Einheit und Vielfalt der Rechtstheorie: Beiträge aus drei Jahrzehnten 1978 - 2008 [1 ed.] 9783428518401, 9783428118403

Der Band spiegelt die rechtstheoretisch und rechtsinterdisziplinär fundamentalen Geistesströmungen des vergangenen Jahrh

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Einheit und Vielfalt der Rechtstheorie: Beiträge aus drei Jahrzehnten 1978 - 2008 [1 ed.]
 9783428518401, 9783428118403

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 237

Einheit und Vielfalt der Rechtstheorie Beiträge aus drei Jahrzehnten 1978–2008

Von Robert Weimar

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ROBERT WEIMAR

Einheit und Vielfalt der Rechtstheorie

Schriften zur Rechtstheorie Heft 237

Einheit und Vielfalt der Rechtstheorie Beiträge aus drei Jahrzehnten 1978–2008

Von Robert Weimar

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Kontakt: Univ.-Prof. Dr. mult. Robert Weimar, LL.M., LL.M. Department of Law, University of Siegen, Germany E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-11840-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner lieben Frau Eva

Vorwort Drei Jahrzehnte Forschungstätigkeit in verschiedenen Bereichen der Rechtstheorie sind eine lange Zeit – meist mehr als die Hälfte der Schaffensperiode eines Wissenschaftlers überhaupt. Diese Zeitspanne gibt Anlass zur Bilanzierung. In diesem Sinne mag die Konferenz der hier versammelten Beiträge aus den Jahren 1978 – 2008 verstanden werden. Ausgewählt sind die Beiträge unter Aspekten, verschiedenartige, aber kommunizierbare Probleme und Lösungsversuche abzubilden und einander begegnen zu lassen. Es handelt sich bei den grundlagenwissenschaftlichen Beiträgen und zahlreichen in der Bibliografie (1957 – 2008) genannten anderen Themen häufig um auch in der Gegenwart und Zukunft aktuelle Problemstellungen. Dabei geht es durchweg um übergreifende theoretische Probleme, deren Lösung wissenschaftlich noch offen ist und deren Entwicklung – auch international – in Richtung weiterer Forschung verläuft. Viele der entsprechenden Kontroversen werden heute weltweit geführt. Dies gilt beispielsweise für die Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, den Umgang der Rechtsorgane mit dem Gesetz, den Wandel rechtswissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und die Konstruktion der Rechtswirklichkeit. Vor allem aber gilt dies für die Forschungen in den Neurowissenschaften und der Psychologie, die nun deutlich werden lassen, dass praktische Vernunft auf eine funktionierende Emotionalität angewiesen ist. Wer nicht nur rational denken, sondern auch vernünftig entscheiden will, scheint ohne motivierenden und bewertenden Einfluss von Gefühlen nicht auszukommen. Gelingende Interdisziplinarität und „Schritte über Grenzen“ werden das Terrain der Rechtstheorie weiter bereichern. Bibliografien sind wohl nur und erst vor dem Hintergrund der Vita des Autors verständlich. Hieraus erklärt sich manches im eigenen akademischen Entwicklungsprozess und wissenschaftlichen Spektrum, wie es durch lange professionelle Weg- und Wirkstrecken bei mir geprägt ist, meinen Zugang zum Rechtsdenken bestimmt und Akzent- und Interessenverschiebungen beeinflusst hat und beeinflusst. Allen KollegInnen und MitarbeiterInnen, die mich auf diesem meinem Weg begleitet und unterstützt haben, bin ich in Dankbarkeit verbunden. Siegen – Heidelberg – Wien, im Frühjahr 2008

Robert Weimar

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen der Rechtstheorie

19

Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Explikative oder normative Rechtstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Umrisse eines Qualitätsentwicklungs-Modells der juristischen Entscheidung . . . . . . . . . . .

88

Eine rechts- und wissenschaftstheoretische Problematisierung: Was ist Wirtschaftsrecht? 104 Zweiter Teil Wandlungen des Erkenntnisinteresses

115

Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomischökologischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ecology versus Economy in Law. Study of a Basic Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Natur und Mensch. Zur Ambivalenz rationaler Ressourcensteuerung im Rechtssystem 179 Dritter Teil Der Umgang mit dem Gesetz – Konturen postmoderner Methodologie und Neodogmatik

201

Der Bedeutungswandel des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Basis der Rechtsdogmatik und praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Europarechtsbasierte Auslegungsrhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Integrations- und angleichungsorientierte Interpretationskonzepte im Europäischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

10

Inhaltsverzeichnis Vierter Teil Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

279

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Staatsakt und Unrecht bei Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Rechtswissenschaft als Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Fünfter Teil Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung: Rechtstheoretische Perspektiven

361

Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung . . . . . . 363 Wie ist Rechtsprechungslehre als Wissenschaft möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Das Rechtsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Verwaltungsentscheider – die „neuen“ Rechtsmacher: Strukturierung des Normbereichs durch agency-made law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Juristische Rationalität als politischer Diskurs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozess . . . . . . . 467 Überregulierung in der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Rechtsberatungslehre – ein neuer Zweig der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Sechster Teil Rechtspsychologie als Rechtstheorie

507

Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Psychologische Dimensionen juristischen Subsumierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Predominant Ecological Conditions as the Basis of Human Happiness . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Reziprozität im Umweltrecht als rechtspsychologisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Kreativität: Psychischer Prozess und Merkmal geistigen Schaffens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 Psychology meets Legal Theory – Aspekte wechselseitiger Neuorientierungschancen . . 575 Siebter Teil Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

583

Technokratie und Rechtssystem. Zur Frage nach der Zukunft des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 585 Ansatzpunkte einer Theorie der Sozialresonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

Inhaltsverzeichnis

11

Neuroscience Before the Gates of Jurisprudence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft – Aspekte einer Wende? . . . . . . . . . . . . . 615 Determinismusstreit heute und die Methodologie der juristischen Entscheidung . . . . . . . . 626 Interdisziplinarität: Was darf die Rechtswissenschaft wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Methodik rechtsinterdisziplinärer Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Bibliografie Robert Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abb. ABl. Abs. Abschn. Abt. AbzG AcP AD-LAF a. d. S. A.E.D.A. a. F. AG AgrarR allg. Allgem. JurZ Anh. Anm. AöR ARSP Art. atelier Aufl. AuR ausf. b&b BAG BB BBG Bd. Bde. bearb. Beih. Beschl.

anderer Ansicht am angegebenen Ort Abbildung(en) Amtsblatt (der EG) Absatz Abschnitt Abteilung Gesetz betreffend die Abzahlungsgeschäfte Archiv für die civilistische Praxis Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lateinamerikaforschung an der Saale Asociacion Expañola De Derecho Agrario alter Fassung Aktiengesellschaft / Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Agrarrecht. Zeitschrift für das gesamte Recht der Landwirtschaft, der Agrarmärkte und des ländlichen Raums allgemein Allgemeine Juristen-Zeitung Anhang Anmerkung Archiv des öffentliches Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel atelier. Die Zeitschrift für Künstler Auflage Arbeit und Recht. Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis ausführlich bilanz & buchhaltung. Zeitschrift für Rechnungswesen und Steuern Bundesarbeitsgericht Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbeamtengesetz Band Bände bearbeitet(e) Beiheft Beschluss

Abkürzungsverzeichnis BGB BGBl. BGH BGHZ Bibl. Br. BRAGO BRAO BRD BuW BVerfG BVerfGE BVerwG BWV bzgl. bzw. C.E.D.R. cf. Creditreform DAR DB DDR ders. d. h. diagonal dies. DNotZ DÖV DRiZ DStR dtsch. DtZ DVBl. DVP DWiR DZWir ebd. Ed. Eds. EEG EG

13

Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bibliothek Breisgau Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesrepublik Deutschland Betrieb und Wirtschaft. Zeitschrift für Rechnungswesen, Steuern, Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht im Betrieb Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Bundesverwaltungsgericht Die Bundeswehrverwaltung (Zeitschrift) bezüglich beziehungsweise Comite Europeo De Derecho Rural confer Creditreform. Das Unternehmensmagazin aus der Verlagsgruppe Handelsblatt Deutsches Autorecht (Zeitschrift) Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Demokratische Republik derselbe das heißt diagonal. Zeitschrift der Universität Siegen dieselbe(n) Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) deutsch Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Die Verwaltungspraxis (Zeitschrift) Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (bis 1992: DWiR) Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (seit 1993: DZWir; s. a. DWiR) ebenda Auflage / Herausgeber Herausgeber Elektroenzephalogramm Europäische Gemeinschaft(en)

14 EG-AktG EGV engl. erw. et al. etc. EU EuGH EuR Europ. Komm. EuZW e. V. evtl. EWG-Vertrag EWiR EWIV EWS f. FAZ Festschr. ff. FN / Fn. franz. FS GB GbR Gemeinde geringf. GesR GG ggf. GmbH GmbHG GmbHR GS GSBA GWB H. HiMoN-DB h. L. h. M.

Abkürzungsverzeichnis Einführungsgesetz zum Aktiengesetz Europäische Gemeinschaft (Vertrag) englisch erweitert(e) et alii et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europarecht (Zeitschrift) Europäische Kommission Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein eventuell Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Europäische Wirtschaftliche Interessengemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) folgende / für Frankfurter Allgemeine Zeitung Festschrift fortfolgende Fußnote französisch Festschrift Großbritannien Gesellschaft bürgerlichen Rechts Die Gemeinde. Zeitschrift für gemeindliche Selbstverwaltung geringfügig Gesundheitsrecht. Zeitschrift für Arztrecht, Krankenhausrecht, Apotheken- und Arzneimittelrecht Grundgesetz gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Zeitschrift) Gedächtnisschrift Graduate School of Business Administration Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Heft Historische Mobilität und Normenwandel – Diskussionsbeiträge (Forschungsschwerpunkt Universität Siegen) herrschende Lehre herrschende Meinung

Abkürzungsverzeichnis Hrsg. hrsg. i. Br. INF insb. / insbes. Inst. i. S. ISI ital. IVR JBl. Jg. JR JStG Jura JuS JWG JZ KA Kap. KG KJ KrG LdR LdRW M. MDR m. E. Metall Ms. m. w. N. Nachw. n. F. NJW Nr. NRW NWB NZA OBG NRW OECD OLG

15

Herausgeber herausgegeben im Breisgau Die Information über Wirtschaft und Steuer. Seit 2003: Die Information für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (Zeitschrift) insbesondere Institut im Sinne Internationale Steuer-Informationen (Zeitschrift) italienisch Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie Juristische Blätter (Zeitschrift) Jahrgang Juristische Rundschau (Zeitschrift) Jahressteuergesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Kulturarbeit (Zeitschrift) Kapital Kommanditgesellschaft Kritische Justiz (Zeitschrift) Kreisgericht Ergänzbares Lexikon des Rechts (Luchterhand) Lexikon des Rechts der Wirtschaft Main Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Metall – Internationale Zeitschrift für Technik und Wirtschaft Manuskript mit weiteren Nachweisen Nachweise neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Wirtschafts-Briefe. Zeitschrift für Steuer- und Wirtschaftsrecht Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Ordnungsbehördengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen Organisation for Economic Cooperation and Development Oberlandesgericht

16 ÖZöR p. pass. Pkw pp. RabelsZ Rdnr. resp. Rez. RGZ RIW Rn. Rpfleger RTH RVerf. RVO S. s. s. a. SKV Slg. sog. span. SPD SpTrUG Still StuP StVO StVZO s. u. SZ TAW THG / TreuhG Ts. TU u. u. a. u. Ä.

Abkürzungsverzeichnis Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht page passim Personenkraftwagen perge Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Rabel Randnummer respektive Rezension Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft. Betriebs-Berater International (Zeitschrift) Randnummer Der Deutsche Rechtspfleger (Zeitschrift) Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts Weimarer Reichsverfassung Reichsversicherungsordnung Seite siehe siehe auch Staats- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift) Sammlung sogenannt spanisch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen (Spaltungsgesetz) stille Gesellschaft Studium und Praxis. Monatsschrift für die juristische Ausbildung Straßenverkehrsordnung Straßenverkehrszulassungsordnung siehe unten Siegener Zeitung Technische Akademie Wuppertal Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) Taunus Technische Universität und und andere / unter anderem / unter anderen und Ähnliches

Abkürzungsverzeichnis überarb. UdSSR UK UmwVO Univ. unveränd. UrhG Urt. USA usw. UTB u. U. UWG v. VermG VersN VersR vervielf. vgl. VIZ VO Vol. vorh. VVDStRL Westf. WiB WiR WiSt WPg WR WuW zahlr. z. B. ZblJugR ZBR Zeitschr. Zeitschr. für Phil. Forschung

17

überarbeitet(e) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Kingdom Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften (Umwandlungsverordnung) Universität unverändert(e) Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) Urteil United States of America und so weiter Uni-Taschenbücher unter Umständen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) Der Versicherungsnehmer. Zeitschrift für die versicherungnehmende Wirtschaft und den Straßenverkehr Zeitschrift für Versicherungsrecht vervielfältigtes vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht Verordnung volume vorhanden Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Westfalen Wirtschaftsrechtliche Beratung. Zeitschrift für Wirtschaftsanwälte und Unternehmensjuristen Wirtschaftsrecht. Beiträge und Berichte aus dem Gesamtbereich des Wirtschaftsrechts (Zeitschrift) Wirtschaftswissenschaftliches Studium Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Westfälische Rundschau Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) zahlreiche zum Beispiel Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt (Zeitschrift) Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift Zeitschrift für Philosophische Forschung

18 ZfRV ZfS ZGR ZgStW ZHR Ziff. ZIP zit. ZMR ZPO ZRP ZSteu ZWS

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Steuern und Recht Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften * *

*

Wegen weiterer Abkürzungen wird auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Aufl. Berlin 2007, verwiesen.

Erster Teil

Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen der Rechtstheorie

Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft* Fasst man Rechtserkenntnis1 als einen gegenstands-, bewusstseins- und methodenabhängigen Prozess auf, der primär auf Aufnahme praktischer (handlungsbezo* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / H. Schelsky / G. Winkler / A. Schramm (Hrsg.), Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag. 1984, S. 69 – 102: Berlin: Duncker & Humblot. 1 Nach O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften – Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Der Wissenschaftsbegriff in den Natur- und Geisteswissenschaften, Studia Leibnitiana, Sonderheft 5 (1975), S. 102 – 116 handelt es sich bei der Rechtserkenntnis (Normerkenntnis) um „nichts anderes als das Erfassen einer Norm durch Verstehen von Normsätzen oder durch Herauslesen und erfassende Rekonstruktion der Norm aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, etwa einer Norm des Gewohnheitsrechts aus bestehenden normativen Gewohnheiten“ (S. 108). Es gehe bei der Erkenntnis der Norm nicht um die Gewinnung einer Aussage über eine Norm – wie viele meinen (z. B. H. Kelsen, G. H. von Wright) –, sondern um „das Verstehen des Normgedankens, ganz analog wie das Erfassen einer Aussage das Verstehen des Aussagesatzes, das gedankliche Nachvollziehen der Aussage ist, nicht eine Beurteilung des Aussagesatzes“. In der Sichtweise des von ihm vertretenen Institutionalistischen Rechtspositivismus (IRP) formuliert O. Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 159 – 232 folgendermaßen: „Rechtserkenntnis ist für den IRP Verstehen von Normen als Elementen der institutionellen Realität des Staates, gleichzeitig – wenn auch methodologisch als andere Frageweise charakterisiert – ist Gegenstand der juristischen Untersuchung auch das wirken der rechtlichen Normensysteme, das Studium der soziologischen Relationen, in denen die Normen als reale Sinngebilde zu gesellschaftlichen Prozessen stehen“ (S. 216). Auch die Rechtswissenschaft und die Rechtsdogmatik gehören nach Weinberger zur Rechtswirklichkeit, sie seien als Bestandteile der gesellschaftlichen Institution Recht mit der Deutung und Fortentwicklung des Rechts verknüpft (ebd.). „Nur weil wir die Realität des Menschen als eines handelnden Wesens und die zwischenmenschlichen Beziehungen als normativ geregelt erleben und das menschliche Verhalten nur als Konsequenzen der Existenz normativer Regulative erfassen können, gelangen wir zur Konstruktion des Begriffes ,Recht‘“ (ebd., S 170). Damit haben wir nach Weinbergers Worten „die Eintrittskarte zum Bereich des Rechts“, ohne dass wir durch einen glatten „Sprung“ (A. Peczenik) in das Reich des Rechts gelangen. M. E. springen wir nicht: Die Sprunglehre verdeckt nur unsere lückenhafte Kenntnis über die denk- bzw. verstehenspsychologischen Abläufe innerhalb des menschlichen Wahrnehmungspotenzials bei der Normperzeption aus bzw. an kognitiven Strukturzusammenhängen. Was es uns letzten Endes ermöglicht, Recht zu „erfassen“, ist nicht hinreichend geklärt. Aber sicher wird Recht gedacht und sicher scheint mir auch, dass es jenseits des Gedachtwerdens eines selbständigen Seins entbehrt. Möglicherweise ist also Weinberger hier auf dem richtigen Wege. Zu Einzelheiten der tiefer liegenden Grundfragen rezeptiver und aktionistischer Anteile des Erkennens von Sinnstrukturen vgl. H. Kunz, Über den Sinn und die Grenzen des psychologischen Erkennens, Stuttgart 1957, insbes. S. 20 ff., 122 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch W. Krawietz, Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?, in: Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 345 – 421, der

22

1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

gener) Information und reproduktiv auf die Ermittlung normativer Sinngehalte („Normgewinnung“) gerichtet ist, so wird man in einem Rechtssystem mit kodifiziertem Recht den Umgang mit dem Gesetz als den zentralen Bereich rechtswissenschaftlicher Arbeit ansehen. Im Vordergrund stehen dabei zwei klassische Problemgebiete: die Interpretation der Gesetze und die Verwendung praktischer Sätze vor allem im Zusammenhang mit juristischen Begründungen. Für diese Gebiete möchte ich – in groben Zügen – eine theoretische Perspektive skizzieren, die für eine erkenntniskritische2, im Wesentlichen empirisch-realistisch orientierte Rechtswissenschaft3 als kennzeichnend angesehen werden darf. In dieser Sichtweise stellen die Phänomene der genannten beiden Gebiete den Kristallisationspunkt einer Reihe unterschiedlicher sozialer Handlungen dar, die theoretisch und empirisch erforscht werden können. Zur Erklärung derartiger Handlungen erscheint es sinnvoll, das Konzept eines Rechtssystems zugrunde zu legen, das mit Bezug auf kodifizierte Rechtsnormen aus Handlungsbereichen besteht, die als Produktion, Vermittlung, Rezeption, Verarbeitung und Wirkung4 dieser Normen untersucht werden können. Dabei gehe ich davon aus, dass zur empirischen Erforschung dieser rechtsrelevanten Bereiche, ihrer theoretischen Durchdringung und ihrer anwendungsorientierten Kritik eine „geisteswissenschaftliche“ Grundlage, wie sie in der Tradition im Anschluss an N. Luhmann das Rechtssystem als selbstreferentielles System begreift, nicht bloß als eine Struktur des Bewusstseins oder der Erkenntnis, da es in der gesellschaftlich schon geordneten Realität als soziales System menschlichen Erlebens und Handelns existiere (S. 381). Der „rechtliche Sinn“ sei am normativ gesteuerten Sozialverhalten abzulesen (ebd., N. 108). Aber es bleibt hier die Schwierigkeit, das Ablesen als Begreifen der gemeinten normativ wirksamen Struktur von Gesellschaft auch zu erklären. 2 Vgl. dazu O. Weinberger, Die logischen Grundlagen der erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 125 – 142. Weinberger, der seine Überlegungen zur erkenntniskritischen Jurisprudenz im Sinne der Frage „Wie ist Jurisprudenz als Wissenschaft möglich?“ auffasst, versteht diese Frage als „Aufforderung, die logischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen der Rechtswissenschaft kritisch zu erörtern“ (S. 125). Es kann Weinberger m. E. nur zugestimmt werden, wenn er in der Entwicklung besonderer Grundlagendisziplinen für die Zwecke der Rechtswissenschaft die Quelle rechtswissenschaftlichen Theoriefortschritts erblickt. Dazu gehört die Integration der Logik, Semantik, Kommunikationstheorie, Axiologie, formalen Teleologie, Entscheidungstheorie, Kybernetik, Soziologie, Politologie u. a. (S. 142), die sämtlich gerade innerhalb der Rechtswissenschaft selbst zu entfalten sind. 3 Zu der sich hier ergebenden Grundlagenproblematik vgl. insbes. R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 103 – 132; W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 181 und 211 f.; R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: Objektivierung des Rechts – Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 – 722. 4 Wie das Normensystem funktioniert, was unter der „Herrschaft“ dieses Sollens faktisch geschieht, gehört nach Weinberger ebenfalls zur Rechtserkenntnis; s. dazu ders., Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik. Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen, Berlin 1981, S. 83.

Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft

23

der Rechtswissenschaft wurzelt, nicht ausreicht. Die dogmatische Rechtswissenschaft, um die es hierbei in erster Linie geht, kann und sollte zur Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit als eine empirisch arbeitende und kritisch argumentierende Wissenschaft etabliert werden. Eine solche Konzeption unterscheidet sich von rechtssoziologischen Ansätzen zur Empirisierung rechtswissenschaftlicher Arbeit dadurch, dass hier nicht etwa das juristische Methodenarsenal durch sozialwissenschaftliche Verfahren nur erweitert wird; es geht letztlich um den weiter greifenden Versuch, Rechtswissenschaft als einheitlich fundiertes und orientiertes Netz von empirischen Theorieelementen zu konzipieren. Im Unterschied zu von verschiedenen Seiten vorgetragenen Empirisierungskonzepten liegt mit der hier vorzustellenden Version einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft – bei aller Mangelhaftigkeit ihres zunächst gegebenen Ausarbeitungsstandes – ein verändertes Paradigma insbesondere für die dogmatische Rechtswissenschaft vor, das unverzichtbare wissenschaftstheoretische Minimalanforderungen hinreichend zu erfüllen vermag. Dies soll im Folgenden näher dargelegt werden.

I. Die Interpretation von Gesetzen: Notwendigkeit einer Neuorientierung? 1. Empirisierungstendenzen versus Absolutheitsanspruch

Die Rede von der permanenten Methodenkrise der Rechtswissenschaft hatte mich 1981 veranlasst, einen Entwurf zur Lösung des Dilemmas in Gestalt eines Konzepts einer erkenntniskritisch orientierten explikativen Rechtswissenschaft5 vorzulegen. Dieser Vorschlag, der für eine stärkere Empirisierung der Rechtswissenschaft plädiert, ist theoretisch ausbaufähig und kann weiter fundiert werden: Die empirischen Gehalte der Rechtswissenschaft sollen nunmehr im Zusammenhang (auch) einer kommunikationstheoretisch informierten Perspektive etabliert werden. Gegenüber der traditionellen rechtswissenschaftlichen Sichtweise bedeutet dies vor allem einen Wechsel der Zielkriterien für die Feststellung bzw. Sicherung von rechtswissenschaftlichen Aussagen. Die dominante, hermeneutisch akzentuierte juristische Methodik, die weitgehend auch der neueren Wertungsjurisprudenz inhärent ist, impliziert beim Umgang mit dem Gesetz den Autonomieanspruch von Evidenz und Plausibilität; sie verzichtet auf eine empirische Geltungsprüfung ihrer Ergebnisse. Diese Vorgehensweise könnte ersetzt werden durch das Zielkriterium einer Nachprüfung anhand von Beobachtungsdaten. In einer solchen Konzeption sehe ich einen möglichen empirischen Ansatzpunkt einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft für den hier primär interessierenden Bereich der Dogmatik.

5 R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

Nun wäre es freilich ein Missverständnis, sollte man glauben, dass eine systematische Geltungsprüfung, wie sie von empirisch arbeitenden Wissenschaften praktiziert wird, die Funktion dogmatischer Rechtswissenschaft als einer im Wesentlichen gesetzeshermeneutisch arbeitenden Disziplin6 in jeder Hinsicht ersetzen könnte. Vielmehr setzt die postulierte Geltungsprüfung zu überprüfende Ergebnisse gesetzeshermeneutischer Arbeit voraus. Nur fasst sie diese Ergebnisse als rezeptiv gewonnene Deutungshypothesen (z. B. Normzielhypothesen) auf und führt sie einer empirischen Überprüfung zu, mit dem Ziel, das in der juristischen Methodenlehre inzwischen zunehmend verfochtene Postulat intersubjektiver Nachprüfbarkeit nunmehr anhand der Kriterien empirisch arbeitender Wissenschaften auch tatsächlich zu realisieren. Soweit dabei im Folgenden von „hermeneutisch“ orientierter Rechtswissenschaft die Rede ist, meine ich damit den „verstehenden“ Grundzug allen rechtsdogmatischen Arbeitens und nicht eine bestimmte hermeneutisch operierende Methodenrichtung in der Rechtswissenschaft. Die folgenden Ausführungen stehen demgemäß unter der generellen Annahme, dass juristische Dogmatik stets (auch) durch hermeneutisches Vorgehen beim Umgang mit dem Gesetz gekennzeichnet ist. Dies. jedenfalls scheint dem Selbstverständnis von juristischer Dogmatik zu entsprechen. Die semantische Offenheit der Gesetze bedeutet dann, dass sie hermeneutisch offen sind. Die juristische Hermeneutik hat hier nach Ota Weinberger „die Aufgabe, die hermeneutische Offenheit des Rechts gegenüber der Willkür bei der juristischen Interpretation abzugrenzen“7. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Rechtswissenschaft nicht nur – wie die herrschende Ansicht meint – die Aufgabe hat, dem Richter zu sagen, wie er zu entscheiden habe, sondern ebenso die Aufgabe, empirisch-analytisch und prognostisch zu ermitteln, wie das Gesetz tatsächlich gehandhabt wird 8. Während in der Konzeption der empiriebezogenen Wissenschaftskriterien der Entwurf einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft in fast vollständiger Opposition zur hermeneutisch orientierten Rechtswissenschaft steht, gibt es in anderer Hinsicht durchaus Überschneidungen bzw. partielle Übereinstimmungen mit bestimmten Positionen der traditionellen dogmatischen Rechtswissenschaft. Dies gilt für den Bereich des Normtextbegriffs zumindest insoweit, als die erkenntniskritische Konzeption ebenfalls von der bedeutungskonstitutiven Funktion des Lesers für den Normtext ausgeht. Allerdings zieht sie weitere Konsequenzen: Sie bindet 6 Grundlegend dazu R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, Frankfurt am Main 1981, S 48 – 69. Ganz in der hergebrachten Sichtweise etwa F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien – New York 1982, S. 69 ff. (71); teilweise kritisch hingegen H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Heidelberg – Karlsruhe 1981, Rdnr. 46 f. Vgl. auch die Untersuchung von Chr. Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik, JZ 1972, S. 609 – 614. 7 Weinberger, Logische Analyse, S. 229. 8 In diesem Sinne Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz, S. 53 f., der von „Plurifunktionalität“ der Rechtswissenschaft spricht.

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sich nicht in die hermeneutische Interpretationsmethodik ein, geht von einer – wie oben angedeutet – veränderten Gegenstandsdefinition des Normtextes aus und zieht die methodologische Konsequenz, dass die bedeutungskonstitutiven Rezeptionsprozesse (einschließlich aller weiteren Handlungen im rechtlichen Kommunikationsraum) empirisch untersucht werden müssen. Dieser an der Empirismuskonzeption von Wissenschaftlichkeit orientierte Ansatz manifestiert sich damit notwendig in einem Wechsel der Methoden. Allerdings genügt es nicht, die bisherigen Probleme mit neuen Methoden nur zu erfassen, die neue Sichtweise muss auch die Problemstellungen des herkömmlichen Paradigmas genau so gut oder besser lösen können. Die Ausarbeitung einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft kann m. E. Leistungen in vierfacher Hinsicht erbringen: (1) die Explikation und Begründung solcher Wissenschaftskriterien, aus denen (2) veränderte Methoden abzuleiten sind, die sowohl (3) eine Lösung der Problemstellungen des bisherigen hermeneutischen Paradigmas als auch (4) die Entwicklung und Lösung neuer Problemstellungen ermöglichen. Nun mag bei nach den herkömmlichen hermeneutisch inspirierten Interpretationslehren vorgehenden Rechtswissenschaftlern im Zusammenhang mit dem „Empirismuspostulat“ als erstes der Verdacht aufkommen, dass hier einem Gegenstand „sui generis“ eine gegenstandsfremde und -inadäquate Methodologie aufgezwungen werde, Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Metatheorie empirischer Wissenschaften geht heute davon aus, dass eine Interaktion von Gegenstand und Methodik zu realisieren ist. Diese Forderung wird innerhalb der Grundlegung einer erkenntniskritischen Betrachtung des Rechts durch den Rückbezug auf die Definition ihrer Gegenstände – hier zunächst: des Textbegriffs – erfüllt. Das Empiriepostulat in Interaktion mit der Gegenstandsexplikation unterstellt dabei folgende Begründungsrelation: die rechts theoretische Gegenstandsdefinition, um die es hier geht, gestattet die Einführung von metatheoretischen Zielkriterien empirischer Wissenschaft nicht nur insofern, als diese Kriterien mit dem explizierten Gegenstandsverständnis nicht in Widerspruch stehen, sondern auch und gerade deshalb, weil diese Kriterien teilweise durch dieses Gegenstandsverständnis erforderlich werden. Die Gegenstandsdefinition des Rechtstextes wird dabei ihrerseits durch die generellere Perspektive einer (auch) kommunikationswissenschaftlich9 informierten Rechtstheorie begründet, die die zentralen Merkmale festlegt, denen eine rechtswissenschaftliche Analyse anhand der Definition ihres hier betrachteten Gegenstandes gerecht zu werden hat.

2. Der Normtextbegriff: Überwindung hermeneutischer Enge

Die hermeneutisch orientierte Rechtswissenschaft definiert ihren Gegenstand essentialistisch, sie sucht nach dem Wesen des Rechts. Sie scheint dieses Wesen 9 Kommunikationstheoretische Elemente findet man bei Weinberger in zahlreichen seiner Arbeiten; vgl. dazu etwa nur die hier zitierten Arbeiten Weinbergers.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

darin zu suchen, dass das Recht eine eigene, autonome „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ schafft und in den Rechtstexten sprachlich objektiviert vorliegt, d. h. eine objektive Idealität der Bedeutung besitzt, die es in der Interpretation in rationaler Sprache abzubilden gilt („Nicht der Richter hat entschieden, sondern das Gesetz.“). Hier sucht sich ein Restbestand „juristischer Methodik“ gegenüber der Methodenkritik zu behaupten. Dabei geht man durchaus davon aus, dass wir mit einem Rechtstext nur in Gestalt einer seiner möglichen Konkretisationen verkehren können; die Konkretisation impliziert hierbei eine Unbestimmtheit der Normtexte. Recht konkretisiert sich also erst durch die Rezeption zu einem Gegenstand mit Bedeutung. Daraus müsste eigentlich, insofern der Rechtstext selbst immer schon der „erfasste Text“ ist, eine Konzentration auf eben diese Textrezeption folgen. Diese Konsequenz jedoch sucht man gerade zu vermeiden, indem gewissermaßen eine bewusstseinstranszendente „Objektivation“ postuliert wird10. Diese findet man in bestimmten idealen Konkretisationen, wenn etwa im Wege der Reduktion der Konkretisationsvielfalt auf die im Text manifeste „Intention des Gesetzgebers“ oder auf den „Willen des Gesetzes“, seinen „Zweck“ usw. abgestellt wird11. Die damit unüberspringbare Frage der Relevanz der Rezeption enthalten die Auslegungskonzepte zumindest implizit allesamt und gleichermaßen: die Textintention trifft auf das Reaktionspotential des Rezipienten, auf seine Vorstellungen über den Text. Die Bedeutung des Textes wird also im Rezeptionsakt generiert. Die damit gegebene Relevanz des Rezipienten für die Konstituierung der Textbedeutung ist mit Sicherheit ein ebenso entscheidender wie bisher vernachlässigter Punkt. Die komplementäre Notwendigkeit einer kommunikativen Aktivität von Seiten des Textbenutzers ist durch die hermeneutische „Offenheit“ der Gesetze bedingt, die in der Mehrdeutigkeit auf der semantischen Ebene liegt. Das Gesetz gilt als eine grundsätzlich mehrdeutige (polyvalente) Botschaft, als Mehrheit von Bedeutungen, die in einem einzigen Bedeutungsträger enthalten sind. Ermöglicht wird die Mehrdeutigkeit durch eine Polyfunktionalität der Textelemente. Polyfunktionale Texte sind in Bezug auf den Leser, z. B. wegen mehr oder weniger starker Situationsabstraktheit, semantischer Unschärfen usw., durch eine Reduzierung rezeptionssteuernder Komponenten gekennzeichnet. Für die Gegenstands10 Treffend in diesem Zusammenhang G. Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken, Berlin 1977, S. 136. So unverzichtbar der Grundsatz der Bindung des Richters an das Gesetz sei, so bedürfe doch diese Bindung nicht des – von H.-G. Gadamer neu belebten – Mythos, jede Entscheidung sei Gesetzesanwendung („Gesetzesapplikation“), selbst da, wo sie vom Gesetz abweiche oder es modifiziere. Der Gesetzestext könne nicht – so Haverkate weiter – im Sinne eines theologischen Fundamentalismus beanspruchen, abgeschlossene und vollständige Offenbarung zu sein, die prinzipiell aus sich selbst zu verstehen sei (scriptura sui ipsius interpres) und nur der verdeutlichenden Fruchtbarmachung für die jeweilige Situation bedürfe – was eben Applikation bedeute. 11 Zu Einzelheiten vgl. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz, S. 55, der das Schwanken zwischen diesen beiden Auslegungsarten m. E. zu Recht als Anlass für Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft ansieht.

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definition des Rechtstextes folgt daraus eine wichtige Konsequenz: Der kommunikative Aspekt und damit der Leser selbst ist konstitutiv in den Textbegriff einzuführen. Der Rezipient ist ein notwendiger „Vollender“ des Gesetzes; seine Aktivitäten erhalten auf diese Weise den Charakter einer bedeutungskonstitutiven Instanz. Damit ist eine Veränderung des herkömmlichen Begriffs des Gesetzes selbst vollzogen: zumindest die klassische hermeneutische Perspektive geht hier von einer essentialistischen bzw. ontologischen Textauffassung aus, bei der die Bedeutung der sprachlich objektivierten Manifestation selbst zugeschrieben wird. Wer demgegenüber einen funktionalen Textbegriff zugrunde legt, kann Textbedeutung als einen Relationsbegriff erfassen; es handelt sich hierbei dann um eine relationale, also zugeordnete Qualität: Bedeutung für einen Rezipienten in einer bestimmten Situation. Gesetzessprachliche Objektivationen erhalten damit als von einem individuellen Bewusstsein rezipierte eine Bedeutung. Daraus folgt in methodischer Hinsicht, dass rechtswissenschaftliche Interpretation auf die Rezeption selbst bzw. auf Rezeptionsdaten soweit wie möglich zurückgreifen sollte12. Dies in intersubjektiv überprüfbarer Weise zu tun und die erreichte Überprüfbarkeit auch in einem Prüfungsverfahren – als komplementäre Wissenschaftsaufgabe – real durchzuführen, ist ein Anliegen des Programms einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft. Der funktionale Textbegriff berücksichtigt auf diese Weise die Tatsache, dass es das Gesetz als sinnhaftes Phänomen nur in der Zustandsform des kommunizierten Textes gibt. Dem entspricht aus anderer Sicht die von Theodor Geiger eingeführte Unterscheidung von Verbalnorm (Wortgestalt der Norm, Normsatz) und subsistenter Norm (Norm im eigentlichen Sinne)13. Aber Geiger sagt nicht hinreichend, wie sich aus dieser „Subsistenz“ die Normbedeutung konstituiert. Bezeichnet man die kommunikativ-funktionale Zustandsform des Gesetzes als ein Kommunikat, wird damit ausgedrückt, dass das Gesetz als sinnhafte Einheit nur in Relation zu einem Rezipienten existiert. Dabei stellt die sprachliche Objektivation, die im gegebenen Rechtstext vorliegt, den Ermöglichungsgrund für die vom Leser rezipierten bzw. konkretisierten Textbedeutungen, d. h. die Kommunikate, dar; um diese materiale Qualität bzw. Zustandsform kodifizierter Gesetze (law in the books) von dem „Text-in-Funktion“ (law in action) zu unterscheiden, lässt sich mit Ota Weinberger14 von „gültiger Textgrundlage als Basis der hermeneutischen Analyse“ sprechen. Diese Textgrundlage bezeichnet die materiale „Kommunikatbasis“ für den kommunizierten (rezipierten, 12 Darin liegt ohne Zweifel ein empirisches Kriterium. Unrichtig daher E. Pattaro, Über Rechtswissenschaft, Transformationen und Rechtfertigung, in: Krawietz / Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, S. 117 – 144 (129): Interpretation bestehe aus „Vorschriften über Vorschriften“, sodass das Kontrollkriterium der vorgeschlagenen Interpretation nicht ein empirisches Kriterium sein könne. Pattaro vermengt die mangelnde Wahrheitsfähigkeit von Rechtsnormen mit der empirischen Prüfbarkeit von Interpretationen, die durchaus feststellenden Charakter haben können. 13 Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl. Neuwied 1970, S. 58. 14 Weinberger, Logische Analyse, S. 228.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

konkretisierten) Text. Der Begriff Textgrundlage steht damit für den materialen Ermöglichungsgrund der rezipierten Textbedeutung.

3. Zielkriterien empirischer Wissenschaft: Geltungsprüfung in der Rechtswissenschaft?

Eine erkenntniskritische Rechtswissenschaft vermag den metatheoretischen Kriterien empirischer Wissenschaften zu entsprechen, wenn sie – wie wir hier vorausgesetzt haben – kommunikationstheoretisch konzipiert würde. Das bedeutet nicht, dass die Rechtswissenschaft einem positivistischen Wissenschaftsverständnis angeglichen werden müsste. Denn die neuere Metatheorie der Sozialwissenschaften hat im Vergleich zur Wissenschaftstheorie z. B. des Wiener Neopositivismus zu eindeutig liberalisierten Explikationen dieser Kriterien geführt15. Auch das Selbstverständnis der Wissenschaftstheorie ist im Zuge dieser Entwicklung liberalisiert worden. So wurden z. B. die Anforderungen, die eine empirische Wissenschaft von der systematisch-methodischen Forschungsstruktur her erfüllen soll, anfangs als Minimalkriterien postuliert; da ihre exakte Explikation und besonders ihre methodologische Realisierung aber immer wieder auf Schwierigkeiten stießen, geht man heute eher davon aus, dass zumeist nur Approximationen dieser Kriterien erreichbar sind und sie deshalb als regulative Zielideen aufzufassen sind. Wichtigstes Zielkriterium jeder empirischen Forschung ist die intersubjektive Geltungsprüfung theoretischer Aussagen. Dieses Kriterium steht im Gegensatz zum rechtshermeneutischen „Wahrheitskriterium“, das eine Kombination von Evidenz und Nachvollziehbarkeit darstellt. Der „hermeneutische Zirkel“ impliziert bei der juristischen Auslegung für den einzelnen Interpreten ein Evidenzkriterium, das sich vor allem auf die Stimmigkeit der Sinnerfassung bezieht. Das stimmige Zueinanderpassen der Teile untereinander sowie der Teile zum Ganzen in der Interpretation führt zur „Evidenz ihrer Wahrheit“16. Soweit eine Überprüfung dieser „Evidenz“ über den intersubjektiven Konsens der Wissenschaftler geschieht, reicht dies jedoch m. E. nicht aus, und zwar in einer zweifachen Hinsicht: Einmal ist auf der Basis des Evidenzkriteriums der intersubjektive Konsens nicht im strengen Sinne als Nachprüfung der theoretischen Aussagen über den Textsinn explizierbar. Zum anderen wird der Konsens nicht als solcher zur Gültigkeit der theoretischen Aussagen ermittelt, es handelt sich um eine bloße Konsensmöglichkeit, die auf der Nachvollziehbarkeit dieser Aussagen basiert. Das Zielkriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit wird m. E. nur erreicht durch einen Rekurs auf möglichst theoriefreie Beobachtungsdaten, die für 15 Vgl. etwa W. K. Essler, Wissenschaftstheorie, Freiburg – München 1970; K. D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 1970. 16 Zu Einzelheiten vgl. etwa die kritische Darstellung von H. Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: H.-J. Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, Kronberg / Ts. 1976, S. 7 – 30 (24 ff.) m. w. N.

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die zu prüfenden theoretischen Aussagen potentielle Falsifikatoren darstellen können. Intersubjektivität der Geltungsprüfung bedeutet also, dass die systematische Beobachtung von Ereignissen bei – im Prinzip beliebig vielen – Wissenschaftlern zu annähernd gleichen Ergebnissen führt. Daraus ergeben sich zwei grundlegende theoretische Anforderungen: zum einen das Zielkriterium der Subjekt-Objekt-Trennung und zum anderen die Trennung von Theorie- und Beobachtungssprache. Die Subjekt-Objekt-Trennung mag auf den ersten Blick als einigermaßen rigoroses Postulat erscheinen; sie ist es aber zumindest dann nicht, wenn man bedenkt, dass sie nur die wissenschaftstheoretisch gebotene, maximale Unabhängigkeit der Realitätsprüfung von der Theoriebildung ermöglichen soll; denn nur dann können Beobachtungsdaten die Funktion der potentiellen „Falsifikation“ für theoretische Konstrukte, Hypothesen und Theorien möglichst vollständig erfüllen. Jedenfalls ist wissenschaftslogisch unabweisbar, dass vom Rechtswissenschaftler zu fordern ist, dass er angibt, was er als zureichende Bestätigung seiner Hypothesen oder Theorien ansehen würde17. Wenn der dogmatische Rechtswissenschaftler sowohl Forschungssubjekt als auch -objekt ist, dann ist in solcher „Personalunion“ seine Wahrnehmung bzw. Beobachtung durch sein Theoretisieren – z. B. durch seine Interpretationskonstrukte – mit Wahrscheinlichkeit Verzerrungen unterworfen, die zu einer nur scheinbaren Bestätigung der theoretischen Aussagen (und damit zu einer unzureichenden Geltungsprüfung) führen. Genau dies ist allerdings in der dogmatischen. Rechtswissenschaft der methodologische Regelfall: Der wissenschaftliche Interpret rekurriert auf die eigene Rezeption; er rezipiert u. U. schon so, wie er interpretiert. Insoweit kann man – im Unterschied zu der genannten Subjekt-Objekt-Trennung – von einer „Subjekt-Objekt-Konfundierung“ sprechen. Die Subjekt-Objekt-Trennung lässt sich – jedenfalls sehe ich keinen durchgreifenden Hinderungsgrund – durch eine forschungspraktische Trennung von Rezeption und Interpretation, von Rezipient und Interpret realisieren – sieht man von sich ergebenden technisch-organisatorischen Schwierigkeiten, die auch ich natürlich nicht verkenne, einmal ab. Nur darf man solche Schwierigkeiten nicht als Argument für die Beibehaltung der nachteiligen Subjekt-Objekt-Konfundierung ins Feld führen. Die Interpretation selbst als die theoretische Konstruktion eines Textsinns anhand von Rezeptionsdaten bleibt hiernach als Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses dem wissenschaftlichen Interpreten vorbehalten. Dagegen ist die Rezeption als der bedeutungskonstituierende Prozess der Textkonkretisation in einer 17 Einzelheiten bei R. Weimar, Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt – Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: W. Krawietz / H. Schelsky / N. Achterberg (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984, in: Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423; ders., Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Filosofía del Derecho y problemas de Filosofía Social – Memoria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofía des Derecho y Filosoffía Social (I.V. R.), Vol. IX, Mexico 1982, S. 225 – 244.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

Weise zu behandeln, dass sie der Wissenschaftler intersubjektiv-systematisch bei anderen Personen zu beobachten hätte. Nur so können Rezeptionsdaten als potentielle Falsifikatoren für die theoretische Textsinn-Konstruktion fungieren. Das Kriterium der Subjekt-Objekt-Trennung würde dann auch etwaige Abhängigkeiten zwischen Hypothesen- bzw. Theoriebildung und Realitätsprüfung verhindern. Dabei ermöglicht die Trennung von Theorie- und Beobachtungssprache den Rekurs auf möglichst theoriefreie Wahrnehmungsdaten18. Gerade vor dem Hintergrund der explizierten Merkmale von Rechtstexten wirkt sich eine Interpret-RezipientKonfundierung als gegenstandsreduktiv bzw. sogar -verfehlend aus. Denn der in Rechtstexten gegebene Spielraumfaktor mit seiner Polyvalenz führt dazu, dass für die rechtswissenschaftliche Interpretation das gesamte Rezeptionsspektrum als Untersuchungsgegenstand anzusetzen ist. Dies aber ist kaum mit der erforderlichen Sicherheit möglich, wenn der wissenschaftliche Interpret allein auf eine einzige, nämlich seine eigene Rezeption zurückgreift: Er mag als systematischer Rezipient ein relativ umfassendes Bedeutungsspektrum des jeweiligen Textes entwerfen, vermag jedoch trotz Sachkenntnis nicht sämtliche vom Text ermöglichte Leseweisen vorauszusehen. Hier können systematische Beobachtungsprozeduren nicht nur zweckmäßig, sondern – will man strengeren empirischen Kriterien genügen – auch erforderlich sein. Um mit Beobachtungsverfahren das Ziel der intersubjektiven Geltungsprüfung theoretischer Aussagen erreichen zu können, muss das Beobachtungsinstrument unabhängig vom Beobachter (also auch bei verschiedenen Beobachtern) zu annähernd gleichen Ergebnissen führen, wenn der gleiche Beobachtungsgegenstand vorliegt19. Die intersubjektive Geltungsprüfung wird hiernach durch 18 Begriffe auf der Ebene der Beobachtungssprache sind solche, die sich auf unmittelbar Wahrnehmbares beziehen. Dagegen haben theoretische Begriffe keinen unmittelbaren Bezug zur Realität bzw. zu deren Wahrnehmung oder Beobachtung, sondern nur einen mittelbaren Bezug über die entsprechenden Beobachtungsbegriffe. Theoretische Begriffe werden daher durch beobachtungssprachliche Begriffe definiert und erhalten über diese Definitionen ihren Realitätsbezug. Da Beobachtungsbegriffe in der Rechtswissenschaft wie in den anderen Sozialwissenschaften explizieren können, welche konkreten und systematischen BeobachtungsOperationen durchzuführen sind, lässt sich von operationalen Definitionen oder Operationalisierungen der theoretischen Begriffe sprechen. Entsprechend dem nur mittelbaren Realitätsbezug der theoretischen Begriffe deckt eine Operationalisierung (Extension des Begriffs) in der Regel nicht den gesamten theoretischen Bedeutungsraum (Intension des Begriffs) ab; es bleibt ein theoretischer Bedeutungsüberschuss im Vergleich zur Operationalisierung bestehen. Darin manifestiert sich die Tatsache, dass theoretische Begriffe nichts in der Realität wirklich Vorkommendes bezeichnen; sie sind Konstrukte, die über bestimmte Operationalisierungen / Indikatoren mit der Realität in Verbindung gebracht werden. 19 Diese Objektivität ist Voraussetzung für die Reliabilität (Zuverlässigkeit) des Beobachtungsinstruments; reliabel ist das Verfahren dann, wenn es immer das Gleiche feststellt, unabhängig davon, was dieses ist. Die Reliabilität ihrerseits wird als Voraussetzung für die Validität angesehen. Valide ist ein Verfahren dann, wenn es das feststellt, was es feststellen soll (z. B. ist der Wille des Gesetzes kein valider Indikator für die potenzielle Multivalenz einer Textstelle, d. h. für die semantisch im Gesetzestext angelegte Vielfalt von Bedeutungsräumen).

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theoriegeleitete, in der Durchführung selbst aber möglichst theoriefreie Beobachtung mit Hilfe objektiver, reliabler und valider Verfahren realisiert20. Verbindet man die Interpretation von Rechtstexten mit diesen Zielkriterien, so gelangt man insoweit zu einer empirisch fundierten Grundstruktur erkenntniskritischer Rechtswissenschaft, die vor allem der mit der Auslegung von Rechtstexten befassten Dogmatik, soll sie den Anforderungen der erörterten Kriterien für eine objektive Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse und Durchführung der Überprüfung im Sinne empirischer Wissenschaftlichkeit genügen, eine teilweise veränderte Funktion zuweist. 4. Konsequenzen

Was bedeutet dies nun für die bislang hermeneutisch-dogmatisch angeleiteten Gesetzesinterpretationen? Sind sie beiseite zu lassen, gegenstandslos und künftig überflüssig? Keineswegs. Sie gelten für eine empirisch fundierte Konstruktion des Textsinns des Gesetzes nurmehr als Heuristik21; die Funktionszuschreibung ist zu sehen vor dem Hintergrund der hermeneutisch induzierten Subjekt-Objekt-Konfundierung, die als Folge der Verschmelzung von Rezeption und Interpretation, Leser und Forscher, nun eine erkenntniskritisch angemessene Rezeptions-Interpretations-Trennung auf der Grundlage einer Leser-Forscher-Trennung angezeigt erscheinen lässt. Interpretation als Konstruktion eines Textsinns stellt singuläre Deutungshypothesen auf, die wie deskriptive Konstrukte anhand von Rezeptionsdaten empirisch zu validieren sind. Die theoretische Interpretationszuständigkeit verbleibt damit beim dogmatischen Rechtswissenschaftler, der allerdings seine Datenbasis durch intersubjektive Feststellung der individuellen Konkretisation des jeweiligen Textes beim Rezipienten22 erstellen muss, anderenfalls nicht von der Gültigkeit seiner Deutungshypothese ausgegangen werden kann. Das Subjekt (Rezipient) fungiert dabei nicht als Gegenstand, sondern lediglich als Medium, über dessen Konkretisation sinnhafte Beobachtungsdaten als Grundlage von Hypothesen- bzw. Theoriebildung fassbar sind. Die Objektivität des Vorgehens liegt in der systematischen intersubjektiven Beobachtung der kommunizierten (rezipierten, konkretisierten) Bedeutungen kodifizierter Rechtstexte; damit ist 20 Zur Erfüllung der hier explizierten Wissenschaftskriterien ist eine differenzierte und umfassende (allgemeine) Methodologie der Beobachtung entwickelt worden; zu einführenden Darstellungen vgl. nur etwa J. Friedrichs, Methoden der empirischen Sozialforschung, Reinbek bei Hamburg 1973; C. Selltitz (u. a.), Untersuchungsmethoden der Sozialforschung, Neuwied 1972. 21 Vgl. H.-J. Koch / H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 13: „Die rechtswissenschaftliche Dogmatik hat u. a. die Aufgabe, die für eine Normbegründung . . . erforderlichen (auch empirischen) Vorarbeiten zu leisten. Eine über die Heuristik hinausgehende Funktion kommt ihr allerdings nicht zu.“ 22 Wie der Kreis der Rezipienten nach Zahl und Qualifikation zu bestimmen ist, lasse ich hier offen. Die Frage bedarf einer gesonderten Untersuchung.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

eine Klasse potentieller Falsifikatoren der singulären Deutungshypothesen (qua theoretische Textinterpretation) erreicht. Es wird mithin nicht mehr verkürzt gefragt, welches (individuelle) Textverständnis der ideal-objektiven Struktur einer gesetzlichen Vorschrift entspricht, sondern welche theoretische Konstruktion des Textsinns (Interpretation) den intersubjektiv erhobenen Textbedeutungen (Rezeptionsdaten) adäquat ist. Auf dieser Grundlage sind im Prinzip alle bisher hermeneutisch angegangenen Interpretationsprobleme von einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft lösbar, m. E. sogar expliziter und präziser. Dabei dürfte die Interpretation der jeweiligen Rechtstexte zugleich als fundierender Ausgangspunkt für weitergehende, umfassendere Erklärungsfragen anzusehen sein. Es handelt sich um explikative Konstrukte qua erklärende Hypothesen in Bezug auf Zusammenhänge der Produktion, Vermittlung, Rezeption, Verarbeitung und Wirkung der verschiedenen Klassen von Rechtstexten. Die hiermit angedeuteten Probleme können in der weiteren Ausgestaltung des Forschungsprogramms explizit formuliert und überprüft werden; sie dürften einen weiteren Akzent einer – insoweit kommunikationstheoretisch informierten – erkenntniskritischen Rechtswissenschaft darstellen. Einer der hier liegenden Schwerpunkte, der häufig der Interpretationsproblematik zugerechnet wird, der aber eine durchaus selbständige Rolle im Umgang mit dem Gesetz spielt, sei auf der Grundlage erkenntniskritischer Rechtswissenschaft im Folgenden behandelt: Gemeint sind die wertenden Stellungnahmen23 des Juristen, die die Aufmerksamkeit auch auf die über die „feststellenden“ Interpretationen hinausgehenden materialen Argumentationsprobleme24 lenkt. Man betritt hier den Bereich der „schöpferischen“ Interpretation (die von der „feststellenden“ Interpretation möglichst klar getrennt werden sollte)25, gelangt aber auch in den Bereich der rechtswissenschaftlichen Entscheidungsberatung sowie in den der Gesetzgebung.

23 Dazu näher R. Weimar, Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: E. Mock / R. Jakob (Hrsg.), Auslegung, Einsicht und Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 81 – 103; ders., Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969, insbes. S. 84 ff., 141 ff.; ders., Von der Gesetzesauslegung zur Rechtsfortschreibung, in: M. W. Fischer / E. Mock / H. Schreiner, Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, ARSP Beiheft 20 (1984), S. 155 – 167. 24 Zutreffend hebt O. Weinberger, Begründung oder Illusion – Erkenntniskritische Gedanken zu John Rawels’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Zeitschr. f. Phil. Forschung, 31 (1977), S. 234 – 251 (236) hervor, dass die Struktur der materialen Argumentationsprobleme den Delege-ferenda-Überlegungen analog sei. 25 Für diese Trennung plädiert mit Grund Weinberger, Die logischen Grundlagen, S. 136 f.

Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft

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II. Kritische Überprüfung von praktischen Sätzen Die Frage nach der Möglichkeit rationaler Kritik an praktischen Sätzen26 trifft häufig auf die Meinung, in der Rechtswissenschaft spiele die Beschaffenheit ihres Erkenntnisobjekts (Normen und Wertungen) im Unterschied zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine bestimmte Rolle und begründe für die Rechtswissenschaft eine eigenständige Problematik27. Damit verbindet sich die Vorstellung, die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Überprüfung von praktischen Sätzen impliziere die Notwendigkeit normativer – im Gegensatz zu erkenntniskritischer – Rechtswissenschaft. Dies halte ich für unzutreffend28. Die Normativität des Rechts begründet nicht einen normativen Charakter der die Rechtsnormen behandelnden Wissenschaft selbst. In dieser wird über Aussagen gesprochen, die normativ sind, und über dem in ihnen ausgedrückten Sinn. Daher ist es nicht richtig, wenn man annimmt, die dogmatische Rechtswissenschaft stelle sich in normativen Aussagen dar, wenn sie Normen erfasse. Es wird übersehen, dass sich die rechtswissenschaftlichen Aussagen auf normative Aussagen und die in ihnen formulierten Normierungen lediglich beziehen und dass die rechtstheoretischen Aussagen deshalb nicht selbst normativ zu sein brauchen.

1. Erkenntniskritik im Bereich der Normen?

Die Funktion einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft wird bei der Anwendung ihres theoretischen Wissens vor allem im Zusammenhang mit der Arbeit der Juristen an praktisch-normativen Aufgabenstellungen29 aktuell. Einen Einstieg 26 Zu dieser Problematik vgl. orientierend etwa U. Beck, Objektivität und Normativität. Die Theorie-Praxis-Debatte in der modernen deutschen und amerikanischen Soziologie, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 161 f. 27 Vgl. zum Folgenden Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 196 ff. Zur Frage rationaler Kritik im Rahmen einer Diskussion normativer Sätze als neue Methode der Jurisprudenz vgl. Ch. Schefold, Normative Falsifikation als neue, „naturrechtliche“ Methode der Jurisprudenz, in: P. Trappe (Hrsg.), Zeitgenössische Rechtskonzeptionen, Verhandlungen des 9. Weltkongresses IVR (Basel 1979), ARSP, Supplementa, Bd. I, Teil 4, Wiesbaden 1983. Vgl. auch R. Weimar, Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus, in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, Berlin 1983, S. 473 – 497, insbes. S. 475 ff. zu ontologischen und erkenntnistheoretischen Aspekten der Normativität des Rechts. 28 Dazu näher R. Weimar, Diskussionsbemerkung zu Klaus Adomeit (Der Begriff der Rechtsnorm), in: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Bd. 7), Wien 1982, S. 179. 29 Vor allem ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Bereich juristischer Argumentation geprägt wird durch die spezifischen Anforderungen, welche in jedem staatlich organisierten Rechtssystem vom Standpunkt seiner jeweiligen rechtlichen Sinn- und Systemrationalität an die Rechtfertigung aller juristischen Aufgabenerfüllung gestellt werden müssen. Vgl. dazu W. Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 299 – 335 (310 f.).

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

in die Klärung der damit angesprochenen Werturteilsproblematik und Werturteilskritik ermöglicht zunächst die sprachanalytische Betrachtung der Werturteile, die Unterschiede zwischen den sprachlichen Verwendungsregeln der Wertausdrücke und denen der deskriptiven Aussagen verdeutlicht. Wesentliches Merkmal der Werturteile scheint ihr Bezug auf Sollensprinzipien zu sein. Ihr vorschreibender Charakter, der durch Stellungnahme oder Anweisung im Hinblick auf ein bestimmtes Sollen zum Ausdruck kommt, gestattet es nicht, auf normative Aussagen das Deutungsmuster deskriptiver Sätze anzuwenden30, mit denen Tatsachen beschrieben und erklärt sowie künftige Situationen prognostiziert werden können. Grundsätzlich lassen sich die in normativen Aussagen auftretenden Wertausdrücke in eine empirisch-deskriptive und eine normative Sinnkomponente gliedern. Während dabei die empirisch-deskriptive Komponente einen bestimmten Sachverhalt beschreibt und damit den kognitiv-informativen Gehalt der Werturteile repräsentiert, konstituiert die normative Komponente den eigentlichen Wertcharakter normativer Aussagen. Durch positive oder negative Wertausdrücke („gut“, „gerechtfertigt“, „angemessen“, „schlecht“ usw.) wird ein Sachverhalt im Hinblick auf mehr oder weniger bestimmte, als allgemeinverbindlich postulierte Sollensprinzipien ausgezeichnet, aus denen sich der jeweilige Verbindlichkeitsanspruch der in den Werturteilen enthaltenen Anweisungen bzw. Stellungnahmen hergeleitet. Rechtliche Normen enthalten die Beschreibung von juristisch relevanten Fakten (deskriptive Sinnkomponente) und der sich hieraus ergebenden Konsequenzen sowie ferner ein bestimmtes wertendes Element, die normative Sinnkomponente. Rechtliche Regeln haben hiernach die Struktur31 N : F ! O…G† ;

wobei N die jeweils untersuchte Norm, F die Beschreibung der Fakten, G die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen und O (ought) das wertende Element der Norm darstellen. Bei der Unterscheidung dieser Komponenten wird die Werturteilsproblematik in vollem. Umfang deutlich. So muss insbesondere der logische Charakter der Wertprämissen normativer Systeme festgestellt werden, da nur auf diesem Wege eine Antwort auf die nach wie vor kontroverse Frage gegeben werden kann, ob sich Werturteile als „Erkenntnisse über Werte“ (im Sinne von Grundnormen) mit wissenschaftlichen Methoden als „wahr“32 oder „falsch“ präsentieren lassen. Es ist 30 Zur sprachlichen Struktur normativer Aussagen und zu den damit zusammenhängenden Implikationen vgl. W. Kuhlmann, Zur logischen Struktur transzendentalpragmatischer Normenbegründung, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründungen (Materialien zur Normendiskussion Bd. 1), Paderborn 1978, S. 15 – 26 (16). 31 Vgl. A. Aarnio / R. Alexy / A. Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, in: Rechtstheorie 12 (1981), S. 423 – 448 (424). 32 Zur Problematik des Wahrheitsbegriffs vgl. die zusammenfassende Darstellung bei A. Diemer / J. Frenzel (Hrsg.), Philosophie, Frankfurt am Main 1967, S. 327 – 334; ferner K. Kan-

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dementsprechend zu prüfen, ob normative Urteile analog empirischkognitiven zu behandeln sind, indem man sie dem gleichen Wahrheitsentscheid unterwirft. Ihrer logischen Grammatik nach gehören Werturteile zur präskriptiven Sprache. Mit Hilfe ihrer nicht-deskriptiven Bedeutsamkeitskomponente bringen sie dem zu beurteilenden Sachgegenstand gegenüber eine bestimmte Einstellung des wertenden Subjekts zum Ausdruck, die für andere als allgemeinverpflichtend angesehen wird. Die Axiome der Ethik, auf die normative Aussagen Bezug nehmen, sind als letzte Sollensprinzipien menschliche Festsetzungen und daher nicht mehr weiter ableitbar oder beweisbar33. Sie stellen subjektive oder überindividuelle Grundentscheidungen34 dar, die sich einer erkenntnismäßigen, wahrheitsdefiniten Sicherung entziehen. Das heißt allerdings nicht, dass Werturteile, auch wenn sie den Charakter letzter Voraussetzungen annehmen, einer rationalen Kritik hinsichtlich ihrer normativen Konzeption und Wertmaßstäbe nicht zugänglich sind. Da Wertungen nicht im leeren, von der empirischen Erkenntnis unabhängigen Raum stehen, kann eine Kritik an die empirische Sinnkomponente der Werturteile anknüpfen. Auch besteht die Möglichkeit, über Wertungen und Werturteile als empirische Erscheinungen und über ihren Einfluss etwa auf den juristischen Entscheidungsprozess deskriptive Aussagen zu machen; diese Phänomene lassen sich ohne persönliche Stellungnahme und individuelle Attitüden beschreiben, erklären und prognostizieren. Dass Wertungen als sprachliche Äußerungen Werturteile und somit präskriptive Sätze sind, zwingt nicht dazu, objektsprachliche Aussagen durch die Einführung von Wertprämissen in ein System von präskriptiven Sätzen zu transformieren. Zwischen der Ebene der Gegenstände und der Objektsprache besteht kein logischer Zusammenhang. Im Rahmen dieser Vorgehensweise werden beide Sprachstufen auseinander gehalten. Die Ebene der normativen Systeme als empirische Phänomene, wie beispielsweise die Wertsysteme von Richtern, Verwaltungsbeamten und Parlamentsmitgliedern oder die Rechtssätze einer Verfassung, eines Gesetzes usw., und die Ebene der Theorien über diese Systeme sind qua Sprachstufen trennbar. Damit wird ersichtlich, dass die Beschaffenheit des Forschungsobjekts (z. B. Werturteile, Normziele) die sprachliche Gestalt des objektsprachlichen Aussagensystems nicht determinieren kann. Die Entscheidung zwischen erkenntniskritischer und normativer Zielsetzung ist logisch unabhängig von der Beschaffenheit des Forschungsobjekts. negießer / R. Rochhausen / A. Thom, Entwicklungsprobleme einer marxistisch-leninistischen philosophischen Wissenschaftstheorie, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Marxistische Wissenschaftstheorie, Studien zur Einführung in ihren Forschungsbereich, Frankfurt am Main 1975, S. 19 – 45 (34 ff.). 33 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl. Tübingen 1975, S. 43. 34 Vgl. zum Problem rational nicht begründbarer Wertentscheidungen A. Wellmer, Praktische Philosophie und Theorie der Gesellschaft. Zum Problem der normativen Grundlagen einer kritischen Sozialwissenschaft, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte (Materialien zur Normendiskussion Bd. 3), Paderborn – München – Wien – Zürich 1979, S. 140 – 174 (146).

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Will die Rechtstheorie das Verhalten etwa der Mitglieder der Rechtsstäbe beschreiben und erklären, so kann sie zwar nicht auf die Berücksichtigung von Wertungen als Grundlage des Entscheidungsverhaltens des Rechtspersonals und seiner Werturteile verzichten; sie braucht aber – wie jede andere sozialwissenschaftliche Disziplin, die Wertungen in ihrem Bezugsbereich aufweist – aus diesem Grunde Wertneutralität nicht aufzugeben. Wenn sich Rechtswissenschaftler bei ihren Forschungsarbeiten an ihren Interessen, Vorlieben und Prinzipien orientieren, weil sie eine bestimmte Vorstellung von dem besitzen, was sie tun wollen, und dabei berücksichtigen, was sein sollte und was sie vertreten können, handelt es sich insoweit zwar um eine moralische Grundlage, von der sie ausgehen und die sie innerhalb ihrer objektsprachlichen Aussagen zum Ausdruck bringen können; dagegen gibt es auch solche Wissenschaftler, die bei den Problembehandlungen ihre objektsprachlichen Aussagen subjektiv-wertfrei gestalten. Dies bedeutet, dass der Wissenschaftler, der aufgrund seiner jeweiligen Grundhaltung Stellung zu bestimmten Aufgaben bezieht, nicht bereits deswegen Werturteile gerade in sein Aussagensystem übernehmen müsste35. Die Frage der Möglichkeit wertneutraler rechtswissenschaftlicher Problembehandlung hängt damit ab von der Entscheidung für eine deskriptive oder normative Ausgestaltung der Objektsprache; diese Entscheidung kann nur auf metasprachlicher Ebene getroffen werden. In diesem Sinne erfordert Wertneutralität vor allem die Bestimmung eines methodischen Prinzips, die Festlegung der Gebrauchsregeln der Fachsprache36 und der linguistischen Bedingungen für theoretische Aussagen über die zu untersuchenden Gegenstände. Von daher wird es – wie ich zu zeigen versuche – erst möglich, Wertkritik durch empirisch-kritische Überprüfung von Wertungen bzw. Werturteilen (und nicht durch argumentative Verwendung von Wertungen selbst) in bestimmten Grenzen wissenschaftlich durchzuführen. 2. Die Methode der kritischen Prüfung im Bereich rechtlicher Normen

Die Methode der kritischen Prüfung ist an keine bestimmten natürlichen oder sozialen Bereiche gebunden37. Es kann keine sinnvolle Beschränkung ihrer Anwendung im Interesse der Erkenntnis geben, weil eine a priori feststehende Tren35 Vgl. R. Weimar, Diskussionsbemerkung zu Mario G. Losano (Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit in der Reinen Rechtslehre), in: Die Reine Rechtslehre, S. 105: Auch Kelsen habe die Antwort nach dem richtigen sollen nicht zur Aufgabe der Rechtstheorie gerechnet, ohne dass er deshalb als wertblind bezeichnet werden könne. 36 Die Bedeutsamkeit der Bestimmung fachsprachlicher Regelungen wird deutlich, wenn Normen betrachtet werden als „the content of an idea, expressed in certain linguistic symbols“. Vgl. Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 425. 37 Vgl. H. Albert, Die Idee der kritischen Vernunft. Zur Problematik der rationalen Begründung und des Dogmatismus, in: Club Voltaire, Jahrbuch für kritische Aufklärung 1 (1964), S. 17 – 30 (28).

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nung der Bereiche ebenso wenig existiert wie sich etwa deren Isolierung strikt durchhalten ließe38. Nach meiner Ansicht kann das erkenntniskritische Prinzip in der Rechtswissenschaft daher nicht bedeuten, dass der Bereich des Moralischen, der Werte und der Normen grundsätzlich von einer kritisch-rationalen Analyse abzukoppeln ist. Ich gehe vielmehr davon aus, dass die Methodologie der rationalen Diskussion und der kritischen Prüfung als allgemeine Alternative zur klassischen (Letzt-)Begründungsmethodologie anzusehen ist, also auch auf Wertmaßstäbe und Stellungnahmen anwendbar ist39. Dabei ist jedoch an der Grundlinie einer Methode der rationalen Kritik40, die die in normativen Sätzen enthaltenen Werte identifiziert, ausarbeitet, analysiert und klärt, sie nicht als „wahr“ erkennen, wohl aber verwerfen kann, wenn in dem Gesamtkomplex letzter Wertungen ein logischer Widerspruch entdeckt wird, nicht stehen zu bleiben. Vielmehr sind weitergehende Prinzipien rationaler Diskussion zu entwickeln41, die eine kognitive Kritik an Wertungen und Normen ermöglichen. Dies bedeutet die Herstellung bestimmter Beziehungen zur Überbrückung der Distanz zwischen Soll-Sätzen und Sachaussagen. Dazu dienen so genannte Brückenprinzipien, insbesondere das Prinzip „Sollen impliziert Können“42, das als allgemeines Realisierbarkeitspostulat fungiert. Daneben sei hier etwa das „Kongruenzpostulat“43 genannt, wonach Normen, die die Geltung eines nicht selbst wiederum kritisch überprüfbaren Satzes beinhalten, als rational nicht begründbar abzulehnen sind44. Instanzen, die für die kritische Überprüfung informativer und normativer Sätze zugelassen werden, dürfen nicht wiederum einen bestimmten Erfahrungsbereich unkritisch übernehmen; sie müssen im Rahmen rationaler Diskussion für eine kri38 Zu den Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Prozessen und wissenschaftlicher Tätigkeit vgl. G. Kröber, Wissenschaft, Gesellschaft und wissenschaftlich-technischen Revolution, in: Sandkühler (Hrsg.), Marxistische Wissenschaftstheorie, S. 149 – 173 (169 f.). 39 Vgl. H. Albert, Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität, in: E. Oldemeyer (Hrsg.), Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag, Meisenheim am Glan 1967, S. 246 – 272 (271). Kennzeichnend für diesen Weg könnte die von Popper unter dem Aspekt der „Wahrheitsnähe“ bzw. „Wahrheitsähnlichkeit“ konzipierte positive Lösung der Bewährung und Bevorzugung einer Theorie im Felde ihrer Mitkonkurrenten sein. Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung, 4. Aufl. Tübingen 1971, S. 226 und ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, 2. Aufl. Hamburg 1974, S. 57 ff. 40 Siehe dazu H. Albert, Social Science and Moral Philosophie: A Critical Approach to the Value Problem in the Social Sciences, in: M. Bunge (Hrsg.), The Critical Approach to Science and Philosophy. In Honour of Karl R. Popper, London 1964, S. 385 – 409 (398). 41 Vgl. hierzu Albert, Traktat über kritische Vernunft. Kritisch zu diesem Konzept äußert sich Schefold, Normative Falsifikation. 42 Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 76. 43 Ebd., S. 77. 44 Zu weiteren Brückenprinzipien vgl. R. Weimar, Wertfreiheit der Rechtstheorie als methodisches Prinzip?, in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1981 / 82, S. 227.

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tische Überprüfung und begründete Erweiterungen offen sein45. So lassen sich insbesondere die sachlichen Konsequenzen verschiedener Rechtssetzungen intersubjektiv kritisieren. Voraussetzung hierfür ist, dass absolute Wertmaßstäbe im Hinblick auf eine derartige Kritik nicht existieren, Wertfestsetzungen also nur mit Hilfe einer Möglichkeitsanalyse wertneutral und kritisch zu diskutieren sind. Die Grenze der Wertneutralität ist damit identisch mit den Grenzen einer kritischen Diskussion. Besteht über die moralische Basis eines Problems keine Übereinstimmung und lässt sie sich auch durch rationale Argumentation nicht herbeiführen, so beinhaltet der entsprechende Konflikt eine mit kognitiven Mitteln nicht mehr weiter reduzierbare Dimension46. Eine rationale Beratung und Entscheidung hinsichtlich vorgeschlagener Normen, Handlungsorientierungen usw. kann durch kritische Argumentation erfolgen. Die „Vernünftigkeit“ der Gründe kann dabei mit Hilfe von bestimmten Regeln erörtert werden. Dementsprechend sollen normative Konzepte nicht Ausdruck subjektiver Wünsche sein, sondern dem Prinzip der Transsubjektivität47 genügen. Es wird also mehr verlangt als nur die einsame Entscheidung48 darüber, ob wir 45 Vgl. Ch. Thiel, Rationales Argumentieren, in: J. Mittelstraß (Hrsg.), Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1975, S. 88 – 106 (92); H. Moser, Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975, S. 105 f. Zur Bedeutsamkeit dieser Offenheit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Analyse aller denkbaren Alternativen vgl. N. Rescher, The Coherence Theory of Truth, Oxford 1973, S. 72 f. 46 Vgl. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 206 f. sowie C. F. Gethmann, Rechtfertigung und Inkraftsetzung von Normen, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung (Materialien zur Normendiskussion Bd. 2), Paderborn 1978, S. 140 – 153 (153). Allerdings sollte in diesem Zusammenhang auch die Bedeutsamkeit fehlender Übereinstimmung erwähnt werden. In einer freiheitlichen Demokratie stellen der auf der Basis des Diskursprinzips (als Prinzip demokratischer Legitimität, so Wellmer, Praktische Philosophie, S. 150) erreichte Konsens ebenso wie der Dissens unverzichtbare Strukturelemente politischer Autonomie dar, wobei der Dissens seine Konkretisierung in der politischen Opposition und seine Institutionalisierung in der parlamentarischen Opposition findet. Während die Opposition zur politischen Meinungsbildung über politische Ziele und Normen im demokratischen Staat beitragen kann, lässt sich die Einstimmigkeit des EinParteien-Staates als sicheres Indiz für einen Mangel an Rationalität und Legitimität interpretieren. Zumindest ist insoweit ein Hinweis auf die unzureichende Begründung der politischen Normen gegeben. Vgl. H. Krings, Der Grundsatz und die Maßnahme, Anmerkungen zu einer Logik der Normenbegründung, in: Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 40 – 53 (44). 47 Vgl. Albert, Theorie und Praxis, S. 272; P. Lorenzen, Normative Logic and Ehtics, Mannheim 1969, S. 82 und ders., Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1974, S. 35 f. Kritisch E. König, Normenbegründungsverfahren und ihre Anwendbarkeit, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, S. 154 – 158 (155) sowie Ch. Westermann, Argumentationen und Begründungen in der Ethik und Rechtslehre, Berlin 1977, S. 167 f. 48 Zur Überwindung subjektiver Vorstellungen durch einen diskursiv herbeigeführten Konsens vgl. Wellmer, Praktische Philosophie, S. 158.

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bereit wären, eine Maxime unseres Willens zum Prinzip einer Entscheidung zu machen. Vielmehr ist hiermit ein Hinweis auf die Praxis des Dialogs als mögliches Verfahren gegeben, durch, dessen Einsatz eine Klärung über die Akzeptierbarkeit einer Norm und die damit gegebene Interpretation bestimmter Bedürfnisse erreicht werden kann. Gewisse Parallelen zu den Vertragskonstruktionen des Naturrechts lassen sich, sofern man diese nicht im Sinne eines Ursprungsmythos, sondern als Legitimitätsstandard der Gesellschaft versteht, vor allem deswegen nicht von der Hand weisen, weil sich ein diskursiv herbeigeführter Konsens49 mit einer Übereinkunft freier und gleichgestellter Mitglieder einer Gemeinschaft vergleichen lässt. Das Diskursprinzip unterscheidet sich von diesen Vertragskonstruktionen jedoch dadurch, dass es nicht von vornherein Inhalte eines möglichen vernünftigen Konsenses, also auch inhaltliche Kriterien dessen, was al; vernünftig oder unvernünftig gelten soll, festlegt, vielmehr als Vernunftkriterium möglicher Konsense das kritisch-diskursive Verfahren selbst anbietet50. Erst im Rahmen dieses Verfahrens kann dann – aufgrund der bestehenden Lebensverhältnisse – eine inhaltliche Konkretisierung dessen erfolgen, was als rational angesehen werden kann. Ein über eigene Interessen hinausgehendes diskursives Verfahren, in dem jeder Diskussionspartner seine Aussagen von seinen Erkenntnisinteressen her erläutert und die zugrunde liegenden Paradigmen transparent macht51, beinhaltet normative Elemente nur hinsichtlich der formalen Struktur dialogischer Beziehungen zwischen den Individuen, gibt damit also einer formalen Bestimmung die Bedeutung des einzig a priori einsehbaren Inhalts moralischen Bewusstseins52. Dabei kann es nun nicht mehr um die Form einer Beziehung des handelnden Subjekts zu sich selbst gehen, im Mittelpunkt der Betrachtungen steht vielmehr die Form einer intersubjektiven Beziehung, die zugleich eine Praxis des kritischen Dialogs ist. Ob nun ein konkreter Vorschlag hinreichend die Grenzen unseres Wissens und Verstehens berücksichtigt, kann mit Hilfe von weiteren Prinzipien festgestellt werden. So sollen Argumente, die sich auf die Änderung einer bestehenden Situation beziehen, nicht von vornherein ausgeschlossen werden (Regel des offenen Zusammenhangs)53 Zusätzlich soll das Prinzip der normativen Genese54 die Dis49 Dazu ausführlich O. Weinberger, Der Begriff und die Rolle des Konsenses, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 147 – 165 (153 ff.). 50 Zu einer prozeduralen Theorie des rationalen Diskurses vgl. etwa R. Alexy, Die Idee einer prozeduralen Argumentation, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 177 – 188 (178 f.). 51 So Wellmer, Praktische Philosophie, S. 158. 52 Moser formuliert dies als Leitprinzip des Diskurses. Vgl. Moser, Aktionsforschung, S. 105 f. Seiner Ansicht nach sind auch empirische Daten erst im Rahmen des Diskurses hinsichtlich ihrer Qualität und Güte zu beurteilen. Als Gütekriterien zur Steuerung von Datensammlungen nennt Moser Kriterien, die die Transparenz der Forschungsarbeit, ihre Stimmigkeit und den möglichen Einfluss des Forschers betreffen (S. 123 f.). 53 Vgl. Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, S. 38 ff. 54 Vgl. ebd., S. 41 ff. Neben den genannten Prinzipien (Prinzip der Transsubjektivität, Regel des offenen Zusammenhangs, Prinzip der normativen Genese) ist die strikte Vermeidung

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kussion einzelner Argumente trotz ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtzusammenhang ermöglichen. Dies kann vor allem deshalb problematisch sein, weil die Hinzufügung eines neuen Arguments nicht nur den Stellenwert aller übrigen und bereits akzeptierten berührt, sondern auch den Geltungswert des neuen Arguments mitbestimmt. Durch die damit notwendig werdende erneute kritische Prüfung normativer Aussagen kann der Komplexität normativer Aussagensysteme aber Rechnung getragen und eine Dogmatisierung der Diskussionsergebnisse jedenfalls verhindert werden55. Um kritisch-rationales Handeln zu ermöglichen, wird über die Beschreibung der konkreten Situation hinaus theoretisches Wissen darüber notwendig, welche Folgen die vorgeschlagenen Handlungsalternativen haben56. Insoweit können mögliche Arten institutioneller Vorkehrungen und die Weise ihres Funktionierens charakterisiert und dabei die Wirkungen dieser Systeme im Hinblick auf diejenigen Leistungsmerkmale analysiert werden, die durch die vorausgesetzten Wertgesichtspunkte gegeben sind. Bei einer derartigen Analyse dürfte es wegen des Interaktionszusammenhangs gesellschaftlicher Aktivität von Vorteil sein, die Meinungen und Vorstellungen der Betroffenen anzuhören und auch diejenigen Folgen im Rahmen der kritisch-rationalen Diskussion und Planung zu antizipieren, die gegenwärtig noch keine Bedeutung haben. Damit kann eine vergleichende Bewertung alternativer Problemlösungen erfolgen, sobald die dazu notwendigen Wertgesichtspunkte eine entsprechende Klärung gefunden haben. Damit wird eine Diskussion möglich, die die Resultate wissenschaftlicher Erkenntnis verwendet und außerdem den Ansprüchen kritisch-rationaler Praxis entspricht, indem über eine Analyse und Bewertung der Vorzüge und Schwächen alternativer Problemlösungen eine Entscheidung vorbereitet wird. von Argumentationsmängeln unerlässlich. Vgl. N. Achterberg, Argumentationsmängel als Fehlerquellen bei der Rechtsfindung, in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 43 – 57 (45 ff.). 55 Um sich gegen dogmatische Verfestigungen abzusichern, soll bewusst darauf verzichtet werden, erkenntnistheoretische Gewissheit und Sicherheit anzustreben. Ergebnisse können hier also nicht von einer einsamen, radikalen Erkennerposition erwartet werden, sondern bedürfen einer Verständigung der Beteiligten. 56 Vgl. Thiel, Rationales Argumentieren, S. 97; H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S. 84; W. Oelmüller, Versuch einer Orientierungshilfe für sittliche Lebensformen, in: ders. (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 60 – 89 (82). Oelmüller unterscheidet hier zwischen einer Gesinnungsethik, die nur auf die letzten Handlungsmotive und nicht auf die Folgen der Handlungen achtet, und einer Verantwortungsethik, die beides mitreflektiert und berücksichtigt. Vgl. hierzu ferner W. Ch. Zimmerli, Normativität des Gewesenen im Wandel der Wertbeziehungen. Zum Zusammenhang von Genese und Geltung in der Normenlegitimation, in: ebd., S. 202 – 219 (217 f.) sowie die Analyse von E. König, Theorie der Erziehungswissenschaft, Bd. 1 (Wissenschaftstheoretische Richtungen der Pädagogik), München 1975, S. 107. Geht man von einer Denkweise aus, die die gesellschaftliche Rolle von Rechtsbestimmungen und Institutionen betont, und berücksichtigt man außerdem, dass jede rechtliche Regelung in der Gesellschaft entsteht und auf die Gesellschaft einwirkt, so wird die Betrachtung der Folgen von Rechtsbestimmungen unerlässlich. Vgl. auch A. Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, Wien – New York 1979, S. 35 f.

