. Andererseits ist auch bei den davon unterschiedenen Schuldausschließungsgründen eine gewisse Generalisierung notwendig, weil den Maßstab ein lediglich durchschnittliches Können bilden kann 34 • Es geht daher letztlich nur um eine graduelle Differenzierung. Im Ergebnis ist entscheidend, daß in den sog. Unzumutbarkeitsfällen mangels hinreichender Schuldhöhe jedenfalls die rechtlich erhebliche Schuld ausgeschlossen sein würde. Zentraler ist auf der Grundlage der herrschenden Schuldlehre die Differenzierung zwischen der intellektuellen und der voluntativen Seite der Schuld35 • Während die Schuldunfähigkeit sowohl die eine wie die andere betreffen kann und beim Verbotsirrtum nur die intellektuelle Seite des Schuldbegriffs eine Rolle spielt, handelt es sich beim entschuldigenden Notstand und anderen Fällen sog. Unzumutbarkeit um den voluntativen Aspekt. Wenn die Prämissen der herrschenden Schuldlehre stimmen, ist daher eine glatte Einordnung der Entschuldigung in das Straftatsystem zu bejahen. 2. Es erheben sich zuvor aber noch mehrere grundsätzliche Fragen: a) Die erste lautet, ob in Anbetracht der hinsichtlich der Willensfreiheit bestehenden Beweisprobleme überhaupt mit einer Kategorie ,,schuld" gearbeitet werden darf. Dieser Punkt erweist sich im Zusammenhang unseres Themas jedoch als nicht so weitreichend, wie es zunächst den Anschein hat. Niemand will die Voraussetzungen der Straftat auf das Unrecht beschränken. Vielmehr besteht Einmütigkeit darüber, daß eine zusätzliche Wertungsstufe notwendig ist, die einen Bezug zu erheblichen Beeinträchtigungen des Täters herstellt, sich rechtgemäß zu motivieren. Deshalb wird sie auch von denjenigen bejaht, die wegen des Freiheitsproblems die Möglichkeit von Schuld im Sinne eines individuellen DafürKönnens als legitimen Ansatzpunkt ablehnen und statt dessen von einem seitens der Rechtsgemeinschaft erwarteten Können ausgehen 36 oder sogar - wie Jakobs -

32

Vgl. dort auch die Nachw. in Fn 1.

JJ

Vgl.Jescheck, Allg: Teil, S. 429, 430 f. m.w.N.

Insoweit überzeugend Roxill, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, Bockelmann-Festschr., 1979, S. 279, 288 ff. 34

35

Näher hierzu Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 175.

36

Vgl.Jescheck, Allg. Teil, S. 385 f. LV.m. S. 370.

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eine Umdefinition unter dem Blickwinkel der Generalprävention vornehmen J7 • An den einzelnen Entschuldigungsgründen ändert sich bei alIedem praktisch nichts, wie nicht zuletzt die DarstelIung beiJakobs zeigeR. Im übrigen wird man beim Schuldproblem folgendes beachten müssen: Auch wenn sich die Willensfreiheit nicht zwingend beweisen läßt, haben wir doch zugunsten des Täters diejenigen Fakten zu berücksichtigen, die nach dem in der GeselIschaft herrschenden und vom einzelnen empfundenen indetenninistischen Menschenbild seine Schuld ausschließen J9 • Auf der Grundlage dieses Ansatzes erhebt sich auf einer zweiten Ebene die Frage, wie das solche AusnahmefälIe begründende Motivierbarkeitsdefizit des individuelIen Täters in concreto exakt bestimmbar sein solI. Insoweit wird dann ein sozial-vergleichender Maßstab bedeutsam, wie er von Jescheck näher dargelegt worden ist40 • Bei einem so verstandenen Deliktsmerkmal der Schuld ergeben sich auch keine wesentlichen Unterschiede gegenüber einer detenninistischen Sicht, weil jene Ausnahmesituationen dem Täter ebenfalIs unter detenninistischem Blickwinkel zustatten kommen: nämlich unter dem Gesichtspunkt, daß bei ihrem Vorliegen nonnalerweise die bestimmende Nonnwirkung auf den Nonnadressaten paralysiert wird 41 • Es geht im Gesamtbereich der Entschuldigung um solche vom Nonnalzustand der Täter abweichende Faktoren: von seelischen Störungen über den Verbotsirrtum bis zur Notstandslage. In dieser dem Täter zustatten kommenden Funktion ist die Verwendung des Schuldbegriffs ebenso unbedenklich wie unverzichtbar. Das heißt alIerdings nicht, daß man ihn in der Generalprävention aufgehen lassen, ihn als deren ,,Derivat" betrachten kann, wie es bei Jakobs geschieht. Nach dessen Auffassung solI der Begriff der Schuld ,,funktional" dahingehend zu bilden sein, daß er eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime, nämlich nach den Erfordernissen des Strafzwecks, für eine GeselIschaft bestimmter Verfassung erbringt 42 • Dies läuft auf eine völlige Entindividualisierung der Schuld hinaus: Dem Täter wird nur noch eine nach den genereIlen Maßstäben der Prävention ennittelte sogenannte Verantwortlichkeit zugeschrieben. Lenckner4J hat J7

Vgl. Jakobs, Allg. Teil, 1983, S. 394 ff.; ders., Schuld und Prävention, 1976, S. 8 ff.

38

Siehe Jakobs, Allg. Teil, S. 469 ff.

J9 Vgl. von Liszt, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 11, 1905, S. 25,42 ff.; Roxbl, Kriminalpolitische Überlegungen zum Schuldprinzip, MschrKrim. 1973,316,320 f. 40 lescheck,

Allg. Teil, S. 385 LV.m. S. 367 ff.

Siehe Jakobs, Allg. Teil, S. 397 f.; Strellg, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980), 637,655 ff. 41

42 Jakobs,

43

Allg. Teil, S. 396 f.; ders. (Fn 37), S. 32.

Lellckller, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 117.

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

541

demgegenüber bereits betont, daß der Schuldbegriff bei einem solchen Konzept überhaupt seine eigenständige Bedeutung verliert, die u.a. gerade darin besteht, daß er der generalpräventiven Einwirkung Grenzen setzt. b) Ein weiteres grundsätzliches Problem ist, ob die bloßen Entschuldigungsgründe - also die sogenannten Unzumutbarkeitsfälle, insbesondere der entschuldigende Notstand - nicht in Wahrheit bereits Unrechtsausschließungsgründe sind. Ein solcher Standpunkt wird bekanntlich von der Einheitstheorie, teilweise in Form der Neutralitätstheorie und der Lehre vom rechtsfreien Raum, vertreten. Die Einheitstheorie war im deutschen Schrifttum bis Ende der zwanziger Jahre verbreitet 44 • Sie ist bei uns gescheitert, weil sich aus einer undifferenzierten Bejahung des Unrechtsausschlusses sachwidrige Konsequenzen für die Rechtsordnung ergeben. Denn würde auch derjenige Notstandstäter gerechtfertigt handeln, der gar kein höherwertiges Interesse schützt, dann gestattete die Rechtsordnung, daß man zulässigerweise etwa sein eigenes Leben auf Kosten des Lebens eines unbeteiligten anderen retten könnte. Eine solche Notstandshandlung wäre, weil gerechtfertigt, kein rechtswidriger Angriff, so daß dem betroffenen anderen das Notwehrrecht abgeschnitten sein würde. Ihn träfe eine Duldungspflicht. Damit würde jedoch die Kollisionslage sachwidrig zugunsten des Notstandstäters entschieden werden. Aber auch diejenige Version der Einheitstheorie, die mit der generellen Verneinung der Rechtswidrigkeit nur sagen will, daß die Rechtsordnung sich in den fraglichen Fällen einer Bewertung des Interessenkonflikts enthalte, konnte sich nicht durchsetzen. Diese ,,Neutralitätstheorie''''s, die heute im Gewande der Lehre vom rechtsfreien Raum vereinzelt wiederbelebt worden ist46 , liefe nämlich darauf

44 Als Vertreter sind insbesondere zu nennen: Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, 1922, S. 150; VOll Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 11, 1930, S. 231 f.; außerdem die damaligen Anhänger der Neutralitätstheorie; siehe Anm. 45.