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Die mit der Alternativenanalyse57 gegebene Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat vor allem Bedeutung bei der Frage der Realisierbarkeit bestimmter Ziele und Zielkombinationen und steckt damit die Grenzen des Möglichen ab. Da sich technologische Aussagensysteme auf mögliche Ansatzpunkte für menschliches Handeln beziehen, wird hier erneut die Frage nach der konkreten Situation und den jeweiligen Handelnden zu stellen sein. Die Anwendung technologischer Aussagensysteme erfordert die Identifizierung solcher Ansatzpunkte in der jeweiligen Situation, um unter den relevanten Alternativen die realisierbaren ausarbeiten zu können. Bei der Anwendung technologischen Wissens auf konkrete Situationen fließen im Rahmen der Suche nach relevanten Alternativen Wertungen in die Überlegungen ein58. Man ist gezwungen, eine Auswahl unter den Entscheidungsalternativen vorzunehmen, um einen überschaubaren Bereich von Alternativen zu erhalten. Vorausgesetzt werden muss also ein allgemein anerkannter Komplex von Normen zu Beginn der Diskussion. Hier entsteht die Frage, ob ein solcher Komplex in jeder Situation und bei beliebigen Diskussionspartnern vorzufinden ist59. Die Ableitung einer Legitimation dieser Normen aus unbefragten Wertphilosophien soll hier jedenfalls zurückgewiesen werden. Die Entwicklung von Normen und Handlungsorientierungen im Bereich der Rechtswissenschaft kann jedoch als ein Prozess begriffen werden, der dort kritisch-rational einzulösen ist. Um diesen Prozess nicht unnötiger Beliebigkeit zu überlassen, lassen sich diskutable Orientierungspunkte exponieren. So setzte schon etwa Jürgen Habermas die „alteuropäische Menschenwürde“60, die Erlanger Schule den „unvoreingenommenen“, „gutwilligen“, „sachkundigen“ Teilnehmer61 im Rahmen von Beratungssituationen voraus, während etwa Heinz Maser in seinem Modell von einem „Interesse an einer substantiellen Demokratisierung“62 ausgeht. Eine Ordnung von Problemerörterungsverfahren nach bestimmten Regeln kommt ohne vorausgehende Entscheidungen nicht aus; auch Karl Raimund Popper musste einen apriorischen Imperativ, eine gemeinsame Formel für das Zusammenleben anneh-

57 Zur Notwendigkeit einer Alternativenanalyse vgl. Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 85 sowie W. Marx, Systemidee und die Problematik ihrer Begründung, in: G. Schmidt / G. Wolandt (Hrsg.), Die Aktualität der Transzendentalphilosophie. Hans Wagner zum 60. Geburtstag, Bonn 1977, S. 59 – 76 (74 f.). 58 Vgl. Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 85 f. 59 Thiel, Rationales Argumentieren, S. 97. 60 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1973, S. 196. 61 F. Kambartel, Ethik und Mathematik, in: F. Kambartel / J. Mittelstraß (Hrsg.), Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1973, S. 115 – 130 (126); vgl. auch M. Gatzemeier, Grundsätzliche Überlegungen zur rationalen Argumentation, in: R. Künzli (Hrsg.), Curriculumentwicklung. Begründung und Legitimation, München 1975, S. 147 – 158 (150 ff.). 62 So Moser, Aktionsforschung, S. 104.

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men63. Bei Infragestellung entsprechender Voraussetzungen würde man kritischrationale Verfahren selbst in Frage stellen. Hier lässt sich insbesondere darauf verweisen, dass sich aus der Tatsache einer kritisch-rationalen Diskussion unter verschiedenen Partnern bereits ein Bezug auf gewisse Grundnormen für das Argumentieren ergibt64. Indem sich die Partner verständlich machen wollen, haben sie auch akzeptiert, dass für ihren Sprachgebrauch Regeln in Kraft sind und allgemein befolgt werden. Ebenso nimmt jeder, der mit seiner Behauptung einen Geltungsanspruch aufstellt, in Kauf, dass die Behauptung auf Verlangen kritisch zu begründen ist. Mit der Verweigerung einer Begründung würde die Behauptung ihren Anspruch auf Gültigkeit verlieren. Ein Vorschlag von Normen dieser Art mit anschließender Prüfung von Argumenten und Gegenargumenten müsste ja selbst schon von diesen Normen Gebrauch machen, weshalb diese notwendig schon in Kraft sind, wo überhaupt Argumente für eine Annahme oder Verwerfung von Aussagen vorgebracht werden. Natürlich kann niemand gezwungen werden, diese Zusammenhänge anzuerkennen oder überhaupt kritisch zu argumentieren. Dennoch bleibt zu berücksichtigen, dass Normen, die für Situationen gelten, in denen verschiedene Interessen in Konkurrenz zueinander treten, notwendig werden, um diese Interessenkonflikte, die in der Lebenspraxis auftreten, zu lösen bzw. zu entscheiden. Schon mit der Planung derartiger Entscheidungen werden Grundnormen akzeptiert, ohne deren Annahme Normsetzungen selbst unmöglich sind. Wollte man ganz ohne Behauptungen und Wertungen auskommen, so wäre notwendige Folge hiervon der Verzicht auf Kommunikation und Kooperation und schließlich das Ausscheiden aus dem Zusammenhang von Lebenspraxis überhaupt65. Beraten, Entscheiden und Handeln innerhalb der Gemeinschaft sind auf der Basis der Grundnormen des erwähnten Typs jedenfalls möglich. Eine Erweiterung dieser Basis durch Normen ähnlichen Geltungscharakters bleibt Aufgabe der regelgeleiteten kritisch-rationalen Diskussion. Wie aus der bisherigen Darlegung hervorgeht, sind Wertungen nicht intersubjektiver Prüfung in einem Umfang zugänglich wie empirisch beobachtbare Fakten. Ihre Bedeutung ist jedoch auch nicht mit derjenigen bloßer gefühlsmäßiger Kundgaben oder Geschmacksfragen zu vergleichen. So besteht bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, sie zu hinterfragen. An irgendeinem Punkt kann allerdings 63 Zu den Gefahren einer rein dezisionistischen Gesellschaftsformel, die keinerlei Begründung oder Rechtfertigung zulässt, vgl. P. P. Müller-Schmidt, Der rationale Weg zur politischen Ethik, Stuttgart 1972, S. 92. Vgl. hierzu ferner K. R. Popper, Der Zauber Platons, 3. Aufl. Bern – München 1973, S. 103. 64 Vgl. hierzu H. Krings, Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, S. 59 – 77 (75); J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main 1976, S. 341; U. Weihe, Diskurs und Komplexität. Eine Auseinandersetzung mit dem Handlungsbezug der Gesellschaftslehren von Habermas und Luhmann, Stuttgart 1979, S. 89. 65 Vgl. M. Sintonen, Interpretation and Truth in Legal Dogmatics, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 77 – 84 (79).

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entweder keine weitere Begründung gegeben werden oder man läuft Gefahr, einen unendlichen Regress herbeizuführen66. Diese Grenze wird jedoch ebenso wenig willkürlich oder auf der Basis von Konventionen festgelegt, wie sie einer Zustimmung bedarf. Ihre Festlegung ist abhängig von der Lebenspraxis. Nur aus dem Zusammenhang der Lebenspraxis ist zu erklären, dass eine Konsensbildung – gleich welcher Art – überhaupt möglich ist und andererseits eine totale Übereinstimmung in vielerlei Hinsicht unerreichbar bleibt. Durch die allgemeine Lebenspraxis wird die Basis für einen Konsens und damit für die Akzeptierbarkeit bestimmter Normensysteme gegeben. Vorhandene Akzeptierbarkeitsgrenzen67 sind dabei eng verbunden mit unserer Lebensform und entwickeln sich mit der dynamischen Veränderung der Lebensverhältnisse68. Für die Akzeptierbarkeitskriterien, die zugleich die Grenzen möglicher kritischer Rationalität angeben69, lässt sich eine Abhängigkeit von den jeweiligen „Produktionsbedingungen“70 feststellen. So ist die Akzeptierbarkeit bestimmter rechtlicher Normen sowohl vom Entwicklungsstand der Rechtswissenschaft als 66 Zu dieser Problematik vgl. insbes. Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 439 ff. sowie Alexy, Eine Theorie des praktischen Diskurses, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, S. 22 – 58 (26); ferner K. Lüderssen, Erfahrungen als Rechtsquelle. Abduktion und Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozeß, Frankfurt am Main 1972, S. 33 f. und S. 51 f. 67 Eine „Wahrheitsfähigkeit“ von Normen ergibt sich nicht aus der Akzeptanz der Normen in der Rechtsgemeinschaft. Anders wohl C. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 1 (Lehrbuch des natürlichen Privatrechts), 2. Aufl. Stuttgart 1964, S. 70; vgl. auch Gethmann, Rechtfertigung und Inkraftsetzung von Normen, S. 152, der davon ausgeht, dass die Rechtfertigung von Normen auf faktischer Zustimmung beruht. In seinem Beitrag „Genesis und Geltung von Normen“, in: Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 17 – 23 (23), führt er dazu weiter aus, dass Aussagen zwar nicht schon deshalb gelten, weil ihnen de facto zugestimmt wird, andererseits jedoch Aussagen, die tatsächlich von allen abgelehnt werden, nicht dennoch Gültigkeit beanspruchen könnten. Zu den Akzeptierbarkeitskriterien im Einzelnen vgl. unten S. 44 f. Zur Abhängigkeit der Akzeptierbarkeitskriterien von der Lebensform vgl. A. Aarnio, Linguistic Philosophy and Legal Theory. Some Problems of Legal Argumentation, in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 17 – 41 (35 ff.) sowie ders., Truth and Acceptability of Interpretative Propositions, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 33 – 51 (46 ff.). 68 Vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt am Main 1978, S. 51. Zur Bestimmung der Bandbreite von Normendiskussionen durch die Lebenspraxis vgl. auch B. Willms, Normenbegründung und Politik, in: Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 175 – 201 (200). 69 Vgl. Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 422. MüllerSchmidt stellt im Zusammenhang mit dem zeitlichen Bedingtsein der praktischen Vernunft die Frage, ob es möglich sei, Wesensaussagen zu machen, die das zeitlich bedingte Wertempfinden transzendieren, um so zu einem absoluten Werturteil zu gelangen. Vgl. MüllerSchmidt, Der rationale Weg, S. 64 f. Ebenso Aarnio, Linguistic Philosophy, S. 25 f. sowie ferner K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. Heidelberg 1963, S. 44 f. 70 Zum Begriff und zur Problematik der „Produktionsbedingungen“ vgl. Marx, Systemidee, S. 64.

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auch vom Zustand der Probleme, auf den sich die Norm bezieht und den sie bestimmend gestalten kann, abhängig. Eine weitere Bedingung ist mit der Sprache gegeben, die sich in der komplexen Wechselbeziehung von Werthaltungen dynamisch differenziert oder unter bestimmten Gegebenheiten auch entdifferenziert, dann aber zwangsläufig die Möglichkeiten des Verstehens einengt. Diese und andere Fakten bilden das Gefüge externer Bedingungen jeglicher Akzeptabilitätsund Rationalitätsauffassungen. Sie stehen allen Letztbegründungsversuchen entgegen, die auch dort noch Strukturen vorgeben, wo dies ganz und gar unmöglich bzw. sinnlos ist. Berücksichtigt man, dass der Übergang von einer Lebensform zu einer anderen nicht mithilfe von kritisch-rationalen Argumenten, sondern weitgehend aufgrund von „Überzeugungen“ möglich wird, so lässt sich ein kritisch-rationaler Diskussionsprozess nur innerhalb der Grenzen einer bestimmten Lebensform führen. Zwar können sich ähnliche Rationalitätskriterien unter verschiedenen Lebensverhältnissen entwickeln, die hieraus entstehenden Normensysteme brauchen deshalb jedoch nicht übereinzustimmen71, da die zugrunde liegenden Prinzipien unterschiedlich sein können. Auch die Lebensverhältnisse selbst können sich natürlich ändern. Abhängig vom jeweiligen Diskussionsgegenstand und der bestehenden Situation kann dabei in einer bestimmten Gruppe der Rechtsgemeinschaft ein Konsens hinsichtlich einer bestimmten Frage erreicht werden, während die Meinungen zu einem anderen Problemkomplex auseinander gehen. Grundsätzlich können zwei Personen, A und B, die ein und derselben Rechtsgemeinschaft angehören, beim Auftreten von Interpretationsproblemen immer dann einen Konsens im Rahmen ihres rationalen Diskurses erreichen, wenn – A und B in dem Sinne über eine gemeinsame Sprache verfügen, dass sie jeweils dieselbe intersubjektive inhaltliche Bedeutung akzeptieren, wenn ferner – gewährleistet ist, dass A und B dieselben empirischen Erfahrungen zur Verfügung stehen, und schließlich, wenn – beide Diskurspartner eine hinreichende gemeinsame Wertbasis besitzen72.

Sind diese Bedingungen erfüllt, kann ein Konsens im Hinblick auf Fragen erzielt werden, die von den genannten drei Faktoren abhängig sind73. Eine von A vorgeschlagene Interpretation kann immer dann Zustimmung finden, wenn der Zuhörer Mitglied derselben Lebensgemeinschaft ist und somit teilhat an deren Grundauffassung74, anderenfalls wird eine Erfüllung dieser Akzeptierbarkeitskriterien 71 So ist festzustellen, dass die Antwort auf die Frage nach unterschiedlichen Alternativen und ihren Konsequenzen innerhalb verschiedener Rechtskulturen verschieden ausfallen kann. Vgl. R. Dreier, Bemerkungen zur Rechtserkenntnistheorie, in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 89 – 105 (102). 72 Vgl. Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 440 f. 73 Vgl. ebd., S. 441.

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unmöglich. Möglich ist auch eine Situation, in der aufgrund der Meinungslage innerhalb der gleichen Lebensgemeinschaft eine Einigung zwar hinsichtlich einer Frage X zustande kommt, ein Konsens über die Frage Y jedoch nicht erreichbar ist75. Bezeichnet man eine Gruppe, deren Mitglieder nach ihrer Grundauffassung in einer bestimmten Frage gleicher Meinung sind, als Zuhörerschaft, so lässt sich sagen, dass die Akzeptierbarkeit einer bestimmten Alternativenwahl von der Zuhörerschaft abhängt. Wird eine Alternative von einer bestimmten Zuhörergruppe abgelehnt, von einer anderen jedoch für vertretbar gehalten, dann kann von diesen beiden Gruppen keine kritisch-rationale Diskussion erwartet werden. Eine kritischrationale Diskussion setzt hinreichend ähnliche Meinungsstrukturen voraus. Bei unterschiedlichen Auffassungen spielt dagegen das Moment der „Überzeugung“ eine maßgebende Rolle. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass diejenige Interpretation, die von der größten Zuhörerschaft als rational akzeptierbar gekennzeichnet wird, die größte soziale Relevanz besitzt. Mit der Zuhörerschaft76 wird der „individuelle Aspekt“ einer bestimmten Lebensgemeinschaft als diejenige Personengruppe beschrieben, die teilhat an dieser Gemeinschaft. Dabei ergibt sich der Zusammenhang zwischen Zuhörergruppe und der jeweiligen Lebenspraxis aus der Tatsache, dass durch die Zuhörerschaft ein Netz von Beziehungen geknüpft wird, das eine Einheit darstellt und – wie bei der Lebensform – Zuhörerschaften, die sich aufgrund anderer Auffassungen entwickeln, ausschließt. Die Zugehörigkeit zu einer Zuhörergruppe impliziert nicht die Zugehörigkeit zu allen derartigen Gruppen. Dennoch kann nur dann ein Konsens innerhalb einer bestimmten Lebensgemeinschaft erreicht werden, wenn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Zuhörergruppe und zu dieser Lebensgemeinschaft gegeben ist. Als Bestimmungsgröße für die Entwicklung von Zuhörergruppen, ihrer strukturellen Veränderung und ihrer Stellung in der Gesellschaft ist die soziale Wirklichkeit einer genaueren Analyse zu unterziehen. Für eine derartige Analyse, die zur Klärung sozialer Wirkungszusammenhänge beitragen soll, wird die Kenntnis der geltenden Normen positiven Rechts77 in ihrer bis zu einem gewissen Grade gegebenen Wirksamkeit unerlässlich78. Betrachtet man das Recht als sozialen Steue74 Dazu H. Lübbe, Pragmatismus oder die Kunst der Diskursbegrenzung, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, S. 118 – 125 (123 ff.). Ähnlich auch Ch. Perelman, Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980, S. 142 f. Zu der gemeinsamen Grundlage, die vorhanden sein muss, damit wir überhaupt einander in Bezug auf Sprache und Tätigkeit verstehen können, gehören intersubjektive Bedeutungen, die von den zufälligen Vorstellungen der Gemeinschaftsmitglieder unabhängig sind. Ein solches Netz von Bedeutungen wird benötigt, um die Welt als „unsere Welt“ bezeichnen zu können. Zu den Umständen, die solche intersubjektiven Bedeutungen schaffen können, vgl. Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, S. 29 f. 75 Vgl. auch zu den weiteren Ausführungen Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 443 f. 76 Zum Einfluss des Publikums allgemein vgl. Weihe, Diskurs und Komplexität, S. 140 ff.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

rungsmechanismus, so kann seine Wirkungsweise nicht ohne die Berücksichtigung der faktisch wirksamen Normierungen erfasst werden. Soll die geltende Rechtsordnung nicht nur festgestellt, sondern auch durch adäquate Vorschläge gestaltet werden, so sind Zweck- und Wertungsgesichtspunkte, die man dem Gesetz oder anderen Rechtsquellen entnehmen zu können glaubt, ebenso wie Überlegungen zu den Wirkungszusammenhängen, die Bedeutsamkeit für Entscheidungsvorschläge besitzen, offen zu legen, um auf diese Weise eine allgemeine kritische Beurteilung möglich zu machen79. Ist unter dieser Voraussetzung Rechtswissenschaft praxisrelevant, kann sie verstanden werden als eine an alternativen Wertungsgesichtspunkten orientierte Sozialtechnologie80. Ziel dieser Vorgehensweise ist auf der Basis hypothetisch angenommener Desiderata die Formulierung von Deutungsvorschlägen sowohl für im geltenden Rechtssystem vorfindliche Normsätze wie auch für die Ausarbeitung von Vorschlägen zur innovativen Gestaltung dieses Systems. Als dazu autorisierte Rollenträger können Gesetzgebungsgremien, Richter und öffentliche Verwaltungen prüfen, ob und welche Vorschläge in ihre Entscheidungen übernommen werden sollen. Eine Argumentation, die die eingesetzten Mittel im Hinblick auf die erwünschten Folgen genauer beleuchtet und dabei auf Basisnormen zurückgeht, stößt allerdings auf praktische Schwierigkeiten, wenn eine große Anzahl empirischer Sätze als begründungsrelevante Argumente einer Überprüfung bedürfen. Da eine explizite Überprüfung in derartigen Fällen kaum möglich ist, ergibt sich hier die Frage nach Vereinfachungsverfahren zur Begrenzung kritisch-rationaler Diskussionen. Eine Möglichkeit hierzu bietet das Verfahren der Abstimmung, wenngleich keineswegs garantiert werden kann, dass Abstimmungen stets zu „guten Ergebnissen“ führen. Weitere Vereinfachungsverfahren sind aus der Entscheidungstheorie bekannt (z. B. Transformation unbegrenzter Ziele in begrenzte, Reduzierung der Stufen in mehrstufigen Ziel-Mittel-Argumentationen, Verwendung subjektiver Prognosen und Simulationsverfahren). Die Notwendigkeit einer pragmatischen Normendiskussionsbegrenzung81 ergibt sich auch aufgrund der Verschiedenheit der Lebenszusammenhänge der von einem Konflikt Betroffenen, da sich aus dem jeweiligen konfliktlösenden Handeln ganz unterschiedliche Nebenfolgen für den Einzelnen ergeben. Diese aus den Nebenfolgen entstehenden Konflikte ließen sich zwar vorab lösen; das würde jedoch bedeuten, dass die Lebensumstände aller Beteiligten zunächst konfliktfrei geregelt werden müssten. Unter Effizienzgesichtspunkten wie auch im Hinblick auf eine 77 Alexy sieht in den geltenden Normen des positiven Rechts eine Entlastung praktischer Diskurse, betont jedoch gleichzeitig, dass ihre Diskussion im Rahmen rationaler Diskurse möglich bleibt. Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 57. 78 Vgl. Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 75. 79 Vgl. ebd., S. 79. 80 Vgl. ebd., S. 80. 81 Dazu etwa Lübbe, Pragmatismus, S. 120 ff.

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Rücksichtnahme auf den persönlichen Bereich der Diskussionspartner sind derartige Exkurse als problematisch anzusehen. sinnvoll erscheint hier die Begrenzung auf den Zweck einer Lösung isolierter Konflikte und die interne Lösung der jeweils auftretenden Nebenfolgenkonflikte. Muss die Entscheidung über die Geltung der in einer Normbegründung verfolgten Prinzipien aus Gründen der Lösung von Nebenfolgenkonflikten verschoben werden, so kann es sein, dass die Lösung der ursprünglichen Frage nicht rechtzeitig gelingt. Dieses Problem kann jedoch ebenso auftreten, wenn keine Begrenzung erfolgt. Für die Praxis kritisch-rationaler Argumentation ist es daher, soll die Entscheidung nicht dem Zeitablauf überlassen bleiben, sinnvoll, die Beteiligten von der Dringlichkeit einer raschen Bewältigung ihrer Nebenfolgen zu überzeugen. Tatsächlich ist dieser Vorgang bei Instanzen, die funktionale Entscheidungskompetenzen besitzen, in einer Weise institutionalisiert, die jede Entscheidung, in Relation zur Problembehandlung, zum pragmatischen Akt ihrer Begrenzung macht. Die Notwendigkeit solcher Begrenzung ergibt sich dabei allein aus den Umständen, die in den prozessrechtlichen Verfahrensordnungen als Entscheidungszwang ihren Ausdruck finden. Die bisherigen Ausführungen lassen deutlich werden, dass zwar nicht schon die kritisch-rational erarbeiteten rechtswissenschaftlichen Normkonzepte selbst in jeder Hinsicht einer „objektiven Prüfung“ zugänglich sind, dafür aber die Möglichkeit besteht, die an diese Konzepte anknüpfenden empirischen Folgen82 bestimmter Verhaltensweisen erkenntniskritisch zu analysieren und im Übrigen die zur Verfügung stehenden Brückenprinzipien zu berücksichtigen. Diese an den Konsequenzen von Normierungsvorschlägen orientierte Analyse lässt sich als intersubjektiv überprüfbare soziale Technologie83 begreifen, während die Normierungen selbst, die im Zuge des praktischen Diskussionsprozesses der Rechtsstäbe entstehen, im Sinne einer „vorläufigen Einigung“84 betrachtet werden können. Sie 82 Eine ähnliche Ansicht vertritt M. Rack, Die Verfassung als Maßstab. Eine argumentationstheoretische Untersuchung am Beispiel des Problems der Verfassungsmäßigkeit nichtfiskalischer Abgaben, Berlin 1978, S. 185 f. Wellmer, Praktische Philosophie, S. 148, geht davon aus, dass Tatsachen selbst gleichsam eine normative Sprache sprechen. Dem vermag ich nicht zu folgen. 83 Vgl. hierzu Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz, S. 59; s. a. R. Weimar, Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?, in: Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung – Festschrift für Karl Klein zum 70. Geburtstag, Siegen 1982, S. 664 – 684. 84 Der vorläufige Charakter dieser Lösung geht schon daraus hervor, dass ein über bestimmte Normen erreichter Konsens nichts über den Wahrheitsgehalt dieser Einigung aussagen kann. So ist eine Normeninterpretation nicht schon deshalb mit einem höheren „Wahrheitsgehalt“ in Bezug auf die zugrunde gelegte Rechtsform ausgestattet als eine andere Interpretation, weil diese von der Rechtsgemeinschaft allgemein akzeptiert wird. Vgl. Aarnio / Alexy / Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, S. 439 f. Die damit zum Ausdruck kommende „Zufälligkeit“ einer Lösung kann allenfalls insoweit reduziert werden, als im Verlauf rationaler Diskussion eine Art kritischer Zustimmung erreicht wird. Auch nach H. Moser, Anspruch und Selbstverständnis der Aktionsforschung, in: Zeitschrift für Politik, Heft 3, 1976, S. 357 – 368 (359), lässt sich das Ergebnis solcher Verhandlung als durch den zustande

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

dürfen demgemäß nicht unkritisch zu „Dogmen“85 verabsolutiert oder gegen Kritik immunisiert werden. Vielmehr sollten sie weiterer kritischer Beurteilung unterstellt werden. Entscheidungen, die als „kritisch beurteilt“ behandelt werden, können als sich fortlaufend in der Kritik bewährende Urteile angesehen werden, ohne dass damit eine Immunisierung erfolgt. Rechtsdogmatische Setzungen wie Positivierungen des Gesetzgebers können in diesem Sinne als Bestimmungen angesehen werden, die jederzeit wieder einer Prüfung unterzogen werden können, bis dahin jedoch im Interesse der Bewahrung eines erarbeiteten Entwicklungsstands die widerlegbare Vermutung der Vernünftigkeit86 auf ihrer Seite haben. Dass hiernach einer Auffassung, nach der – wie Robert Alexy87 annimmt – das adäquate Diskursverfahren qua Rationalität (im Sinne von „Vernünftigkeit des Argumentierens“) die Richtigkeit des Ergebnisses, also Wahrheit im kognitiven, richtige Normen und objektiv gültige Werte im praktischen Bereich, zu garantieren vermöge, nicht gefolgt werden kann, braucht nach der oben zugrunde gelegten non-kognitivistischen Ausgangsbasis nicht weiter begründet zu werden. M. E. hat Ota Weinberger durch seine prägnante Formulierung zum Problem der „diskurstheoretischen Rechtfertigung“ (als rationaler Rechtfertigung im Sinne Robert Alexys) den Kern der Sache getroffen, indem er zwei Fragen scharf trennt: „(1) die Frage der zweckmäßigen Organisation des Meinungsstreits (der Diskussion) und (2) die Frage, ob durch die Form des Meinungsstreits (des Diskurses) die Wahrheit (bzw. Richtigkeit) der in der Diskussion erlangten Ergebnisse sichergestellt werden kann88.“ Geht man davon aus, dass es – falls überhaupt – zumindest „ewig“ gültige Wahrheiten in praktischen Fragen nicht gibt und dass der Normenwandel ein unabweisbares Faktum ist89, gekommenen Konsens abgesicherte Handlungsorientierung, aber nicht als „gesellschaftliche Wahrheit“ verstehen. Ähnlich Oelmüller, Versuch einer Orientierungshilfe, S. 88 f., der darauf hinweist, dass jede Normendiskussion als in ihrer Zeit verwurzelte Handlungsorientierung zu verstehen ist und daher einerseits im Rahmen des Diskurses den Regeln der unbegrenzten, universalen Konsensbildung folgt, somit ethischen Grundnormen als Bedingung der Möglichkeit eines Diskurses verpflichtet ist, andererseits aber unter realen Handlungszwängen steht, die zur Begrenzung möglicher Konsensbildung oder gar zur Verhinderung einer Konsensbildung zugunsten eines Kampfes zwischen Persönlichkeiten führt, in dem nicht Argumente, sondern Machtchancen von entscheidender Bedeutung sind. Vgl. J. Rüsen, Geschichte und Norm – Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis, in: Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 110 – 139 (138). 85 Dazu und zu dem im Weiteren dargestellten Verständnis der Dogmatisierung von Normen vgl. Ch. Schefold, Methodologisch bedingte Schwierigkeiten des kritischen Rationalismus mit Recht und Rechtswissenschaft, in: W. R. Beyer (Hrsg.), Hegel-Jahrbuch, Köln 1977 / 78, S. 212 – 224 (216). 86 Dazu näher R. Weimar, Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft, in: A.-J. Arnaud / R. Hilpinen / J. Wróblewski (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht, in: Rechtstheorie, Beiheft 8 (1985), S. 259 – 266. 87 Vgl. A. Aarnio / R. Alexy / A. Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, in: Krawietz / Alexy (Hrsg.), Methetheorie juristischer Argumentation, S. 9 – 87 (36 – 58). 88 Weinberger, Logische Analyse, S. 188.

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dann bleibt einigermaßen unerfindlich, inwiefern Robert Alexy eine (nur) prozedural fundierte Konzeption der Rationalität mit der Einlösung von Wahrheitsverbürgung im Sinne endgültiger Perpetuierung verbinden kann.

3. Verfahren zur kritischen Prüfung von Handlungsalternativen?

Wer geeignete von weniger geeigneten Mitteln im Hinblick auf gegebene Ziele und ihre Erreichung unterscheidet90, kann bei der Prüfung von Gründen oder Gegengründen im Rahmen zweckrationaler Argumentation eine normative und eine deskriptive Komponente untersuchen, die beide einer kritischen Überprüfung bedürfen. Die Überprüfung der deskriptiven Komponente kann in zwei Schritten geschehen, wobei zunächst eine Klärung der Semantik und Syntax und im Anschluss daran die empirische Überprüfung erfolgt. Damit gelingt es, zu einem gegebenen Ziel mehrere (geeignete) Mittel zur Diskussion zu stellen und die optimalen Mittel herauszufiltern. Als Verfahren kann hier das Arsenal der Entscheidungstheorien weiterhelfen, die unter der Prämisse vorgegebener Ziele anwendbar sind. Zur Überprüfung der normativen Komponente, also der Ziele selbst, lässt sich an eine Weiterführung dieser Ziel-Mittel-Argumentation denken, indem man ein Ziel im Hinblick auf übergeordnete Ziele begründet. Anstelle des damit zu erwartenden Begründungsregresses sowie dessen willkürlicher Beendigung können Ziele (Primärziele) angesetzt werden, die einer Ziel-Mittel-Argumentation nicht mehr bedürfen. Als solche Primärziele können z. B. das Ziel der intersubjektiven Führung kritsch-rationaler Diskussion und das Ziel der Lebenssicherung angesehen werden, deren Anerkennung ohnehin Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Erörterung sein Dürfte. Freilich lässt sich die Wahl der Primärziele nicht durch eine allgemein akzeptierte Theorie des Menschen und der Gesellschaft absichern. Akzeptieren die Diskussionspartner eine Zweck-Mittel-Argumentation im Hinblick auf die beiden Primärziele, so kann eine Handlung als vorläufig intersubjektiv gerechtfertigt angesehen werden, wenn sich die gegebene Situation als optimales Mittel91 zur Erreichung beider Primärziele erweist. Damit ist eine kriteriale Abgrenzung einstweilen gerechtfertigter von nicht gerechtfertigten Normen bzw. Zielvorstellungen gegeben, die mit Hilfe eines schrittweisen Verfahrens entscheidungstheoretisch konkretisiert werden kann.

89 Vgl. R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie, Beiheft (1982), S. 241 – 261. 90 Zur Beachtung des Zweck-Mittel-Denkens in juristischen Wertentscheidungen vgl. Lüderssen, Erfahrungen als Rechtsquelle, S. 71 ff. 91 Zur Bestimmung der Optimalität ist die Rechtswissenschaft häufig auf die Ergebnisse der empirischen Einzelwissenschaften verwiesen. Es hängt ganz vom Problembewusstsein der Rechtswissenschaft als Wissenschaft ab, ob sie an diesen Ergebnissen vorbeigeht, sie ignoriert oder sie annimmt.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

III. Ausblick Die im Rahmen kritisch-rationaler Diskussion zu erarbeitenden Normenkonzepte können letztlich verstanden werden als rechtswissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch kontrollierter Orientierungsversuch über letzte Voraussetzungen unserer Wirklichkeitsannahmen sowie bestimmter Lebens- und Handlungsorientierungen im Bereich des Rechts. Ein derartiger Orientierungsversuch impliziert zum einen die Rekonstruktion der Genese vorgegebener Wirklichkeitsannahmen und Lebens- und Handlungsorientierungen, die sich vor allem im Zusammenhang mit der kulturellen Differenzierung des Rechts und der Ausbildung des europäischen Rationalisierungsprozesses entwickelt haben92. Auf diese Weise können Kontinuität und Diskontinuität historischer Wandlungen und Prozesse des Rechts sichtbar gemacht werden, die sich an zahlreichen Phänomenen und Erfahrungen im Sozialzusammenhang des Rechts aufweisen lassen. Zum anderen kann auf diese Weise eine Überprüfung derjenigen Wirklichkeitsannahmen und Lebens- und Handlungsorientierungen erfolgen, die uns nicht mehr selbstverständlich sind93. Eine erkenntniskritische Rechtswissenschaft liefert insofern nicht nur ein weitergehendes Wissenschaftsprogramm; sie ist auch eine Orientierungshilfe für konkretes Handeln auf der intersubjektiven Ebene und auf der Ebene der sozialen Institutionen; nur darf sie dabei nicht verwechselt werden mit einer Instanz, die unmittelbare pragmatische Ziele im Sinne rechtsnormativer Handlungsanweisungen selbst verordnen und verantworten muss.

92 So gehören etwa nach Ansicht Oelmüllers – zumindest bisher – die in den benennbaren Epochenschwellen der westlichen Welt entwickelten Erfahrungs- und Erwartungsmöglichkeiten zu den für uns nicht hintergehbaren Denkmöglichkeiten. Vgl. dazu W. Oelmüller, Zur Rekonstruktion unserer historisch vorgegebenen Handlungsbedingungen, in: ders. (Hrsg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, S. 50 – 89 (55 ff.). 93 Dazu näher R. Weimar, Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomisch-ökologischen Zeitalter, in: W. Krawietz / R. Weimar (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften (Forschungen der Europäischen Fakultät für Bodenordnung Bd. 2), Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 147 – 162; vgl. auch ders., Technokratie und Rechtssystem. Zur Frage nach der Zukunft des Rechts, in: M. Straube / R. Weimar (Hrsg.), Jurist und Technik zwischen Wissenschaft und Praxis – Festschrift für Josef Kühne zum 60. Geburtstag, Wien 1984, S. 65 – 78.

Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft* Juristen sind im Allgemeinen über Probleme der Theoriebildung ihrer Wissenschaftsdisziplin wenig informiert. Dies liegt zum einen am Praxisbezug der primär „dogmatisch“ orientierten Rechtswissenschaft, aber wohl auch daran, dass Überlegungen zur Theorie des Rechts in der rechtswissenschaftlichen Forschungspraxis bislang nicht annähernd einen Stellenwert erlangen konnten, wie er in anderen Sozialwissenschaften längst erreicht ist. Schon die Festlegung des Theoriebegriffs in der Rechtswissenschaft bleibt meist unklar1 – zu schweigen vom Begriff des Rechts selbst2 und nicht minder von den einzelnen Bereichen, den Funktionen und Methoden der wie immer verstandenen Wissenschaft vom Recht. Was Wunder: sogar ihr Wissenschaftscharakter3 steht in Zweifel.4 Wie wenigstens – fragt man an diesem Punkt eher bescheiden – könnte da die desolate Situation gebessert werden? Eine unverzichtbare Voraussetzung einer entsprechenden Therapie scheint mir darin zu liegen, Möglichkeiten und Grenzen des Zugangs zum Theoriestadium aus wissenschaftstheoretischer Sicht zunächst einmal offen zu legen. Erst dann kann sich zeigen, ob in der Rechtswissenschaft bislang beiseite gelassene Leitideen theoretischen Fortschritts die Möglichkeit eröffnen, aus einer Ära unsicheren und ungeleiteten Tastens in eine Phase des gezielten Suchens überzugehen.

I. Wissenschaftstheorie und Rechtswissenschaft – ein funktionaler Aktionsverbund? Es ist heute vielfach üblich geworden, sehr verschiedenartige Arbeiten als „wissenschaftstheoretisch“ zu bezeichnen, wenn sie nur in irgendeiner Weise die Wis* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / Th. Mayer-Maly / O. Weinberger (Hrsg.), Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. 1984, S. 703 – 722. Berlin: Duncker & Humblot. 1 Vgl. dazu die präzisen Untersuchungen von R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 103 – 132. 2 Vgl. etwa R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie Beiheft 4 (1982), S. 241 – 261 (255 ff.: „Normenwandel und das Elend des Rechtsbegriffs“). 3 Dazu orientierend etwa K. Kettembeil, Zum Charakter der Jurisprudenz als Wissenschaft, Frankfurt am Main – Bern 1975, insbes. S. 13 ff. und passim m. w. N. 4 Zum Status der Jurisprudenz und zu Hauptfragen der Rechtstheorie vgl. I. Tebaldeschi, Rechtswissenschaft als Modellwissenschaft, Wien – New York 1979, insbes. S. 3 ff.; W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 181, 211 f.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

senschaften betreffen.5 Weniger allgemein, und deshalb informativer, ist der engere Wortsinn, demzufolge sich die Wissenschaftstheorie mit der metatheoretischen Untersuchung von Aussagensystemen befasst, wie sie im Wissenschaftsbetrieb auftreten. Die Analyse gilt dabei vor allem der logischen Struktur der wissenschaftlichen Theorien. Daneben interessieren die methodischen Verfahren, nach denen solche Theorien aufgestellt werden, und schließlich wird nach der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung solcher Verfahren gefragt.6 Weitaus schwieriger lässt sich ausmachen, was unter Rechtswissenschaft zu verstehen ist.7 Dem kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden; es genügt für die Zwecke des hier interessierenden Anliegens, davon auszugehen, dass Rechtswissenschaft im Wesentlichen durch zwei Grundakzentuierungen gekennzeichnet ist: Gemeint sind die Bereiche der Rechtstheorie einerseits und der Bereich der dogmatischen Jurisprudenz andererseits. Rechtstheorie und dogmatische Jurisprudenz8 stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Dies entspricht der aus wissenschaftstheoretischen Gründen notwendigen „Arbeitsteilung zwischen rein analytischen und den normativen Disziplinen der Rechtswissenschaft“.9 Bei der juristischen Dogmatik handelt es sich „um den in präskriptiver Absicht erzeugten, . . . letztlich auf Wertungen basierenden, durch die praktischen Entscheidungsbedürfnisse bedingten, juristischen Entscheidungsvorschlag und Argumentationszusammenhang . . . , dessen Erarbeitung zu den täglichen Geschäften dogmatischer Rechtswissenschaft gehört“.10 Die Aussagen juristischer Dogmatik sind normativ (praktisch), nichtempirisch, a-theoretisch, wenngleich nicht irrational.11 5 Die Wissenschaftstheorie sieht ihre Aufgabe in der kritischen Reflexion und systematischen Klärung der Prozesse der wissenschaftlichen Methode, Forschung und Erklärung, die den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaftspraxis fördern. Die Wissenschaftstheorie ist daher weder selbst Erfahrungswissenschaft noch vereinigt sie in sich erkenntnistheoretisch relevante Ergebnisse der Einzelwissenschaften. Sie ist eine philosophische Disziplin, die logisch der Erfahrung vorangeht. 6 Dies ist im Wesentlichen die Definition der „philosophy of science“; vgl. C. G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, New York 1965, S. VII; E. Nagel, The Structure of Science, London 1968, S. VIII. 7 Vgl. dazu die – nach wie vor beeindruckende – Analyse bei Krawietz, insbes. S. 166, 228, 234 und passim; breit informierend zu den zahlreichen Nuancen der komplexen Disziplin Rechtswissenschaft die Übersicht ebd., S. 307 f. 8 Zweifelnd hinsichtlich des Charakters der dogmatischen Jurisprudenz als einer „normativen“ Disziplin H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S. 77 f., der mehr den hermeneutischen Aspekt betont. 9 Krawietz, S. 202. 10 Ders., S. 213. 11 Zu diesem Problembereich grundlegend O. Weinberger, Rationales und irrationales Handeln, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 721 – 744, der dabei von einer intentionalistischen (finalistischen) Handlungskonzeption ausgeht.

Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft

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Im Gegensatz zur Rechtstheorie kommt der juristischen Dogmatik keine beschreibende und erklärende, sondern normative Funktion zu. Rechtsdogmatik hat eine praktische, rechtspolitische Aufgabe: durch fortwährende Kritik das Recht qualitativ „gerechter“ zu machen. Demgegenüber wird „Theorie“ des Rechts normative Aufgaben gesellschaftlicher Veränderung nicht zu ihrem Wissenschaftsprogramm rechnen. Dem widerspricht es nicht, dass Theorie praktisch relevant sein kann. Nur ist der Praxisbezug selbst der Theorie nicht immanent, er tritt zu ihr hinzu. An diesem Sinn von „Theorie“ nimmt nur eine Rechtstheorie teil, die jenseits aller einengenden Dogmen die Wirklichkeit des Rechts erforscht.12 Stellt man in diesem Sinne auf die Untersuchung der. Rechtswirklichkeit ab, dann gehört – insoweit – die Rechtswissenschaft zu den Real- oder Erfahrungswissenschaften. Insoweit bestimmt ihr auf die Gewinnung objektiv wahrer Aussagen über den Gegenstand Recht und seine normativen sowie sozialen Zusammenhänge gerichteter Erkenntnisanspruch den kognitiven Bereich der Rechtswissenschaft. Die Abgrenzung des als „rechtlich“ von ihr ausgezeichneten Objektbereichs – ie an dieser Stelle als vorläufig anzusehen ist – prägt entsprechend dem gewonnenen Erkenntnisziel und der Methodik den Aussagegehalt rechtstheoretischer Erkenntnisse. Dabei stellt die Entscheidung über Wissenschaftsziel, Erkenntnisobjekt und Methodik eine wissenschaftsprogrammatische oder wissenschaftsstrategische Aufgabe dar. Sie bestimmt die Vorgehensweise und prägt das Ergebnis rechtswissenschaftlichen Arbeitens. Was indes gerade fehlt, ist – und dieser Befund dürfte kaum kontrovers sein – eine allgemein anerkannte Theorie des Rechts. Diese Situation korreliert ganz offensichtlich mit dem Mangel eines problemgerechten methodischen Ansatzes wie auch mit dem Fehlen eines angemessenen konzeptionellen Bezugsrahmens, der eindeutige, informative Aussagen abzuleiten erlaubt. Damit wird die Kritik der juristischen Praxis an der fehlenden Verwendbarkeit rechtstheoretischer Aussagen, aber auch die Kritik mancher Wissenschaftler an der Einseitigkeit und Enge des rechtstheoretischen Ansatzpunkts und seiner Problemstellung zu einer Kritik an dem verwendeten Wissenschaftsprogramm überhaupt. Die Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsprogramm ist deshalb nicht ein wissenschaftstheoretisches (und -politisches) Anliegen, das im Vorfeld der eigentlichen Sachproblematik zu führen ist, sondern das gleichrangig neben den sachlichen Problemen der Theorie des Rechts steht und einer bisher offensichtlich ausstehenden Lösung – zumindest aber weiterer Diskussion – zugeführt werden muss. Dies setzt freilich – wie hier nur angedeutet sei – eine Klärung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisziels, Erkenntnisobjekts und der Methodik voraus. Das notwendige Instrumentarium liefert maßgeblich der Wissenschaftsbegriff der analytischen Wissenschaftstheorie.13 12 Dies hat Ilmar Tammelo immer wieder betont; vgl. nur etwa ders., Was darf und soll man von der Rechtstheorie heute erwarten?, in: A. Peczenik / J. Uusitalo (eds.), Reasoning on Legal Reasoning, Vammala 1978, S. 95 – 104 (96); ders., Theorie der Gerechtigkeit, Freiburg – München 1977, S. 107 und passim. 13 Zutreffend erkannt von Dreier, S. 115.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

Dass diese Wissenschaftsauffassung von den Vertretern der Rechtswissenschaft explizit oder implizit anerkannt sei, kann freilich nicht behauptet werden. Indes lässt sich kaum bezweifeln, dass die analytische Wissenschaftstheorie geeignet ist, in der Rechtswissenschaft eine Schwerpunktverlagerung der gegenwärtigen Forschungsrichtung anzubahnen. Die bisherige Richtung lässt sich – vereinfacht – dahin kennzeichnen, dass sie im Wesentlichen bekennend-normativ arbeitet, indem sie entsprechend der rechtsethischen oder rechtspolitischen Einstellung des Forschers subjektive Werturteile in ihre Annahmen einbezieht. Hier wird Rechtswissenschaft bzw. Theorie des Rechts undifferenziert mit dogmatischer Jurisprudenz gleichgesetzt. Diese Auffassung, die im Selbstverständnis der Rechtswissenschaft weithin ihren Ausdruck findet, negiert damit im Ergebnis das Vorhandensein von rechtswissenschaftlicher Theorie überhaupt. Bestreiten kann dies nur, wer einen anderen als den in der analytischen Wissenschaftstheorie etablierten Theoriebegriff zugrunde legt. Ein deskriptiv-explikativer Ansatz, wie ich ihn an anderer Stelle bereits vorgestellt habe14, versucht demgegenüber, das rechtlich Gesollte empirisch objektiv zu identifizieren. Dieser Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er die über Rechtsnormen und den Umgang mit ihnen formulierten Aussagen wertfrei gestaltet und Wertungen selbst – trotz der „Gefahr weltanschaulicher Optionen“ (Dreier) – nicht argumentativ verwendet. Neben diesen auf theoretische Beschreibung und Erklärung ausgerichteten Ansatz tritt ein praktisch-technologischer Forschungsansatz, der sich erst abzuzeichnen beginnt.15 Dieser Ansatz strebt Aussagen an, die praktisch relevant sind und als Rechtstechnologie Möglichkeitsanalysen für „richtiges“ Entscheiden liefern. Das Erkenntnisinteresse ist auf technologische Analysen zur Gestaltung der Rechtspraxis gerichtet.16 Deskriptive Sätze und normative Urteile werden hier nicht unter die nämliche Aussagekategorie subsumiert. Damit wird berücksichtigt, dass über Wahrheit oder Falschheit von Normen und praktischen Sätzen keine Theorie ein Urteil fällen kann, ohne dass hierdurch ausgeschlossen wird, dass Werturteile hinsichtlich ihrer normativen Konzeption und Wertmaßstäbe einer rationalen Kritik zugänglich werden können.17 14 R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214. 15 Ders., S. 208 ff. 16 Zumindest ähnlich verweist Dreier, S. 129 – wenn ich dies richtig deute – die Bildung interpretativer und normvorschlagender „Theorien“ ins „Vorfeld technischer Theorienkonstruktion“. Andererseits wird als „das maßgebliche Relevanzkriterium rechtstheoretischer Forschung und Theoriebildung ihr Dogmatik- und über diesen ihr mittelbarer Praxisbezug“ angesehen; R. Dreier, Recht – Moral – Ideologie, Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 11; ders., Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, insbes. S. 31 f. 17 Die Vertreter einer empirisch-kognitiven Deutung von Wertaussagen übersehen, dass das deskriptiv-indikativische Interpretationsmuster normativer aussagen nur zu kognitiven Sätzen und damit zu Tatsachenbehauptungen führen kann. Aus Aussagensystemen kognitivinformativen Charakters normative oder andere präskriptive Konsequenzen zu deduzieren, ist

Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft

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II. Das Aussagensystem der Wissenschaftstheorie und die Rechtswissenschaft Die Darstellung des wissenschaftstheoretischen Aussagensystems erfordert die Bezugnahme auf die wissenschaftliche Zielsetzung. Hierbei kann ein theoretisches (realanalytisches) von einem pragmatischen (operationsanalytischen) Wissenschaftsziel unterschieden werden. Die Erreichung beider Ziele erfordert eine Klärung der auftretenden sprachlichen und begrifflichen Probleme und die Ableitung adäquater Aussagen- oder Satzsysteme. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Individualsätze und universale Sätze bzw. Gesetze, die im Rahmen von empirischkognitiven Satzsystemen (Realtheorien) oder logisch-analytischen Satzsystemen (Idealtheorien) verwendet werden. Da logischanalytische Sätze sich nicht auf die Rechtswirklichkeit beziehen, sondern auf bloßen Annahmen bzw. Postulaten basieren, können sie entsprechend ihrer logischen Struktur nur eine formale Gültigkeit beanspruchen (logische Wahrheit). Demgegenüber weisen empirisch-kognitive Sätze einen Realitätsbezug auf. Diese Satzart ist an den Faktoren des zugrunde liegenden Gegenstandsbereichs überprüfbar (empirische Wahrheit). Unter der Prämisse, dass man Rechtswissenschaft z. B. als sozio-empirische, wertfrei gestaltete Handlungswissenschaft ansieht, erweist sich damit die Wirklichkeit als Prüfungsinstanz, an der sich rechtswissenschaftliche Aussagensysteme bewahrheiten oder scheitern. Dieser Prüfungsvorgang mit seinen methodologischen Regeln bildet einen Zentralpunkt des Aussagensystems der Wissenschaftstheorie in ihrer Relevanz für eine Rechtswissenschaft als Theorie der Rechtswirklichkeit.

1. Wissenschaftliche Zielkonzeptionen

Die explikative oder die normative Zielsetzung als Wissenschaftskonzeption ist ein Konstituens für das Wissenschaftsverständnis einer Disziplin, und seine explizite Formulierung. ist der notwendige Referenzpunkt bei der Suche nach der adäquaten sprachlichen Gestaltung der wissenschaftlichen Erkenntnis.18 Diese Frage nach der Zielsetzung scheint in der Rechtswissenschaft problematisch zu sein. Ganz offensichtlich wird das Problem der Klärung des Wissenschaftsziels meist nicht ausdrücklich in einer Konfrontation der explikativen mit der normativen Aufgabenstellung und ihren Implikationen gesucht. Dies mag in der verbreiteten Meinung begründet liegen, die Beschaffenheit des „Objekts“ (Wertungen und Normen) spiele hier im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine bestimmte Rolle und begründe in der Rechtswissenschaft eine eigenmit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Logik nicht möglich; dazu näher R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 201; ders., Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus, in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen, GS René Marcic, Berlin 1983, S. 473 – 495. 18 Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 196.

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ständige Problematik – eine Annahme, die allenfalls dann zutrifft, wenn und soweit man Rechtswissenschaft mit juristischer Dogmatik („Wertungsjurisprudenz“) gleichsetzt.19 Folgt man dem Ausgangspunkt, dass das allgemeine Ziel wissenschaftlicher Aussagen zwei spezielle, sich gegenseitig ergänzende Zielsetzungen impliziert: nämlich eine theoretische Zielsetzung der Erklärung und eine pragmatische der technischen Anwendung bzw. Gestaltung, so kann man zwischen einer realanalytischen und einer operationsanalytischen (anwendungsbezogenen) Fragestellung in der Rechtswissenschaft unterscheiden. Diese Unterscheidung ist indes – soweit ich sehe – noch keineswegs hinsichtlich ihrer Konsequenzen akzeptiert. In ihrer aktuellen Bedeutung dominiert eindeutig die dogmatische Richtung der Rechtswissenschaft im Sinne von Wertungsjurisprudenz. Dass Theorie des Rechts zunächst einmal Rechtspraxis und ihre Implikationen zu erkennen hat, scheint man in der Rechtswissenschaft einigermaßen vergessen zu haben. Die realanalytische Forschungskonzeption bildet aus wissenschaftstheoretischer Sicht – zumindest in der Regel – die Grundlage für die operationsanalytische Aufgabenstellung der Rechtswissenschaft. Diese letztere Aufgabenstellung kann entweder dogmatisch oder technologisch bewältigt werden; hier werden Mittel zur Gestaltung der Rechtswirklichkeit bereitgestellt. Darauf ist später einzugehen. Zunächst: Realanalytische Aussagen beziehen sich auf empirische Wirkungszusammenhänge, um reale Vorgänge und Ereignisse beschreiben, erklären und ggf. prognostizieren zu können. Die Struktur der Realität kann – mag dies auch nicht immer gerade einfach sein – in Form allgemeingültiger Wenn-dann-Sätze (universelle oder nomologische Hypothesen) beschrieben werden. Ein geordnetes System solcher Sätze bildet den zentralen Bestandteil einer realwissenschaftlichen Theorie. Unter einer Theorie ist dabei eine geordnete Menge (System) nomologischer Hypothesen zu verstehen, die durch Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind, einschließlich der ableitbaren Aussagen.20 Die Wahrheit von Theorien ergibt sich insoweit aus deren Überprüfbarkeit an der Empirie. Eine empirisch orientierte Theorie des Rechts muss mithin an der Erfahrung scheitern können.21 19 Ebd., S. 196. Aus der hier zugrunde gelegten Perspektive ist es daher nur konsequent, das „Realsein des Normensystems in der sozialen Wirklichkeit“ zum Forschungsobjekt der Rechtstheorie zu machen; zutreffend O. Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 107 f. Weinberger sieht daher die herkömmlicher Weise als „rechtssoziologisch“ deklarierten Fragen als „juristische“ Fragen an. 20 Vgl. H. Albert, Probleme der Theoriebildung, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Realität, Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964, S. 3 – 70 (27); s. aber auch Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, S. 117, der Theorien als „Systeme oder Mengen von Aussagen“ bestimmt, „zwischen denen Ableitbarkeitsbeziehungen bestehen und die mindestens den Anforderungen der Konsistenz und der Prüfbarkeit genügen“. 21 Weiterführend K. R. Popper, Logik der Forschung, Wien 1935, S. 15.

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Operationsanalytische Aussagen der Rechtswissenschaft als angewandter Disziplin tragen zur Lösung praktischer Probleme bei. Im Mittelpunkt der Aussagen steht – ausgehend von einer bestimmten rechtlichen Zielsetzung – die Bestimmung der rechtlich adäquaten Handlungsweise. Die. operationsanalytische Konzeption vermittelt hierzu logisch-analytisches Wissen über die Problemstruktur und die logischen Beziehungen zwischen Zielsetzung, Einflussfaktoren, Verhaltensalternativen und deren unter dem Gesichtspunkt der „Folgenorientierung“ zunehmend beachtete Konsequenzen (z. B. für Handlungsbereiche wie Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung). Gegenstand der Aussagen sind damit nicht wie in der Realanalyse Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, sondern Mittel-Zweck-Relationen zur Realisierung von rechtlich determinierten bzw. intendierten Handlungszielen bei entsprechendem Mitteleinsatz. Durch die „finale“ Analyse einer Hypothese wird hier feststellbar, welche Bedingungen erforderlich sind, damit die im DannSatz der Hypothese genannten Konsequenzen zieladäquat genannt werden können. Das Ergebnis der Aussagen sind Handlungsmöglichkeiten oder Handlungsregeln zur Erreichung bestimmter Ziele. Geht es um die Lösung eines konkreten rechtlichen Entscheidungsproblems, so sind neben den operationsanalytischen Aussagen regelmäßig auch realanalytische Aussagen erforderlich. Die Hypothesen müssen sich auf empirische Tatbestände beziehen. Werden beide Aussagensysteme aufeinander bezogen, so lassen sich zielgerechte Handlungsmöglichkeiten zur Gestaltung der Wirklichkeit ableiten. Es handelt sich um real-praxeologische Aussagensysteme.22 Diese sind gekennzeichnet durch eine empirische und eine logisch-analytische Komponente und machen Aussagen über ziel gerichtetes, rechtsgestaltendes Handeln. 2. Deskriptive und präskriptive Sätze

Neben der Darstellung der Ziele rechtswissenschaftlicher Aussagen werden diese Aussagen selbst zum Untersuchungsgegenstand: Sowohl eine realanalytische als auch die angewandte Rechtswissenschaft formuliert ihre Aussagen in Sätzen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen.23 Die in deskriptiver Sprache formulierten Aussagen beschreiben empirische Sachverhalte und deren Zusammenhänge, machen Annahmen, formulieren Kriterien und Regeln. Es handelt sich um sogen. Indikativsätze, die über empirische Tatbestände informieren. Die in präskriptiver Sprache formulierten Aussagen sind imperativer Art, wenn sie ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, oder normativer Art, wenn sie ein be22 T. Kotarbiuski, Was sind praxeologische Sätze?, in: K. Alsleben / W. Wehrstadt (Hrsg.), Praxeologie, Acht Beiträge zur Einführung in die Wissenschaft vom leistungsfähigen Handeln aus dem Forschungszentrum für allgemeine Probleme der Arbeitsorganisation in Warschau, Quickborn 1969, S. 17 ff. 23 Vgl. hierzu näher Weimar, Explikative und normative Rechtstheorie?, S. 198 ff.

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stimmtes Verhalten als gerechtfertigt deklarieren. Es handelt sich um wertende Aussagen, die von Tatsachenaussagen zu trennen sind. Dies schließt nicht aus, dass auch eine als solche wertfrei operierende Rechtswissenschaft. wertende Aussagen dann treffen kann, wenn sie diese metasprachlich formuliert. Die Metasprache macht dabei Aussagen über eine andere (deskriptive) Sprache (wie dies z. B. auch für die Wissenschaftstheorie zutrifft). Zwischen den normativen Wertaussagen der präskriptiven Sprache und den faktischen Aussagen der deskriptiven Sprache liegt die ganze Breite relevanter Aussagen- und Satzsysteme.24 Wertungen, die sich in juristischen Werturteilen äußern, und ihre Funktionen im Rechtsleben fallen als empirische Tatbestände in den Objektbereich der Rechtswissenschaft. Diese Phänomene können beschrieben, erklärt und ggf. prognostiziert werden. So werden in der empirisch orientierten Rechtswissenschaft die tatsächlichen Entscheidungen der Rechtssubjekte und damit Wertungen als empirische Phänomene zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Diese – erst seit wenigen Jahren forcierte – rechtswissenschaftliche Erkenntnisperspektive führt zu einer Ausweitung des Problembestands vor allem dadurch, dass die normativen Zielsetzungen, insbesondere der diese verwirklichende richterliche und legislative Entscheidungsprozess einschließlich seiner basalen Elemente; zum Gegenstand der Forschung gemacht werden. 3. Satzsysteme und Verwendungszusammenhang

Das Ziel des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ist die Bildung objektiv wahrer Sätze in Form von Theorien und praktisch verwendbaren Handlungszielen. Diese Sätze lassen sich ihrer Zielsetzung entsprechend in realanalytische und operationsanalytische Satzsysteme unterteilen. Beide enthalten sowohl singuläre Sätze oder Individualsätze als auch universelle oder nomologische Hypothesen. Individualsätze und Gesetze erfüllen in ihrer Satzverknüpfung die explanatorische Aufgabe der Erklärung und Prognose sowie – unter Hinzufügung praktischer Zielsetzungen – die praxeologische Aufgabe der Entscheidung. Nomologische Hypothesen im Rahmen real analytischer Aussagen beanspruchen eine universelle Gültigkeit, sind also nicht auf spezielle Raum-Zeitpunkte be24 Zu der hier nicht behandelten Begriffstheorie vgl. statt vieler M. Herberger / D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt am Main 1980, S. 243 – 302; ferner H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie 1, 2. Aufl. München 1970, S. 36 – 41: Begriff sei die „Bedeutung eines Terminus“. Zu beachten ist, dass die relative Präzision und Konsistenz von Begriffen nur eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für die theoretische Fruchtbarkeit eines Begriffs ist; K.-D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Einführung in die Probleme ihrer Theoriebildung, Reinbek 1970, S. 146; daher ist die Methodologie oder Wissenschaftslogik in den Vordergrund zu stellen und von dieser auf das begriffliche Instrumentarium zu schließen. – Nach Albert hat an die Stelle der alten Begriffsorientierung die Problemorientierung zu treten, die die Akzentuierung von Definitionen zugunsten der Betonung von Hypothesen und Theorien fallen lässt; vgl. Albert, Probleme der Theoriebildung, S. 14.

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zogen. Indes scheint die Gewinnung nomologischer Hypothesen im Bereich der Rechtswissenschaft eingeschränkt. Die Komplexität und Variabilität des Untersuchungsgegenstands lässt zumeist nur allgemeine Hypothesen von raum-zeitlich beschränkter Gültigkeit zu. Treten in einer rechtswissenschaftlichen Theorie Hypothesen mit spezifischen Raum-Zeit-Koordinaten auf, so handelt es sich um eine Quasi-Theorie mit Quasi-Gesetzen und Quasi-Konstanten. Über dieses „formale Gerüst“ rechtswissenschaftlicher Theorie hinaus lassen sich hinsichtlich ihrer praktischen Verwendungsweise im Wesentlichen zwei Anwendungsstufen unterscheiden: Die erste Anwendungsmöglichkeit rechtswissenschaftlicher Theorie ist deren technologische Transformation oder technische Verwendung.25 Die Theorie wird hier mittels logischer Operationen in ein technologisches System transformiert, das in Bezug auf ein spezielles Problem rechtspraktische Handlungsmöglichkeiten expliziert. Es wird nach den Randbedingungen gefragt, die zu schaffen sind, damit unter Verwendung der bekannten Hypothesen das gewünschte Ergebnis eintreten kann. Das Resultat der Transformation informiert über Handlungsmöglichkeiten und ihre Konsequenzen; es enthält keine präskriptiven Aussagen. Hier handelt es sich um Sozial- bzw. Rechtstechnologie. Diese stellt eine praktisch relevante Möglichkeitsanalyse dar26, die ein kausales System (Ursache – Wirkung) in ein instrumentales Aussagensystem (Mittel – Zweck) transformiert, wobei die „Wirkungen“ als Ziele, die „Ursachen“ als Mittel aufgefasst werden. Die zweite Anwendungsmöglichkeit ist auf die Gewinnung dogmatischer Satzsysteme bezogen. Es werden Handlungsanweisungen für ein spezielles Problem „abgeleitet“, die auf bestimmte juristische Ziele bezogen sind. Diese zielbezogene Auswahl einer unter mehreren rechtlichen Handlungsmöglichkeiten (Alternativen) ist eine rechtsdogmatische Entscheidung. Ziele und Handlungsanweisungen stellen generelle oder singuläre Imperative der präskriptiven Sprache dar. Die Lösung eines Entscheidungsproblems besteht in der Ableitung eines singulären Imperativs (Handlungsanweisung) aus den generellen Imperativen (Normen) und den so genannten indikativischen Aussagen der deskriptiven Sprache über die zur Verfügung stehenden Alternativen.27 Da Entscheidungen in der Regel wegen unvollständiger Information des Entscheidungsträgers (z. B. Verwaltungsbehörde, Gericht) unter Risiko oder Unsicherheit zu treffen sind, verhindert dies die unmittelbare Übernahme des dogmatisch bzw. technologisch erarbeiteten Entscheidungsproblems in die Rechtspraxis. Daher bleibt den Entscheidungsträgern die „letzte“ Entscheidung selbst vorbehalten. Der Vgl. Albert, Probleme der Theoriebildung, S. 66 ff. Vgl. H. Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, Zur Frage der Notwendigkeit einer normativen Sozialwissenschaft, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln – Berlin 1965, S. 181 – 210 (196). 27 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 3. Aufl. Stuttgart 1965, S. 504 ff. 25 26

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Aussagengehalt praxeologischer Sätze wird dadurch in seiner Wirkung vielfach „abgeschwächt“. Realanalytische und operationsanalytische Satzsysteme ergänzen sich in dem Sinne, dass beide zur Lösung realer praxeologischer Aufgabenstellungen benötigt werden. Der Unterschied beider Satzsysteme liegt in ihrem unterschiedlichen Wahrheitswert begründet. Die operationsanalytischen Sätze tragen nichts an empirischem Wissen hinzu, was nicht die realanalytischen Sätze enthalten. Insofern ist der operationsanalytische „Erkenntnisbeitrag“ auf die logischen Beziehungen der in den realanalytischen Sätzen ausgesagten Sachverhalte beschränkt. Praxeologische Satzsysteme lassen sieh auch auf anderem Wege gewinnen: Es wird dann nicht zuerst eine andere allgemeine Theorie entwickelt, die auf konkrete Entscheidungssituationen angewendet wird, sondern sogleich mit der Lösung eines konkreten Problems begonnen. Diese pragmatische Vorgehensweise läuft auf eine ad-hoc-Konstruktion konkreter Problemlösungen hinaus.

4. Wahrheitsgehalt und methodische Theorieprüfung

Die Verwendung von Theorien zur Erklärung bzw. Prognose sowie zum praktischen Handeln erfordert, dass die Theorien wahr sind. Je nach ihrem Realitätsbezug ist dabei zwischen logischer und faktischer Wahrheit zu unterscheiden. Logische Wahrheit basiert auf der logisch-syntaktischen Struktur dieser Sätze. DiealsanalytischbezeichnetenSätzesagennichtsüberdieBeschaffenheitder realen ErscheinungenausundbedürfendeshalbkeinerÜberprüfunganderRealität. Im Gegensatz hierzu stehen die synthetischen oder faktisch determinierten Sätze, die über die Beschaffenheit realer Erscheinungen Aufschluss geben. Diese Sätze sind dann und nur dann wahr, wenn das, was sie behaupten, den Tatsachen entspricht. Die in den Sätzen behaupteten Sachverhalte müssen demzufolge intersubjektiv nachprüfbar sein. Dennoch besteht keine absolute Sicherheit darüber, ob die Aussage wahr ist, da man nicht genau weiß, ob sich ein Irrtum ausschließen lässt. Zwar ist aufgrund der jeweils anzugebenden Kriterien feststellbar, unter welchen Bedingungen eine Aussage wahr oder falsch ist; es gibt jedoch keine Methode, aufgrund welcher sicher entschieden werden kann, ob eine gegebene Aussage wahr ist. Die Möglichkeit des Irrtums erfordert deshalb, dass Theorien einer möglichst strengen Prüfung unterzogen werden, um Irrtümer aufzudecken, zu eliminieren und um damit der Wahrheit näher zu kommen. Eine erste Methode zur Prüfung einer Theorie ist deren Konfrontation mit einer alternativen Theorie. Besteht zwischen zwei Theorien ein Widerspruch, können nicht beide wahr sein. Es können beide falsch sein oder die eine Theorie wahr und die andere falsch. Jede Theorie stellt dann die Wahrheit der anderen in Zweifel. Dies führt zu einer kritischen Haltung gegenüber beiden Theorien. Sie sind einer weiteren Überprüfung und / oder Neukonzipierung zu unterziehen. Ergibt eine

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Analyse vorliegender Theorien keine Widersprüche, bedeutet dies nicht, dass die Theorien wahr sind. Sie stehen dann lediglich logisch nicht miteinander in Widerspruch. Dies trifft vor allem für disziplinäre Theorien zu. Deshalb sollte das Prüfungsfeld unbedingt auch auf die Nachbardisziplinen ausgedehnt werden. Eine zweite Methode zur Prüfung einer Theorie ist deren Untersuchung auf innere Widersprüche. Ist eine Theorie axiomatisiert und sind die Theoreme richtig abgeleitet, so reicht die Suche nach Widersprüchen zwischen den Axiomen aus, um den logischen Wahrheitsanspruch der Theorie festzustellen. Sind die Axiome widerspruchsvoll, so lassen sich kontradiktorische, d. h. logisch falsche Aussagen deduzieren. Damit ist aus der betreffenden Theorie jede beliebige Aussage ableitbar, da aus einer kontradiktorischen Aussage ihr eigenes Negat logisch folgt. Die Theorie ist somit falsch. Werden keine Widersprüche gefunden, so bedeutet dies nicht, dass die Theorie wahr ist, sondern nur, dass sie logisch widerspruchsfrei ist. Die Prüfung einer Theorie ist drittens möglich durch deren Konfrontierung mit der Realität: die logische Kritik der beiden anderen Methoden, die Konfrontierung mit Alternativtheorien oder die Suche nach theoretischen Widersprüchen, liefert nur Hinweise auf mögliche. Irrtümer. Die Bewährung ist letztlich nur an der Realität festzustellen. Die logische Kritik ist durch eine faktische Kritik zu ergänzen. Es geht dann also um die Suche nach konträren Fällen, die das Erklärungs- oder Prognoseergebnis der Theorie widerlegen. Man vergleicht die aus der Theorie abgeleiteten potentiellen Falsifikatoren mit den in der Realität tatsächlich vorkommenden Falsifikatoren. Die Prüfung einer Theorie an den Gegebenheiten der Realität wird durch den Informationsgehalt der Theorie beeinflusst. Auf die Wenn- und Dann-Komponente einer Hypothese transformiert bedeutet dies, dass mit steigendem Informationsgehalt die Dann-Komponente eines Satzes, bei gegebenem Informationsgehalt der Wenn-Komponente, der Informationsgehalt dieses Satzes insgesamt steigt (und umgekehrt). Der Satz wird bestimmt oder präziser, er schließt mehr mögliche Tatbestände aus. Steigt dagegen der Informationsgehalt der Wenn-Komponente eines Satzes, bei gegebenem Informationsgehalt der Dann-Komponente, führt dies zu einem sinkenden Informationsgehalt des ganzen Satzes (und umgekehrt). Der Satz gilt unter weniger allgemeinen Bedingungen. Sein Anwendungsbereich verkleinert sich; es können weniger Fälle erklärt und vorausgesagt werden. Aus beiden Relationen ergibt sich somit, dass größere Allgemeinheit (sinkender Informationsgehalt der Wenn-Komponente) und größere Präzision (steigender Informationsgehalt der Dann-Komponente) bei einer nomologischen Hypothese gleichzeitig größeren Informationsgehalt bedeuten.28

28 Vgl. W. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, Wien 1957, S. 108 ff.; H. Albert, Modell-Platonismus, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, S. 406 – 434 (408 f.).

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III. Wissenschaftstheoretische Anforderungen an die Rechtstheorie Die oben dargestellten Probleme bei wissenschaftlichen Aussagen deuteten die Schwierigkeiten bereits an, die der Prozess des Aufbaus einer erfahrungswissenschaftlich orientierten Theorie des Rechts mit sich bringt. Die folgenden Ausführungen knüpfen an die vorgetragene wissenschaftstheoretische Konzeption näher an. 1. Modelle rechtswissenschaftlicher Zielkonzeptionen

Dass die wissenschaftstheoretische Unterteilung in eine real- und operationsanalytische Forschungskonzeption oder – wie sich auch sagen lässt – in „reine“ und „angewandte“ Theorie im Bereich der Rechtswissenschaft möglich ist, hatte ich in den bisherigen Darlegungen immer schon explizit vorausgesetzt. Im Einzelnen ist dies wie folgt zu präzisieren: Rechtswissenschaftliche Realanalyse hat Hypothesen aufzustellen und die notwendigen Basisaussagen zu deren Bestätigung bereitzustellen; kurz: Theorien über die Struktur des Rechts und seiner gesellschaftlichen Bezüge zu entwickeln, die der explanatorischen Aufgabenstellung gerecht werden. Einen Weg, der wissenschaftlich gesicherte Erklärungen und Prognosen ermöglicht, ohne dass eine erfahrungswissenschaftliche Theoriebildung vorangeht, gibt es nicht. Explikative Rechtstheorie kann daher auf solche Theoriebildung nicht verzichten. Dabei interessiert zunehmend der empirische Prozess der Zielbildung der Mitglieder des Rechtsstabs, ein Prozess, der sich in divergierenden und veränderlichen Zielvorstellungen der Mitglieder des Rechtsstabs manifestiert und sich in der Struktur des Zielsystems der Rechtsordnung als eines sozialen Phänomens niederschlägt. Die theoretische Analyse solcher Zielkonflikte steckt freilich noch in den Anfängen. Hinsichtlich dieser neueren Forschungsaspekte z. B. in der Theorie der Rechtsprechung oder der Gesetzgebung kann es im vorliegenden Zusammenhang nicht darum gehen, einzelne Konzeptionen daraufhin zu überprüfen, ob sie den verschiedenen Anforderungen der Wissenschaftslogik genügen, sondern nur darum zu zeigen, dass auch die Rechtswissenschaft Wertungen und Werthaltungen wie deren strukturellen Wirkungszusammenhang in ihren Objektbereich einbezieht und die daraus entspringende Problematik in jüngerer Zeit zum Gegenstand von Hypothesenbildungen macht.29 Über juristische Wertungen und Werturteile als empirische Erscheinungen und ihren Einfluss auf den Entscheidungsprozess können somit deskriptive Aussagen gemacht werden. Dass Wertungen als sprachliche Äußerungen Werturteile und somit präskriptive Sätze sind, zwingt im Bereich von Theorie bzw. Technologie nicht dazu, objektsprachliche Aussagen durch die Einführung von Wertprämissen in ein 29

Vgl. etwa K.-D. Opp, Soziologie im Recht, Reinbek 1973.

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System von präskriptiven Sätzen zu transformieren30, wie dies in der juristischen Dogmatik geschieht, die Wertungen argumentativ verwendet. Der rechtswissenschaftliche Forschungsprozess umfasst darüber hinaus die Gewinnung operationsanalytischer Aussagen sowie deren Verbindung mit realanalytischen Aussagen zur Realisierung der rechtspraxeologischen Aufgabenstellung. Die Verfolgung beider Wissenschaftsziele – des theoretischen und des pragmatischen – im Hinblick auf eine Praxeologie des Rechts ist jedoch insofern nicht ganz problemlos, als jedes dieser Ziele den Einsatz unterschiedlicher Forschungsinstrumentarien bedingt. Wird die theoretische Analyse (Realanalyse) bevorzugt, kann dem Rechtswissenschaftler selbstverständlich nicht vorgehalten werden, er müsste sich eigentlich der Operationsanalyse in Gestalt der Dogmatik bzw. Rechtstechnologie zuwenden und damit dem pragmatischen Teilziel der Rechtswissenschaft folgen. Es ist jedoch die Frage aufzuwerfen, wer den jeweils anderen Analysebereich bearbeitet. Da die Rechtstheorie als Realanalyse einen besonders komplexen Forschungsgegenstand beinhaltet, der in der Regel von einem Forscher gar nicht zu bewältigen ist, sind die entsprechenden Forschungsansätze subjektiv vielfältig. Eine „einheitliche“ Ausrichtung sowohl innerhalb der Theorie oder der Dogmatik als auch deren Verbindung zur Lösung bestimmter Probleme wird dadurch weitgehend erschwert. Beschreibungsansätze auf der Seite der Theorie (Realanalyse) und kasuistische Problemlösungen auf der Seite der Dogmatik (Operationsanalyse) sind die Folge. Es werden einzelne Aspekte des jeweiligen Problems behandelt, ohne dass deren Mehrdimensionalität erkannt wird. Rechtstheorien benutzen als Auswahlkriterium den wie auch immer verstandenen „juristischen“ Aspekt, den sie auf ihren Forschungsgegenstand projizieren, um ihn von dem anderer gegenstandsrelevanter Disziplinen abzugrenzen. Es wird ein Teilaspekt eines komplexen Problems betrachtet im Sinne einer eindimensionalen Theorie des Rechts. Eine multidimensional ausgerichtete Rechtstheorie führt dagegen zu einer Öffnung, zu einem überschreiten der bisherigen disziplinären Abgrenzung mittels eines erweiterten Auswahlkriteriums. Wird der instrumentale Charakter dieses Auswahlprinzips erkannt und die Anwendung dieses Prinzips flexibel gehandhabt, so können zahlreiche Dimensionen eines Problems innerhalb der Rechtswissenschaft selbst behandelt werden. Neben die formalstrukturelle Betrachtungsweise des Rechts treten z. B. rechtssoziologische, rechtshistorische, rechtspsychologische, rechtsanthropologische usw. Betrachtungsweisen, indem die rechtswissenschaftliche Theoriebildung auf die Forschungsergebnisse dieser relevanten Ansätze zugreift. Rechtswissenschaft kann sich daher zwar durchaus in engem Sinne „disziplinär“ verstehen, ausgerichtet auf die normativen Aspekte des Rechts, nur wird sie dann 30 Wer zwischen normativen Systemen als empirischen Phänomenen (z. B. Verfassung, Wertsysteme von Richtern, Verwaltungsbeamten und Parlamentsmitgliedern) und Theorien über diese Systeme, also zwischen der Ebene der Gegenstände und der Objektsprache unterscheidet, gerät nicht in ein methodologisches Dilemma.

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zur bloßen Norm- oder Formalwissenschaft, sie kann sich aber auch integrationsorientiert etablieren, indem andere rechtlich relevante, vor allem soziale Aspekte des Rechtssystems ebenfalls behandelt werden. Solche Theoriebildung nicht der Rechtswissenschaft zuzuordnen, wie dies in manchen Rechtsfakultäten immer noch zu beobachten ist und einem nicht adäquaten Theorieverständnis von Rechtswissenschaft entspricht, ist eine Form von Selbstgenügsamkeit, die dem rechtswissenschaftlichen Forschungsprozess nur abträglich sein kann, Das Gebot integrationsorientierter Ausweitung des Forschungsfeldes „Recht“ im Sinne einer „integrativen Basistheorie des Rechts“ (Dreier) ergibt sich aus der wissenschaftstheoretischen Forderung, informationshaltige Theorien abzuleiten, die letztlich nur als sozialwissenschaftlich fundierte Theorien konzipiert werden können, wenn sie zur Prognose und Gestaltung beitragen sollen. Dass dabei Theorien nicht an „Disziplinen“, sondern zweckmäßigerweise an Problemen „übergreifend“ zu orientieren sind (Paradebeispiele: Entscheidung, Normenwandel, Rechtsgefühl), sollte nicht länger ignoriert werden (freilich – es gibt inzwischen Ausnahmen). Der rechtswissenschaftliche Forschungsprozess zur Bewältigung praxeologischer Aufgabenstellungen ist nur schrittweise zu realisieren; und dies um so mehr, als das bisherige theoretische Wissen noch gering ist und die Aussagen sich zumeist in Definition, bloßer Deskription oder dogmatischen ad-hoc-Konstruktionen erschöpfen. Soweit es im rechtswissenschaftlichen Forschungsprozess um die soziale Komplexität des Rechtssystems geht, bedingt dies unterschiedliche Strategien. Die Rechtsforschung sollte daher in Bezug auf ihr Objekt mehrdimensional und in Bezug auf ihren Prozess und die Methoden mehrstufig aufgebaut sein; denn nur so lassen sich die Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen komplexer rechtlicher Zusammenhänge erfassen und zielgerichtet verarbeiten. Auf die Mehrstufigkeit des Forschungsprozesses zum Aufbau einer umfassenden Theorie des Rechts und die Mehrstufigkeit der anzuwendenden Methoden sowie deren Wechselbeziehung ist im Folgenden noch einzugehen.

2. Plädoyer für Hypothesenorientierung

Der Forschungsprozess und die im Einzelnen erforderlichen Aktivitäten für den Aufbau einer umfassenden Theorie des Rechts lassen sich in verschiedene Phasen aufteilen. Zu Beginn der Forschung geht es um terminologische und deskriptive Aussagensysteme. Daran schließen sich Aktivitäten der Hypothesenformulierung oder Theoriekonstruktion an. Soweit Hypothesen über rechtliche Zusammenhänge formuliert sind – ein Stadium, das die rechtswissenschaftliche Theoriebildung freilich noch kaum erreicht hat –, gilt es, diese auf ihren empirischen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Phase der Hypothesenformulierung und Theorieüberprüfung umfasst die Bildung theoretischer Aussagensysteme. Aus diesen werden technologische oder praxeologische Aussagensysteme entwickelt, die Handlungsmöglich-

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keiten bzw. -empfehlungen hinsichtlich rechtlicher Probleme beinhalten. Diese Schritte wissenschaftlicher Arbeit stellen konkret ein viel verzweigtes Netz von Vor- und Rückkopplungsprozessen dar. Die am Beginn jeder echten Theoriebildung notwendige Phase der Orientierung, in der die Rechtswissenschaft heute – pauschal gesehen – steht, geht auf einen vom Forscher erkannten Problemgegenstand zurück. Dabei kann es sich um ein neues Problem handeln oder um ein bisher ungelöstes Problem. Den Problemgegenstand unterzieht der Forscher terminologischen und deskriptiven Studien, um hieraus Anhaltspunkte zur Hypothesenformulierung zu gewinnen und die Abgrenzung des Objekts zur Formulierung exakter Aussagen sicherzustellen. Diese Phase, die der eigentlichen Theoriebildung vorangeht, bestimmt weitgehend den Aussagegehalt der zu formulierenden Theorie. – Demgemäß sollte rechtswissenschaftliche Forschung künftig hypothesenorientiert operieren und aus dem Stadium bloßer Begriffsorientiertheit herausfinden. Sie darf ihren Reichtum an Begriffen nicht länger. mit einem Reichtum an Informationen gleichsetzen.31 Die Überprüfung des sprachlichen und begrifflichen Instrumentariums an der Theorie ist allerdings in einem anderen Zusammenhang problematisch und begrenzt. Da im Bereich der Rechtswissenschaft bisher kaum das Theoriestadium erreicht ist und ihr Wissensbestand sich auf begriffliche Ansätze beschränkt, ist eine Ableitung der Beurteilungsmaßstäbe aus der Theorie noch nicht möglich. Begriffs- und Bedeutungssysteme sind nur Bestandteile auf dem Weg zur Theoriebildung. Sie können daher, solange keine Theorie existiert, nur an Maßstäben orientiert werden, die den Erkenntnisprozess generell fördern. Zu den Maßstäben der Theorie selbst (informativ, objektiv wahr) stehen sie in einem Mittel-ZweckVerhältnis. Diese Ersatz-Maßgrößen sind in der präzisen und konsistenten Verwendung von Begriffen zu sehen oder – zusammengefasst – in der Operationalisierung von Begriffen. Die Operationalisierung oder Übersetzung eines Begriffs in Beobachtungsereignisse ist dabei ein wichtiger Bestandteil, der freilich erst in einem späten Stadium der Rechtstheorie erreichbar erscheint. Es ist sehr schwierig, den Beziehungszusammenhang komplexer Wirkfaktoren im Bereich des Rechts übersichtlich darzustellen. Der Wirkungszusammenhang der verschiedenen Einflussgrößen wird regelmäßig nicht hinreichend deutlich. Hier hat die Operationalisierung ihre Grenzen, die im komplexen Objekt des rechtswissenschaftlichen Bereichs begründet liegen, dessen Variablen sich größtenteils per se einer Operationalisierung und erst recht einer Quantifizierung entziehen – Verfahrensweisen, auf die so genannte exakte Wissenschaften immer schon zurückgreifen können. Die aus der Formulierung und Operationalisierung von Begriffen sich ergebenden Zusammenhänge lassen zumeist Schlüsse über die Beziehungen zwischen relevanten Variablen zu. Es lassen sich einfache Korrelationen feststellen, die das empirische Material transparenter machen und die Anhaltspunkte zur Formulie31

Dazu Albert, Modell-Platonismus, S. 419.

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rung von Hypothesen geben. Da bestimmte Eigenschaften bei bestimmten Klassen von Beobachtungseinheiten auftreten, ist es möglich, zur weiteren Vorbereitung der Theoriebildung Typologien zu bilden. Eine Beschränkung auf überschaubare Typenkomplexe im Recht erscheint im Anfangsstadium notwendig. Diese Einschränkung ist nicht unbedingt mit der Forderung nach räumlich und zeitlich begrenzten Theorien gleichzusetzen (Quasi-Theorien). Unterschiedliche Rechtsstrukturen in einzelnen Ländern, vor allem aber divergente Anwendungsweisen ein und derselben Rechtsnorm warnen zwar vor einer Verallgemeinerung der Quasi-Hypothesen. Andererseits stellen Quasi-Theorien gegenüber dem bisherigen Erkenntnisstand einen Fortschritt dar. Raum- und Zeitbedingungen vertreten indes nur andere sachliche Bedingungen, die noch unbekannt sind. Es gilt daher, die Quasi-Theorien auf die ihnen zugrunde liegenden empirischen Bedingungen zurückzuführen (strukturelle Relativierung).32 Mithin liegt es nahe, zwischen allgemeiner und konkreter Anwendbarkeit einer Theorie einen Kompromiss zu schließen, um nicht informative, aber falsche Theorien oder informationslose, aber wahre Theorien abzuleiten.33 3. Abkehr vom Falsifikationskriterium?

Ein weiterer Schritt der Theoriebildung besteht in der Formulierung von Hypothesen oder Theorien. Dieser Prozess geht aus von dem bestehenden Wissen, das aus früheren Orientierungen stammen kann, aus vergangenen Erfahrungen mit ähnlichen Problembereichen oder aus der Analyse falsifizierter und modifizierter Theorien. Es können vorab Arbeitshypothesen aufgestellt werden, die im Laufe des weiteren Forschungsprozesses verallgemeinert, präzisiert oder verworfen werden. Die Beschränkung der Hypothesenformulierung (z. B. auf richterliches Verhalten in eng abgegrenzten Rechtsbereichen) hat zugunsten einer größeren Bestimmtheit der Aussagen eine Verringerung ihres Allgemeinheitsgrades zur Folge. An das Problem der Hypothesenformulierung schließt sich deren Prüfung an der Realität an. Das hierfür bisher (auch) im Bereich der Sozialwissenschaften als notwendig erachtete Falsifikationskriterium bedarf bei der Anwendung auf Aussagen über rechtliche Phänomene m. E. einer Revision. Da es vorerst nur in relativ engen Grenzen möglich sein wird, in rechtlich akzentuierten Tatbeständen „gesetzmäßige“ Beziehungen festzustellen, scheint ein so rigoroses Wahrheitskriterium, wie das der Falsifikation, nicht sinnvoll. Gesetzmäßigkeiten finden lediglich in der bisherigen Erfahrung mehr oder weniger eine Bestätigung.34 Ihnen kann deshalb 32 H. Albert, Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, S. 126 bis 143 (133 f.). 33 Dieser Spielraum wird durch die Anwendungsbedingungen der Theorie bestimmt. Er ist stets Ausdruck der unterschiedlichen Allgemeinheit von Theorien – nicht nur in der Rechtswissenschaft. 34 Vgl. dazu N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968, S. 13 ff.; ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1967, S. 143 – 154 (635 f.).

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nur eine induktive Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden. Dienen rechtswissenschaftliche Theorien im Rahmen der Prognose (z. B. bei richterlichen Entscheidungen) als Instrumente der Überprüfung, so ist ein möglichst hoher Informationsgehalt angebracht.35 Was schließlich die Möglichkeit einer normativen Überprüfung von Normhypothesen angeht, so scheidet sie bei der von mir zugrunde gelegten non-kognitivistischen Perspektive grundsätzlich aus. Weder können danach Normen und Werte als wahrheitsfähig angesehen werden noch kann die Rechtswissenschaft als Wissenschaft die Frage nach dem „richtigen“ Sollen zu ihrer Aufgabe machen.36 Die Verneinung der Möglichkeit von Erkenntnis, was richtigerweise sein soll, schließt freilich nicht aus, dass „relativ zu gewissen Zielen oder Werteinstellungen erkannt werden kann, was diesen Voraussetzungen entspricht“.37 Insoweit können Wertungen im Bereich rechtsdogmatischer Argumentation die Funktion der Überprüfungsbasis übernehmen.38 Dies alles kann an dieser Stelle verständlicherweise nicht weiter vertieft werden. Wegen der offenen vielfältigen Fragen im Bereich rechtswissenschaftlicher Theoriebildung bleibt aus wissenschaftstheoretischer Sicht vorläufig nur festzustellen, dass der entscheidende Beitrag zum Erkenntnisfortschritt, den eine Theorie-Diskussion leisten kann, wohl die neuen Probleme sind, die sie aufwirft. Ist TheorieDiskussion in der Rechtswissenschaft vielleicht der nächste Schritt?

35 Vgl. R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969, insbes. S. 161 ff.; ders., Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: Einsicht, Auslegung und Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 81 ff. 36 Zu Einzelheiten vgl. R. Weimar, Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Memoria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y filosofía Social (I.V. R.), Mexico 1982, Bd. IX, S. 225 ff.; ders., Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt – Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: W. Krawietz / H. Schelsky / N. Achterberg (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, in: Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423; s. auch ders., Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?, in: Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung, Festschrift für Karl Klein zum 70. Geburtstag, Siegen 1982, S. 664 – 685. 37 O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik, Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen, Berlin 1981, S. 77; vgl. auch ders., Die Norm als Gedanke und Realität, in: ÖZöR 20 (1970), S. 203 – 216. 38 E. v. Savigny (u. a.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München 1976, S. 144 sieht darin geradezu eine Herausforderung für die Wissenschaftstheorie. Zu dieser Problematik s. schon R. Wohlgenannt, Was ist Wissenschaft?, Braunschweig 1969, S. 192 ff.; vgl. auch O. Weinberger, Faktentranszendente Argumentation, in: Zeitschrift f. allg. Wissenschaftstheorie VI 2 (1975), S. 235 – 251.

Explikative oder normative Rechtstheorie?* Der Streit um das dieser Fragestellung zugrunde liegende und mit ihr gemeinhin assoziierte so genannte Wertfreiheitsprinzip ist noch so jung wie das methodenbewusste wissenschaftliche Bemühen um die Erfassung gesellschaftlicher Vorgänge überhaupt1: Seit Max Weber das Postulat der Wertfreiheit in die wissenschaftstheoretische (und -politische) Diskussion einführte, bildet es, wenn auch teilweise unter anderen Bezeichnungen, z. B. „Kritische Theorie“, „Theorie-Praxis-Verhältnis“, ein zentrales Thema insbesondere der Sozialphilosophie und der einzelnen Sozialwissenschaften; in der rechtswissenschaftlichen Debatte hat es nicht den gleichen breiten Raum eingenommen, obwohl es ohne Beschränkung auf die „klassischen“ Sozialwissenschaften gilt2. Seinem Inhalt nach bezieht sich das Wertfreiheitspostulat auf eine Vermeidung der „schädlichen Auswirkungen undurchsichtiger Verschlingungen von Wert- und Beobachtungsaussagen“3. Es verhindert, wenn es beachtet wird, dass wissenschaftliche Streitigkeiten „gewissermaßen von der falschen Instanz entschieden werden“.4 I. Rechtstheorie zwischen juristischer Dogmatik und Rechtsphilosophie Geht man davon aus, dass Rechtstheorie und dogmatische Jurisprudenz in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, wie dies Werner Krawietz aufgrund der aus wissenschaftstheoretischen Gründen notwendigen „Arbeitsteilung zwischen rein analytischen und den normativen Disziplinen der Rechtswissenschaft“5 überzeugend herausgearbeitet hat, dann zeigt sich unter dem Aspekt der möglichen Wertfreiheit schon vorab, dass es sich bei der juristischen Dogmatik „um den in * Erstveröffentlichung in: I. Tammelo / A. Aarnio (Hrsg.), Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik. Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214. Berlin: Duncker & Humblot 1981. 1 J.-M. Priester, Das Prinzip der Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften und das L’artpour-l’art-Prinzip in der Kunst, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, Karlsruhe 1971, S. 35. 2 Vgl. R. Dubischar, Vorstudium zur Rechtswissenschaft, Stuttgart 1974, S. 33 f. 3 Priester, S. 43. 4 Ebd. 5 W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 202.

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präskriptiver Absicht erzeugten, . . . letztlich auf Wertungen basierenden, durch die praktischen Entscheidungsbedürfnisse bedingten, juristischen Entscheidungsvorschlag und Argumentationszusammenhang handelt, dessen Erarbeitung zu den täglichen Geschäften dogmatischer Rechtswissenschaft gehört“6. Juristische Dogmatik wird in diesem Sinne nicht wertfrei betrieben; ihre Aussagen sind normativ (praktisch). Juristischer Dogmatik liegt demgemäß ein nicht-empirisches Selbstverständnis zugrunde7. Dem dogmatischen Denken ist hiernach der Theoriecharakter, wenn auch nicht die Rationalität schlechthin abzusprechen8. Denn das rechtliche und das theoretisch abbildende Sprachspiel ist nicht identisch, sondern der Art nach verschieden9. Im Gegensatz zur juristischen Dogmatik kommt der Rechtstheorie eine beschreibende und erklärende Funktion zu. Ob sie darüber hinaus eine normative Funktion erfüllt, hängt wesentlich von der Gestaltung ihrer Aufgaben ab. Die Ansichten hierzu sind geteilt. So nimmt etwa Arthur Kaufmann an, die Rechtstheorie habe, wiewohl sie Theorie sei, eine praktische, rechtspolitische Aufgabe: durch fortwährende Kritik des dogmatischen „Wissenschaftsbetriebs“ das Recht qualitativ umzugestalten, es gerechter, menschlicher zu machen – und das heiße zugleich: die Gesellschaft auf die Gerechtigkeit hin zu verändern10. Will jedoch eine Theorie des Rechts sein und bleiben, was ihr Name sagt, nämlich Theorie, wird sie Aufgaben gesellschaftlicher Veränderung, also genuin politische Zielsetzungen, nicht zu ihrem Wissenschaftsprogramm rechnen. Dem widerspricht es nicht, dass Theorie praktisch relevant sein kann. Nur ist der Praxisbezug in der theoretischen Einstellung, in der Hingabe an die Sache, nicht intendiert, sondern tritt zu ihr hinzu. An diesem Sinn von „Theorie“ nimmt nur eine Rechtstheorie teil, die „unter Zurückweisung aller die Reflexion einengenden Dogmen“11 die Wirklichkeit des Rechts erforscht. Dass dabei auch Werturteile wissenschaftlich überprüfbar sind, impliziert zwar die Möglichkeit, nicht aber die Notwendigkeit „normativer Wissenschaft“. Von dort erscheint es jedenfalls verständlich, dass kein Konsens darüber besteht, ob „die Rechtstheorie ihre einzige Aufgabe darin hat, das Phänomen Ebd., S 213. Zu einem „empirisch-analytischen Selbstverständnis“ der juristischen Dogmatik vgl. R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 2 (1971), S. 37 ff. 8 G. Ellscheid, Zur Forschungsidee der Rechtstheorie, in: Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 8. 9 Ebd.: „Wenn ,Recht‘ sagt, was sein soll, und wenn dieser Sollenscharakter stets mitverstanden sein muß, sofern man das Wort in einer rechtlichen Argumentation sinnvoll anwenden will, so steht man mit ihm immer schon in einer a-theoretischen Redeweise, mag dies auch durch ein Mißverstehen des verwendeten Sprachspiels unbewußt bleiben.“ Dieser Ansicht von Ellscheid dürfte zuzustimmen sein. 10 Kaufmann, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 3. 11 Ellscheid, S. 7. 6 7

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des Rechts zu erkennen oder zu verstehen“12. Es werde von ihr – führt Ilmar Tammelo aus – u. a. erwartet, dass sie auch zur Gestaltung des Rechts beitrage. Man dürfe und solle von ihr erwarten, dass sie „unparteiisch, ungebunden, den Zwecken des vernünftigen Denkens und Handelns dient“13. Eine heutige Rechtstheorie dürfe nicht als Rechtfertigungsgrund von ideologischen Bekenntnissen oder überhaupt für ethische Urteile verwendet werden14. Nach Tammelo ist es die Aufgabe der Rechtstheorie – im Gegensatz zur Rechtsphilosophie –, „nur Denkmittel zur Verfügung zu stellen, die keine Basis abgeben, von der man ethische Urteile ableiten könnte“15. Was den Gegenstand der Rechtstheorie angeht, bin ich im Wesentlichen mit Kaufmann der Meinung, dass sich „hier noch alles im Fluß“ befindet und das „Formalobjekt der Rechtstheorie noch so unkonturiert [ist], daß es schwerlich gelingen kann, sie exakt von der Rechtsphilosophie einerseits und der Rechtsdogmatik andererseits abzugrenzen“16. Für den vorliegenden Zusammenhang bedarf diese Frage keiner weiteren Vertiefung; jedoch setzt die Werturteilsproblematik ein empirisch-kognitives Untersuchungsobjekt der Theorie voraus17, soll das Wertfreiheitspostulat in Bezug auf sie diskutierbar sein, Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn man – wie. insoweit auch Krawietz annimmt – trotz mancher Abgrenzungsschwierigkeiten Rechtstheorie als diejenige Disziplin begreift, die einerseits prinzipiell unabhängig von den spezifischen Interessen der juristischen Dogmatik, andererseits in Abgrenzung von rechtsphilosophischen Konzeptionen als „rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung“ betrieben wird, für die Rechtsnormen empirische Phänomene in dem Sinne darstellen, dass sie Gegenstand rationaler wissenschaftlicher Behandlung sein können18. Versteht man Rechtstheorie nicht nur in einem eher verengten Zuschnitt als „Theorie der Rechtsnonnen“, sondern weitergehend als „Theorie der Rechtswirklichkeit“, zu der die empirisch vorfindbare Rechtsdogmatik gehört, ist auch „Theorie der juristischen Dogmatik“ ein Bestandteil der Rechtstheorie19.

12 I. Tammelo, Was darf und soll man von der Rechtstheorie heute erwarten?, in: A. Peczenik / J. Uusitalo (eds.), Reasoning on Legal Reasoning, Vammala 1979, S. 96. 13 Ebd., S. 101. 14 Ebd., S. 102. 15 Ebd. 16 A. Kaufmann, Wozu Rechtsphilosophie heute?, Frankfurt an Main 1971, S. 21. 17 Den empirischen Aspekt bejaht neben einem analytischen Aspekt I. Tebaldeschi, Rechtswissenschaft als Modellwissenschaft, Wien – New York 1979, S. 135. 18 Krawietz, S. 219 f. 19 Anders Krawietz, S. 219. Um die verschiedenen Aufgaben der Rechtstheorie bewältigen zu können, vermag der Rechtshistoriker auch nicht mit einer einzigen Methode auszukommen. Hierzu führt Tammelo, S. 101 aus: „Heute scheint es undenkbar zu sein, daß die Rechtstheorie nur die logische oder strukturanalytische Methode anwendet und etwa von den soziologischen oder psychologischen Methoden absieht.“ Hierzu ließen sich freilich „Gegenbeispiele“ nennen.

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Ist damit die Möglichkeit von Rechtstheorie als einer „empirischen Theorie“ umrissen, für die das Wertfreiheitsproblem relevant sein kann, fragt es sich zunächst, welcher „Sinn“ dem Wertfreiheitspostulat zukommt.

II. Zum „Sinn“ von Wertfreiheit als Wissenschaftsideal der Rechtstheorie Die explikative oder normative Zielsetzung als Wissenschaftskonzeption ist ein Konstituens für das Wissenschaftsverständnis einer Disziplin, und seine explizite Formulierung ist der notwendige Referenzpunkt bei der Suche nach der adäquaten sprachlichen Gestaltung der wissenschaftlichen Erkenntnis. In den Rechtswissenschaften scheint diese Frage nach der Zielsetzung problematisch zu sein; zumindest wird das Problem der Klärung des Wissenschaftsziels wie des Wissenschaftscharakters meist nicht ausdrücklich in einer Konfrontation der explikativen mit der normativen Aufgabenstellung und ihren Implikationen gesucht. Dies mag in der verbreiteten Meinung begründet liegen, die Beschaffenheit des „Objekts“ (Wertungen und Normen) spiele hier im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine bestimmte Rolle und begründe in den Rechtswissenschaften eine eigenständige Problematik. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn (und soweit) Rechtswissenschaft mit juristischer Dogmatik („Wertungsjurisprudenz“) gleichgesetzt wird. Der „Sinn“ der Wertfreiheit, der zu einer umfassenderen Sicht des Problems verhilft, lässt sich nur dann angemessen abschätzen, wenn man das Wertfreiheitsproblem mit der Perspektive der neueren Wissenschaftslogik konfrontiert und die gebräuchlichen Deutungsvarianten des Terms „wertfreie Wissenschaft“ in diesem Rahmen analysiert. Fordert man „wissenschaftliche Objektivität“, scheint es unmöglich zu sein, eine Wert setzende Wissenschaft zu konstituieren. Dieses Problem führt in komplexe Aufgabenstellungen der Rechtswissenschaften, die die logischen Perspektiven und wissenschaftstechnologischen Konsequenzen der Wahl zwischen explikativer und normativer Zielsetzung in ihrem Bereich bisher eher verdunkeln, als deutlich herausgehoben haben. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der Rechtswissenschaften, wo sich das Wertfreiheitsprinzip bisher kaum hat durchsetzen können. Da das Problem bislang nicht einmal als eindeutig formuliert, geschweige denn als geklärt gelten kann, ist es eigentlich wenig verständlich, dass das Wissenschaftsziel der Rechtswissenschaften und die damit verbundenen Konsequenzen nur vergleichsweise wenige Autoren zu beschäftigen vermochte, die sich überwiegend auf methodologische Reflexionen beschränkten, ohne die wissenschaftliche Praxis näher zu durchleuchten20; bei den übrigen Ver20 Bei diesem mangelnden Bemühen um eine Trennung von deskriptiven und normativen Aussagen kann man sich eigentlich nur darüber wundern, dass die Rechtstheorie als Fundgrube der Werturteils- bzw. Ideologiekritik bisher weitgehend noch unerschlossen geblieben ist.

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tretern der Rechtswissenschaft finden sich nur gelegentlich einige Äußerungen zum Thema „Wertfreiheit“21. Die mit der Anwendung des theoretischen Wissens für den Juristen verknüpften Probleme der Wahrung der „Objektivität“ bei der Arbeit an praktischen Aufgabenstellungen in Staat und Gesellschaft enthalten im Kern die Werturteilsproblematik, deren jeweilige Interpretation die Lösung determiniert22. Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer systematischen Behandlung des Grundlagenproblems „wertfreie Wissenschaft“ für das Verständnis der Rechtswissenschaften. Einen ersten Zugang zur Klärung der Wertproblematik in den rechtswissenschaftlichen Disziplinen ermöglicht die moderne Sprachanalyse23, die eine Sinnanalyse der Werturteile gestattet. Es geht dabei darum, die logische Grammatik, die Gesamtheit der Gebrauchsregeln normativer Aussagen offen zu legen. Auf diese Weise kann der Unterschied zwischen den sprachlichen Verwendungsregeln der Wertausdrücke und denen der deskriptiven Aussagen verdeutlicht werden24. 21 Eine solche Untersuchung, die nicht innerhalb der primären Zielsetzung meiner Analyse liegt, würde aufzeigen, wo bei der Anwendung theoretischen Wissens die theoretische Fundierung des Handelns – bewusst oder unbewusst – mit dem Versuch seiner Formung Hand in Hand geht oder mit ihr verwechselt wird. Der Widerspruch zwischen dem Bekenntnis einer wertfreien Wissenschaft und dem tatsächlichen Tun dürfte jedenfalls als gewichtiges Indiz dafür anzusehen sein, dass über die logische Grammatik des Ausdrucks „wertfreie Wissenschaft“ und die wissenschaftslogischen Konsequenzen einer explikativen Zielsetzung Unklarheit und Unsicherheit herrschen. Vgl. nur etwa N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968, S. 239. 22 Die unbefriedigende gegenwärtige Situation in der Rechtswissenschaft erklärt sich teilweise daraus, dass, von einigen jüngeren Veröffentlichungen abgesehen, die erkenntniskritische Diskussion keine genügende Kenntnis von der neueren Wissenschaftslogik zu nehmen pflegt. Die Vernachlässigung der modernen Wissenschaftstheorie erscheint um so bedenklicher, als es sich beim Wertfreiheitsproblem um eine Frage handelt, die zu den „Grundproblemen der Wissenschaftstheorie überhaupt zählt“; W. Weber / E. Topitsch, Das Wertfreiheitsproblem seit Max Weber, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. XII (1952), S. 158. Damit sei es auch „unerläßlich, . . . die philosophische Basis des Streites um eine wertfreie Wissenschaft mitzuberücksichtigen“. 23 Ihre Anwendung ist eines der Kennzeichen der analytischen Werttheorie. Vertreter dieser Theorie sind z. B. im deutschen Sprachraum: V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl., Wien 1951; E. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958; H. Albert, Das Werturteilsproblem im Lichte der logischen Analyse, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 112 (1956), S. 410; ders., Das Wertproblem in den Sozialwissenschaften, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 94. Jahrgang (1958), S. 335; ders., Wissenschaft und Politik, in: E. Topitsch (Hrsg.), Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1960, S. 210; H. Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln – Berlin 1965, S. 181. 24 Zugleich legen wir damit auf metasprachlicher Ebene fest, was wir unter den Ausdrücken „Werturteil“ bzw. „Wertbegriff“ bzw. „normative Aussage“ („normatives Urteil“) verstehen wollen. Bei diesen Festlegungen bewegen wir uns im Bereich der Meta-Ethik: die logische Analyse der Sprache der moralischen Forderungen zählt zu deren Untersuchungsobjekt.

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Werturteile lassen sich in einer ersten Annäherung als Aussagen auffassen, die einen Bezug auf Sollensprinzipien aufweisen, als Urteile also, die wegen dieses Bezugs allgemein als Anweisungen zu einem bestimmten Sollen oder als Stellungnahmen zu verstehen sind25. Dieser „vorschreibende“ Charakter ist es, der es nicht gestattet, auf die normativen Aussagen das Deutungsmuster für deskriptive Sätze anzuwenden, mit deren Hilfe Zustände, Ereignisse, Entscheidungen usw. beschrieben werden, Tatsachen erklärt und künftige Sachlagen prognostiziert werden können. Werturteile bzw. Wertbegriffe werden der präskriptiven Sprache als Teilklasse zugeordnet. Grundsätzlich lassen sich in normativen Aussagen, genauer, bei den in normativen Aussagen auftretenden Wertausdrücken, eine empirisch-deskriptive Sinnkomponente, die einen bestimmten, von dem Urteilenden gemeinten Sachverhalt beschreibt und die den kognitiv-informativen Gehalt der Werturteile repräsentiert (das mehr oder minder breite fundamentum in re), und eine normative Sinnkomponente unterscheiden. Diese konstituiert den eigentlichen Wertcharakter der normativen Aussagen und verleiht ihnen ihren normativen Gehalt. Dieser besteht in einer positiven oder negativen Auszeichnung des durch die Aussage beschriebenen Sachverhaltskomplexes („Gegenstands“) durch Wertausdrücke wie z. B. „gut“, „gerechtfertigt“, „schlecht“ im Hinblick auf bestimmte Sollensprinzipien, für die Allgemeinverbindlichkeit postuliert wird und von denen sich auch der Verbindlichkeitsanspruch der in den Werturteilen enthaltenen Anweisungen herleitet. In der normativen Sinnkomponente der Wertausdrücke liegt deren präskriptive Funktion, die „Wurzel des Wertphänomens“26. Die logische Struktur normativer Aussagen (im Unterschied zu den Sachaussagen) führt sozusagen zur „Auflösung“ der in der normalen Sprache implizierten grammatischen Einheit27 von Sein und Sollen durch die Unterscheidung in eine deskriptive und. in eine normative Sinnkomponente, die die Werturteile kennzeichnet. Hier liegt einer der Angelpunkte der Werturteilskontroverse: Gemeint ist die Frage des logischen Charakters der Wertprämissen normativer Systeme. Lassen sich Werturteile als „Erkenntnisse über Werte“ in dem Sinne auffassen, dass die Grundnormen mit wissenschaftlichen Methoden als „wahr“ oder „falsch“ präsentiert werden können? Lassen sich normative Urteile analog empirisch-kognitiven behandeln, indem man sie dem gleichen Wahrheitsentscheid unterwirft? Dass diese Fragen heute nicht mehr zu bejahen sind, hat vor allem die analytische Philosophie dargetan. Es sollen daher nicht sämtliche Argumente nochmals angeführt werden, Vgl. Kraft, S. 209. Ebd., S. 28. 27 In der Alltagssprache vollzieht sich, fast unmerklich, eine oft nur schwer differenzierbare Vermengung deskriptiver und normativer Aussagen, sodass die Grenzen zwischen Werterkenntnis und Sacherkenntnis verfließen und der erkenntnistheoretische Dualismus von Sein und Sollen in das Bewusstsein des Sprachbenutzers nicht vordringt. Zur Kluft zwischen Sein und sollen vgl. Krawietz, S. 236 f. 25 26

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

die einer kognitiven Interpretation normativer Urteile entgegenstehen; ich möchte mich mit einigen kurzen Hinweisen hier begnügen. Einer der Gründe, Werte als „materiale Gegenstände“ analog empirischen Objekten zu behandeln, dürfte darin zu erblicken sein, dass in der Umgangssprache Sätze, die Wertungen ausdrücken, und solche, die Prädikationen zum Inhalt haben, dieselbe grammatikalische Form besitzen. Die beiden Aussagen „Der Tisch ist beschädigt“ und „Die Demokratie ist gut“ sind scheinbar von derselben logischen Beschaffenheit. Da im ersten Satz einem Element einer Klasse empirischer Objekte eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird und der im zweiten Satz auftauchende Wertbegriff ebenso durch ein Adjektiv bezeichnet wird wie im ersten Satz die Eigenschaft des Tisches, beschädigt zu sein, kann dies zu der Annahme verleiten, dass es sich im zweiten Satz bei dem Wertakzent auch um eine Eigenschaft handle, sodass, wie Max Scheler meinte, „die Wertbegriffe . . . in selbständigen Phänomenen ihre Erfüllung finden“28. Werte werden dann einfach als von individueller Einschätzung unabhängige Qualitäten angesehen, die als „materiale Gegenstände“ hinter den jeweiligen Wertausdrücken zu suchen seien. Normative Aussagen müssten dann wie deskriptive Urteile als wahrheitsfähige Aussagen behandelt werden. Die Annahme, deskriptive Sätze und normative Urteile ließen sich unter die nämliche Aussagekategorie subsumieren, erweist sich jedoch als fragwürdig. Werturteile zählen ihrer logischen Grammatik nach nicht zur deskriptiven, sondern zur präskriptiven Sprache. Durch ihre nicht-deskriptive Bedeutsamkeitskomponente tun sie eine Einstellung des wertenden Subjekts zu empirischen Gegebenheiten kund, d. h. zum neutralen Sachgegenstand der normativen Aussage, die für andere als allgemein verpflichtend angesehen wird (pragmatische Funktion der Sprache der normativen Urteile). Die Wertprädikate beschreiben nicht wie die deskriptiven Prädikate Eigenschaften empirischer Objekte, sondern drücken eine praktische Haltung des Urteilenden gegenüber der Beschaffenheit empirischer Sachverhalte aus. Hinsichtlich der normativen Komponente der Wertaussagen gibt es keine wissenschaftlichen Prüfverfahren, mit denen normative Urteile nach dem Beispiel empirisch-kognitiver Sätze unter die Kategorien „wahr“ und „falsch“ subsumiert werden können. Die Axiome der Ethik, auf die wir uns berufen, wenn wir ethische Urteile aussprechen, sind allgemeinste oder letzte Sollensprinzipien (Maximen), die als menschliche Festsetzungen nicht mehr weiter ableitbar oder beweisbar sind, d. h. sie sind als subjektive oder überindividuelle Grundentscheidungen einer erkenntnismäßigen Sicherung nicht zugänglich. Max Weber29 hatte schon darauf hingewiesen, „daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen . . . liegen und daß der Dignität jeder 28 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl., Berlin – München 1954, S. 6. 29 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 463.

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von beiden ein Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammen zu zwingen versucht“. Keine Theorie kann somit über Wahrheit oder Falschheit von Normen ein Urteil fällen. Das heißt freilich nicht, dass Werturteile, auch wenn sie für den einzelnen den Charakter „letzter“ Voraussetzungen annehmen, hinsichtlich ihrer normativen Konzeption und Wertmaßstäbe einer rationalen Kritik nicht zugänglich werden könnten. Eine solche Kritik der Wertüberzeugungen knüpft an die empirische Sinnkomponente der Werturteile an. Denn das Werten stellt nicht einen von der empirischen Erkenntnis unabhängigen Vorgang dar. Die Kognitivisten übersehen auch, dass das deskriptiv-indikativische Interpretationsmuster normativer Aussagen nur zu kognitiven Sätzen und damit zu Tatsachenbehauptungen führen kann. Diese Sätze können aufgrund ihrer logischen Grammatik als rein informative Aussagen nicht gleichzeitig im Sinne bestimmter Anweisungen verstanden werden. Aus Aussagensystemen kognitiv-informativen Charakters normative oder andere präskriptive Konsequenzen zu deduzieren, ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Logik nicht möglich.

III. Wertfreiheit als Problem metawissenschaftlicher Entscheidung Das Problem einer „normativen Rechtstheorie“ oder, allgemeiner, ihres pragmatischen Aspekts lässt sich wertfrei nur durch den Bezug auf die Semantik klären, die mittels der Theorie der semantischen Stufen die Ebene der Tatbestände, auf die sich die rechtstheoretischen Aussagen beziehen, von der Ebene der Objektsprache, also Aussagen über eben diese Phänomene, und der Metasprache unterscheidet, zu denen die vorliegenden Ausführungen zu zählen sind30. Rechtstheoretisch völlig wertfrei zu arbeiten, z. B. im Sinne einer in jeder Hinsicht zweckfreien – reinen – Gewinnung von Erkenntnissen über das Recht und seine Anwendung, ist nicht möglich; möglich ist es indessen, Rechtstheorie als solche wertfrei zu gestalten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs findet sich in der logischen Grammatik des Wertfreiheitspostulats. Darauf ist im Folgenden näher einzugehen. 30 Diesen Gesichtspunkten entsprechend lässt sich der Problemkomplex gliedern, die für eine wertfreie Analyse rechtswissenschaftlicher Wertproblematik zweckmäßig erscheinen, ohne dass man sich in semantische Antinomien oder logische Zirkel verstrickt, in die man mit der „zweckfreien Erkenntnis“ und der „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft“ notwendig gerät, sofern man die einzelnen Sprachstufen nicht exakt voneinander unterscheidet. „Wertfreiheit“ ist dabei nicht im Sinne eines oben kritisierten normativen Prinzips zu verstehen (worauf die Rede von einem „Wertfreiheitspostulat“ hinzuweisen scheint) oder in einem absoluten Sinne, sondern als eine auf theoretische Einsichten gegründete methodische Regel, die wie jedes andere wissenschaftslogische Kriterium weder eine imperativische noch eine normativische oder sonst wie geartete präskriptive Interpretation erlaubt, auch wenn diese Kriterien das Rechtsdenken in eine bestimmte Richtung drängen und die Gestaltung des objektsprachlichen Aussagensystems beeinflussen.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen 1. Wertungen und Normen im kognitiven Bezugsbereich der Rechtstheorie

Es dürfte weitgehend unbestritten sein, dass Wertungen, die sich in juristischen Werturteilen äußern, und ihre Funktionen im Rechtsleben als empirische Tatbestände in den Objektbereich der Rechtswissenschaften fallen31. So kann versucht werden, diese Phänomene zu beschreiben, sie zu erklären und ggf. zu prognostizieren. In der neueren, insbesondere in der zunehmend soziologisch orientierten Rechtswissenschaft werden die tatsächlichen Entscheidungen der Rechtssubjekte und damit Wertungen als empirische Phänomene immer mehr in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, insbesondere nachdem sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass das klassische Subsumtionsmodell als idealtypische Konstruktion wegen seines analytisch-tautologischen Charakters keinen hinreichenden Wirklichkeitsgehalt besitzt und zu einer Erklärung bzw. Prognose des Entscheidungsverhaltens nur ausnahmsweise herangezogen werden kann32. Die teilweise Neuorientierung der rechtswissenschaftlichen Erkenntnisperspektive führt zu einer Ausweitung des Problembestands vor allem dadurch, dass die normativen Zielsetzungen, insbesondere der diese verwirklichende richterliche und legislative Entscheidungsprozess, zum Gegenstand der Forschung gemacht werden. Ich kann mich hier nur auf wenige Andeutungen beschränken, die den Ausgangspunkt der neueren Ansätze zu einer theoretischen Durchdringung des juristischen Entscheidungsverhaltens skizzieren und exemplarisch einige ihrer Probleme aufzeigen mögen. An den Ausgangspunkt des Entscheidungsprozesses stellt die neuere Forschung nicht mehr sozusagen monolithisch eine einzige Zielsetzung, wie dies die klassische Lehre mit ihrer fiktiven Annahme von der „einzig richtigen Entscheidung“ noch getan hatte. Dabei interessiert zunehmend der empirische Prozess der Zielbildung der Mitglieder des Rechtsstabs, ein Prozess, der häufig durch eine konfliktäre Situation gekennzeichnet ist, die in divergierenden und veränderlichen Zielvorstellungen der Mitglieder des Rechtsstabs begründet ist und sich in der Struktur des Zielsystems der Rechtsordnung als eines sozialen Phänomens niederschlägt. Die theoretische Analyse solcher Zielkonflikte steckt noch in den Anfängen und 31 Zutreffend führt O. Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 107 f. aus, die Rechtstheorie müsse das Realsein des Normensystems in der sozialen Wirklichkeit studieren. Auch wenn man darin rechtssoziologische und keine „juristischen“ Fragen sieht, ist deren Behandlung in einer „Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft“ (Krawietz) nicht ausgeschlossen. Vgl. auch E. Mock, Die Ambivalenz menschlicher Normativität, in: ARSP 63 (1970), S. 179 ff.; Chr. Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik, JZ 1972, S. 609 ff. 32 Vgl. etwa W. Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt an Main 1974; R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck Bern 1996).

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ist über programmatische Ansätze kaum hinausgekommen. Hinsichtlich dieser neueren Forschungsaspekte in der Theorie der Rechtsprechung oder der Gesetzgebung geht es hier nicht darum, einzelne Konzeptionen herauszugreifen und sie daraufhin zu überprüfen, ob sie den verschiedenen Anforderungen der Wissenschaftslogik genügen oder wie die angewandte Methode wissenschaftstheoretisch zu beurteilen ist, sondern darum zu zeigen, dass auch die Rechtswissenschaft Wertungen und Werthaltungen wie deren strukturellen Wirkungszusammenhang in ihren Objektbereich einbezieht und die daraus entspringende Problematik in jüngerer Zeit zum bevorzugten Gegenstand des Versuchs von Hypothesenbildungen33 macht34. Damit ist gezeigt, dass über Wertungen und Werturteile als empirische Erscheinungen und ihren Einfluss auf den Entscheidungsprozess deskriptive Aussagen gemacht werden können. Diese Phänomene lassen sich ohne persönliche Stellungnahme und individuelle Attitüden beschreiben, erklären und prognostizieren35. Dass Wertungen als sprachliche Äußerungen Werturteile und somit präskriptive Sätze sind, zwingt nicht dazu, objektsprachliche Aussagen durch die Einführung von Wertprämissen in ein System von präskriptiven Sätzen zu transformieren; denn zwischen der Ebene der Gegenstände (Nullstufe) und der Objektsprache besteht kein logischer Zusammenhang. Unterscheidet man zwischen normativen Systemen als empirischen Phänomenen (z B. Verfassung, Wertsysteme von Richtern, Verwaltungsbeamten und Parlamentsmitgliedern) und Theorien über diese Systeme, hält man also beide Sprachstufen auseinander, gerät man nicht in ein methodologisches Dilemma. Es wäre ein Fehlschluss, sollte man etwa meinen, aus der Beschaffenheit des Forschungsobjekts, z. B. der Werturteile, Normziele, auf die sprachliche Gestalt des objektsprachlichen Aussagensystems schließen zu können. Denn die Entscheidung zwischen empirisch-kognitiver und normativer Zielsetzung ist logisch unabhängig von der Beschaffenheit des Forschungsobjekts. Aus theoretischen, objektsprachlichen Sätzen kann kein praktisches Urteil wie z. B. „Die Rechtstheorie muss in eine präskriptive Form gebracht werden“ gewonnen oder das Gegenteil gefolgert werden, was – im ersten Fall – Wertprämissen im objektsprachlichen Zusammenhang notwendig macht. Wer so argumentiert, wechselt von den Problemen der Nullstufe zu solchen der metasprachlichen Ebene des vorwissenschaftlichen Bereichs über und trennt nicht zwischen Erkenntnissen und 33 Durch empirische Überprüfungen lässt sich feststellen, ob Annahmen über Ziele und Zielsysteme, ihre Bildung und ihre Realisierung von der Rechtspraxis gestützt werden (falls sie nicht so formuliert sind, dass sie von vornherein gegen eine Widerlegung durch die Praxis immunisiert erscheinen und damit alles und nichts „erklären“). 34 Vgl. etwa K.-D. Opp, Soziologie im Recht, Reinbek 1973. 35 Eine andere Frage ist, ob dies stets der Fall ist, ob nicht vielmehr – meist ungewollt – ein eigenartiges Konglomerat von normativen und deskriptiven Annahmen präsentiert wird, was hier jedoch nicht näher zu untersuchen ist.

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

Entscheidungen. Hiernach lässt sich sagen, dass die Rechtstheorie, wenn sie das Verhalten z. B. der Mitglieder des Rechtsstabs beschreiben und erklären will, nicht umhin kommt, Wertungen als Grundlage des Entscheidens der Mitglieder und die daraus resultierenden Werturteile bzw. das Wertsystem zu berücksichtigen, und dass sie in diesem Sinne wie jede andere sozialwissenschaftliche Disziplin, die Wertungen in ihrem Bezugsbereich aufweist, nicht „wertfrei“ sein kann, ohne aber deswegen das Wertfreiheitspostulat aufgeben zu müssen.

2. Das Basiswertproblem in den Rechtswissenschaften

Die Kritik am Wertfreiheitspostulat und die Zweifel an der Fruchtbarkeit einer scharfen Trennung von deskriptiven und normativen Satzsystemen stützen sich in den Sozialwissenschaften oft auf die auch von den Verfechtern einer explikativen Wissenschaft unbestrittene Tatsache, dass jede bewusste wissenschaftliche Betätigung auf Entscheidungen beruht und Wissenschaft insoweit ohne Wertungen nicht auszukommen vermag. Es ist unkontrovers, dass Wissenschaftler ihre Problemwahl möglichst nach ihren Interessen, Vorlieben, Prinzipien treffen; sie besitzen eine bestimmte Vorstellung von dem, was sie tun wollen, was sein sollte und was sie vertreten können, kurz die Wissenschaft besitzt eine moralische Grundlage („Basis“), die nicht geleugnet werden kann. Dem Forscher jede Wertorientierung zu verbieten, hieße im Übrigen, ihn zur Entscheidungsunfähigkeit zu verurteilen (Luhmann). Es fragt sich, ob bei dieser Feststellung die Forderung nach einer wert(urteils-) freien Rechtstheorie aufrecht erhalten werden kann. Geht man mit Theodor Geiger36 davon aus, dass hinter aller Bemühung um theoretische Erkenntnis „a-theoretische Beweggründe am Werk“ sind, so deutet sich darin an, in welcher Richtung die Lösung des Problems der Wertfreiheit zu suchen sein dürfte. Autonom getroffene wie auch von außen beeinflusste Grundentscheidungen des Rechtstheoretikers konstituieren den vorwissenschaftlichen Bereich von Rechtstheorie, indem sie z. B. Fragestellungen, den jeweiligen Forschungsansatz usw. bestimmen. Bei der Problemwahl spielen die persönlichen Neigungen und Attitüden der Wissenschaftler eine Rolle; der Fragenantrieb des Wissenschaftlers bestimmt die Erkenntnisperspektive. Die Motivation dieser Entscheidungen zu erforschen, ist indessen nicht Gegenstand einer wissenschaftslogischen Untersuchung, sondern eher der Motivationspsychologie bzw. Wissenssoziologie; bedeutsam für unsere Argumente bleibt nur, dass Wertgesichtspunkte über Entscheidungen für die Problemauswahl bestimmend sind. Die Wertvoraussetzungen der Rechtstheorie oder, wie wir auch sagen können, die existentielle Wertgrundlage rechtswissenschaftlichen Forschens darf nicht verwechselt werden mit den Axiomen, die dem Handeln der Personen des Objekt36

Th. Geiger, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart – Wien 1953, S. 12.

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bereichs zugrunde liegen und die nicht in das (objektsprachliche) System der Aussagen als Prämissen im logischen Sinne aufgenommen werden müssen, sondern deskriptiv beschrieben werden können. Die Geltungsmodi der angesprochenen Axiome sind verschieden und lassen sich logisch auseinander halten. Die fehlende oder unzureichende Differenzierung zwischen vorwissenschaftlichem Bereich und Objektsprache führt unter Umständen dazu, dass auch Wissenschaftler, die ihre Aussagensysteme von persönlichen Stellungnahmen freihalten wollen, eigene Wertungen an die Stelle von kognitiven Aussagen setzen. Die nicht selten feststellbare Erscheinung, dass Interessen oder andere Wertgesichtspunkte nicht nur die Problemwahl beeinflussen, sondern in die Problembehandlung eingehen und damit Aussage steuernd werden (auch wenn der Forscher dies nicht beabsichtigt), ist kein Argument gegen eine wertfreie Wissenschaft. Dass Wertprämissen möglicherweise unbewusst eingebracht werden, wird verständlich, wenn man an den sozusagen „natürlichen Wertplatonismus“ der Umgangssprache denkt, dessen Einfluss sich auch der Wissenschaftler nicht immer entziehen kann. Dass subjektive Neigungen Aussagen beeinflussen können, ist ebenso wenig ein Anlass, das Prinzip explikativer Rechtstheorie aufzugeben, wie die andere Tatsache, dass sie als soziale Institution selbst in ein System von Wertbeziehungen eingebettet ist und damit normativen Regelungen unterliegt. Wissenschaftler können sich mit bestimmten Zielsetzungen identifizieren und dieses Engagement in Werturteilen innerhalb der objektsprachlichen Aussagen zum Ausdruck bringen, während andere aus persönlichen Überzeugungen bestimmte Problembehandlungen erst gar nicht vornehmen oder ihre objektsprachlichen Aussagen subjektiv-wertfrei gestalten. Insofern bezieht der Wissenschaftler aus seiner Grundhaltung Stellung zu bestimmten Aufgaben, ohne deswegen Werturteile in sein Aussagensystem einfließen lassen zu müssen37. Die Feststellung, dass die Rechtstheorie eine Wertbasis als normativen Hintergrund besitzt, in dieser Hinsicht also nicht „wertfrei“ ist, und dass auch das Wertfreiheitsprinzip zu eben dieser Wertbasis zu rechnen ist, erledigt die Diskussion um das Wertfreiheitsproblem in den Rechtswissenschaften jedoch nicht schon von selbst. Denn die der Werturteilskontroverse zugrunde liegende Problematik ist in den Rechtswissenschaften, soweit ersichtlich, bisher nicht hinreichend offen gelegt worden. Es sei daher zunächst hervorgehoben, dass man aus kognitiven Aussagen über Sachzusammenhänge im pragmatischen Bereich der Rechtheorie wie etwa: „Der Rechtstheorie liegen Wertvorstellungen zugrunde“, nicht folgern kann, dass die einzelnen theoretischen Aussagen als Resultate der wissenschaftlichen Tätigkeit diese Wertvorstellungen in Form von Werturteilen als Axiome im logischen Sinne aufweisen müssten. Aus deskriptiven Aussagen lassen sich keine Imperative oder Normative ableiten. Vielmehr ist eine Entscheidung, eine metawissenschaftliche Wertung erforderlich, um die entsprechende Wertprämisse zu liefern. Damit ist der Kern des Werturteilsproblems angesprochen: die Wahl einer deskriptiven 37 Ebenso wenig müssen die Ziele, die von dem einzelnen Wissenschaftler für die Wissenschaft formuliert werden, mit den offiziellen Zielen der Wissenschaft als Institution im Einklang stehen.

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oder normativen Gestaltung der Objektsprache, die auf metasprachlicher Ebene getroffen wird. Somit verweist die Frage der Wertfreiheit primär auf die Bestimmung eines methodischen Prinzips, auf die Gebrauchsregeln der Fachsprache und die linguistischen Anforderungen an die theoretischen Aussagen über die zu untersuchenden Gegenstände. Berücksichtigt man die verschiedenen Sprachstufen, so erscheint evident, dass mit einer metasprachlichen Wertung nicht logisch notwendig eine Stellungnahme zu der Beschaffenheit der Untersuchungsobjekte verbunden ist. Zeichnen wir z. B. Aussagen bzw. Aussagensysteme über empirische Sachverhalte in positiver oder negativer Weise aus, dann machen wir metasprachlich – und auf dieser Ebene bewegt man sich auch beim Wertfreiheitsprinzip – eine wertende Aussage über Aussagen, indem wir sie mittels bestimmter wissenschaftslogischer Kriterien beispielsweise auf ihre logische Konsistenz oder ihren empirischen Gehalt überprüfen, und fällen Werturteile über die betreffenden Aussagen bzw. Theorien, nicht aber über die von diesen beschriebenen Sachverhalte. Der Rechtstheoretiker ist als solcher nicht gezwungen, zu diesen Aussagen in irgendeiner Weise persönlich Stellung zu beziehen. In diesem Sinne ist die Rede von einer „wertfreien“ (explikativen) Rechtstheorie zu verstehen und in diesem Sinne ist eine wertfreie Rechtstheorie auch möglich. Sieht man als grundlegende Voraussetzung der Rechtstheorie Werte wie das Streben nach Erkenntnis und damit nach Wahrheit ihres theoretischen Wissens, nach Objektivität, nach Klarheit usw. an, so darf man das praktische Urteil akzeptieren, dass innerhalb theoretischer Aussagensysteme keine offenen oder verdeckten Werturteile vorkommen sollten. Dass Werte sich nicht im Sinne des klassischen Begründungspostulats begründen lassen, entzieht die sachlichen Konsequenzen der Wertfestsetzungen nicht einer intersubjektiven Kritik. Für diese Kritik gibt es keinen absoluten Maßstab. „Auch die Intersubjektivität ist Subjektivität, wiewohl erweiterte und insofern geläuterte Subjektivität“, sagt Arthur Kaufmann38. Doch auch diese Erweiterung verleihe der Intersubjektivität nicht die „Würde des Absoluten“, die ihr die Kritische Theorie beimesse39. Wertfestsetzungen lassen sich prinzipiell wertfrei im Rahmen einer Möglichkeitsanalyse kritisch diskutieren. „Die Grenze der Wertfreiheit fällt mit der Grenze der kritischen Diskussion zusammen40.“ Zutreffend bemerkt Günter Ellscheid 41. Aufgabe der Rechtstheorie sei es nicht, „das Aufstellen von Rechtspostulaten und das Argumentieren um praktische Lösungen als unwahre Denkweisen zu denunzieren“. Vom theoretischen Standpunkt aus sei solches Denken weder wahr noch unwahr, sondern praktisch. Das im Kern a-theoretische praKaufmann, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 3. Vgl. ebd.; Zur Problematik der interpersonellen Akzeptierbarkeit von Werturteilen vgl. H. Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, Berlin 1980, insb. S. 78 ff., 86 ff., 108 ff. 40 Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, S. 183. 41 Ellscheid, S. 11. 38 39

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xisbezogene Denken unterliege keiner theoretischen Kritik, da diese sich sinngemäß nur auf theoretische Sätze beziehen könne, die unmittelbar der Abbildung von Wirklichkeit dienten. Das Telos des Rechtsdenkens ziele auf die Herstellung von Intersubjektivität unter gemeinsamen Normen, die sich nicht in wissenschaftlicher Objektivität – im Anerkennen dessen, was ist –, sondern im Auffordern und Zustimmen zu einer Praxis konstituiere. Eine auf einem konsequenten Kritizismus aufbauende Wissenschaftslehre ist sich dabei auch der sozialen Aspekte der vorgetragenen Problemlösungen bewusst.

IV. Wertfreiheit als Grundlage explikativer Rechtstheorie Geht man davon aus, dass das Wissenschaftsideal, bestimmte Ereignisse vorurteilslos und unvoreingenommen zu beschreiben und zu erklären, Strukturen aufzudecken und Zusammenhänge nachzuweisen, Gegenstand subjektiver Basisentscheidungen der einzelnen Theoretiker ist, so wird klar, dass die Ablehnung einer wertfreien Wissenschaft ebenso auf einer persönlichen Entscheidung des Wissenschaftlers beruht wie ihre deskriptive oder wertfreie Gestaltung. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass eine allgemeinverbindliche Lösung des Problems der Wertfreiheit für die Rechtswissenschaften nicht existiert; eine solche Lösung kann es nicht geben, weil die Entscheidung dafür oder dagegen vorwissenschaftlich und, vom subjektiven Wollen des einzelnen determiniert ist. Diese Entscheidung besitzt als praktisches Urteil nur für den einzelnen Forscher Verbindlichkeit und zieht keine weitergehenden normativen Konsequenzen nach sich. Dass etwa die Mehrheit der Vertreter einer Disziplin für oder gegen das Wertfreiheitspostulat votiert, ist kein Grund, der die Allgemeinverbindlichkeit einer Wertung im wissenschaftlichen Sinne begründen könnte. Wissenschaftslogisch ist das Argument einer „überwiegenden Meinung“ jedenfalls irrelevant, mögen sich aus der Tatsache als solcher wissenssoziologisch auch noch so interessante Aspekte ergeben. Die Frage einer wertfreien Rechtstheorie findet also in der „subjektiven Basis“ der Entscheidung ihren Lösungsansatz. Dies hat nicht zur Folge, dass damit eine rationale Diskussion der Problematik ausgeschlossen wäre. Besteht über die moralische Basis der Wissenschaft keine Übereinstimmung und lässt sie sich auch nicht durch rationale Argumentation herbeiführen, so hat der Konflikt eine mit kognitiven Mitteln nicht mehr weiter reduzierbare Dimension. Sieht man das Wertfreiheitspostulat als eine aufgrund seiner Konsequenzen prinzipiell kritisierbare methodische Regel an, so lässt sich analysieren, was wertfreie Rechtstheorie zu leisten vermag und was sie nicht zu leisten imstande ist, ohne Wertungen vollziehen oder zu Werturteilen greifen zu müssen. Zugleich erhält man einen Referenzpunkt, um Schwächen der normativen Konzeption aufzuzeigen, bzw. deren evtl. Vorzüge herauszustellen. Ein solches Vorgehen ist ein Werben mit Argumenten für einen bestimmten wissenschaftlichen Zielhorizont und die davon abgeleiteten Spielregeln einer Wissenschaft; zu deren Annahme man nieman-

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den verpflichten oder zwingen kann. Dazu ist eine Entscheidung nötig, die eine kritisch-rationale Einstellung voraussetzt.

V. Praxisrelevanz, Rechtstechnologie und normative Rechtstheorie Die Frage nach der Art und Weise der Bemühungen um eine Bewältigung der Probleme, mit denen es Rechtstheorie zu tun hat, führt zu dem Problem, ob eine Normativierung zur Lösung praktischer Gestaltungsaufgaben überhaupt notwendig ist. Die praktische Bedeutung der Rechtstheorie für das bewusste Handeln z. B. von Rechtsprechung, Verwaltung, Gesetzgebung liegt darin, dass sie durch die Relevanz ihrer Ergebnisse zu einer Verringerung des Grades von Unwissenheit. beitragen kann. Jedes plan volle Handeln steht unter dem Zwang der Wahl in einer Situation, die letztlich durch Ungewissheit gekennzeichnet ist. Liegt eine bestimmte praktische Aufgabenstellung vor, bei der der Aktor Kenntnis von seinen unmittelbaren Handlungszielen hat und der Handlungsspielraum festgelegt ist, so besteht das Problem darin, die voraussichtlichen Auswirkungen der geplanten Handlungsalternativen zu ermitteln. Es ist ein empirisch-kognitives Problem, zu dessen Lösung der vor der Entscheidung Stehende auf die Ergebnisse der explikativen Forschung auf dem betreffenden Gebiet, also nicht nur der rechtswissenschaftlichen Forschung, angewiesen ist, die ihn darüber informiert, welche Folgen die jeweils ins Auge gefassten Alternativen determinieren. Der Aktor wird also in die Lage versetzt, das Eintreffen bestimmter Zustände oder Ereignisse in der Zukunft als Folge seiner Handlungsmöglichkeit in dem Falle ihrer Verwirklichung zu antizipieren; es wird ihm dadurch der Überblick erleichtert, inwieweit die durch die einzelnen Alternativen bewirkten Transformationen der Ausgangssituation der erwünschten Endsituation entsprechen. Bei dieser „Folgenorientierung“ können Konsequenzen auftauchen, die Ziele des Handelnden verletzen, dessen er sich vorher nicht bewusst war. Welche Alternativen zu eliminieren sind, darüber sagen explikative Theorien nichts aus; sie tragen nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Lösung der empirisch-kognitiven Problemstellung bei der Vorbereitung von Entscheidungen bei. Mit dieser theoretischen Fundierung der Prognosen der Folgen zukünftiger Handlungen ist die Bedeutung explikativen Forschens jedoch nicht erschöpft. Gilt es, bestimmte praktische Aufgaben zu lösen, und ist nicht bekannt, wie und wo in bestimmte soziale Prozesse z. B. durch Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung eingegriffen werden kann, um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen, so können theoretische Aussagensysteme durch logische Operationen so umgeformt werden, dass sie Eingriffsmöglichkeiten und ihre voraussichtlichen Auswirkungen aufzeigen. Durch diese analytische Transformation wird die Theorie in ihre „technologische Form“ gebracht, d. h. eine Menge nomologischer Sätze wird in ein System von Aussagen übergeführt, das über Handlungsmöglichkeiten unter bestimmten (ausgewählten) Zielsetzungen informiert (Finalanalyse)42.

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Das empirische Wissen muss zur Erstellung des technologischen Modells mühsam organisiert und final ausgerichtet werden43. Dabei ist es offensichtlich aus praktischen Gründen nicht möglich, jede individuelle Zielsetzung in eine adäquate technologische Form zu bringen und die nahezu unendliche Mannigfaltigkeit der Bedingungen aller möglichen Entscheidungssituationen in technologische Systeme aufzunehmen. Ein solches Vorhaben müsste scheitern. Da aber nicht jedes Mitglied des Rechtsstabs grundsätzlich ein anderes Wertsystem besitzt, sondern sich größere Gruppen finden lassen, die in ihren Zielvorstellungen weitgehend homogen sind, lassen sich technologische Systeme in Bezug auf „typische“ Zielsetzungen und Entscheidungssituationen konstruieren. Die Rechtstheorie kann so verfahren, sie muss es aber nicht. Es steht in der freien Entscheidung des Forschers, technologische Systeme nur an in einem Teilbereich vorgefundenen Zielsetzungen oder Zielkonzeptionen auszurichten oder auch neue Zielvorstellungen zu entwickeln und Möglichkeiten zu ihrer Realisation zu untersuchen. Im Übrigen wollen Technologien nicht der praktisch unübersehbaren Zahl denkbarer Situationen gerecht werden und sie erschöpfend systematisieren, auch wenn einiges dafür spricht, dass der Beitrag zu einem rationaleren Handeln größer sein wird, wenn an typischen Zielsetzungen orientierte technologische Systeme entwickelt werden, die auf die jeweilige Entscheidungssituation abgestimmt werden können. Theorien in ihrer technologischen Form nehmen dem einzelnen Entscheidungssubjekt weder die Verantwortung für die verfolgte Zielsetzung noch die über die Realisierung einer der alternativen Maßnahmen zur Verwirklichung des angestrebten Zieles ab; sie können es aufgrund ihrer Zielsetzung auch nicht, wenn sie als informatives Instrument einer rational fundierten Möglichkeitsanalyse verwendbar sein sollen. Soll über rechtlich relevante Wirkungsmöglichkeiten im Hinblick auf ein mögliches Geschehen etwas ausgesagt werden, so setzt die Umformung empirischkognitiver Aussagen in technologische voraus, „daß bestimmte Desiderata hypothetisch unterstellt werden, d. h. in ihrer Geltung offengelassen werden, und (dies R. W.) erfordert also nicht die Einführung expliziter Wertprämissen“44 als Vordersätze in den Deduktionszusammenhang45, wie es bei normativen Systemen der Fall ist. 42 Die Finalanalyse ist nicht zu verwechseln mit dem Teleologismus oder Finalismus, der z. B. mithilfe von Entelechien Wirklichkeit „erklären“ möchte und der eine merkwürdige Perversion des Kausaldenkens ist. 43 Vgl. auch Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, S. 194, der von „beachtlichen Phantasieleistungen“ spricht. 44 Ders., Wissenschaft und Politik, in: E. Topitsch (Hrsg.), Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1960, S. 213. 45 Die Beliebigkeit der Problemwahl, mit der sich ein bestimmtes Engagement verbinden kann, das die Auswahl des Objekts einer empirischen Analyse bzw. einer technologischen Untersuchung beherrscht, zwingt nicht dazu, die wertfreie Gestaltung des objektsprachlichen Aussagensystems zu verlassen und zu einer normativen Wissenschaft überzugehen. Anderenfalls begibt man sich in eine Konfusion verschiedener Sprachebenen, die jedoch vermeidbar ist.

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Soweit Rechtstheorie nicht nur informieren will, sondern Verhalten zu lenken beabsichtigt, ist sie gezwungen, die in technologischen Systemen lediglich hypothetisch unterstellten Desiderata zu normativen Prämissen umzufunktionieren, wenn sie nicht gegen die Logik der präskriptiven Sätze verstoßen will. Soll Verhalten normiert werden, sind Entscheidungen unentbehrlich. Eine solche Entscheidung, die sich in einer normativen Aussage ausdrückt, fungiert als zusätzliche Prämisse, die erforderlich ist, um technologische Systeme in normative zu verwandeln und mit einem Verbindlichkeitsanspruch auszustatten, der ihnen im Zeitpunkt der Transformation noch nicht zukam. Eine Transformation explikativer Satzsysteme kann dem empirischen Gehalt der Aussagen nichts hinzufügen, d. h. das dem Entscheidungssubjekt vermittelte empirische Wissen kann den Informationsgehalt der transformierten Hypothesen nie überschreiten. Die Transformation explikativer Satzsysteme ist also tautologisch. Daher wäre es aus logischer Sicht aussichtslos, allein aus den kognitiven Aussagen einer Theorie Verfahrensanweisungen, Verhaltensnormen usw. ohne Zuhilfenahme präskriptiver Prämissen deduzieren zu wollen: Sofern in den Prämissen nicht zumindest eine präskriptive Prämisse enthalten ist, kann ein präskriptiver Schluss nicht abgeleitet werden. In der Normativierung technologischer Systeme wird der Bereich der explikativen Wissenschaft verlassen. Nicht mehr Informationen über mögliche Ansatzpunkte des Entscheidungsverhaltens und über seine Folgen stehen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses, sondern die Entscheidungen werden zu lenken und zu präformieren versucht, indem wertend zu ihnen Stellung bezogen wird, bestimmte Zielsetzungen und / oder die Wahl einer bestimmten Alternative werden empfohlen und ein davon abweichendes Verhalten negativ eingestuft. Rechtstheorie wird dann zum Streitfeld von Ideologien, deren jede behaupten kann, nur ihre Maximen seien Ausdruck „wissenschaftlicher Erkenntnis“. Mit dem Verzicht auf objektive Überprüfbarkeit der Aussagen wird die kritische Diskussion ihrer Grundlage beraubt und der Streit darüber, welche nicht-kognitiven Aussagen die Etikette „wissenschaftliche Erkenntnis“ beanspruchen dürfen und welche nicht, unentscheidbar. Diese Konsequenzen muss man bedenken, wenn man eine diesbezügliche Konvention trifft und die Spielregeln des „Spiels explikative Rechtstheorie“, wie sie hier verstanden wird, beiseite lässt und die eigentliche Antwort nach dem „richtigen Sollen“ selbst zur Aufgabe der Rechtstheorie macht. Hier wird deutlich, dass die „Definition“ von Rechtstheorie nicht nur ein sprachlogisches Problem darstellt, sondern ebenso eine bestimmte methodologische Konzeption impliziert, von der her dann das Demarkationsproblem, die Abgrenzung von Wissenschaft und Politik bzw. Metaphysik, zu lösen ist. Jürgen Schmidt will daher die Rechtstheorie auf eine „aufklärende Funktion“ im Sinne einer strengen „Neutralität der Rechtstheorie“ beschränken46. 46 J. Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie 2 (1971), S. 95 ff.; kritisch hierzu Krawietz, S. 216.

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Bei den normativen Satzsystemen ist nicht die Beschreibung, sondern die „Gestaltung“ der Wirklichkeit das erstrebte Ziel, auf das sich die Bemühungen richten. Vertritt man jedoch ein Deutungsmodell der Rechtstheorie, in dem der Erfahrung und dem logischen Argument die entscheidende Bedeutung zuerkannt wird, führt dies zu dem Ergebnis, dass eine explikative Rechtstheorie nicht auch zu lehren vermag, was man soll, sondern nur, was man kann. Hier zeigt sich die Grenze, die dem theoretischen Wissen gezogen ist: „Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht bewältigt sind.“47. VI. Argumente gegen das Wertfreiheitsprinzip? Im Verlauf der Diskussion um das Wertfreiheitsprinzip wurde die Möglichkeit rein technologischer Aussagensysteme mit unterschiedlichen, auch ethischen Argumenten bestritten. So wurde angeführt, dass „die Unterstellung einer Zielsetzung als rein hypothetischer nur ein formaler Ausweg ist, der in der Praxis darum nicht gangbar ist, weil trotz der formalen Sicherung im Letzten doch immer wieder eine Stellungnahme und nicht nur eine Kenntnisnahme ins Spiel kommt“48. Auf der gleichen Linie liegt etwa das Argument, dass die Wissenschaft „mit der Wahl ihrer Untersuchungsobjekte, mit der Zielsetzung ihrer Fragestellung sich vor Entscheidungen gestellt [sieht], die ihr – im Einzelnen häufig gar nicht bewußt – eine Parteinahme abverlangen“49. Auch wurde geltend gemacht, dass das Vermeiden heikler Untersuchungsthemen ebenso wie ihre Inangriffnahme „in irgendeinem Sinne eine Parteinahme bedeutet“50. Von hier ist der Weg nicht mehr weit zu der Frage nach dem cui bono, der Frage, ob bei der Verwendung explikativer Theorien zum Zwecke der Herstellung technologischer Systeme nicht die Gefahr bestehe, dass „eine – allzu willfährige – Gelehrsamkeit“51 die Wissenschaft zum Spielball von Interessenpolitik mache. Es gibt keinen Grund dafür, warum ein Vertreter des Wertfreiheitsprinzips bestreiten sollte, dass auch bei rein hypothetisch unterstellten Zielsetzungen Stellungnahmen und Parteinahmen ins Spier kommen, d. h, dass bei der Problemwahl beispielsweise Wertungen vollzogen werden. Der normative Hintergrund des theoretischen Wissens und seiner technologischen Transformtion kann realistischerweise nicht bestritten werden. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, London 1963, 6.52. W. Wegener, Die Quellen der Wissenschaftsauffassung Max Webers und die Problematik der Werturteilsfreiheit der Nationalökonomie, Berlin 1962, S. 179. 49 Ch. Faber, Der Werturteilsstreit 1909 – 1959, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln – Berlin 1967, S. 176. 50 Ebd., S. 177. 51 G. Weisser, Normative Wissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens, in: Soziale Welt, 7. Jahrgang (1956), S. 8. 47 48

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Dies führt jedoch nicht zur Aufgabe der Wertfreiheit als methodisches Prinzip der Rechtstheorie, Eine paradoxe Situation entsteht daraus allenfalls für den, der zwischen den verschiedenen Ebenen der Wertproblematik nicht differenziert. Dass Normsetzungen, Wertungen, Werturteile usw. in den Untersuchungsbereich der Rechtstheorie fallen und dass auch die Rechtstheorie einen mit Wertungen durchsetzten, vorwissenschaftlichen Hintergrund besitzt, erscheint unabweisbar. Weder das eine noch das andere für sich allein noch beides zusammen führen jedoch dazu, diese Wertungen als Prämissen im logischen Sinne zu formulieren und als individuelle und / oder überindividuelle Forderungssätze in Form normativer Prämissen (Axiome) mit zum Inhalt des objektsprachlichen Aussagensystems zu machen. Soweit Wertungen trotz des Bemühens um wertfreie Gestaltung der Rechtstheorie sich (unbewusst) einschleichen, ist gerade die Wertfreiheit selbst das methodischregulative Prinzip, um die Aufdeckung solcher Wertungen zu erleichtern52. Die Art der Gestaltung des Aussagensystems hängt zwar auch von einer vorwissenschaftlichen Entscheidung ab, nur hat diese mit der Frage der Wertfreiheit nichts zu tun. Das eine gehört in den Entstehungszusammenhang, das andere zum – wissenschaftslogisch primär interessierenden – Begründungszusammenhang einer Theorie bzw. Technologie. Die Bejahung einer Wertbasis und einer wertfreien Technologie führt also nicht in ein Dilemma. Es bleibt grundsätzlich der Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers überlassen, ob er sich den geltenden Wertvorstellungen anpassen oder damit in Konflikt treten will. Wie technologische Systeme dann in der juristischen Praxis wirken, verwendet werden oder verwendet werden sollen, ist ein Problem, das bei ihrer Konstruktion noch nicht zu lösen ist; Technologische Analysen beabsichtigen selbst keine positive oder negative Wertung der unterstellten Ziele. Und zum anderen, warum sollte beispielsweise ein Wissenschaftler fremde Zielsetzungen, die seinen eigenen entgegengesetzt sind, nicht in den Kreis seiner Betrachtungen einbeziehen oder auf technologischer Basis Mittel und Wege zu ihrer Realisierung untersuchen können, ohne dabei seine eigenen Wertvorstellungen bzw. Überzeugungen opfern zu müssen? Auch der – um es aus anderem Blickfeld zu sehen – in einem Kollegium überstimmte Richter, der mit seiner wissenschaftlichen Meinung nicht durchzudringen vermag, wird als Berichterstatter die Urteilsbegründung im Sinne der Mehrheit des Kollegiums liefern, ohne dass er seine eigenen Bedenken in der Sache dabei aufgeben müsste. Ich glaube kaum, dass hier ein Identifikationsproblem auftaucht. Auch der der normativen Verfassung von Theorie zuneigende Wissenschaftler, der sein Engagement in seine Sprache übernimmt, kann hypothetische Unterstellungen vornehmen, um so seinen Idealen abträgliche Handlungen (und die Maßnahmen zu ihrer Verhinderung) abzuschätzen. 52 Spiegeln sich in der wissenschaftlichen Bearbeitung von bestimmten Problemen die an bestimmten expliziten Sollensprinzipien orientierten Vorgehensweisen wider, so ist die Wertprämisse immerhin erkennbar.

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Sucht man danach, welche Vorteile mit der Normativierung von Aussagensystemen für den Erkenntnis- oder Verstehensprozess und die sachliche Diskussion verbunden sein können, so findet man aus dieser Sicht keine. Der mit normativen Aussagen assoziierten „Bevormundung“ kann man sich jedenfalls dann leicht entziehen, wenn zwischen den in die normativen Systeme aufgenommenen Entscheidungen und den in ihnen enthaltenen Erkenntnissen differenziert wird und man darauf verweisen kann, dass sich für die Wertkomponenten normativer Systeme keine intersubjektiv anwendbaren Kriterien angeben lassen, mit denen das Behauptete auf seine Gültigkeit überprüft werden könnte. Für die normative Sinnkomponente besteht in diesem Sinne keine objektive Basis für eine fruchtbare Diskussion, wie sie für den Sachgehalt der normativen Aussagen hingegen regelmäßig gegeben ist. Um diesen neutralen Sachverhalt herzustellen, müssen die Wertelemente eliminiert werden. Die Ausschaltung der normativen Komponente, d. h. die Abstraktion von der pragmatischen Dimension des normativen Satzsystems, ist dann „nichts anderes als eine Transformation dieses Systems in ein semantisch äquivalentes technologisches System“53, die die wissenschaftliche Diskussion auf die Ebene der Möglichkeitsanalyse zurückführt und die Wahl der Ziele wie der Mittel als das herausstellt, was sie ist: ein Phänomen, das nicht mit den Kategorien „wahr“ oder „falsch“ zu bewältigen ist – es sei denn, man relativiert oder substituiert die kognitive Verfasstheit von Wahrheit überhaupt. Fragt man nach den Vorteilen der Normativierung technologischer Systeme, so findet man solche nicht, wohl aber Nachteile; auf sie kann verzichtet werden, denn „die Normativierung technologischer Systeme schafft . . . höchstens zusätzliche Probleme. Sie löst kein Problem, das nicht auch ohne sie gelöst werden könnte“54. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die normative und die explikative Fragestellung kann jederzeit auseinander gehalten werden, die Möglichkeit einer objektiven Rechtstechnologie ist nicht zu bestreiten, und die Notwendigkeit einer normativen Rechtstheorie kann, anders als die Notwendigkeit wertender Dogmatik, die Wertungen argumentativ verwendet55, nicht festgestellt werden.

Albert, Wissenschaft und Politik, S. 220 f., der dies weiter ausführt. Ebd., S. 216. 55 E. von Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München 1976, S. 139; weiterführend Chr. Schefold, Das normative Element des Rechts in seinem nicht zu funktionalisierenden Begründungssinn, in: Anuario de Filosofia del Derecho, Madrid 1973, S. 283 ff. 53 54

Umrisse eines Qualitätsentwicklungs-Modells der juristischen Entscheidung Bemühungen, exakte Methoden für juristisches Denken und Entscheiden zu erarbeiten, haben bis heute Schwierigkeiten mit der Bewältigung der Komplexität der Erkenntnisaufgabe: der Festlegung der „richtigen“, der „juristisch wahren“ Entscheidungsinhalte. Hauptprobleme in diesem Kontext sind Fragen der Wertung, die – vor allem in Form von Gerechtigkeitsfragen – auftauchen. Es handelt sich um ein Dauerthema. Neuland eröffnet die Betrachtung unter Aspekten eines Qualitätsentwicklungs-Modells, das hier in Umrissen skizziert wird. Zur Bewältigung dieser Aufgabe muss nicht nur die Bereitschaft zur Wahl der jeweils angemessenen Methode gesichert sein, sondern auch die gewissenhafte Beschaffung und umfassende Berücksichtigung aller problemrelevanten Informationen. Dem Juristen, insbesondere dem Richter und Verwaltungsentscheider, ist innerhalb des in den meisten Fällen verbleibenden Beurteilungsspielraums ein sicheres Urteil vor allem dann nicht möglich, wenn – wie nicht selten – der gesetzliche Maßstab selbst Ungenauigkeiten aufweist.1

I. Rechtssystem, Informationssuche, Entscheiden Der Weg, eine kontrollierte Verminderung von Unsicherheiten innerhalb der Entscheidungssituation zu beschreiten, liegt darin, alle verfügbaren Mittel zur Konkretisierung von Rechtsnormen auszuschöpfen. Damit wird zwar nicht die absolute „Richtigkeit“ der Entscheidung gewonnen, wohl aber erreicht, dass die Entscheidung nicht als falsch bezeichnet werden kann. Es wird also mindestens Vertretbarkeit der Entscheidung angestrebt. Der Erwartung eindeutig „richtiger“ Lösungen stehen nicht nur immanente Beurteilungsspielräume, sondern auch der Entscheidungszwang der Rechtspraxis mit ihren Restriktionen in zeitlicher Hinsicht vor allem bei der Informationsbeschaffung entgegen. Dieser Realität scheinen die hier zu diskutierenden Qualitätspostulate am ehesten zu entsprechen. Danach kann, wenn mehrere Alternativen im Rahmen richterlichen oder juristisch-administrativen Entscheidens zur Wahl stehen, jede von ihnen „brauchbar“ sein.2 1 Das Unsicherheitsrisiko wird allgemein hingenommen. Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt am Main 1974, S. 167 fordert (deswegen) die Erarbeitung eines Verfahrens zur Auswahl der „besten“ Entscheidung, was wenigstens aber die Reduzierung der Ungewissheit über die Entscheidungsfolgen voraussetzt. 2 Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1997, S. 184. Vgl. dazu den im Ansatz ähnlichen Bestimmungsversuch von Hülsmann,

Qualitätsentwicklungs-Modell der juristischen Entscheidung

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Da das kodifizierte Rechtssystem unvollständig ist, tritt vor allem das Problem der „Rechtslücken“ und ihrer Ausfüllung durch den Rechtsanwender auf. Die Feststellung einer Lücke innerhalb des positiven Rechts setzt eine planwidrige Unvollständigkeit voraus. Sofern sich nach dem Wortsinn des Gesetzes eine Regelung nicht finden lässt, obwohl sich nach der Rechtsordnung als Gesamtheit eine solche als erforderlich erweist, ist auf andere Prämissen (z. B. präjudizielle, ethische, politische etc.) zurückzugreifen. Schon hierin liegt ein Bewertungs- und Entscheidungsakt. Diese Überlegungen stehen nun deutlich im Widerspruch zur klassisch liberalen Auffassung, die nur dem Gesetz unmittelbar entnommene Entscheidungsprämissen bzw. -ergebnisse als dem Gesetz entsprechend respektiert. Voraussetzung einer derartigen, von der impliziten Lückenlosigkeit der Gesetze ausgehenden Auffassung ist die Annahme der Vollständigkeit, Allgemeinheit und Richtigkeit des Gesetzes. Im Gegensatz hierzu umfasst das Gesetz jedoch nicht nur den geplanten, sondern auch den in es „hineingelegten“ Inhalt; es steht nicht mehr nur die schlichte Anwendungsproblematik, sondern auch oder sogar eher die Rechtfertigungsproblematik im Mittelpunkt der Überlegungen.3 Die Forderung nach weitgehend rational und somit intersubjektiv vermittelbarer Behandlung der Rechtswertungen setzt eine Metabewertung gesellschaftlicher Zustände voraus.4 Die Annehmbarkeit von Wertungen durch die Gesellschaft lässt sich als diskutierbar nur über die Problematisierung der Folgen der Wertung für die Rechtsgesellschaft ansehen.5 Das Konzept der Folgendiskussion6 zwingt insbesondere den Richter, seine eigenen Einschätzungen darzulegen. Damit verlagert sich das Ziel der richterlichen Entscheidung: Nicht mehr so sehr die „richtige“, als vielmehr die überprüfbare Entscheidung rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die systematisch durchArgumentation. Faktoren der Denksozialität, Düsseldorf 1971, S. 79 f. Instruktiv auch Schapp, Die juristische Methode als Weg zum Verstehen und Anwenden des Rechts, Jura 2001, 217 ff. Zur Informationsbeschaffung vgl. umfassend Armin Müller, Informationsbeschaffung in Entscheidungssituationen, Ludwigsburg – Berlin 1992, insb. S. 9 ff. und 75 ff. 3 Zu der Frage, wie angesichts dieser Entwicklungen eine Bindung an Gesetz und Recht sichergestellt werden kann, findet sich schon in der älteren Rechtsprechung der Hinweis: „Die richtige, d. h. dem Recht gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert.“ So BGHZ 3, S. 308 (315 f.). Grundlegend zu dieser Problematik Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, Tübingen 2004, S. 126 ff., 323 ff. und 424 ff. 4 Vgl. Podlech, Wertung und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (208). 5 Das Lückenproblem geht auf einen mehr oder minder umfassenden Wertungsprozess zurück. Eine Transformation (formal-)rationaler Techniken auf hermeneutische Verfahren muss jedoch so lange erfolglos bleiben, als die dabei ablaufenden Verstehensprozesse assoziativen Charakter haben. 6 Kritisch dazu Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, S. 323 ff.