4S Allgemein für den Notstand vertreten von: Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1,4. Aufl. 1922, S.105; Bd.IV, 1919, S. 346 f.; Hold VOll Femeck, Die Rechtswidrigkeit, Bd.lI, 1905, S. 121, 144 ff.; Nagler, Der Begriff der Rechtswidrigkeit, FrankFestg., 1930, S. 339, 341; Oetker, Notwehr und Notstand, VDA Bd. 2,1908, S. 255, 334. Bezüglich des von der h.M. erst der Entschuldigung zugeordneten Bereichs: Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 168; Ma.ger, in: LK, 8. Aufl. 1957, Vor § 51 Bem. 10 I (S. 353 f.). 46 Siehe Arthur Kaufmalln (Fn 1), S. 327 ff.; ders., Strafrechtspraxis und sittliche Normen, JuS 1978, 361, 366; Schild, Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen des rechtsfreien Raumes, JA 1978,449,570,631. Für eine Neutralitätstheorie heute auch Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 18. Aufl. 1983, S. 213 f.

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Allgemeiner Teil

hinaus, daß die Rechtsordnung sich ihrer Ordnungsaufgabe entziehen würde, durch soziale Konfliktregelungen und Verhaltensanweisungen die Grenzen von Recht und Unrecht festzulegen. Die Entscheidung der Interessenkollision wäre in den betreffenden Fällen dem Faustrecht, also dem Recht des Stärkeren, überlassen. Von der Lehre vom rechtsfreien Raum wird darüber hinaus vernachlässigt, daß es um Rechtsgüter geht. Wenn die Rechtsordnung ein Gut unter ihren generellen Schutz genommen hat - nämlich durch die Aufstellung der hinter dem Tatbestand stehenden generellen Norm -, ist es in den rechtlich erfaßten Bereich getreten. Es bedarf daher einer ausnahmsweisen rechtlichen Eingriffsbefugnis, soll die rechtlich grundsätzlich negativ beurteilte und deshalb normalerweise rechtswidrige Handlung gleichwohl ausnahmsweise nicht rechtswidrig sein. Erachtet man eine Eingriffsbefugnis des Notstandstäters in den fraglichen Fällen für rechtlich unangebracht, führt der Weg folglich nicht zum Ergebnis der Einheitstheorie, sondern zu dem der Differenzierungstheorie47 • Bei der Einheitstheorie spielt auch die Vorstellung eine Rolle, daß mit den Begriffen ,,Rechtfertigung" und ,,Erlaubnis" eine positive Bewertung des Handelns durch die Rechtsordnung erfolge und deshalb zwischen ihnen und bloßen Unrechtsausschließungsgründen zu unterscheiden sei 48 • Durch eine solche Differenzierung werden die Begriffe ,,Rechtfertigung" und ,,Erlaubnis" jedoch inhaltlich überfrachtet. Es geht bei ihnen nur darum, daß eine tatbestandsmäßige Handlung wegen des Vorliegens eines von der Rechtsordnung respektierten Ausnahmegrundes als nicht rechtswidrig eingestuft, eben dem Makel des ihr sonst anhaftenden Unrechts entzogen wird 49 • Rechtfertigung und Unrechtsausschluß bezeichnen ein und dasselbe. Gimbernat Ordeig meint nun allerdings, daß die Einheitstheorie gleichwohl im Ausgangspunkt zutreffend seiso. Rechtfertigende und schuldverneinende Gründe unterschieden sich danach, ob die Strafe Hemmungswirkung entfalten könnte oder nicht. Könne sie hemmend wirken, handele es sich um Rechtfertigungsfälle, und dies treffe beim Gesamtbereich des Notstands ebenso wie bei der Notwehr zu.

47

Näher dazu Hirsch (Fn 1), S. 89.

48 So ausdrücklich Kern (Fn 1), S. 257; Mezger (Fn 45), vor § 51 Bem. 10 I (S. 353 f.); Arthur Kaufmann (Fn 1), S. 335 f., 346 f. 49 Vgl. Lenckner, Notstand (Fn 1), S. 22 f.; ders., in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 8; Hirsch (Fn 47), S. 100;ders., LK, vor § 32 Rdn. 18. 50 Gimbernat Ordeig, Der Notstand: Ein Rechtswidrigkeitsproblem, Welzel-Festschr., 1974,S. 485.

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

543

Demgegenüber haben jedoch Cerezo Mir 1 und Küper 52 nachgewiesen, daß dieses Abgrenzungskriterium sich nicht eignet. Abgesehen davon, daß die Grenzen der Rechtfertigung nicht erst ein strafrechtliches Problem bilden, könnte gerade auch in Notwehr- und Notstandsfällen eine Hemmungswirkung der Strafe fehlen. Vor allem läuft jener Ansatz darauf hinaus, daß zwar Schuldunfähigkeit und unvermeidbarer Verbotsirrtum erst die Schuld ausschließen. Dagegen werden die Fälle, in denen der Motivationsdruck einer Notstandslage die Schuld des Täters nicht ganz, sondern lediglich auf ein für einen rechtlichen Schuldvorwurf nicht mehr ausreichendes Quantum herabsetzt, zu Rechtfertigungsgründen aufgewertet. Dies aber verkehrt offensichtlich die sachentsprechende Rangfolge. Die Probleme der Differenzierungstheorie im spanischen Recht hängen mit der nicht differenzierenden Wortfassung von Art. 8 NT. 7 ep zusammen. Daß die Vorschrift hinsichtlich der nach der Differenzierungstheorie als entschuldigender Notstand einzustufenden Fälle zu weit gefaßt ist, hat Anton Oneca bereits unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten aufgezeigt53 • Bei uns hat sich die Differenzierungstheorie inzwischen auch klar in der Gesetzgebung durchgesetzt, die seit der Reform des Allgemeinen Teils ausdrücklich innerhalb des Notstands unterscheidet 54 • c) Keinen Anklang hat dagegen die im Maurachschen Lehrbuch 55 und von Bacigalupo 56 vertretene Tatverantwortungslehre gefunden, nach der zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld noch eine zusätzliche Wertungsstufe "Tatverantwortung" eingeschoben wird. Im Unterschied zur Schuld soll es dabei bekanntlich um eine noch keinen persönlichen Vorwurf bedeutende Mißbilligung gehen, die lediglich das Nichteinhalten des rechtlich präsumierten Könnens des Durchschnitts angibt. Sie sei demgemäß zu verneinen, wenn dem Täter das Unrecht deshalb nicht zugerechnet werden kann, weil er seine Handlung unter Bedingun-

51 Cerezo Mir, Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschr., 1986, S. 689, 691 ff. 52 Küper, Der entschuldigende Notstand - ein Rechtfertigungsgrund?, JZ 1983, 88, 89 ff. 53 AlItoll Olleca, Derecho Penal, Parte General, 1949, S. 266, 271 f. 54

Vgl. §§ 34 und 35 dt. StGB.