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geführte Bewertung von Folgen bei der Alternativenwahl wird dabei zum (Hilfs-) Kriterium der Entscheidung. Im Rahmen des Entscheidungsprozesses werden Folgenüberlegungen in Beziehungsgefüge von Bewertungskriterien eingearbeitet. In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass es die durch Folgenberücksichtigung gesteuerte Erkenntnis ist, die die konkrete Endentscheidung des Richters und Verwaltungsentscheiders legitimiert. Folgenberücksichtigung kann jedoch subjektive Bewertungsvorgänge bei der Entscheidung nicht völlig ausschalten. Es sollen und können aber Voraussetzungen und Konsequenzen des Wertens durch Information über die Folgen transparenter gemacht werden. Folgendiskussionen könnten die bislang verwendeten, wenig konkreten Darstellungskriterien ablösen. Die Änderung der Ziele und der Darstellungsweise ist unter Umständen geeignet, fehlende Deduktionsmöglichkeiten aufzuwiegen (mehr dazu unten IV.). II. „Juristischer Wahrheit“ auf der Spur Im Zusammenhang mit der Frage nach der richtigen Entscheidung ist von Belang, dass die Begriffe „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ als Wertmaßstäbe zu verstehen sind, die jeweils an verschiedenen Punkten juristischer Argumentation zum Einsatz kommen.7 Dabei verstehe ich mit Engisch Wahrheit als etwas Erfahrbares im Gegenständlichen, während ich das Richtige als durch eine schlüssige Begründung gekennzeichnet ansehe, die auf triftigen Prämissen beruht.8 Die Suche nach Wahrheit ist Gegenstand rechtlicher Beurteilung einmal während der Ermittlung von empirischen Sachverhalten – wobei selbstverständlich nicht jede Auffassung gleichermaßen vertretbar ist –, zum anderen bei der Suche nach Quellen positiven Rechts und schließlich bei der Feststellung des vom Gesetzgeber Gedachten oder Gewollten. Die eigentliche Problematik der „Wahrheitsfindung“ tritt jedoch erst bei der Rechtsanwendung auf, wenn Erkenntnisse der Rechtstheorie und Rechtsdogmatik in die praktische Entscheidung eingehen. Damit ist die gesamte Wahrheitsfindungsproblematik ein Teil praktischer Rechtsarbeit. Durch das Problem der Wahrheitsfindung werden Rechtstheorie und Rechtspraxis vor eine Reihe schwieriger Einzelfragen gestellt, deren Verifizierung oder Falsifizierung nicht im Bereich des Möglichen liegt und deren „Lösung“ daher besser mit dem Maßstab des Richtigen oder Unrichtigen gemessen wird. So finden sich zu einem juristischen Problem regelmäßig mehrere Meinungen, von denen möglicherweise eine Auffassung als „richtig begründet“ erscheint, als „wahr“ aber nicht bezeichnet werden kann. Vgl. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, München 1963, S. 5 ff. Ebd., S. 18. Zum Ganzen vgl. auch bereits Weimar, Juristische Wahrheit – Zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Universidad nacional autónoma de México (Hrsg.), Filosofia del Derecho y Problemas de Filosofia Social. Memoria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofia del Derecho y Problemas de Filosofia Social. Bd. IX. México City 1982, S. 225 – 244. Zur Wahrheitsproblematik allgemein Janich, Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung, München 1996. 7 8

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Sinnvoll kann die Frage nach der Wahrheit in diesem Zusammenhang schon deshalb nicht gestellt werden, weil mit der Suche nach Wahrheit, nach wahren Aussagen, das Forschen nach sicheren Gründen untrennbar verbunden ist.9 Juristische Normsatzauslegungen sind wie die Entscheidungen selbst jedoch von Ungewissheit geprägt; zumindest die semantischen Bedingungen für die Einlösung des Wahrheitsanspruchs fehlen regelmäßig, sodass die juristische Entscheidungstechnik widersprüchliche Entscheidungen und Zufälle nicht auszuschließen vermag.10 Werturteile zählen ihrer logischen Grammatik nach nicht zur deskriptiven, sondern zur präskriptiven Sprache. Durch ihre nicht-deskriptive Bedeutsamkeitskomponente tun sie eine Einstellung des wertenden Subjekts zu empirischen Gegebenheiten kund. Die Wertprädikate beschreiben nicht wie die deskriptiven Prädikate Eigenschaften empirischer Objekte, sondern drücken eine praktische Haltung des Urteilenden gegenüber der Beschaffenheit empirischer Sachverhalte aus. Die Geltung einer Norm und die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung liegen in heterogenen Ebenen. Für die normative Komponente der Wertaussagen gibt es keine wissenschaftlichen Prüfverfahren, mit denen normative Urteile nach dem Beispiel empirisch kognitiver Sätze unter die Kategorien „wahr“ und „falsch“ subsumiert werden können. Keine Theorie kann somit über Wahrheit oder Falschheit von Normen oder Wertungen ein Urteil fällen.11 Für die Kritik der sachlichen Konsequenzen der Wertfestsetzungen gibt es keinen absoluten Maßstab. Wertfestsetzungen lassen sich prinzipiell wertfrei im Rahmen einer Möglichkeitsanalyse kritisch diskutieren. Wie Günther Ellscheid 12 zutreffend bemerkt, ist es dabei nicht Aufgabe der Rechtstheorie, „das Aufstellen von Rechtspostulaten und das Argumentieren um praktische Lösungen als unwahre Denkweisen zu denunzieren“. Vom theoretischen Standpunkt aus sei solches Denken weder wahr noch unwahr, sondern praktisch. Das im Kern atheoretische praxisbezogene Denken unterliege keiner theoretischen Kritik, da diese sich sinnAlbert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 8. Kilian, S. 164. Wertbegriffe finden in selbständigen Phänomenen keine Erfüllung. Sie sind keine von individueller Einschätzung unabhängigen Qualitäten, die als „materiale Gegenstände“ hinter den jeweiligen Wertausdrücken gefunden werden können. Normative Aussagen können daher nicht wie deskriptive Urteile als wahrheitsfähige Aussagen behandelt werden. 11 Die Axiome der Ethik, auf die wir uns berufen, wenn wir ethische Urteile aussprechen, sind allgemeinste oder letzte Sollensprinzipien (Maximen), die als menschliche Festsetzungen nicht mehr weiter ableitbar oder beweisbar sind, d. h. sie sind als subjektive oder überindividuelle Grundentscheidungen einer erkenntnismäßigen Sicherung nicht zugänglich. Das heißt freilich nicht, dass Werturteile hinsichtlich ihrer normativen Konzeption einer rationalen Kritik nicht zugänglich sein könnten. Eine solche Kritik der Wertüberzeugungen knüpft an die empirische Sinnkomponente der Werturteile an. Denn das Werten stellt nicht einen von der empirischen Erkenntnis unabhängigen Vorgang dar. Vgl. hierzu Albert, Traktat, S. 8 und passim. 12 Ellscheid, Zur Forschungsidee der Rechtstheorie, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, Karlsruhe 1971, S. 11. 9

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gemäß nur auf theoretische Sätze beziehen könne, die unmittelbar der Abbildung von Wirklichkeit dienten. Das Telos des Rechtsdenkens ziele auf die Herstellung von Intersubjektivität unter gemeinsamen Normen, die sich nicht in wissenschaftlicher Objektivität – im Anerkennen dessen, was ist –, sondern im Auffordern und Zustimmen zu einer Praxis konstitutiere.

III. Zwischen Subjektivität und Objektivität: Zur „Richtigkeit“ der Entscheidung Im Kontext juristischer Entscheidungen wird es – wie oben angesprochen – als zweckmäßig angesehen, mit dem Maßstab des „Richtigen“ zu operieren.13 Der Begriff der Richtigkeit soll hier nicht nur ausgerichtet sein auf bestimmte Bindungen an Gesetze und Rechtsprinzipien, sondern verstanden werden als Ausdruck des Richtigen im Gegensatz zum Nicht-Richtigen, der auch in Bezug auf das richterliche Ermessen anwendbar bleibt, allerdings dadurch zum Problem wird, dass eine Gleichwertigkeit verschiedenartiger und im Grenzfall gegensätzlicher Alternativen anzuerkennen ist.14 Es fragt sich, ob angesichts dieser Problemlage nicht sinnvoller Weise der Begriff der Richtigkeit in dem Sinne zu überdenken ist, dass allenfalls von diskutablen, vertretbaren, brauchbaren richterlichen und juristisch-administrativen Entscheidungen zu sprechen ist. Zweifellos handelt es sich hier um eine Art der Betrachtung, die die Sozialwissenschaften insgesamt betrifft, soweit damit ihre Objektivität und ihr Wahrheitsbegriff hinterfragt werden. Da in den Sozialwissenschaften die Subjektivität des Erkennenden nicht in der Weise ausgeschaltet werden kann, wie dies in den Naturwissenschaften möglich ist, rückt das Problem der Richtigkeit in den Bereich der Spannung von Subjektivität und Objektivität. Deduktionen im juristischen Bereich erreichen nicht die Stringenz, die in anderen Bereichen durch die axiomatische Methode gewährleistet ist. Als Möglichkeit zur Objektivierung juristischer Entscheidungen bleibt im Wesentlichen die offene Diskussion, die die Relativität eigener Standpunkte deutlich macht, eine Betrachtung des Einzelfalls von „anderer“ Seite ermöglicht, abweichende Wertungen aufzeigt und neue Argumente in den Entscheidungsprozess hineinträgt.15 Ein juristisches Problem sollte unter zahlreichen, durchaus gegensätzlichen Aspekten betrachtet und im Gespräch erörtert werden; nur so lassen sich Feststlegungen darüber treffen, was „zweifelsfrei“ und „unproblematisch“, was „wesentlich“ und „unwesentlich“, was „annehmbar“ und „unannehmbar“, was „vertretbar“ und „unvertretbar“ ist. 13 Dazu und zum Folgenden Weimar, Wahrheit, S. 226 ff.; vgl. auch Ecker, Das Recht wird in und mit der Auslegung, JZ 1969, 477 ff. 14 Vgl. Engisch, Einführung, S. 133. 15 Vgl. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 20.

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Richtigkeit in einem „absoluten“ Sinne ist in der Rechtspraxis kein maßgebliches Ziel; es besteht praktisch keine Chance, zu Ergebnissen zu gelangen, die „höchsten“ Ansprüchen der Richtigkeit genügen. Richtigkeitserwägungen, die außerjuristische Gesichtspunkte beinhalten, sind wünschenswert und jedenfalls insoweit zugelassen, als das Gesetz selbst nicht entgegensteht.16 Juristische Entscheidungen basieren auf argumentativen Denkprozessen. In Form von „pro und contra“ werden Gründe und Gegengründe verglichen und abgewogen. Danach ist das Ergebnis nicht endgültig oder zwingend, sondern es bleibt für nachträgliche Revisionen und Einwände offen. Das richtige Ergebnis stellt daher – neben der selbstverständlichen Beachtung der Regeln der Logik – auf eine inhaltlich angemessene Lösung ab.17 In diesem Sinne stellt die argumentativ orientierte Entscheidungsfindung ein rationales Verfahren dar, das die gefundenen Ergebnisse und ihre Begründung weiterer methodischer Prüfung zugänglich macht. Definitive und zwingende Ergebnisse werden hingegen nur durch Verfahren erreicht, die auf Axiome bzw. bereits Bewiesenes zurückgreifen. Die ständige Modifizierung von Gerechtigkeitsanschauungen kann dabei zur Betonung bisher als nebensächlich erscheinender Aspekte führen, andererseits sind jedoch auch Situationen denkbar, in denen „wohletablierte Elemente, die von jeher als juristisch relevant angesehen worden waren, . . . einen neuen Stellenwert erhalten und dadurch ihre ehemalige Überzeugungskraft teilweise einbüßen oder ganz und gar verlieren.“18 Damit ändert sich auch das, was als „richtig“ anerkannt ist oder war.

IV. Intersubjektive Überprüfbarkeit und Deduktion Zunächst: Die Akzeptierbarkeit eines Urteils ist nicht in erster Linie das Ergebnis einer Deduktion. Intersubjektive Überprüfbarkeit eines Ergebnisses19 ist nicht davon abhängig, ob das Ergebnis selbst zu akzeptieren ist, wenngleich dieser Gesichtspunkt in der Rechtspraxis ganz überwiegend Beachtung findet. In Modellansätzen gewinnen Annehmbarkeitsüberlegungen ebenso wie Gesichtspunkte der Redlichkeit und Gerechtigkeit an Bedeutung.20 Die Mehrzahl der Fälle ist dem Anschein nach hinsichtlich ihrer Akzeptierbarkeit unproblematisch. Ausreichende 16 Vgl. Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung, Berlin 1977, S. 104 ff., der Richtigkeitserwägungen als „Behelf“ zum Auffinden vorrechtlicher Kriterien begreift. 17 Ebd., S. 105. 18 Ebd., S. 109. 19 Zur Intersubjektivität als Sprachproblem vgl. Tebaldeschi, Rechtswissenschaft als Modellwissenschaft, Wien – New York 1979, S. 94 ff. – Grundlegend zum Intersubjektivitätsproblem Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, Berlin 1980, S. 28 ff. 20 Dazu Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, Freiburg – München 1979, S. 131; vgl. auch Röthel, Normkonkretisierung, S. 144 ff.

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inhaltliche Gründe für ihre Akzeptierbarkeit erhalten sie nicht aus bloßen formellen Gegebenheiten. Deduktionen spielen de facto in juristischen Begründungen nicht die Rolle, die man ihnen gemeinhin zumisst.21 Bei Einzelentscheidungen und Normbehauptungen geht es um das Auffinden der „richtigen“ Prämissen, während der Deduktionsvorgang in den Hintergrund tritt, da er sich regelmäßig in zahlreichen Mikroschritten verliert. In der Mehrzahl der Fälle sind im Übrigen verschiedene Rechtssätze mit unterschiedlichen Ergebnissen anwendbar, wobei eine Rangfolge der Alternativen sich weniger häufig aus allgemeinen Normen als aus der konkreten Situation ergibt. Damit aber vollziehen sich juristische Denkakte meist außerhalb formaler Denkschemata. Vollständige Deduktionen sind kaum je erreichbar; insbesondere ist mit den Regeln eines Logikkalküls nicht nachweisbar, dass korrekt durchgeführte Deduktionsschritte vorliegen, da die zu begründenden Sätze wie die Begründungssätze selbst nicht völlig eindeutig sind. Die Deduktion muss bereits daran scheitern, dass die Prämissen regelmäßig für eine deduktive Konklusion nicht ausreichend sind. Im Übrigen fehlt es bereits an der – weitgehend unrealisierbaren – Widerspruchsfreiheit des Rechtssystems selbst.22 Der Beweis inhaltlicher Richtigkeit eines Satzes kann nicht durch seine Deduktion erbracht werden, ebenso wenig sagt die Axiomatisierung einer Satzklasse etwas über ihre Richtigkeit aus. Es kann nicht Aufgabe eines axiomatischen Verfahrens sein festzulegen, welche Sätze in das System aufzunehmen sind; vielmehr geht es hier lediglich um eine übersichtliche Darstellung der Sätze. Günstige Auswirkungen können bei Anwendung dieser Methode darin bestehen, dass eine Offenlegung der Prämissen erfolgt. Stichhaltige Begründungen verlangen nach einer akzeptablen Interpretation der Prämissen und der Konklusion, „semantische Wahrheit“ ist (nur) über Prämissenbegründung erzielbar, die Deduktion impliziert nicht die Akzeptierbarkeit, außer man bejaht die Denkbarkeit von „selbsttragenden Axiomen letzter Wahrheit“;23 dabei muss die Formalisierung keinesfalls Bedeutung zerstörende Wirkungen haben, sie verhindert eher die Gefahr eines versteckten Einflusses nicht offen gelegter Prämissen.24 21 Zum „logischen Deduktivismus“ Schreiner, Intersubjektivität, S. 32 ff. Vgl. aber auch Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um . . . , Tübingen 1993. 22 Vgl. dazu v. Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode in der Rechtswissenschaft, in: Jahr / Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1971, S. 315 ff. (328 ff.); Opalek / Wolenski, Das Problem der Axiomatisierung des Rechts, in: Winkler / Antoniolli, Rechtstheorie und Rechtsinformatik, Wien – New York 1975, S. 51 ff. und 59 ff., die auch die aktuelle Axiomatikdiskussion darstellen (S. 62 ff.). – Selbst soweit man die Möglichkeit einer Axiomatisierung des Rechtssystems bejahte, bleibt fraglich, ob zur Rechtfertigung von Sätzen die Ableitbarkeit aus einem System ausreicht, da bei der Axiomatisierung kein Satz hinsichtlich seiner Vertrauenswürdigkeit geprüft wird und daher gerechtfertigt ist. 23 So Schreiner, Intersubjektivität, S. 34 f. 24 So Rottleuthner, Richterliches Handeln, Frankfurt am Main 1973, S. 9. Das deduktive Verfahren berücksichtigt auch nicht ausreichend das Problem des hermeneutischen Zirkels: Der Richter oder Verwaltungsentscheider erkennt die Regelbedürftigkeit eines Falles und die

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Ohne die Bedeutung deduktiven Denkens für den juristischen Entscheidungsprozess grundsätzlich zu unterschätzen, lässt sich zumindest feststellen, dass die Deduktion ein hinreichendes Begründungsverfahren nicht liefert, da die Prämissenbildung selbst wertungsabhängig ist.25 Begriffsinterpretation und Wahl der Interpretationsregeln beruhen auf Wertungsakten,26 jedes Wort scheint teleologisch eingebunden,27 ja letztlich scheinen alle Begriffsbestimmungen, die auf den Gesetzessinn rekurrieren, ein rechtspolitisches Postulat zu beinhalten.28 Möglich hingegen scheint mir eine reduktive Vorgehensweise, nicht als Rückführung eines Begriffs auf andere nach naturwissenschaftlichem Muster oder aufgrund der dort angenommenen Gesetzmäßigkeiten, sondern im Sinne analytischer Gewinnung eines eindimensionalen Begriffs als Ausgangspunkt der Überlegungen.29 Die Reduktion eines Begriffs auf seine eindimensionalen Elemente kann allerdings nicht zur vollständigen Gewissheit über den Inhalt führen. Immerhin lässt sich ein vorläufiges Stadium erreichen durch eine sämtliche Aspekte eines Begriffes berücksichtigende Aufgliederung. Juristische Begriffsbildung muss damit auf eine rationale Rekonstruktion nicht vollständig verzichten.30 Während die Intersubjektivität der aus Tatsachenurteilen abgeleiteten Hypothesen nicht problematisch ist, kann dies bei Werturteilen und den aus ihnen abgeleiteten Hypothesen nicht ohne weiteres angenommen werden. Es liegt daher nahe, Werturteile als nur subjektiv gültig einzustufen und in einem zweiten Schritt der Forderung nach intersubjektiver Akzeptierbarkeit gerecht zu werden. Die PlausibiEntscheidungsrelevanz einer Norm erst mit der Vorauswahl der Hypothesen. Basisaussagen enthalten ein theoretisches Element, da sie im Blick auf mögliche Hypothesen formuliert werden. Wird die – hiervon unterschiedene – deduktive Gesetzesanwendung selbst außer acht gelassen, so könnte sich im hermeneutischen Auslegungsgang jede („vorverstandene“) Hypothese rechtfertigen lassen – ein zirkuläres Verfahren: ob eine empirische Hypothese angepasst ist, ist nicht durch hermeneutische Erklärung, sondern nur durch empirische Überprüfung festzustellen. 25 Vgl. Weimar, Wahrheit, S. 236. 26 Clemens, Strukturen juristischer Argumentation, Berlin 1977, S. 54 ff. 27 So Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 54 Anm. 13. 28 In diesem Sinne Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1968, S. 27 f.; vgl. zum Ganzen Arthur Kaufmann, Freirechtsbewegung – lebendig oder tot?, in: JuS 1965, S. 1 (5). 29 Zu den Möglichkeiten einer Axiomatisierung in Teilbereichen des Rechts Schreiner, S. 27 ff. und zum reduktiven Verfahren S. 52 ff. Vgl. auch Westermann, Argumentationen und Begründungen in der Ethik und Rechtslehre, Berlin 1977, S. 101 Fußn. 5a. 30 Deduktive Logik allein genügt nicht zur Sicherstellung der Akzeptierbarkeit des (intersubjektiv dargestellten) Ergebnisses. Vgl. zu den Versuchen einer logischen Strukturierung des zu begründenden Arguments Tammelo / Moens, Logische Verfahren der juristischen Begründung, Wien – New York 1976, S. 53 ff.; ähnlich auch Tammelo, Möglichkeiten und Perspektiven des formellen Rechtsdenkens, in: Klug u. a. (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht, Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, Berlin – Heidelberg – New York 1978, S. 191 ff.

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lität der aus Werturteilen abgeleiteten Hypothesen ist jedoch nur zu erreichen, wenn der Entscheidende nicht die Gesamtheit der interessierten Mitglieder der jeweiligen Rechtsgemeinschaft außer acht lässt. So wenig einfach es ist, eine Werturteilshypothese akzeptabel zu gestalten, so schwierig ist es auch, diese Hypothese dann zu widerlegen. Selbst sehr viele kritisierende Werturteile sind nicht in der Lage, eine plausibel dargestellte Hypothese zu widerlegen, solange sie nicht selbst den Plausibilitätsanforderungen genügen. Als plausibel kann eine Hypothese gelten, wenn ihrer konkreten Anwendung keine Einwände entgegenstehen. In diesem Zusammenhang ist die plausible Ausgestaltung von Behauptungen von Bedeutung, deren Rechtfertigung als „zweite Stufe“ der Argumentation bezeichnet werden kann. V. Konsensgenerierung Rang und Verbindlichkeit übergreifender Grundanschauungen bestimmen die argumentative Autorität einer Basistheorie.31 Sätze dieser auf einem Konsens der Rechtsgemeinschaft beruhenden Theorie können in der Verfassung niedergelegt sein (z. B. als Grundrechte, als Entscheidung für einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat).32 Ihren Niederschlag finden diese Sätze auch in Generalklauseln des einfachen Rechts. Lange Zeit wurde die Basistheorie aufgrund der Naturrechtslehren und Gesellschaftstheorien wie durch die Autorität religiösen und metaphysischen Gedankengutes geprägt.33 Berücksichtigt man, dass die Basistheorie vom Erkenntnisstand und politischen Gesamtzustand der Gesellschaft abhängig ist, muss im Rahmen einer Untersuchung juristischer Entscheidungen der Basistheorie besonderes Interesse auch deshalb gelten, weil diese direkter und deutlicher wertungsorientiert ist als die Dogmatik selbst. Als „juristisch“ hingestellte Argumentationen sind hier of unpräzise, weil „elastisch“ formulierte Aussagen, die als „Leerformeln“ fungieren, ohne durch Tatsachenmerkmale inhaltlich genügend ausgefüllt und mit den Techniken der Rechtsdogmatik näher konkretisiert zu sein. Während die institutionelle und politische Ausgestaltung der Autorität der Basistheorie unterschiedlich ist, beruht sie im Allgemeinen auf dem Rahmen und der Verbindlichkeit von Weltanschau31 Zum Basisproblem eingehend Zinn, Wertfreiheitspostulat und Basiswerte, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 62 (1976), S. 183 ff. 32 Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 1975, S. 145 (156); vgl. auch Röthel, Normkonkretisierung, S. 162 ff. 33 Auch eine offizielle Staatsideologie kann die Funktionen der Basistheorie übernehmen. Auch eine lediglich als Etikett benutzte Wissenschaftlichkeit kann der mit Hilfe eines allgemeinen Konsenses geführten Argumentation zusätzliche Autorität einbringen. Stabilisierungswirkungen der Basistheorie bezüglich juristischer Argumentationen sind deutlich abhängig von ihrer Gestaltung und Autorität, die ideologisch, sozial oder auch im engeren Sinne politisch abgesichert sein kann. Gleichzeitig bestimmen die materialen Gehalte eines in der Rechtsgemeinschaft wirksamen Konsenses die rationale Ausformung der Argumentation. Vgl. Weimar, Wahrheit, S. 238.

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ungen, die der Mehrzahl der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft gemeinsam sind und insoweit einen Konsens darstellen.34 Zwar bietet gerade eine offene und pluralistische Gesellschaft die Möglichkeit zu wirksamer Kritik der Basistheorie, verwehrt somit nicht die Chance zur Ablösung veralteter oder erstarrter Elemente.35 Dabei entsteht jedoch das Problem, wie die Basistheorie ihre Aufgabe als Stabilisierungsfaktor erfüllen kann. Als Beispiele punktueller Kritik sind Grundsatzdiskussionen um bestimmte Rechtsfragen zu nennen. Aber auch die Gefahr eines prinzipiellen Pluralismus, der nicht zur aufklärerischen Umschichtung der Basistheorie führt und alte Verbindlichkeiten abbauen hilft, sondern die tatsächlich vorhandenen Gemeinschaftswerte und damit die Basistheorie selbst auf ein Minimum reduziert, sei an dieser Stelle erwähnt. Ein hinsichtlich der Basistheorie fehlender Konsens kann, wie historische Erfahrungen und methodologische Überlegungen zeigen, nur begrenzt eine Kompensation durch gesetzesförmigen Konsens erfahren.36

VI. Konsensbildung durch Argumentation? Die Steuerung des Argumentierens durch Gesetz, Dogmatik und Basistheorie lässt sich auf allen Argumentationsebenen nachweisen. Argumentative Autoritäten haben Einfluss auf die Reflexionen der Rechtsbetroffenen oder Rechtsinteressenten.37 Ein systemtheoretischer Ansatz38 stellt hier nicht so sehr die Argumentation als solche, sondern eher die Entscheidungseffizienz in den Mittelpunkt. Ist wegen der Komplexität juristischer Entscheidungen die Überprüfung der Richtigkeit von Entscheidungsinhalten ohnehin fraglich, so stellt dieser Ansatz mehr auf die sozialtechnologische Bedeutung an sich ab; argumentative Autorität gehört zur Legitimationstechnik. Der materielle Inhalt juristischer Argumentationen hat nur insoweit Gewicht, als er zur Erfüllung der Legitimationsaufgabe beiträgt. Argumentative Autorität besteht freilich nur so lange, als sie nicht für irrational befunden wird – es sei denn, das System wird aufgrund bestehender Machtverhältnisse zwangsweise erhalten.39 Alternative ist die Lösung juristischer Entscheidungs34 Die konkrete – ideologische, sozial und politisch abgesicherte – Autorität und ihre Gestaltung bestimmen den Stabilisierungseffekt, der von der Basistheorie auf die juristische Argumentation ausgehen kann. Auch wird die Rationalität einer Argumentation entscheidend beeinflusst durch die materiellen Inhalte der Basistheorie. 35 Vgl. dazu auch Albert, Traktat, S. 75, dem zufolge die Behandlung ethischer Aussagen und Systeme als Dogmen einer Betrachtung möglicher Alternativen und neuer Perspektiven zu weichen habe. 36 Weimar, Wahrheit, S. 238 f. 37 Zum Zusammenhang von Aussageautorität und Konsens vgl. Horn, Rationalität, S. 157 ff. 38 Vgl. dazu Weimar, Wahrheit, S. 239 f. 39 Horn, Rationalität, S. 158.

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prozesse durch Argumentationsautoritäten, was zugleich eine gewisse Unabhängigkeit von hinter diesen Autoritäten stehenden politischen Faktoren und der durch sie bewirkten Bevormundung schafft; das birgt natürlich die Gefahr der Zerstörung darauf gegründeter Kommunikations- und Konsensmöglichkeiten.40 Die Abhängigkeit rationalen juristischen Entscheidens von argumentativen Autoritäten findet ihre Entsprechung in der letztlich auf einem Rationalitätsanspruch beruhenden Verbindlichkeit der Argumente, die Auswirkungen auf den Konsens hat. Gerade die argumentative Form juristischen Denkens ermöglicht es jedem Teilnehmer des Rechtsgesprächs, kritisch zu prüfen, ob und in welchem Umfang es sinnvoll ist, bestimmte argumentative Autoritäten im Entscheidungsprozess zu zitieren und sie auch zu akzeptieren. Kritik ist sicherlich dort nur beschränkt möglich, wo die Verbindlichkeit juristischer Argumente gesetzliche Fixierung erfahren hat; von besonderer Bedeutung ist sie auf der anderen Seite jedoch innerhalb vorhandener Interpretationsspielräume oder als Bestandteil rechtspolitischer Diskussionen.41 Vom jeweiligen gesellschaftlichen Legitimationsbedarf hängt es ab, inwieweit die Anerkennung der Verbindlichkeit juristischer Entscheidungen auch den Einsatz anderer Mittel notwendig macht. Die Forderung, juristische Entscheidungen auch mit weiteren Mitteln abzusichern, rechtfertigt sich daraus, dass die Argumentation nur begrenzte Möglichkeiten für die Erreichung von Konsens bietet.42 Zwar ist es möglich, dass Rechtsinteressierte bestimmte Behauptungen als evident oder zumindest vertretbar akzeptieren, das Ausmaß dieser Konsensbasis hängt jedoch von individuellen und sozialen Beziehungen ab.43 Sofern Rechtssubjekte einer anderen Weltanschauung angehören oder eine verschiedenartige Sozialisation erfahren haben, wird ihre Konsensbasis unter Umständen gering sein. Argumentation ist daher nur ein weniger zuverlässiges Mittel, um einen Konsens und die Legitimität einer rechtlichen Entscheidung zu sichern. Sozialtechnologische Möglichkeiten bieten hier unter Umständen einen Ausweg. Fixierte Rollen, Verfahrensrecht und eine damit abgesicherte Autonomie des Verfahrens sowie Verantwortungszurechnung sind Faktoren, die die Anerkennung getroffener Entscheidungen fördern. Diese auch im Blick auf eine Legitimation der Entscheidung wirksamen Faktoren erfahren einen optimalen Einsatz durch die zusätzlich verstärkte Anwendung der Argumentation und Persuasion. Nur eine gemeinsame Anwendung der verschiedenen Mittel bietet die Möglichkeit zur Erreichung eines allgemeinen Konsenses.44

Horn, ebd., S. 158 f. Horn, ebd., S. 159 f.; vgl. auch Röthel, Normkonkretisierung, S. 139 ff. 42 Clemens, Strukturen, S. 44; weiterführend Picker, Richterrecht und Richterrechtssetzung, JZ 1984, 153 ff. 43 Weimar, Wahrheit, S. 240. 44 Clemens, Strukturen, S. 24 f. und 44. 40 41

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VII. Konkretisierung von Normhypothesen Außer dem Gesetzestext werden auch andere Rechtsquellen als bestimmend angesehen. Zu den Erkenntnissen, die sich durchzusetzen begonnen haben, gehört die Einsicht, dass sich richterliches und administratives Entscheiden nicht adäquat als „Anwendung“ des Gesetzes oder wenigstens der im Gesetz zum Ausdruck kommenden „Rechtsgedanken“ beschreiben lässt. Es ist nicht zu übersehen, dass die aus ihnen gewonnenen Ergebnisse nur noch vage mit dem Wortlaut des Gesetzes in Beziehung gebracht werden. Schon früher hatte man erkannt, dass dieser Rekurs meist erst funktioniert, nachdem das Gesetz „zurechtinterpretiert“ und ergänzt worden war. Selbst in Fällen scheinbarer Eindeutigkeit, also in den „Subsumtionsfällen“, hat der Richter oder Verwaltungsentscheider bei der Normenwahl, der Auslegung des Gesetzestextes und der Würdigung des Sachverhalts eine hoch differenzierte Eigenarbeit zu leisten, die mit dem logischen Subsumtionsakt kaum etwas zu tun hat. Seit längerem wendet sich daher das Interesse gerade den judiziellen Orientierungen zu, die der allzu strapazierten Positiviertheit der Rechtsordnung offenbar nicht zu entnehmen sind: der Flucht in die „Grundsätze“, „topoi“, den richterlichen „Kunstregeln“ und Argumentationsstandards, kurz: dem Terrain der „außergesetzlichen Rechtsordnung“.45 Richterliche und administrative Rechtsfindung ist nicht Auslegung im Sinne von Sinndeutung, Analogie usw., sondern Konkretisierung von Normhypothesen, wobei manche Probleme insoweit storniert sind, als Gesetz- und Verfassungsgeber sie behandelt haben. In diesem Kontext ist es allerdings erforderlich, einschlägige Gesetzesstellen auszulegen, um festzustellen, was der Gesetz- oder Verfassungsgeber entschieden hat. Dabei begnügt man sich nicht mit der Worterklärung, sondern ermittelt, welche rechtspolitischen Fragen abgeschnitten sind, und prüft die sozialadäquate Stimmigkeit der legislativen Regelungen, was wiederum ihre Korrigierbarkeit impliziert.46 Der Erwägungs- und Entscheidungsspielraum des Rechtsstabs wird außer durch die Beachtung der gesetz- und verfassungsgeberischen Entscheidungen durch die Anerkennung der Präjudizien eingeschränkt. Es besteht eine (widerlegliche) tatsächliche Vermutung zugunsten sämtlicher Präjudizien. Die Präjudizienvermutung 45 Hierzu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl., Tübingen 1990; Viehweg, Topik und Jurisprudenz – Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 5. Aufl., München 1974; vgl. auch Weimar, Wahrheit, S. 241. 46 Sowohl der Begriff „Lücke“ als auch die Unterscheidung zwischen „Auslegung“ und „Rechtssatzergänzung“ und die Verfahrenstradition judizieller Syllogistik haben nur im Zusammenhang der „vorgebenden Entscheidungsgründe“, also der sekundären Legitimierung judizieller Ergebnisse am Gesetz, noch ihre Bedeutung. Im Zusammenhang der überdeckten, d. h. der eigentlichen Erwägungen dynamischen Judizierens sind sie weitgehend gegenstandslos. Entsprechendes gilt für juristisch-administratives Entscheiden.

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dient hier nicht nur praktischen Gesichtspunkten wie der Rechtssicherheit, sondern sie gewährleistet ein gewisses Maß an Rationalität der judiziellen Rechtsentwicklung. Indem sie das Handeln des Rechtsstabs auf insoweit meist überschaubare Schritte einschränkt, entlastet sie von Überforderungen und ermöglicht die Kooperation aller judiziellen Instanzen. Abweichungsfälle hält sie als dysfunktionale, gleichwohl aber „brauchbare Illegalität“ (Luhmann) einer breiten Reaktion der Öffentlichkeit und damit der Korrektur offen, erzwingt damit zugleich die systemstabilisierende Bewährung des integrierten Erkenntnisbestands.47 Entscheidungsargumentation ist infolge einer großen Zahl von Faktoren (wie Doktrinen, Interessen usw.) in ihrer Rationalität beeinträchtigt. Daher lassen sich die Einzelschritte selten mit Gewissheit übersehen. Die Diskussion dauert tendenziell unendlich und ein Schritt kann nur als bewährt und eingefahren gelten, wenn seine „Richtigkeit“ durch keine Kritik mehr angefochten ist. Bemühungen, ein judizielles Verhaltensmodell abstrakt zu deduzieren, und ebenso alle Versuche, „Gerechtigkeit“ oder Urteilsrichtigkeit erschöpfend und endgültig zu definieren, bedeuten einen Austritt aus der Diskussion. Sobald irgendeine der dabei gemachten Aussagen durch tragfähige Aspekte der Wirklichkeit hinfällig werden kann – und das war bisher noch immer der Fall – erweist sich der Anspruch auf überzeitliche Richtigkeit als ideologisch.48 Der Entscheidungsspielraum des Rechtsstabs ist überdies nicht in bestimmtem Sinne festgelegt, er ist gerade durch die konkrete Fallentscheidung variabel.

VIII. Legitimation durch Begründung? Um die Legitimität ihrer Entscheidungen zu spezifizieren, sind vor allem Richter an die Einhaltung bestimmter „Verfahrensrituale“ gebunden.49 Damit soll jedoch nicht einer „Legitimation durch Verfahren“50 das Wort geredet werden. Diesem Luhmannschen Konzept zufolge ist durch Verfahren als „Leistung des Systems“ – unabhängig vom gesellschaftlichen Hintergrund des Rechtsstreits – eine Legitimation erreichbar.51 Die Legitimation eines Verfahrens und die Legitimität einer Entscheidung gründen nach Luhmann letztlich auf einer bloßen Machtdelegation.52 Indem der Richter „symbolisch-zeremoniell“ am Recht arbeitet, erIm Einzelnen Weimar, Wahrheit, S. 242. Weimar, ebd.; zum Fragenkreis der Rationalitätsbedingungen vgl. Röthel, Normkonkretisierung, S. 150 ff. 49 Vgl. im Einzelnen Weimar, Wahrheit, S. 242 ff. 50 Im Sinne der gleichnamigen Schrift Luhmanns, Legitimation durch Verfahren, Neuwied – Berlin 1969. 51 Ebd., S. 41; vgl. auch die Darstellung bei Büllesbach, Systemtheoretische Ansätze und ihre Kritik, in: Kaufmann / Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg – Karlsruhe 1977, S. 235 ff. (250). 52 So Esser, Vorverständnis, S. 208. 47 48

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leichtere er das „Lernen“. Entscheidungslegitimität resultiere nicht aus der Wahrheit und Richtigkeit, denn hierbei handele es sich nicht um Werte, sondern um soziale Mechanismen, die funktional auf die Erfüllung der Systemaufgaben ausgerichtet seien.53 Der Luhmannsche Ansatz verfehlt nicht nur das, was von einer grundlagenorientierten Rechtstheorie als Leistung erwartet wird, nämlich die Aufhellung der Bedingtheiten des Vorverständnisses des Entscheiders.54 Es wird nicht nur der Vorgang der Rechtsfindung zu einem obrigkeitlichen Informations- und Entscheidungsmodell mit dem Ziel auf Auslösung eines Lernprozesses (allein) beim „Rechtsunterworfenen“ verzerrt.55 Die Systemtheorie vermag vielmehr – und das ist von noch größerem Gewicht – die Realität richterlichen und administrativen Handelns nicht hinreichend zu erfassen. Es ist der von der Systemtheorie nicht als solcher in den Blick genommene Entscheidungsprozess selbst, durch den die antithetische Aufgabe von Normauslegung und -setzung vollzogen wird,56 Alternativen eliminiert, Komplexität reduziert57 und Verantwortung übernommen werden.58 Was ich hier als dem Richter und Verwaltungsentscheider dargebotene Entscheidungsrichtwerte als Qualitätspostulate zu beschreiben versucht habe, an denen Orientierung möglich ist, und was ich als in der Realität beobachtbares Verhalten der Richter und Verwaltungsentscheider zu verdeutlichen versucht habe, ist nicht die Perspektive der Systemtheorie. Der Umgang mit von materialen Gehalten entleerten „Verfahrensritualen“ ist Luhmanns Modell, nicht aber eine grundlagentheoretische Erfassung heutiger richterlicher und juristisch-administrativer Entscheidungspraxis. Wenn man also eine – trotz mancher Verschleierungsversuche – faktische Orientierung des Rechtsstabs an „letzter“ Richtigkeit und Wahrheit oder schon am bloßen Text einer Vorschrift nicht feststellen kann, gleichwohl jedoch das Verpflichtetsein auf Einhaltung bestimmter „Verfahrensrituale“ betont, so ist damit der den Rechtsanwender treffende Zwang zur Begründung der Entscheidung gemeint. Dementsprechend ließe sich von einer „Legitimation durch Begründung“ reden. Die Begründung ist Grundlage und Voraussetzung für das, was heute von 53 Luhmann, Legitimation, S. 23 f.; die Leistung von „Wahrheit“ im „sozialen Verkehr“ liege in der „Übertragung reduzierter Komplexität“ (S. 23). 54 Esser, Vorverständnis, S. 213; Röthel, Normkonkretisierung, S. 140. – Von weiteren Kritikpunkten wie Ideologieanfälligkeit, Überinterpretation von strukturellen Veränderungen im System als Systemrisiko, wissenschaftstheoretische Ungereimtheiten usw. – soll hier nicht die Rede sein; vgl. hierzu die komprimierten kritischen Bemerkungen bei Büllersbach, Systemtheoretische Ansätze, S. 252 ff.; H. W. Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, München 1976, S. 57; ausführlich Bechtler, Der soziologische Rechtsbegriff, Berlin 1977, S. 155 ff. mit zahlr. Nachw.; ferner Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main 1973, S. 129 f. 55 Dazu Esser, Vorverständnis, S. 214. 56 Ebd., S. 213. 57 Ebd., S. 208 f. 58 Weimar, Wahrheit, S. 245.

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einer juristischen Entscheidung verlangt wird: Sie muss rational nachprüfbar, rechtslogisch stimmig und konsensfähig sein.59 Entscheidungen müssen mit überzeugenden Entscheidungsgründen versehen sein, die die „Richtigkeit“ vermitteln. Überzeugen können Entscheidungen, die dem Anspruch auf „Vernünftigkeit“ entsprechen sollen, nur dann, wenn durch prinzipiell rational nachprüfbare Kriterien eine Richtigkeitskontrolle durchführbar ist. Die Überzeugungskraft von Argumenten ist damit auch abhängig von ihrer intersubjektiven Überprüfbarkeit, die eine vollständige Darlegung erfordert, maßgebliche Gründe also nicht verschweigen darf. Mit der Darstellung des Entscheidungsmotivs wird zugleich eine eingehende, gewissenhafte und sorgfältige Begründung gefordert, die notwendige Einblicke in den Erkenntnisvorgang ermöglicht. Insofern gilt auch hier, dass nur begründete Aussagen „verständlich und verständig“ sind. An die Begründung werden also bestimmte Anforderungen gestellt.60 Allgemein gehören hierzu alle Begründungsmuster, die gedankliche Zusammenhänge zwischen subjektiver Beurteilung und Gesetzen, Präjudizien und dogmatischen Aussagen deutlich werden lassen. Allgemeine Rechtsgrundsätze, „oberste“ Werte wie auch allgemeine Vernünftigkeitserwägungen können zur Erfüllung der Gerechtigkeitsaussage durch Verweis auf sich selbst den Mindestanforderungen an rationale Vorgehensweisen nicht genügen.

IX. Weitere Forschung Qualitätsentwicklungsbasierte Rechtstheorie muss ein Höchstmaß an eigentlich bestimmenden Entscheidungsgründen im Sinne sozialer Determinanten der Entscheidung explizit machen. Das setzt vor allem eine weitere Verbesserung der bislang wenig erhellenden Analysen über „Werte“ voraus. Aber auch schon der Rechtsstab selbst sollte sowohl die präjudizielle Wirkung der Entscheidungsnorm als auch die Anwendung der legitimierenden Begriffsauslegungen, Konstruktionen und „Prinzipien“ stärker substanziieren. Das bedeutet: Er sollte die Gründe offen legen, warum er sie und nicht andere gewählt hat, wohin seiner Meinung nach eine andere Entscheidung im Vergleich zu der gewählten führen würde und inwiefern Konsequenzen relevant wären.61 Auf diese Weise könnte auch die Erschließung 59 Rationalität der Entscheidung wird hier wiederum nicht im Sinne einer technokratischen Optimierung verstanden, vgl. Esser, Vorverständnis, S. 215. Wichtig Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung, Tübingen 1990. 60 Hierzu eingehend Röthel, Normkonkretisierung, S. 139 ff., 206 ff., 214 ff. 61 Zu dieser vielfach erhobenen Forderung vgl. Weimar, Wahrheit, S. 244; ferner Esser, Vorverständnis, insbes. S. 86 und 166; zweifelnd Zöllner, Recht und Politik. Zur politischen Dimension der Rechtsanwendung, in: Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift, gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen 1977 von ihren gegenwärtigen Mitgliedern und in deren Auftrag herausgegeben von Joachim Gernhuber, Tübingen 1977, S. 131 ff. (142). Weiterführend Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, Berlin 1996, insb. S. 242 ff. und 293 ff.

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des „Vorverständnisses“ im Einzelfall erleichtert werden. Je mehr Offenlegung, desto größer ist die Chance sozial- und selbstkritischer Rationalität. Mit solchen Offenlegungen unterwirft der Rechtsstab62 also nicht nur sein eigenes Handeln größerer interner und externer sozialer Kontrolle. Er vermehrt auch die rationale Disziplinierung der Kritik, die andere Instanzen wie die Wissenschaft und die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit an seiner Entscheidung üben. Damit verbessert er die Güte der Entscheidungen im Sinne des intendierten evaluativen Qualitätsentwicklungs-Modells und stärkt die Autorität der Rechtsprechung und öffentlichen Verwaltung.

62 Zum Rechtsstab gehört längst auch der Anwalt; er ist „Organ der Rechtspflege“. Auf dieser Basis kann auch die Möglichkeit von lawyer-made law nicht mehr generell verneint werden. Instruktiv Kasper, Der Anwalt im Kampf ums Recht, in: JZ 1995, 746 ff.

Eine rechts- und wissenschaftstheoretische Problematisierung: Was ist Wirtschaftsrecht?* I. Begriff des Wirtschaftsrechts und Abgrenzungsversuche Die Bestimmung von Begriff und Stellenwert des Wirtschaftsrechts ist keine ganz einfache Aufgabe. Das zeigt die kontrovers geführte Diskussion um das Wirtschaftsrecht als Rechtsdisziplin und seinen Gegenstand in der wissenschaftlichen Literatur. Die Bemühungen sind von rechtsdogmatischen und von wissenschaftstheoretischen Überlegungen geleitet. Beide Betrachtungsebenen weisen, obwohl verschiedenen Charakters, methodologisch gleich gelagerte Grundbedingungen auf. Keine der beiden Perspektiven kann sich allein der Frage nach dem Begriff und Gegenstand des Wirtschaftsrechts befriedigend annehmen. Die Festlegung dessen, was zum Wirtschaftsrecht als Rechtsbereich gehört, ist – anders als die Feststellung der rechtlich bzw. rechtswissenschaftlich anerkannten Inhalte des Begriffs Wirtschaftsrecht – eine Zweckmäßigkeitsfrage: Die möglichen Antworten lassen sich prinzipiell nicht den Kategorien „wahr – falsch“ zuordnen. Die Festlegung des Gegenstands des Wirtschaftsrechts ist im Wesentlichen zunächst einmal eine Frage der Themenwahl (was freilich nicht heißt, dass eine solche Entscheidung nicht kritisierbar wäre). Die Gegenstandsbestimmung muss sich als wissenschaftlich ergiebig und als praktisch nutzbringend erweisen. Der in Art. 74 Nr. 11 GG verwendete Begriff „Recht der Wirtschaft“ ist nicht mit „Wirtschaftsrecht“ synonym.1 Zum Recht der Wirtschaft i. S. des Art. 74 Nr. 11 GG gehören alle das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen, die sich in irgendeiner Form auf die Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs * Erstveröffentlichung in: R. Weimar / P. Schimikowski, Grundzüge des Wirtschaftsrechts, 2. Aufl. 1993, S. 1 – 11. München: Vahlen. Beitrag geringfügig überarb. 1 Zum Begriff „Recht der Wirtschaft“ i. S. des Art. 74 Nr. 11 GG vgl. Leibholz / Rinck, Grundgesetz, Stand Mai 1991, Art. 74 Rdnr. 4a; Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Komm. z. GG, Stand September 1991, Art. 74 Rdnr. 61. Vgl. ferner Schluep, Was ist Wirtschaftsrecht?, FS Hug, 1968, S. 25 ff., der Wirtschaftsrecht allgemein als „Recht der Wirtschaft“ begreift, wobei er freilich nicht den in Art. 74 Nr. 11 GG verwendeten Begriff zugrunde legt. Ähnlich Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, 1971, S. 2, der in diesem Zusammenhang von „rechtlicher Ordnung der Wirtschaft“ spricht und damit diejenige Ordnung meint, die durch den Inbegriff der Normen geschaffen wird, die sich auf das Wirtschaftsleben i. w. S. beziehen, insbes. auf die Vorschriften, welche die Wirtschaftsabläufe als solche regeln.

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beziehen.2 Das Recht der Wirtschaft umfasst hiernach also nicht nur Gesetze, die ordnend und lenkend in das Wirtschaftsleben eingreifen.3 Der Begriff Wirtschaftsrecht wird demgegenüber als engerer Begriff aufgefasst; er kann nicht auch alle diejenigen wirtschaftlich bedeutsamen Teilgebiete in sich aufnehmen, die sich schon früher als selbständige Rechtsmaterien verfestigt hatten. Darauf ist zurückzukommen.

Nun zeigt aber die Interpretation des Begriffs „Recht der Wirtschaft“, dass sie ihrerseits durch dogmatische Begriffe und Systembildung geprägt ist. Und weil die Verfassung den von ihr verwendeten Begriff „Recht der Wirtschaft“ nicht abschließend präzisiert, vielmehr nur beispielhaft erläutert („Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen“), kann hier ein im Wesentlichen außerrechtliches Begriffsverständnis zugrunde gelegt werden; das gilt nicht minder für den Begriff „Wirtschaftsrecht“, den die Rechtsordnung ebenfalls nicht explizit festlegt. Es ist keineswegs außergewöhnlich, sondern kommt häufig vor, dass der Normgeber Begriffe aus der Umgangssprache oder aus einer nicht juristischen, insbesondere der wirtschaftswissenschaftlichen Fachsprache rezipiert4 und zum Bestandteil rechtlicher Regelungen macht (vgl. z. B. §§ 1, 4, 6, 9, 10, 11, 12, 15, 16, 17, 19 StabG, 15 ff. BBankG, 22, 24 GWB, in denen das Gesetz jeweils wirtschaftswissenschaftlich geprägte Begriffe verwendet).

So kann dem Verzicht auf gesetzliche Präzisierung des Begriffs Wirtschaftsrecht wohl die Legitimation entnommen werden, unter Wirtschaftsrecht das zu begreifen, was im juristischen Sprachgebrauch darunter verstanden wird. Indes gibt es bis heute keinen festen Bestand an gesicherten Auffassungen über Inhalt, Umfang und Grenzen des Wirtschaftsrechts.5 Anerkannt ist eigentlich nur, dass im Wirtschaftsrecht kein Raum ist für eine strikte Trennung von privatem und öffentlichem Recht. Das Wirtschaftsrecht scheint von der herkömmlichen Systematisierung als „unbewältigter Systemrest“ (Nußbaum) abgekoppelt. Der Streit darüber, wie man Wirtschaftsrecht methodisch bestimmen soll; währt nun schon seit etwa 70 Jahren, ohne dass ein Ende abzusehen ist.6 Im Gegenteil: Seit sich das Wirtschaftsrecht als eigenes Studienfach etablieren konnte, haben die Kontroversen um die Begriffs- und Systembildung eher zugenommen, ohne dass der Gegenstand des Wirtschaftsrechts aus den unterschiedlichen Auffassungen etwa nach deren „niedrigstem gemeinsamen Level“ herausgefiltert werden könnte. Allerdings BVerfGE 8, S. 143 (148 ff.). Dazu Maunz (FN 1), Art. 74 Rdnr. 61 f. 4 Vgl. Rinck, Wirtschaftswissenschafliche Begriffe in Rechtsnormen, FS Franz Böhm, 1965, S. 61 ff.; Jahr, Funktionsanalyse von Rechtsfiguren als Grundlage einer Begegnung von Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, in: Raiser / Sauermann / Schneider (Hrsg.), Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik, 1964, S. 14 f. 5 Vgl. die Übersicht über die verschiedenen Bestimmungsversuche bei Brohm, Wirtschaftsrecht – Anrecht und Aufgabe, DÖV 1979, S. 18 ff.; ferner Tilmann, Wirtschaftsrecht, 1986, insbes. S. 28 ff. 6 Vgl. Mertens, Wirtschaftsrecht, AG 1976, S. 62 ff. m. w. N. 2 3

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gibt es eine Reihe von Rechtsgebieten, deren Zugehörigkeit zum Wirtschaftsrecht in der rechtswissenschaftlichen Diskussion weitgehend unkontrovers ist. Als Beispiele lassen sich anführen das Recht der Wirtschaftslenkung (dessen Ortung im Einzelnen freilich höchst streitig ist), insbesondere das Subventions- und Preisrecht, das Recht der öffentlichen Unternehmen, das Währungs-, das Außenwirtschaftsrecht, um nur einige wichtige Gebiete zu nennen.

Hier kann einführend nur eine – sehr vereinfachte – Übersicht darüber gegeben werden, welche Möglichkeiten für eine Gegenstandsbestimmung des Wirtschaftsrechts überhaupt in Betracht gezogen werden können. Solche Gegenstandsbestimmungen legen entweder umrisshaft fest, was innerhalb der Rechtsdisziplin Wirtschaftsrecht behandelt werden soll, oder sie sind auf jeweils konkrete Rechtsgebiete bezogen und bestehen aus einer empirischen oder logischen Analyse des Gegenstands, auf den sich das jeweilige System bezieht. Dabei sind immer schon entsprechende rechtsdogmatische Konzepte vorausgesetzt. Bestimmungen des Gegenstands des Wirtschaftsrechts sind fast immer als Antworten auf die Frage „Was ist Wirtschaftsrecht?“ gedacht. Die Regelmäßigkeit, mit der Antworten auf diese Frage immer wieder versucht werden, lässt sich zurückführen auf die Ansicht, dass man nur dann sinnvoll über etwas reden kann, wenn man es zuvor definiert hat.7 Als typische Beispiele für solche Bestimmungsversuche seien aus der Literatur genannt: – Wirtschaftsrecht ist das „Recht der Wirtschaft“ (Schluep).8 – Wirtschaftsrecht sind alle diejenigen Entscheidungen des Rechtssystems, die gerechterweise nicht ohne rationale Ausrichtung an wirtschaftspolitischen Optimierungskriterien getroffen werden können (Mertens).9 – Wirtschaftsrecht ist ein System von Gesetzen und staatlichen Entscheidungen zur Lenkung, Förderung oder Begrenzung der selbständigen Erwerbstätigkeit (Rinck).10 – Wirtschaftsrecht fasst Rechtssätze und Institute zusammen, soweit spezifische gesamtwirtschaftliche Wertungen für sie maßgebend sind (Rittner).11 7 Auf eine Definition verzichten will Brohm (FN 5), S. 22 ff. Vgl. ferner Wiethölter, Art. „Wirtschaftsrecht“, in: Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, 1972, S. 531; ders., Die Position des Wirtschaftsrechts im sozialen Rechtsstaat, FS Franz Böhm, 1965, S. 41 ff. 8 Schluep (FN 1), S. 25. 9 Mertens (FN 6), S. 68. 10 Rinck / Schwark, Wirtschaftsrecht, 6. Aufl. 1986, Rdnr. 10; ähnlich Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl. 1984, Rdnr. 1; Frotscher, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1988, § 1 II; R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 7. Aufl. 1991, § 2 I. 11 Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1987, § 1 Rdnr. 42 f.

Eine rechts- und wissenschaftstheoretische Problematisierung

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An diese Begriffsbestimmungen schließen sich gewöhnlich weitere an, in denen die zur Klärung verwendeten Begriffe selbst präzisiert werden. Obwohl auch dabei wieder auf andere, nicht immer für sich verständliche Begriffe Bezug genommen werden muss, enden hier zumeist die Bemühungen um eine begriffliche Klärung. Das Ziel der definitorischen Bemühungen, Wirtschaftsrecht als ein von anderen Rechtsbereichen unterscheidbares Normenfeld zu bestimmen, scheint also kaum leicht erreichbar. Die dargestellten Bestimmungsversuche entbehren eines klaren gemeinsamen Nenners. Die Bestimmung kann im Wesentlichen auf vierfache Weise versucht werden: – durch eine Rechtsbetrachtung unter ökonomischen Gesichtspunkten (1), – durch sachentsprechende Auslegungsmethoden (2), – durch die Eigenart des Objekts der Regelungen (3), – durch die spezifischen Regelungszwecke (4).

Zu (1): Die Rechtsbetrachtung unter ökonomischen Gesichtspunkten hat den Nachteil, dass damit die juristische zugunsten einer wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellung in den Hintergrund tritt. Als Methode zur Gewinnung der Disziplin Wirtschaftsrecht ist aber gegen diese Betrachtungsweise vor allem einzuwenden, dass ökonomische Aspekte sich zu jeder beliebigen rechtlichen Regelung finden lassen: Ökonomische Analyse des Rechts lässt letztlich alles Recht als „Wirtschaftsrecht“ erscheinen. Wirtschaftsrecht ist dann nichts anderes als ein „ökonomischer Streifzug durch das Recht“.12 Dieses Verfahren wird rasch bodenlos. Zu (2): Von der ökonomischen Analyse des Rechts ist ein methodisch anderer Ansatz zu unterscheiden, der davon ausgeht, dass es Rechtsvorschriften gibt, deren juristisch-dogmatische Verarbeitung typisch wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen erfordert.13 Beispiele hierfür sind etwa die Regelungen des StabG oder des GWB, die in das Repertoire der Wirtschaftswissenschaften verweisen: Wenn z. B. der „relevante Markt“ abgegrenzt werden soll oder wenn es um eine Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Belange geht (vgl. §§ 81, 24 III GWB), ist es unumgänglich, auch wirtschaftswissenschaftliche Aspekte zu berücksichtigen.14

So sehr nun dieses Vorgehen der methodischen Bestimmung des Begriffs Wirtschaftsrecht dienlich sein kann, so müsste es zugleich zu einer unerwünschten 12 Zur Analyse wirtschaftlicher Implikationen von Rechtsregeln und zu weiteren Aspekten der ökonomischen Analyse des Rechts vgl. Kirchner, Ökonomische Analyse des Rechts, Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ökonomie und Rechtswissenschaft, in: Assmann / Kirchner / Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, 1978, S. 75 ff. 13 Vgl. dazu Raisch / Schmidt, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften, in: D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 2. Aufl. 1976, S. 143 (158 ff.). 14 Dazu etwa Ulmer, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Kartellrecht, WuW 1971, S. 878 ff.

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Zersplitterung sachlich zusammengehörender Rechtsgebiete führen, wie sich instruktiv am Beispiel des Gewerberechts oder des Immissionsschutzrechts zeigen lässt, die beide hiernach nicht dem Wirtschaftsrecht zugeordnet werden könnten, weil nur wenige Normen dieser Rechtsmaterien wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen bei der Anwendung erfordern. So sind z. B. die Regelungen über die gewerblichen Erlaubnisse (vgl. z. B. §§ 30 ff. GewO) oder über die Genehmigung gewerblicher Anlagen (§§ 4fI. BImSchG) ohne Heranziehung spezifisch wirtschaftswissenschaftlicher Methoden juristisch anwendbar.

Zu (3): Die Umschreibung des Wirtschaftsrechts als Sonderrecht des Wirtschaftens trifft auf die Schwierigkeit, dass diese Definition zum einen ihrem Umfang nach sehr unbestimmt ist – der kontroverse Wirtschaftsbegriff müsste präzisiert werden15 – und dass sie zum anderen gerade auch solche Bereiche erfasst, die sich traditionell als selbständige Rechtsgebiete etabliert haben. So hat sich das Handels- und Gesellschaftsrecht früh als Teil des Privatrechts verselbständigt und wird daher nicht dem Wirtschaftsrecht zugeordnet (obgleich es wesentlich auch das Wirtschaften betrifft). Gleiches gilt etwa für das Privatversicherungsrecht und für wirtschaftlich relevante Teile des bürgerlichen Rechts (z. B. für das Kaufrecht, das Grundstücksrecht, das Recht der Kreditsicherung usw.), die trotz ihres wirtschaftlichen Gegenstandsbezugs alle herkömmlicher Weise nicht zum Wirtschaftsrecht gehören.16 Alle diese Teilgebiete in konsequenter Durchführung der gelegentlich anzutreffenden Unterscheidung eines privaten und eines öffentlichen Wirtschaftsrechts doch dem Wirtschaftsrecht als einem Gesamtsystem zuzurechnen, würde bei der nach wie vor unangefochtenen „Dichotomie von Privatrecht und öffentlichem Recht“, wie sie außerhalb des Wirtschaftsrechts besteht, wohl zu ernstlichen Kapazitätsproblemen führen. Der Sache nach freilich muss an einer solchen Differenzierung keineswegs unbedingt festgehalten werden.17 Macht man bei der Abgrenzung des Rechtsgebiets Wirtschaftsrecht ernst mit dem Begriff „Wirtschaft“, indem man darunter etwa einen arbeitsteilig organisierten, gesellschaftlichen Prozess zur Deckung von Bedürfnissen versteht, der unter kombinierter Verwendung von Produktionsmitteln stattfindet, so bedeutet dies zwangsläufig einen Einbruch in die konventionelle Systematik und Zuordnung mancher Rechtsgebiete, die bislang außerhalb des Wirtschaftsrechts angesiedelt sind. Dazu Rinck / Schwark (FN 10), Rdnr. 4. Vgl. in anderer Richtung den Versuch von Joerges, Bereicherungsrecht als Wirtschaftsrecht, 1977, S. 3, der die Ansicht vertritt, dass „die heute anstehenden Probleme sich mit Hilfe der gewohnten (,privatrechtlichen‘) Kategorien nicht mehr in einem konsistenten dogmatischen System erfassen lassen und der Rechtswissenschaft daher die Aufgabe zuwächst, materielle (,wirtschaftsrechtliche‘) Regelungen zu entwerfen“. 17 Vgl. dazu einerseits Brohm (FN 5), S. 25 und andererseits Rittner, Öffentlich-rechtliche Elemente in der Unternehmensverfassung, in: Kaiser (Hrsg.), Planung V, 1971, S. 59 (62); s. a. Rinck, Das Wirtschaftsrecht im abklingenden Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Recht, WiR 1972, S. 5 ff. 15 16

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Zu (4): Stellt man bei der Zugehörigkeit zum Wirtschaftsrecht auf einen spezifisch wirtschaftlich strukturierten Hintergrund der einzelnen Normen ab, so liegt die Schwierigkeit darin, dass der wirtschaftliche Zweck mit außerökonomischen, etwa sozial-, finanz-, umweltpolitischen Gesichtspunkten in Konkurrenz treten kann. Die wirtschaftliche Zielsetzung ist in solchen Fällen häufig nicht eindeutig. Die Zuordnung einer Rechtsnorm zum Wirtschaftsrecht ist hier von der Entscheidung einer Gewichtungsfrage im Rahmen der Zielkonkurrenz abhängig. Auch vom Regelungszweck her ist die Zugehörigkeit zum Wirtschaftsrecht daher konkret nur selten eindeutig auszumachen. Beispiel: Rechtsvorschriften über den Betrieb von wirtschaftlichen Unternehmen, die bei den genehmigungspflichtigen Anlagen primär im Interesse des Umwelt- und Nachbarschutzes Beschränkungen vorsehen (vgl. § 5 BImSchG), sind nicht Wirtschaftsrecht i. S. des teleologischen Ansatzes, wohl aber Wirtschaftsrecht i. S. eines Sonderrechts für wirtschaftliche Tätigkeiten.

Nach allem bleibt festzuhalten; dass die verschiedenen rechtsdogmatischen Abgrenzungsversuche zu divergenten Zuordnungen einzelner ökonomisch bedeutsamer Rechtsnormen führen können. Und selbst wo das Ergebnis der Abgrenzungen nicht verschieden ist, bleibt die Zuordnung fraglich, wenn sie mit den Ordnungen etablierter Rechtsgebiete und ihrem disziplinären Kanon kollidiert.18 So ist etwa das Abgabenrecht ein gewachsenes, selbständiges Rechtsgebiet, das jedoch u. U. ausgesprochen instrumentalen Charakter für die Verwirklichung von Zielen wirtschaftspolitischer Globalsteuerung annehmen kann, der neben seinen ursprünglichen Zweck der Einnahmeerzielung tritt. Diese Bereichsschranke erscheint zwar nicht unübersteigbar, sie wird jedoch nicht schon allein deshalb aufzugeben sein, um hier ein eigenständiges Rechtsgebiet als „Teilfach“ des Wirtschaftsrechts zu gewinnen.

Der bestehende Pluralismus in der Wirtschaftsrechtswissenschaft (i. w. S.) kann nur als Ausdruck der Komplexität der Wirtschaftsrechtsverhältnisse selbst gedeutet werden, die sich dem beanspruchten methodischen Instrumentarium offensichtlich nicht hinreichend präzise erschließen.

II. Systemüberlegungen Die Eigenständigkeit der Rechtsdisziplin Wirtschaftsrecht wird durch ihren Gegenstand vermittelt. Die Antwort auf die Frage: „Was ist Wirtschaftsrecht?“ hängt dann davon ab, was Gegenstand des Wirtschaftsrechts ist. Antworten auf solche 18 Mit der Ableitbarkeit des Begriffs Wirtschaftsrecht aus dem positiven Recht, gewissermaßen als „Bestandsaufnahme der Rechtstatsachen“, wie Rinck, Begriff und Prinzipien des Wirtschaftsrechts – Versuch einer theoretischen Grundlegung, zugleich Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Begriff und Prinzipien des Wirtschaftsrechts, 1971, S. 167 (174), meint, ist also kaum etwas zu gewinnen. Eine solche Bestandsaufnahme ist selbst keine „Lösung“; sie verdeutlicht nur das Dilemma der Begriffs- und Systembildung.

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„Was-Fragen“ sind Definitionen, in denen Wesensbestimmungen vorgenommen werden.19 Bei den Bestimmungsversuchen, die oben dargestellt wurden, könnte es sich um die Definitionsform der Explikation handeln. Unter einer Explikation versteht man die Überführung eines gegebenen, mehr oder weniger inexakten Begriffs, des Explikandums, in ein exaktes Konzept, das Explikat. Ein Begriff muss, um als adäquates Explikat für ein gegebenes Explikandum gelten zu können, folgende Bedingungen erfüllen: Ähnlichkeit mit dem Explikandum, Exaktheit, Fruchtbarkeit und Einfachheit.

Eine Deutung der vorgestellten Definitionen von Wirtschaftsrecht als Explikationen verbietet sich jedoch, weil die Formen, in denen sie präsentiert werden, das Kriterium der Exaktheit des Explikats nicht erfüllen: Das Explikat bleibt regelmäßig so unbestimmt, dass weitere Explikationen erforderlich sind. Man kann deshalb bestenfalls von Quasi-Explikationen sprechen und damit zum Ausdruck bringen, dass Form und Intension zwar eine Deutung als Explikation nahe legen, die Ausführung aber nicht alle Adäquatheitsbedingungen für Explikationen erfüllt. Explikationen, die nur bestimmte Aspekte des Explikandums hervorheben, enthalten implizit die Aufforderung, diese Aspekte zu thematisieren und andere zu vernachlässigen. Auf diese Weise kann bei einer Gegenstandsbestimmung des Wirtschaftsrechts z. B. das Unternehmensverfassungsrecht einbezogen oder ausgeschlossen werden. – Explikationen sind anders als empirische Analysen weder wahr noch falsch, sie können nur mehr oder weniger zweckmäßig sein. Der Grad ihrer Zweckmäßigkeit ergibt sich aus dem Ausmaß, in dem sie die Adäquatheitsbedingungen erfüllen, Für ein und dasselbe Explikandum sind deshalb mehrere Explikate denkbar, die in dieser Beziehung miteinander konkurrieren. Der Verfasser einer bestimmten Explikation des Begriffs Wirtschaftsrecht mag von seiner Variante so überzeugt sein, dass er sie für die einzig sinnvolle oder unbedingt notwendige hält. Die Möglichkeit, auch andere Explikate für ein und dasselbe Explikandum auszugeben, wird durch die subjektive Einstellung zu den jeweiligen Explikaten nicht berührt.

In diesem Sinne sind die Quasi-Explikationen des Gegenstands des Wirtschaftsrechts, die man in der Literatur antrifft, als bloße Vorschläge zu verstehen, die ihre Zweckmäßigkeit erst über die Fruchtbarkeit der durch sie angeregten Systematisierung noch zu erweisen haben. Der Versuch, einen „einheitlich“ bestimmten Begriff des Wirtschaftsrechts zu erarbeiten, kann nur durch Verabsolutierung eines bestimmten Explikats auf Kosten anderer ebenfalls möglicher Explikate gelingen; ihm ist daher mit Skepsis zu begegnen. Die Auffassung, man könne nur dann sinnvoll über etwas sprechen, wenn man es vorher definiert habe, übersieht andere Möglichkeiten, neue Begriffe einzuführen. Auch bleibt unberücksichtigt, dass eine Definition immer schon verstandene Begriffe voraussetzt, aus denen das Definiens gebildet werden kann. Man ist deshalb gezwungen, mit undefinierten Begriffen zu beginnen, die auf andere Weise festgelegt werden müssen, bevor weitere Begriffe durch Definitionen eingeführt werden können.

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Vgl. dazu Herberger / Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 311 ff.

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Definitionen im strengen Sinne, die das Kriterium der Eliminierbarkeit 20 erfüllen, sind in der Rechtssprache die Ausnahme. Die meisten Rechtsbegriffe und die Begriffe der juristischen Fachsprache besitzen weder eine genau umschriebene Extension noch eine exakt bestimmbare Intension. Ihre Extension besteht zumeist aus einer Ähnlichkeitsklasse. Die Zulassungs- bzw. Ausschließungsbedingungen für die Mitgliedschaft in einer Ähnlichkeitsklasse schließen eine Methode ein, die die effektive Aufweisbarkeit von Standardmitgliedern erlaubt. Ein Gegenstand ist Mitglied einer Ähnlichkeitsklasse, wenn er in einer bestimmten Hinsicht und bis zu einem bestimmten Grad den Standardmitgliedern, nicht aber den Standardnichtmitgliedern ähnlich ist.

Rechtsnormen, die weder mit den Standardmitgliedern noch mit den Standardnichtmitgliedern identisch sind, werden je nach ihrer Ähnlichkeit mit den Standardmitgliedern bzw. den Standardnichtmitgliedern zu Mitgliedern der Ähnlichkeitsklasse („positive“ Kandidaten) oder zu Nichtmitgliedern („negative“ Kandidaten) erklärt. Dabei kann es vorkommen, dass man bei der Suche nach wirtschaftsrechtlich zu nennenden Normen auf Rechtsnormen stößt, die Standardmitgliedern und Standardnichtmitgliedern in gleichem Maße ähneln und deshalb als Mitglieder gewählt oder als Nichtmitglieder ausgeschlossen werden können. Diese „neutralen“ Kandidaten machen die Ähnlichkeitsklasse zu einer inexakten Klasse: der Begriff Wirtschaftsrecht wird zu einem inexakten Begriff. Die Schwierigkeiten einer Gegenstandsbestimmung des Wirtschaftsrechts werden vollends verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Wirtschaftsrecht in diesem Zusammenhang einen Begriff bezeichnet, der eine inexakte Ähnlichkeitsklasse als Extension besitzt, für die es Standardmitglieder, Standardnichtmitglieder und neutrale Kandidaten, aber keine exakt bestimmbare Intension gibt. Neben Regelungen, die wohl jeder Jurist dem Wirtschaftsrecht zurechnet und damit als positive Kandidaten akzeptiert – z. B. die Vorschriften des StabG oder die des Preisrechts – und Regelungen, die von jedem Juristen für negative Kandidaten gehalten werden – z. B. das Familienrecht, das Recht der Intimsphäre, wohl auch das Recht des nichtwirtschaftlichen Vereins –, gibt es neutrale Kandidaten, an denen bisherige Definitionsversuche oder Gegenstandsbestimmungen, die auf klare Abgrenzungen zielen, scheitern. Diese neutralen Kandidaten ähneln den positiven Kandidaten für andere Teile der Rechtsordnung, die ihrerseits negative Kandidaten für das Wirtschaftsrecht sind. Beispiele sind etwa Verfassungsprinzipien und bestimmte Grundrechte als neutrale Kandidaten zwischen Wirtschaftsrecht und Verfassungsrecht, ferner z. B. die Bestimmungen des Patentrechts als neutrale Kandidaten zwischen Wirtschaftsrecht und dem sogen. gewerblichen Rechtsschutz, die Bestimmungen des Konkursund Vergleichsrechts als neutrale Kandidaten zwischen Wirtschaftsrecht und Insolvenzrecht.

Wenn die Zahl neutraler Kandidaten überhand nimmt, werden regelmäßig neue Ähnlichkeitsklassen gebildet und entsprechende Begriffe bzw. Systeme konstitu20 Dazu dies., S. 321 ff. Auf das von der neueren Definitioslehre außerdem geforderte Prinzip der Nicht-Kreativität, das eine Einführung von nicht-begründungsbedürftigen Nominaldefinitionen gestattet, wird hier nicht eingegangen; s. dazu dies., S. 324 ff.

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iert, die gerade die ursprünglich neutralen Kandidaten als Standardmitglieder und die ursprünglichen Standardmitglieder als Standardnichtmitglieder enthalten. Auf diese Weise haben sich schon immer „neue“ Disziplinen oder Teildisziplinen – so etwa das Wirtschaftsverfassungsrecht und das Wirtschaftsverwaltungsrecht – herausgebildet und neutrale Kandidaten zwischen zwei Rechtsgebieten zu Standardmitgliedern eines „neuen“ Rechtsgebiets gemacht. Bei einer Deutung des Wirtschaftsrechts als Bezeichnung für einen Begriff, der als Extension eine inexakte Ähnlichkeitsklasse besitzt, sind also durchaus verschiedene Gegenstandsbestimmungen für Wirtschaftsrecht möglich. Die Entscheidung über Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in einer Ähnlichkeitsklasse steht oder fällt mit der Festlegung der Standardmitglieder und Standardnichtmitglieder. Eine allgemeinverbindliche Festlegung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern scheint allerdings nicht möglich. Insoweit bewegt sich die juristische Systematisierungsarbeit immer innerhalb eines gewissen Spielraums. Für dieses Konzept kann nun eine Reihe von Bedeutungspostulaten formuliert werden, in denen unterschiedliche Möglichkeiten zum Ausdruck kommen, eine Gegenstandsbestimmung des Wirtschaftsrechts vorzunehmen. Dabei wird auf ein Plädoyer für oder gegen einzelne dieser Möglichkeiten verzichtet. Für welche man sich entscheidet, hängt davon ab, wie detailliert die Antwort auf die Gegenstandsfrage ausfallen soll. Die Möglichkeit, über die Kennzeichnung eines absoluten Minimalbegriffs die Eigenart des Wirtschaftsrechts zu bestimmen, erscheint aussichtslos. Ein absoluter Minimalbegriff würde voraussetzen, dass der Begriff nur in diesem bestimmten Rechtsgebiet und in sonst keinem anderen auftritt. Dass sich i. d. S. für das – wie immer verstandene – Wirtschaftsrecht ein einziger durchgängiger Minimalbegriff finden lässt, der eine eindeutige Abhebung von .anderen Rechtsbereichen erlaubt, ist unwahrscheinlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. Mit anderen Worten: Es ist bisher keine geschlossene Klasse von Rechtsnormen zu erkennen, deren normatives Grundmerkmal ausschließlich „wirtschaftsrechtlich“ zu nennen wäre, deren Gegenstände also mindestens eine genaue Merkmalsvariante besitzen, die man bei klassenfremden Rechtsnormen nicht findet. Insofern liegt eine strikte Bestimmung des „Einheitsgegenstands“ des Wirtschaftsrechts bisher nicht vor. Es gibt keine Rechtsnorm, die nicht irgendeine, wenn auch noch so schwache wirtschaftliche Relevanz aufweist, weil sich eben jedes sozial erhebliche Faktum letztlich auch unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten lässt. Es wird daher bei aller Unschärfe im Detail für die Zwecke einer Systematisierung des Wirtschaftsrechts darauf ankommen, solche Regelungen zu exponieren, die sich „ganz erheblich auf die Wirtschaft auswirken“.21

Erscheint hiernach ein ausschließlich formal-theoretischer Ansatz nicht möglich, ist die Bestimmung des Wirtschaftsrechts (auch) an den bereits genannten pragmatischen Kriterien – z. B. Gegenstandsbezug, Regelungszweck, anerkannte Sachgebietsgrenzen – zu orientieren. Die verschiedenen Aspekte können bei prinzipieller Gleichwertigkeit auch als Korrektive fungieren. 21

Brohm (FN 5), S. 23.

Eine rechts- und wissenschaftstheoretische Problematisierung

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Dies bedeutet etwa für das Handelsrecht, dass es seinem Gegenstandsbezug, aber auch seinem Regelungszweck nach als Wirtschaftsrecht angesehen werden kann, dass aber die Tatsache seiner fachlichen Verselbständigung einer Zuordnung zum Wirtschaftsrecht entgegensteht. – Dem Wettbewerbsrecht etwa fehlt eine gewachsene Eigenständigkeit. Bei ihm steht der Zuordnung zum Wirtschaftsrecht nichts im Wege: Gegenstand und Zweck sind genuin wirtschaftstypisch. Sein teilweise privatrechtlicher Charakter ändert daran nichts. – Bei den vom Bereich der GewO ausgenommenen und besonderen rechtlichen Regeln unterstellten freien Berufen (z. B. Rechtsanwälte, Notare) fehlt demgegenüber; wenn nicht der hinreichende ökonomische Gegenstandsbezug, so doch ein ökonomischer Zweck der einschlägigen Regelungen, der sie als dem Wirtschaftsrecht integriert erscheinen lassen könnte; dagegen ist der ökonomische Zweck z. B. für weite Teile des so genannten gewerblichen Rechtsschutzes, aber auch für das Insolvenzrecht, ohne weiteres gegeben. Schließlich: Die Kontrolle der Wirtschaftslenkung etwa als „Wirtschaftsverfahrensrecht“ vom Verfahrensrecht (i. w. S.) abzuheben, lässt sich zwar unter spezifisch didaktischen Gesichtspunkten noch rechtfertigen, schwerlich aber aus einer – wenn auch weit gesteckten – Systemkonzeption des Wirtschaftsrechts zureichend begründen.

Ein in dieser Weise durch ein offenes System bestimmtes Wirtschaftsrecht, in dem verschiedene Faktoren System prägend sind, hat den Vorteil einer relativ hohen Flexibilität der Gegenstandsbestimmung, ohne dass diese von bestimmten Plausibilitätskriterien entbunden wird. Es lassen sich nach und nach weitere Gebiete, die eine „Gemengelage von Normen“ (Sandrock) bilden und noch nicht zum Wirtschaftsrecht gerechnet werden, auf ihre möglicherweise „wirtschaftsrechtlich“ zu nennende Dimension hin überprüfen. Dass dabei die Kombination einzelner Kriterien und deren Gewichtung nicht wertungsfrei, sondern normativ vorgenommen wird, lässt sich ebenso wenig ändern, wie der Umstand, dass hier „Randzonen“ entstehen können, die – wie bei allen Zuordnungsproblemen – durch rationale und überprüfbare Entscheidungen auszufüllen sind. – Bei allem sollte man nicht vergessen, dass die Gegenstandsbestimmung des Wirtschaftsrechts letztlich ein gegenüber den zu behandelnden Sachfragen regelmäßig weniger vordringliches Problem ist. Selbst wenn man einmal annimmt, wir verfügten über einen im Rahmen des Wirtschaftsrechts-Paradigmas festgelegten „Gegenstand des Wirtschaftsrechts“ – arbeitet der Jurist an einem Problem, und sieht er plötzlich den von ihm bearbeiteten Objektbereich als nicht (mehr) einem solchen „Gegenstand des Wirtschaftsrechts“ zugehörig an, so wird ihn das (wenn nicht ausnahmsweise bestimmte Methodenfragen hier praktische Konsequenzen haben22 bei seinem Sachproblem wohl kaum allzu sehr bekümmern, so sehr auch 22 So erklärt § 1 GWB einen Kartellvertrag für zivilrechtlich nichtig, die §§ 2 – 8 GWB sehen Möglichkeiten einer verwaltungsrechtlichen Genehmigung vor, und § 38 I Nr. l GWB droht die Verhängung einer Geldbuße für den Fall an, dass die Beteiligten den Vertrag, obwohl nichtig, zur Ausführung bringen. An diesem Beispiel zeigt Sandrock (FN 1), S. 22 instruktiv, dass die Verbindung von Zivil- mit Verwaltungs- und Ordnungswidrigkeitsrecht die Konsequenz hat, dass die einschränkenden Grundsätze, die allgemein für die Anwendung des Verwaltungs- und Ordnungswidrigkeitsrechts gelten, unmittelbar für den zivilrechtlichen Bereich des Kartellrechts bedeutsam werden. Vgl. auch Raisch, Normqualität und Durchsetzbarkeit wirtschaftsrechtlicher Regelungen, ZHR 128 (1965), S. 161 (165).

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1. Teil: Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

die „Kanonisierung“ von Rechtsgebieten etwa prüfungsrechtlich wiederum zu beachten ist.23 In ein solches offenes System des Wirtschaftsrechts passen alle Rahmenvorgaben und Regelungen, die wirtschaftliches Handeln bestimmen und die vom Staat – zumindest auch – mit dieser Intention gesetzt worden sind. Zum Wirtschaftsrecht gehören demnach folgende Bereiche: – Rahmenregelungen für wirtschaftliche Tätigkeiten durch Bestimmungen des Grundgesetzes und des Europäischen Gemeinschaftsrechts, – Regelungen zur Sicherung des Wettbewerbs (als zentraler Bedingung für ein marktwirtschaftlich geprägtes Wirtschaftssystem), – Unternehmensverfassungsrecht, – Recht der Wirtschaftslenkung i. S. einer planmäßigen Gestaltung ökonomischer Abläufe, – Regelungen zur sozialen „Abfederung“ des marktwirtschaftlichen Systems und zur Gestaltung der außenwirtschaftlichen Beziehungen, – rechtliche Ordnungen einzelner Wirtschaftsbereiche („Besonderes Wirtschaftsrecht“).

23 Zum Wirtschaftsrecht als Prüfungsfach vgl. bereits Rittner, Die Zukunft des Wirtschaftsrechts in der Juristenausbildung, JZ 1981, S. 621 ff.

Zweiter Teil

Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt* Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts Die Rechtswissenschaft ist in eigenartiger Weise um ihren Gegenstand verlegen1. Man kann mindestens zwei Hauptströmungen theoretischer Gegenstandsbemühungen unterscheiden, die mit methodisch gegensätzlichen Deutungen aufwarten: eine realistisch-soziologische und eine normativistisch-analytische Richtung. Während sich nach der ersteren die Wissenschaft vom Recht als eine empirischerfahrungswissenschaftliche Disziplin begreift, die es mit sozialen Tatbeständen zu tun hat und daher vielfach weniger als eigentliche Rechtswissenschaft denn als (Rechts-)Soziologie angesehen wird, befasst sich die letztere Richtung mit gültigen Regeln und zielt darauf ab, ein spezifisch rechtlich-normatives Sollen zu erfassen. Die Orientierungsperspektiven scheinen weitestgehend unversöhnlich. Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen, die wohl berühmteste Rechtstheorie unseres Jahrhunderts, entspricht im Kern dem normativistisch-analytischen Ansatz. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht liegt ein Grundproblem der Kelsenschen Lehre darin, ob sie ihrem Anspruch, das Recht ausschließlich normativ zu begreifen, von ihren theoretischen Voraussetzungen her im Blick auf das im Einzelnen schwer abgrenzbare Objektfeld „Recht“ zu genügen vermag. Was bedeutet dabei die in der Reinen Rechtslehre exponierte Absage an die Sozialrelevanz für die Theorieentwicklung in der Rechtswissenschaft? Kann die angesichts des kontroversen Objektfeldes und der Vielfalt der Methoden divergente Wissensproduktion koordiniert werden?

I. Der Theoriecharakter der Reinen Rechtslehre Die Reine Rechtslehre2 ist der Versuch einer fundamentalen Strukturtheorie des Rechts. Die auf das Sollen reduzierte Dimension des Rechts ist Gegenstand der theoretischen Analyse. Wenn Kelsen das Sollen mit dem Sinn des Rechts identifiziert, macht er Aussagen über den Sinn von Recht als einer logischen Struktur des* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / H. Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen. Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423. Berlin: Duncker & Humblot 1984. 1 F. Müller Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 13; R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie, Beiheft 4 (1981), S. 241 – 261 (255 ff.). 2 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960; ders., Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festschrift für Giacometti, Zürich 1953, S. 143 – 161 (155 ff.).