Maurach/Zipf, Allg. Teil, Tbd. 1, S. 177 f., 423 f., 425 ff., 444 ff., im Anschluß an Maurach, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 1971, S.156, 377 f., 379 ff., und deliS., Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 1948, S. 36 ff. 55

56 Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Espaiiol, 1985, S. 89 ff., 93; ders., Unrechtsminderung und Tatverantwortung, Armin-Kaufmann-Gedächtnisschr., 1989, S. 459.

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Allgemeiner Teil

gen begangen hat, die rechtmäßiges Handeln für jedermann unzumutbar erscheinen lassen. Als "Gründe ausgeschlossener Tatverantwortung" werden insbesondere angeführt die von der herrschenden Meinung als Entschuldigungsgründe eingestuften Fälle des Notstands (§ 35 dt. StGB) und der Notwehrüberschreitung (§ 33 dt. StGB). Diese Lehre wird mit Recht abgelehnt. Die Tatsache, daß die Unzumutbarkeitsfälle nach einer ,,standardisierenden Methode" geregelt sind, läßt unberührt, daß es bei ihnen sachlich gleichwohl um die Schuld geht. Sie betreffen ebenso wie die Gesichtspunkte, die auch die Tatverantwortungslehre erst bei der Schuld einordnet, die Frage, ob der rechtswidrig handelnde Täter sich rechtgemäß motivieren konnte. Daß bei der Unzumutbarkeit dabei auf einen Durchschnittsmaßstab abgestellt wird, spricht nicht für, sondern zusätzlich gegen die Verselbständigung in einer der Schuld vorgelagerten Wertungsstufe. Während nämlich bei demjenigen, dem auch nach der Tatverantwortungslehre erst die Schuld fehlt, in der Regel voller Schuldausschluß eintritt, geht es hier nur um eine stark verminderte, lediglich für das Erheben eines rechtlichen Vorwurfs nicht mehr ausreichende Schuld. Es würde daher die Rangfolge der Wertungsstufen des Delikts verkehren, wenn man die - nicht selten unter dem Blickpunkt rechtlicher ,,Nachsicht" gedeuteten - Fälle der Unzumutbarkeit einer dem Täter günstigeren Wertungsstufe zuwiese als die Schuldunfahigkeit wegen seelischer Störungen und den unvermeidbaren Verbotsirrtum. Im übrigen entspricht es einem logischen Postulat, daß die Möglichkeit der Unrechtseinsicht vor und nicht hinter der Frage, ob oder inwieweit dieser Einsicht gemäß gehandelt werden konnte, zu entscheiden ist57 • d) Ging es bisher um die Abgrenzung von Entschuldigung und Unrecht und um das Problem einer zwischen Schuld und Unrecht zu lozierenden zusätzlichen Wertungsstufe, so haben sich die weiteren Überlegungen auf das entgegengesetzte Problem zu richten: Wie verhält es sich mit der Abgrenzung zu der nachfolgenden Kategorie der Strafausschließungsgründe und den präventiven Rechtsfolgenregelungen? Dieser Punkt ist vor allem durch die Auffassung Roxins aktuell geworden, daß bei den Entschuldigungsgründen auf kriminalpolitische Gesichtspunkte zurückgegriffen werden müsse. Roxin sieht den Grund der Notstandsstraflosigkeit darin, "daß der Täter der spezial präventiven Bestrafung nicht bedarf, weil er sozial

57 Nähere Begründung der Ablehnung bei Armill Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 159 ff.; Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 174; lakobs, Allg. Teil, S. 404 f.; lescheck, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S.348; Lenckner, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 21, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn.109; Stratenwerth, Allg. Teil I, Rdn. 512 f.

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integriert ist, und der generalpräventiven nicht, weil die Seltenheit der Sachverhaltsgestaltungen es überflüssig erscheinen läßt, die Abweichung vom Normalverhalten um der Allgemeinheit willen zu sanktionieren, und weil der für das Handeln in Gefahr' nicht ausgebildete Durchschnittsmensch ohnehin die Norm schwerlich bedenken und sich durch sie motivieren lassen würdeK~N. In diesem Satz findet Roxins Lehre zum Verhältnis von Schuld und Prävention Ausdruck. Danach ist die Schuld zwar nicht, wie nach der abzulehnenden Ansicht von Jakobs, überhaupt nur ein Derivat der Prävention. Aber der Schuldausspruch steht für Roxin unter dem Vorbehalt der sogenannten "Verantwortlichkeit", durch welche die im Sinne des Anders-Handeln-Könnens zu bestimmende Schuld nach Maßgabe spezial- und generalpräventiver Bedürfnisse korrigiert werden soll59. Die vorherrschende Ansicht im deutschen Schrifttum lehnt eine Verquickung von Schuld und Prävention jedoch ab. Roxins Auffassung hat zwar das Verdienst, daß sie Bewegung in die Schuldlehre gebracht hat. Aber sie setzt sich, wie Jescheck, Lenckner und andere Autoren(~l mit Recht vorbringen, dem Einwand aus, daß Grund und Folge vertauscht werden. Die Präventionsgesichtspunkte sind nicht der Grund der Entschuldigung, sondern die Folge davon, daß keine rechtlich erhebliche Schuld vorliegt. Roxin charakterisiert dies in dem vorerwähnten Zitat eigentlich schon selbst mit den Worten, daß sich der für das Handeln in Gefahr nicht ausgebildete Durchschnittsmensch schwerlich durch die Norm motivieren lassen würde. Auch wenn Roxin weniger radikal als Jakobs die Prävention lediglich als Korrektiv der Schuld heranzieht, verbindet er auf solche Weise zwei grundverschiedene Kategorien. Während Schuld die Tat betrifft, also etwas in der Vergangenheit liegendes, hat die von ihm hier ins Spiel gebrachte Prävention die Tat zur Voraussetzung und ist in die Zukunft gerichtet. Die sachliche Notwendigkeit der Trennung von Schuld und Prävention betont auch Bernsmann in seiner kürzlich erschienenen Habilitationsschrift über "Ent-

58 Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Henkel-Festschr., 1974,S. 171, 183.

59 Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S.33 ff.; ders. (Fn 58), S. 181 ff.; ders. (Fn 34), S. 279 ff.; ders., Zur Problematik des Schuldstrafrechts, ZStW 96 (1984), 641, und ders., Was bleibt von der Schuld im Strafrecht übrig?, SchwZStr. 104 (1987), 356. 60 Jescheck, Allg. Teil, S. 384 f.; LellckJler, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 117; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 30 ff.; ders., Allg. Teil I, Rdn. 513; Maurach/Zipf, Allg. Teil, Thd. 1, S. 416 ff.; auch schon Hirsch, LK, vor §32 Rdn.170; ders., Köln-Festschrift (Fn28), S.417ff.; ders., in: Hirsch/Weigend (Fn 28), S. 65, 75 f.

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Allgemeiner Teil

schuldigung' durch Notstand'''''1. Er meint jedoch, daß es sich bei allen denjenigen Fällen, in denen der Notstandstäter sich "nicht (mehr) unter Schreck oder im ebenfalls relativ kurzen Intervall der sekundären Katastrophenreaktion befindet", sondern "durchdachte" Lebens- oder Leibesnot vorliegt, gar nicht um Entschuldigung, vielmehr überhaupt erst um einen Strafausschließungsgrund handele62 • Dies begründet er damit63 , daß hier eine die Motivation des Täters wesentlich beeinträchtigende seelische Bedrängnis in der Regel höchst zweifelhaft sei. Die in solchen Fällen vergleichsweise große "Freiheit" des Notstandstäters zeige, daß ihm durchaus zugemutet werden könne, das von ihm verwirklichte Unrecht in weitaus höherem Maße zu vermeiden als etwa bei fluchtreaktiven Rettungstaten. Der Interdependenz von Unrechts- und Schuldquanten sei um so mehr Beachtung zu schenken, als nach § 35 dt. StGB das Unrecht einer gefahrverlagernden Notstandshandlung von geradezu unbegrenzter Quantität sein könne. Aus diesen Gründen scheide Entschuldigung aus. Dagegen gewähre die Kategorie der StrafausschließungsgTÜnde ein passendes Refugium, da die Straflosigkeit solcher Notstandstaten sich aus der fehlenden Strafkompetenz des Staates hinsichtlich solcher Handlungen ergebe, die der Selbsterhaltung dienen 64 • Das vermag jedoch nicht zu überzeugen. Es ist durchaus Sache des Staates, die Bürger strafrechtlich dagegen zu schützen, daß der einzelne sein auf Selbsterhaltung gerichtetes Handeln nicht unbegrenzt auf Kosten Dritter ausüben kann. Nur dort, wo ein extremer Motivationsdruck typischerweise eine Rolle spielt, kommt Straflosigkeit in Betracht, und damit ist man wieder bei der Frage der Entschuldigung. Ist man der Auffassung, daß die dem § 35 dt. StGB zugrundeliegenden empirischen Annahmen zum großen Teil nicht zutreffen, so ist die Alternative nicht die Umdeutung in einen Strafausschließungsgrund, sondern die Forderung, de lege ferenda den Entschuldigungsgrund enger zu fassen und für die herauszunehmenden Fälle lediglich eine auf Schuldminderung gestützte Strafmilderung vorzusehen. Mir erscheint dies erwägenswert bei Fällen, in denen der Notstandstäter, ohne daß Schrecken oder Panik im Spiele waren, die Grenze der Gleichwertigkeit der gegenüberstehenden Interessen erheblich zu seinen Gunsten überschreitet65 •

61

Bemsmallll, ,,Entschuldigung" durch Notstand: Studien zu § 35 StGB, 1989,

S. 377 ff. 62 Bernsmallll (Fn 61), S. 374, 380. 63

Bemsmall1l (Fn 61), S. 165 ff., 374 ff.

M

Bemsmallll (Fn 61), S. 382.

Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß über die Gleichwertigkeit hinausgehende Fälle offenbar in der Praxis keine bedeutsame Rolle spielen (siehe die Rspr.-Nachw. bei Hirsch, LK, § 35 Rdn. 63). Auch ziehen die meisten ausländischen Strafgesetze bereits bei 65

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

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Diese Überlegungen zeigen gleichzeitig folgendes: Überall, wo es um die voluntative Schuldseite geht, handelt es sich um den Bereich echter Entschuldigung oder ggf. der Schuldminderung. Entscheidet sich der Gesetzgeber für Entschuldigung, so bleibt es de lege lata dabei, auch wenn er bei der Bestimmung des als rechtlich unerheblich zu veranschlagenden Schuldquantums von nicht zweifelsfreien empirischen Annahmen ausgegangen sein sollte. Das um so mehr, als solange, wie es sich nur um Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahmen handelt, die dem Täter günstigere Regelung angezeigt ist. Im Unterschied zur Entschuldigung betreffen die Strafausschließungsgründe erst Gesichtspunkte, die unbeschadet der Bejahung der drei allgemeinen Deliktsmerkmale den Gesetzgeber aus besonderen staats- oder kriminal politischen Erwägungen dazu veranlassen, noch ein ausnahmsweises Hindernis für die Entstehung oder den Bestand des Strafanspruchs vorzusehen"". Diese Sachverschiedenheit wird übrigens auch im deutschen Strafrecht bisher nicht hinreichend bei im Besonderen Teil geregelten AusschlußgTÜnden berücksichtigt. Entgegen der herrschenden Meinung"7 handelt es sich nicht um bloße StrafausschließungsgTÜnde, sondern bereits um spezielle Entschuldigungsgründe bei der Straflosigkeit der mittelbaren persönlichen Selbstbegünstigung (§ 258 Abs. 5 dt. StGB) und in den Fällen des Angehörigenprivilegs bei der Strafvereitelung (§ 258 Abs. 6 dt. StGB) sowie bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 139 Abs. 3 S. 1 dt. StGB)6R. Es geht hier übereinstimmend darum, daß wegen des auf dem Täter lastenden extremen Motivationsdrucks die Schuld auf ein rechtlich unerhebliches Maß herabgesetzt ist. Nicht von ungefähr wird auch von

der Gleichwertigkeit - teilweise etwas modifizierend - die Grenze; vgt. etwa § 37 jap. StGB, Art. 23 § 1 poln. StGB, Art. 44 NT. 2 port. StGB, Art. 8 Nr. 7 span. StGB, auch Art. 54 ital. StGB. 66 Um bloße StrafausschließungsgTÜnde (einseht. Strafaufhebungsgründe) handelt es sich im deutschen Recht insbesondere bei der Indemnität der Abgeordneten (Art. 46 Abs. 1 GG, § 36 StGB), dem strafbefreienden Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB), der tätigen Reue in Fällen der Brandstiftung (§ 310 StGB), der Ausübung der Wahlmöglichkeit nach § 139 Abs. 4 StGB in denjenigen Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Ausübung die vom Täter bis dahin unterlassene Verbrechensanzeige nicht mehr rechtzeitig sein würde (anderenfalls fehlt es bereits an der Tatbestandsmäßigkeit), dem Altersprivileg beim Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 Abs. 3 StGB), der Erweislichkeit der Wahrheit in Fällen der Üblen Nachrede (§ 186 StGB).lm einzelnen dazu Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 213 ff.

67 Vgt. die Angaben zu Rspr. und Schrifttum bei Lachler, StGB, § 139 Anm. 3, § 258 Anm. 7und 8. 68 Vgt. lese/leck, Allg. Teil, S. 424,455; lakobs, Allg. Teil, S. 282; Hirsch, LK, vor § 32 Rdn.197, 198,215 m.w.N.

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Vertretern der herrschenden Meinung angenommen, daß in diesen Fällen die für Entschuldigungsgründe geltenden Irrtumsregeln zur Anwendung kommen 69 , obwohl bei bloßen Strafausschließungsgründen der Irrtum ebenso wie bei objektiven Strafbarkeitsbedingungen unbeachtlich zu sein hätte. Soviel zur Einordnung der Entschuldigung in das Straftatsystem.

V. Daß man zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung abzustufen hat, führt zu der weiteren Frage, nach welchen Prinzipien zu bestimmen ist, ob es sich um einen Rechtfertigungs- oder einen Entschuldigungsgrund handelt.