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

selben. Dabei wird die Interdependenz der Rechtsstruktur mit dem Seinsbereich keineswegs geleugnet; sie geht nur in die theoretische Analyse selbst nicht ein. Die auf die allgemeine Sinnkomponente bezogene Betrachtung des Rechts sieht von einer Beschreibung der das Sollen prägenden Inhaltlichkeit ab. Die Reine Rechtslehre erfasst also nicht die konkrete geltende Rechtsordnung; sie fragt nach den Geltungskriterien für Recht überhaupt und – ergänzt durch die von Merkl entwickelte Stufenbaulehre – nach den Kriterien für das dem Stufenbau der Rechtsordnung entsprechende Modell des Rechtserzeugungsprozesses und seiner funktionalen Determinanten. So sehr Kelsen mit dieser Sichtweise erreicht, dass hier eine von anderen Wissenschaften in dieser Weise nicht in Anspruch genommene Dimension des Rechts betrachtet werden kann, so wenig entspricht dieser Blickwinkel den das soziale Phänomen Recht konstituierenden Elementen. Insoweit ist sie, wenngleich nicht unmittelbar realitätswidrig, zumindest realitätsindifferent: Auch über sich selbst hinausweisend stellt sie die für die Etablierung von Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft konstitutive Frage, was denn Recht eigentlich sei, und greift damit das Problem des – bis heute kontroversen – Forschungsobjekts der Wissenschaft vom Recht und damit die Grenzen dieser Wissenschaft überhaupt auf. Die Reine Rechtslehre ist eine systematische Theorie, die für den Bereich, für den sie formuliert ist, Geltung beansprucht. Sie soll also für alle Phänomene mit den in ihr vorausgesetzten Merkmalen und ihren Beziehungen gelten. Das bedeutet, dass ihre theoretischen Propositionen nicht nur für diese oder jene Rechtsnormen in einer bestimmten Periode gelten, sondern für Rechtsnormen generell, gleichviel wo diese vorfindlich sind. Da es um „Wesensstrukturen“ des Rechts jenseits aller spezifischen Inhalte geht, ist es ihr möglich, einen Allgemeinheitsgrad weit über ein bestimmtes Rechtssystem hinaus zu erreichen. Die Allgemeinheit betrifft eine aprioristische Dimension, für die eine Art Elementar- oder Dimensionentheorie gebildet ist. Die Reine Rechtslehre versucht nicht nur, ihre Geltung für alle historisch und räumlich anfallenden Bereichsfälle zu ermöglichen, sondern darüber hinaus Probleme von der Allgemeinheit der Frage: „Wie ist Recht möglich?“ theoretisch zu erfassen.3 Dabei sondert sie die Rechtsnorm aus der sozialen Wirklichkeit aus, indem sie die ihr für die Rechtsnorm konstitutiv erscheinenden Merkmale im rechtlichen Erzeugungszusammenhang bestimmt. Die Menge der Merkmalsträger interessiert die Reine Rechtslehre nur insoweit, als sie diese Merkmale besitzt bzw. nicht besitzt. In welcher Konstellation sich diese Merkmale je spezifisch befinden, ist unwichtig. Raum und Zeit bleiben unbestimmt, der Charakter der Aussagen aufgrund der generalisierten Partialität formal. Es wird von jeder inhaltlichen Bestimmung des rechtlichen Systems abgesehen und nur versucht, an3 Dazu H. Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 156; zur gesamten Problematik vgl. auch O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik. Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen, Berlin 1981.

Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt

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hand eines gewissermaßen „natürlichen“ Korrelats, der Wirksamkeit, die als Bedingung der Geltung fungiert, die Geltung der Norm zu beschreiben.4 In einer gewissen Parallele zu den Systemtheorien, die sich gleichfalls durch eine partielle Isolation und komplementäre Generalität als „formal“ erweisen, versucht die Reine Rechtslehre, die für die Ermöglichung und Erhaltung des Systems erforderlichen Voraussetzungen ohne jede sonstige Zielbestimmung auszuarbeiten. Dazu dient ihr letztendlich die erkenntnistheoretische Funktion der Grundnorm, die den Geltungsgrund des Rechts bestimmt, die aber nicht selbst zum positiven Recht gehört. Dieser Ansatz führt dazu, dass die Reine Rechtslehre jedem konkreten System abstrakt gegenübertreten kann; dessen geschichtliche Bedingungen, Strukturen und Ziele bleiben außer Betracht. Der Preis ist, dass konkrete Abläufe – z. B. ein Bedeutungswandel der Norm – theoretisch damit nicht erklärt werden. Hier müssen Anschlusstheorien eingreifen.

II. Zur Kritik der theoretischen Perspektive Kelsens Gerade wenn nun aber Kelsen – wie übrigens auch schon Merkl – die Rechtsordnung nicht als ein gegenüber dem Bereich des Seins völlig abgeschlossenes System normativer Rechtsakte versteht, sondern die Strukturen des Rechts als in einer gewissen Interdependenz mit dem Seinsbereich stehend begreift, liegt es nahe, den Gegenstand der damit beschäftigten Wissenschaft nicht auf die rein normative Struktur. des Rechts zu beschränken, solange nicht die Unschädlichkeit einer solchen Reduktion erwiesen ist und sich eine zureichende rechtstheoretische Erfassung des Rechts ohne diese Reduktion als unmöglich herausstellt. Hier ist zu beachten, dass die Sinnstruktur des Rechts stets voraussetzt, dass die rechtlich intendierten Wirkungen nicht ausgeklammert werden; denn die Steuerungswirkungen des Rechts sind nicht einfach logische Konsequenzen der rechtlichen Sinnstruktur!5 – Wenn ferner Grundnorm und autonome Determinante Punkte im Rechtserzeugungsprozess bilden, an denen sich der normative Bereich des Rechts und der zu regelnde Seinsbereich treffen, dann bildet z. B. der subjektive Ermessensspielraum, den das normanwendende Organ nach Kelsen hier findet, ein genuines Forschungsfeld der Rechtswissenschaft; dann ist schwerlich einzusehen, weshalb nicht die in „Anwendung“ des Rechts sich vollziehende Auseinandersetzung z. B. des Richters mit den empirischen Gegebenheiten des zu regelnden Sachverhalts zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Theoriebildung gemacht werden sollte; die Reine Rechtslehre klammert diesen Bereich aus. Wenn schließlich die Reine Rechtslehre durch die Konzeption eines „intern“ normativ strukturierten, aber auf die Fakten immerhin bezogenen und insoweit offenen Rechtssystems gekennzeichnet ist, dann führt die in der Theorie selbst Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 220 f. Ähnlich H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S. 80, der hier die „Verwendung nomologischen Wissens“ als erforderlich ansieht. 4 5

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

jedoch erfolgte Ausklammerung der Faktizität notwendig dazu, dass eine Prüfung „an“ der Wirklichkeit ausscheidet. Wenn es nach Kelsen auf jeder Erzeugungsstufe des Rechts möglich ist, außerrechtliche Vorstellungen – in den Grenzen des Rechts – in die Rechtsordnung zu induzieren, dann besteht auch insoweit sicherlich ein exponiertes Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaft, dem sich die Reine Rechtslehre als solche aber nicht anzunehmen vermag: Der bloße „Blick aus dem Fenster“ verfängt nicht. Der fragmentarische Charakter der normativen Dimension. des Rechts zeigt hiernach die Begrenztheit der „Erkenntnismöglichkeit“ der Kelsenschen Rechtslehre. Sie kann das geltende Recht nicht feststellen und nur von einer „instrumentalen Rationalität“ aus argumentieren: „Sich unter Vernachlässigung. des Wortlauts an den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu halten oder den Wortlaut streng zu beobachten und sich dabei um den . . . Willen des Gesetzgebers nicht zu kümmern, ist – positivrechtlich – durchaus gleichwertig“.6 Damit ist die eigentliche Konsequenz Kelsens die Kapitulation vor dem Inhalt des Rechts und der Verzicht auf jede „inhaltliche Rechtswissenschaft“.7 Notwendig gerät auf diese Weise auch jeder Zusammenhang zwischen dem positiven Recht und seinem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext aus dem Blickfeld. Zumindest unter den heutigen Forschungsverhältnissen der Rechtswissenschaft, die zunehmend sozialwissenschaftliches Terrain gewonnen hat, kann es kaum noch als Vorzug der Reinen Rechtslehre gewertet werden, dass sie als rein normative Strukturtheorie des Rechts im Bereich der autonomen Determinante und der Grundnorm den Trennpunkt zur sozial wissenschaftlichen Problemstellung markiert hatte. Denn die Beziehungen zwischen normativ-rechtlichen und explikativen Forschungsansätzen erscheinen heute kaum noch als unübersteigbarer Antagonismus, sondern sind durch fruchtbare Integrationsbestrebungen oder doch durch zunehmende interdisziplinäre Kooperation gekennzeichnet. Dass der hier oft unvermeidliche Methodenpluralismus nichts, aber auch gar nichts mit dem von Kelsen zu Recht bekämpften Methodensynkretismus zu tun hat, braucht nicht erst ausgeführt zu werden.

III. Die Rechtswissenschaft und das Elend ihres Objektfeldes Konfrontiert man die Forschungssituation der Rechtswissenschaft mit der allgemeinen Theorie-Diskussion, so kommt ihr eine höchst eigenartige Stellung zu. 6 H. Kelsen, Zur Theorie der Interpretation (1934), in: H. Klecatzky / R. Marcic / H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien 1968, S. 1367. 7 So zutreffend W. Schild, Die Reine Rechtslehre, in: A. Kaufmann / W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg – Karlsruhe 1977, S. 109.

Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt

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Dies scheint am Begriff des Rechts8 zu liegen, der das Objektfeld der Rechtswissenschaft konstituiert und diese aus den übrigen Sozialwissenschaften heraushebt. Ohne eine zumindest ungefähre Abklärung dieses Begriffs, der den Bereich und das Interesse rechtstheoretischer Bemühungen markiert, kann kein rechtstheoretischer Ansatz auskommen. Dabei kommt es nicht auf eine Wesens-, sondern auf eine Problemdefinition an. Aber so zahlreich auch die Abgrenzungen dessen sind, was man unter „Recht“ versteht, was als Spezifikum des Rechtsbegriffs angesehen wird, es geht hier nicht darum, den Begriff des Rechts in seinen verschiedenen Schattierungen und Auswirkungen darzulegen und kritisch in seiner Leistungsfähigkeit und seiner jeweiligen Festgelegtheit zu prüfen; worauf es vordringlich ankommt, ist, das Augenmerk auf die für die Entwicklung von Rechtstheorie überhaupt ausschlaggebende Bedeutung der wie auch immer vorzunehmenden Rechtsbestimmung und damit auf die Gegenstandsfrage in der Theoriebildung der Rechtswissenschaft zu lenken. Ich sehe keine Möglichkeit, Rechtstheorie mit Hilfe der Bestimmung eines ihr ganz allein zukommenden Gegenstandsbereichs und / oder durch die Bestimmung einer ihr ganz allein zukommenden Methodik so zu gestalten, dass alle Rechtstheoretiker und möglichst auch alle Rechtsdogmatiker dieser Gestaltung beipflichten. Ich frage mich aber andererseits, ob es ein entscheidender Nachteil ist, wenn Rechtswissenschaftler lediglich in „unpräziser“ Weise den Gegenstand ihrer Wissenschaft als „Recht“ verbalisieren. Wir wissen alle, dass dieser ziemlich leere Konsens sogleich zerbricht, wenn man zu diskutieren beginnt, was das „Recht“ Genannte genau bedeutet. Die Definitionsmängel, denen man sich im Hinblick auf den „Einheitsbegriff“ einer Wissenschaft gegenübersieht, sagen nur sehr wenig über den Stand und die Forschungspraxis einer Wissenschaft aus. Definitionen sind immer nur im Rahmen einer widerspruchsfreien und logisch-einheitlichen Theorie sinnvoll. Es gibt aber nun keine hinreichend stringente (oder gar bestätigte) Theorie des Rechts schlechthin.9 M. E. kann es sie auch nicht geben. Der Gedanke an ein als solches „geschlossenes“ Theoriesystem, wie Kelsen es begründet hatte, gleicht einer scholastischen Illusion. Diese ad acta zu legen, betrachte ich als ein Zeichen für die Emanzipation der modernen Wissenschaften von doktrinären Ordnungsvorstellungen. Man sollte die Frage nach einer abschließenden Definition „der“ Rechtswissenschaft und „ihres“ Objektfeldes begraben, weil Rechtswissenschaftler dem Grundsatz nach entscheidbare Fragen stellen und darüber hinaus keine Zeit verlieren soll8 Vgl. dazu eingehend etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 165 – 171. 9 Vgl. dazu die präzisen Untersuchungen von R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 103 – 132; ders., Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, insbes. S. 31 f.; s. auch R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: W. Krawietz / Th. Mayer-Maly / O. Weinberger, Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 – 722.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

ten, konkrete theoriefundierende und theorieüberprüfende Forschung zu betreiben. Das Schlimmste, das dabei passieren kann, ist die plötzliche Erkenntnis, dass einige unserer wissenschaftlichen Handlungen und Handlungsergebnisse nicht demjenigen entsprechen, was einzelne oder zahlreiche Fachvertreter „Rechtswissenschaft“ bzw. „Theorie des Rechts“ nennen. Im Übrigen erweist es sich bei Themen etwa der juristischen Entscheidungsforschung, der Organisationsforschung, der Linguistik, der Rechtsgeschichte, der Rechtssoziologie und -psychologie und in vielen anderen rechtlich relevanten Gebieten, dass Forschung gerade dort besonders fruchtbar ist, wo man darüber streiten kann, ob es sich gerade noch um „Rechtswissenschaft“ handelt. So will etwa Ota Weinberger das „Realsein des Normensystems in der sozialen Wirklichkeit“ zum Forschungsobjekt der Rechtstheorie machen und sieht daher die herkömmlicher Weise als „rechtssoziologisch“ deklarierten Fragen als „juristische“ Fragen an.10 Es ist einzuräumen, dass die „Identität“ der Rechtswissenschaft als Institution durch den strikten Aufweis „ihres“ Gegenstandes Förderung erfährt; in diesem Sinne mag man der Auffassung sein, es werde dem institutionalisierten Rechtswissenschaftsbetrieb zugute kommen, wenn man ihn über einen fixen „Einheitsgegenstand“ präzise zu bestimmen vermag. Man kann es aber auch für zweckmäßig und hinreichend halten, Rechtswissenschaft weiterhin pauschal etwa als „Erfahrungsund / oder Normwissenschaft vom Recht“11 zu charakterisieren. Diese Kennzeichnung reicht für praktisch-institutionelle Zwecke aus.

IV. Die Suche nach der „Identität“ eines rechtswissenschaftlichen Theorieprogramms Soweit es um rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung geht, verblasst die Forderung nach eindeutiger gegenstandsbezogener Bereichsabgrenzung. Darüber hinaus stehen den Tendenzen zur gesteigerten Gewinnung einzelwissenschaftlicher „Identität“, zur „Uniformierung“ der jeweiligen Einzelwissenschaft seit längerem deutliche Trends gegenüber, die „Parzellierung“ der Erkenntnis zu überwinden. Hier reicht die Palette vom Kritischen Rationalismus bis zum Neomarxismus. Soweit es sich dabei um kommunikations- und kooperationsfördernde Grenzöffnungen bzw. Grenzbeseitigungen, die zu fruchtbarer multilateraler Kritik führen können, handelt, erscheinen mir diese Tendenzen durchaus begrüßenswert. Die bisweilen sichtbar werdende Kanonisierung der einzelnen Wissenschaft pflegt in dieser Sicht wenig förderlich zu sein (so wenig wie dies alle Immunisierungsstrategien sind). Daher sollte man den Nutzen einer strikten Bestimmung eines Rechtswissenschafts-Gegenstandes für den rechtswissenschaftlichen Forschungsbetrieb – etwa O. Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 107 f. Zum Status der Rechtswissenschaft vgl. I. Tebaldeschi, Rechtswissenschaft als Modellwissenschaft, Wien – New York 1979, S. 3 ff.; s. auch W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York, 1978, S. 36, 140, 193, 228 und paasim. 10 11

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als strikte Festschreibung des Rechtsbegriffs – unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten nicht überschätzen.12 Doch lasse ich dies im Weiteren dahingestellt; denn es geht mir hier ebenso wenig um die Frage, ob Theorien und Wissenschaft einen Gegenstand haben oder haben sollten, wie es sich darum handelt, ob das Vorzeigenkönnen eines strikt bestimmten, einheitlichen Gegenstandes Vorteile für die Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Institution erbringen würde. Ich betrachte vielmehr das „Rechtswissenschaft“ Genannte als ein Gefüge von wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen (nebst der in deren Rahmen entwickelten Theorieansätze). Dabei interessiert die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Gefüges von Problemlösungsprozessen. So lässt sich die Frage behandeln, wie sich eine strikte Einheitsbestimmung auf den wissenschaftlichen Fortschritt einzelner Forschungsprogramme13 auswirken würde, die zum Gefüge „rechtswissenschaftlich“ genannter Problemlösungsprozesse gehören. In der hier zugrunde gelegten Perspektive hat Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Institution keinen „Gegenstand“, sondern eher Ziele, Zwecke, Programme. Gleichviel aber, ob man von Zielen oder von Gegenständen des institutionalisierten Wissenschaftssystems „Rechtswissenschaft spricht: es zeigt sich, dass über diese Ziele bzw. Gegenstände keinerlei Einvernehmen besteht. Betrachtet man Rechtswissenschaft als Menge von wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen im vorgenannten Sinne, so lässt sich als Gegenstand eines solchen Problemlösungsprozesses der jeweilige als „problematisch“ erkannte Bereich auffassen, den Shapere als „domain“ beschreibt. Nach Shapere ist ein Problembereich („domain“) „a body of related information about which there is a problem“.14 Im Verständnis von Rechtswissenschaft als einer Menge von wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen ist ihr Gegenstand dann die Summe der „domains“ aller Problemlösungsprozesse, die Elemente dieser Menge sind. Nimmt man weiter an, Theorien seien mögliche „Antworten“, die zu den Fragen jeweiliger „domains“ entwickelt werden, so könnte man die Rechtswissenschaft als Menge von wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen, einschließlich der in ihrem Rahmen entwickelten Theorien, kennzeichnen. Über das Bestimmungsproblem selbst ist damit freilich noch nichts ausgesagt.

12 Optimistischer in dieser Hinsicht etwa J. Mittelstraß, Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: O. Schwemmer (Hrsg.), Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, München 1981, S. 117 („Bestimmung der Rechtswissenschaft über eine Definition des Rechts“). 13 Vgl. dazu A. Schramm, Stichwort „Forschungsprogramm“, in: J. Speck (Hrsg.), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Göttingen – Zürich 1980. 14 D. Shapere, Scientific theories and their domains, in: F. Suppe (Hrsg.), The structure of scientific theories, 2. Aufl., Urbana (Ill.) 1977, S. 11.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

V. Ist die Bestimmung eines „Einheitsgegenstandes“ der Rechtswissenschaft möglich? Unter dem Einheitsgegenstand einer Wissenschaft lässt sich das Merkmal oder die Merkmalsmehrheit verstehen, die alle Theoriegegenstände bzw. „domains“ dieser Wissenschaft gemeinsam haben und nach denen sie sich von anderen TheorieGegenständen bzw. „domains“ unterscheiden lassen. Der Einheitsgegenstand der Rechtswissenschaft ist danach die Invariante oder eine konjunktive (allenfalls auch eine disjunktive) Verknüpfung von Invarianten der Objektbereiche und erklärten Funktionen und Attribute aller Theorien, die zur Klasse rechtswissenschaftlicher Theorien bzw. der „domains“ aller Forschungsprogramme gehören. Dabei mag die als „Rechtswissenschaft“ bestimmte Theorieklasse bzw. Klasse von Forschungsprogrammen nicht allein durch diese Gegenstandsinvariante (Einheitsgegenstand) bestimmt sein, sondern etwa durch methodologische Invarianten. Dabei ist vorausgesetzt, dass diese Klasse von Theorien bzw. Forschungsprogrammen außerdem die gemeinsame Eigenschaft hat, de facto „rechtswissenschaftlich“ genannt zu werden. Nach meiner Auffassung kann man die de facto „rechtswissenschaftlich“ genannten Theorien bzw. Forschungsprogramme als „Sachverhaltsfamilie“ nach ihrer „Familienähnlichkeit“ zusammenfassen und diese „Sachverhaltsfamilie“ als Rechtswissenschaft bestimmen. Die dabei als „familienähnlich“ unterstellten Theorien, Forschungsprogramme, Objektbereiche, Funktionen und Attribute, „domains“, Methoden usw. können etwa durch die Kennzeichnung „erfahrungs- und / oder normwissenschaftliche Erforschung des Rechts“ charakterisiert werden. Als einheitliches Paradigma kann Rechtswissenschaft danach nicht betrachtet werden. Dies wäre allenfalls dann möglich, wenn man sie z. B. auf dogmatische Rechtswissenschaft verengt oder sie etwa ausschließlich als empirisch-erfahrungswissenschaftliche Theorie des Rechts begreift. Danach ist die Auffindung eines Einheitsgegenstandes der Rechtswissenschaft als die strikte Bestimmung einer (merkmalsinvarianten) Klasse der Gegenstände von Theorien bzw. Forschungsprogrammen, die de facto rechtswissenschaftlich genannt werden, zur Zeit nicht erkennbar. Die Bestimmung einer als „rechtswissenschaftlich“ gekennzeichneten „Sachverhaltsfamilie“ von Theorien, Forschungsprogrammen, Objektbereichen, Funktionen und Attributen, „domains“ und Methoden im Sinne der „Familienähnlichkeit“ ist dagegen eher in Sicht; sie ist allerdings – soweit ich sehe – bisher nicht systematisch in Angriff genommen. Gegenwärtig lässt sich daher vom Vorliegen der Bestimmung des Einheitsgegenstandes der Rechtswissenschaft nur insofern sprechen, als man eine – historisch zusammenhängende – „Familie“ von Theorien, Forschungsprogrammen, Objektbereichen usw. als „Rechtswissenschaft“ zu bezeichnen pflegt und die „Gegen-

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standsfamilie“ dieser Rechtswissenschaft im Wege der Charakterisierung „familienspezifischer“ Ähnlichkeit bestimmt. Theorie des Rechts befasst sich mit einem – insbesondere gegenüber Politik und Moral – schwer abgrenzbaren Bereich sozialer Tatbestände.15 Sie hat es insoweit mit faktischen Zusammenhängen zu tun, die sie abklären muss. Auf der anderen Seite erwartet man von ihr Aussagen, „für deren Richtigkeit nicht bloß faktische Geltung bestimmter Normierungen ausschlaggebend ist.“16 Insoweit geht es nicht um „wirkliche Praxis“ des Rechtslebens, sondern um die Frage, „was unter gewissen Wertgesichtspunkten akzeptabel ist“.17 Dabei erscheint die Frage nach der Begründung der Rechtsnormen als das eigentliche Anliegen der Rechtswissenschaft:18 Es wird zwischen begründeten und damit legitimen und anderen Regelungen unterschieden, also die Möglichkeit einer wie immer gearteten Normenkritik zumindest grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Ganz anders stellt sich die Situation für denjenigen dar, der vom klassischen Begründungsdenken abrückt, das philosophisch als überwunden gelten darf. Er begibt sich allerdings in die Gefahr, dass er bei der rein beschreibenden Analyse von Normierungen stehen bleibt, wenn er nicht ein „Programm der theoretischen Erklärung auf der Grundlage von Gesetzmäßigkeiten“ (Albert) verfolgt und damit zu einer Zielsetzung nomologisch-erklärender Behandlung vordringt.19 Sieht man im Recht einen grundlegenden Faktor sozialer Steuerung des gegenseitigen Verhaltens der Mitglieder der Gesellschaft, muss es der Rechtswissenschaft prinzipiell möglich sein, unter diesem Aspekt das Phänomen Recht theoretisch anzugehen (Stichwort: „Folgenorientierung im Recht“). Damit sind aridere Erklärungsversuche nicht ausgeschlossen. Es soll nur gesagt werden, dass es prinzipiell der Rechtswissenschaft möglich ist, Recht nicht nur unter normativen oder hermeneutischen Gesichtspunkten zu erfassen, sondern es auch als Phänomen sozialer Steuerung zu erklären. Dass dabei historisch unterschiedliche Ausprägungen rechtlicher Tatbestände auftauchen, die einem permanenten Wandel unterliegen, bedeutet nicht, dass es nicht sehr allgemeine Bedingungen im Rechtsleben gibt, deren Wirkungszusammenhänge in einem erfahrungswissenschaftlichen Pro15 Vgl. dazu O. Weinberger, Das Recht als institutionelle Tatsache. Gleichzeitig eine Überlegung über den Begriff des positiven Rechts, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 427 – 422. 16 Albert, Traktat, S. 61. 17 Ders., S. 61. 18 Weiterführend R. Weimar, Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus, in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, Berlin 1983, S. 473 – 496. 19 Albert, S. 63 weist darauf hin, dass aus der Tradition der schottischen Moralphilosophie eine Konzeption hervorgegangen sei, in der die in den Naturwissenschaften übliche Erklärungsidee auf den Bereich der Gesellschaft übertragen werde. Zur Anwendung des explikativen Konzepts auf den Bereich des Rechts und der Rechtstheorie s. meinen in FN 26 genannten Beitrag.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

gramm der Rechtswissenschaft nomologisch erklärt werden könnten. Wenn sich die rechtlichen wie die anderen sozialen Phänomene aus dem Zusammenspiel von Handlungen unter bestimmten Bedingungen erklären lassen, dann dürften die Gesetzmäßigkeiten, die für die Erklärung rechtlicher Normierungen relevant sind, in erster Linie im Bereich der Verhaltensweisen selbst zu suchen sein.20 Dies wird einsichtig, wenn man bedenkt, dass die Normierungen im Verhalten wirksam und dadurch der Ablauf der Sozialprozesse mitbestimmt wird. Die Begründung normativer Geltung, wie sie etwa der Reinen Rechtslehre zugrunde liegt, ist dann zugunsten der Erklärung faktischer Geltung rechtlicher Normierungen preisgegeben.21 Darin scheint nun aber ein Dilemma zu liegen: So wenig nämlich Theorien nach Art etwa der Reinen Rechtslehre Beziehungen zur Erklärung faktischer Geltung aufweisen und damit einem Wissenschaftsprogramm der analytischen Wissenschaftstheorie genügen, so gering ist auch die Aussicht, dass mit der Problemverlagerung zur Erklärungsseite. hin der Tradition des normativen Interesses in der Rechtswissenschaft entsprochen werden könnte. Dieses Interesse scheint sich mit dem Erklärungsinteresse eines erfahrungswissenschaftlichen Forschungsprogramms nicht eben gut zu vertragen. Die Anforderungen dieses Programms laufen nicht nur der Arbeitsweise der dem Bindungspostulat verpflichteten Rechtspraxis zuwider (dies wäre weniger schlimm), sie stoßen bisher auf weitgehende Ablehnung der dogmatischen Rechtswissenschaft, die gewissermaßen als „normative Autorität“ für die Probleme der Identifikation des Rechtsstoffes und seiner Interpretation fungiert – gleichgültig, ob man hierbei mit Kelsen annimmt, alle Interpretationsergebnisse könnten Anspruch auf positiv rechtliche Gültigkeit erheben, wenn sie die Grenzen des durch die bedingenden Rechtsnormen gezogenen normativen Entscheidungsrahmens nicht überschreiten,22 oder ob man – sehr viel enger – nur eine einzige Lösung als richtig akzeptiert.23 Die soziale Faktizität gerät hier bestenfalls als Bezugsobjekt der normativen Bemühungen in den Blick, nicht aber als Grundstruktur und Bestandteil der rechtlichen Normativität selbst. Ob man nun etwa an naturrechtliche Auffassungen denkt, in denen das positive Recht als durch ein höheres und mit Gewissheit erkennbares Recht absoluten Charakters gebunden angesehen wird, ob man – entsprechend der konventionellen, dogmatisch-exegetisch orientierten Richtung der Rechtswissenschaft – auf den Anspruch abhebt, So auch Albert, S. 65. Dies bedeutet einen Wandel des Wissenschaftsbegriffs der herkömmlichen Rechtswissenschaft. Vgl. auch O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Der Wissenschaftsbegriff in den Naturund in den Geisteswissenschaften, Studia Leibnitiana, Sonderheft 5 (1975), S. 102 – 120; ders., Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen. Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaften, in: K. Salamun (Hrsg.), Sozialphilosophie als Aufklärung. Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 173 – 187. 22 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 349. 23 Zu Einzelheiten vgl. R. Weimar, Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Memoria del X Congrese Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Filosofía Social, Mexico City 1982, Bd. IX, S. 225 – 244. 20 21

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allein „aus“ den zu interpretierenden Rechtsnormen eine einzig-richtige Entscheidung – gewissermaßen als „normative Wirklichkeit“ – finden zu können oder ob man die faktische Wirksamkeit einer Rechtsordnung mit Geltung im Sinne Kelsens ausstattet: Alle diese Versionen verschleiern nur, dass das ihnen zugrunde liegende Denken letztendlich auf die Faktizität einer bestimmten Instanz rekurriert. Und alle diese Versionen vermögen den logisch unzulässigen Schluss von der Faktizität einer Normsetzung auf ihre normative Geltung nur unzureichend zu beheben. Eine Rechtswissenschaft dagegen, die sich von solchen Konstruktionen löst, kann das positive Recht als Phänomen der sozialen Steuerung in den Blick nehmen, beschreiben und erklären. So unbestreitbar nun der normative Charakter des Rechts auch ist, so wenig kann von diesem Charakter auf den der die Rechtsnormen behandelnden Wissenschaft selbst geschlossen werden, in der über Aussagen gesprochen wird, die normativ sind, und über den Sinn, der in ihnen ausgedrückt ist.24 Daher war und ist es der Irrtum der dogmatischen Rechtswissenschaft, dass sie annimmt, die kognitive Erfassung von Normen stelle sich in normativen Aussagen dar.25 Dabei wird übersehen, dass sich die Aussagen rechtswissenschaftlicher Theorie auf normative Aussagen und die in ihnen formulierten Normierungen lediglich beziehen, dass aber die rechtstheoretischen Aussagen deshalb nicht selbst normativen Charakter zu haben brauchen.26 Die Rechtswissenschaft ist nun aber weder als Theorie noch in ihrer auf die Praxis unmittelbar ausgerichteten Form in der Situation des praktischen Juristen, der sich gewiss nicht auf Reflexionen über das Sozialphänomen Recht beschränken kann, der vielmehr in jedem Fall auch ein normatives Potential einsetzen muss, um überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen. Aber dieses Selbstverständnis der juristischen Praxis, die es genuin mit Dogmatik zu tun hat, findet ständig Eingang auch in die sich dogmatisch verstehende Rechtswissenschaft, die in enger Beziehung zur Rechtspraxis deren Normativismus übernimmt. Deren methodische Eigenart – nämlich die dezidiert argumentative, funktionsbedingte Verwendung von Wertungen27 – ergreift sehr weitgehend auch das Theorieverständnis der Rechtswissenschaft und bedingt dort eine ganz spezifische Art und Weise der Wissensproduktion, deren Denkstil mit dem am Erklärungsinteresse orientierten Erkenntnisprogramm der übrigen Sozialwissenschaften auffallend kontrastiert28 und deswegen die Planung eines solchen Programms innerhalb der Rechtswissenschaft selbst von vornherein erschwert. Ähnlich Albert, S. 73 und 77; unzutreffend Larenz, Methodenlehre, S. 174 f. Albert kennzeichnet dies als „merkwürdige Idee“. 26 Ders., S. 74; R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214 (202). 27 Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 214. 28 Albert, S. 66, dem sich sogar der Vergleich mit der Theologie aufdrängt; s. auch O. Weinberger, Bemerkungen zur Grundlegung der Theorie des juristischen Denkens, in: H. Albert / N. Luhmann / W. Maihofer / O. Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Bd. 2, Düsseldorf 1972, S. 134 – 161. 24 25

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Wird jedoch demgegenüber zwischen Theorie bzw. Technologie des Rechts einerseits und Rechtspraxis andererseits unterschieden, kann man der Rechtswissenschaft auch ein Feststellungs- und Erklärungsinteresse zuweisen, wie dies ihrem Wissenschaftsanspruch als einer Sozialwissenschaft gemäß möglich, aber auch erforderlich erscheint, will man nicht ihren empirischen Erkenntnisbereich weitgehend reduzieren. Nun scheint eine schlichte Feststellung des „geltenden Rechts“ allein anhand der Rechtstexte (Gesetze und gerichtliche Entscheidungen) und mit Hilfe der gängigen Auslegungsverfahren in der Rechtswissenschaft deshalb erschwert oder unmöglich zu sein, weil die Rechtspraxis dieses Recht gerade selbst mitgestaltet (Paradebeispiel: Richterrecht). Will man also die Problemlösungen nicht der Rechtspraxis überlassen, muss man der Rechtspraxis Orientierungshilfen geben, die nach verbreiteter Ansicht indes nicht a-normativ (wertfrei) gestaltet werden können, sondern angeblich nur dogmatisch produzierbar sind. Und genau dies ist der Punkt, an welchem man glaubt, zum Normativismus übergehen zu müssen, wenn nicht die Rechtspraxis sich selbst überlassen bleiben soll. Ein solches Verständnis lässt indes außer Betracht, dass sich Rechtswissenschaft hier als Technologie29 begreifen kann. Diese zielt darauf ab, bestimmte – u. U. an alternativen Zweck- und Wertgesichtspunkten orientierte – Deutungsvorschläge für die Anwendung von in. der Rechtsordnung vorfindlichen Normsätzen und ihre Modifikation zu machen30. Der jeweilige verfassungsmäßige Rollenträger (z. B. Gesetzgeber, Richter) kann das technologisch produzierte Wissen in seine Entscheidung übernehmen. Gerade eine praxisorientierte Rechtswissenschaft wäre auf diese Weise ohne normativistischen Einschlag möglich; sie wäre auch ausreichend. Anstelle a-theoretischer Dogmatik31 würden Hypothesenbildungen ermöglicht, die die Adäquatheitsbedingungen für Problemlösungen und alle sonstigen relevanten Gesichtspunkte explizit machen könnten. Dies entspricht einer Wissenschaftsprärogative, die die – dogmatisierende – Rechtswissenschaft in Konkurrenz mit einer zunehmend emanzipierten und „verwissenschaftlichten“ Rechtspraxis verloren hat, aber zurückholen kann. VI. Ausblick Der methodisch-selektive Impetus der Reinen Rechtslehre war so extensiv, dass daneben die weitere Theoriebildung, die Hand in Hand mit empirischen Forschungen hätte gehen müssen und erst den eigentlichen Erkenntnisfortschritt hätte brinDazu im Einzelnen Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, S. 208 ff. Vgl. Albert, S. 80. 31 Zur Möglichkeit der Kritik normativer Aussagen vgl. etwa K.-D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek 1973, S. 321; H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 11 ff., 29 ff. 29 30

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gen können, entschieden zu kurz kam. Hauptsächlich in den beiden letzten Jahrzehnten hat die Theoriebildung wieder zugenommen, ja sie wurde als das Desiderat erkannt. Freilich, dies wurde mit dem Verlust an empirischem Bezug erkauft. Neben die Reine Rechtslehre trat die Systemtheorie – ebenfalls als Theorie ohne besonderen Zeit- und Situationsbezug, die – in der Luhmannschen Version – den formalen Funktionsmodus jedes Rechtssystems, ja darüber hinaus jedes Systems überhaupt erklären sollte. Diese „Großtheorien“, die das Recht ohne seinen gesellschaftlichen Kontext im Ganzen zu erklären suchen, scheinen in den Hintergrund, gedrängt zu werden. Theorien werden nun um „kleinere Einheiten“, z. B. um die juristische Entscheidung32, gebildet. Bei allem besteht kein Zweifel, dass eine Beschäftigung mit den Gedanken der Reinen Rechtslehre auch heute noch sinnvoll erscheint, weil sie insbesondere heuristisch nützlich sein kann. Das dem eigenen theoretischen Vorhaben zugrunde liegende Ziel kann schärfer reflektiert werden. Deutlich wird auch, wie sehr das jeweils die Theorie bestimmende Ziel verknüpft ist mit der verwendeten Methode, die das Abzubildende nicht schlicht „photographieren“ kann, sondern Gesichtspunkte aus einem vielfältigen, kompakten Zusammenhang isolieren und in abstrakte Ordnungsschemata überführen muss. In diesem Sinne ist jeder Theoriebildung und jedem Theoriefortschritt ein „konstruktives“ Element eigen, das den erkannten Problembereich freilich immer nur auf einen spezifischen Aspekt und eine besondere Ebene relativieren kann.33 Und dieser Prozess braucht eine dauernde Rückkoppelungskontrolle an der Wirklichkeit. Nun scheint augenblicklich kaum bestreitbar zu sein, dass die Forderung nach einer Überprüfung realistischer Rechtstheorien durch lückenlose Erfahrung und methodische Rigorosität vorerst wohl zu einem Stillstand aller rechtswissenschaftlichen Theoriebildung im vorerwähnten Sinne führen müsste. Andererseits sehe ich keinen gangbaren Weg, der die Schwierigkeiten solcher Theoriebildung und ihrer Überprüfung prinzipiell auszuräumen vermag.34 Es bleibt wissenschaftslogisch unabweisbar, dass vom Rechtstheoretiker zu fordern ist, dass er angibt, was er als zureichende Bestätigung seiner Hypothesen oder Theorien ansehen würde.

32 Vgl. etwa J. Harenburg / A. Podlech / B. Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, Darmstadt 1980; W. Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt am Main 1974; R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck Bern 1996); ders., Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: R. Jakob / E. Mock (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 81 – 103. 33 Zur Progression von Theorien vgl. A. Schreiber, Theorie und Rechtfertigung, Braunschweig 1975, S. 169 ff.; weiterführend A. Schramm, Theorienwandel oder Theorienfortschritt, Wien 1976. 34 Zu Einzelheiten s. meinen in FN 9 genannten Beitrag.

Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomisch-ökologischen Zeitalter* Die evolutionäre Beschleunigung und die durch sie induzierte allgemeine Wissenschaftskrise betreffen die Rechtswissenschaft in einer doppelten Weise: zum einen als Wissenschaftsdisziplin insofern teilt sie das Schicksal zahlreicher anderer Wissenschaften; zum anderen wegen der Spezifität ihres Wandlungen gegenüber resistenten oder doch ambivalenten Objektfeldes. Da die Sozialwirkungen des technischen Fortschritts überwiegend ökonomisch und ökologisch vermittelt werden, gilt für die rechtliche Steuerung und Kontrolle dieser Wirkungen, dass die Rechtswissenschaft einer „Mitredekompetenz“ 1 im Kreis der übrigen Sozialwissenschaften bedarf, will sie die ihr zugedachten Aufgaben angemessen bewältigen. Die Orientierungsschemata, denen die Rechtswissenschaft folgt, wie dies Wissenschaften ihrer jeweiligen Regelgeleitetheit entsprechend zu tun pflegen, bestimmen das rechtswissenschaftliche Erkenntnisinteresse, bestimmen, was rechtswissenschaftlich in den Blick genommen werden soll, was als „erheblich“ angesehen wird, und damit auch, was durch den Raster ihres Wissenschaftsparadigmas hindurch fällt, bestimmen also, was als fachfremd nicht in das „Weltbild“ oder zum „Selbstverständnis“ dieser Wissenschaft passt. Seltener ist eine Veränderung, eine Erneuerung dieses Erkenntnisinteresses. Sie betrifft immer auch die „bestehende“ Kanonisierung der Wissenschaftsdisziplin, betrifft die Disziplin als Institution, ihre Kompetenz und damit ihre Grenzen; vor allem aber betrifft ein solches Interesse die Dynamik einer Wissenschaft: den Prozess der Wissenszulassung und Wissensvermehrung. Unter diesem Bezug und in diesem Rahmen möchte ich versuchen, die neuere Wissensproduktion der Rechtswissenschaft in der Folge der primär politisch fungierenden, weltweit in Gang gekommenen Ökologie-Diskussion – auch Wachstumsdiskussion genannt – im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen innerhalb dieser Wissenschaft zu thematisieren. Die ökonomisch-ökologische Perspektive des Rechts war schon früh insbesondere für das Raumplanungsrecht und die diesem zugehörigen Materien kennzeich* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / R. Weimar (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften. 1986, S. 147 – 162. Frankfurt am Main – Bern – New York: Lang. Forschungen der Europäischen Fakultät für Bodenordnung, Bd. 2. 1 Dazu näher M. W. Fischer, Dynamik und Relativität der Wissenschaft. Gedanken zur Neubestimmung rechtswissenschaftlicher Aufgaben, in: Rechtstheorie Beiheft 3 (1981), S. 15 ff. (32).

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nend. Das Raumplanungs- und mit ihm das Umweltrecht wirken nicht nur raumund umweltspezifisch, dieses Recht beeinflusst das menschliche Handeln selbst – besonders als wirtschaftliches Handeln einschließlich der daraus resultierenden externen Effekte. Diese Perspektive durchzieht notwendig die Rechtsordnung auch als Ganzes. Kraft seiner Universalität wie schon wegen seiner Grundlagenorientiertheit besitzt ein solcher Ansatz einen verhältnismäßig hohen Allgemeinheitsgrad. Die allgemeine ökonomisch-ökologische Orientierung im Rechtsdenken darf dabei nicht vordergründig als „Modethema“ gesehen werden;2 ein solcher Ansatz ist nur aus bestimmten weitergehenden Zusammenhängen zu erklären und bedarf einer Analyse vor allem aus wissenschaftstheoretischer Sicht.

I. Wissenschaftsentwicklung und Rechtswissenschaft Seit der unfruchtbaren Kontroverse zwischen „bürgerlichen“ und „fortschrittlichen“ Wissenschaftskonzeptionen in den 30er Jahren gruppieren sich in den Auseinandersetzungen um Grundsatzfragen der Wissenschaftsforschung die Kontrahenten in Internalisten und Externalisten – die verwendete Terminologie ist dabei häufig verdeckt.3 Während die Gruppe der Internalisten für die Wissenschaftsentwicklung vornehmlich die immanenten Faktoren und Bedingungen als verantwortlich ansieht und ihr Interesse sich am Erkenntnisprozess im engeren Sinne orientiert – die scientific community mit ihren traditionell normierten Verhaltensweisen ist bei ihnen der eigentliche Untersuchungsgegenstand –, gilt das Interesse der Externalisten zuerst und besonders dem Stellenwert der außerwissenschaftlichen, vor allem der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Wissenschaftsentwicklung; dabei wird eine auch von internen Bedingungen abhängige Entwicklung freilich nicht geleugnet. Die internalistische Orientierung erfuhr durch Thomas S. Kuhns4 Paradigmakonzept ihren – sieht man von einzelnen Nuancierungen einmal ab – theoretischen Höhepunkt. Als zentrale Kategorie theoretischer Bemühungen dieser Provenienz fungiert die disziplinäre Theorie; sie war und ist der Motor für die Entwicklung von ganzen Epochen oder Etappen der Wissenschaften. Entsprechend der Dominanz des wissenschaftsinternen Geschehens ordnet sich das soziale Geschehen um die Wissenschaften und in diesen Wissenschaften hori2 Einzelheiten bei R. Weimar, Raumordnung und Umweltvorsorge, in: ders. (Gesamtredaktion), Die Ordnung des Bodens – heute und morgen, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 72 ff. (90 f.) m. w. N. 3 Grundlegend zur Wissenschaftsentwicklung etwa P. K. Feyerabend, Science in a free Society, London 1978; vgl. auch P. Weingart (Hrsg.), Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Frankfurt am Main 1974. 4 Vgl. aus seinen zahlreichen Schriften etwa: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1977.

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zontal und vertikal nach den traditionellen Normen der scientific community und ihrer inhaltlichen Ausprägung entlang dem Entscheidungsprozess von Theorien. Entsprechendes gilt seitenverkehrt für den Externalismus. Das führt in einer extremen Ausformung etwa dazu, dass der Wissenschaftsentwicklung geradezu die Zeitrechnung des historischen Materialismus aufgesetzt wird (Stichwort: „sozialistische Wissenschaften“).5 Ich kann hier nicht auf die einzelnen Varianten eingehen, die zu dieser Dichotomie vertreten worden sind. Es sei aber erwähnt, dass selbst dort, wo theoretisches Bemühen gegenüber der Dichotomie von Vorbehalten getragen ist, die Überwindung nicht eigentlich gelingt. Eine angemessene Bewältigung kann nur erfolgen, wenn die Ursachen der Dichotomie im metatheoretischen Bereich erkannt werden. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht lässt sich dies – wie ich meine – mit Hilfe des „Problembegriffs“ erreichen, der eine übergreifende Zentralkategorie darstellt. Probleme lassen sich auffassen als defizitäre soziale Handlungssituationen. Das diesen Situationen eigene Defizit kann auf der Ebene der Orientierung oder auf der Ebene der Mittel liegen; es handelt sich also um Wissensdefizite, die den Handlungsablauf behindern. Hiernach ist eine „problematische“ Handlungssituation durch ein oder mehrere Wissensdefizite gekennzeichnet. Die zum Handeln Aufgeforderten bedürfen innovativer Hilfe, um situationsgemäß handeln zu können. Problemtheorie ist damit für die Wissenschaft relevante Handlungstheorie, soweit Handeln erst durch den Abbau von Wissensdefiziten ermöglicht wird. Wird der Problembegriff in dieser Weise entfaltet, erscheint seine theoretische Ergiebigkeit für die Wissenschaftsforschung im Bereich der Rechtswissenschaft evident. Insbesondere scheint mit einem am Problembegriff entwickelten theoretischen Zugang das Dilemma der Dichotomie von externen und internen Faktoren für die Entwicklung der Rechtswissenschaft lösbar zu werden. Wissensdefizite – akute, auf Handlungssituationen bezogene – lassen sich, wenn sie dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zur Lösungssuche zugeführt werden, als Produkt einer Kommunikation zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Problembetroffenen auffassen. Der einzelne Rechtswissenschaftler ist an diesem Kommunikationsprozess beteiligt: er entscheidet aber über die Thematisierung seiner problemorientierten Tätigkeit nur mehr relativ autonom. Sein Wissenschaftsprogramm scheint zu einer mehr oder weniger gesellschaftlich abhängigen Variablen zu werden. Dies bedeutet, dass die Thematisierung der rechtswissenschaftlichen Tätigkeit nicht fest in den traditionellen Kanon autonomer Handlungen der scientific community eingebunden ist; sie wird in dem Maße aus ihm herausgelöst, in dem die Thematisierungen durch den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess mitbestimmt werden. Das schließt nicht aus, sondern setzt weiterhin voraus, dass auch innerwissenschaftliche Probleme sehr wohl in diesem Kommunikations5 Zu diesem Fragenkreis vgl. etwa P. Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie 2. Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung, Frankfurt am Main 1974.

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prozess zur Geltung kommen können (und müssen). Weder gibt es hiernach einen Primat autonomer Ideenprozesse noch empfiehlt sich eine einseitige Reduktion der Wissensproduktion auf soziale Gegebenheiten. In dieser Zuspitzung ist die darin liegende Alternative nicht haltbar. Es handelt sich nicht um ein „Entweder-OderProblem“.

II. Strukturinterne und umstrukturierende Programmreformen Der Ausgangspunkt, rechtswissenschaftliches Handeln nicht ausschließlich als intern determiniert anzusehen, sondern auch als gesellschaftlich induziertes Problemlösungshandeln zu verstehen, führt dazu, dass der Gegenstands- und Untersuchungsbereich rechtswissenschaftlichen Handelns expandiert. Das gesellschaftliche Umfeld der Rechtswissenschaft wird hier in das wissenschaftliche Bemühen einbezogen. Rechtswissenschaft überwindet damit die ihr sonst eigene Enge. Dies führt dazu, dass sich Rechtswissenschaft bzw. Rechtstheorie und Gesellschaftstheorie gegenseitig bedingen. Dieser Konsequenz suchen monistische Rechtstheorien, z. B. Hans Kelsens Reine Rechtslehre, zu entgehen. Gesamtwissenschaftlich gesehen, d. h. unter dem Aspekt der Maximierung der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, liegt darin aber kein Vorteil; denn auch Versuche dieser Art haben eine Basistheorie zur Voraussetzung. Was sie aus ihrem Theoriebereich um der Reinheit willen eliminieren, wird von insoweit eingreifenden Anschlusstheorien aufgefangen. Es handelt sich letztlich immer nur um die Entscheidung, wie die Gehalte möglicher Theorien verteilt werden: Großtheorie – Kleintheorie, eine Theorie – mehrere Theorien usw. Die Reduktion der Theorie der Rechtswissenschaft auf internalistische Prämissen erscheint vor dem Hintergrund der skizzierten Problemtheorie nun zwar keineswegs überflüssig; sie ist aber allein m. E. nicht ausreichend. Vielmehr sind notwendig auch gesellschaftstheoretische Voraussetzungen für die Rechtswissenschaft zu erbringen. Rechtstheorie nimmt damit nicht notwendig eine normative Form an: sie verfährt teleologisch, kann sich dabei aber sozialtechnologisch verstehen. Ich glaube nicht, dass dies – wie es zunächst vielleicht scheinen mag – die Preisgabe des Objektivitäts- bzw. Wertneutralitätspostulats bedeuten muss.6 Dieser über den bloßen erkenntnistheoretischen Anspruch hinausführende Theorieansatz wird freilich zumeist als normativer verstanden. Dass die Legitimation dafür, dass ein solcher Ansatz verfolgt wird, nicht wissenschaftstheoretisch / methodologisch begründet werden kann, liegt auf der Hand. Hinter ihm scheint in erster Linie ein Situationsverständnis von der heutigen Gesellschaft und von den in ihr wirkenden Wissenschaften zu stehen. In diesem Zusammenhang ist letztlich nicht ohne die Theorien zur so genannten postindustriellen Gesellschaft auszukom6 Zur Wertneutralität in der Rechtstheorie vgl. R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie 3 (1981), S. 193 ff.

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men, deren Entwicklungsprozesse ökonomisch-ökologisch höchst relevant sind; diese Theorien müssten daraufhin untersucht werden, wie sie im Sinne unseres Themas gerade ökonomisch-ökologisch angeleitetes rechtswissenschaftliches Handeln erklären könnten. Da eine solche Untersuchung hier zu weit führen würde, möchte ich nur auf eine für unseren Untersuchungsrahmen weiterführende Überlegung von R. Kosseleck zurückgreifen. Kosseleck behandelt in seinen Analysen „Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft“7 den „theoretischen Vorgriff“ einer so genannten „Sattelzeit“. Für die Zeit zwischen 1750 und 1850 – diese hundert Jahre sind bei Kosseleck eine „Sattelzeit“ – stellt er fest: „Alte Worte, etwa Demokratie, Freiheit, Staat bezeichnen seit rund 1770 einen neuen Zukunftshorizont, der den Begriff anders umgrenzt; überkommene Topoi gewinnen Erwartungsgehalte, die ihm früher nicht innewohnten“. Sattelzeiten stellen historische Zeiträume dar, in denen sich ein spürbarer Umdeutungsprozess in den Werten und Normen einer Gesellschaft vollzieht. Während solcher Perioden sind Wissensbestände der Vergangenheit und Orientierungen in die Zukunft in höherem Maße in das soziale und ökonomische Handeln der Gegenwart einbezogen, als dies in den Zeiträumen zwischen den Sattelzeiten, also in relativ statischen Entwicklungsabschnitten, der Fall ist. Dazu möchte ich die These formulieren, dass heutige Gesellschaften und die in ihr existierenden Wissenschaften, die Rechtswissenschaft eingeschlossen, sich in eben einer solchen Sattel zeit befinden, die ich kurz das ökonomisch-ökologische Zeitalter nennen möchte. Allerdings – und hier lassen sich Kosselecks Überlegungen weiter differenzieren – ist der damit angesprochene Umdeutungsprozess des Wertgefüges noch im vollen Gange, hat vielleicht erst begonnen. Denn dass genuine Leistungsgesellschaften ihrer bisherigen ungebremsten Wachstumsideologie mehr und mehr zugunsten einer wie immer verstandenen ökologisch orientierten Lebensqualität abzuschwören beginnen, ist neu. Während nun zwar Kosseleck für die Sattelzeit annimmt, dass „alte Begriffe“ sich in ihrem Bedeutungsgehalt den sich verändernden Bedingungen der modernen Welt angepasst haben, stehen wir nach meiner Einschätzung gerade am Anfang einer solchen Umdeutungsphase, in der das ökonomische Wachstum und seine Maximierung nicht mehr unabhängig von Vorstellungen über die ökologische Qualität des Wirtschaftsprozesses gedacht zu werden beginnt. Dies bedeutet eine Herausforderung für die gegenwärtige Gesellschaft und damit für ihre Wissenschaften, die diese eher überraschend und jedenfalls unvorbereitet trifft.

III. Wissensvermehrung – kein Ziel der Rechtswissenschaft? Die Situation der Gegenwartsgesellschaft ist durch die Notwendigkeit der Suche und des argumentativen Findens von Neudefinitionen der an sich stabilen überzeit7

In: H. Becker u. a. (Hrsg.), Geschichte und Sozialwissenschaft, Göttingen 1972, S. 22.

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lichen Werte und Normen gekennzeichnet. Ich meine nicht, dass es um eine grundsätzliche Ablösung oder Beseitigung von Werten geht; wohl ist ein evolutionärer Prozess im Wertgefüge, entsprechend unserer Bestimmung von „Sattelzeit“, festzustellen. Dies scheint die Annahme nahe zu legen, dass die von der Rechtswissenschaft getragenen und verwalteten Definitionen der Werte und Normen durch unser ökonomisch-ökologisches Wissen und seine Veränderung entscheidend mitbedingt sind. Symptomatisch scheint mir hier ein Beispiel aus der kontrovers geführten Grundwerte-Diskussion zu sein: die Frage der Einführung eines Umweltgrundrechts, eines Grundrechts auf eine ungefährdete und menschenwürdige Umwelt, wobei sich verschiedene Positionen individual- und sozialrechtlich, Provenienz, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ökonomie-Ökologie-Debatte, abzeichnen. Das der Rechtswissenschaft überkommene Sollen als Sinn des Rechts trivialisierende Reinheitsgebot (z. B. Kelsen) oder die auf bloße Systemfunktionalität reduzierte Perspektive der Systemtheorie (z. B. Luhmann) vermittelt lediglich formale Definitionen, wo Entstehungs-, Begründungs- und Wirkungszusammenhänge hätten erarbeitet werden können (Stichwort: Folgenorientierung im Recht). Der im Gang befindliche Umdeutungsprozess lässt diese Wissensdefizite nun zu Fehlentwicklungen des Rechtssystems in immer häufiger auftretenden ökonomisch-ökologischen Problemsituationen werden. Nur dann aber ist die Rechtswissenschaft in der Lage, sich an dem Prozess des Umdeutens zu beteiligen, wenn sie über das entsprechende Wissen verfügt. Darin liegt eine unverzichtbare Voraussetzung für die mögliche Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, das sich langsam, aber zunehmend in ökonomisch-ökologisch akzentuierte Fragestellungen, insbesondere im Bereich der wirtschafts-, sozial-, raum- und umweltrelevanten Planung, einschaltet. Erst mit diesem „neuen“ Wissen und einer darauf gründenden Neuorientierung wird die Rechtswissenschaft befähigt, gegenwartsnahe Handlungsbestimmungen zu suchen und zu begründen. Solange sie dieses neue Orientierungsschema nicht überbringen kann, hält ihre Krise an. In diesem Sinne kann die Etablierung einer ökonomisch-ökologisch orientierten Rechtslehre als eine funktionale Reaktion auf erkannte Wissensdefizite über das Rechtswissenschaft genannte Wissenschaftssystem als Teil eines gesellschaftlichen Handlungszusammenhangs gedeutet werden: als Reaktion also im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, genauer als Reaktion auf den Konflikt zwischen Erkenntnisprogramm und sozialer Erwartung externer Problemformulierung oder Zielvorstellung –nicht als Resultat apriorischer Konstruktion, wie dies etwa für Kelsens Rechtslehre oder Luhmanns Systemtheorie gilt. Erst aus der Sicht unseres Theorieeinstiegs wird die Diagnose möglich, dass es im juristischen Wissenschaftssystem von Seiten der Politik, der Wirtschaft usw. aufgegriffene problematische Handlungssituationen gibt, die auf das Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaft innovierend einwirken. Diese aus dem wirtschaftlichen Wachstumsprozess sich ergebenden Problemfelder sind es, die in das Tätigkeitsspektrum der Rechtswissenschaft unter Bezeichnungen wie „ökonomisch-ökologische Rechtslehre“, „Rechtsökologie“ und ähnliches mehr Eingang finden oder sich zunächst

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„außen vor“, etwa als „Polit-Ökologie“ in der Politikwissenschaft, ansiedeln. Wie dem im Einzelnen auch sei: Von solchen Ansätzen wird ein Abbau der die Handlungssituationen kennzeichnenden Wissensdefizite erwartet.

IV. Ökonomisch-ökologisch informierte Theorie des Rechts: Einstieg in die Zukunft schon jetzt? Lassen Sie mich nun zu einigen Voraussetzungen und vorrechtlichen Grundlagen kommen, die den Wandel des Erkenntnisinteresses in der Rechtswissenschaft vorbereitet haben. Wie wir erst in der Gegenwart begreifen, sind die katastrophalen Beeinträchtigungen der Umwelt als Folgen des ökonomisch-technischen Prozesses der Vergesellschaftung der Natur zu deuten. Dabei geht es nicht nur um die Probleme der Verschmutzung oder Pollution: dringend ist auch die längerfristige Sicherung der materiellen und energetischen Ressourcen. Die aus dem industriellen Wachstumsprozess und seiner Technostruktur resultierenden Probleme sind sozioökonomische Probleme im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Als Wachstumsprobleme in einer endlichen Welt sind sie rechtlicher Steuerung und Kontrolle weitgehend zugänglich; sie sind solcher Reglementierung aber auch bedürftig. Die negativen Folgen treten gerade bei den an dem Prozess Beteiligten selbst ein. Dieser Prozess gefährdet letztlich die Funktionalität von Eigentum und Markt. Das Eigentum als formale Privatrechtskategorie verdeckt dabei die realen Nutzungskonflikte, die sich aus dem Neben- und Gegeneinander z. B. von „Flughafeneigentum“ und „Villeneigentum“, von „Industrieeigentum“ und „Feld-“, „Wald-“ oder „Wieseneigentum“ usw. ergeben. Die vielfältig auftretenden Kollisionen sind längst nicht mehr bloße Nachbarrechtsfragen, für deren Lösung privatrechtliche Instrumente selbst früher nur ausnahmsweise ausreichen konnten. Charakteristisch für neuere Umweltgesetze ist es, dass sie sich neben ihrem klassischen Schwerpunkt im Gewerbe- und Immissionsschutzrecht verstärkt im Planungsrecht etablieren. Das herkömmliche überwachungsorientierte (repressive) Umweltrecht mit seinen Wirkungsgrenzen lässt ein Bedürfnis nach vorausschauender Umweltgestaltung deutlich werden. Die Zielformel der Sicherung einer „optimalen Umwelt“ markiert dabei einen Trend, den man pointiert als den Weg vom Leistungsstaat zum „Umweltgestaltungsstaat“ (N. Wimmer) beschrieben hat. Nicht länger vermag der Leistungsstaat seine Ziele allein im Verteilen zu realisieren, der Staat hat zunächst einmal ökologische Mindestbedingungen zu schaffen, damit Leistungen überhaupt erbracht und genossen werden können. Um dies angemessen zu erreichen, erscheint es erforderlich, ökonomische und ökologische Ziele als relativ gleichwertig zu behandeln. Wo wirtschaftliche und umweltvorsorgende Ziele miteinander in Konflikt treten, sind rechtlich dennoch beide Ziele angemessen zu berücksichtigen. Es kennzeichnet die traditionelle Rechtswissenschaft, dass sie sozioökonomische Ursachen und ökonomisch-ökologische Probleme bisher weitgehend ausklammert:

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dies führt – um es kurz anzudeuten – zur Vernachlässigung z. B. folgender gesellschaftsrelevanter Fragen: – Kann in einer Demokratie die fortschreitende Umweltnahme aufgehalten werden? – Welche aktuellen und potentiellen Konflikte bestehen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Zielen im Hinblick auf die Umweltplanung und in welchem Umfang werden sie mit Mitteln des Rechts gelöst? – Wie verläuft der Prozess der Durchsetzung der in der Umweltplanung formulierten Ansprüche und Erwartungen?

Nach ihrem herkömmlichen Erkenntnisanspruch kann die Rechtswissenschaft diese Fragen nicht beantworten; auch Politikwissenschaft und Gesetzgebungslehre sind ebenso wie die Verwaltungslehre oder die Soziologie dazu allenfalls bedingt in der Lage. Bei den Problemen, um die es hier geht, bestehen nämlich überall enge Zusammenhänge mit den ökonomischen und ökologischen Eigenschaften der Umwelt, die weitgehend gerade außerhalb des Erkenntnisbereichs dieser Disziplinen untersucht werden. Bestimmte gesellschaftsrelevante Probleme, darunter vornehmlich die Versorgung mit öffentlichen Gütern (z. B. einwandfreies Wasser, saubere Luft), lassen sich nicht oder nur unzureichend im Rahmen des hergebrachten rechtswissenschaftlichen Paradigmas lösen, solange nicht explizit ökonomisch-ökologisch orientierte Fragen in die Analysen einbezogen werden. Hier sind es rechtsökologisch orientierte Ansätze, die die Untersuchung des integrativen Zusammenhangs von ökologischen Faktoren mit ökonomischen Gegebenheiten des Rechts in Angriff nehmen; dies wird – wenn auch mit unterschiedlichem Akzent – in neueren, umwelt- und planungsrechtlichen Arbeiten erkennbar (z. B. W. Hoppe, Th. W. Wälde, R. Wahl, N. Wimmer). Im Mittelpunkt des theoretischen Interesses steht – wohl meist eher unausdrücklich – die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsoptimierung durch ökonomisch-ökologisch effiziente Rechtsregeln und deren praktische Anwendung.8 Dabei kann „Effizienz“ im ökonomisch-ökologischen Sinne zum neuen Rechtsprinzip avancieren. Wenn das Rechtssystem im Sinne des ökonomisch-ökologischen Ansatzes geändert würde, dann entspricht ein solches System in dieser Hinsicht einem gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsoptimum. Bei diesem Zustand (Pareto-Optimum) ist keine Umverteilung von Ressourcen mehr denkbar, die zumindest ein Individuum besser stellen würde, ohne dass ein anderes entsprechend schlechter gestellt würde. Soziales Optimum (Wohlfahrtsoptimum) und individuelles Optimum (Nutzenoptimum) fallen in diesem Modell zusammen. Die Anpassungsorientiertheit der Rechtsordnung führt dazu, Rechtsregeln stärker nach dem ökonomisch-ökologischen Effizienzkriterium auszurichten. Diese 8 Dazu und zum Folgenden schon Weimar, Raumordnung und Umweltvorsorge, S. 72 ff. (90 – 93).

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Zusammenhänge können rechtstheoretisch analysiert werden; sie gehören jedoch nicht nur in den Untersuchungsbereich der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, sondern erfahren in zentralen Rechtsgebieten, vor allem im Verwaltungsrecht, jeweils ihre besondere Ausprägung und praktische Bedeutung. Eine ökonomisch-ökologische Analyse des Rechts ist überall dort indiziert, wo es um eine Betrachtung von Rechtsproblemen geht, die andere als ökonomischökologische Faktoren der Sache nach weitgehend vernachlässigen kann, vor allem dort, wo es um die „wirtschaftliche Vertretbarkeit“ von Umweltschutzmaßnahmen geht, wo erwerbswirtschaftliche Prinzipien der Gewinnmaximierung eine ökologisch bedeutende Rolle spielen, besonders also im Wirtschaftsrecht, das damit (auch) ökologisch relevant wird. Eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ des Rechts gibt es außerhalb der Rechtsökologie schon seit langer Zeit. Diese Perspektive ist Bestandteil der Methodenlehre und dient insbesondere der Untersuchung der funktionellen Seite der Rechtsinstitute (z. B. Karl Renner). Man ist bemüht, die wirtschaftlichen Zwecke bei Rechtsfiguren und die wirtschaftlichen Folgen von Rechtsentscheidungen zu erkennen und – wenn auch zögernd – im Wege der Auslegung und Fortschreibung des Rechts zu berücksichtigen. Die ökonomische Analyse des Rechts in den USA fordert die Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange in Gesetzgebung und Rechtsprechung. Dabei sollen die Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Allokation produktiver Ressourcen, nicht nur ein Gesichtspunkt neben anderen, sondern grundsätzlich alleiniger Maßstab für rechtliche Entscheidungen sein. Den eigentlichen Sinn der Übertragung des ökonomischen Instrumentariums auf das Rechtsdenken sehen die Vertreter der Rechtsökonomie in der Steigerung der ökonomischen Effizienz von Rechtsregeln. Mit dieser Wohlfahrtsmaximierung erhält das Recht eine ökonomische Funktion. Die rechtsökonomische Betrachtung hat jedoch die ökologischen Restriktionen, die die heutige „ökologische Marktwirtschaft“ kennzeichnen, bislang nur unzureichend berücksichtigt. Angemessen erscheint ein Ansatz, der ökonomische zusammen mit ökologischen Erwartungen berücksichtigt und zielgleich miteinander verbindet. Eine in diesem Sinne ökonomisch-ökologisch orientierte Rechtstheorie scheidet solche Aspekte aus, die sowohl außerrechtlich als auch außerökonomisch und außerökologisch sind. Auf diese Weise erhält man eine Grundlage, auf der die beteiligten Disziplinen ein und dasselbe Regelungsfeld im Sinne einer integrierten Ressourcenallokation untersuchen können. Die zunehmende Bedeutung der sozioökonomischen und der ökologischen Umwelt für die rechtliche Gestaltung wirtschaftlicher Zielerreichungsprozesse führt dazu, die in der herkömmlichen ökonomischen Analyse des Rechts verbreitete strikte Kategorisierung in ökonomische Tatbestände (die in dieser begrifflichen Verwendungsweise ökologische Aspekte nicht enthalten) und außerökonomische Faktoren und die mangelnde Berücksichtigung letzterer im Rahmen rechtlicher Entscheidungen (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung) aufzugeben.9

Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses

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V. Konsequenzen für die Wissenschaftspraxis: Schritte über Grenzen Die auf den gesellschafts- und insbesondere umweltpolitischen Wandlungstendenzen beruhende Erwartung, dass die zivilisatorische und technische Entwicklung und damit der gesamte Prozess der Vergesellschaftung von Natur sich nur legitimieren können, wenn sich diese Entwicklung an ökonomisch und ökologisch akzeptablen Kriterien – insbesondere an der Umwelt- und zugleich Wirtschaftsverträglichkeit (Allmählichkeitsprinzip!) – orientiert, stellt die Rechtswissenschaft vor die grundlegende Aufgabe, Voraussetzungen und Grundlagen des allgemeinen Wachstumsprozesses im rechtlichen Problemfeld Wirtschaft / Gesellschaft / Umwelt neu zu analysieren.10 Dabei bleibt freilich die Etablierung einer ökonomischökologisch orientierten Theorie des Rechts immer auch abhängig davon, was man überhaupt als Gegenstand und Programm von Rechtswissenschaft ansieht. Im direkten Zugang erweist sich diese Frage als kontrovers, denn die Rechtswissenschaft ist bis heute um ihren Gegenstand und ihr Programm in eigenartiger Weise verlegen. Daher scheint mir ein indirekter Zugang hier aussichtsreicher: Ich meine damit die Identifizierung des objektiven Bedarfs, auf den die Bildung eines wie immer verstandenen Gegenstands- und Programmbereichs der Rechtswissenschaft die adäquate Reaktion darstellt. Auch darin liegt aber nur eines der Konstitutionselemente der Gegenstandsbestimmung bzw. Programmgestaltung. Denn diese ist wie jene methodenabhängig. Allerdings verweist uns die Methodenabhängigkeit längst nicht mehr allein auf die überkommene rechtswissenschaftliche Methodologie, sie verweist auch auf die Notwendigkeit von Interdisziplinarität. Es ist also erforderlich, die Beziehungen aller oder doch der wesentlichen, an der nunmehr komplex gewordenen rechtswissenschaftlichen Forschung, insbesondere der Grundlagenforschung, beteiligten Disziplinen zueinander aufzuklären mit dem Ziel, Begriffe und Prinzipien zu gewinnen, die dieses Beziehungsnetz im Verhältnis zu dem gemeinsamen Gegenstand ausdrücken. Hierbei geht es um den Aufbau integraler Erkenntnisformen für herkömmlicher Weise als heterogen angesehene Gegenstandsbereiche – ein nicht eben einfaches Unterfangen. Dies ist letztlich nur über eine erhebliche Ausweitung der relevanten metatheoretischen Begriffe möglich, die als Projektionsbegriffe zur Objektebene fungieren. Wer nun entsprechend der skizzierten Perspektive davon ausgeht, dass sich die Rechtswissenschaft heute in einer „Sattelzeit“ befindet, kann die hier in Rede stehenden Wissensdefizite zunächst als Konsequenzen des gesamtgesellschaftlichen 9 Ausführlich zu dem hier zugrunde liegenden Prozess des Wertwandels K.-H. Hillmann, Umweltkrise und Wertwandel. Die Umwertung der Werte als Strategie des Überlebens, Frankfurt am Main – Bern 1981, S. 351 ff. 10 Vgl. dazu – aus ökonomischer Sicht – etwa H. Flassbeck / G. Maier-Rigaud, Umwelt und Wirtschaft, Tübingen 1982, insbes. S. 26 ff., die übrigens auch auf die unzutreffende Ansicht hinweisen, die glaubt, aus der betriebswirtschaftlichen Kostenbetrachtung ein gesamtwirtschaftliches Problem des Umweltschutzes „konstruieren“ zu können (S. 50).

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Wandlungs- und Umdeutungsprozesses ansehen. Die eher auf Bewahrung des Überkommenen abzielende, auf zupackende Wissensvermehrung nicht gerade erpichte Rechtswissenschaft sieht sich – wie mir scheint – in diesem Kontext vor die Aufgabe gestellt, das eigene Wert- und Normensystem kritisch und mit Blick auf notwendige Umdeutungen zu analysieren. Im Übrigen macht auch die Tatsache des übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Wertwandels die Umdeutung rechtswissenschaftlicher Handlungsnormen evident. Denn schließlich sind Subsysteme des gesellschaftlichen Wertsystems bei Veränderungen im übergeordneten System mit einbezogen; ein Wandel der Wissenschaftsorientierung wird regelmäßig von dort her initiiert. Das auf diese Weise entstehende Wissen kann, wenn es in den laufenden Umdeutungsprozess der Werte und Normen des Rechtswissenschaftssystems eingebracht wird, zur wertrationalen Fortentwicklung der Rechtswissenschaft beitragen, zu einer Entwicklung, deren paradigmatische Orientierung ich im Unterschied zur vorangegangenen „Sattelzeit“ wie folgt sehe: Wenn sich Rechtswissenschaft dadurch als Wissenschaft konstituierte, dass sie sich aus der „Verklammerung des Alltaglebens“ löste und von daher wissenschaftliche und lebensweltliche Zwecke fortan getrennt nebeneinander existierten, so scheint mir gegenwärtig die Aufgabe anzustehen, den außerwissenschaftlichen Zusammenhang wieder herzustellen, indem die Zwecke des wissenschaftlichen Handelns mit dem lebenswelt1ichen Handeln wieder in eine nähere Verbindung gebracht werden. Die den Zeitgeist und seine sozialethischen Wertungen angemessen, aber auch kritisch rezipierende ökonomisch-ökologische Orientierung im Rechtsdenken kann nach meiner Einschätzung zur Überwindung der gegenwärtigen Sattelzeit beitragen und in der Entwicklung der Rechtswissenschaft eine Epochenschwelle ermöglichen. Die dabei zu erwartenden Resistenzen des juristischen Zunftgeistes sind mir vertraut; ich bin jedoch zuversichtlich, dass sich diese Widerstände – der Not der Zeit gehorchend – letztendlich werden überwinden lassen.

Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt?* Eine sich ständig verstärkende Interdependenz von Wirtschaft und Umwelt beeinflusst auch die Entwicklung des vergleichsweise schwach dynamischen Rechtssystems (und umgekehrt). Demgemäß beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass auch eine gegenseitige Durchdringung von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften stattfindet1, und es ist bereits zweifelhaft geworden, ob sich von einem Selbstverständnis der beiden Disziplinen als je eigenständiger Wissenschaften heute noch reden lässt2. Die ökonomische Analyse des Rechts (Rechtsökonomie3) bietet einen möglichen Ansatzpunkt zur besseren rechtlichen Regelung von Konflikten mit Umweltbezug4. Dieser Denkansatz, welcher ein Modell bietet für menschliches Handeln in bestimmten Bereichen des sozialen Zusammenlebens5, trägt dazu bei, dass das Rechtssystem in seinen umweltrelevanten Teilen positiv beeinflusst wird.

* Erstveröffentlichung in: Rechtstheorie 15 (1984), S. 313 – 332. Berlin: Duncker & Humblot. 1 Vgl. P. Raisch / K. Schmidt, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, in: D. Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 151. 2 Vgl. ebd., S. 143. 3 Vgl. etwa M. Prisching, Ökonomische Rechtslehre?, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz (Hrsg.), Reform des Rechts, Festschrift zur 200-Jahr-Feier der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, Graz 1979, S. 1011 f.; P. Behrens, Aspekte einer ökonomischen Theorie des Rechts, in: Rechtstheorie 12 (1981), S. 472 ff. 4 Vgl. R. Voigt, Umweltschutz zwischen Politik, Ökonomie und Recht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 17 / 80, S. 17 ff.; R. Weimar, Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozeß, in: Stabilität im Wandel – Festschrift für Bruno Gleitze zum 75. Geburtstag, Berlin 1978, S. 511 f. 5 Hierbei wird auf die Situation des homo oeconomicus abgestellt; auf einen entscheidenden, wertenden und handelnden Menschen, welcher (unter dem Einfluss zahlreicher Faktoren: Zustand der Gesellschaft, engere Umwelt, eigene Erfahrung und Entwicklung usw.) aus der Menge von Handlungsalternativen bestimmte Aktivitäten nach bestimmten Maximen auswählt. Dabei werden in jeder Beschreibung die Einflüsse notwendigerweise vereinfacht, und man abstrahiert größtenteils von den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, sodass als Wahlmaxime für eine Entscheidung über die Durchführung einer Handlung das Rationalverhalten der Individuen steht (unter Optimierung der Nutzenfunktion). Vgl. dazu Prisching, S. 1011 f. und H. Leipold, Theorie der Property Rights: Forschungsziele und Anwendungsbereiche, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 1978, S. 518.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

I. Ziele der ökonomisch-ökologischen Rechtslehre 1. Der Austausch von Rechten

Wie ein Produzent das Recht hat, bei der Produktion in irgendeiner Weise auf die Umwelt einzuwirken und sie zu belasten (nicht notwendigerweise sie zu schädigen6), so besteht ein Recht des einzelnen Bürgers auf Schutz seines Lebensraumes vor schädlichen Einflüssen (nicht notwendigerweise ein Recht auf die Unversehrtheit der Umwelt). Diese Rechte7 lassen sich als Güteransprüche auffassen, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Wie Güter einem Tauschprozess unterliegen, können auch Rechte ausgetauscht werden, bis sie dort angelangt sind, wo sie zur wertvollsten Nutzung benötigt werden. Im Endzustand eines solchen Austauschprozesses liegt Pareto-Optimalität vor. In dieser Situation kann keine Person (Inhaber von Rechten) mehr besser gestellt werden, ohne dass gleichzeitig die Lage einer anderen verschlechtert wird. Dieses Konzept geht von einer gegebenen Verteilung der Güter aus, für die der jeweils beste Zustand hergestellt wird; darüber, ob eine gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtssteigerung durch eine andere, effizientere Nutzung der Rechte möglich ist, wird nichts ausgesagt8. Insofern scheint dieses Prinzip einer „effizienten“ Güter- bzw. Rechtsverteilung wenig zum angestrebten Wohlfahrtsoptimum9, wohl aber zum individuellen Nutzenmaximum beitragen zu können. Coase10 kommt zu dem Ergebnis, dass im Falle einer beliebigen gesetzlichen Zuteilung der Rechte die Beteiligten in einen Austauschprozess eintreten, welcher für beide Seiten Nutzen maximierend ist11. Wird an der Ressourcenallokation durch eine gesetzliche Zuteilung der Rechte etwas geändert, lässt sich sagen, dass sich die „Logik der Ökonomie“ hinter dem Rücken 6 Wo die Grenze zwischen Belastung und Schädigung zu ziehen ist, muss im Einzelfall entschieden werden. Eine dauernde Belastung kann dazu führen, dass die natürliche Reinigungs- und Absorptionskapazität eines Umweltmediums (Land, Wasser, Luft) überschritten wird (also Schäden entstehen) und dadurch die Reinigungskosten von diesem „Kipppunkt“ an überproportional ansteigen. Vgl. dazu Th. W. Wälde, Recht und Umweltschutz, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 99 (1974), S. 586 sowie B. Pfaffenbach, Theoretische Studien zur Umweltökonomik, Diss. Marburg 1974, S. 178. 7 Diese Rechte sind weniger als Eigentumsrechte, sondern eher als Handlungsrechte oder Verfügungsrechte anzusehen, welche den ökonomischen Handlungsspielraum bestimmen. Vgl. Leipold, S. 518. 8 Vgl. Prisching, S. 998 f. 9 Vgl. ebd., S. 999. 10 Vgl. R. H. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 1960, S. 1 ff.; deutsche Übersetzung (hier zitiert), Das Problem der sozialen Kosten, in: H.-D. Assmann / Chr. Kirchner / E. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, Kronberg / Ts. 1978, S. 146 ff. 11 Vgl. ebd., S. 154 ff. dies gilt jedoch nur dann, wenn die Markttransaktionskosten gleich null oder geringer sind als der Wert des Produktionszuwachses, der durch die Transaktion möglich geworden ist. Vgl. ebd., S. 164; ferner Prisching, S. 1000 und Leipold, S. 519.

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des Gesetzes durchsetzt, also eine Wert maximierende und effiziente Konfliktlösung zustande kommt12, soziale Belange allerdings außer Betracht bleiben13.

2. Das Problem der Transaktionskosten Diese Überlegungen gelten dann nicht, wenn man von der Annahme nicht vorhandener Transaktionskosten14 abgeht, diese vielmehr als gegeben voraussetzt und ziemlich hoch ansetzt. In diesem Fall werden Transaktionen – obwohl für beide Seiten vorteilhaft – nicht zustande kommen, da der gemeinsame Gewinn für beide Partner geringer wäre als die Kosten des Geschäftsabschlusses. Die Verteilung von Rechten15 (einschließlich Schadensersatz) hat dann allokative Effekte. In Fällen mit zu erwartenden hohen Transaktionskosten muss daher das Recht jener Seite zugesichert werden, für welche die Ausübung dieses Rechts größeren Nutzen erbringt. Auf diese Weise erfolgt eine Vorwegnahme von kostspieligen Markttransaktionen; es werden diejenigen Kosten gespart, welche ohne staatliches Eingreifen entstehen würden, um den Zustand zu erreichen, der sich nach den ökonomischen Zwängen in jedem Falle einstellen würde16. Auch in diesem Fall lässt sich einwenden, dass eine gesetzliche Zuteilung der Rechte soziale Belange noch nicht berücksichtigt. 3. Der Weg zum ökonomisch-ökologischen Wohlfahrtsoptimum

Dennoch bietet sich hier ein möglicher Ansatzpunkt, um ausgehend vom individuellen Nutzenmaximum zum „ökonomisch-ökologischen Wohlfahrtsoptimum“ zu gelangen. So kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidungen in umweltrelevanten Situationen Auswirkungen in der Zukunft haben, da sie in aller Regel menschliches Verhalten bei gefährlichen Handlungen bekräftigen oder begründen17. Ferner kann mit der Aggregation von „Einzelschritten“ im richterlichen Entscheidungsprozess eine qualitative Änderung bezüglich der rechtlichen Zurechnung von Handlungskonsequenzen erreicht werden. So können die Gerichte die Vgl. Prisching, S. 1000 m. w. N. So jedenfalls Ch. Kirchner im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Coase, S. 147; vgl. auch Prisching, S. 1003 und R. A. Posner, Economic Analysis of Law, 2. Aufl., Boston – Toronto 1977, deutsche Übersetzung (hier zitiert) der Kapitel 1 und 2, Recht und Ökonomie, eine Einführung, in: Assmann / Kirchner / Schanze, S. 100. 14 Kosten der Herstellung, Durchführung und Kontrolle der Vertragsbeziehungen. Vgl. Leipold, S. 518. 15 Vgl. ebd., S. 519. 16 Vgl. Prisching, S. 1000; R. A. Posner: „Das Recht sollte jener Partei zugeteilt werden, deren Verwendung die wertvollere ist – jener Partei, anders gesagt, für welche die Einstellung der Störung (des Partners) am teuersten wäre“ (zitiert nach Prisching, S. 1000). 17 Vgl. Posner, S. 106. 12 13

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Komplexität des Regelungsproblems (welches normalerweise erhebliche Informationsprobleme aufweist) in einem schrittweisen Verfahren durch Rückkoppelung der Auswirkungen, durch eine Mängelanalyse der bisherigen Anwendungen (anhand eines Soll / Ist-Vergleichs) und weiterführende Informationsaufnahme und -verarbeitung angemessen erfassen und berücksichtigen18. Auf diese Weise erfährt das Rechtssystem zwar keine unmittelbare Änderung, jedoch kann ihm in Gestalt der richterlichen Rechtsfortbildung, neben der Entwicklung der Gesetzgebung, ein bezüglich der Effizienz zumindest ebenbürtiges, wenn nicht überlegenes Mittel zur Regelung aktueller wie künftiger Konflikte an die Seite gestellt werden. Wird durch ein Urteil ein „Präzedenzfall“ entschieden, hat der Richter die möglichen Auswirkungen unterschiedlicher Entscheidungen auf das zukünftige Verhalten von Personen / Gruppen zu erwägen, deren Tätigkeiten zu ähnlich gelagerten Umweltbeeinträchtigungen führen können19. Dabei dürfte, was die Rückgängigmachung von Fehlern betrifft, dies anhand der Rechtsfortbildung leichter zu bewerkstelligen sein als über den Weg der Gesetzgebung und auch geringere Kosten verursachen20. Berücksichtigt man diese Aspekte, wird erkennbar, dass soziales Optimum (Wohlfahrtsoptimum) und individuelles (Nutzen-)Optimum zusammenfallen können21.

II. Zur Frage der ökonomisch-ökologischen Effizienz 1. Das Effizienzkriterium

Werden aufgrund eines Austauschprozesses Ressourcen bzw. Rechte dort verwendet, wo ihr Wert am höchsten ist, liegt eine effiziente Verwendung vor. Effizienz in diesem Sinne bedeutet, dass ökonomische Ressourcen dergestalt verwendet werden, dass der Wert (im Sinne menschlicher Bedürfnisbefriedigung, gemessen am aggregierten Willen von Verbrauchern, für Güter und Dienstleistungen zu zahlen) maximiert wird22. Die Zahlungsbereitschaft als Grundlage des Effizienzwertkonzepts ist von verschiedenen Faktoren abhängig, z. B. von Einkommen, Vermögen und dessen Verteilung. Da die Ökonomie die Frage nicht beantworten kann, ob eine gegebene Verteilung gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht ist, kann auch von ihr keine Antwort auf die Frage erwartet werden, ob eine effiziente Allokation der Ressourcen 18 Vgl. Wälde, S. 614 f., der in diesem Vorgehen speziell eine Möglichkeit zur Internalisierung externer Kosten sieht. Vgl. auch Coase, S. 169. 19 Vgl. Posner, S. 106. 20 So auch Wälde, S. 615. 21 Vgl. R. Weimar, Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem, in: G. Frohberg / O. Kimminich / R. Weimar (Hrsg.), Recht, Umwelt, Gesellschaft – Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag, Berlin 1979, S. 339. 22 Vgl. Posner, S. 99.

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gut oder gerecht oder in irgendeiner Richtung wünschenswert ist. Lediglich die Auswirkungen rechtlicher Regelungen auf Wert und Effizienz (im technischen Sinne) und auf die Einkommens- bzw. Vermögensverteilung können anhand dieses Konzeptes vorhergesagt werden; sozialer Wandel kann dadurch nicht eingeleitet werden23. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass ein auf freiwilliger Basis erfolgter Austausch von Ressourcen bzw. Rechten die Effizienz erhöht24. Offen bleibt allerdings, ob und inwiefern ein unfreiwilliger Austausch (also eine durch gesetzliche Zuteilung angeordnete Verteilung der Rechte) in diesem Sinne effizient ist bzw. die Effizienz erhöht: Die Folgen solcher Geschäfte können bezüglich ihrer Effizienz nicht hinreichend beurteilt werden, weil dazu ein interpersoneller Nutzenvergleich notwendig wäre25. Wohl kann versucht werden festzustellen, ob ein freiwilliger Austausch, wäre ein solcher möglich gewesen, durchgeführt worden wäre. Bei einem solchen Ansatz wird durch das Rechtssystem eine Aussage über eine Effizienzsteigerung bzw. -minderung erst getroffen, wenn ein Austausch bereits erzwungen wurde; es werden hier die wahrscheinlichen Bedingungen eines freiwilligen, marktvermittelten Geschäfts nachgebildet. So gesehen stellen erzwungene Tauschgeschäfte (im Vergleich zu freiwilligen, falls diese möglich sind) keinen sehr effizienten Mechanismus für eine Ressourcenallokation dar. Falls diese nicht möglich sind, bleibt nur die Wahl zwischen dem System rechtlich regulierter Transaktionen und dem noch weniger effizienten Verbot aller erzwungenen Tauschgeschäfte26. 2. Effizienz bei der Umweltproblematik?

Diese Überlegungen lassen sich auf die Umweltproblematik übertragen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass von der eher wirklichkeitsfremden27 Annahme, Schädiger und Geschädigte würden sich in einem freiwilligen Austauschprozess ihre Rechte abkaufen, abgegangen wird. Ausgangspunkt für weitere Überlegungen ist vielmehr die Tatsache, dass der Marktmechanismus versagen muss, wenn ein Gut so beschaffen ist, dass von seiner Nutzung bestimmte Personen nicht ausgeschlossen werden können28. Nicht nur diejenigen, die dafür bezahlen, komVgl. ebd., S. 99 f.; Coase, S. 194. Vgl. Posner, S. 100 und G. Calabresi, The Decision for Accidents, An Approach to Nonfault Allocation of Costs, in: Harvard Law Review 1965, S. 713 ff. Deutsche Übersetzung (hier zitiert, Die Entscheidung für oder gegen Unfälle, Ein Ansatz zur nichtverschuldensbezogenen Allokation von Kosten, in: Assmann / Kirchner / Schanze, S. 275 und kritisch Prisching, S. 1002 f. 25 Vgl. Pfaffenbach, S. 177 f. 26 Vgl. Posner, S. 100 f.; Prisching, S. 1001 und Coase, S. 169, 194. 27 Vgl. Prisching, S. 1002. 28 So genanntes Exklusionsprinzip. Vgl. ebd., S. 1001 und Leipold, S. 519. 23 24

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men in den Genuss des Gutes (hier: reine Umwelt), sondern alle Einwohner einer Region oder eines Landes. Wird die Umweltbelastung z. B. mit Hilfe entsprechender Filteranlagen der emittierenden Unternehmen herabgesetzt, kann niemand von der Nutzung der reinen Luft (Gewässer, Boden) ausgeschlossen werden29. Rechtsökonomisch gesehen gilt es, in Fällen dieser Art anhand von Haftungsregeln die Ergebnisse des Marktes vorwegzunehmen. Dazu wäre allerdings erforderlich, dass sämtliche relevanten Größen, z. B. Präferenzen der betroffenen Individuen, bekannt sind und in der Entscheidung berücksichtigt werden. Unter stringenter Anwendung der ökonomischen Methode auf die Umweltschutzproblematik gibt es verschiedene Möglichkeiten der Allokation von Ressourcen und Rechten. So kann das schädigende Unternehmen veranlasst werden, Filteranlagen zu installieren; die Betroffenen, z. B. benachbarte Hauseigentümer, können ihrerseits Filteranlagen erstellen oder aus der Gegend wegziehen; in jedem Fall entstehen den Betroffenen Kosten, wobei das emittierende Unternehmen eventuell zusätzlich mit den Kosten einer Produktionsdrosselung belastet ist30.

3. Die gesamtgesellschaftliche Effizienz

Haftungsregeln, welche soziale Belange und nicht nur individuelle Optima berücksichtigen, müssen sich am gesamtgesellschaftlichen Effizienzkriterium orientieren. Dabei tritt die Frage nach Verursachung oder Verschulden einer Umweltbelastung in den Hintergrund. Es geht eher darum, einen vertretbaren Grad der Umweltbelastung zu eruieren; einen Zustand, in dem der Nutzen aus einer Umweltbeeinträchtigung größer oder zumindest gleich groß ist wie die Kosten der Opfer. Nach Prisching31 ist dies eine sinnvolle Regel für einen Kompromiss zwischen den Interessen der Beteiligten, wobei jeweils auf den entsprechenden, dem Konfliktfall zugrunde liegenden sozialen Kontext abgestellt werden muss. Es wird nicht möglich sein, die Verschiedenheit der Subjekte, bei denen Nutzen und Kosten anfallen, für alle denkbaren Fälle vorherzusagen32. Ebenso zeigt sich, dass die Annahme, Schädiger und Geschädigte würden nach Feststellung der Präferenzen der Betroffenen, des Schadensgrades usw. als gleichberechtigte Verhandlungspartner zusammenkommen, um über ihre Rechte zu verhandeln, als „realitätsferne Hypostasierung einer generellen Vertragsfreiheit“ erscheint, die „in dieser Form – unab29 Angesichts der Unteilbarkeit des Gutes Umwelt kann nicht jeder Betroffene „seinen“ Anteil an Umweltschutzmaßnahmen kaufen, „und angesichts der Unbestimmbarkeit des Kreises der Betroffenen und der Notwendigkeit eines Konsenses sind hypothetische Vertragsverhandlungen zu erträglichen Kosten ohnehin eine Illusion“, Prisching, S. 1001; vgl. auch Wälde, S. 605 f. 30 Vgl. Calabresi, S. 275 f. und Prisching, S. 1002. 31 Vgl. Prisching, S. 1002. 32 Vgl. ebd. und auch Calabresi, S. 277.

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hängig von ihrer gesellschaftlichen Ausgestaltung –“33 zumindest für den Umweltbereich aufgegeben werden muss. Unter ökonomisch-ökologisch effizienten Rechtsregeln sind daher solche Vorschriften zu verstehen, die unter Berücksichtigung sowohl ökonomischer als auch ökologischer Aspekte einen Wert maximierenden Ressourceneinsatz herbeiführen sollen. Es geht hierbei um ein Abwägen zwischen ökonomischer Notwendigkeit und ökologischer Zumutbarkeit, um eine umweltorientierte Angemessenheit, Gerechtigkeit34 oder Vernünftigkeit des Handeln; um eine Beachtung der ökologischen Restriktionen35, damit als Folge einer Kosten-Nutzen-Abwägung ein gesamtgesellschaftlich wertmaximaler Ressourceneinsatz36 erreicht wird.

III. Ökonomie und Ökologie – Widerspruch? 1. Zur Legitimation von Beeinträchtigungen

Die Forderung nach wirtschaftlichem Wachstum und ökologischer Rücksichtnahme beeinflusst nahezu jeden industriell hoch entwickelten Produktionszweig37. Diese Ziele sind einzeln leichter zu erreichen als in ihrer Kombination; jedes der beiden Ziele kann insofern als erschwerende Bedingung, als Restriktion38, zur Erreichung des anderen angesehen werden. Unter den gegebenen Voraussetzungen (Rohstoffverknappung, nicht mehr reparable Umweltschäden39 ist es erforderlich, durch eine optimale Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen40 eine Schwächung des Wirtschaftspotentials zugunsten des Umweltschutzes so gering wie noch vertretbar zu halten41. Anders ausgedrückt kann auch gefragt werden, um wie viel vom notwendigen Umweltschutzziel abgegangen werden kann, um das gegebene Wirtschaftspotential bzw. -wachstum nach Möglichkeit nicht zu gefährden (und Prisching, S. 1002. Vgl. Posner, S. 109. 35 Vgl. Weimar, Eigentum, S. 340 FN 130 m. w. N. 36 Hier wäre auch an die Einführung einer Pigou’schen Steuer zu denken: Diese produktions- bzw. schadensabhängige Steuer veranlasst schädigende Unternehmen zur Drosselung der Produktion; sie produzieren dann im sozialen (statt wie vorher im individuellen) Optimum, wodurch (nachdem die eingesetzten Produktionsfaktoren entsprechend umgelenkt sind) der Gewinn des schädigenden Unternehmens sinkt, der Gewinn der geschädigten Unternehmen aber um so mehr steigt und der Gesamtgewinn insgesamt maximiert wird. Vgl. Weimar, S. 339 f. FN 130. 37 Vgl. z. B. Wälde, S. 602 sowie Weimar, S. 312 m. w. N. 38 Vgl. dazu Weimar, S. 326. 39 Vgl. dazu weiterführend z. B. H. Siebert, Das produzierte Chaos, Stuttgart usw. 1973. 40 Dazu zählen neben den Rohstoffen die natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden, Luft und Ruhe. Vgl. Wälde, S. 585. Das ehemals freie oder öffentliche Gut „Umwelt“ ist mittlerweile ein knappes Gut geworden. Vgl. Weimar, S. 317. 41 Ähnlich Wälde, S. 602. 33 34

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umgekehrt). In beiden Fällen würde eine ökonomisch-ökologisch effiziente Ressourcenaufteilung bzw. -ausnutzung erreicht. Es geht hier vorrangig um die Einsicht der politischen Entscheidungsträger, dass der Zusammenhang zwischen den an sich konträren Zielen der Umwelt- und der Wirtschaftspolitik nicht unbedingt zu einer Antinomie führen muss, dass vielmehr eine nachhaltige Restitution menschenwürdiger Umweltbedingungen auch in gefährdeten Ballungsgebieten und verschmutzten Umweltbereichen möglich erscheint42, ohne wirtschaftliches Wachstum übermäßig zu schwächen. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob es grundsätzlich möglich ist, den angemessenen oder vernünftigen Grad einer Umweltbelastung losgelöst vom sozialen Hintergrund und von ökonomischen sowie ökologischen Daten zu bestimmen. Offensichtlich ist, dass unter dem Blickwinkel einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt, welche durch eine größtmögliche Gütersteigerung erreicht werden soll, heute eine bezüglich der Verteilung der Lasten nicht unbedingt zufrieden stellende Lösung angestrebt wird. Ökonomisch-ökologisch effiziente Rechtsregeln haben zu berücksichtigen, dass durch eine gesetzliche Zuteilung von Rechten nicht einfach Nutzen und Kosten der Beteiligten gegeneinander aufgewogen werden können. Es handelt sich vielmehr darum, Vorstellungen auch über soziale Gerechtigkeit in den rechtsökonomischen Kalkül einzubeziehen; das bedeutet, dass auch eine gewisse Einbuße an ökonomischer Effizienz Ziel führend sein kann. Unter diesem Aspekt zeigt sich, dass nicht einfach der gesamte Nettovorteil der aggregierten Individuen aufgerechnet werden kann, sondern komplexere Formen der Bemessung herangezogen werden müssen43.

2. Die Datensammlung

In diesem Sinne erfordern ökonomisch-ökologisch effiziente Rechtsregeln eine Situationsanalyse der zugrunde liegenden ökonomisch-ökologischen Daten. In erster Linie ist dabei an die Erfassung einer bereits bestehenden Umweltbelastung und deren zu erwartende Folgen zu denken. Dabei ist auch festzustellen, ob und inwieweit die betreffende Umwelt grundsätzlich noch belastbar ist. So wäre es nicht sinnvoll, Umweltschutzauflagen zu erteilen, wenn die natürliche Absorptionskapazität von Umweltmedien nicht bis zu einem gewissen Grade ausgenutzt würde. Wo allerdings diese Kapazitätsgrenze bereits erreicht ist, müssen Umwelt schützende Maßnahmen ergriffen werden44. Vgl. Weimar, S. 317. Vgl. Prisching, S. 1003; Leipold, S. 524. 44 Vgl. Wälde, S. 592 f.; Pfaffenbach, S. 178. Auf besondere Probleme, wie etwa zu erwartende neue Technologien mit ihren ökologischen Auswirkungen und Veränderungen der Umweltstruktur (z. B. Änderungen des Grundwasserniveaus, längerfristig mögliche Klimaänderungen und andere, schlecht vorhersehbare externe Faktoren), sei hier nur hingewiesen. 42 43

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Unter diesen Aspekten ist vor einer Entscheidung eine umfassende Informationsaufnahme und -verarbeitung erforderlich. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass administrative Regelungen einen gewissen Grad an Konsistenz und Schematisierung bei der Behandlung derartiger Entscheidungen erfordern; es können daher nicht für jeden Betroffenen Sonderregeln eingeführt, kontrolliert und bei technologischen und ökologischen Veränderungen jeweils modifiziert werden45. Im Einzelrechtsverhältnis „Schädiger – Geschädigter“ kann nicht immer davon ausgegangen werden, dass der Schadensverursacher oder -urheber seine Tätigkeit zu unterlassen hat; es kann mitunter angezeigt sein, Beeinträchtigungen hinzunehmen, nämlich dann, wenn der Schaden aus einer Beeinträchtigung geringer ist als der Nutzen, den der Schädiger erlangt46. Denn auch der Eingreifende, der Schädiger, kann einen Schaden erleiden, wenn er nicht eingreifen darf47. Insofern fällt es nicht leicht, eine verbindliche Grenze zwischen ökonomischökologisch effizienter und nicht effizienter Umweltbelastung zu ziehen; hier ist auf den jeweiligen Einzelfall in seinem ökologischen und ökonomischen (sowohl einzel- als auch gesamtwirtschaftlichen) Umfeld abzustellen.

3. Umweltplanung durch staatliche Aktivitäten

Eine wirksame Steuerung der Umweltbelastung wäre durch eine stärkere Integration des Umweltschutzes in die Raumordnung erreichbar. Durch Maßnahmen der Raumplanung würden dann Entscheidungen getroffen, die erhebliche Bedeutung für die Festlegung möglicher Wirkungsbereiche von Umweltbelastungen haben. Dieser Ansatz ermöglicht einerseits eine optimale räumliche Zuordnung Umwelt belastender Aktivitäten, andererseits auch eine Regelung der Aktivitäten durch geeignete Instrumente bei gegebener räumlicher Verteilung. So lassen sich zwei Kategorien regionaler Umweltstrukturmaßnahmen bilden: Strukturorientierte Umweltsteuerung, welche bei einer gegebenen Emissionslage durch eine optimale räumliche Verteilung die sozialen Schadenseffekte mindert48, und als zweite Kategorie eine niveauorientierte Umweltsteuerung, die bei gegebenen Standorten eine Regelung des Emissionsverhaltens vorsieht49. Die jeweils erforderlichen Maßnahmebündel wären zu einem effizienten Einsatz. zu koordinieren50. Vgl. Wälde, S. 592 ff. Vgl. dazu auch Coase, S. 169 ff., 177 ff., 188. 47 Vgl. H. G. Monissen, Haftungsregeln und Allokation, in: Jahrbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 27 (1976), S. 393; Weimar, S. 339. 48 Durch Maßnahmen der öffentlichen Hand, z. B. Infrastrukturmaßnahmen. 49 Durch ordnungs- oder finanzpolitische Maßnahmen. 50 Vgl. P. Stamer, Niveau- und strukturorientierte Umweltpolitik, Göttingen 1976, S. 100 f. Zum Ganzen weiterführend ebd., S. 98 – 114. 45 46

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Einen im ökonomisch-ökologischen Sinne effizienteren Ansatz bieten die Möglichkeiten der Steuerung sektoraler Umweltbelastungen. Hier wird primär auf strukturpolitische Maßnahmen abgestellt. Der Forderung nach ökonomisch-ökologisch effizienten Rechtsregeln entspricht hier „die Aufgabe, produktionsbedingte Emissionen in den Griff zu bekommen, . . . eine Verbindung zwischen Produktionsstrukturen und Emissionsstrukturen herauszustellen und die umweltrelevanten Sektoren herauszufinden, die das strategische Ziel einer Umweltpolitik sind“51. Für eine sektorale Umweltpolitik sind daher einerseits Maßnahmen zu fordern, die bei einer gegebenen Produktionstechnik eine Verbesserung der Emissionsstruktur durch Strukturverschiebung in der Gütererstellung erreichen (strukturorientierte sektorale Umweltsteuerung), zum anderen kann bei einer gegebenen Gütererstellung auf eine Regulierung der Emissionen in quantitativer und qualitativer Hinsicht abgezielt werden (niveauorientierte sektorale Umweltsteuerung)52. Das Problem der gleichzeitigen Erhaltung des Wirtschaftspotentials und einer reinen Umwelt führt daher letztlich wieder zu der Frage, um wie viel von einem der beiden Ziele bzw. von beiden Zielen abgegangen werden muss, um dennoch ein gesamtgesellschaftliches Optimum in ökonomischer und ökologischer Hinsicht zu erreichen. IV. Möglichkeiten der Rechtsprechung 1. Fragen der Beweislast

De lege lata kann nicht unabhängig von Verursachung und Verschulden danach gefragt werden, ob das Recht auf Unterlassung und / oder Schadensersatz oder das Recht auf Beeinträchtigung durch Umwelteingriffe das wertvollere ist53. Mag dieses Prinzip mit seinem monokausalen Hintergrund zwar grundsätzlich Gültigkeit besitzen, für Entscheidungen mit Umweltbezug müsste es revidiert werden, denn Umweltbeeinträchtigungen beruhen nicht auf einer monokausalen Ursachenkette, sondern sind auf die Aggregation von Faktoren innerhalb einer Kausalstruktur zurückzuführen54. Insofern ist eine Abkehr vom Kausalitätsdenken und eine Hinwendung zu eher stochastischen und anderen Wahrscheinlichkeitsmodellen oder Strukturmodellen mit Wahrscheinlichkeitsaussagen gerade bei umweltrelevanten Entscheidungen angebracht55. Diese Perspektive bezieht sich nicht auf die Möglichkeit der statistischen Erfassung der Häufigkeiten von Umweltbelastungen56, Ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 117; weiterführend ebd., S. 114 – 125. 53 Vg. Weimar, S. 339. 54 So Wälde, S. 618 f. 55 Vgl. Wälde, S. 600, 619, insbes. FN 117 m. w. N. 56 Im Gegensatz zum Unfall, dessen Häufigkeit des Auftretens statistisch ermittelt werden kann, dessen Eintreten im Einzelfall jedoch nicht vorhergesagt werden kann, sind Schadstoff51 52

Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt?

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sondern auf die Zurechnung bestimmter einzelner Aktivitäten zu einem Gesamtergebnis, also zu einer aktuellen oder zukünftigen Umweltbelastung57. Damit wird erkennbar, dass eine „Umkehr der Beweislast“ zu einem Ansatzpunkt für eine umfassende Generalprävention werden könnte. Danach hätten bei privaten Störungsabwehrklagen58 die Emittenten darzulegen, dass ihre Umweltbeeinträchtigungen nicht oder nur zu einem schadlosen Teil zur Gesamtbelastung beitragen. Zudem müsste nachgewiesen werden, dass Emissionen nicht durch andere, geringer schädigende Produktionsanlagen oder Herstellungsverfahren mit vertretbarem Aufwand zu verringern sind59.

2. Die „billigsten Kostenvermeider“

Der Ansatz einer verschuldenslosen Emittentenhaftung mit dem Ziel einer – im Sinne Calabresis – „perfekten Generalprävention“60 beinhaltet die Annahme, dass die Emittenten diejenigen sind, welche am ehesten Kosten vermeiden können („billigste Kostenvermeider“)61, d. h., dass sie mit geringeren Mitteln als irgend jemand sonst Umweltschäden und deren rechtliche und soziale Abwicklung verhindern können. Obwohl diese Annahme insbesondere in Verschmutzungsfällen plausibel erscheint, lässt sich ihre generelle Tauglichkeit in Frage stellen. Denn dieser Ansatz klammert beispielsweise die Möglichkeit aus, dass in bestimmten Situationen auch die von der Emission betroffenen Nachbarn die billigsten Kostenverrneider sein können, wenn sie aus einem überwiegend industriell genutzten Gebiet wegziehen62. So stellt sich die Frage, ob eine Haftungszuweisung nicht auf einem eher individualisierten Ansatz beruhen sollte bzw. ob es nicht zutrifft, dass in Fällen fortdauernder Emissionen (anders als bei Unfällen) nicht nur kategoriale Entscheidungen zu einer Generalprävention geeignet sind. Da Emissionsfälle sowohl zurückliegende als auch in der Regel zukünftige Schäden umfassen, kann emissionen dauernd oder wiederkehrend. Vgl. F. I. Michelman, Pollution as a Tort, A NonAccidental Perspective on Calabresi’s Costs, in: Yale Law Journal 1970 / 71, S. 647 ff. Deutsche Übersetzung (hier zitiert): Umweltverschmutzung als unerlaubte Handlung, Eine nichtzufällige Betrachtung von Calabresis „Unfallkosten“, in: Assmann / Kirchner / Schanze, S. 309. 57 Vgl. Wälde, S. 618 f. 58 Dazu näher Michelman, S. 309. 59 Diese Überlegungen gehen auf verschiedene US-amerikanische Gerichtsentscheidungen zurück, nach denen eine Umkehr der Beweislast dann angebracht sei, wenn Umweltschutzvereine sich ohne Profitinteresse für die Erhaltung der Umwelt einsetzen. Diese Begründung erscheint jedoch mehr als zweifelhaft. Vgl. dazu Wälde, S. 619 m. w. N. 60 Vgl. Calabresi, S. 286 ff. 61 Vgl. Michelman, S. 299 f., 310. Hierbei liegt die Kostenkategorisierung von G. Calabresi zugrunde (primäre, sekundäre, tertiäre Kosten, deren Summe zu optimieren ist). Vgl. G. Calabresi, The Cost of Accidents – A Legal and Economic Analysis, New Haven – London 1970, zitiert nach Prisching, S. 1010; Assmann im Vorwort zu Michelman, S. 291. 62 Vgl. Calabresi, S. 275 f.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

auch durch eine kasuistische Haftungszuweisung – wie Wälde meint – eine brauchbare Internalisierung63 der Kosten erreicht werden. Aus dieser Sicht gewinnt die auf den Einzelfall abzielende Haftungszuweisung in gewisser Weise auch Bedeutung für präventive Zwecke. Geht man davon aus, stellt sich die Frage, ob das Ziel der Internalisierung eine allgemeine verschuldenslose Emittentenhaftung erfordert. Für eine solche Haftung bieten sich zwei Versionen an: Zum einen wäre an eine Spezialprävention zu denken, nach der das Gericht je nach Lage des Einzelfalles64 eine Haftung anweist oder ausscheidet, zum anderen an eine Zuweisung der Haftung ohne Rücksicht darauf, ob es tatsächlich eine wirtschaftlich sinnvolle Möglichkeit zur Kostenverhinderung gibt. Der Unterschied zur verschuldensunabhängigen pauschalen Haftung liegt darin, dass eine Verlagerung der Haftung nur dann erfolgt, wenn das Gericht in einem gegebenen Fall feststellt, dass der Emittent eher als irgend jemand sonst billigster Kostenminimierer sei bzw. diese Haftungszuweisung am ehesten dazu führt, dass der billigste Kostenminimierer gefunden wird. Auf diese Weise kann ein Transaktionsprozess in Gang gesetzt werden, an dessen Ende ein hinsichtlich der Kostenvermeidung marktgerechtes Ergebnis steht65. Führt man diesen Gedanken weiter, so hat die rechtliche Entscheidung durch eine entsprechende Haftungszuweisung zu bewirken, dass (da der billigste Kostenvermeider ja gefunden wird) die Markttransaktionskosten minimiert werden. Grundsätzlich kann bezweifelt werden, dass die beiden möglichen Kostenvermeidungsmethoden relativ kosteneffizient sind. Daher ist die Haftung derjenigen Seite aufzubürden, welche am billigsten freiwillige Transaktionen organisieren kann und die anfängliche Haftungsverteilung verschiebt, falls sie sich als falsch herausstellt66. 3. Der Ansatz von Calabresi / Michelman

Gerichte entscheiden nicht nur die Frage, ob der Klage eines Betroffenen stattzugeben ist oder nicht, sondern programmieren auch die sozialen Folgen ihrer Entscheidung. So kann durch gerichtliche Verbotsverfügungen auf die Gründung eines Marktes für Verschmutzungskosten abgezielt werden, nämlich dann, wenn die Parteien eine Vereinbarung über die Aufhebung der Verbotsverfügung treffen können bzw. ihnen dieses Recht zugestanden wird oder der Verzicht auf das Recht, die Aufhebung zu beantragen, in Betracht kommt67. 63 Vgl. dazu weiterführend Wälde, S. 598 ff. Wälde stellt deutlich die Notwendigkeit einer Abkehr vom Verursacherprinzip und der Hinwendung zum Kostenminimiererprinzip heraus. 64 Nach der Abwägung zwischen den sozialen Kosten der Verschmutzung und den Kosten der Verhinderung der Verschmutzung bzw. einer Betriebseinstellung. 65 Vgl. Calabresi, S. 275. 66 Hierbei ist die Problematik der „Trittbrettfahrer“ zu beachten; vgl. ebd., S. 276 und Leipold, S. 520. Die obigen Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Michelman, S. 308 ff., der Calabresis Ansatz bezüglich der Emittentenhaftung kritisch weiterführt. 67 Vgl. Michelman, S. 311 f.

Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt?

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Auf diese Weise könnten die Emittenten veranlasst werden, mit den Betroffenen über einen Verzicht auf ihre Anspruche zu verhandeln und so durch einen Marktvergleich zwischen den Kosten der Verschmutzungsvermeidung bei der Produktion und den Kosten der Verschmutzung bzw. deren Beseitigung bei den Betroffenen eine Optimierung herbeizuführen. Allerdings beinhaltet dieser Ansatz als möglichen Schwachpunkt das Problem eventuell prohibitiv wirkender hoher tertiärer Kosten68, ein Umstand, der bei Beschränkung des Rechtsschutzes des Klägers auf Schadensersatzansprüche umgangen wird. So stellt Calabresi69 fest, dass es für den Emittenten billiger ist, die betroffenen Nachbarn zu bestechen, als für die Hauseigentümer, sich zu organisieren und das emittierende Unternehmen zu bestechen. Denn nur unter der Prämisse, dass eine gerichtliche Verbotsverfügung nicht ergeht und die Haftung auf Schadensersatz beschränkt ist, ist es möglich, dass die Emittenten billiger bestechen können als die Hauseigentümer70. Die möglichen Haftungsentscheidungen bei Umweltkonflikten sind bezüglich der tertiären Kosten näher zu untersuchen. Haften die Hauseigentümer (Opfer der Verschmutzung), gibt es keine prohibitiv wirkenden Prozesskosten, welche den anschwellenden Kostendruck auf die Eigentümer verhindern können. Nur dann kann ein solcher Druck zum Auffinden des billigsten Kostenvermeiders führen, wenn die Eigentümer, in Gruppen organisiert, mit den Emittenten über eventuell einzurichtende Schutzanlagen verhandeln können. Die Organisation dieser Gruppen kann mit prohibitiven Verhandlungskosten verbunden sein, denn die Betroffenen sind zu identifizieren, ihre Vorstellungen über die Höhe der Angebote an den Emittenten und, die Art der Kostenverteilung zu koordinieren, und es muss mit „Trittbrettfahrern“ verhandelt werden71. Sind diese Kosten, gemessen an der Einsparung primärer Verschmutzungskosten72, die durch Verhandlungen zwischen Emittent und Eigentümern möglich wäre, zu hoch, so wird keine Einigung zustande kommen73. Als weiterer Fall ist die Situation zu betrachten, in der der Emittent Adressat einer gerichtlichen Verbotsverfügung ist. Die entstehenden Prozesskosten sind niedrig, wenn es nur um die Klage eines einzelnen Betroffenen geht. Dies kann für den Emittenten Anlass sein, mit den Betroffenen zu verhandeln, bevor diese klagen. Es können nun hohe Transaktionskosten entstehen, da ein Gesamtabkommen 68 Verwaltungskosten des Haftungssystem bzw. Kosten der Abwicklung der Verhandlungen. Vgl. G. Calabresi, The Cost fo Accidents, zitiert nach Prisching, S. 1010 und Assmann im Vorwort zu Michelman, S. 291. 69 Vgl. Calabresi, S. 275 f. 70 So Michelman, S. 312. 71 Vgl. Prisching, S. 100 f.; Leipold, S. 520 f. 72 Primäre Kosten betreffen den eigentlichen, unmittelbaren Schaden. Vgl. Assmann im Vorwort zu Michelman, S. 291. 73 So Michelman, S. 312 f.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

zu treffen ist, das den Verzicht aller möglichen Kläger einschließt, die dieses Abkommen einzeln hätten verhindern können. Auch in diesem Fall gilt es, alle betroffenen Personen zu identifizieren und sie zur Zustimmung zu dem Abkommen zu bewegen. Die Kosten können dann hoch werden bzw. eine Übereinkunft gar nicht erst zustande kommen lassen, wenn eine Einigung mit Einzelpersonen nicht erreicht werden kann. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der billigste Kostenvermeider nicht bestimmt werden kann74. Schließlich sind die tertiären Kosten bei Schadensersatzforderungen zu untersuchen. Hierbei hätte der Emittent Schadensersatzleistungen in regelmäßigen Abständen an die Kläger zu erbringen. Der Emittent wird daher prüfen, ob die Summe der Kosten, die (a) für den Kläger entstehen, wenn er eine private Filter- oder Schutzanlage installieren lässt und (b) entweder dem Kläger die ihm entstehenden Schäden ersetzt oder sich dafür einen Haftungsverzicht verschafft, höher oder niedriger sind als der Restbetrag derjenigen Schäden, welche der Kläger ohne eine private Filter- oder Schutzanlage erleiden würde. Die zu einem möglichen Ausgleich notwendigen Verhandlungskosten sind in diesem Fall deutlich geringer als in den beiden vorgenannten Fällen, da keine kostspieligen Gruppenübereinkünfte notwendig sind. So kann ein Emittent optimierend handeln, wenn mit denjenigen potentiellen Klägern ein Abkommen geschlossen wird, bei denen die Installation einer Filteranlage die Kosten für eine Beseitigung der Verschmutzung wert ist, während die weniger betroffenen Opfer ihre Schadensersatzansprüche geltend machen können75. Dennoch können die Prozesskosten in diesem letzten Fall erheblich sein und deshalb eventuell prohibitiv wirken; denn der Kläger hat zu beweisen, dass eine Fabrik Schadstoffe emittiert, und außerdem, dass er dadurch einen Schaden in Höhe eines bestimmten Geldbetrages erleidet. Diese Kosten werden zumindest für einige weniger betroffene Opfer prohibitiv bezüglich der Schadensersatzforderungen wirken; ihre Schäden werden externalisiert76. Weiterhin kann es dadurch, dass die Frage nach den Kosten kollektiv entschieden wird und diese je nach Betrachter als real oder überzogen bezeichnet werden können, zur Kostenexternalisierung kommen; es kann sich die Zahl der weniger betroffenen Opfer und die Summe ihrer externalisierten Kosten erhöhen, weil diese nun eine Klage wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll finden77.

74 75 76 77

Siehe dazu ebd., S. 313. Vgl. ebd. Zu den externen Kosten vgl. Wälde, S. 599 ff. So Michelman, S. 314.

Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt?

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4. Folgen für die Rechtslehre

Dieser von Calabresi entwickelte und von Michelman78 konsequente zu Ende geführte Ansatz, der vor allem de lege ferenda seine Bedeutung hat, impliziert folgende Forderungen: Um Transaktionen herbeizuführen, sollte das Gericht dem Emittenten die Haftung zuweisen, wenn dieser für den billigsten Kostenvermeider oder den besten Bestecher gehalten wird. Bei letzterem werden Verbotsverfügungen wegen der hohen anschließenden Verhandlungskosten für Transaktionen hinderlich sein; deshalb sollten sie gegenüber den gerichtlichen Schadensersatzzuweisungen seltener angeordnet werden, und zwar trotz der bei letzteren höheren Prozesskosten und größeren Bemessungsschwierigkeiten. Geht das Gericht allerdings davon aus, dass der Emittent der billigste Kostenvermeider ist, könnte eine Verbotsverfügung vorgezogen werden. So können zum einen die höheren Prozesskosten bei Schadensersatzentscheidungen vermieden werden, zum anderen wäre dies eine effiziente Form der Spezialprävention. Verbotsverfügungen können dem Einzelfall so angepasst werden, dass sie zu ihren voraussichtlich billigsten Vermeidungskosten internalisiert werden können. Da das Gericht in diesem Fall auf die Verschmutzung bzw. auf die Kosten der Vermeidung abstellt, lässt sich eine Verbotsverfügung nach Michelman als „Ersatz einer Marktentscheidung“ über die Frage auffassen, ob diese Kosten es wert sind, um einer damit in Zusammenhang stehenden Umwelt belastenden Produktion willen getragen zu werden79. Diese Überlegungen müssen modifiziert werden, wenn es sich – wie wohl in den meisten Fällen – nicht nur um einen einzigen Emittenten mit exakt zu bestimmendem Verschmutzungsverhalten handelt, sondern Emissionen aus zahlreichen Quellen stammen, die sich gegenseitig beeinflussen80 und erst dann eine rechtlich relevante Beeinträchtigung darstellen81. Es ist kaum denkbar, dass einer der Emittenten nun als der billigste Kostenvermeider bestimmt werden kann; wohl kann einer von ihnen die Quelle einer katalytischen Emission bzw. synergistischer Effekte sein, deren Ausschaltung oder Beseitigung das anstehende Verschmutzungsproblem gänzlich verschwinden ließe. Ebenso ist es möglich, dass einer der Emittenten als bester Bestecher identifiziert werden kann, z. B. wegen der Größe des Unternehmens oder der Zahl der Emissionsquellen. In solchen Fällen könnte das Gericht eine Verbotsverfügung erlassen oder Schadensersatzklagen stattgeben. Es wäre eine ziemlich pauschale Regelung, wenn man bei Fällen mit mehreren Verursachern der Gruppe der Emittenten deswegen die Haftung zuweisen würde, weil Vgl. zum Ganzen ebd., S. 3133 ff. Vgl. ebd., S. 314. 80 Vgl. P. Stamer, Orientierungslinien der Umweltpolitik, Göttingen 1977, S. 112. „Insofern kommt es nicht allein auf die Niveaus von Einzelkomponenten an, sondern es gewinnen gleichfalls Belastungsstrukturen an Bedeutung.“ Ebd., S. 17. 81 Vgl. Michelman, S. 315. 78 79

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

sie als Gruppe bessere Kostenvermeider oder Bestecher wären als die Gruppe der Opfer. Angebracht wäre eine solche Haftungszuweisung dann, wenn man es den Emittenten überließe, sich zu organisieren und mit den Opfern über Verzichtserklärungen zu verhandeln, oder es könnte eine Verbotsverfügung erlassen werden, die dann aufzuheben ist, wenn eine gerichtlicherseits festgesetzte Gesamtentschädigungssumme an die Opfer gezahlt worden ist. Die interne Aufteilung der Lasten bliebe hierbei der Gruppe der Emittenten überlassen82. Nach Michelman83 würde eine Kombination einer dieser genannten Abhilfen mit einer massiven, Gebiets umfassenden, Kosten internalisierenden und Transaktion stimulierenden Gruppenklage84 zur Störungsabwehr geeignet sein; dieser Ansatz beinhaltet jedoch auch die Möglichkeit anfallender prohibitiver tertiärer Kosten. Ob ein solcher Ansatz der reinen Generalprävention ein erstrebenswertes Ziel ist, muss daher vorläufig offen bleiben.

V. Zur Erforschung der ökonomisch-ökologischen Rechtstatsachen 1. Zum Verhältnis „Recht – Wirtschaft – Umwelt“

Das Problemdreieck „Recht, Wirtschaft und Umwelt“ ist bis heute nicht im gewünschten Ausmaß erfasst. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass die Transformation ökonomischer Denkmuster und Prinzipien in juristische Entscheidungen mit Umweltbezug noch nicht vollzogen ist. So gilt es beispielsweise, Präferenzen der Beteiligten (Schädiger und Geschädigte) zu erforschen und zu erfassen, um sie, eventuell kategorisiert, in die Entscheidungen einfließen zu lassen85. Nach Coase86 wäre es wünschenswert, dass die Gerichte die ökonomischen Konsequenzen der Entscheidungen entsprechend berücksichtigen würden, ohne dabei Ungewissheit über die rechtliche Position selbst zu erzeugen. Auch wenn es möglich ist, durch Markttransaktionen die Festlegung von Rechtspositionen abzuändern, so zeigt sich, dass es sicherlich wünschenswert ist, die Notwendigkeit solcher Markttransaktionen zu verringern, um so den Ressourceneinsatz für die Durchführung solcher Transaktionen zu vermindern. Als Alternative wird daher von Coase eine Regelung diskutiert, in welcher festgelegt werden könnte, was Personen oder Personengruppen wirtschaftlich tun oder lassen sollen; damit soll ein System von Rechtspositionen ersetzt werden, welches durch Markttransaktionen geändert werden kann87; auch diese Lösung weist jedoch offensichtliche Schwächen auf88. 82 83 84 85 86 87 88

Ebd. Ebd. Vgl. Wälde, S. 622 f. Vgl. Prisching, S. 1001. Vgl. Coase, S. 169. Vgl. ebd., S. 166. Weiterführend ebd., S. 167 f.

Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt?

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Es zeigt sich ferner, dass für mögliche Transaktionen keine Märkte im üblichen Sinn existieren, d. h., hier werden Güter oder Bedürfnisse gehandelt, welche in Geldeinheiten nicht bzw. nur unzureichend auszudrücken sind89. Ein effizientes System zur Regelung von Umweltklagen hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass marktmäßige Verhandlungen mit möglichst niedrigen Transaktions- bzw. Organisationskosten erfolgen können. Die Höhe der Kostenbelastung90 des emittierenden Unternehmens, welche zwischen den Parteien ausgehandelt werden kann, ist damit ein Instrument wirtschaftlicher Umweltsteuerung91. 2. Ökonomische Analyse des Rechts – ein Schritt zur Problembewältigung?

Die Anwendung ökonomischer Methoden zur Regelung von Umweltbeeinträchtigungen würde allein durch das ungehinderte Wirken der Marktkräfte eine interessengerechte Lösung kaum herbeiführen92. Da man nicht davon ausgehen kann, dass unterschiedliche Machtpositionen ohne weiteres auf ein gleiches Niveau gebracht werden können, ist anhand ökonomisch-ökologisch effizienter Rechtsregeln ein entsprechender Ausgleich herbeizuführen. Insbesondere geht es darum, quantitative und qualitative Vorgaben zur Beschreibung eines bestimmten Umweltschutzzieles zu formulieren; hierbei wäre an juristisch-administrativ93 festzulegende Reinheitsgrade bzw. Verschmutzungsgrenzen der Umweltmedien zu denken, die die Wirkungen kumulierender oder synergistischer Effekte sowie die Absorptionskapazitäten 94 zu berücksichtigen hätten. Hier zeigt sich, dass eine ökonomische Analyse des Rechts95 zwar Anhaltspunkte zur Bewältigung des Umweltproblems geben kann, der Problemkreis „Um89 Vgl. Weimar, S. 340. Wohl sind bereits für solche Werte Methoden entwickelt worden, welche quantitative Wertaussagen über die Indifferenzentscheidungen der Betroffenen ermöglichen, so z. B. für die Frage, wieviel Geld jemand zu zahlen bereit ist, um eine abgasfreie Stadt zu genießen. Vgl. dazu Wälde, S. 612. m. w. N. 90 Zur Internalisierung externer Kosten. 91 Die Höhe der Kostenbelastung (hier im Sinne von Emissionsgebühren, vgl. dazu Wälde, S. 608) kann nicht zuletzt auch durch politische Entscheidung festgelegt werden; sie reflektiert dann das Ausmaß der Umweltbeeinträchtigung und ist somit ein Indikator für die Umweltqualität. Die Festlegung der Höhe ist ein sowohl technischer als auch politischer Bewertungsakt. Umweltqualitäten bzw. deren Beeinträchtigungen können im Hinblick auf die Realisierung eines bestimmten Umweltziels festgelegt werden (z. B. durch Vorgabe gewisser Umweltstandards, d. h. der Festlegung bestimmter Emissionsgrenzen). Dieser Ansatz bietet zugleich die Möglichkeit, über die Höhe der Gebühren Einfluss zu nehmen auf ein jeweils aktuelles gesamtgesellschaftliches Ziel: Wenn der Umweltschutz Priorität besitzt; wird die Kostenspanne der Emissionsgebühren nach oben erweitert, eine eher wachstumsorientierte Entscheidung wird diese nach unten ausdehnen. Vgl. dazu Wälde, S. 612. 92 Vgl. jedoch Prisching, S. 1002. 93 Vgl. dazu weiterführend Wälde, S. 591 f. 94 Vgl. ebd., S. 593. 95 „ÖAR (ökonomische Analyse des Rechts, d. Verf.) wendet ökonomische Kalküle auf rechtliche Regelungen an und ist insofern interdisziplinär. Zugleich scheidet sie solche

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

welt – Wirtschaft – Recht“ dabei jedoch noch keinesfalls erfasst ist. Es ist daher erforderlich, die ökonomischen und ökologischen Rechtstatsachen weiter zu erforschen, und zwar insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen, welche die eine oder andere Regelung mit sich bringen kann. So wäre unter anderem eine Analyse angebracht, die die wirtschaftliche und ökologische Wirkung von Entscheidungen voraussehen und entsprechend berücksichtigen kann; dabei muss das volkswirtschaftliche Optimierungsziel im Auge behalten und das Verhalten der Betroffenen in etwa eingeschätzt werden. Die Entscheidungen in diesem de lege ferenda möglicherweise neuen Typ des Gerichtssystems, in dem unter Ausnutzung des demokratischen Potentials durch Fortschreibung des Rechts auch wirtschafts- und umweltpolitische Ziele erreichbar sind, müssen auch Lernmöglichkeiten (Rückkoppelung zwischen Wirkungs- und Entscheidungsprogramm) mit dem Ziel der Programmanpassung enthalten96. Dabei darf die Gesamtheit der möglichen Auswirkungen von Rechtsregeln nicht unbeachtet bleiben; ebenso wenig darf eine Abwägung von Werten in den sich wandelnden Situationen der gesellschaftlichen Prozesse beiseite gelassen werden97.

VI. Ausblick: Zur Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung Zur Bewältigung der anstehenden Probleme ist ein interdisziplinärer, in diesem Falle integrativer und mehrdimensionaler Denkansatz notwendig98. Eine ökonomische Analyse des Rechts hat dabei auch die ökologischen Aspekte zu erfassen. In diesem Sinne ist eine ökonomisch- ökologische Analyse des Rechts dort angebracht, wo es um Rechtsprobleme geht, bei denen außer-ökonomisch-ökologische Faktoren vernachlässigt werden können. Insbesondere im Planungs- und Wirtschaftsrecht, und speziell immer dann, wenn es um ökonomisch-ökologische Effizienz geht, um die ökonomisch-ökologische Vernunft hinsichtlich einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsoptimierung, ist die bisher verbreitete Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung aufzugeben99. Ein übertriebenes „Revierverhalten“ kann hier nur schaden. Der bisherige eindimensionale Denkansatz in der Jurisprudenz wie in anderen Sozialwissenschaften kann zu Fehlentwicklungen führen und ist deshalb zugunsten integrativer Methoden der Entscheidungsfindung zu verlassen; nur dann kann das Recht seine Regelungsaufgabe in einer komplexen Zivilisation angemessen erfülAspekte aus, die sowohl außer-rechtlich als auch außer-ökonomisch, also außer-rechtlichökonomisch sind.“ Ch. Kirchner, Ökonomische Analyse des Rechts, Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ökonomie und Rechtswissenschaft, in: Assmann / Kirchner / Schanze, S. 77. 96 Vgl. Wälde, S. 624 f. 97 Vgl. Weimar, S. 341. 98 Vgl. Wälde, S. 589 f. 99 Vgl. Weimar, S. 341 f.

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len. Es gilt also, durch einen Brückenschlag zu anderen Disziplinen die Isolierung der emsig vor sich hin forschenden Jurisprudenz zu überwinden, auch wenn dies Eindringen in feindliches Gebiet bedeuten kann100. Dabei geht es nicht um eine Politische Ökologie des Rechts, sondern um eine ökonomisch-ökologisch orientierte, problemspezifische Rechtswissenschaft zur Bewältigung der anfallenden Umweltprobleme in einer sich ständig entwickelnden Welt101. „Überall sollen entschiedene Maßnahmen ergriffen werden, die eine Verschlechterung der Umwelt verhindern.“ „Der Raubbau an unersetzlichen Naturvorräten soll aufhören.“ „Dem Leben in Verschwendung soll Einhalt geboten werden.“ In diesen Sätzen formuliert Tammelo102 mahnend drei „fundamentale Gebote der Gerechtigkeit pro futuro“, „deren Beachtung eine conditio sine qua non dafür ist, dass die, die nach uns kommen, uns weder verfluchen noch verlachen“103. Eine ökonomisch-ökologische Jurisprudenz ist diesen Prinzipien verpflichtet. Liegt hier der nächste Schritt in der Entwicklung von Recht und Rechtswissenschaft?

So Wälde, S. 626 f. m. w. N. Vgl. Weimar, S. 342. 102 I. Tammelo, Über die Zeitdimension der Gerechtigkeit, in: Jus Humanitatis – Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 269 f.; zur naturrechtlichen Begründung eines „Rechts auf reine Atemluft“ vgl. etwa E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch A. Verdross, in: Jus Humanitatis, S. 21. 103 Tammelo, S. 269. Zur Umweltverantwortung als Dimension der Gerechtigkeit vgl. im Einzelnen I. Tammelo, Zur Philosophie des Überlebens, Freiburg / Brsg. 1975. Vgl. auch R. Weimar, Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?, in: Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung – Festschrift für Karl Klein zum 70. Geburtstag, Siegen 1982, S. 664 ff.; ders., Ecology versus Economy in Law – Study of a basic problem, Vortrag auf dem 11. Weltkongress für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), Helsinki 1983. 100 101

Ecology versus Economy in Law* Study of a Basic Problem The problematic triangle of Law – Economics – Ecology has not as yet been sufficiently comprehended. One of the reasons for this may be the imperfect translation of economic and ecological patterns of thought and principles into jurisprudential reflection. The implementation of an economic method for arriving at a settlement in the case of an encroachment on the environment can hardly be expected to bring about a solution serving the interest of all parties concerned unless restrictions are brought to bear on market-related forces. Moreover, as it is assumed that differing predominances cannot be simply adjusted evenly, effective rules of law that take into account both economics and ecology will be required for bringing about a suitable balance. Any such rules, if they are to serve the purpose effectively, must rely on an analysis of the underlying economic and ecological data in the light of a new jurisprudential paradigm.

I. Aspects of the Interrelations between Ecology and Economics in Jurisprudence 1. The Exchange of Rights

Just as a producer has the right to influence and make demands on the environment (although not necessarily to damage it), the individual citizen may claim that his habitat should be protected against harmful influences (although not necessarily demand an “unimpaired” environment). These rights may be understood in the sense of sound conformity with economic laws. Just as goods are subject to exchange, such rights may also be exchanged up to the point at which they will achieve the highest degree of utilization. The final stage of such an exchange process is reached where parity is optimized. This is a situation of balance in which no person (or owner of a right) can improve his position without simultaneously impairing that of the other persons. The idea under* Erstveröffentlichung in: T. Eckhoff / L. Friedman / J. Uusitalo (Hrsg.), Vernunft und Erfahrung im Rechtsdenken der Gegenwart. Rechtstheorie, Beiheft 10 (1986), S. 415 – 421. Berlin: Duncker & Humblot.

Ecology versus Economy in Law

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lying this concept is that of an established distribution of goods, for each of which the best possible condition is to be created. No indication is given as to whether the welfare of society as a whole may be improved by another, more efficient, utilization of right This principle of “efficient” distribution of goods or rights does not therefore appear to contribute significantly to maximum welfare, but far more so to maximum individual utilization. Coase1 maintains that, in the case of an award of rights, the parties concerned have entered into a process of “exchange in kind” which offers maximum utilization to both. If a subsequent change in the allocation of resources is made on the strength of an award of title by law, it may be asserted that economic logic has enforced its rights “behind the back” of the Law. An effective solution to the conflict has been achieved in a manner which, while improving values,2 will be neglecting social issues.3

2. The Problem of Costs of Transaction

These considerations are of no consequence when the assumption of non-existent costs of transaction is not applied, i. e. if these, on the contrary, are taken for granted, and at a significant level. In this case, in spite of the fact that they offer an advantage to both parties, transactions will not be made because the costs of the transaction would exceed the potential gains expected by the parties involved. The distribution of rights (inc1uding indemnities) would, in this case, have an allocating effect. In the case of potentially high costs of transaction, the title would have to be passed to the party that would profit more from the utilization of such a title. This method produces an anticipation of expensive market transactions; the costs involved would be incurred in the absence of any interference by the authorities for achieving the state of affairs which would come about in any case under the compulsive forces exerted by economics. The argument that the ecological issue does not enter into consideration in the award of rights also holds true for this case.

1 R. H. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics (1960), p. 1 pp. 2 M. Prisching, Ökonomische Rechtslehre?, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz (ed.), Reform des Rechts. Festschrift zur 200-Jahr-Feier der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz 1979, p. 1000 pp.; P. Behrens, Aspekte einer ökonomischen Theorie des Rechts, in: Rechtstheorie 12 (1981), p. 472 pp.; H. J. M. Boukema, A Philosophical View of Ecology, in: Rechtstheorie 13 (1982), p. 337 pp. 3 Cf. R. A. Posner, Economic Analysis of Law, second edition, Boston / Toronto 1977.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses 3. The Approach to Maximum Welfare with Respect to the Relations between Ecology and Economics

A point of departure is offered here for arriving at an ideal balance between economic and ecological welfare through maximum individual benefit. Decisions relating to environmental situations have an influence on future conditions, recognizing that they support and / or influence human behaviour. Moreover, a qualitative change with regard to the legal award for the consequences of actions affecting environment can be achieved in the course of judicial decision making. Hence, courts of law can screen and give adequate consideration to the complexity of problems of settlement by carefully scrutinizing decisions and consequences. This approach would not produce any direct change in the legal system, although it would generate a means of settling existing and potential future conflicts in the shape of judge-made law as well as give rise to an environmental jurisprudence. In a case of precedent the judge should measure the possible effects of all potential decisions on the future behaviour of individuals or groups, or both, whose activities may have a similar effect on the environment. In this case, the measures enforced for remedying the damage to the environment could also rely on judgemade decisions rather than on an approach based on environment legislation; this would finally be less expensive. When considering these aspects, it becomes obvious that the maximum welfare issue and maximum individual benefit may be brought into agreement.

II. Interlacing of Economics and Ecology: A Point of Efficiency 1. The Criteria of Efficiency

If, on the strength of an exchange process, resources (or title) are employed to the extent that their value attains its highest degree, this will represent efficient utilization. In this case, the meaning of efficiency should be interpreted as the utilization, of economic resources in a manner which aims at the achievement of maximum benefit, which is understood to be the satisfaction of human needs in relation to the communal desire of consumers to acquire goods and services. In the light of the efficiency concept, the willingness to pay depends on various factors, e. g. income, capital and their distribution. Since economists have no answer to the question of whether a given pattern of distribution is good or bad, that is, whether it is just or injust, they cannot be expected to say whether an efficient allocation of resources is good, just, or in so me such way desirable. Only the effects of legal provisions are supposed to have a value and efficiency (in the technical understanding of these terms) and only the effects of the distribution of income and / or capital can be predicted on the strength of this conception. Therefore, it cannot be regarded as a point of departure for social change.

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In principle it may be stated that an exchange of resources and / or title on voluntary grounds increases efficiency. The point that still remains unsolved is whether (and to what extent) an involuntary exchange such as an award of rights may also, in this context, be considered to be efficient or to increase efficiency. The consequences of such transactions cannot be adequately evaluated with regard to their efficiency, as this would require comparing the benefits gained by the individual parties concerned. It does, however, remain possible to investigate whether a feasible voluntary exchange might have occurred as a matter of course. Evidence of the increase, or decrease, or both, of efficiency will only be produced at this rate by the legal system after the exchange has already taken place. The probable conditions of a voluntary transaction negotiated on the market are in this case reproduced. When seen in this light, enforced exchange “in kind” (as compared with that of a voluntary nature, provided it is feasible) does not represent a truly efficient mechanism for awarding resources. Should the former not be possible, there only remains the introduction of a system of legal settlement of transactions. 2. Efficiency in the Case of Environmental Problems

These considerations can be applied to problems of the environment. The significant point in this context is that this topic is approached while rather unrealistically assuming that the party encroaching and the party encroached on would buy each other’s rights by means of an exchange process. The point of departure for further reflection is the fact that market mechanisms will necessarily fail if goods are of such a nature that will disallow reservation of their use to a selected few. It is not only some particular persons who will pay for the benefit of using such a good (e. g., an unpolluted environment) but the entire population of a region. Now, if the damage to the environment by the enterprises causing the pollution is reduced by means of adequate protective measures, nobody can or will be excluded from benefiting from the clean air, grounds or waters. In the economist’s understanding of the law, this signifies that, by way of ruling the responsibilities, the results of the market can be anticipated in cases of this sort. This anticipation, of course, requires all relevant things, such as the preferences of individual persons, to be known and to be taken into consideration when the respective decisions are made. Different approaches to the award of resources and rights exist for the transfer of market-oriented relations in settling problems of the environment. By this means, the polluting enterprise can be made to instal filter units. The proprietors in the neighbourhood can themselves apply appropriate measures, or may even move to another district. The parties concerned will invariably encounter costs, and the enterprise causing the pollution may even have to shoulder the additional costs generated by a demand to restrict production.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses 3. Efficiency of an Overall-Welfare Nature

Rules governing responsibilities which are not restricted to maximum individual conditions, but moreover, also take the social issues into consideration, must be adapted to the criteria prompted by overall welfare efficiency. In this case, the matter of who is placing a burden on the environment is of secondary importance. The focus here is on investigating the permissible extent of environmental burdening from the ecological point of view. This would be the degree of encroachment at which the resulting issue is balanced or is at least no greater than the costs incurred by its victims. This may be looked upon as a sensible rule for arriving at a compromise between the interests of the parties concerned,4 which needs to be reconciled with the economic and ecological context underlying the conflict. It is not possoble to predict the various circumstances related to the yield and costs in every conceivable case. The assumption that both the damaging and the damaged parties would (after the establishment of their individual preferences and the degree of damage caused) agree to enter into round-the-table negotiations about their rights would appear to be an “hypostasis of the general freedom of negotiation that is far removed from reality”.5 It should therefore be rejected in this form, irrespective of its social relevance, at least in so far as environment is concerned. By the expression “effective legal provisions with regard to economic and ecological interlacing”, we should therefore understand those legal provisions that lead to the best possible utilization of the value of resources by taking into consideration both the economic and the ecological aspects related to this. The idea he re is to balance economic requirements and the ecological offence that remains within reasonable limits, in order to arrive at environment-oriented forms of propriety, justice and reasonable behaviour. These take the form, for example, of the observance of ecological restrictions for ensuring the overall social applications of resources which offer the highest yield in value as determined by a well-reflected cost / benefit analysis.

III. The Necessity of Scientific Cooperation at Various Levels Integrated research at various levels is required for tackling these problems. An economic analysis of law would also have to cover the relevant aspects of ecology. From this point of view, an analysis of law focusing on the interlacing of economics and ecology would be appropriate at the intersections where extra-economic and extra-ecological factors may be neglected. This requires a reversal of the preCf. Prisching, p. 1002. Cf. Prisching and G. Calabresi, The Decision for Accidents: An Approach to Nonfault Allocation of Costs, in: Harvard Law Review (1965), p. 713 pp. 4 5

Ecology versus Economy in Law

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sent trend which shows a wide-spread neglect of ecological issues in legislation, administration and jurisdiction, particularly in terms of planning and economic law. There is also neglect at the point of the interlacing between economic and ecological efficiency. This, too, must be reversed in order to achieve a reasonable approach to economics and ecology which sets out to improve welfare in general. The one-dimensional approach prevailing at present in jurisprudence, which excluded these aspects, may lead to faulty developments and should therefore be abandoned in favour of integrating methods of decision-making. Only then will the law rise to its task of promoting adequate reconciliation in a complex civilization. The aim should therefore be to bridge the gap between academic university disciplines so as to end the isolation into which jurisprudence has worked its way through its overly unilateral orientation. The transdisciplinary efforts may involve penetrations into other scientific fields. This certainly does not imply a political ecology in law, but rather an ecology-oriented approach (in the same way as there is an economy-oriented approach) to a jurisprudence focused on handling the specific problems of environment in a world undergoing continuous development. “Decisive measures need to be taken worldwide in order to prevent even more damage to an environment that has already been severely maligned.” “Wasteful exploitation of natural resources must stop.” “The giving over of life to wastefulness must be checked.” These are the postulates Tammelo6 expresses as a warning to mankind in his “fundamental commands of justice pro futuro”, the observation of which is a conditio sine qua non for ensuring that “future generations will neither curse nor deride us”.7 A jurisprudence disposed to both ecology and economics is under obligation to these principles. Can it be assumed that this is the next step to be taken in the development of jurisprudence?

6 I. Tammelo, Über die Zeitdimension der Gerechtigkeit, in: Jus Humanitatis – Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, p. 269 pp.; cf. also E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch A. Verdross, in: ibid., p. 21. 7 Cf. Tammelo, p. 269; for details see Tammelo, Zur Philosophie des Überlebens, Freiburg / Brsg. 1975.

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?* Rechtsökologie ist eine noch ganz und gar junge rechtswissenschaftliche Disziplin; sie befasst sich mit allgemeinen Grundlagenaspekten. die unerlässlich sind, wenn es darum geht. umweltpolitische Aktivitäten von Regierungen und Parlamenten in bestimmten wirtschaftlichen politischen und rechtlichen Zusammenhängen zu analysieren. Die von ihr zu untersuchenden Bedingungen beeinflussen umweltpolitisches Handeln sowie dessen Umsetzung in Gesetzgebung und Vollziehung und weisen in Richtung auf eine ökonomisch-ökologische Akzentuierung des Rechts in seinen umweltrelevanten Bereichen. Ein fester Standort im Bereich der traditionellen Rechtswissenschaften kommt ihr bisher nicht zu: Man mag sie zwischen Rechts- und Politikwissenschaft ansiedeln, mehr dieser oder jener zuordnen; dies erscheint weniger wichtig. Wichtig ist ihr von anderen Disziplinen mehr oder minder gemiedener Objektbereich – und die Frage nach ihrer wissenschaftskonzeptionellen Verfasstheit.

I. Umweltpolitik – Ein Zentralbereich der Rechtsökologie Umweltpolitik ist nach Jänicke1 „nur aus der Zuspitzung einer bestimmten Negativität industriegesellschaftlicher Entwicklung mit der Folge immer weiterer Beeinträchtigungen von Mensch und Natur zu begreifen. Sie ist konflikthafte Reaktion auf diese Entwicklung. Und ihre Durchsetzung trifft wiederum auf Konfliktreaktionen des Industriesystems. Wer von Umweltpolitik spricht, muss folglich vom Industriesystem – und dem Verhältnis von Politik und Ökonomie in ihm – reden.“ Die Einsicht, dass man im Zivilisationsprozess – nicht nur bei hohen Wachstumsraten – negative umweltrelevante Auswirkungen von Investitionen und Produkten rechtzeitig zu berücksichtigen habe, bildet den Ansatzpunkt für eine effiziente Umweltgesetzgebung in allen industrialisierten Ländern.2 Beeinträchtigungen der Umwelt sind stets Folgen des ökonomisch-technischen Prozesses der Vergesellschaftung der Natur. Sie umfassen nicht nur die Probleme der Verschmut* Erstveröffentlichung in: B. B. Gemper (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung. Für Karl Klein zum 70. Geburtstag. Beiheft zu den Siegener Studien 1982, S. 664 – 685. Siegen: Vorländer. 1 M. Jänicke, Umweltpolitik im kapitalistischen Industriesystem, in: ders. (Hrsg.), Umweltpolitik, Poladen 1978, S. 9. 2 Dazu und zum Folgenden s. R. Weimar, Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozeß, in: B. B. Gemper (Hrsg.), Stabilität im Wandel – Festschrift für Bruno Gleitze zum 75. Geburtstag, Berlin 1978, S. 511 ff.

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?

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zung oder Pollution, sondern auch die der längerfristigen Sicherung materieller und energetischer Ressourcen. Die aus dem industriellen Wachstumsprozess und seiner Technostruktur resultierenden Umweltprobleme lassen sich auffassen als sozioökonomische Probleme im Umgang mit natürlichen Ressourcen: Sie treten auf als Wachstumsprobleme in einer endlichen Welt.3 „Für den seiner natürlichen Umwelt entfremdeten Menschen ist ihre Kapazität in jeder Beziehung unerschöpflich, und so befindet sich . . . die Menschheit von heute mitten in einer unkontrollierten Wachstumsphase, in welcher die Menschen . . . die Erde ausbeuten, sich und ihre sie tragende Umwelt dabei selbst zerstörend.“4

Diese von Mesarovic´ und Pestel im zweiten Bericht an den Club of Rome zur Weltlage formulierte Umweltprognose stellt zwar keine bestimmte. ökonomische Aussage dar, lässt politische Entscheidungen, den Technologiewandel und Substitutionsmöglichkeiten unberücksichtigt, sie kennzeichnet aber ein ernstes Problem für die Erd-Population, das – vor einem Jahrzehnt noch fast unerkannt – in der Gegenwart zu einer nicht mehr angefochtenen Binsenweisheit avanciert ist. 1. Regelungsfunktion der Umweltgesetzgebung

In diesem Zusammenhang gewinnt aus dem klassischen Repertoire politischen Handelns das Instrument der Gesetzgebung besondere Bedeutung, die als „Umweltgesetzgebung“ die von der Technik produzierten Sachzwänge zunehmend unter humanökologischen Aspekten zu normieren sucht. Noll5 hat den zugrunde liegenden Problemzusammenhang treffend beschrieben: „Der Mensch steht kraft seiner Intelligenz außerhalb des Gleichgewichts der Natur, erweist sich damit – wegen seiner Intelligenz – als stärkster Störfaktor im auf Dauer angelegten System dieses Planeten, infolgedessen kollektiv als ein unvernünftiges Wesen. Kollektive Vernunft kann nur durch Normen hergestellt werden. Dies gilt auch für begrenztere, überblickbarere und lösbarere Probleme als das Generalproblem des Überlebens der Menschheit unter lebenswerten Bedingungen. Die moderne Gesellschaft ist in allen Teilbereichen instabil geworden, und es gibt keine freien Räume mehr, in die sich der Druck entladen kann. Steuerndes soziales Handeln ist überall unvermeidlich geworden. Reflektiertes Handeln aber ist stets normiert.“

Allgemein gilt als Ursache der fortschreitenden Umweltbeeinträchtigung das Bevölkerungswachstum, die industrielle Produktion, dabei an erster Stelle die Energieumwandlungsprozesse, die Siedlungsdichte, das Verkehrsaufkommen, das Konsumverhalten, der autonom gewordene Wachstumsprozess schlechthin. Der Prozess des industriellen Wachstums entwickelt und verändert Technologien, deren 3 K. M. Meyer-Abich, Die ökologische Grenze des herkömmlichen Wirtschaftswachstums, in: H. v. Nußbaum, Die Zukunft des Wachstums, Düsseldorf 1973, S. 163. 4 M. Mesarovic´/ E. Pestel, Menschheit am Wendepunkt, 2. Bericht an den Club of Rome zur Weltlage, Stuttgart 1974, S. 21. 5 P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 9.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Anwendung mannigfaltig die Umwelt belasten und damit den Wirtschaftsprozess und die ihn tragenden Menschen selbst beeinflusst. Dabei können solche Technologien deutliche Verbesserungen innerhalb von Teilbereichen herbeiführen – dies ist sogar die Regel –, außerhalb dieser Bereiche können sie jedoch erhebliche Beeinträchtigungen der Umwelt bewirken. Die Folgen treten gerade bei den an dem Prozess Beteiligten selbst ein. Dieser Prozess gefährdet letztlich die Funktionalität von Eigentum und Markt. Dabei ist es nicht mehr so sehr das „Verhalten des einzelnen“, sondern eine sich emanzipierende „statistische Gefährlichkeit“ (N. Wimmer), die zum Anknüpfungspunkt für rechtliche Regelungen geworden ist: „Die Umweltbedrohung als Ergebnis kompakter Geschehen kann nur mehr über das gemeinsame technische Medium erfasst werden . . . Die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten erscheinen zunehmend als Reflexwirkungen der rechtlich legitimierten technischen und wirtschaftlichen Sachzwänge.“6

2. Umweltstaatlichkeit: Gesetzliche und administrative Umweltvorsorge

Entsprechend dem angelsächsischen Begriff „environmental protection“ zielt Umweltpolitik auf diejenigen Maßnahmen ab, die zur Erhaltung und Schaffung lebensgerechter Umweltbedingungen beitragen. Die Umweltgesetzgebung umfasst dabei alle Mittel und Methoden, die dazu dienen, den Menschen eine für die Gesundheit und ein menschenwürdiges Dasein erforderliche Umwelt zu sichern, die darüber hinaus insbesondere Umweltbereiche wie Wasser, Boden, Luft, Klima, Flora und Fauna sowie Erholungslandschaften vor Zerstörung schützen und entstandene Schäden beseitigen. Hinsichtlich der verschiedenen Nutzungsarten, die in die Ökosysteme eingreifen, ist es vor allem die industrielle Nutzung der Umwelt, die in die Umweltdiskussion – insbesondere aus der Erkenntnis der Belastungsursachen – verstärkt einbezogen wird. Nach heute fast einhelliger Auffassung wird dabei auf die vorsorgende Verhinderung von Umweltschäden zunehmend das Hauptgewicht gelegt. Es kennzeichnet die neuere Umweltgesetzgebung, dass sie sich neben ihrem klassischen Schwerpunkt im Gewerbe- und Immissionsschutzrecht verstärkt im Planungsrecht etabliert. Das herkömmliche überwachungsorientierte (repressive) Umweltrecht mit seinen Wirkungsgrenzen lässt das Bedürfnis auch nach vorausschauender Umweltgestaltung deutlich werden. Die Zielformel der Sicherung einer „optimalen Umwelt“ markiert dabei einen Trend, den Wimmer7 gewissermaßen epochal als den Weg vom Leistungsstaat zum „Umweltgestaltungsstaat“ beschrieben hat. Der Leistungsstaat könne seine Zielvorstellung nicht mehr linear allein im Verteilen und Entsorgen verwirklichen, vielmehr müsse der Staat zunächst überhaupt einmal gewisse Umweltbedingungen schaffen, damit die gebotenen Leistungen auch genossen werden könnten: „War es das Ziel des Leistungsstaates, daß Leistungen erbracht wurden, ist es die Sorge des Umwelt6 N. Wimmer, System des österreichischen Umweltschutzes – Der Umweltgestaltungsstaat in rechtsdogmatischer und verwaltungswissenschaftlicher Sicht, Wien 1975, S. 85. 7 Wimmer, S. 131.

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?

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gestaltungsstaates, daß die Leistungen auch weiterhin sinnvoll erbracht werden können.“ Um dies angemessen zu erreichen, erscheint es erforderlich, ökologische und ökonomische Ziele als relativ gleichwertig zu behandeln.8

II. Rechtsökologie als ökonomisch-ökologische Orientierung im Rechtsdenken Sozioökonomische Ursachen und ökonomisch-ökologische Probleme werden in der traditionellen Rechtswissenschaft weitgehend ausgeklammert oder ignoriert, was zur Vernachlässigung z. B. folgender umweltrechtlich relevanter Fragen führt: – Wie verläuft der Prozess der Durchsetzung der in der Umweltpolitik formulierten Ansprüche und Erwartungen? – Kann in einer Demokratie die Umweltzerstörung aufgehalten werden? – Welche aktuellen und potentiellen Konflikte bestehen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Zielen im Hinblick auf die Umweltplanung und in welchem Umfang werden sie mit Mitteln des Rechts gelöst? – Worauf beruhen Vollzugsdefizite im Bereich der mit Umweltfragen befassten Verwaltungen?

Diese Fragen können von der Rechtswissenschaft nach ihrem herkömmlichen Erkenntnisanspruch nicht beantwortet werden. Auch die traditionelle Politologie oder die noch junge Gesetzgebungswissenschaft ist ebenso wie die Verwaltungswissenschaft oder die Soziologie dazu kaum geeignet, weil bei den Problemen, um die es geht, überall enge Zusammenhänge mit den ökonomischen Eigenschaften der Umwelt bestehen, die weitgehend noch außerhalb des Erkenntnisbereichs dieser Disziplinen untersucht werden. Für einen modifiziert integrativen Ansatz scheint sich eine erst vor wenigen Jahren entstandene Disziplin anzubieten, die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik auch unter Planungsaspekten analysiert und diese Bereiche zu kombinieren sucht: die ökonomische Theorie der Politik (Neue Politische Ökonomie).9 Sie berührt auch die umweltpolitisch relevanten Teile der Rechtsordnung, die das Rechtsdenken heute mit der ökonomisch-ökologischen Dimension im Recht konfrontieren.10 Hier ist so gut wie alles noch im Fluss. 8 Dazu insbes. W. Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, in: VVDStRL 38 (1980), S. 211 – 317. Nach Hoppe (S. 304) soll vorsorgender Umweltschutz nicht zum „beherrschenden Planungsbelang“ werden. Für den Umweltschutz sei mehr als bisher der „Typ hoheitlich inspirierter Verhaltensabreden“ (Kaiser) fruchtbar zu machen. Vgl. zum Ganzen auch D. Rauschnig, Staatsaufgabe Umweltschutz, in: VVDStRL 38 (1980), S. 167 – 210. 9 B. Frey, Die ökonomische Theorie der Politik oder die neue politische Ökonomie: eine Übersicht, in: Zeitschrift für ges. Staatswissenschaft 126 (1970), S. 1 – 23. 10 Vgl. hierzu R. Voigt, Umweltschutz zwischen Politik, Ökonomie und Recht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 17 / 80, S. 3 ff. m. w. Nachw.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der letzten Jahrzehnte verzichten meist auf die Analyse von politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die in der Regel nur als fest gefügter Datenkranz berücksichtigt, aber nicht erklärt werden. Dabei kommt es nur selten zu einer Verwendung expliziter Werturteile. Dieser Verzicht bringt u. a. die Gefahr mit sich, dass Wertungen implizit in die Analyse einfließen und auf diese Weise normative Aussagen im Gewand von positivistischen Aussagen erscheinen, die dann als solche nicht falsifizierbar sind. Eine Begrenzung auf „rein“ rechtliche Probleme ist jedenfalls im Umweltbereich nicht durchführbar. Auch in marktwirtschaftlichen Systemen laufen Wirtschaftsprozesse und rechtliche Entwicklungen nicht getrennt von politischen Einflüssen ab, Bestimmte umweltrelevante Probleme, wie z. B. die Versorgung mit öffentlichen Gütern, Sauberkeit von Wasser und Luft, lassen sich nicht oder nur unzureichend im Rahmen der hergebrachten rechtlichen Perspektive lösen, solange nicht explizit ökonomisch-ökologisch orientierte Werturteile in die Analysen einbezogen werden. Hier ist es die Rechtsökologie, die besonderes Gewicht auf die Untersuchung des integrativen Zusammenhangs von politischen und sozialen Faktoren mit ökonomischen Gegebenheiten des Rechts legt, wie dies etwa in neueren umwelt- und planungsrechtlichen Untersuchungen inzwischen zunehmend erkennbar wird (z. B. Th. W. Wälde, R. Wahl, N. Wimmer).

III. Möglichkeiten und Grenzen rechtsökologischer Theoriebildung Die Interdependenz von Wirtschaft und Umwelt beeinflusst die Entwicklung des Rechtssystems (und umgekehrt).11 Daher ist kaum zu bezweifeln, dass eine Rechtstheorie, die ökonomisch-ökologisch orientiert ist, am ehesten dazu beitragen könnte, das Rechtssystem in seinen umweltrelevanten Teilen zu verbessern.

1. Das Problem der kollidierenden Politikziele

Im Mittelpunkt des theoretischen Interesses steht die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsmaximierung durch ökonomisch-ökologisch effiziente Rechtsregeln und deren praktische Anwendung. Dabei kann „Effizienz“ im ökonomisch-ökologischen Sinne zum neuen Rechtsprinzip avancieren. Wenn das Rechtssystem im Sinne einer ökonomisch-ökologischen Rechtstheorie geändert würde, dann entspricht ein solches System in dieser Hinsicht einem gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsmaximum. Bei diesem Zustand (Pareto-Optium) ist keine Umverteilung von Ressourcen mehr denkbar, die zumindest ein Individuum besser stellen würde, 11 Zum Folgenden s. R. Weimar, Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem, in: G. Frohberg / O. Kimminich / R. Weimar (Hrsg.), Recht – Umwelt – Gesellschaft, Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag, Berlin 1979, S. 339 ff.

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?

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ohne dass ein anderes entsprechend schlechter gestellt würde. Soziales Optimum (Wohlfahrtsmaximum) und individuelles Optimum (Nutzenmaximum) fallen hier zusammen. Die Anpassungsorientiertheit der Rechtsordnung führt dazu, Rechtsregeln stärker nach dem ökonomisch-ökologischen Effizienzkriterium auszurichten. Diese Zusammenhänge könnten rechtsökologisch analysiert werden. Dass Umweltpolitik nicht zu einer defekten Wirtschaft führen darf, bleibt unverzichtbare Prämisse. auch für Verwaltung und Rechtsprechung gibt es Grenzen, wenn Rechtsregeln so ausgelegt und angewendet werden, dass sie zum aggregierten Nutzenmaximum führen. Es kann de lege lata z. B. nicht unabhängig von Verursachung und ggf. Verschulden danach gefragt werden, welches Recht das „wertvollere“ sei, das Recht auf Unterlassung und / oder Schadenersatz oder das Recht auf Beeinträchtigung (Schädigung) durch Umwelteingriffe. Die Frage, wer die höheren Kosten zur Verhütung von Umweltschäden tragen müsste oder wer den größeren Nutzen aus der Umweltbeeinträchtigung ziehen würde, fungiert für Sanktionen im Einzelrechtsverhältnis (Schädiger – Geschädigter) bisher nicht als Entscheidungskriterium. Wohl können die politischen Instanzen, insbesondere der Gesetzgeber, überlegen, ob es stets angemessen ist, dass dem Umweltgeschädigten das Recht auf Schadenersatz zusteht: ob nicht unter Umständen bestimmte Beeinträchtigungen zu legitimieren sein können, wenn es nämlich darum geht, den größeren Schaden zu vermeiden. Auch der Eingreifende (Schädiger) kann einen „Schaden“ haben. wenn er nicht eingreifen darf. – Ein sinnvoller Weg bei diesen Oberlegungen scheint zunächst darin zu liegen, die ökonomisch-ökologisch relevanten Rechtstatsachen im Einzelnen zu erforschen und die Ergebnisse in Gesetzgebung und Rechtsanwendung, soweit dies dort geboten und de lege lata zu rechtfertigen ist, entsprechend zu berücksichtigen.

2. Erweiterung der klassischen rechtswissenschaftlichen Perspektive

Eine ökonomisch-ökologische Analyse des Rechts ist überall dort indiziert, wo es um eine Betrachtung von Rechtsproblemen geht, die andere als ökonomischökologische Faktoren der Sache nach weitgehend vernachlässigen kann, vor allem dort, wo es um die „wirtschaftliche Vertretbarkeit“ von Umweltschutzmaßnahmen geht, wo erwerbswirtschaftliche Prinzipien der Gewinnmaximierung eine ökologisch bedeutende Rolle spielen. Dagegen kann das Prinzip der ökonomisch-ökologischen Effizienz keine Geltung für die Gesamtheit der Rechtsordnung beanspruchen. Es ist auf Teilgebiete des Rechtssystems (z. B. auf das Umwelt-, Planungsund sonstige Wirtschaftsrecht) seinem Wesen nach beschränkt. Eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ des Rechts gibt es außerhalb der Rechtsökologie schon seit langer Zeit: die Perspektive ist Bestandteil der Methodenlehre und dient insbesondere der Untersuchung der funktionellen Seite der Rechtsinstitute. Hier ist man zunehmend bemüht, die wirtschaftlichen Folgen von Rechtsentscheidungen und die wirtschaftlichen Zwecke bei Rechtsfiguren zu er-

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

kennen und – wenn auch zögernd – im Wege der Rechtsauslegung und Fortschreibung des Rechts zu berücksichtigen. Die „neue“ wirtschaftliche Betrachtungsweise in den USA fordert die Berücksichtigung ökonomischer Belange nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch bei der Gesetzgebung. Dabei sollen die Auswirkungen auf die Wirtschaft, nämlich die Allokation produktiver Ressourcen, nicht nur ein Gesichtspunkt, sondern alleiniger Maßstab für rechtliche Entscheidungen sein.12 Den eigentlichen Sinn der Übertragung des ökonomischen Instrumentariums auf das Rechtsdenken sehen die Vertreter der Rechtsökonomie in der Steigerung der ökonomischen Effizienz von Rechtsregeln. Mit dieser Wohlfahrtsmaximierung erhält die Funktion des Rechts ein neues, nämlich ökonomisches Gewand: „Richtiges juristisches Denken ist auf weite Strecken dasselbe wie wirtschaftliches Denken, soweit es denselben Gegenstand hat und um nichts anderes als um die Lösung derselben Sachfrage bemüht ist.“13

Wie entsprechende Beiträge in der Literatur deutlich machen, ist die neue ökonomische Betrachtungsweise des Rechts auch in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich aufgegriffen worden. Die ökologischen Restriktionen sind dabei jedoch bislang in der rechtsökonomischen Betrachtung nur unzureichend berücksichtigt werden. Hier liegen die Aufgaben der ökonomisch-ökologischen Rechtstheorie, die als Rechtsökologie erst noch auszuarbeiten ist. Die ökonomisch-ökologisch orientierte Rechtstheorie14 scheidet solche Aspekte aus, die sowohl außer-rechtlich als auch außer-ökonomisch und außer-ökologisch sind. Auf diese Weise ist eine Grundlage geschaffen, auf der die beteiligten Disziplinen ein und dasselbe Regelungsfeld im Sinne einer integrierten Ressourcenallokation untersuchen können. Die zunehmende Bedeutung der sozioökonomischen und insbesondere der ökologischen Umwelt für die rechtliche Gestaltung wirtschaftlicher Zielerreichungsprozesse führt dazu, die in der herkömmlichen ökonomischen Analyse des Rechts verbreitete strikte Kategorisierung in ökonomische 12 Diese Betrachtungsweise von Recht und Ökonomie fand ihren Ursprung im Recht der unerlaubten Handlungen, z. B. bei G. Calabresi. Dies war der erste Versuch. die ökonomische Analyse in systematischer Weise auf ein bestimmtes Rechtsgebiet anzuwenden, das nicht ökonomische Beziehungen regelt. Ab 1970 machte sich der Vormarsch der Ökonomie in der American Association of Law Schools (AALS) bemerkbar. Die Fülle der Angebote von „Law and Economics“ in Lehrveranstaltungen und Literatur lassen erkennen, dass es sich nicht um eine der üblichen Modeerscheinungen der Law Schools handelt, wie sie von Zeit zu Zeit seit den rechtsrealistischen Reformbestrebungen der 20er Jahre auftauchen und wieder verschwinden. 13 G. Jahr, Funktionsanalyse von Rechtsfiguren als Grundlage einer Begegnung von Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, in: L. Raiser, L. / H. Sauermann / E. Schneider, Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik, Berlin 1964, S. 14 – 26 (25 f.). 14 Vgl. vertiefend H.-D. Assmann / Ch. Kirchner / E. Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse der Rechts, Kronberg 1978.