1. BacigaLupo hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Zuordnung zur Kategorie der Rechtfertigung herkömmlich nicht aufgrund allgemeiner, aus dem Wesen des Unrechts abgeleiteter theoretischer Grundprinzipien, sondern mit dem Blick auf die sachentsprechend erscheinenden Rechtswirkungen erfolgt 70 • Vielfach gibt der Gesetzgeber auch selbst ausdrücklich an, daß die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen sein soll, so früher schon in Regelungen unseres BGB und seit der Strafrechtsreform auch im StGB 71 • Die in der Wissenschaft aufgestellten Prinzipien der Rechtfertigung dienen daher vor allem der nachträglichen theoretischen Erklärung der bereits - durch die Rechtsentwicklung und teilweise auch ausdrücklich durch den Gesetzgeber - der Rechtfertigung zugeordneten Fälle; sie sollen aber auch, zumal der Katalog nicht abschließend ist, die Herausarbeitung neuer Rechtfertigungsgründe ermöglichen. Monistische Theorien finden sich bei uns heute insbesondere in der Form des Prinzips des )m konkreten Fall überwiegenden Interesses, Rechtsguts oder Werts"n oder schlicht des Prinzips der "Wertabwägung,m. Als pluralistische

69 So von Lellckner, in: Schönke!Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 132; eramer, in: Schönke!Schröder, § 16 Rdn. 34 m.w.N.

70

Bacigalupo, Delito y punibilidad, 1983, S. 127 ff., 131.

71

Vgl. §§ 227, 228, 229, 904 dt.BGB und §§32, 34 dl. StGB.

72

So Seelmanll, Das Verhältnis von § 34 zu anderen RechtfertigungsgTÜnden, 1978,

S.32. 73

Noll, Die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1965), S. 1,9.

Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem

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Theorie hat die Mezgersche Kombination der Prinzipien des ,,mangelnden und des übelWiegenden Interesses" Anhänger74 • Die Tatsache, daß die von diesen Theorien genannten Prinzipien zu allgemein und formal sind, um aus ihnen konkrete Ergebnisse ableiten zu können, ist der Grund ihrer bisher nur geringen Fruchtbarkeit. Überdies hat bei uns durch die Vertypung des rechtfertigenden Notstands in § 34 dt. StGB das Bestreben, mit Hilfe der Aufstellung allgemeiner Rechtfertigungsprinzipien Quellen neuer Rechtfertigungsgründe zu erschließen, stark an Bedeutung verloren. Die gegenwärtig herrschende Lehre verzichtet deshalb darauf, von allgemeinen Rechtfertigungsprinzipien auszugehen 75. Das heißt allerdings nicht, daß der Bereich der Rechtfertigung irrational bestimmt würde. Vielmehr geben folgende Erfordernisse den Ausschlag: Es muß sich um Gründe handeln, die ein Verhalten trotz seiner Tatbestandsmäßigkeit ausnahmsweise mit der Gesamtrechtsordnung in Einklang stehen lassen. Eine solche ausnahmsweise Vereinbarkeit liegt insbesondere vor, wenn die Abwägung der widerstreitenden Interessen ein Übergewicht auf seiten des vom Täter wahrgenommenen Interesses derart ergibt, daß vom Betroffenen das tatbestandsmäßige Verhalten zu dulden ist. Bei der Abwägung sind alle für die jeweilige Kollisionslage erheblichen Gesichtspunkte in ihrer rechtlichen Relevanz zu berücksichtigen. Zudem ist mit Hilfe der Notwehrprobe das Ergebnis der Abwägung auf seine rechtliche Angemessenheit hin zu kontrollieren. Die Vielfalt und die inhaltliche Unterschiedlichkeit der bei den diversen Kollisionslagen zu berücksichtigenden Abwägungsgesichtspunkte, die inzwischen bei der Auslegung des elWähnten neuen § 34 dt. StGB besonders deutlich geworden ist 76 , bildet offenbar den Grund dafür, daß man bei der Aufstellung von Rechtfertigungsprinzipien nicht über die elWähnten unbestimmten Formeln hinausgekommen ist. 2. Was die Frage nach den Prinzipien der Entschuldigung betrifft, so bilden hier das intellektuelle und das voluntative Schuldelement die Maßstäbe. Es geht also - wie bereits erläutert - darum, daß ausnahmsweise eine Möglichkeit des Täters, bei Begehung der Tat das Unrecht zu erkennen und sich nach dieser 74 Wie Mezger, Strafrecht, Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1949, S. 204 ff. insbesondere Lellckner, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 7. 75 Baumallll/Weber, Allg. Teil, S. 276; Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 48; Jakobs, Allg. Teil, S. 286 ff.;Jesclleck, Allg. Teil, S. 292; Maurach/Zipf, Allg. Teil, Teilbd. 1, S. 331 ff.; Stratellwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, 'ZStW 68 (1956), S. 41.

76

Vgl.Hirsch, in: LK, § 34 Rdn. 3.

36 Hirsch

550

Allgemeiner Teil

Kenntnis zu verhalten, ausgeschlossen oder auf ein rechtlich unerhebliches Maß herabgesetzt ist. a) Hier bestehen größere Bewertungsspielräume als bei der Rechtfertigung. Bei dieser handelt es sich darum, KoIIisionslagen zugunsten der einen oder der anderen Seite rechtlich zu entscheiden, so daß dasjenige, was dem einen zuviel zugestanden wird, zu Lasten des anderen gehen würde. Bei der Entschuldigung richtet sich der Blick dagegen akzentuiert auf die eine Person, zugunsten deren die Entschuldigung erfolgen soll. Da es praktisch kaum realisierbar ist, die Möglichkeit zu normgemäßem Verhalten in concreto genau festzustellen, ist die Gesetzgebung gezwungen, an9male Situationen zu vertypen, in denen ein Täter einem besonderen psychischen Druck ausgesetzt ist. Dabei hat sie sich, wie schon erwähnt, an einer Belastbarkeitsgrenze für den Durchschnittsbürger zu orientieren. Das läuft darauf hinaus, daß sich für den Gesetzgeber hier ein Bewertungsspielraum ergibt. So geht beispielsweise das deutsche Recht hinsichtlich der Entschuldigung in einigen Punkten weiter als ausländische Rechtsordnungen. Das betrifft nicht nur den jetzigen Katalog der Schuldunfähigkeitsfälle (§ 20 dt. StGB)77, sondern auch die Überschreitung der Gleichwertigkeitsgrenze beim entschuldigenden Notstand (§ 35 dt. StGB)7R. Im übrigen wird bei uns davon ausgegangen, daß der Gesetzgeber bei vorsätzlichen Begehungsdelikten von seinem gesetzgeberischen Ermessen abschließend Gebrauch gemacht hat1 9 • Nur als Notventil wird zusätzlich noch ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand anerkannt80 • Das alles bedeutet jedoch nicht, daß der Schuldbereich des Strafrechts weitgehend zur gesetzgeberischen Disposition stünde. Selbstverständlich hat der Gesetzgeber die bei den Schuldelemente stets zu beachten, so daß beispielsweise ein Gesetz, das den Verbotsirrtum oder den entschuldigenden Notstand als unbeachtlich ansieht, massiv gegen das Schuldprinzip verstößt. Umgekehrt sind die Grenzen möglicher Entschuldigung überschritten, wenn ein Gesetzgeber beim einschlägigen Bereich des Notstands den Bezugspunkt des Motivationsdrucks ganz 77

Erweitert seit 1975 um ,.·;onstige seelische Störungen".

Auch die in § 33 dt. StGB geregelte Überschreitung der Notwehr (Notwehrexzeß) ist täterfreundlicher als die Regelungen in einigen andern Staaten. Siehe etwa Art. 55 ital. StGB, Art. 8 Nr. 10, Art. 9 Nr. 1 u. 8 span. StGB, Art. 39 Nr. 17, Art. 378 port. StGB. 78

79 Vgl. für die ganz herrschende Auffassung LellckJler, in: Schönke/ Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 119, 124 m.w.N. 8n Siehe zu dessen Voraussetzungen und zur Einordnung als Entschuldigungsgrund: Dreherrrrölldle, StGB, vor § 32 Rdn. 15; Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 200 ff.; Jescheck, Allg. Teil, S.453 f.; Lellckner, in: SchönkelSchröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 115 ff.; Rudolphi, SK, Vor § 19 Rdn. 8; jeweils m.w.N.

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aus dem Blick verliert und die Eingrenzung auf die in der Notstandslage befindliche Person sowie eine dieser nahestehenden Person als entbehrlich ansiehtß1 • b) Hinsichtlich der Prinzipien der Entschuldigung ist von besonderem Interesse die Frage, ob die dem entschuldigenden Notstand zugrunde gelegte objektive Notstandstlteorie systemkonform ist. Der deutsche Gesetzgeber hat sie inzwischen noch durch die Einführung der Irrtumsregelung des § 35 Abs. 2 StGB zusätzlich bekräftigt. Vom Motivationsdruck her betrachtet scheint auf den ersten Blick die subjektive Theorie die besseren Gründe für sich zu haben; denn für den Motivationsdruck macht es keinen Unterschied, ob er durch einen objektiv vorliegenden oder einen nur irrig vorgestellten Notstandssachverhalt entstanden ist. Darüber ist bekanntlich in den 20er Jahren viel geschrieben worden R2 • Die für die subjektive Theorie kritische Konstellation ist jedoch der vermeidbare Irrtum. Bei näherer Betrachtung läßt sich die objektive Theorie auch reibungslos mit dem Schuldbegriff in Einklang bringen. Durch sie wird nämlich nur der grundsätzliche Fall festgelegt, der naturgemäß darin liegt, daß der Motivationsdruck in einer tatsächlich gegebenen Notstandssituation besteht. Damit ist über den Gesamtbereich des zu berücksichtigenden Motivationsdrucks noch nichts Abschließendes gesagt. Vielmehr verbleibt, daß auch im Irrtumsfall der Motivationsdruck beachtet werden kann, aber eben nur bei Unvermeidbarkeit des Irrtums. Durch die Unterscheidung von objektiv vorliegendem Notstand und dessen irriger Annahme wird daher eine sachentsprechende Einordnung des Irrtumsfalles ermöglicht. Die bei uns herrschende Lehre erklärt die objektive Basis des entschuldigenden Notstands mit einer Unrechtsminderung, die an das Vorliegen der objektiven Notstandsvoraussetzungen anknüpftRJ • Dies ist natürlich nicht im Sinne einer

R1 Zu den Problemen, die dadurch im spanischen Strafrecht (Art. 8 Nr. 7 ep) entstanden sind, siehe Cerezo Mir (Fn 51), S. 689,690 ff., und Perroll, Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen und spanischen Recht, 1988, S. 191 ff. Auch in Japan hat eine solche Notstandsregelung (§ 37 jap. StGB) große, dort viel diskutierte Auslegungsprobleme verursacht. R2 Für die subjektive Theorie beispielsweise Zimmer!, Zur Lehre vom Tatbestand, 1928, S. 68, und Radbrucll, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Frank-Festgabe, 1930, S. 158, 166; heute noch Scltmidltäuser, Allg. Teil (Studienbuch), S. 240 f., 248 f. RJ Armin Knufmallll (Fn 57), S. 156 ff.; WeheI, Strafrecht, S. 178 f.; Hirsclt, LK, vor § 32 Rdn.183, § 35 Rdn.4; Jesclteck, Allg. Teil, S. 430 f.; Lellckller, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 111; Rudolphi, SK, vor § 19 Rdn.6, § 35 Rdn.3; Stratenwertlt, Allg. Teil I, Rdn. 601; Vogler, Der Irrtum über Entschuldigungsgründe im Strafrecht, GA 1969, 103, 104.

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Erfolgssaldierung zu verstehen. Wenn A sein Leben dadurch rettet, daß er den unbeteiligten B tötet, ist keine Kompensation möglich, und erst recht ist das nicht der Fall, wenn er - wie es nach dem weit gefaßten § 35 dt. StGB denkbar ist sogar mehrere fremde Leben opfert. Die Unrechtsminderung ist vielmehr mit dem Blick darauf zu sehen, daß zur Rettung eines fundamentalen Individualrechtsguts in einer nicht anders abwendbaren Notstandslage gehandelt wird. Es geht also um eine Minderung des Handlungsunrecht 84 • Dieser Gesichtspunkt ist, wie erinnerlich, im früheren Streit um den personalen Unrechtsbegriff von einigen Gegnern dahin aufgewertet worden, daß sie meinten, bei entschuldigendem Notstand müsse die personale Unrechtslehre konsequenterweise das Handlungsunrecht sogar ganz vemeinen 85 • Ging dies auch zu weit, so ist doch richtig, daß eine Unrechtsminderung vorliegt, an die der Motivationsdruck gekoppelt wird. Das findet sich auch bestätigt bei den Fällen, in denen bestimmte Träger von Rechtspflichten aus dem entschuldigenden Notstand ausgeschlossen sind. Das Eingreifen der Rechtspflicht läßt die erforderliche Unrechtsminderung entfallenR6 • Was im vorhergehenden zum entschuldigenden Notstand ausgeführt worden ist, gilt für den gesamten Bereich des voluntativen Schuldelements. Mit Recht erklärt die herrschende Lehre deshalb auch die Irrtumsregelung des § 35 Abs. 2 dt. StGB außerhalb des Putativnotstands für analog anwendba~7.

VI. Anzusprechen sind noch einige einzelne Abgrenzungsprobleme von Rechtfertigung und Entschuldigung.

1. In der Fahrlässigkeitslehre gibt es neuerdings eine Richtung, die beim Unrechtstatbestand des fahrlässigen Delikts im Gegensatz zur herrschenden MeinungRR nicht auf die objektive Sorgfaltswidrigkeit abstellt, sondern das individu84 Vgl. etwa Wehel, Strafrecht, S. 178 f.; Jescheck, Allg. Teil, S. 430 f.; Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 183, § 35 Rdn. 4.

R5 Vgl. zur damaligen Diskussion die Darstellung bei Wehel, Strafrecht, S. 140 f., 178 f. und S. 42. R6

Vgl. dazu Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 183, § 35 Rdn. 47, 53.