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Tatbestände (die in dieser begrifflichen Verwendungsweise ökologische Aspekte nicht enthalten) und außerökonomische Faktoren und die mangelnde Berücksichtigung letzterer im Rahmen rechtlicher Entscheidungen (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung) aufzugeben. Die auf den gesellschafts- und insbesondere umweltpolitischen Wandlungstendenzen beruhende Erwartung. dass Unternehmungen ihre Existenz und ihr Handeln nur legitimieren können, wenn sie ihr Wirken an gesellschaftlichen und ökologischen Kriterien orientieren, stellt die Rechtsökologie vor die grundlegende Aufgabe, Voraussetzungen und Grundlagen industrieller Entwicklungen im rechtlichen Problemfeld „Wirtschaft – Gesellschaft / Umwelt“ neu zu analysieren.

IV. Rechtsökologie zwischen Wertethik und Sozialtechnologie Die Frage nach der Art und Weise der Bemühungen um eine Bewältigung der Probleme, mit denen es die Rechtsökologie zu tun hat, führt zu dem Problem, ob zur Lösung ihrer praktischen Gestaltungsaufgaben eine Normativierung notwendig ist. Die Normativierung, um die es hier geht, hat – wie jede juristische Dogmatik – eine „ethische“ Komponente insofern, als sie denjenigen, an den sie sich richtet, regelmäßig über seine Person und Situation hinaus verweist und ihm gegenüber damit den Charakter von Unbeliebigkeit annimmt.15 1. Das Problem des wissenschaftlichen Zielhorizonts

Sieht man die Bedeutung der Rechtsökologie für das Handeln z. B. von Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung darin, dass sie durch die Relevanz ihrer Ergebnisse zu einer Verringerung von Unwissenheit beitragen kann, so besteht ihr Problem allgemein darin, die voraussichtlichen Auswirkungen von Handlungsalternativen zu ermitteln. Es ist ein empirisch-kognitives Problem, zu dessen Lösung der vor der Entscheidung Stehende auf die Ergebnisse der explikativen Forschung auf dem betreffenden Gebiet, also nicht nur der rechtsökologischen Forschung, angewiesen ist. Dem Aktor wird dadurch der Überblick erleichtert, inwieweit die durch die einzelnen Alternativen bewirkten Transformationen der Ausgangssituation der angestrebten und erwünschen Endsituation entsprechen. 15 Dieses Kriterium enthalten die meisten Definitionen der Ethik – sowohl, was eine „formale“ i S. einer prozeduralen als auch, was eine „materiale“ Ethik betrifft; vgl. H. Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen. Zur Begründbarkeit von Wertungen im Rechtsdenken durch ethisch verpflichtetes Argumentieren, Berlin 1980, S. 132 f. m. w. Nachw. – Zur Frage der Ethik als Wissenschaft informiert umfassend Ch. Westermann, Argumentation und Begründungen in der Ethik und Rechtslehre, Berlin 1977, insbes. S. 73 ff., 100 ff., 113 ff. (zu Poppers Einwendungen gegen die Ethik als Wissenschaft im Zusammenhang mit seiner Entscheidung zur Rationalität). Zur Ethik als „Protopolitik“ vgl. P. Lorenzen, Politische Anthropologie, in: O. Schwemmer (Hrsg.), Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, München 1981, S. 104 – 116 (108).

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Bei dieser „Folgenorientierung“ können Konsequenzen auftauchen, die Ziele des Handelnden verletzen, deren er sich vorher nicht bewusst war. Welche Alternativen zu eliminieren sind, darüber sagen sogenannte explikative Theorien nichts aus; sie tragen nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Lösung der empirisch-kognitiven Problemstellung bei der Vorbereitung von Entscheidungen bei. Mit dieser theoretischen Fundierung der Prognosen der Folgen zukünftiger Handlungen ist die Bedeutung explikativen Forschens jedoch nicht erschöpft. Sind bestimmte praktische Aufgaben zu lösen und ist nicht bekannt, wie und wo in bestimmte soziale Prozesse z. B. durch Gesetzgebung usw. eingegriffen werden kann, um den gewünschten Zustand herbeizuführen, so kann die Rechtsökologie ihre empirischkognitiven theoretischen Aussagen durch logische Operationen so umformen, dass damit Eingriffsmöglichkeiten und ihre voraussichtlichen Auswirkungen aufgezeigt werden. Diese analytische Transformation bringt die Rechtsökologie in ihre „technologische Form“: eine Menge nomologischer Sätze wird in ein System von Aussagen übergeleitet, das Handlungsmöglichkeiten unter bestimmten (ausgewählten) Zielsetzungen darstellt.16 Bei der Erstellung des technologischen Modells, das mühsam organisiert und final ausgerichtet werden muss, ist es praktisch nicht möglich, jede individuelle Zielsetzung in eine adäquate technologische Form zu bringen und dabei noch die nahezu unendliche Mannigfaltigkeit der Bedingungen aller möglicher Entscheidungssituationen in ihre technologischen Systeme aufzunehmen. Da aber nicht jedes Mitglied des Rechtsstabs grundsätzlich ein anderes Wertsystem besitzt, sondern sich größere Gruppen finden lassen, die in ihren Zielvorstellungen weitgehend homogen sind, lassen sich technologische Systeme in Bezug auf „typische“ Zielsetzungen und Entscheidungssituationen konstruieren. Die Rechtsökologie kann – wie jede andere Rechtstheorie – so verfahren, sie muss es aber nicht. Es steht in der freien Entscheidung des Forschers, technologische Systeme nur an in einem Tei1bereich vorgefundenen Zie1setzungen oder Zielkonzeptionen auszurichten oder auch neue Zielvorstellungen zu entwickeln und Möglichkeiten zu ihrer Realisation zu untersuchen. Explikative Theorien in ihrer technologischen Form entlasten das einzelne Entscheidungssubjekt weder von der Verantwortung für die verfolgte Zielsetzung noch von der Verantwortung für die Realisierung einer alternativen Maßnahme zur Verwirklichung des angestrebten Zieles; sie können es auch aufgrund ihrer Zielsetzung nicht, wenn sie als informatives Instrument einer rational fundierten Möglichkeitsanalyse verwendbar sein sollen. Soll über rechtlich relevante Wirkungsmöglichkeiten im Hinblick auf ein mögliches Geschehen etwas ausgesagt werden, so setzt die Umformung empirischkognitiver Aussagen in technologische voraus, „daß bestimmte Desiderata hypothetisch unterstellt werden, d. h. in ihrer Geltung offengelassen werden, und (die 16 Vgl. R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214 (208).

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?

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R. W.) erfordert also nicht die Einführung expliziter Wertprämissen“17 als Vordersätze in den Deduktionszusammenhang, wie es bei normativen Systemen der Fall ist. Soweit die Rechtsökologie nicht nur informieren will, sondern Verhalten zu lenken beabsichtigt, ist sie gezwungen, die in technologischen Systemen lediglich hypothetisch unterstellten Desiderata zu normativen Prämissen umzufunktionieren. wenn sie nicht gegen die Logik der präskriptiven Sätze verstoßen will. Soll Verhalten normiert werden, kann auf Entscheidungen nicht verzichtet werden. Eine solche obligierende Entscheidung, die sich in einer normativen Aussage ausdrückt, fungiert als zusätzliche Prämisse, die erforderlich ist, um technologische Systeme in normative zu überführen und mit einem Verbindlichkeitsanspruch auszustatten, der ihnen vor der Transformation noch nicht zukam. Eine Transformation explikativer Systeme kann dem empirischen Gehalt der Aussagen nichts hinzufügen. Daher wäre es aus logischer Sicht aussichtslos, allein aus den kognitiven Aussagen der Rechtsökologie Verfahrensanweisungen, Verhaltensnormen, ethische Urteile ohne Zuhilfenahme präskriptiver Prämissen deduzieren zu wollen: Sofern in den Prämissen nicht zumindest eine präskriptive Prämisse enthalten ist, kann ein präskriptiver Schluss nicht abgeleitet werden. Die Normativierung technologischer Systeme überschreitet folglich den Bereich der explikativen Wissenschaft. Nicht mehr Informationen über mögliche Ansatzpunkte des Entscheidungsverhaltens und über seine Folgen stehen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses und werden als erreichbares Ziel angesehen, d. h. die Antwort auf die Frage nach dem: „Was ist und warum ist das so?“, und weiter nach dem: was kann man tun, wenn man dies oder jenes erreichen will?“, sondern auf die Entscheidungen selbst wird lenkend einzuwirken versucht, indem bestimmte Zielsetzungen und / oder die Wahl einer bestimmten Alternative empfohlen und ein davon abweichendes Verhalten negativ eingestuft werden. Rechtsökologie wird dann zum Streitfeld von Ideologien, deren jede behaupten kann, nur ihre Maximen seien Ausdruck „wissenschaftlicher Erkenntnis“. Mit dem Verzicht auf objektive Überprüfbarkeit der Aussagen wird die kritische Diskussion ihrer Grundlage beraubt und der Streit darüber. welche nicht-kognitiven Aussagen die Etikette „wissenschaftliche Erkenntnis“ beanspruchen dürfen und welche nicht, unentscheidbar. Ober diese Konsequenzen muss man sich im Klaren sein, will man die Antwort nach dem „richtigen Sollen“ selbst zur Aufgabe der Rechtsökologie machen.18 Hier wird deutlich, dass die „Definition“ von 17 H. Albert, Wissenschaft und Politik, in: E. Topitsch (Hrsg.), Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1960, S. 213; ders., Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S. 183. 18 Nicht zu bestreiten ist. dass die Wissenschaft eine moralische, nämlich normbezogene Grundlage („Basis“) besitzt. – Die Zielbestimmungen einer Theorie unterliegen auch einer moralischen Fragestellung. Relativ zu bereits akzeptierten Zielen lässt sich dann ein methodisch an diesen ausgerichteter Ausbau der Theorie durchführen. Darin liegt aber kein moralischer, sondern ein heuristischer Sinn. Hinsichtlich der individuellen Wahl der Zielerreichungsmittel entscheiden nur pragmatische Überlegungen.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Rechtsökologie nicht nur ein sprachlogisches Problem darstellt, sondern ebenso eine bestimmte methodologische Konzeption impliziert, von der her dann das Demarkationsproblem, die Abgrenzung von Wissenschaft und Ethik bzw. Politik zu lösen ist. Damit wird jedenfalls klar, dass sich die Rechtsökologie auf eine „aufklärende Funktion“ im Sinne einer strengen „Neutralität der Rechtstheorie“19 beschränken lässt. Untersucht sie z. B. Möglichkeiten der Umwertung soziokultureller Werte in der Umweltkrise, muss sie „Wege zur Umwertung“ keinesfalls „vorschreiben“.20 Vertritt man in diesem Sinne ein Deutungsmodell der Rechtsökologie, in dem der Erfahrung und dem logischen Argument die entscheidende Bedeutung zuerkannt wird, führt dies zu dem Ergebnis, dass eine explikative Rechtsökologie nicht zu lehren vermag, was man soll, sondern nur das, was man kann. Hier zeigt sich die Grenze, die dem theoretischen Wissen gezogen ist: Selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, sind damit die rechtsökologischen Handlungsprobleme noch nicht bewältigt. 2. Abschied vom Wertfreiheitsprinzip?

In der wissenschaftstheoretischen Diskussion ist die Möglichkeit rein technologischer Aussagensysteme mit unterschiedlichen, auch ethischen Argumenten bestritten worden. So meint Wegener, dass „die Unterstellung einer Zielsetzung als rein hypothetischer nur ein formaler Ausweg ist, der in der Praxis darum nicht gangbar ist, weil trotz der formalen Sicherung im Letzten doch immer wieder eine Stellungnahme und nicht nur eine Kenntnisnahme ins Spiel kommt“.21 Auf der gleichen Linie liegt etwa der Hinweis Fabers, dass die Wissenschaft „mit der Wahl ihrer Untersuchungsobjekte, mit der Zielsetzung ihrer Fragestellung sich vor Entscheidungen gestellt [sieht], die ihr – im Einzelnen häufig gar nicht bewußt – eine Parteinahme abverlangen“.22 Das Vermeiden heikler Untersuchungs19 J. Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie, in: Rechtstheorie 2 (1971), S. 95 ff.; dazu kritisch W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 216. 20 Schon die Hoffnung des 18. und 19. Jahrhunderts erfüllte sich nicht, die Aufklärung werde ein neues, auf die Ratio gegründetes Wertesystem herleiten. Nicht die Wissenschaft ist heute verantwortlich für den Grundkonflikt. der sich in der Frage zuspitzt, ob der Mensch als Lebewesen oder beispielsweise als Erwerbswesen Maß und Ziel der Raumordnung bzw. der Umweltplanung sei; vgl. dazu U. Probst, Polit-Ökologie. Zwischen Sozialpolitik und Utopie, Frankfurt am Main – Bern 1980, S. 66 ff., der die Wissenschaft versagen sieht, weil sie keine neue Wertordnung aufgestellt habe. Solche Reformen sind wohl kaum Sache des Wissenschaftlers. Beispiele wie „Entmythisierung des ungehemmten Wirtschaftswachstums“ (Mayer-Tasch) oder „Reprivilegierung der Realität (Mayer-Tasch) gehören als praktische, auf die moralische Legitimation einer Norm gerichtete Fragestellung in das Feld der praktischen Philosophie. 21 W. Wegener, Die Quellen der Wissenschaftsauffassung Max Webers und die Problematik der Werturteilsfreiheit der Nationalökonomie, Berlin 1962, S. 179. 22 Ch. Faber, Der Werturteilsstreit 1909 – 1959, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln – Berlin 1967, S. 176.

Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?

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themen bedeute ebenso wie ihre Inangriffnahme „in irgendeinem Sinne eine Parteinahme“.23 Von da ist der Weg dann nicht mehr weit bis zur der Frage nach dem cui bono, der Frage, ob bei der Verwendung explikativer Theorien zum Zwecke der Herstellung rein technologischer Systeme nicht die Gefahr bestehe, dass „eine – allzu willfährige – Gelehrsamkeit“24 die Wissenschaft zum Diener einer beliebigen“ Zielsetzung und zum Spielball der Interessenpolitik mache. Indes ist kein Grund ersichtlich, warum zu bestreiten sein sollte, dass auch bei rein hypothetisch unterstellten Zielsetzungen Stellungnahmen und Partei nahmen ins Spiel kommen, also bei der Problemwahl beispielsweise Wertungen vollzogen werden. Der normativ-ethische Hintergrund des theoretischen Wissens und seiner technologischen Transformation kann realistischerweise nicht bestritten werden. Hiermit jedoch ist nicht das Wissenschaftsideal der Wertfreiheit als methodisches Prinzip einer Rechtsökologie ins Abseits gestellt. Eine paradoxe Situation entsteht daraus nur für den, der zwischen den verschiedenen Ebenen der Wertproblematik nicht differenziert: Dass Normsetzungen25, Wertungen, Werturteile usw. in den Untersuchungsbereich der Rechtsökologie fallen und dass auch die Rechtsökologie einen mit Wertungen durchsetzten, vorwissenschaftlichen Hintergrund besitzt, erscheint unabweisbar. Weder das eine noch das andere für sich allein noch beides zusammen führen jedoch dazu, diese Wertungen als Prämissen im logischen Sinne zu formulieren und als individuelle und / oder überindividuelle Forderungssätze in Form normativer Prämissen (Axiome) mit zum Inhalt des objektsprachlichen Aussagensystems zu machen. Soweit trotz des Bemühens um wertfreie Gestaltung der Rechtsökologie sich unbewusste Wertungen einschleichen, ist gerade die Wertfreiheit selbst das methodisch-regulative Prinzip, um solche Wertungen leichter aufzuspüren. Die Art der Gestaltung des Aussagensystems hängt zwar auch von einer vorwissenschaftlichen Entscheidung und somit von Wertungen ab, nur hat diese mit der Frage der Wahrheit und dem damit zusammenhängenden Wertfreiheitsprinzip nichts zu tun. Das eine gehört in den Entstehungszusammenhang, das andere zum – wissenschaftslogisch primär interessierenden –Begründungszusammenhang einer Theorie bzw. Technologie. Die Bejahung einer moralischen Basis und einer wertfreien Technologie führt also nicht in ein Dilemma. Es bleibt grundsätzlich der Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers überlassen, ob er sich bestimmten Wertvorstellungen anpassen oder damit in Konflikt treten will. Ebd., S. 177. G. Weisser, Normative Wissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens, in: Soziale Welt 1956, S. 8. 25 Vgl. O. Weinberger, Die Norm als Gedanke und Realität, in: ÖZöR 20 (1970), S. 203 – 216; ders., Faktentranszendente Argumentation, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie VI 2 (1975), S. 235 – 251. 23 24

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Wie technologische Systeme dann in der Rechtspraxis und sonst in der Gesellschaft wirken, verwendet werden oder verwendet werden sollen, ist ein Problem, das bei ihrer Konstruktion noch nicht zu lösen ist. Technologische Analysen beabsichtigen selbst keine positive oder negative Wertung der unterstellten Ziele. Daher geht es im Bereich der Rechtsökologie – um es unmissverständlich hervorzuheben – nicht um eine ökologische Ethisierung des Rechts, die sich im Geflecht rechtlicher, staatlicher, ökonomischer und ökologischer Interessen bald in eine vage Industrie- und Zivilisationskritik verlieren müsste, sondern um eine ökonomisch-ökologisch orientierte, also problemspezifische rechtswissenschaftliche Disziplin für die umweltwesentlichen Rechtsbereiche der Gesamtgesellschaft wie des einzelnen Bürgers: Als kognitive oder Realwissenschaft kann Rechtsökologie nicht Ethik26, wohl aber Sozialtechnologie sein.27

26 Arbeitet man dagegen mit technologischen Satzsystemen, so erhält die Rechtsökologie eine Gestalt, die (auch) für jene Positionen akzeptabel erscheint, für die „ethische“ Sätze Scheinsätze darstellen. Vgl. dazu R. Carnap, Die logische Syntax der Sprache, 2. Aufl. Wien 1968, S. 204. 27 Zur Gegenposition vgl. kritisch-engagiert K.-H. Hillmann, Umweltkrise und Wertwandel, Frankfurt am Main / Bern 1981, S. 216: „Soll . . . Wissenschaft zur Lösung der Probleme der Umweltkrise und einer Steigerung der Lebensqualität beitragen, dann muß sie notwendige Umwertungen nicht nur erkennen, sondern auch empfehlen.“ Demgegenüber können m. E. die „kognitive“ Verfasstheit und Zuständigkeit von Wissenschaft durchaus beibehalten werden, sofern nur der Wissenschaftler die elementaren Bedingungen menschlich-sozialer Existenz innerhalb der jeweiligen Gesellschaft nicht unterschreitet; vgl. zu dieser Problematik W. Leinfellner, Wissenschaftstheorie und Begründung der Wissenschaften, in: G. Eberlein / W. Kroeber-Riel / W. Leinfellner (Hrsg.), Forschungslogik der Sozialwissenschaften, Düsseldorf 1974, S. 11 – 35 (28). Hier zeigt sich, wie unscharf die Grenze zwischen der wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Kompetenz in der heutigen wissenschaftstheoretischen Diskussion geworden ist. – Dass die technologische Problembehandlung den Wissenschaftler nicht zwingt, die wertfreie Gestaltung des objektsprachlichen Aussagensystems zugunsten einer normativen Wissenschaft zu verlassen, erscheint nach wie vor unwiderlegt.

Natur und Mensch Zur Ambivalenz rationaler Ressourcensteuerung im Rechtssystem* Dass die natürlichen Ressourcen der Erde endlich sind, dies ist ein ebenso unbezweifelbares wie für den Fortbestand der Menschheit existentiell bedeutsames Faktum. Die Natur selbst bedarf des Menschen nicht, vielmehr bedarf umgekehrt der Mensch zu seiner Existenz der Natur. Diese Situation ist der Grund für die Frage und die Suche nach einer politischen Steuerung des Umgangs mit den Ressourcen, kurz nach einem Ressourcenrecht. Da die natürlichen Lebensgrundlagen eine Voraussetzung für menschliches und menschenwürdiges Leben darstellen, ist es notwendig, sie in ihrer Funktionsfähigkeit um des Menschen willen zu erhalten. Die Menschen als einzelne sind nicht in der Lage, diese Aufgabe zu lösen. Daher ist es unabweisbar, dass der Staat die erforderlichen Maßnahmen zur Steuerung der natürlichen Ressourcen zu ergreifen hat. Bei solchen Regulationen ist zu beachten, dass sie nicht das verfassungsrechtlich determinierte Ziel demokratischer Selbstbestimmung und möglichst auch nicht die Ziele der daran orientierten Eigentums- und Wirtschaftsverfassung verhindern.1 Ressourcensteuerung darf nämlich nicht dazu führen, dass der einzelne Bürger unverhältnismäßig in seinen Freiheitsrechten beschränkt wird. Ebenso wenig darf sie zu einem defekten Wirtschaftssystem führen.2 Aus diesen Gründen haben Gesetzgebung und Verwaltung darauf zu achten, dass die Maßnahmen zur Steuerung der Ressourcen nicht im Rechtssinne unverhältnismäßig sind.3

* Erstveröffentlichung in: G. Frohberg / G. Leidig (Hrsg.), Der Mensch als Maßstab der Raumordnung? 1989, S. 127 – 156. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris: Lang. Forschungen der Europäischen Fakultät für Bodenordnung Bd. 10. 1 R. Weimar, Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozeß, in: B. B. Gemper (Hrsg.), Stabilität im Wandel, Festschrift für Bruno Gleitze, Berlin 1978, S. 525. Vgl. auch ders., Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomisch-ökologischen Zeitalter, in: W. Krawietz / R. Weimar (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften, Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 147. 2 Vgl. ders., Funktionalität, S. 524. 3 Ders., ebd.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

A. Die verfassungsrechtliche Legitimation des Ressourcenrechts: Ressourcensteuerung als Staatsaufgabe? Bei der Steuerung der natürlichen Ressourcen durch Regelunge, über rationelle Bewirtschaftung, Wiederherstellung gestörter und zerstörter Umweltverhältnisse, Abwehr von Gefahren und planvolle Gestaltung handelt es sich um ein langfristiges existenzielles Interesse. Grund ist, dass der Mensch für seine biologischphysjsche Existenz und als soziales Wesen auf die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen angewiesen ist. Infolge zunehmender Verknappung und Schädigung der natürlichen Ressourcen durch die moderne zivilisatorische Entwicklung stellt sich ihre Steuerung, vor allem im Hinblick auf künftige Generationen, als grundlegende und vorrangige Aufgabe dar.4 Diese Problematik kann wegen ihrer Komplexität nur durch ein gesamtgesellschaftliches Handeln in allen relevanten gesellschaftlichen Teilsystemen (wirtschaftliches, kulturell-erzieherisches und politisches System) bewältigt werden. Es ist daher der Staat, der einen wesentlichen Beitrag zu dieser Aufgabe zu leisten hat.5 Nur er kann diesen Beitrag auch tatsächlich leisten. Vorab ist zu fragen, welche Aussagen die Verfassung des Bonner Grundgesetzes zum Problem der Ressourcensteuerung trifft. Dazu soll untersucht werden, ob es „ressourcenrechtliche Normen“ im Grundgesetz gibt, ob das Grundgesetz die öffentliche Aufgabe „Ressourcensteuerung“ legitimiert oder gar gebietet, welche Schranken dem Ressourcengesetzgeber durch die Verfassung gezogen sind und schließlich, ob eine Verankerung der Ressourcensteuerung im Grundgesetz nötig ist und – bejahendenfalls – in welcher Weise dies geschehen könnte.

I. Regelungen im Grundgesetz Dem Grundgesetz sind Wort und Begriff Ressourcensteuerung unbekannt. Dies lässt sich daraus erklären, dass zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes das Problem der Ressourcenverknappung und -schädigung kein brisantes und damit auch kein interessantes Thema war. Zu dieser Zeit galt es als vordringlich, verfassungsrechtliche Vorsorge dafür zu treffen, dass ein Rückfall in totalitäre Staatsformen möglichst ausgeschlossen werden konnte.6 Dennoch gibt es einzelne ressourcenwesentliche Verfassungsbestimmungen. 4 Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission, Bonn 1983, S. 90. 5 Dazu vor allem H. Steiger, Verfassungsrechtliche Grundlagen, in: J. Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, Berlin 1982, S. 21 (25). 6 Vgl. P. C. Mayer-Tasch, Ökologie und Grundgesetz, Frankfurt am Main 1980, S. 9.

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1. Konkurrierende Gesetzgebung

Aus dem Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung gehören folgende Bestimmungen zu den ressourcenrechtlichen Verfassungsbestimmungen: Art. 74 Nr. 1, 11, 11a, 17, 18, 19, 20, 21, 22 und 24 GG. In diesen Bestimmungen werden jeweils Aussagen über ressourcenrechtliche Teilgebiete gemacht.7 So ist es dem Bund im Rahmen der Zuständigkeit für das bürgerliche Recht (Art. 74 Nr. 1) möglich, das privatrechtliche Nachbarrecht, insbesondere zum Schutz gegen Immissionen, zu regeln, wie es in §§ 906, 907, 1004 und 823 BGB bereits geschehen ist.8 Auch das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Nr. 11) mit Teilbereichen wie Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft etc. hat ressourcenrelevante Bedeutung. Da es umfassend zu verstehen ist, also auch Regelungen der Produktion und Vermarktung einschließt, um fasst es auch ressourcenspezifische Regelungen dieser Vorgänge. Dabei kann es sich z. B. um Schutz vor Strahlen oder Erschütterungen handeln, aber auch um Kontrollen von Produkten hinsichtlich ihrer Wirkungsweise (Chemikalien, Asbest u. a.)9. Ferner kommt der Bestimmung über Erzeugung und Nutzung der Kernenergie (Art. 74 Nr. 11a), in der sowohl Errichtung und Betrieb solcher Anlagen als auch der Schutz vor deren Gefahren angesprochen sind, ressourcenrechtliche Relevanz zu. Von Bedeutung ist auch die Bestimmung des Art. 74 Nr. 17 GG, in der Teilgebiete wie die Sicherung der Ernährung, die Ein- und Ausfuhr land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse sowie die Hochsee- und Küstenfischerei und der Küstenschutz erwähnt sind. Erhebliche Bedeutung besitzt sodann das Bodenrecht (Art. 74 Nr. 18), dessen Regelungen zwangsläufig mit Auswirkungen auf die natürliche Umgebung verbunden sind. In Ziff. 19 und 20 des Art. 74 GG ist der Schutz beim Verkehr mit Giften, mit Lebens- und Genussmitteln, mit Bedarfsgegenständen sowie mit land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzengut erwähnt. Auch der Bereich der Hochsee-, Küsten- und Binnenschifffahrt (Art. 14 Nr. 21) ist ressourcenrechtlich wichtig. Aber auch der Ausbau von Wasserverkehrswegen (Kanäle) ist bedeutsam, da hiermit ebenfalls nicht unbedeutende Eingriffe in Natur und Landschaft verbunden sind. Schließlich ist im Zusammenhang mit dem Ressourcenrecht auch die Regelung des Straßenverkehrs, des Kraftfahrzeugwesens sowie des Fernstraßenbaus (Art. 74 Nr. 22) zu beachten. 7 8 9

Vgl. P.-Chr. Storm, Umweltrecht, Berlin 1980, S. 33. Vgl. H. Steiger, Begriff und Geltungsebenen des Umweltrechts, in: Salzwedel, S. 51. Vgl. Steiger, S. 51.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Von erheblicher ressourcenrechtlicher Relevanz sind schließlich Regelungsmaterien wie Abfallbeseitigung und Luftreinhaltung.

2. Rahmengesetzgebung

Auch Art. 75 GG enthält ressourcenrechtlich relevante Verfassungsbestimmungen.10 So werden in Art. 75 Nr. 3 GG das Jagdwesen-, der Naturschutz und die Landschaftspflege genannt und in Art. 75 Nr. 4 GG die Bodenverteilung, die Raumordnung und der Wasserhaushalt. Da die genannten Kompetenzbestimmungen (Art. 74 und Art. 75 GG) eine inhaltlich zweckhafte Ausrichtung haben, wie z. B. Luftreinhaltung, Naturschutz, Sicherung der Ernährung usw. kann darin die Absicht des Verfassungsgebers gesehen werden, Aufgaben festzulegen, die vom Staat wahrzunehmen sind.11 Ferner erhalten einige Grundrechte aufgrund der Erweiterung ihres traditionellen Anwendungsbereichs ressourcenrechtliche Relevanz.12 Es muss aber betont werden, dass es sich hierbei nicht etwa um „Grundrechte auf Ressourcensteuerung“ handelt. Zu den in diesem Sinne ressourcenrechtlich relevanten Grundrechten sind insbesondere die Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 14 GG zu zählen. 3. Achtung und Schutz der Menschenwürde

Da die Rechtsordnung beruht, ist es gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG oberstes Ziel des Staates,13 die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Vor allem die Erfahrung mit dem nationalsozialistischen Regime und seinen schweren Angriffen auf die Menschenwürde hatte den Verfassungsgeber veranlasst, die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen zu erklären und sie im Grundgesetz als oberste Wertentscheidung zu verankern.14 Im Unterschied zur nationalsozialistischen Zeit, wo Angriffe auf die Menschenwürde offensichtlich waren (Erniedrigung, Verfolgung), hat sich der Anwendungsbereich des Schutzes der Menschenwürde unter der Geltung des Grundgesetzes subtil verlagert:15 Eine Isolierung des ethischen Wertgehalts der Menschenwürde von den konkreten ökoloVgl. Storm, S. 33. Vgl. U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff, München 1972, S. 325 (338). 12 Vgl. M. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, Berlin – New York 1978, S. 27 f. 13 Vgl. A. Hamann / H. Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 3. Aufl., Neuwied 1970, S. 126. 14 Vgl. A. Herdemerten, in: I. v. Münch (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, Art. 1 Rdnr. 1. 15 Ebd., Rdnr. 2. 10 11

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gischen Lebensbedingungen, die maßgeblich gerade von den natürlichen Ressourcen abhängig sind, erscheint seit langem nicht mehr sachgerecht.16

4. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

a) Schutzgüter Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gibt jedem ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wobei Leben zunächst in biologischem Sinne zu verstehen ist.17 Dass danach „Tötung im Namen der Menschenwürde“ (Geisteskranke, Alte, Schwerverletzte usw.) unzulässig ist,18 erscheint selbstverständlich. Aber Leben im biologischen Sinne setzt grundsätzlich auch bestimmte Bedingungen als notwendig voraus. So braucht der Mensch Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken und Nahrung, um seinen Hunger zu stillen. Versteht man unter Leben menschenwürdiges Leben, so erweitern sich diese notwendigen Voraussetzungen noch z. B. um angenehme Wohnverhältnisse, eine möglichst intakte Natur, in der sich Pflanzen und Tiere befinden usw. Körperliche Unversehrtheit ist zunächst ebenfalls biologisch-physiologisch zu verstehen, da sie die körperliche Gesundheit erfasst.19 Geschützt werden sollen der Körper und seine Organe in ihrem natürlichen Zustand sowie in ihren natürlichen Funktionen und auch in ihrem Wohlbefinden. Als Schutzgut ist aber auch das psychische Befinden des Menschen anzusehen, da der Mensch als eine Einheit von Geist, Seele und Körper zu verstehen ist und sich körperliche und psychische Einwirkungen in gegenseitiger Wechselwirkung bedingen.20 Auch die körperliche Unversehrtheit ist sowohl vom Zustand und Vorhandensein der natürlichen Ressourcen als auch vom Zustand der künstlichen Umwelt abhängig. Dass die körperliche Unversehrtheit durch Verschmutzung von Luft und Wasser, durch Strahlen oder schlechte Wohnverhältnisse gefährdet oder geschädigt werden kann, ist offensichtlich. b) Funktionen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährt dem einzelnen Bürger das subjektive öffentliche Recht auf Unterlassung von Eingriffen in die Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit, von Seiten des Staates.21 16 17 18 19 20 21

Ebd., Rdnr. 22. Vgl. H. Steiger, Mensch und Umwelt, Berlin 1975, S. 33. Vgl. A. Hamann / A. Lenz, S. 144. Vgl. ebd. Vgl. Kloepfer, S. 28. Vgl. Steiger, S. 33.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Mit diesem Anspruch auf Unterlassung staatlicher Eingriffe, der entsprechend auch den anderen Grundrechten zugrunde liegt, wird die Funktion der Grundrechtsbestimmungen, nämlich die Freiheit durch „Abwehr“ zu verwirklichen, gesichert. Im Allgemeinen sollen unmittelbare Eingriffe abgewehrt werden, aber Leben und körperliche Unversehrtheit können ebenso mittelbar geschädigt werden: Über Eingriffe in die natürlichen Gegebenheiten.22 Eingriffe solcher Art gerade von Seiten des Staates sind freilich selten, die meisten Eingriffe und Schädigungen gehen von Privaten aus. Da die Grundrechte keine unmittelbare Drittwirkung haben, d. h. der Unterlassungsanspruch nur gegenüber dem Staat .geltend gemacht werden kann, ist es nur möglich, den Schutz, den Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährt, in Anspruch zu nehmen, wenn zu der Abwehrfunktion der Grundrechte eine andere Funktion hinzukommt, nämlich die Schutzfunktion durch den Staat gegenüber Privaten.23 Diese Funktion ist heute allgemein anerkannt. Damit kommt den Grundrechten ein subjektiv-rechtlicher Gehalt zu, woraus dem Staat die Pflicht erwächst, die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG genannten Güter vor Eingriffen Dritter zu bewahren.24 Begründet werden kann diese Schutzfunktion damit, dass der Mensch im Zuge der industriell-technischen Zivilisation in Lebensumstände gebracht worden ist, die er allein meist nicht mehr zu beeinflussen, geschweige denn zu beherrschen vermag. Damit erhält auch die bestehende Funktion des Staates, seine Bürger vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen, durch die Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine normative Konkretisierung25 (im ressourcenrechtlichen Sinne). 5. Das Eigentum

Art. 14 GG schützt das Eigentum In unserem Zusammenhang ist vor allem solches Eigentum von Bedeutung, das gegen Einwirkungen aus der Umwelt geschützt werden muss (z. B. Waldgrundstücke). Was die Funktionen betrifft, gilt das gleiche, wie es schon für Art. 2 Abs. 2 Satz 1 erörtert worden ist. Art. 14 gibt folglich dem einzelnen Bürger nur dann ein unmittelbares Abwehrrecht, wenn der Staat selbst in das Eigentum eingreift. Soweit es darum geht, Eingriffe Privater abzuwehren, stellt wiederum die Schutzfunktion die Grundlage für staatliches Handeln dar. Dennoch bestehen Ansprüche erst jenseits der Grenze der „Sozialpflichtigkeit“. Das bedeutet, dass vom Betroffenen u. U. verlangt werden kann, negative Einwirkungen, wie z. B. Nutzungsänderungen seines Grundstückes, hinzunehmen.26 22 23 24 25 26

Vgl. Steiger, S. 32. Vgl. ebd. Ebd., S. 32 f. Steiger, S. 33. Vgl. ebd., S. 45.

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Auf der anderen Seite kann aus Gründen der Ressourcenschonung die Nutzung des Eigentums, insbesondere des Grundeigentums, Schwankungen unterworfen sein. In der Regel werden heute Nutzungen, von denen negative Einwirkungen auf die natürlichen Gegebenheiten ausgehen, Genehmigungen unterworfen oder gar verboten.27 II. Die verfassungsrechtliche Absicherung der Staatsaufgabe „Ressourcensteuerung“ Ihre verfassungsrechtliche Absicherung findet die Ressourcensteuerung als öffentliche Aufgabe in einer entsprechenden Interpretation des Sozialstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Pflicht des Staates, nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 die Würde des Menschen zu schützen, die die geschilderte Problematik berücksichtigt.28 Zutreffend führt Schick29 in diesem Zusammenhang aus: „Beide Rechtsgrundsätze haben zwar in einer anderen historischen Situation ausdrücklich fixiert, in erster Linie andere Gefährdungssituationen im Auge. Die „Fortschreibung“ ihres Schutzbereiches zur Abwehr neuer Gefährdungen ist jedoch möglich und notwendig. Zur Begründung dieser Aussage soll im Folgenden der Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip näher untersucht werden.

1. Historische Entwicklung der Sozialstaatlichkeit

Ausgangspunkt der Sozialstaatlichkeit war die soziale Frage des 19. Jahrhunderts30, die sich im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung entwickelt und die zu einer zunehmenden Verelendung und Verproletarisierung breiter Volksschichten geführt hatte. Um dieser Entwicklung zu begegnen, kam es zunächst zu einer Absicherung der Arbeitermassen gegen die wichtigsten Ursachen sozialer Unsicherheit (Krankheit, Unfall, Tod). Dieser Sicherungsgedanke hat zweifelsohne Eingang in das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gefunden. Deutlich wird dies vor allem daraus, dass in Literatur und Rechtsprechung oftmals Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“ oder ähnliche Formulierungen im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip verwendet werden.31 Ebd., S. 45. Vgl. W. Schick, die Verfassungs- und Gesetzesordnung der Bundesrepublik vor den Aufgaben des Umweltschutzes, in: H. C. Recktenwald (Hrsg.), Das Umweltproblem aus ökonomischer und juristischer Sicht, Abhandlungen zu den wirtschaftlichen Staatswissenschaften, Bd. 10, Göttingen 1975, S. 54. 29 Ders., ebd. 30 Dazu E. R. Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft, in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 589 (596). 31 Vgl. R. Herzog, in: Th. Maunz / G. Düring / R. Herzog / R. Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, München, 18. Lieferung 1980, Art. 20 Rdnr. 10. 27 28

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Eine andere Komponente, die ebenfalls zum Themenbereich der Sozialstaatlichkeit gehört, ist die Daseinsvorsorge, die sich ihrem Gegenstand nach vor allem auf sozio-ökonomische Infrastrukturleistungen bezieht (z. B. Energieversorgung, Bildung).32 Mit der oben dargestellten Form der Sozialpolitik hat diese Infrastrukturpolitik gemein, dass der jeweilige Zustand der Gesellschaft nicht als statisch angesehen wird; vielmehr wird immer versucht, die jeweilige Situation zu verbessern. Während die Sozialpolitik zumindest in ihrem Kern darauf abzielt, soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die die Gesellschaft selbst produziert hat und die sie nicht selbst beheben kann, zielt die Infrastrukturpolitik darauf ab, die Gesellschaft und insbesondere die Wirtschaft fortzuentwickeln und ihre Existenzchancen zu verbessern.33 Da diese Weiterentwicklung mit riesigem Kapitalaufwand verbunden ist, wurde in den letzten Jahren nicht nur die Daseinsvorsorge, sondern eine allgemeine Wachstumsvorsorge als Aufgabe des modernen Staates Postuliert.34 Diese Ansätze stehen in Zusammenhang mit der in diesem Zeitraum immer wichtiger gewordenen Überzeugung, dass der Staat, nicht wie im Liberalismus, nur für die innere und äußere Sicherung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder zu sorgen hat, sondern dass er sie aktiv zu gestalten hat.35

2. Inhalt und Wirkung des Sozialstaatsprinzips

Nach Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein „sozialer Bundesstaat“. Der Begriff „Sozialstaat“ wird Im Grundgesetz nicht verwendet, allerdings wird auch der Begriff des „sozialen Bundesstaates“ nicht näher expliziert. Vielmehr ist das Prinzip der Sozialstaatlichkeit durch das Grundgesetz einfach den anderen Staat gestaltenden Prinzipien der Verfassung (Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit, Demokratie) hinzugefügt worden. Trotzdem enthält das Prinzip der Sozialstaatlichkeit eine der wichtigsten verfassungsrechtlichen Grundsatzaussagen, dessen inhaltliche Konkretisierung freilich erhebliche Probleme bereitet.36 Sein Inhalt ist nicht als allgemein feststehend anzusehen. Die Sozialstaatlichkeit zielt vor allem auf gerechte Verteilung von Gütern und Chancen durch den Staat und dient dazu, den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) materiell zu konkretisieren.37 Hauptzweck der Sozialstaatlichkeit ist die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Die Verwirklichung dieses Zwecks stellt eine im32 33 34 35 36 37

Vgl. ebd., Rdnr. 12 f. Ebd., Rdnr. 13 f. Ebd., Rdnr. 14 f. Vgl. ebd., Rdnr. 7. Vgl. etwa M. Kloepfer / M. Malorny, Öffentliches Recht, 2. Aufl., Düsseldorf 1979, S. 43. Vgl. R. Weimar / P. Schimikowski, Grundzüge des Wirtschaftsrechts, München 1983, S. 42.

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mer wiederkehrende Aufgabe dar,38 weil das Grundgesetz die Verhältnisse, in denen sich die Gesellschaft befindet, nicht als statisch ansieht, sondern davon ausgeht, dass die Verhältnisse in vielen Bereichen verbessert werden müssen.39 Ziel der Sozialstaatlichkeit ist es, die Interessen aller Bürger auszugleichen, um auf diese Weise eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Lasten, aber auch des Wohles zu erreichen.40 In diesem Sinne richtet sich der Gestaltungsauftrag der Sozialstaatsklausel auf den Abbau sozialer Ungleichheit, den Schutz der sozial und wirtschaftlich Schwächeren.41 Des Weiteren spielt für die inhaltliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips auch der Industriestaat eine erhebliche Rolle, dessen Bevölkerung immer mehr von der Lebensvorsorge des Staates abhängig wird. Diese Vorsorge zielt nicht nur darauf ab, unmittelbare Not zu beseitigen, sie sorgt auch für wachsenden Wohlstand.42 Insoweit kann die heutige Tragweite der Sozialstaatsklausel nicht mit dem Inhalt identisch gesetzt werden, den etwa ihre Schöpfer ihr noch beigelegt hatten. In nahezu vier Jahrzehnten hat sie nicht nur durch die Verfassungspraxis, insbesondere durch die Fortentwicklung der Grundrechte, sondern ebenso durch die Konsolidierung der sozialen Grundbedürfnisse in der Gesellschaft festere und zum Teil andere Konturen erreicht – ein Faktum, das die Verfassungsinterpretation zu berücksichtigen hat.43 Obwohl das Sozialstaatsprinzip keinen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat enthält, der vom einzelnen Bürger eingeklagt werden kann, verpflichtet es doch als Staatszielbestimmung vor allem Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, das Leitprinzip der „sozialen Gerechtigkeit“ bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen.44 Da der Gesetzgeber durch das Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist, den Sozialstaatsgedanken zu verwirklichen, ergibt es sich, dass der Staat nunmehr auch in Bereiche einzugreifen hat, die früher von staatlicher Seite unbeeinflusst blieben.45 Dadurch wirkt sich das Sozialstaatsprinzip auch auf die Freiheitsrechte aus: „Es verbietet Perversionen der Freiheitsrechte zu Sicherungen der Unfreiheit durch Vernachlässigung der sozialen Machtverhältnisse.“46 38 J. Müller-Volbehr, Sozialverfassung, Sozialpolitik und Sozialreform, ZRP 1984, S. 262 (264). 39 Vgl. Weimar / Schimikowski, S. 42. 40 Vgl. ebd. 41 So F. E. Schnapp, in: I. v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., München 1981, Art. 20 Rdnr. 18. 42 Vgl. Weimar / Schimikowski, S. 43. 43 Weimar / Schimikowski, S. 43. 44 Dies., ebd. 45 Vgl. ebd., S. 44. 46 E. Stein, Staatsrecht, 7. Aufl., Tübingen 1980, S. 71.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses 3. Folgerungen für die Ressourcensteuerung als öffentliche Aufgabe

Wie dargelegt, zielt das Sozialstaatsprinzip darauf ab, die kollektiven Lebensbedingungen der Bürger zu erhalten.47 Hierzu gehören in erster Linie die traditionellen Bereiche wie der der Sozialordnung im Sinne sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit sowie die Daseinsvorsorge.48 Darüber hinaus ist heute die Ressourcensteuerung als Bestandteil der Erhaltung kollektiver Lebensbedingungen anzusehen. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens ist der Mensch auf eine bestimmte (Mindest-)Beschaffenheit von Luft, Wasser und Boden sowie auf Pflanzen und Tiere angewiesen. Zweitens sind die sozialen Lebensvoraussetzungen des Menschen von den nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen abhängig. Aus dieser doppelten Abhängigkeit ergibt sich, dass die Ressourcensteuerung nach dem Sozialstaatsprinzip als eine verfassungsrechtlich legitimierte Staatsaufgabe zu begreifen ist.49 Hinzu kommen die bereits erwähnten grundrechtlichen Komponenten der Ressourcensteuerung, wonach die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten sind, um Leben und körperliche Unversehrtheit der Menschen sowie generell ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten zu können. Wenn der Staat überhaupt Aufgaben hat, dann gehört dazu, dass er die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens schützt. Dazu bedarf es keiner weiteren verfassungsrechtlichen Begründung als des Hinweises auf die Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip.50 Kommt es zu Konflikten zwischen der Aufgabe der Ressourcensteuerung und anderen staatlichen Aufgaben (z. B. Wachstumsvorsorge),51 muss zwischen den widerstreitenden Zielen abgewogen werden. Zwar kann es in bestimmten Fällen durchaus als richtig erscheinen, anderen Aufgaben gegenüber der Ressourcensteuerung den Vorrang einzuräumen, doch darf ein solcher Entschluss erst nach sachgerechter Abwägung gefasst werden. Gerade die Notwendigkeit also, solche Zielkonflikte zu lösen, macht deutlich, dass der Staat legitimiert sein muss, die Aufgabe der Ressourcensteuerung aufzugreifen.52 Indes lässt sich aus den genannten Verfassungsbestimmungen kein konkreter Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber ableiten. Daraus ergibt sich, dass das Grundgesetz den Gesetzgeber zwar berechtigt, ihn aber nicht verpflichtet, die neue 47 Vgl. H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Kronberg / Ts. 1977, S. 241. 48 Vgl. E. Stein, S. 70. 49 H. P. Tschudi, Der Sozialstaat im gesellschaftlichen Wandel, in: G. Müller / R. A. Rhinow / G. Schmid / L. Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel – Frankfurt am Main 1982, S. 107 (117). 50 So zutreffend Bull, S. 224. 51 Vgl. Storm, S. 33. 52 Vgl. ebd. Zum Folgenden ebd., S. 34. Vgl. auch D. Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, DÖV 1979, S. 786 (786).

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Aufgabe „Ressourcensteuerung“ wahrzunehmen. Unabhängig hiervon steht es dem Einzelnen selbstverständlich offen, sich bei staatlichen Maßnahmen, die die natürlichen Ressourcen beeinträchtigen, auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beziehungsweise Art. 14 GG zu berufen,53 soweit er selbst in seinen Grundrechten verletzt ist.

III. Verfassungsrechtliche Schranken der Ressourcengesetzgebung Der Ressourcengesetzgebung werden durch die Verfassung Grenzen gesetzt, die sich aus den Freiheitsrechten des einzelnen Bürgers, den Staatsfundamentalnormen und allgemeinen Verfassungsprinzipien ergeben. So heißt es in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten.“ Und Art. 19 Abs. 2 schreibt vor, dass „in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf. Folglich sind im Spannungsverhältnis zwischen der staatlichen Ressourcensteuerung und gesellschaftlichen Freiheit nur dann entsprechende Maßnahmen zulässig, wenn diese sich im Rahmen der Verfassungsordnung halten und insbesondere geeignet, erforderlich und verhältnismäßig erscheinen, um das vorgegebene Ziel zu erreichen.54 In keinem Fall darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist.55 1. Formale Schranken

Zunächst wird der Bundesgesetzgeber insoweit durch die Verfassung eingeschränkt, als er die aufgrund des Bundesstaatsprinzips gegebene Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern zu beachten hat.56 Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. 2. Materielle Schranken

Inhaltlich werden dem Ressourcenrecht durch die Grundrechte, die in der Regel zwar einschränkbar, ihrem Wesensgehalt nach aber unantastbar sind, und durch das Rechtsstaatsprinzip Grenzen gezogen. Im Zusammenhang mit dem Ressourcenrecht werden insbesondere folgende Grundrechte betroffen: die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und schließlich die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG). Weimar / Schimikowski, S. 216. Storm, S. 34. 55 Vgl. etwa E. v. Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, Schriften des Öffentlichen Rechts, Bd. 19, Berlin 1965, S. 63. 56 Dazu etwa Storm, S. 35. 53 54

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Es ist darauf hinzuweisen, dass alle Grundrechte auch dort unter dem Gemeinwohlvorbehalt stehen, wo sie keinen ausdrücklichen Vorbehalt aufweisen.57 Der Gemeinwohlvorbehalt ist exemplarisch in Art. 2 Abs. 1 GG formuliert. Dort heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er. nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Da die Maßnahmen der Ressourcensteuerung grundsätzlich dem Gemeinwohl dienlich sind, verletzen sie die Grundrechte im Zweifel nur dann, wenn ungeeignet oder willkürlich sind. So wächst bei zunehmenden Maßnahmen der Ressourcensteuerung vor allem die Inpflichtnahme des Eigentums zugunsten der Allgemeinheit. Als Beispiele können hier genannt werden die Pflegepflicht für Grünflächen und die Eliminierung des Bleigehalts in Kraftstoffen. Aus Gründen der Ressourcensteuerung werden also dem Eigentümer gewisse Schranken bei der Nutzung seines Eigentums auferlegt, die so lange entschädigungslos hinzunehmen sind, wie sie nicht gegen die oben genannten Grenzen verstoßen. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.58 Dennoch kann der Gesetzgeber eine Entschädigung gewähren oder durch Setzung von Fristen einen möglichst reibungslosen Obergang schaffen. Erst wenn Eingriffe des Staates über die Sozialbindung des Eigentums hinausgehen, bedarf es einer Entschädigung, die unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen ist.59 Auch Bestimmungen, die Aussagen darüber machen, wie ein Beruf oder ein Gewerbe Ressourcen schonend auszuüben ist, sind mit Art. 12 GG vereinbart: Soweit Art. 14 GG das Eigentum und Art. 12 GG die Erwerbstätigkeit schützen, bleibt für die Anwendung der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG nur als „Auffangrecht“ Raum. Das bedeutet etwa, dass für Handlungen, die sich nicht unter Art. 12 GG subsumieren lassen, Art. 2 Abs. 1 GG Anwendung findet.60 Schließlich werden der Ressourcengesetzgebung durch das Willkürverbot Schranken gesetzt; eine willkürliche Maßnahme kann schon dann vorliegen, wenn sie im Verhältnis zur regelnden Problematik objektiv unangemessen ist.61

57 58 59 60 61

Vgl. ebd., S. 37. Art. 14 Abs. 2 GG. Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG. Vgl. Weimar / Schimikowski, S. 33. Vgl. ebd., S. 34.

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IV. Verfassungsrechtliche Festschreibung der Ressourcensteuerung? 1. Gründe für eine Verankerung in der Verfassung

Eine ökologisch befriedigende Steuerung der natürlichen Ressourcen ist im geltenden Verfassungsrecht nicht gewährleistet. Insbesondere sind die Kompetenznormen der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung sowie die auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 14 GG gestützten Schutzpflichten in ihrem sachlichen Schutzbereich begrenzt.62 Von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG werden die Vernichtung und Gefährdung menschlichen Lebens und Beeinträchtigungen und Gefahren für die menschliche Gesundheit erfasst. Der Schutz des Eigentums erfasst insbesondere Grundstücke im Privateigentum und Gewässer. Aus der Konzeption der Privatnützigkeit, die den Schutz öffentlichen Eigentums sowie übergreifender Funktionen des Eigentums ausschließt, werden dem Schutz des Eigentums erhebliche Schranken gesetzt.63 Daraus resultieren nicht unbedeutende Steuerungslücken. So finden etwa der Schutz öffentlichen Bodens und öffentlicher Gewässer, die Erhaltung der Artenvielfalt und des Klimas, die Erholung und ästhetische Werte, globale Faktoren sowie der Schutz des Lebens zukünftiger Generationen und ihrer Gesundheit keine entsprechende Berücksichtigung. Dass mit Hilfe des Sozialstaatsprinzips diese Lücken geschlossen werden können, ist zu bezweifeln. Ein weiterer Grund, der für eine Verankerung im Grundgesetz spricht, ist in der Möglichkeit zu sehen, dass das allgemeine Interesse an der Ressourcensteuerung z. B. in der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung zugunsten kurzfristiger oder stärker sichtbarer Interessen zurückgestellt wird.64 Für eine verfassungsrechtliche Verankerung sprechen auch die erhebliche zeitliche Verzögerung der Umwelteinwirkungen und damit die Verlagerung auf künftige Generationen, die fehlende Sichtbarkeit vieler Umwelteingriffe und die Schwierigkeit, eintretende Schäden (aber auch Nutzen von Ressourcensteuerungsmaßnahmen) in Geldeinheiten auszudrücken. Dementsprechend bestehen Steuerungslücken oder Steuerungsdefizite etwa hinsichtlich von Alt-Chemikalien, überregionaler und globaler Wirkungen von Luftverunreinigungen, der atomaren Entsorgung, des Bodenschutzes, des Landverbrauchs sowie des Schutzes des Wassers. Inhaltliche Mängel der bestehenden Regelungen liegen generell darin, dass sich die staatlichen Maßnahmen in erster Linie auf die Bekämpfung aufgetretener Symptome richten, sich jedoch notwendiger struktureller Eingriffe enthalten.65 62 63 64 65

Vgl. Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), S. 48. Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 91. Zu dieser Frage vgl. ebd. Ebd., S. 92.

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Bedenken gegenüber einer Verankerung der Umweltvorsorge (im Sinne von Ressourcensteuerung) im Grundgesetz äußert z. B. Storm.66 Er befürchtet, dass durch eine solche ausdrückliche Festschreibung auch in anderen Politikbereichen die Tendenz zunimmt, in die Verfassung aufgenommen zu werden; weiter führt er an, dass die hier angesprochene Materie auch bisher ohne verfassungsrechtliche Verankerung ausgekommen ist. Beiden Argumenten kommt m. E. kein entscheidendes Gewicht zu. Ich kann das hier nicht im Einzelnen ausführen, sondern nur andeuten. Im Folgenden sollen demgegenüber Zwei Möglichkeiten dargestellt werden, wie die Ressourcensteuerung in der Verfassung verankert werden könnte. Gemeint ist zum einen die Einfügung eines Grundrechts für jedermann auf „Steuerung der natürlichen Ressourcen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens“, zum anderen die Einführung einer Staatszielbestimmung, die die natürlichen Ressourcen unter den besonderen Schutz der Verfassung stellt.67

2. Die grundrechtliche Lösung

Klar ist, dass ein „Ressourcengrundrecht“ in der Verfassung nicht existiert, dass sich ein solches Grundrecht auch nicht aus einzelnen Grundrechten ableiten lässt, und dass damit noch kein Urteil über die rechtspolitische Wünschbarkeit eines solchen neuen Grundrechts gefällt ist.68 Vielmehr muss einer Bewertung notwendigerweise eine Abwägung der Vor- und Nachteile der Einführung eines solchen Grundrechts vorausgehen. a) Vorteile der Einführung eines neuen Ressourcengrundrechts Mit Einführung eines solchen Grundrechts könnte allen Bürgern verdeutlicht werden, dass Staat und Verfassung sich wichtigen ökologischen Anliegen nicht verschließen. Auch ein gewisser Impulseffekt, der das Bewusstsein der Bevölkerung hinsichtlich der Ressourcenproblematik stärkt, kann einem solchen Grundrecht kaum abgesprochen werden. Unwahrscheinlich bleibt es aber wohl, dass dadurch die entscheidende Bewusstseinslücke, nämlich der Umstand, selbst Ressourcenschädiger zu sein, kompensiert werden kann.69 Immerhin könnte ein solches Grundrecht in nicht unerheblichem Maße als Abwägungs- und Auslegungshilfe fungieren. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass durch die Einführung eines entsprechenden Ressourcengrundrechts das oft beklagte Vollzugsdefizit in diesem Bereich, wenigstens teilweise, beseitigt werden kann, „weil es nicht zuletzt in Form 66 67 68 69

Storm, S. 39 f. Weimar / Schimikowski, S. 216. Vgl. zum Ganzen nur Storm, S. 34. Vgl. M. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, Berlin – New York 1978, S. 34.

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von daran knüpfenden Klagemöglichkeiten von Verfassungs wegen zusätzliche individuelle Rechterzwingungspositionen schafft“.70 b) Nachteile der Einführung eines neuen Ressourcengrundrechts Ein Nachteil der hier erörterten Verfassungsänderung dürfte in der Unsicherheit ihrer Effizienz liegen. Man hat es hier mit notwenigerweise weiten, konkretisierungsbedürftigen und häufig schwer justitiablen Formulierungen zu tun. Vor allem ist zweifelhaft, ob und wie sich die sozial-grundrechtliche Dimension eines solchen Grundrechts im Rahmen der geltenden Wirtschafts- und Ressourcenrechtsordnung soll realisieren lassen können. Es scheint dies nur dort möglich zu sein, wo ausschließlich der Staat selbst über die natürlichen Ressourcen verfügen kann. Auch wird sich die leistungsrechtliche Dimension an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates zu orientieren haben und weitgehend gesetzgeberischen Konkretisierungen überlassen sein.71 Nicht auszuschließen ist auch, dass Enttäuschungen in der Bevölkerung über ein solches Grundrecht, wenn es denn ineffizient wäre, den Glauben an die Bedeutung der Grundrechte überhaupt schmälern könnten.72 Dass sich durch ein Ressourcengrundrecht zwangsläufig verfassungsrechtliche Konkurrenzprobleme einstellen müssten, sei nur am Rande gesagt. Letztlich ist ein solches Grundrecht nicht in der Lage, die nötige Konfliktlösung zwischen privaten und öffentlichen Belangen zu ermöglichen, wie sie für die Ressourcenpolitik entscheidend ist.73 Als Zwischenergebnis darf ich hier festhalten, dass die Nachteile einer grundgesetzlichen Einführung eines Ressourcengrundrechts gegenüber den Vorteilen dominieren. Ein solches Grundrecht müsste mangels konkreter Vollziehbarkeit Programmsatz bleiben. Es hätte deshalb von vornherein nicht den Rang, den die Verfassung einem Grundrecht zuerkennt, das traditionell auf Einklagbarkeit und Realisierbarkeit angelegt ist. 3. Einführung einer Staatszielbestimmung?

Dieser Ansatz zu einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Ressourcenproblems besteht darin, die Ressourcensteuerung im Grundgesetz ausdrücklich als eine Staatsaufgabe aufzuführen. Auch zum Folgenden ders., ebd. Vgl. Kloepfer, S. 35 f. Zur Effizienz der Umweltgesetzgebung s. a. G. Leidig, in: W. Krawietz / R. Weimar (Hrsg.), S. 15 ff.; ders., Gesetzgebung und Effizienz, Zugleich ein Beitrag zur ökonomisch-ökologischen Steuerungsfunktion von Rechtssystemen, in: I. Tammelo / E. Mock (Hrsg.), Rechtstheorie und Gesetzgebung, Festschrift für Robert Weimar, Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 231 ff. 72 Weimar / Schimikowski, S. 216. 73 Vgl. Kloepfer, S. 36. 70 71

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

Durch eine solche „objektiv-rechtlich“ formulierte Grundsatznorm würden sich wahrscheinlich positive Auswirkungen für die Ressourcenpolitik ergeben. Insbesondere würden Maßstäbe für die Auslegung und Abwägung des geltenden und für die Ausgestaltung zukünftigen Ressourcenrechts gesetzt. Ein weiterer Effekt wäre die Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an eine derartige Staatszielbestimmung. 74 a) Normative Wirkungen Die Staatszielbestimmung stellt einen Handlungsauftrag vor allem an den Gesetzgeber und eine normative Richtlinie zur Ausfüllung dieses Handlungsauftrages dar.75 Die Ausfüllung unterliegt dem Ermessen des Gesetzgebers. Dabei ist es nötig, die Anforderungen der Ressourcensteuerung mit anderen privaten und öffentlichen Anforderungen auszugleichen. Auch wenn der Ressourcensteuerung keine Priorität vor anderen Staatszielbestimmungen eingeräumt würde, verdeutlicht eine solche Staatszielbestimmung doch den hohen Rang der Ressourcensteuerung insbesondere durch die Gesetzgebung. So wird der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht nur verpflichtet, überhaupt in der Ressourcensteuerung tätig zu werden, er wird auch verpflichtet, bei der Ausgestaltung von Gesetzen die Ressourcensteuerung angemessen zu berücksichtigen.76 Damit leistet im Gegensatz zu einem Ressourcengrundrecht die Staatszielbestimmung auch einen Beitrag zur Lösung von Konflikten zwischen der Ressourcensteuerung und anderen Belangen, wie Wirtschaftswachstum und Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen.77 Außerdem wäre eine Staatszielbestimmung Ressourcensteuerung auch für die Rechtsanwendung von Bedeutung.78 Es handelt sich ja um eine normative Vorgabe für die Auslegung und Fortbildung des Rechts. Dies kann sich bei der Auslegung der Grundrechte auswirken, etwa wenn. bei verstärkter Anerkennung der Notwendigkeit der Ressourcensteuerung eine stärkere Inpflichtnahme der Grundrechtsträger zu erwarten ist. Insbesondere stellt sich diese Staatszielbestimmung als Richtlinie für eine verfassungskonforme Auslegung der Gesetze, für die Konkretisierung von Generalklauseln des Zivilrechts und für die Ausfüllung von Spielräumen bei der Überprüfung von planerischen Entscheidungen und Ermessensentscheidungen der Verwaltung dar.79 74 75 76 77 78 79

Vgl. Storm, S. 39. Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 100. Dazu Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 101. Richtig Kloepfer, S. 36 f. Weimar / Schimikowski, S. 216. Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 102.

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Allerdings wird, im Gegensatz zum Ressourcengrundrecht, durch die Einführung einer Staatszielbestimmung der Rechtsschutz grundsätzlich nicht erweitert.80 b) Politische Wirkungen Ressourcensteuerung als Staatszielbestimmung wird auch zu politischen Impulsen im Hinblick auf bessere Vorsorge und strukturorientierte Ressourcenpolitik führen.81 Diese politische Impulsfunktion bezieht sich hauptsächlich auf die Gesetzgebung. Es ist jedoch auch zu vermuten, dass der Vollzug der Ressourcengesetzgebung dadurch verbessert wird. Weiter sind gewisse erzieherische Wirkungen auf den einzelnen Bürger zu erwarten82, die sich sowohl in einem ressourcengerechten Handeln in der Privatsphäre als auch in der Unterstützung staatlicher Ressourcensteuerungsmaßnahmen auswirken können. Wie stark diese politischen Wirkungen sein werden, lässt sich allerdings nur schwer abschätzen. Sie hängen in starkem Maße davon ab, wie eine solche Verfassungsänderung überhaupt aufgenommen wird und sich durchsetzt. So muss sich z. B. ein ausgeprägtes Verfassungsbewusstsein, das sich auf die Freiheitsrechte richtet, nicht auch unbedingt auf die Staatszielbestimmung Ressourcensteuerung beziehen. Hier ist vor einem übertriebenen Optimismus nur zu warnen. Im Gegensatz zur Einführung eines Ressourcengrundrechts sind bei der Einführung einer Staatszielbestimmung negative politische Wirkungen kaum zu befürchten oder doch gering einzuschätzen. 83 So ist mit einer nennenswerten zusätzlichen Belastung der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zu rechnen. Auch die Gefahr auftretender Unzufriedenheit der Bürger, weil ihre Erwartungen nicht erfüllt werden können, ist als gering einzustufen. Mit der Entscheidung für eine Staatszielbestimmung würde jedenfalls deutlich gemacht, dass die Steuerung der natürlichen Ressourcen eine wichtige und permanente Aufgabe darstellt, die allerdings in Auseinandersetzung mit anderen Zielen des Staates (Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzerhaltung) zu erfüllen ist und die für sich keinen bestimmten Zustand der natürlichen Ressourcen gewährleistet. Im Ergebnis würde durch die Herausstellung der Ressourcensteuerung als permanente Staatsaufgabe weder die Rolle der Gesellschaft noch die der Wirtschaft in Dazu G. Hartkopf / E. Bohne, Umweltpolitik, Bd. 1, Opladen 1983, S. 76. Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 104. 82 Vgl. ebd. 83 Vgl. Bundesminister des Inneren / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), S. 105. Ebenso ist kaum zu erwarten, dass die Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft für die Ressourcensteuerung abgebaut wird. Indes wäre es illusorisch, in erster Linie von den Bürgern oder von den Unternehmen eine langfristige Ressourcenvorsorge zu erwarten, da diese an die Gesetze des Marktes gebunden sind. 80 81

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

diesem Bereich geschmälert, sondern nur einem von der Problematik her begründeten Regelungszuwachs des Staates in diesem Bereich Rechnung getragen.84 Bejaht man die Frage einer Verankerung der Ressourcensteuerung in der Verfassung grundsätzlich, was aufgrund der nicht ausreichend bestehenden Regelungen des Grundgesetzes als richtig erscheint, so stellt die Einführung einer Staatszielbestimmung die nach allem bessere Lösung dar.

B. Das Ressourcenrecht und seine Gesetzgebung I. Probleme inhaltlicher Gestaltung Um seine Funktion erfüllen zu können, inhaltlich Maßstäbe für ressourcenrelevantes Handeln verbindlich zu machen, ist es notwendig, dass das Ressourcenrecht vier sich gegenseitig beeinflussende Faktoren, nämlich Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Ethik, in sich aufnimmt.85 Da zahlreiche – z. B. chemisch induzierte – Eingriffe in die natürliche Umwelt in ihren Folgen, insbesondere hinsichtlich ihrer synergetischen Wirkungen, heute in der Regel nur noch naturwissenschaftlich erkennbar bzw. abschätzbar sind und Abhilfen ebenfalls weitgehend nur auf dieser Grundlage oder überhaupt nicht entwickelt werden können, muss zwangsläufig auch das Recht wissenschaftliche Erkenntnisse in sich aufnehmen, um die vorgegebene Problematik zu bewältigen.86 Der Bezug des Rechts zur Technik87 besteht auf der einen Seite darin, dass die industriell genutzte Technik die Ressourcenprobleme verursacht; auf der anderen Seite stellt die Technik ein notwendiges Mittel dar, um die Problematik zu lösen. Hierbei ist beispielsweise an eine Verbesserung bisher angewandter Methoden zu denken (Entwicklung umweltfreundlicher Technologien) oder an die Entwicklung von „Gegentechniken“, die die nachteiligen Folgen einer Technik wieder beseitigen (Kläranlagen usw.). Insofern ist es erforderlich, dass das Ressourcenrecht technische Aussagen einbezieht. Ferner ist nicht zu umgehen, wirtschaftlich-soziale Tatsachen in die inhaltliche Gestaltung des Ressourcenrechts aufzunehmen, da „Bestand und Funktionsfähigkeit wirtschaftlich-sozialer Systeme mit allen ihren Elementen (Arbeit, Bedürfnisbefriedigung, Lebensstandard usw.) gerade durch die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Handlungsweisen bedingt sind.“88 Vgl. ebd., S. 106. R. Weimar, Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem, in: G. Frohberg / O. Kimminich / R. Weimar (Hrsg.), Recht – Umwelt – Gesellschaft, Festschrift für Alfred Pikalo, Berlin 1979, S. 311 (341). 86 Vgl. H. Steiger, Begriff und Geltungsebenen des Umweltrechts, in: Salzwedel, S. 1 (12). 87 Vgl. K. M. Meyer-Abich, Umweltbeeinträchtigungen durch den wirtschaftlich-technischen Prozeß, in: H. Giersch (Hrsg.), Das Umweltproblem in ökonomischer Sicht, Tübingen 1979, S. 3. 88 Vgl. Steiger, S. 12. 84 85

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Eingriffe in diese Handlungsweisen zugunsten der natürlichen Ressourcen haben erhebliche Folgen für wirtschaftlich-soziale Systeme. Und daraus entstehen Zielkonkurrenzen. Um damit verbundene Konflikte nun lösen zu können, hat das Ressourcenrecht auch Regeln bereitzustellen, die außer der wissenschaftlichen und technischen Abhilferegelung auch wirtschaftliche Überlegungen berücksichtigen müssen. Dass schließlich das Ressourcenrecht auch ethische Prinzipien zu beachten hat, kann folgendermaßen begründet werden. Obwohl gerade wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Handlungsweisen die vom Ressourcenrecht zu bewältigende Problematik hervorgerufen haben, kann diese Situation nicht durch Verzicht auf Wissenschaft, Technik und Industrie bewältigt werden. „Aber auch die technisch-industrielle Zivilisation kann sich nicht an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.“89 Die neuen Handlungsweisen müssen daher in einer gegebenenfalls neu zu konzipierenden Ethik gefunden werden.90 Die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Sachverhalte sind dem Ressourcenrecht insofern vorgegeben, als sie durch die Kausalität bestimmt sind. Das Ressourcenrecht kann sie als solche nicht verändern, es kann nur Handlungen, die bestimmte Kausalketten in Gang setzen, regeln.91 So ist der Gesetzgeber darauf angewiesen, dass Experten ihm notwendige naturwissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Grundlagenerkenntnisse liefern, die den Inhalt der Normen bereits in gewisser Weise „vorformen“ und „vornormieren“. Da es sich bei den Bereichen Wissenschaft, Technik und Wirtschaft um ständig sich weiterentwickelnde dynamische Bereiche handelt, ist eine gesetzliche Verallgemeinerung bestimmter Standards oder ihre Festlegung nur sehr schwer möglich.92 In dieser Lage bietet sich dem Gesetzgeber nur die Möglichkeit der Verwendung weitgehend unbestimmter Rechtsbegriffe, die teilweise auf außerrechtliche Normierungen und Erkenntnisse verweisen und ohne sie nicht auskommen. Damit werden Entscheidungen auf Institutionen der Rechtsanwendung verlagert, wobei die unbestimmten Rechtsbegriffe durch wissenschaftliche Aussagen und technische Daten sowie Bestimmungsmethoden ausgefüllt werden müssen.93 Dies hat zur Folge, dass zum einen der Inhalt des Rechts von außen, ohne Beteiligung des Gesetzgebers, bestimmt wird, zum anderen erfährt das Ressourcenrecht eine ebenfalls von außen gesteuerte Dynamisierung. Beides hat erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Rechtsbestimmtheit, Rechtserkenntnis, Rechtssicherheit und damit auch auf den Rechtsfrieden.94 Allerdings wird hierbei die Gesetzgebung Ebd., S. 13. Vgl. hierzu grundlegend H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilsation, Frankfurt am Main 1979. 91 Vgl. Steiger, S. 13. 92 Ders., ebd. 93 Ebd., S. 14. 94 Ebd. 89 90

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2. Teil: Wandlungen des Erkenntnisinteresses

nicht der eigenen Entscheidung enthoben. Denn auch Wissenschaft, Technik und Wirtschaft verfügen nicht über eindeutig sichere Erkenntnisse, die man nur einfach „anwenden“ muss, um die Problematik zu bewältigen. Auch in diesen Bereichen herrschen Unsicherheit und Ungewissheit. Dazu kommt, dass Aussagen aus den genannten Bereichen, vor allem aber wirtschaftliche Aussagen, weitgehend ziel- und zweckbezogen sind. Es wäre daher ein Irrtum zu glauben, man könne allein aus den vorgegebenen Sachgesetzlichkeiten die richtigen und notwendigen Regelungen ableiten. II. Ressourcensteuerung – nicht nur eine nationale Aufgabe Ressourcensteuerung ist nicht nur als nationales Problem zu begreifen. Einmal werden natürliche Ressourcen in allen Staaten der Erde genutzt und auch geschädigt, zum anderen sind viele natürliche Ressourcen, insbesondere Luft und Wasser, nicht territorial beschränkt, sondern dehnen sich über Staatsgrenzen hinaus weiter aus. So wirken sich z. B. in einem Staat erzeugte Umweltschäden unter Umständen auch in anderen Staaten aus. Schließlich gibt es natürliche Ressourcen, die von mehreren Staaten genutzt werden, wie beispielsweise das Meer und seine verschiedenen Schätze. Es ist daher als vordringlich anzusehen, dass die Staaten in Bezug auf die Bewältigung der Ressourcenproblematik gemeinsam nach Lösungen suchen und bei ihrer Anwendung entsprechend kooperieren. 1. Grenzüberschreitende und globale Ressourcensteuerung

Die Steuerung der natürlichen Ressourcen zielt darauf ab, sie in ihrer Funktionsfähigkeit für den Menschen zu erhalten. Da als Träger ressourcenpolitischer Maßnahmen überwiegend Einzelstaaten auftreten, hat dies zur Folge, dass grenzüberschreitende und grenzenunabhängige, d. h. globale Ressourcenprobleme durch von ihnen veranlasste Steuerungsmaßnahmen nicht oder nur sehr beschränkt gelöst werden können. Transnationale Ressourcenprobleme können dadurch zustande kommen, dass zwei oder mehrere Staaten durch ein Medium verbunden sind, das schädliche Emissionen aus einem Territorium in ein anderes verlagert. Aufgrund unterschiedlicher Transporteigenschaften lassen sich bei transnationalen Ressourcenproblemen zwei Arten unterscheiden: Einwegbelastungen (Flusssysteme) und reziproke Belastungen (je nach Strömungsverhältnissen z. B. bei Binnengewässern). In beiden Fällen entstehen die Belastungen durch gemeinsame, aber oft unterschiedliche wirtschaftliche Nutzungen der Anliegerstaaten. In Fällen dieser Art ist die wissenschaftliche Bestimmung der VerschmutzerEmpfänger-Beziehung und damit auch der Versuch, Regelungen auf der Basis des Verursacherprinzips zu treffen, sehr schwierig.

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Ähnliche Beweisschwierigkeiten ergeben sich in Bezug auf die Schadensquelle zum Teil für die transnationale Luftverschmutzung.

2. Ausblick: Gegenwärtiger internationaler Stand

Angesichts der bis heute unternommenen politischen Anstrengungen zu internationaler Zusammenarbeit in der Ressourcensteuerurig kann nicht übersehen werden, dass ressourcenpolitische Absichtserklärungen und Realität meist noch auseinanderklaffen. Mit der vielfach geforderten internationalen Harmonisierung ressourcenpolitischer Instrumente dürfte nach heutigem Wissen kurz- und mittelfristig kein wirksamer Beitrag zur Ressourcensteuerung geleistet werden können.95 Die Ziele sind hier schon nicht so eng definierbar, wie dies bei lokal begrenzten Regelungsversuchen etwa der Fall ist. Die Folge ist, dass mit zunehmender Zahl der beteiligten Staaten und der unterschiedlich empfundenen Betroffenheit von Belastungen auch die Schwierigkeiten wachsen, über bloße Absichtserklärungen hinaus wirksame Handlungsprinzipien zu entwickeln und diese zu praktizieren. Verschärft werden diese Schwierigkeiten dadurch, dass zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Wirtschaftskapazität auch unterschiedliche entwicklungspolitische Prioritäten bestehen. Die bislang unbefriedigenden Verhandlungsbeziehungen zwischen den östlichen und den westlichen Staaten zeigen, dass – trotz Tschernobyl – aus politischen Gründen die Chancen ökologischer Harmonisierungsbestrebungen eher abnehmen. Auch das Wohlstandsgefälle zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern macht deutlich, wie unterschiedlich die Sorge um die natürlichen Ressourcen beurteilt wird. Den Entwicklungsländern erscheint die Ressourcensteuerung als Luxus.96 Für sie zählt allein das Ziel, das Wohlstandsgefälle so schnell wie möglich zu verringern, ohne Rücksicht auf die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die Irreversibilität bestimmter Eingriffe in die Natur.

95 96

Vgl. Weimar, in: B. B. Gemper, S. 525. Ders., ebd., S. 524.

Dritter Teil

Der Umgang mit dem Gesetz – Konturen postmoderner Methodologie und Neodogmatik

Der Bedeutungswandel des Gesetzes* I. Rechtsnormwandel: Gegenstand oder Fremdelement der Rechtstheorie? Eine rechtstheoretische Analyse des für den gesamten Bereich des Rechts und der Rechtspraxis zentralen Phänomens des „Bedeutungswandels des Gesetzes“ sieht sich – wenn ich dies richtig deute – zunächst mit einem Hindernis konfrontiert. Gemeint ist die vor allem bei Hans Kelsen und in seiner Nachfolge bei einigen Vertretern der Wiener Rechtsschule zu beobachtende Einstellung, dass das Recht in seiner „Anwendung“ – zumal die mit dem Argumentationstyp des Bedeutungswandels ebenso vielfältig wie uneinheitlich operierende Rechtspraxis – als eine rechtstheoretisch nicht interessierende Erscheinung zu betrachten und damit weitgehend, wenn nicht ausschließlich, als Problem außerhalb der Theorie des Rechts zu behandeln sei. Dass es sich dabei insoweit um einen getrennter Untersuchung zugänglichen Aspekt handelt, wird niemand bestreiten. Dieser Aspekt kann indes nicht in einer Weise verabsolutiert werden, dass der Bedeutungswandel der Norm und der ihm zugrunde liegende Prozess praktischer Rechtsfindung der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung und damit der Rechtstheorie als legitimes Erkenntnisobjekt entzogen sei. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, dass bestimmte Erscheinungsweisen des rechtlichen Normenwandels schon bislang und sogar überwiegend von rechtswissenschaftlicher Seite untersucht und in einer Fülle von Veröffentlichungen insbesondere zivil- und verfassungsrechtlicher Art dargestellt wurden1, wenngleich dieser Wandel selbst und seine Implikationen im Wesentlichen vor dem Hintergrund des herkömmlichen juristischen Entscheidungsverständnisses – nämlich der Entscheidung „aus dem Gesetz“ – gesehen wer* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / E. Topitsch / P. Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratiekritik bei Hans Kelsen. Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 241 – 262. Berlin: Duncker & Humblot. 1 Aus der kaum noch überschaubaren Fülle der Stellungnahmen seien einige wenige angeführt, die jeweils weiterführende Hinweise geben: Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 3 2. Halbband, Berlin 1959, S. 523 ff.; Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Berlin 1960; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975. Vgl. auch den Sammelband von Sonnemann, Wie frei ist unsere Justiz? München 1969, insbes. dort den Beitrag von Rottleuthner, S. 48 ff. Umfassend auch Maihofer, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, Ann. Univ. Sarav. 8 (1960), S. 5 ff. Zusammenfassend und kritisch gegenüber „modernen“ Ansätzen. Larenz, Richtiges Recht, München 1980, S. 150 ff. Rechtstheoretisch grundlegend Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, Darmstadt 1980.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

den, bisher nirgendwo aber zu einem weiterführenden theoretischen Ansatz entwickelt worden sind. Dieser Befund, der angesichts der inzwischen zunehmend etablierten Rechtssoziologie einerseits wie auch der Fortschritte der Rechtslogik andererseits einigermaßen erstaunlich ist, überrascht allerdings eher weniger als die von rechtstheoretischer Seite selbst bisher nicht einmal nahe gelegte Forderung nach einer weiterführenden Untersuchung des Wandels der Rechtsnorm als Folge der veränderten Funktion des Gesetzes und der richterlichen Tätigkeit, deren Erforschung – weil angeblich metajuristischer Art – nicht oder doch nur weniger zu den (traditionellen) Erkenntnisinteressen der Rechtswissenschaft gerechnet wird. Mit dieser Feststellung, die im Grunde nur einen Fall des sehr viel allgemeineren Tatbestands beinhaltet, dass nämlich ein Problemkreis kaum auf die von einem einzigen Wissenschaftsbereich gezogenen Reviergrenzen2 beschränkt bleibt, erscheint indes wenig gewonnen. Wichtiger sind folgende Gesichtspunkte: dass die Perspektive einer Wissenschaft, die immer eine primär arbeitsteilige ist, zwar niemals die Ganzheit einer Realität erfasst, dass aber die Untersuchung eines Phänomens, wie das des Normenwandels, mit Unterstützung auch durch Kategorien anderer Wissenschaften, wie z. B. der Gesellschafts-, Politik- oder der Wirtschaftswissenschaften, legitim oder gar notwendig ist, und weiter, dass der Rechtswissenschaft die Analyse des Normenwandels nur gelingen kann, wenn die Bedingungen konkreter gesellschaftlicher Konstellationen, insbesondere die Entscheidung steuernden Determinanten richterlichen Handelns, aus dieser Analyse nicht eliminiert werden und die Aussagen nicht auf dogmatisch-normative Gehalte verkürzt werden, Fragen also, für die eine das traditionelle juristische Feld transzendierende Untersuchung des richterlichen Umgangs mit dem Gesetz unter den Prämissen sozialen Wandels offen sein muss und die eine grundlagenorientierte Rechtstheorie nicht abweisen oder gar ignorieren darf. An dieser Kennzeichnung rechtstheoretischer Erkenntnismöglichkeit des rechtlichen Normenwandels zeigt sich bereits, dass dieser primär nur aus seiner Entstehung erklärt werden kann, die ihrerseits von Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits, Gestaltung und Funktion des Rechtsstabs andererseits abhängt. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage, welche Bedingungen es sind, die ohne ausdrückliche Änderung der Vorschriftenbasis – also des herkömmlichen Handlungsfeldes der „Gesetzesanwendung“ – eine Anpassung des Rechts an die sich wandelnden Verhältnisse zulassen und konstituieren. Dabei bietet sich – soviel sei vorweggenommen – in erster Linie nicht der von der Inhaltlichkeit des Rechts und seines Kontextes abstrahierende Reduktionismus der Reinen 2 Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 108 hält bereits jede Betrachtung des Rechts für „juristisch“, die zum Verständnis des Rechts, zur Erklärung seines Wesens und seiner gesellschaftlichen Rolle führe. Die Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft seien „juristische Fragen“ (S. 109). – Es wäre zu wünschen, dass sich die rechtswissenschaftlichen Forschungsbemühungen dabei so spezialisieren, dass die Zusammenarbeit, die für die Problemlösungen jeweils erforderlich ist, im Rahmen der Rechtswissenschaft selbst erhalten bleibt; so Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 67.