87 eramer, in: Schönke!Schröder, § 16 Rdn. 31; Hirsch, LK, vor § 32 Rdn.188, 208, § 35 Rdn. 79; Jescheck, Allg. Teil, S. 458; Schroeder, LK, § 16 Rdn. 59; m.w.N. RR Vertreter der h.M. u.a.: Wehel, Strafrecht, S. 127 ff., 175 f.; Jescheck, Allg. Teil, S. 509 f. m. Anm. 14; MaurachIZipf, Allg. Teil, S. 211 f.; Selzroeder, LK, § 16 Rdn. 144 f.; Armin Knufmann, Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, Welzel-

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elle Venneidenkönnen verlangt R9 • Nur demjenigen, der individuell fähig sei, den Nonnbefehl zu befolgen, könne als Verhaltensunrecht angelastet werden, daß er den Erfolg nicht vennieden habe. Dieser Lehre ist aber mit Recht entgegengehalten worden, daß sie auf die Rückkehr zur überholten, die Abstufung von Unrecht und Schuld einebnenden Imperativentheorie hinausläuft90 • Sie vernachlässigt, daß das Unrecht den Widerspruch zu den die Ordnung des Soziallebens regelnden generellen Verhaltensanweisungen betrifft. Es geht bei ihm nicht um die individuelle, sondern nur um die generelle Motivierbarkeit durch die Rechtsnonnen. Entgegen der von den Anhängern jener subjektivistischen Fahrlässigkeitslehre vertretenen Ansicht ist es auch durchaus möglich, eine Abgrenzung von objektiver Sorgfaltswidrigkeit und individuellem Venneidenkönnen vorzunehmen. Das Argument, daß die Individualisierung notwendig sei, weil das Abstellen auf Verkehrskreise einen vergröbernden Maßstab bedeute, ist schon im Ansatz unzutreffend. Orientierungspunkt hat nämlich die Gleichheit des Gefährlichkeitsniveaus innerhalb der jeweiligen sozialen Verhaltensfonnen zu sein. Für die Beurteilung eines jeden Verhaltens bedarf es daher eines daran ausgerichteten objektiven Maßstabs91 • 2. Ein weiteres Abgrenzungsproblem von Unrecht und Schuld ist dadurch entstanden, daß in der Gesetzgebung einige Begriffe auftauchen, in denen beide Bewertungsebenen ineinander fließen. Beispiele sind die Merkmale ,,böswillig", ,,gewissenlos" und ,,niedrige Beweggründe"92. Hier ist es Aufgabe von Wissenschaft und Praxis, diese Begriffe in ihre Unrechts- und Schuldseite aufzugliedern

Festschrift, 1974, S.393, 404 ff.; Schmidhäuser, Fahrlässige Straftat ohne Sorgfaltspflichtverletzung, Schaffstein-Festschrift, 1975, S. 129; Scllünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, 435, 436 ff.; Hirsch (Fn 20), S. 266 ff. 89 So Stratellwerth, Allg. Teil I, Rdn. 1096 ff.; ders., Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes beim Fahrlässigkeitsdelikt, Jescheck-Festschrift, 1985, S.285; Jakobs, Allg. Teil, S. 258 ff.; ders., Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 48 ff., 55 ff.; ähnlich auch Gössel, Norm und fahrlässiges Verbrechen, Bruns-Festschrift, 1978, S.43, 51 f.; Samson, SK, Anh. zu § 16 Rdn. 13 ff. 90 Vgl. Schünemalln (Fn 88), S. 511,513 f., 516; ders., Neue Horizonte der Fahrlässigkeitsdogmatik?, Schaffstein-Festschrift, 1975, S. 159, 160 ff. 91

Näher dazu Hirsch (Fn 20), S. 266 ff.

92 Das Merkmal "böswillig" findet sich in den §§ 90a Abs. 1 Nr. 1, 130 Nr. 3, 223b Abs. 1 d!. StGB; aus § 134 d!. StGB ist es entfernt worden, und § 170a d!. StGB, der es ebenfalls enthielt, ist zwischenzeitlich insgesamt weggefallen. Von "gewissenlos" war früher in § 170d d!. StGB die Rede, und § 170c d!. StGB mit dem gleichen Merkmal ist ganz entfallen. Das Merkmal "niedrige Beweggründe" ist im Jahre 1941 in den § 211 d!. StGB aufgenommen worden.

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und außerdem den Gesetzgeber dazu anzuhalten, durch exaktere Begriffswahl die Handhabung des Gesetzes zu erleichtern93 • Das Merkmal ,,gewissenlos" ist inzwischen auch wieder entfernt worden. 3. Noch nicht völlig abgeschlossen ist die Diskussion über die Zuordnung der Gleichwertigkeitsfälle der Pflichtenkollisioll. Mit der Problematik werden sich nachfolgende Referate näher befassen. Ich bin der Meinung, daß es neben der rechtfertigenden nicht noch eine Kategorie der entschuldigenden Pflichtenkollision gibt, vielmehr bei Gleichwertigkeit der gegenüberstehenden Handlungsgebote Rechtfertigung Platz greift94 • Dies folgt aus der Sachverschiedenheit von Notstand und Pflichtenkollision. Bei Kollidieren von zwei gleichwertigen Handlungsgeboten - auch wenn jedes auf die Rettung eines Menschenlebens gerichtet ist - verpflichtet die Rechtsordnung den Normadressaten dazu, sich für eines der beiden Gebote zu entscheiden. Hier die Gleichwertigkeit genügen zu lassen, widerspricht nicht den Ausführungen zu den Rechtfertigungsprinzipien; denn die Abwägung, von der dort die Rede war, erschöpft sich hier nicht lediglich darin, die Inhalte der Pflichten abzuwägen, sondern bezieht alle auf seiten des Täters und des Opfers gegenüberstehenden Gesichtspunkte ein. Daher ist sowohl der erwähnte Gesichtspunkt zu berücksichtigen, daß objektiv nur die Befolgung eines der beiden gleichwertigen Gebote möglich ist, als auch der Umstand, daß das Opfer in solchen Fällen nicht verlangen kann, die Kollision zu Lasten des anderen Betroffenen zu entscheiden95 •

93 Dazu näher leseheck, Allg. Teil, S. 425 f.; Stratenwerth, Zur Funktion strafrechtlicher Gesinnungsmerkmale, v.Weber-Festschrift, 1963, S. 171; Wehet, Strafrecht, S. 79 f. 94 Ebenfalls gelangen in den Gleichwertigkeitsfällen zur Rechtfertigung: Armill Knufmalln (Fn 57), S. 137 f.; Wehet, Strafrecht, S. 219; Baumann/Weber, Allg. Teil, S. 353 f.; Hruschlw, Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, Dreher-Festschrift, 1977, S. 189, 192 ff.; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 18 ff., 118; ders., Grundsatzfragen der "Differenzierung" zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, JuS 1987,81,88; Laclaler, StGB, § 34 Anm. 4; Lenclaler, in: SchönkeJSchröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 73; ders., Der Grundsatz der Güterabwägung als Grundlage der Rechtfertigung, GA 1985,295,304 f.; Mauraclt/ Zipf, Allg. Teil, Teilbd. 1, S. 379 f.; OUo, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1978, S. 18 ff.; Samson, SK, § 34 Rdn. 29; Stratenwerth, Allg. Teil I, Rdn. 471; Wehet, Strafrecht, S. 219; Wesse~, Allg. Teil, S. 233 f. Für Schuldausschluß hingegen: Gallas, Ptlichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Mezger-Festschrift, 1954, S. 311, 331 ff.; lescheck, Allg. Teil, S. 329 f.; Dreherrrrändle, StGB, vor § 32 Rdn. 11.

95 Näher zum vorhergehenden: Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 72 f. Bei dem Meinungsstreit scheint auch eine Rolle zu spielen, daß von der nur Entschuldigung annehmenden Lehrmeinung rälle, die wegen des gegen ein Rechtsgut gerichteten Tuns dem entschuldigenden (übergesetzlichen) Notstand zuzuordnen sind, mit denen der Ptlichtenkollision,

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VII. Abschließend läßt sich zusammenfassend feststellen: Ein zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung abstufendes Straftatsystem ist notwendig, durchführbar und von großer praktischer Bedeutung. Das wissenschaftlich entwickelte System ist grundsätzlich unabhängig von Inhalt und Alter der in einer Rechtsordnung gehenden Kodifikation. Es gibt nach wissenschaftlichen Maßstäben keine italienische, portugiesische, spanische oder deutsche Strafrechtsdogmatik, sondern nur eine ganz oder teilweise richtige oder aber eine falsche 96 • Die Erkenntnisse der Strafrechtsdogmatik liefern die Maßstäbe, die bei der Auslegung der geltenden Strafgesetze zu beachten oder - wenn das wegen eines entgegenstehenden veralterten Gesetzestextes nicht möglich ist - de lege ferenda anzulegen sind. Innerhalb des dogmatischen Rahmens verbleibt dabei hinreichend Spielraum für nationale Unterschiede in Einzelpunkten. Beispielsweise ist die Frage, ob beim entschuldigenden Notstand die Grenze bei der Gleichwertigkeit der gegenüberstehenden Interessen gezogen werden soll oder aber - jedenfalls in gewissem Umfang sogar eine überwiegende Interessenbeeinträchtigung auf der Opferseite einbezogen werden kann, eine Wertentscheidung, die dem einzelnen Gesetzgeber überlassen bleibt. Der Gewinn, der sich aus der Herausarbeitung des in Wertungsstufen gegliederten Straftatsystems für Theorie, Praxis und Gesetzgebung ergeben hat und weiterhin ergeben kann, läßt sich nicht ernsthaft bestreiten. Jedoch besteht heute die Gefahr, daß man diesen Nutzen wieder verspielt, sei es durch bewußt unklare, alles relativierende Begriffe, sei es durch die Vernachlässigung dogmatischer Gesamtzusammenhänge bei der Befassung mit Teilproblemen, und schließlich auch durch das Erfinden immer subtilerer Differenzierungen, bei denen die praktische Relevanz oft nicht mehr ersichtlich ist.

d.h. dem Unterlassen bei Kollidieren von zwei Handlungsgeboten, verquickt werden; siehe

lesclteck, Allg. Teil, S. 453 (Anstaltsfälle). 96 Die wissenschaftliche Dogmatik erforscht, welche allgemeinen Erfordernisse eine Straftat aufweisen muß und wie diese strukturiert sind. Sie entwickelt ein solches Modell für das Tat- und Schuldstrafrecht. Theoretisch möglich wäre auch ein Modell eines Täterstrafrechts. Jedoch sind es wiederum allgemeingültige wissenschaftliche Einsichten, die für das Modell "Tat- und" Schuldstrafrecht" und gegen das Modell "Täterstrafrecht" sprechen. Aufgabe der wissenschaftlichen Strafrechtsdogmatik ist es, die allgemeinen Straftatvoraussetzungen von den Grundlagen des Modells her weiterzuentwickeln. Die so gewonnenen Ergebnisse lassen sich dann für die Auslegung des jeweils geltenden Rechts oder de lege ferenda fruchtbar machen.

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Bekanntlich leitete Binding seine Ausführungen über den Gefahrbegriff mit den Worten ein: ,,Es gibt Rechtsbegriffe, die trotz ihrer Unentbehrlichkeit gefährlich sind. Schwer verständlich, werden sie leicht mißdeutet, ebenso leicht mißbraucht"!. Daran hat sich trotz mehrerer weiterführender, verdienstvoller Untersuchungen 2 insgesamt gesehen nicht viel geändert. Roxin hat jüngst sogar die Meinung vertreten, daß die Erforschung der Gefährdungsdelikte ,,noch in den Anfangen" steckeJ • Diese Situation ist um so mißlicher, als sich konkrete und abstrakte "Gefährdungs"-Tatbestände in den zurückliegenden Jahrzehnten stark ausgebreitet haben, wobei hinsichtlich letzterer auch die expansive Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts einzubeziehen ist. Hinzu kommt die zunehmende Verwendung der Begriffe "Gefahr" und "Gefährlichkeit" innerhalb des dogmatischen Systems, insbesondere im Rahmen der heutigen Zurechnungslehre, für die sie geradezu eine Schlüssel rolle einnehmen. Interessant ist, daß die aktuelle Diskussion einen Schwerpunkt auf einem ,,Nebenkriegsschauplatz" hat: dem Notstand. Sowohl der rechtfertigende als auch der entschuldigende Notstand erfordern, daß ein Rechtsgut in Gefahr geraten ist. Die h.M. will den von ihr bei den (konkreten) Gefährdungsdelikten vertretenen

Bindillg, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. IV. 1919, S. 374. Aus neuerer Zeit siehe insbesondere eramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962; Lackller, Das konkrete Gefährdungsdelikt im Verkehrsstrafrecht, 1967; Schröder, 'ZStW 81 (1969),7 ff.; Gallas, Heinitz-Festschr., 1972, S. 171 ff.; Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973; Brelzm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973; Schroeder, Die Gefährdungsdelikte, 'ZStW -Beiheft Caracas, 1982; Schüllemanll, JA 1975,435 ff., 511 ff., 575 ff., 647 ff., 715 ff., 787 ff.; Demuth, Der normative Gefahrbegriff, 1980; Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987; Killdhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989; Dimitratos, Das Begriffsmerkmal der Gefahr in den strafrechtlichen Notstandsbestimmungen, 1989; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991. J Roxill, Allg. Teil I, 1992, § 11 Rnr. 113. !

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Gefahr und Gefährlichkeit

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Gefahrbegriff auch hier zugrunde legen 4 • Demgegenüber wird von einer zunehmenden Schrifttumsmeinung eine stärkere Objektivierung bei den §§ 34 und 35 StGB gefordert, und zwar mit der Begründung, daß andernfalls der Notstandstäter zu sehr begünstigt werde5 • Auch heißt es im Zusammenhang mit dem Notstand, daß bei jeder Regelung der Gefahrbegriff unter dem Gesichtspunkt seiner spezifischen Funktion selbständig bestimmt werden müsse6 • Man sieht darin einen Ausdruck moderner funktional-normativer Methodik7 • Aber wenn sich die Notwendigkeit bestätigen sollte, bei den Notstandsvorschriften einen anderen Gefahrbegriff als den von der h.M. im allgemeinen vertretenen zugrunde zu legen, so liegt wissenschaftlich die Frage nahe, ob vielleicht die Friktionen beim Notstand nur ein Symptom dafür sind, daß generell an der herrschenden Gefahrdefinition etwas nicht stimmt oder diese jedenfalls, weil zu unscharf gefaßt, zur sachlichen und terminologischen Verquickung unterschiedlicher Phänomene und anderen Mißdeutungen Anlaß gibt.

11. Die h.M. beschränkt sich beim Notstand herkömmlich darauf, auf die bei den (konkreten) Gefährdungsdelikten gegebene Definition zu verweisen, wonach es bei der Gefahr darum gehen soll, daß für ein nachträgliches ex ante-Urteil ,,nach den obwaltenden konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich gelten kann, die Möglichkeit eines solchen naheliegt'