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Rechtslehre an, sondern ein weniger selbstgenügsamer Ansatz, der letztlich nicht ohne Bezug auf eine soziologisch informierte Theorie des Rechts den intendierten Erkenntnisfortschritt auch für den hier anvisierten Untersuchungsgegenstand zu liefern vermag. II. Gesellschaftlicher Wandel, richterliche Normanpassung und Rechtstheorie Bevor ein solcher Ansatz aufgegriffen werden kann, sei kurz dargestellt, wie die Hervorbringung von durch gesellschaftlichen Wandelinduziertem Richterrecht und damit gewissermaßen als Prototyp: der richterlichen Innovationen gesehen und thematisiert werden kann. Dies wiederum kann nicht geschehen, ohne auf den Zusammenhang und die Funktion von „Gesetz“ und „Gesetzesanwendung“ im richterlichen Entscheidungsprozess als maßgeblichen Basisfolien für die Analyse der Wandlungsphänomene im Recht einzugehen. Die Vorstellung, der Richter sei allein dem „Gesetz“ und dessen Entscheidungsregeln „unterworfen“, enthielt von Anfang an auch den Gedanken, dass der Richter andere als gesetzliche Weisungen nicht befolgen dürfe. Diese Wendung der Formel verdeutlicht, dass die bürgerliche Gesellschaft in ihrer staatstheoretischen Konzeption das „Gesetz“ zum Potentaten bestellt hatte – nicht etwa den Richter3. Konnte man hiervon ausgehen, dann schien die Rechtsanwendung vor „Verunreinigungen“ sowohl durch externe Einflüsse als auch durch die Subjektivität des Entscheiders und die Gefahren seiner Emanzipation gesichert. Die so angeleitete Entscheidungsfindung durch gesetzliche Determinierung des Entscheidungsinhalts schien die unmittelbare Herrschaft des Gesetzes zu garantieren. Dieser Schein trog. Wenigstens tendenziell gehört zu den Effizienzbedingungen des damit angesprochenen Justizsyllogismus auch ein möglichst „lückenloses“ Rechtssystem4. Kann ein solches System, an dessen Etablierung der Positivismus des 19. Jahrhunderts vergeblich arbeitete, nicht geschaffen werden, muss bei Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse nach konsequentem „Bindungs“-Denken entweder das Gesetz mit seinem herkömmlichen Regelungsinhalt bemüht oder auf den Gesetzgeber gewartet werden. Eine auf diese Prämissen gegründete Handlungsanleitung fungiert angeblich als sicherer Garant dafür, dass der Richter das Gesetz nicht erfindet, sondern findet. Gegen die durch Gesetzesbindung abgesegnete „Objektivität“ richterlicher Rechtsfindung inszenierte die Freirechtsbewegung um die Jahrhundertwende gewissermaßen eine erste juristische „Fachrevolution, die inmitten einer scheinbar uneingeschränkten Herrschaft von Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz gegen die resignierenden Überzeugungen den lang verdrängten Gedanken an die 3 4

Simon, S. 68. Ders., S. 69.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

weder durch Gesetz noch durch den formalisierten Einfluss der Methode aufhebbare Freiheit des Rechtsanwenders wieder hervorholte5. Das Freirecht konnte die Fundamente von Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz zwar weitgehend relativieren, nicht jedoch überwinden oder gar beseitigen. Der Justizsyllogismus überstand alle Krisen des abstrakt-generellen Gesetzes ebenso wie den Zusammenbruch der positivistischen Ideologie vom „geschlossenen“ Rechtssystem und die zunehmende Einsicht, dass es eine verbindliche Handlungstheorie nicht geben könne. Doch lebt der Justizsyllogismus noch heute und muss sich – inzwischen allerdings eher verzagt – vom Mythos der Gesetzesbindung nähren. Prüfstein in dieser Auseinandersetzung ist der Bedeutungswandel des Gesetzes. Er scheint das „Gesetz“ über weite Strecken nicht nur ergänzt, sondern abgeändert, ins Gegenteil gedreht oder schlicht verschluckt zu haben. Die frühe Erkenntnis Wieackers, dass das heute geltende Privatrecht, insbesondere seine allgemeinen Lehren und das Schuldrecht, aus dem Gesetz nicht mehr ablesbar seien6, ist heute fast schon eine Binsenweisheit7, die freilich immer noch nicht allerorts eingestanden wird. Die „objektive“ Auslegungsdoktrin hatte nämlich suggerieren können, dass die vom Richter dem Gesetz „entnommenen“ Wertungen und Regeln in diesem bereits – in geheimnisvoller Weise – „enthalten“ seien8. Der Hermeneutik nahe stehende Juristen pflegen diesen Sachverhalt mit dem „überschließenden Sinn Vgl. dazu und zum Folgenden Simon, S. 70. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 307 f. – Die Umgestaltung des staatlichen Rahmens vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat scheint (auch) eine vorgefundene Neuorientierung darzustellen, die durch die Verfassung (Art. 20 I, 28 I GG) lediglich legitimiert wurde; in entsprechender Weise will Wieacker, Willenserklärung und sozialtypisches Verhalten, in: Göttinger Festschrift für das OLG Celle, Göttingen 1962, S. 263 ff. (284 f.) die Rechtsprechung zu den Vertragsverhältnissen aus sozialtypischem Verhalten an der Sozialstaatsklausel legitimieren (um sie zugleich durch diese zu begrenzen). 7 Vgl. dazu bereits Llewellyn, Eine realistische Rechtswissenschaft – der nächste Schritt, in: Hirsch / Rehbinder, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S. 54 ff. (insbes. S. 66 f., 73 ff.); es handelt sich hierbei um die Übersetzung eines erstmals 1930 veröffentlichten Aufsatzes. – Eher „populistisch“ und gewiss auch anders zum „law in action“ Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 3. Aufl. München 1980, S. 16 ff. – Dass das Gesetz kein anlegbarer „Zollstock“ ist, ist im Übrigen heute, bei allen Differenzen im Detail, weitgehend unbestritten; stellvertretend für viele vgl. Larenz, Richtiges Recht, S. 179; Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 28 f. und 32 ff. Andererseits Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956, insbes. S. 107, der meint, der Richter müsse auch eine „sittenwidrige Norm“ seiner Entscheidung zugrunde legen; die Gesetzesbindung hindere den Richter daran, seine Gewissensentscheidung den Parteien „aufzudrängen“. Hiergegen vor allem Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Salzburg 1957, S. 244, der im Übrigen betont, dass der Gesetzgeber „von seiner fachlichen und moralischen Qualität viel eingebüßt hat, und daß die Substanz nur mehr bei der Dritten Gewalt aufbewahrt ist“. Dem Richteramt gehöre die „politische Zukunft“ (S. 248). Diese Ansicht wird indes nur vage untermauert, wenn es heißt: „Der Richter entdeckt, was schon gegeben ist . . . Die Macht geht vom Rechte aus.“ Ebd., S. 250. Unerreicht demgegenüber nach wie vor die Präzisierung des so genannten Naturrechts als „Recht des Rechts“ bei Max Weber, Rechtssoziologie, Neuwied 1960, S. 264 ff. und passim. 8 Zutreffend Simon, S. 107. 5 6

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eines Geisteswerkes“ (z. B. Coing) zu erklären. Aber auch wer Deutungen, die an einer Entfaltung der Rechtsidee orientiert sind (z. B. Larenz), bevorzugt, greift immerhin zu der Vorstellung, dass das Gesetz nicht nur klüger sein könne als seine jeweiligen Ausleger, sondern sogar als diejenigen, die das Gesetz geschaffen haben (statt allein auf die Klugheit der Gesetzesanwender zu rekurrieren). Musste es schon bei diesem Stand der Dinge schwer fallen, den „gefundenen“ Regeln die Qualität einer richterlichen Eigenschöpfung abzusprechen, blieb allerdings bis heute einigermaßen unklar, wie die nun in den Rang von „Rechtskonstitution“ erhobene Rechtspraxis und deren Handeln im Einzelnen analysiert und erklärt werden können. Dass hier eine genuine, bislang allerdings unerfüllte Aufgabe der Rechtstheorie liegt, sollte von niemand mehr bestritten werden. Wird die gegenwärtige Situation richtig gedeutet, teilen sich heute Gesetz und Richteramt die Funktionen der Rechtsbeschaffung, nachdem sich dies schon längst in der nüchtern geprägten Wendung vom „Richter als (Ersatz-)Gesetzgeber“ praktisch manifestiert hat. Damit wird wenigstens die wissenschaftlich gebotene Deskription der richterlichen Tätigkeit ermöglicht und darüber hinaus das Problem des im Grunde gesellschaftsgestaltend handelnden Richters in einer Weise bezeichnet, dass es sachgemäß analysiert werden kann. Was dabei den Bedeutungswandel der Rechtsnormen angeht, wird er – je nach dem Standpunkt der Beurteiler – bald als strukturell notwendig, bald als systemwidriges übel empfunden, allgemein aber – wie das Richterrecht selbst – als ein wohl unausweichliches Signum zeitgenössischer Rechtspflege angesehen9. Die Brisanz der Thematik wird freilich von der juristischen Methodenlehre wie der Rechtstheorie heruntergespielt. Es fällt offensichtlich nicht leicht, einzugestehen, dass das Phänomen des ohne Wortlautänderung eintretenden Normenwandels sämtlichen Vorstellungen, die beim Kampf um die „Herrschaft des Gesetzes“ Pate gestanden haben, zuwiderläuft, wenn das „Gesetz“ in Abhängigkeit zu sozialem, wirtschaftlichem oder kulturellem Wandel steht und erst durch die dieses Faktum berücksichtigenden judiziellen Entscheidungen geformt wird10. Auch eine – damit längst überholte – Gewaltenteilungsdoktrin kann eine „Gewaltenbalance“ zwischen judiziellem Gesetzesvollzug und Regel gebender Normsetzung nicht mehr aufrechterhalten, wenn Legislative und Judikative sich in der Person des Richters treffen11. Von „Bindung“ lässt sich hier ebenso wenig reden wie von „Anwendung“, wenn der subsumierende „Vernunftakt“ (Simon) in der Norm stiftenden und gesellschaftlich abhängigen Dezision variabel wird. Der Eindruck herrscht vor, dass dem subjektiven Belieben der Richter zu weite Grenzen gezogen sind und dass man dagegen hilflos ist. Schlagworte wie „Justizstaat“, „Richterstaat“, „Justizialisierung des Staates“, „bevormundende RichterDers., S. 9. Richtig ders., ebd. 11 Vgl. ders., ebd. 9

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macht“ (Esser), „Usurpation“ (Forsthoff), „Hypertrophie der Justizstaatlichkeit“ (v. Husen) dienen seit langem dem Ausdruck der Klage, dass die Schranken der Richtermacht sich zunehmend ausweiten. Die Einsicht, dagegen so gut wie ohnmächtig zu sein, verleiht der juristischen Methodendiskussion das Pathos eines verbissen präsentierten „Dennoch“12. Von Interesse ist dabei besonders der – vermeintlich – determinierende Einfluss der einzelnen handlungsanleitenden Vorschläge: deren Ineffektivität auf den Rechtsfindungsvorgang. Der „blinde Fleck“ in Bezug auf das Soziale, auf die Sachbestimmtheit in der Jurisprudenz hatte uns schon in der Reinen Rechtslehre eine Rechtstheorie sozusagen ohne Recht beschert. Daneben haben wir jetzt funktionalistische Analysen (z. B. Luhmann) und wissen sogar, woher die Richter kommen (z. B. Kaupen, Peuckert). Ausgespart blieb indessen überall die Frage, wie die Richter auf Wandlungen in der Gesellschaft reagieren und zu ihren Urteilen gelangen und – davon sehr abhängig – ob wir überhaupt noch mit einem der Rechtswirklichkeit angemessenen Rechtsbegriff heute arbeiten.

III. Normenwandel zwischen Auslegung und Fortschreibung des Rechts Wenn Rechtsnormen so gestaltet sind, dass ihr Regelungsinhalt sich für die in der Rechtsgemeinschaft vorherrschenden Auffassungen und Wertungen sozusagen von Hause aus offen hält (z. B. Treu und Glauben, unbillige Härte, verkehrserforderliche Sorgfalt), wenn es sich also um unbestimmte Rechtsbegriffe oder generalklauselartige Umschreibungen handelt, bei denen der Rechtsanwender den Norminhalt im Einzelnen konkretisieren muss, tritt das Problem des Bedeutungswandels der Norm nicht auf. Derartige Normen haben eine die Veränderung der Verhältnisse überdauernde Struktur13. Genauer: Ihr hoher semantischer Allgemeinheits12 Vgl. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, dessen detaillierte Ausbreitung der Rechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftslenkung in erster Linie den Sinn hat, die Folgen richterlicher Anmaßung und die „befreiende Wirkung“ richterlicher Zurückhaltung zu dokumentieren. Auf deutsche Verhältnisse übertragen fordert er, dass das BVerfG lediglich einen gewissen äußeren Rahmen abstecken dürfe, sich im Übrigen aber aus den wirtschaftspolitischen Entscheidungen des Parlaments heraushalten solle. Die Forderung nach richterlicher Zurückhaltung dehnt Ehmke implizit über den Bereich der Wirtschaftsregulierung aus und schränkt sie dann nur mit Hilfe der „preferred-position“-Doktrin wieder ein. – Zum Problem der Richtermacht eingehend Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1959, S. 35 ff.; ders., Rechtsstaat oder Richterstaat, München 1970; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl. München 1971. – Forsthoff und Ehmke stehen repräsentativ für zwei staatsrechtliche Traditionen, die beide aus verschiedenen Motiven einer übermacht der Richter misstrauen. Vgl. auch Lamprecht / Malanowski, Richter machen Politik, Frankfurt am Main 1979; ferner – immer noch beeindruckend – Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Tübingen 1968. 13 Anders Larenz, Der „Bedeutungswandel“ der Rechtsnormen und seine Berücksichtigung in der Rechtsprechung, DRiZ 1959, S. 306. Larenz meint, derartige Normen (General-

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grad setzt einen Wandel der technischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Erscheinungen immer schon voraus. Von solchen Normen, die auf einen Wandel der Verhältnisse geradezu angelegt sind, ihn voraussetzen, von ihm selbst also unabhängig sind, soll hier nicht die Rede sein. Die Frage, ob es einen Bedeutungswandel des Gesetzes gibt, tritt vielmehr erst auf, wenn es sich um Rechtsnormen handelt, deren Inhalt der (historische) Gesetzgeber nicht flexibel gestaltet, sondern in einer bestimmten Richtung für „dauernd“ festlegt und deren „Anpassungsspielraum“ er dem Wandel der Verhältnisse damit gerade zu entziehen oder doch kontrafaktisch zu stabilisieren sucht. Liegt es in der Regelungsaufgabe des Gesetzes als seiner Grundfunktion, Verhältnisse in bestimmter Weise zu ordnen, so scheint ein Bedeutungswandel mit dem „gewöhnlichen“ Begriff des Gesetzes nicht nur schwerlich vereinbar, sondern von vornherein durch das Raster dieses Gesetzesbegriffs hindurch zu fallen, es sei denn, man beschränkt den Bedeutungswandel darauf, dass sich die im Normtext verwendeten sprachlichen Zeichen selbst in ihrer Bedeutung ändern, und geht damit allen übrigen Schwierigkeiten aus dem Wege. Rechtstheorie als Grundlagenforschung des Rechts steht hier folgenden Fragen gegenüber: Kann sich ein Gesetz als solches überhaupt ohne Zutun seines Urhebers ändern? Verbieten nicht Rechtssicherheit, Vertrauen und Kontinuität der Gesetzgebung, einen Wandel des Gesetzes durch außerhalb des historischen Willens des Gesetzgebers liegende Umstände anzunehmen? Wäre hier – bejahendenfalls – nicht die Folge, dass der von dem (historischen) Gesetzgeber intendierte Zweck und damit die „Idee des Gesetzes“ letztlich relativiert, wenn nicht preisgegeben würde? Inwieweit kann der Rechtsanwender, insbesondere der Richter, hier eine innovatorische Funktion übernehmen, die – klassischerweise – dem Gesetzgeber zukommt? Wenn eine Rechtsanwendung, deren Richtigkeit bislang als unbestritten gelten konnte, deshalb nicht mehr konsensfähig ist, weil das Gesetz infolge bestimmter, zwischenzeitlich veränderter Umstände anders verstanden wird als bisher14, stellt sich die Frage, ob dieser (zunächst) „außerhalb“ der Norm registrierte Wandel diese auch selbst zu ergreifen vermag und – wenn ja – wie ein solcher Mechanismus zu erklären ist. Dieses Problem wird in der Rechtstheorie, soweit .sie sich mit dem Phänomen des „Bedeutungswandels“ überhaupt befasst, bisher weitgehend klauseln) unterlägen „hinsichtlich der aus ihnen – durch Auslegung und ,Konkretisierung‘ – zu gewinnenden konkreten Entscheidungsmaximen einem gewissen Bedeutungswandel“. Larenz verwechselt hier den Bedeutungswandel mit dem Faktenwandel. Zum Wandel der „Normsituation“ vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. München 1979, S. 338 ff.; zur „Zeitstruktur“ des Rechts ebd., S. 124 f., 301, 304 f. 14 Nicht gemeint sind also die Fälle, in denen die bisherige Anwendungdes Gesetzes aufgrund weiterer juristischer „Erkenntnis“, jedoch ohne Veränderungen im Normbereich als unrichtig, eine andere Gesetzeshandhabung nunmehr als die (von Anfang an) „richtige“ bezeichnet wird; der mit einer solchen Änderung der Praxis assoziierte „Wandel der (als maßgeblich geltenden) Bedeutung des Gesetzes“ (Larenz) ist nicht ein Bedeutungswandel, der das Gesetz betrifft. Hier korrigiert sich der Rechtsstab lediglich selbst. Fälle dieser Praxisänderung sind hier nicht Gegenstand meiner Analyse.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

unrichtig gesehen, geschweige zutreffend erklärt, soweit es nicht – der Verdacht liegt immer noch nahe – als „soziologisch“ und damit als nicht juristisch implizit abgetan oder jedenfalls beiseite gelassen wird. Der Zugang zum Phänomen des Bedeutungswandels einer Rechtsnorm liegt in einer zweifachen Erkenntnis: einmal darin, dass die Gesetze „nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang der ganzen Rechtsordnung gelten können“15, zum anderen darin, dass sie „zu ihrer Zeit im Hinblick auf bestimmte Verhältnisse, die einer Regelung bedurften, geschaffen worden sind“16, dass sich diese Verhältnisse inzwischen jedoch grundlegend geändert haben. Vorausgesetzt ist dabei, dass eine zunächst verständige Auslegung mit der Zeit sozial inadäquat, sach- oder zweckwidrig usw. und darum unverständig wird. Der damit skizzierte Sachverhalt wird gemeinhin mit „Bedeutungswandel der Norm“ etikettiert, was jedoch den Vorgang, um den es geht, eher verdunkelt, als einer Klärung näher bringt. Nicht hinreichend problematisiert wird insbesondere die Frage, welches real überhaupt der Gegenstand des Wandels ist: die außerhalb des Gesetzes liegenden, sich ändernden Umstände (sozialer, technischer Wandel usw.), die Anschauung der Rechtsgemeinschaft bzw. des Rechtsanwenders (insbesondere der Rechtsprechung), Sinn oder Bedeutung des Gesetzes selbst, die „Auslegung“ des Gesetzes, bestimmte Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren oder vielleicht einzelnen von ihnen. Wer als letztes Ziel der Rechtsgewinnung die Erkenntnis des „empirischen“ Willens des Gesetzgebers (i. S. einer streng „subjektiv“ orientierten Auslegungsdoktrin) ansieht, stößt zum Problem des Normenwandels erst gar nicht vor: der Wille des Gesetzgebers ist hier allein der in der Vergangenheit liegende und daher später nicht mehr „wandelbare“ Gesetzgebungsakt und die in diesem repräsentierte inhaltliche Normierung. Der Bedeutungswandel lässt sich hier allenfalls um den Preis einer Relativierung bzw. Uminterpretation des „historischen“ Gesetzgeberwillens unterbringen, womit die subjektive Theorie im Grunde aber bereits verlassen ist. „Der Inhalt des rechtlichen Wollens“, verkündete apodiktisch schon Stammler17, „aus alter Zeit zu uns gekommen“, könne in der Gegenwart nur Geltung beanspruchen „als ein Wollen dessen, der zur Zeit Recht setzt“. Eine solche Annahme, die den früheren „wirklichen“ Gesetzgeberwillen durch einen hypothetischen Willen des Gegenwartsgesetzgebers ersetzen möchte, ist als Erklärung für einen Bedeutungswandel ungeeignet. Immerhin zeigt ein solcher Versuch, auch aus subjektivistischer Auslegungsperspektive den historischen Willen des Gesetzgebers irgendwie gegenwartsnah zu gestalten. Die „objektive“ Auslegungsdoktrin hat es hier nur scheinbar einfacher. Sie versucht, eine „gegenwartsbezogene“ Auslegung zu ermöglichen, die den Wandel der Verhältnisse berücksichtigt; sie erklärt aber nicht, inwiefern dem Wandel bestimm15 16 17

Larenz, DRiZ 1959, S. 307. Ders., ebd., S. 306. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. Halle a. d. S. 1923, S. 617.

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ter Verhältnisse eine Veränderung gerade auch der Norm selbst entspricht; auch gibt sie nicht die Voraussetzungen an, unter denen ein Bedeutungswandel anzunehmen ist. Es scheint fast so, als sei der Bedeutungswandel des Gesetzes für die Spielarten der objektiven Auslegungskonzeption im Grunde nicht einmal ein Problem. Es dürfte sich zunächst empfehlen, im Anschluss an Larenz danach zu unterscheiden, „was sich jeweils denn gewandelt hat“18. Als Wandlungssachverhalte lassen sich folgende Grundsituationen unterscheiden: – Wandel des (allgemeinen oder des juristischen) Sprachgebrauchs, – Wandel der Rechtsordnung i. S. eines Wandels der ihr immanenten Grundwerte und Prinzipien, – Wandel der allgemeinen Rechtsanschauung, – Wandel der Lebensverhältnisse (z. B. Wirtschaft, Technik, ökologische Bedingungen).

Ich betrachte hier nur die letzte Gruppe: den Wandel der Lebensverhältnisse. Dabei stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern ein solcher Wandel die Bedeutung gerade von Rechtsnormen ändern kann. Larenz erklärt hierzu lapidar, der Wandel der tatsächlichen Verhältnisse könne „nicht schon von sich aus“19 eine Bedeutungsänderung von Rechtsnormen zur Folge haben, sagt aber nicht weiter, wie es denn genau zu der Bedeutungsänderung, auf der Normebene kommt. Es mag dahingestellt bleiben, wie der Bedeutungswandel der Norm – diese verstanden als Normtext – rein interpretationstheoretisch zu begreifen ist: ob, wer annimmt, dass sich wandelnde soziale, kulturelle, wirtschaftliche Bedingungen den Sinn eines Textes verändern, davon ausgehen muss, dass das „Ziel“ der Interpretation sich bei veränderlichen Bedingungen selbst ändert20; ob es neue Sprachspiele sind, die existent werden, während andere veralten21; ob die Auslegung ein Teil des Sinns des Textes ist22; oder ob – bei einer Unterscheidung von „Sinn“ und „Bedeutung“ der Rechtsnorm – sich die Bedeutung ändert, während der Sinn als Inhalt der Intention des Gesetzgebers überzeitlich konstant bleibt23, oder ob veränderte Traditionen die Bedeutung der Normierung verändern24. Fest steht jedenfalls, dass die Grenzen zwischen „Auslegung“ und der richterlichen Innovation fließend sein können, wobei die Annahme eines Bedeutungswandels regelmäßig eher innovatorische Züge trägt. Damit erweist sich – generell – eine interpreta18 19 20 21 22 23 24

Larenz, DRiZ 1959, S. 308. Ders., ebd., S. 309. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972, S. 43. Ders., S. 95. Ders., S. 114. Ders., S. 268. Ders., S. 270.

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tionstheoretische Betrachtung richterlicher Normanpassung von vornherein als unzureichend; nur im Einzelfall kann beurteilt werden, ob von Auslegung wirklich noch die Rede sein kann, ob es sich nicht vielmehr um eine das Gesetz überschreitende richterliche Eigenschöpfung handelt, die mit Auslegung nichts zu tun hat. Unentbehrlich ist jedenfalls die wertende Stellungnahme des Rechtsanwenders, der damit aber die Norm nicht mehr auslegt, sondern eine eigene Rechtsschöpfung i. S. einer Fortschreibung des bisherigen Rechts vornimmt. Hierbei geht es im Grunde um nichts anderes, als eine nicht mehr für regelungsadäquat gehaltene Rechtsnorm den sich wandelnden sozialen Verhältnissen anzupassen. Diesen Sachverhalt vermag die konventionelle Rechtsdogmatik, die sich als reine „Auslegungsdogmatik“ (Krawietz) versteht, nicht hinreichend zu erfassen. Sie beschränkt sich – wie Krawietz25 richtig gesehen hat – „trotz der überaus vielschichtigen Beziehungen zwischen juristischem Text und politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Kontext im Hinblick auf das komplexe soziale Phänomen ,Recht‘ im Wesentlichen auf die . . . Interpretation juristischer Texte“, ein Verfahren, das der auf ihre Prämissen nicht hinreichend reflektierten Setzung den „Nimbus des Logischen“ (Ihering) zu geben sucht, anstatt ihre historische, praktische oder ethische Berechtigung zu rechtfertigen26. Die den Wandel der Verhältnisse berücksichtigende richterliche Normanpassung beruht – nicht anders als eine aus anderen Gründen veranlasste Rechtsfortbildung – jedoch weder ausschließlich noch überwiegend auf logischer Deduktion, sondern wird vor allem nach Maßgabe weiterer Faktoren getroffen27. Die vom Gesetzgeber fixierten Prämissen der Entscheidungsfindung werden hier nicht mehr als vorgegeben hingenommen, nicht mehr als gegenständliche Begrenzung der juristischen Überlegungen behandelt. Die Berücksichtigung des „Bedeutungswandels des Gesetzes“ kann rechtstheoretisch daher nicht ohne verstärkte Orientierung an der Rechtswirklichkeit erfasst werden. Geht man hiervon aus, lässt sich das Phänomen des Bedeutungswandels nicht als „Fortsetzung der Auslegung“, wie Larenz dies für die richterliche Rechtsfortbildung annimmt28, begreifen. Dass es nicht um ein Auslegungsproblem geht, wird selten offen zugegeben; lässt sich doch mit der 25 Krawietz, Was leistet Rechtsdogmatik in der richterlichen Entscheidungspraxis?, ÖZöR 23 (1972), S. 47 ff., 57. 26 Ders., ebd. 27 Ders., ebd., S. 59. 28 Larenz, Methodenlehre, S. 350 f.; gerade beim „Wandel der Normsituation“ bleibt Larenz dem hier unpassenden Schema „weitere Auslegung“ –„engere Auslegung“ verhaftet (insbes. S. 339). Es trifft im Übrigen schon für den Regelfall der Auslegung nicht zu, dass der Interpret den Text nur „zum Sprechen bringen“, „nichts wegnehmen und nichts hinzutun“ wolle (S. 351). Wer sich so verhält, interpretiert nicht; vgl. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969, S. 16 ff., 69 ff. und passim. Larenz übersieht, dass Gesetze immer nur eine Teilmenge der Entscheidungsprämissen überhaupt bezeichnen können.. Damit sind die Prämissen auch einer Auslegung(sentscheidung) nur vollständig, wenn weitere Sätze hinzugezogen werden, die das kodifizierte Recht ergänzen.

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„Auslegungs“-Ideologie eben recht bequem im „System“ verweilen. Rechtssätze erweisen sich dann trotz des eingetretenen Wandels scheinbar immer noch als verbindliche „Außenweltmodelle mit normativen Umweltentwürfen“29; in Wirklichkeit kombiniert der Richter hier die Erwartung von Außenweltmodellen mit einer gesteigerten kognitiven Flexibilität im Hinblick auf eine Wirklichkeitsanpassung, wie dies sonst nur für gesetzliche Generalklauseln typisch ist30. Die bisherige juristische Methodenlehre vermag durch die von ihr empfohlene dogmatisch-exegetische Methodik Rechtserkenntnis nur im Zusammenhang mit einem als vorgegeben begriffenen Konditionalprogramm zu vermitteln, dessen genauen Sinngehalt festzustellen dem Juristen aufgegeben sei. Ist die juristische Methodenlehre aber schon bei bloßen Rechtsanwendungsproblemen durch ein ziemlich undefiniertes Nebeneinander historischer, sprachlicher, logisch-systematischer und teleologischer Auslegungskriterien schwer zu handhaben, so versagt sie vor dem Phänomen des Normenwandels vollends. Müsste sie – konsequent – dieses Phänomen eigentlich ausklammern, vermag sie es angesichts der von der Rechtspraxis ständig „praeter legem“ vollzogenen Entscheidungen zwar nicht ganz beiseite zu lassen, kann es aber nur – und dies unzutreffend – auf Auslegungsleistungen reduzieren. Die politische Funktion des Richters und seine heute real übernommene Folgenverantwortung kommen ihr dabei erst gar nicht in den Blick: Die Problematik und das Risiko der Annahme eines Normenwandels als Geschäft des Richters werden auf diese Weise heruntergespielt. Dass es im Falle des Bedeutungswandels noch darum geht, das gegebene Recht nur „anzuwenden“, dass der Richter das vom Gesetzgeber Gewollte angeblich nur „vollzieht“, kann aber unter keinem Gesichtspunkt festgestellt werden.

IV. Stabilität oder Flexibilität der Rechtsdogmatik? Da es nicht möglich ist, alle künftigen Anwendungssituationen des Gesetzes vorauszusehen, lassen sich die für die Entscheidung des Richters erforderlichen Erwägungen nicht schon in die gesetzgeberische Entscheidung selbst einbringen. Deshalb ist der Entscheidungsvorgang zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender nicht nur arbeitsteilig organisiert, er funktioniert auch arbeitsteilig, wobei es sich im realen Entscheidungsprozess jeweils nur um ein Mehr oder Weniger an wechselseitiger Substitution handelt. Wie jede Positivierung von Recht kann daher auch die Anpassung des Rechts aufgrund sozialen Wandels empirisch-analytisch als ein Zusammenspiel von programmierenden und programmierten Entscheidungen verstanden werden. Indes ist dieses Verhältnis durch die herkömmliche Rechtsdogmatik nur unzulänglich vermittelt. Um den Veränderlichkeiten des Sozialen genügen zu können, muss Rechtsdogmatik einerseits selbst „hinreichend stabil“, anderer29 Teubner, Generalklauseln als sozionormative Modelle, in: Lüderssen u. a., Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Baden-Baden 1978, S. 21. 30 Vgl. Teubner, ebd.

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seits aber „auch hinreichend flexibel“ sein31. Die Lösung dieser in sich durchaus widerspruchsvollen Aufgabe ist bisher nicht gefunden, andererseits aber Voraussetzung, um die Stabilisierungsfunktion des Rechts in einer sich wandelnden Gesellschaft überhaupt zu ermöglichen. Es fragt sich daher, auf welche Weise sich die Rechtsdogmatik gegenüber künftigen Entwicklungen offen halten kann und eine gegenwartsnah angepasste Rechtsfindung auch rechtstheoretisch befriedigend zu vermitteln vermag. Wie Krawietz32 mit einer treffenden Formulierung hierzu festgehalten hat, begegnet die konventionelle Rechtsdogmatik den vielen Ungereimtheiten, die man in methodischer wie rechtssystematischer Hinsicht antreffen kann, „mehr oder weniger unreflektiert mit einer Art Strategie des ,gesunden Menschenverstandes‘, ohne recht zu wissen, worauf diese Gesundheit beruht“. Indem sie mit ihren nach Bedarf disponiblen Auslegungsmethoden artistisch jongliere, könne sie alternierende Möglichkeiten des Entscheidens und in begrenztem Umfang selbst widerspruchsvolle Normprojektionen zulassen. – Die damit ermöglichten variablen Anpassungsleistungen an den fortschreitenden sozialen Wandel beruhen allerdings – soweit ich sehe – bisher auf einer wissenschaftstheoretisch nicht hinreichend kontrollfähigen Grundlage der Rechtsdogmatik. So wünschenswert und auch notwendig es ist, das Recht den sich wandelnden sozialen Gegebenheiten normativ anzupassen, d. h. insgesamt mehr interkurrente Informationen zu verarbeiten, so wenig befriedigend erscheint es aus rechtstheoretisch-methodologischer Sicht; wenn die Rechtsdogmatik einigermaßen orientierungslos einen Weg geht, der die Art und Weise vermissen lässt, in der in Entscheidungsprozessen jene Anpassungsleistungen hinreichend überschaubar vorgenommen werden, sodass sie bislang mehr oder weniger zufällig bleiben müssen. Am Bedeutungswandel der Norm zeigt sich besonders eindringlich, dass die bisher weitgehend „latente“ Funktion der Rechtsdogmatik auf die jeweilige Sachbestimmtheit der Norm nicht verzichten kann. Dies wird heute insbesondere in der Lehre vom Normbereich und den zugehörigen sachorientierten Konkretisierungsverfahren zutreffend beachtet. Diese Verfahrensweise macht es erforderlich, die Tatsache: Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Anschauungen in die Argumentation explizit einzuführen. Hier scheint mir der Einstieg zu liegen, die Reaktionen der Rechtspraxis auf Wandlungen der Lebensverhältnisse methodisch anzuleiten und zugleich prozedural zu disziplinieren.

V. Normbereich und Normkonkretisierung Führt man – anders als die die Norm überwiegend als Normtext behandelnden Auslegungsregeln – die Kategorie des „Normbereichs“ ein, wie sie in der gerichtlichen Praxis zunehmend verwendet wird, lässt sich sagen, dass die Grundstruktur 31 So Vieweg, Zwei Rechtsdogmatiken, in: Philosophie und Recht, Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl August Emge, Wiesbaden 1960, S. 106 ff. 32 Krawietz, Rechtsdogmatik, S. 79.

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des Normbereichs funktional ein Bestandteil rechtlicher Normativität ist33. So kann eine verfassungsgemäße Norm verfassungswidrig werden, wenn sie sich „im Umfang oder Inhalt ihres Normbereichs ändert“34. Deshalb rechtfertigt es sich rechtsmethodisch, eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse oder jedenfalls einen grundlegenden Wandel so zu bewerten, dass die nicht nur in ihrem Wortlaut, sondern nach herkömmlichem Normverständnis auch im Ganzen unverändert gebliebene Norm kraft empirisch festgestellter Veränderung von Fakten beispielsweise verfassungswidrig geworden sein kann35. Als Voraussetzungen hierfür gibt das Bundesverfassungsgericht36 an, es müssten sich gerade solche Verhältnisse grundlegend gewandelt haben, auf die sich die Regelung bezieht; wenn diese Änderung nicht nur von vorübergehender Dauer, sondern als „Strukturwandel“ anzusprechen sei, könne „als Folge dieses Wandels die ursprünglich gerechtfertigte Regelung offensichtlich sachwidrig geworden“ sein. Der Normbereich ist, auch abgesehen von solchem Normenwandel, ein mehr oder weniger, nie aber ganz entbehrliches Moment der Normkonkretisierung37; nur verbirgt sich in den meisten Fällen dieses Moment hinter einem auf die überkommenen Methoden beschränkten Darstellungsmodus. Insbesondere im Verfassungsrecht ist die Rechtsprechung häufig gezwungen, Fakten offen zu tragenden Bestandteilen der Rechtsfindung zu machen. Und wer könnte z. B. das Schuldrecht in seiner besonders stark ausgeprägten Dynamik anders als ein evolutionäres Faktenrecht zutreffend beschreiben? „Soll die Norm überhaupt Normativität in spezifisch rechtlichem Sinn enthalten, muß sie sachbestimmt sein. Die konkrete Normativität einer Rechtsvorschrift enthält eo ipso Realbestandteile gesellschaftlicher Wirklichkeit in normativer Überformung“38. Dies zeigt sich besonders in den Fällen, „in denen der Bedeutungswandel einer Vorschrift unmittelbar aus einem Faktenwandel gefolgert wird“39. Der herkömmlichen Normauffassung ist es hier ohne Berücksichtigung eines involvierenden Sachzwangs nicht erklärlich, dass eine Gesetzesbestimmung bei gleich bleibendem Worlaut „durch Veränderung der Verhältnisse einen Bedeutungswandel erfahren“ kann40.

Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 117. Ders., ebd. 35 Ders., ebd. 36 BVerfGE 12, S. 341, 353 f. 37 Müller, Normstruktur, S. 118. 38 Ders., ebd., S. 123 f. 39 Ders., ebd., S. 131; zum Wandel der Lebensbedingungen und den in Bezug darauf sprachlich beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten des Gesetzgebers s. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 218. 40 BVerfGE 7, S. 342, 351; vgl. auch schon BVerfGE 2, S. 380, 401. 33 34

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VI. Normenwandel und das Elend des Rechtsbegriffs Sieht man das Problem des Bedeutungswandels der Rechtsnorm in einem etwas weiteren Zusammenhang mit und in seiner Abhängigkeit von der Diskussion um den Rechtsbegriff, so scheinen mir folgende Gesichtspunkte entscheidend zu sein: Die neueren rechtstheoretischen Ansätze haben den in der Reinen Rechtslehre vorherrschenden Apriorismus der Rechtskategorien grundlegend kritisiert. Dennoch führen auch die neueren Tendenzen in ihrer immer noch weitgehend aprioristischidealistischen Grundhaltung, aufgrund derer sie die Gesellschaftlichkeit, den Bezugspunkt der Kategorien, als eine nicht-objektive Gesellschaftlichkeit oder als eine aprioristische Objektivität begreifen, die anzustrebende wissenschaftliche Analyse letztlich wieder zu einer normativistischen Betrachtung zurück, der sie die Bewertung der Gesellschaftsstrukturen überlassen. Sie haben wohl auch gar keine andere Möglichkeit, denn diese Strukturen, denen der Bereich der Werte funktionell werden müsste, sind selbst den Werten funktionell, sind nicht etwas von der Idee des Rechts wirklich Unterschiedenes, sondern vielmehr von den Werten abgeleitete Bedeutungen: ideelle Strukturen. Die Gesellschaft konstituiert also nicht jenen von der Idee des Rechts unterschiedenen Pol, an dem es möglich wird, Recht und gesellschaftliche Wirklichkeit festzuhalten. Damit ist aber der Normativismus in den Rechtswissenschaften – wie mir scheint – bisher alles andere als überwunden. Im Gegenteil scheint es beim methodologischen Pluralismus zu bleiben, der das Nebeneinander von wissenschaftlicher und normativistischer Methode weiterhin aufrechterhält: eben die Voraussetzung, von der der Normativismus seinen Ausgang genommen hatte. Hinter der Rechtstheorie der Gegenwart finden wir also das folgende ungelöste Problem: Um das Recht zu bestimmen und zu begreifen, darf man es nicht mit der Sphäre der Naturhaftigkeit identifizieren; und um es von dieser zu unterscheiden, muss man zugleich sein ideelles Moment anerkennen. Eine Bestimmung des Rechts lässt sich hiernach nur erreichen durch eine Vermittlung von Idee und Wirklichkeit, von Rationalität und Geschichte, nur dann also, wenn das Recht nicht nur als normative, sondern auch als materiale Struktur begriffen wird: als sachbestimmtes Verhältnis. In der Rechtstheorie war es bislang so, dass dieses Verhältnis der „Einheit“ letztendlich immer wieder aufgelöst und die Wirklichkeit vom „Ideellen“ sozusagen verschluckt wurde, dass man also, nachdem man von der Idee ausgegangen war und die Empirie „rechtsnormativ“ transzendiert hatte, dann die Empirie zum Inhalt der Werte erhob oder dass die Empirie sich selbst mit Zwecken und Werten befrachtet hatte und damit ihre Heterogenität gegenüber der Idee aufgab. Das Ergebnis kann dann nicht wenig überraschen: dass sich nämlich unter diesem Aspekt die methodologische Distanz verringert, die die beiden grundlegenden Richtungen modernen Rechtsdenkens – die klassische „spekulative“ und die soziologische „realistische“ –, also Rechtsnormativismus und Rechtssoziologismus, zumindest nach herkömmlicher Einschätzung so grundlegend zu trennen scheint. Wenn die „Reinigung“ des Rechts in der Kantschen Tradition über Kelsen

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bis auf unsere Tage zu Luhmann41 in der Tat zu einer Formalisierung der Rechtskategorien führt, so kommt man dann wohl zu den folgenden Feststellungen: Die Faktizität des Rechts wird post festum in dem Moment wieder aufgenommen, in dem sich die angeblich autonome Norm der Autorität und ihrer Wirksamkeit unterordnet. Die Geltung, das formelle Kriterium des Rechts, dessen Grundlage die Transzendierung des Faktums ist, ordnet sich dann diesem unter, insofern es notwendig die Wirksamkeit bewerten muss. Und es besteht hier in der Substanz kein grundlegender Unterschied zum Vorgehen soziologischer, d. h. im weitesten Sinne realistischer Richtungen, wenn diese zunächst in antimetaphysischer Absicht der realen Entwicklung der Gesellschaft folgen, um den Primat des Faktums über die Werte festzustellen, dann aber unversehens doch bei der Forderung eines Teleologismus landen (als eines scheinbaren Surrogats der kausalen Effizienz). So kommt auf der einen Seite die grundlegende Übereinstimmung der modernen Strömungen des Rechtsdenkens in der Fixierung einer nur scheinbaren Autonomie des Rechts ans Licht, die in ihrer Ambivalenz fortwährend bestrebt ist, zu einer zwieschlächtigen methodischen Konstruktion zu werden, in der der Wert sich auf das Faktum gründet oder das Faktum mehr oder weniger kritiklos selbst zum Wert avanciert. Hatte der etatistisch-legalistische Positivismus Staat und Recht identifiziert, so ist die gegenteilige These, die Richter, oder allgemeiner: die Juristen seien stets Vollzugsbeamte der Gesellschaft, also die Identifizierung von Gesellschaft und Recht, letztlich ebenso wenig haltbar. Die Ansicht, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege stets und überall in der Gesellschaft selbst, trifft in dieser Pointierung auch auf den demokratischen Staat nicht zu; sie kann auch nicht ohne weiteres als Ausgangspunkt für eine rechtstheoretische Erfassung des Normenwandels dienen. Die Frage, die uns dann aber beschäftigen muss, ist die, ob es überhaupt gelingen kann, in Ablösung der kritisierten herkömmlichen Versuche einen auch an der Realität richterlichen Handelns orientierten Theoriebegriff des Rechts und seines Wandels angemessen zu erarbeiten.

VII. Richterliches Innovationsinteresse: Ein Diskurs über den Gesellschaftstyp? Die in dem aufgezeigten Sinne bis heute wohl am wenigsten kritikanfällige Untersuchung zu „Norm“, „Normativität“ und „Normstruktur“ stammt von Friedrich Müller42, dessen Normanalyse mit dem hier als „faktisch geltend“ herausgestellten Normbegriff weitgehend übereinstimmt. Dort wird versucht, die dem reinen Normpositivismus wie dem Normsoziologismus – beide Richtungen vermögen, wie gezeigt, die Komplexität des Normenwandels nicht hinreichend zu erfassen – voraus liegenden Abstraktionen – indem sie Recht „ohne Abstimmung mit dem konzipie41 Vgl. die kritischen Ausführungen bei Grimm, Niklas Luhmanss „soziologische Aufklärung“ oder das Elend der aprioristischen Soziologie, Homburg 1974, S. 90 und passim. 42 Müller, Normstruktur, S. 131.

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ren . . . wollen, um dessentwillen das Recht da ist“ – zu vermeiden und die Wirklichkeit als immer neu zu ordnendes und in Ordnung zu haltendes geschichtliches Zusammenleben der Menschen nicht als Objekt, sondern erstens als Grundlage und zweitens als Bestandteil normativer Struktur zu begreifen43. Damit erscheint – im Konkretisierungsverfahren44 – die Norm als nach Normbereich und normativen Leitgedanken des Normprogramms differenziert45. Der Normbereich, der im Verfahren konkretisierender Rechtsgewinnung nicht isoliert, sondern mit der Hinwendung vom semantischen Substrat der Norm gerade zum Sachverhalt ermittelt wird, ist nicht von der Norm oder vom Normtext erfasstes Tatsachenmaterial („Stoff liefernder Sektor der Wirklichkeit“), sondern Bestandteil der zu konkretisierenden Rechtsnorm46. Als solcher ist der Normbereich realer Entwurf dessen, was im Einzelfall geregelt werden soll47. Norm und Normtext sind streng geschieden, um der Gefahr der Verwechslung, der sich die positivistische Gleichsetzung von Norm und „fertigem Befehl“ aussetzt, zu entgehen48. Die „generelle“ Norm wird verstanden als gesolltes Ordnungsmodell; es nimmt den Normbereich vorweg und gestaltet ihn gleichzeitig aus, ist also schon von daher mehr als bloßer „Text“49. Die Bedeutung des Textes für die Normkonkretisierung erweist sich als begrenzt: je genauer und vollständiger Normprogramm und -bereich im Text sprachlich erfasst sind, umso mehr kann er Stütze der Entscheidung sein50. Andererseits kann ohne Wortlautänderung (und auch ohne formelle Aufhebung der „Norm“) der Normbereich „abhanden kommen“, sodass von der „Norm“ nurmehr der Text, der das Normprogramm enthält, übrig bleibt; es fehlt dann – mangels gesellschaftlicher Vermittlung – an jeder Möglichkeit der Konkretisierung51. Normtext ohne Verbindung zu Normbereich und Normprogramm bleibt normativ ein „nullum“. Der Normtext ist zwar nicht belanglos (insoweit sich Richter daran zumindest zunächst orientieren), die Positivität des Rechts jedoch nicht identisch mit jener der Normtexte52. Der Wortlaut hat seine bedeutsamste Funktion darin, tendenziell äußerste Grenze der Auslegung zu sein53. Das Verhältnis von Norm Ders., S. 194. Zum Teil kritisch zum Konkretisierungsverfahren als juristischer Methode Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken, Berlin 1977, S. 139 ff. 45 Müller, Normstruktur, S. 150. 46 Ders., ebd.; in der Hereinnahme des Normbereichs in den Normbegriff sieht Haverkate, S. 140, das bedeutsamste Moment im Ansatz Friedrich Müllers. 47 Müller, Normstruktur, S. 152. 48 Ders., S. 147. 49 Ders., S. 152. 50 Insofern können Topik und Axiomatik in ein Ergänzungsverhältnis treten, vgl. S. 153 und 162. 51 Müller verdeutlicht dies an der „Norm“ Hammurabis, in: Normstruktur, S. 165. 52 Ders. S. 158 f.; vgl. zu dieser Problematik den Überblick bei Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Franz Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt am Main – Wien 1967, S. 31 ff. Ders., S. 162. 53 Müller, Normstruktur, S. 160. 43 44

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und Normtext ist daher als Verhältnis von Normbereich, normativen Leitgedanken und ihrem sprachlichen Ausdruck zu begreifen54. Die Einbeziehung der Normbereiche in den realen Gang konkretisierender Rechtsgewinnung führt dazu, dass die auftretenden Probleme niemals von der Wirklichkeit losgelöst und unvermittelt erscheinen; „Sollen“ und „Sache“ avancieren zu den Hauptaspekten der Normativität – zu Normbereich und Normprogramm55. „Wirklichkeit“ ist dann konstituiert durch Normbereich (Bereich des Realmöglichen) und normwiderstreitende Fakten innerhalb des Normbereichs, durch rechtlich indifferente Faktoren und nicht erfasste oder unerfassbare Sachverhalte56. Für das Verständnis der Rechtsnorm folgt daraus, dass diese weder nur als im Gesetzgebungsverfahren faktisch hervorgebracht noch als (allein) in der Gesellschaft faktisch wirkend anzusehen ist, sondern als Teilentwurf einer Ordnung. Die Rechtsnorm stellt sich dar als ein verbindlich statuiertes, nähere Konkretisierung voraussetzendes Modell einer realmöglichen Teilordnung für bestimmte Sachverhalte, Sachstrukturen, Sachbereiche der sozialen Welt57. Aus dem „Befehl“ wird ein Entwurf einer „realmöglichen, weil aus der Analyse der Realität gewonnenen und als einer solchen die normative Aussage der Normvorschrift mitprägenden Struktur“, als der der Normbereich bei der Rechtsanwendung mitwirkt. Die der Norm zugehörige Teilwirklichkeit wirkt damit als Teil der Norm58. Die normative Kraft des Faktischen wird damit zweitrangig; soweit die Faktizität normativ wirksam ist, geschieht dies legitim nur unter der Voraussetzung, dass sie in der Normkonkretisierung Bestandteil rechtlicher Normativität ist. Soweit die Norm als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung verstanden wird, ist sie (umgekehrt) mit Faktizitätsgesichtspunkten durchsetzt. Der Normbereich ist Hauptgesichtspunkt der Konkretisierung: die Wirklichkeit wird Bestandteil der Norm59. Dieser Normbegriff, der sowohl herkömmliches soziologisches wie juristisches Rechtsnormverständnis entscheidend relativiert, scheint mir dem zu entsprechen, was heute in der richterlichen Praxis de facto längst akzeptiert ist: die Norm wird in einem Konkretisierungsverfahren herausgebildet, sie gestaltet die Wirklichkeit (Sachstruktur), wird gleichzeitig jedoch auch von der Sachstruktur geprägt. Dabei ist nicht nur die jeweils aktualisierte Rechtsvorschrift „Norm“ in diesem Sinne, sondern auch die erwartete Entscheidung. Wie hiernach das Recht in einer Relation zu der sachbestimmten Welt der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse steht, so erweist diese sich dann nicht nur als Gegenstand richterrechtlich-normativer Antizipation, sondern auch als die die rechtliche Normierung tragende Struktur, die nur insoweit antizipieren und ordnen 54 55 56 57 58 59

Ders., S. 162. Ders., S. 157. Ders., S. 163. Ders., S. 170 ff. Ders., S. 173. Ders., S. 188 und 198.

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kann, als sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unberücksichtigt lässt. Und so, wie der richterliche Diskurs über die Norm letztlich notwendig ein Diskurs auch über den Gesellschaftstyp ist, so wird gleichzeitig der Diskurs über den Gesellschaftstyp ein Diskurs über die Norm als sein ideeller Ausdruck. Der im modernen Richterrecht sich aktualisierende Wandel so mancher herkömmlichen Normkodifikation ist damit nichts anderes als die rechtlich zugespitzte Artikulation eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Darin scheint mir der Zentralpunkt eines Rechtsdenkens zu liegen, das – im Unterschied zum skandinavischen und amerikanischen Rechtsrealismus – auf einen kritisch-konsequenten Regelskeptizismus zusteuert. Wo Kelsen noch nach der Transzendierung des präjuristischen Faktums dieses als Basis seiner Grundnorm leugnen musste, sodass man darauf im Folgenden mit dem Ausschluss des Apriorismus der Rechtskategorie reagierte, da muss man jetzt ausschließen, dass das gesellschaftliche Faktum selbst in einen Wert, in ein Seih-Sollen sich auflösen lässt: dass das gesellschaftliche Faktum allein auf „Verhalten in Gesellschaft“ reduziert wird. Auf der einen Seite zeigt das auf sozialen Wandel mit Neuerungsfindung reagierende Richterrecht als „sachbestimmtes“ Recht gegen die Auffassung des legalistischen Positivismus, dass die Norm nicht ausschließlich durch ihre Imperativität und Erzwingbarkeit gekennzeichnet ist, die sich auf jeden Gesellschaftstyp anwenden lässt; auf der anderen Seite erweist das erwachte Innovationsinteresse des Richters, dass in Wirklichkeit das bestimmende Moment des Rechts nicht allein den konservierenden Merkmalen, die dem Gesetz und seiner überkommenen Ideengeschichte eigen sind, entspringt, sondern eben aus der Eigenart der modernen offenen Rechtsnorm, deren Grundlage und Bestandteil die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem fortwährenden Wandel selbst sind60. Eine Rechtsordnung, die den „Bedeutungswandel“ des Gesetzes – was immer dies nun heißen mag und was als Rechtsänderung oder -erneuerung bezeichnet werden kann – unvermittelt beiseite lässt, vermindert bzw. verliert schließlich ihre Lernfähigkeit61. Oder wie Ihering es anders längst sagte: „Die Idee des Rechts ist ewiges Werden62.“

60 Zutreffend weist im Übrigen Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Heidelberg – Karlsruhe 1981, Rdnr. 374 darauf hin, dass die damit aufgeworfenen Fragen schließlich auf „juristisch handhabbare Zusammenhänge“ zurückgeführt werden müssten, wenn man ihnen von der Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und der Methodenlehre her nachgegangen sei. 61 Auf die Erhaltung der Lernfähigkeit der Rechtsordnung und die Vermittlung positiver Rechtssetzung mit dogmatischer Argumentation und damit die Erhaltung der Konsistenz der Rechtsordnung wird zutreffend hingewiesen von Podlech, Die Entscheidungssequenz – rechtstheoretischer Begriff und soziale Funktion, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel, S. 225 ff. 62 Zit. nach Schelsky, Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, Düsseldorf 1972, S. 47 ff., 66.

Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung* Spätestens seit Franz Neumanns bemerkenswerten Untersuchungen über den „Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft“1 gehört die Kritik der formalen Rationalität des Gesetzes zum Bestand kritischer Analysen der Rechtsfunktion. Dennoch ist die Krise der gesetzespositivistischen Doktrin, nach der sich die Funktion der Rechtsprechung in der Anwendung des Gesetzes als seiner bloßen „Vollziehung“ erschöpft, keineswegs neu. Zu offenkundig sind seit langem die Phänomene innovativer richterlicher Eigenschöpfungen, die Formulierung neuer issues in der richterlichen Praxis, die sich nicht als kognitive Subsumtionen von Sachverhalten unter gesetzlich normierte Tatbestände erfassen lassen. Wenn – wie es den Anschein hat – das Gesetz in seiner abstrakt-generellen Ausprägung gar nicht als „echter Rechtssatz“ fungiert, weil das Gesetz dem Richter einen – mit der Anwendungsdoktrin nicht verträglichen, von ihr im Grunde aber auch nicht vermeidbaren – Einschätzungsspielraum gibt, wird die richterliche Entscheidung politisch; sie ist dann nur der Form nach Richterspruch. Selbst ein durch großzügige Zulassung von volitiv gesteuerten Auslegungsleistungen bereits „verflüssigtes“ Anwendungsmodell scheint dann weiter in Bewegung zu geraten und durch einen set final verschiebbarer „Bedarfsgesichtspunkte“ zum Rechtsfortschreibungs-Modell umgestaltet zu werden. Diesem Modell entspricht keine kodifizierte Programmstruktur „von oben“ mehr, ihm ist ein „Anschlusszwang“ im Sinne eines Gebots zur Internalisierung der sich wandelnden gesellschaftlichen Normalität eingeschrieben2, die sich in der richterlichen Entscheidung als Formtyp zu Lasten des Gesetzes zu spezifizieren scheint.

* Erstveröffentlichung in: M. W. Fischer / E. Mock / H. Schreiner (Hrsg.), Hermeneutik und Strukturhteorie des Rechts. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 20 (1984), S. 155 – 167. Stuttgart. Steiner. 1 F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, hrsg. von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1969, S. 31 – 81. 2 K.-H. Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung. Zur Genealogie des Verwaltungsrechts, Leviathan 7 (1979), S. 339 f. (360); vgl. auch R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 241 – 262.

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l. Gesetz und Entscheidung Seit der Jahrhundertwende sind Rechtstheorie und Methodenlehre im deutschsprachigen Raum in erster Linie von der Auseinandersetzung um die Polarität von gesetzlicher Norm und juristischer Entscheidung bestimmt3. Prototyp ist das richterliche Urteil. Als zentrale Bedingung richterlichen Handelns gilt die Kodifikation, die dem Richter mehr oder weniger exakt vorschreibt, nach welchen Normen er seine Fälle zu entscheiden habe. Die Gesetzeswerke „binden“ nach diesem Verständnis den Richter. In welcher Weise sich jedoch die Bindung des Richters an die kodifizierte Norm verstehen lässt, ist ein ungelöstes Problem. Der Streit geht im Wesentlichen darum, ob die Determination der Entscheidung durch die Rechtsnorm wirklich zwingend ist. Angesprochen ist damit vor allem die Funktion, die Kodifikationen für richterliches Handeln generell haben. Nur wer der – naiven – Vorstellung noch folgt, der Richter leite seine Entscheidung „aus dem Gesetz“ ab, er „subsumiere“ den Fall unter die lex scripta, kann in der Kodifikation die Funktion der alleinigen Quelle der Entscheidung sehen: Richterliches Handeln ist „richtig“ dann und nur dann, wenn es den Inhalt der kodifizierten Norm ohne Weglassung und Hinzufügung exakt auf den zu entscheidenden Fall transferiert4. Allein die Kodifikation verbürgt die Richtigkeit der Entscheidung. Der Richterspruch hat keine andere Aufgabe als die, den Inhalt des Gesetzes auf den zu entscheidenden Fall hin zu konkretisieren. Rechtstheorie bzw. Methodologie haben dann – im Hinblick auf den Richter – im Wesentlichen nur die Funktion, die Regeln des exakten Transfers zu formulieren. Das Ideal der Rechtssicherheit scheint hier erreicht: Die allgemeine Norm verbindet die Entscheidung verschiedener Fälle zu einer gleichmäßigen und einheitlichen Rechtsprechung5. Die einzelnen Rechtsentscheidungen müssen hiernach als prognostizierbar gelten, weil sie ja aus der vorab formulierten Rechtsnorm kommen. Die Bindung des Richters an das Gesetz ist damit zwingend. Dass der Richterspruch eindeutig aus der kodifizierten Norm folgt, ist eine inzwischen jedoch weitgehend überwundene Vorstellung. Sie ist der Erkenntnis gewichen, dass der Richter das Recht – selbständig – fortschreibt. Die Funktion 3 Zum Ganzen vgl. G. Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, Berlin 1977, insbes. S. 142 ff., 184 ff. m. w. N.; W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, insbes. S. 83 f., 97, 155 u. passim; R. Weimar, Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: E. Mock / R. Jakob (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 81 – 103; ders., Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck Bern 1996), passim. 4 Dazu und zum Folgenden W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann / W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg – Karlsruhe 1977. S. 72 (73 f.). 5 Hassemer, S. 73. Zur „konservierenden Natur“ der Rechtsprechung s. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 549.

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der Kodifikation für das richterliche Handeln musste damit in ein neues Licht rücken. Sie ist – wie mir scheint – komplizierter geworden. Gerade wer die Aufgabe des Richters nicht in der bloßen, wenn auch durch Auslegungsleistungen flankierten Gesetzes„anwendung“ sieht, kann die gewandelte Funktion von Kodifikationen nicht beiseite lassen, er muss sie rechtstheoretisch neu zu erklären suchen. Das Spektrum zwischen der – hoffnungslos – optimistischen Einschätzung, der Richter finde die Entscheidungsprinzipien für den konkreten Fall im Gesetz eindeutig und vollständig geregelt, bis hin zu der provokanten These, der Richter solle das Gesetz hinter sich lassen und nach seinem Rechtsgefühl bzw. nach den Interessen der Betroffenen so entscheiden, wie er sie sieht, ist vielfältig6. Allen diesen Auffassungen aber ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis von Gesetz und Richterspruch thematisieren; alle haben es irgendwie mit der Rettung dieser bei den Kategorien und – letztlich – mit der Relativität ihrer Autonomie zu tun. Die Erkenntnis, dass das Gesetz den Richterspruch jedenfalls nicht vollständig determinieren kann, belässt es bei der Dominanz der Kodifikation gegenüber dem Richterspruch. Während hier zugestanden wird, dass Gesetzesworte nicht immer eindeutige Anweisungen geben, dass sie „porös“ oder „vage“ sind, müssen aber zugleich neue Verteidigungslinien markiert werden: „Grenze der Auslegung“ sei etwa der „Wortlaut“ oder die „natürliche Wortbedeutung“ der Gesetzesbegriffe. Oder: es sei zwischen einem (harten, eindeutigen) „Begriffskern“ und einem (vagen, auslegungsbedürftigen) „Begriffshof“ zu unterscheiden; bei ersterem könne man jedenfalls auf die determinierende Kraft der Kodifikation bauen (wie etwa Ph. Heck, K. Larenz)7. Ist der Wortlaut des Gesetzes nicht klar genug, habe der Richterspruch das Gesetz in einer Weise zu vervollständigen, die der Gesetzgeber bei Kenntnis des Falles vermutlich8 selber gewählt hätte. Bedingung der Richtigkeit richterlichen Handelns bleibt die – gerade jeweils fragwürdige, weil nicht eindeutig feststellbare – Übereinstimmung mit dem Gesetz. Eine dogmatisch orientierte Methodologie richterlichen Handelns konnte sich hier – außer der Darstellung dieser „Gesetzesabhängigkeit“ des Richters und seiner „dienenden“ Funktion – darin erschöpfen, möglichst exakte Ableitungsregeln auszuarbeiten und die Allgemeinheit des Gesetzes durch Bereitstellung geeigneter Argumentationshilfen zu kompensieren9. Diese Beschränkung auf eine die Gesetzesauslegung nur unterstützende Dogmatik musste im Wesentlichen drei Konsequenzen der Kodifikation für die Rechtsprechung unterstellen: erstens eine angeblich tendenzielle Zunahme von Rechtssicherheit, zweitens eine Verkürzung der Legitimationsanforderungen durch das kodifiHassemer, S. 73. Vgl. Hassemer, S. 74; vgl. auch O. Weinberger, Über die Offenheit des rechtlichen Normensystems, in: W. Posch (Hrsg.), Wertungen und Interessenausgleich im Recht, Festschrift für Walter Wilburg zum 70. Geburtstag, Graz 1975, S. 439 – 451. 8 Eine solche Vermutung entbehrt weitgehend der empirischen Überprüfbarkeit. 9 Zur juristischen Argumentation s. näher Krawietz, S. 66, 74 und 76 m. w. N. 6 7

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zierte System und drittens eine verstärkte Positivierung des Rechts. Das Fazit war, dass gerade das gesellschaftliche Abstützungsverhältnis, dessen jede Dogmatik bedarf, weil eben kein dogmatisches Prinzip als selbstverständlich angesehen werden kann, permanent destabilisiert wurde. Wenn dennoch das Gesetz als Grundlage der richterlichen Entscheidung fungieren sollte, blieb letztlich nur der Rekurs auf demokratische Erfordernisse10, die die inhaltliche Festlegung des Gesetzes in die Hand des parlamentarischen Gesetzgebers legen. Bindung an Normen bedeutet insoweit, inhaltliche Bestimmung durch Gesetz; die Interpretation kann sich hier nur auf die Ermittlung eines bereits vorgegebenen Sinngehalts beziehen. Grundlage solchen Verständnisses ist das Begreifen des Gesetzes nicht nur in der Aufgabe der Festlegung von Bedingungen und Inhalten der Tätigkeit staatlicher Organe, sondern auch in der Konkretisierung von Rechten und Pflichten der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft 11; es soll für Rechtssicherheit und -klarheit sowie für Gleichheit vor dem Gesetz sorgen, wodurch obrigkeitliche Willkür möglichst ausgeschaltet werden12.

II. Die Konditionalprogramm-These: Zweifel an der legislativen Programmschärfe Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Gesetze als programmierende Faktoren und richterliche Urteile als entsprechend programmierte Entscheidungen betrachtet werden können. Luhmann geht davon aus, dass die Entscheidungssituation 10 Vgl. O. Bachof, Der Richter als Gesetzgeber?, in: J. Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 177. 11 Vgl. näher G. Wielinger, Gesetz und Urteil, in: Posch (Hrsg.), Wertungen und Interessenausgleich, S. 31 ff. 12 Das Problem eines kodifizierten Rechtssystems mit hoher Regelungsdichte erlangt hier wie schon in den Tagen rationalistischen Denkens Bedeutung. In einer Zeit raschen Wandels wäre die Schaffung neuer, inhaltlich flexibler Gesetze notwendig zur möglichst vollständigen Realisierung des Legalitätsprinzips. Zudem müsste eine Anpassung der Gesetze vollzogen werden, was eine Flut detaillierter Rechtsvorschriften nach sich ziehen würde, da man komplexer werdenden sozialen Beziehungen gerecht zu werden hätte. Als Ergebnis einer derartigen Gesetzesproduktion ist gerade das Gegenteil des nach der Idee des Gesetzes Gewollten zu erwarten. Eine Vielzahl von Vorschriften im Gesetzesrang geht meist nicht einher mit einer umfassenden Kenntnis des Rechts, was sicherlich nicht zu Rechtssicherheit, -gleichheit und der Vermeidung obrigkeitlicher Willkür führt. Ein Übermaß an gesetzlichen Regelungen trägt auch zur Einzelfallgerechtigkeit kaum bei, da hier oft die Ursache für die Fehlanwendung dieser Regelungen zu suchen ist. Gerade dies will jedoch die Idee des Gesetzes ausschließen. Damit soll hier nicht der Wert des Legalitätsprinzips grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Schaffung gesetzlicher Grundlagen hat nicht nur in historischer Sicht zur Eindämmung von Willkür und damit zur Erreichung und Festigung der bürgerlichen Freiheit des einzelnen beigetragen. Die erwähnte Problematik darf jedoch deswegen nicht unterschätzt werden, weil ihre Ursachen in einer gerade heute aktuellen Entwicklung sozialer Realitäten, ihrer Verarbeitung im juristischen Bereich sowie einer Überbewertung des Legalitätsprinzips liegen.

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des Juristen gekennzeichnet ist durch eine in typischer Weise konditional programmierte Entscheidungsaufgabe, in der Zwecke kaum eine Rolle spielen. Die juristische Entscheidung hat danach die Form eines „Wenn-dann“-Programms, wobei es festzustellen gilt, ob die „Wenn“-Bedingungen gegeben sind, die zur Auslösung der „Dann“-Folge führen13. Zweckerwägungen haben im Rahmen dieser Entscheidungsaufgabe keinen Platz und werden allenfalls sekundär zur Ausräumung von Auslegungszweifeln angestellt. Die Funktion eines Konditionalprogramms in diesem Sinne kann nur bei einer Entlastung von voller Folgenverantwortung erfüllt werden: die erwarteten Ergebnisse müssen sich einigermaßen zuverlässig einstellen. Der Richter hat nicht die Wirkungen seines Handelns zu kalkulieren oder zu rechtfertigen, sondern eine Auslegung gesetzter Rechtsnormen vorzunehmen und nur dann, wenn diese Bedingungen nicht eindeutig definiert sind – als zusätzliche Entscheidungshilfe –, den Zweck oder die Funktion der Norm zu berücksichtigen. Luhmann fasst das richterliche Entscheiden – ganz in Übereinstimmung mit der verbreiteten juristischen Gesetzesanwendungsdoktrin – überwiegend als neutralisierte „Wenn-dann“-Automatik auf. Die Einstufung von Gesetzen als „Konditionalprogramme“, die ohne genau beschriebene Zahl von Denkschritten die „richtige“ Entscheidung schon sicherstellen sollen, ist jedoch problematisch. Gegen die Konditionalprogrammthese lassen sich vor allem folgende Gesichtspunkte anführen14: Ein Gesetz als „Konditionalprogramm“ müsste alle Bedingungen, Situationen und Ziele seiner Anwendung selbst enthalten oder wenigstens deduzierbar bereithalten; dies ist nicht der Fall. Ferner setzt die Konditionalprogrammthese voraus, dass Rechtsbegriffe bereits operationalisiert sind. Im Gesetz erfolgt eine Operationalisierung jedoch nur ausnahmsweise; eine solche wird fast nie durch die juristische Dogmatik erreicht, da diese auch gegensätzliche Operationalisierungen nicht ausschließen kann. Gegen den Ansatz Luhmanns kann auch eingewandt werden, dass die Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen nicht eindeutig festgelegt ist, es gibt kein Verfahren einer diesbezüglichen Zuordnung. Wenn immer eine solche vorgenommen wird, erfolgt sie aufgrund einer Wertung, muss sie also auch Zwecke einbeziehen. Wo Auslegung stattfindet; kann von einem Konditionalprogramm nicht die Rede sein. Die Auslegungsbedürftigkeit der Gesetze zeigt, dass die Struktur eines Konditionalprogramms nicht den Normaltyp des Gesetzes abbildet. Das Bindungspostulat vermag die objektive Eindeutigkeit gesetzlicher Regelungsgehalte nicht zu garantieren, juristische Entscheidungen haben vielmehr mit einer „weiten Divergenzspanne subjektiver Mehrdeutigkeit“15 zu kämpfen. Auf der 13 N. Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), S. 1 (3 ff.); ähnlich ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1966 (Neudruck 1973), S. 68 ff. 14 Dazu und zum Folgenden W. Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt am Main 1974, S. 68 ff. und passim. 15 Vgl. H. H. Rupp, Die Bindung des Richters an das Gesetz, NJW 1973, S. 1769 (1773).

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anderen Seite kann sich die Bindung an das Gesetz in der Person des Entscheiders natürlich als Steuerungselement erweisen. Dabei stellt die Begründungspflicht eine Verbindung zwischen Entscheidung und Gesetz her. Mit Hilfe einleuchtender und plausibler Argumente kann auf diesem Wege ein rationaler Entscheidungsprozess stattfinden. Die sich im Verlauf der Entscheidungen ergebenden Mehrdeutigkeiten sind auch im Blickfeld eines um Einzelfallgerechtigkeit bemühten Gesetzgebers zu sehen, der mit Grund abstraktgenerelle Regelungen vorgezogen hat, die Öffnungen und Vorkehrungen enthalten, um einer Übertragung des Rechtsgehalts auf den Einzelfall möglichst keine Hindernisse in den Weg zu stellen. Im gewaltengeteilten demokratischen Rechtsstaat kann das Gesetz selbst nicht „den Ehrgeiz haben, einen Kanon antizipierter Einzelfallrezepte zu geben“16. Die Judikative ist hier vielmehr als Relais und Umsatzstelle des Gesetzes anzusehen, die es ermöglichen soll, eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung herbeizuführen. Die Formulierungen von Normsätzen sind dabei stets durch auslegungsfähige oder auslegungsbedürftige Begriffe gekennzeichnet, was sich nicht nur bei Allgemeinbegriffen ohne Legaldefinition wie „öffentliche Ordnung“, „ruhestörender Lärm“ usw. zeigt, sondern auch schon im Rahmen der im Gesetz selbst definierten Begriffe wie „Sache“, „Irrtum“, „Fahrlässigkeit“ usw. hervortritt. Beispiele für angeblich ausschließlich konditional programmierte Normsätze existieren nicht, weil ihre unterstellte rechtssemantische Eindeutigkeit nicht besteht. Als programmierende Normsätze können lediglich solche Regelungen aufgefasst werden, die hinsichtlich künftig auftretender Sachverhalte über eine vorab eindeutige Struktur verfügen und jeweils bestimmte Rechtsfolgen auslösen. Da diese Bedingungen im Wesentlichen nur bei nichtsemantischen Problemen erfüllt sind, bleibt dem Richter grundsätzlich die Zuordnung eines empirischen Sachverhalts zu den jeweiligen Kriterien einer Norm überlassen. Gleichzeitig damit hat der Richter die – wenn auch nur mittelbare – Entscheidung darüber zu treffen, ob die Kriterien des Normsatzes im jeweiligen Fall angemessen sind. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber kein Rechtssetzungsmonopol im Sinne absoluter Programmierung richterlicher Entscheidungen besitzt. Es bleibt nur ein faktisch dominanter Vorrang bei der Rechtssetzung festzustellen. Letztlich sind weder im Rahmen des positivistischen Gesetzesbegriffes noch im Rahmen des Konditionalprogramms richterliche Bewertungsakte und damit (verdeckte) rechtsfortbildende Momente im Entscheidungsprozess zu vermeiden. So gesehen fehlt der „Wenn-dann“-Doktrin eine präzise Determination. Die Herbeiführung logisch eindeutiger Entscheidungen kann denn auch nicht Funktion juristischer Dogmatik sein, herstellbar sind allein fachlich akzeptierbare Entscheidungen. Insofern konnte eine Bindung an das Gesetz eigentlich nur als Orientierung an der bisherigen Auslegung verstanden werden, ohne dass jedoch diese Ausrichtung 16

Rupp, S. 1774.

Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung

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durch eine Aufzählung sämtlicher Bedingungen zu erfassen wäre. Eine solche Aufzählung gestatten nicht schon die Tatbestandsmerkmale eines Normsatzes selbst, vielmehr müssten, um dies zu erreichen, Metaregeln über die Beurteilung der Tatbestandsmerkmale zu Hilfe genommen werden. Ohne eine derartige Festlegung bleibt die Rechtsanwendung dogmatisch befangen, kann also nur als ein auf die vordergründige Erkenntnis fixierter Regelungen ausgerichteter Prozess gelten. Im Übrigen sind rechtliche Fragestellungen durch die „hinter“ den wirklichen Entscheidungskriterien stehenden verborgenen rechtssemantischen Operationen bestimmt.17 Solange die Rechtssprache nicht zu einer „Wissenschaftssprache“ ausgebildet, sondern dogmatisierte Umgangssprache ist, bleibt ihre Eindeutigkeit nur vorgetäuscht. Die angeblich einzig-richtige Entscheidung, die nur noch „erkannt“ zu werden braucht18, gibt es bei der Auslegung von Normsätzen also nicht. Die These von einer strikten konditionalen Programmierung juristischer Entscheidungen ist daher, wenngleich bisher ohne anerkanntes Gegenkonzept, als widerlegt anzusehen.

III. Die Unbegrenztheit des Justizsyllogismus Die Schwierigkeiten, mit denen es die als programmiert gedachte Gesetzesanwendung zu tun hat, verstärken sich noch bei der die „Anwendung“ des Gesetzes abschließenden Subsumtion. Gemeint sind die Unzulänglichkeiten des so genannten Justizsyllogismus. Problematisch ist nicht das syllogistische Schlussschema selbst, sondern das Verhältnis der Gewinnung des Ober- und Untersatzes, wobei der Verdacht, dass hier eine Technik zur Verschleierung der eigentlichen Schwierigkeiten geboten wird19, nahe liegt. Es ist fraglich, ob der Justizsyllogismus ein Modell darstellt, das den juristischen Schluss optimal ermöglicht20. Es wird zu17 Vgl. speziell hierzu T. Ramm, Einführung in das Privatrecht, Allgemeiner Teil des BGB Bd. 1, München 1969, S. 494. 18 Geht man hiervon aus, erscheint es erforderlich, getroffene wie künftige Entscheidungen besser als bisher kontrollierbar zu machen. Als Mittel hierzu bietet sich die Folgenberücksichtigung an. Die Behandlung einer Berücksichtigung von Entscheidungskonsequenzen ist in der juristischen Methodenlehre bisher kaum näher thematisiert worden. Solange richterliche Entscheidungen als direkter Gesetzesvollzug, der die Entscheidungsfolgen vorzeichnet, betrachtet werden, ist konsequenterweise ein folgenorientierter Entscheidungsansatz sogar überflüssig. Freilich war eine Betrachtung der Entscheidungsfolgen der Dogmatik nicht völlig unbekannt. So lassen sich Kategorien wie zumutbar – unzumutbar, billig – unbillig, gerecht – ungerecht, angemessen – unangemessen usw. durchaus als entscheidungskonstitutiv auffassen. Auch mit den Mitteln der teleologischen Auslegung können Entscheidungsfolgen als maßgebend für die Gestaltung der Entscheidung angesehen werden. 19 Eingehend dazu U. Neumann, Die Kritik der juristischen Logik, in: Kaufmann / Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, insbes. S. 141 ff.; vgl. ferner M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 53 f.; F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 65; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 55.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

reichender Aufschluss weder über eine Zerlegung des jeweiligen juristischen Problems in logisch aufeinander folgende Denkschritte noch über die zweckgerichtete Umsetzung vorhandener Informationen gegeben, denn dies würde ein Lösungsschema voraussetzen, das ein Vorgehen im Sinne des axiomatischen Lösungskalküls vorsieht. Das Subsumtionsmodell basiert nun zumindest auf der unausdrücklichen Annahme eines axiomatischen Systems, unterstellt somit, dass Aussagen mit Hilfe tautologischer Umformungen der Axiome möglich sind. Daraus resultiert aber praktisch eine nahezu unbegrenzte semantische Fungibilität, deren Gefahren kaum gesehen werden, und damit eine tief greifende Vorstrukturierung, die das spätere Entscheidungsergebnis determiniert. Ein widerspruchsfreier Ableitungs- und Begründungszusammenhang garantiert indes noch nicht die allgemeine Gültigkeit der Prämissen. Insbesondere wird auf diese Weise keine adäquate Wirklichkeitserfassung oder Objektivierung sichergestellt. Es sei auch darauf hingewiesen, dass innerhalb des Subsumtionsmodells nur eine Zieldiskussion kein Platz ist, da in der Regel die Ziele bereits festliegen, das Subsumtionsmodell in dieser Hinsicht also als Instrument der Zielverwirklichung gesehen werden muss. Die im Subsumtionsmodell fehlende Operationalisierung der Zielfestlegung ist nur auszugleichen durch eine Offenlegung von Strukturen, Kriterien und Argumentationsweisen. Dabei muss die im Modell nicht reflektierte Prämissenwahl überwunden werden. Die im Justizsyllogismus liegende Gefahr der kaum begrenzten Bewertungsfähigkeit der Prämissen wird nur zu oft übersehen. Der Obersatz als Rechtsbegriff und Rechtsfrage sowie der Untersatz, der Sachverhalt und Tatfrage beinhaltet, können durch semantische Umformungen so lange eine Veränderung erfahren, bis sie einander „angeglichen“ sind und sich im Zuge der dadurch erreichten „Identitätsherstellung“ bestimmte Schlüsse gewissermaßen aufdrängen. Eine Vorgehensweise dieser Art ist jedoch nicht als analytischer Denk- und Entscheidungsprozess zu bezeichnen, sie kann allenfalls im Sinne hermeneutischer Verstehensprozesse Geltung beanspruchen. Man muss sich daher wundern, dass bei diesem Aktionsspektrum der Entscheidungsmöglichkeiten der Justizsyllogismus gleichwohl uneingeschränkt als Garant des rechtsstaatlichen Systems gilt21. 20 Vgl. zur Kritik syllogistischer Vorgehensweise Kilian, S. 21 ff., 55 ff. Ähnliche Ausführungen finden sich bei H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, Baden-Baden 1973, S. 143 ff., 181 ff.; er erwähnt insbes., dass Erkenntnismethoden im Dunkeln bleiben und außerdem eine Ergebniskontrolle unmöglich wird. Vgl. auch G. Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, Berlin 1977, S. 45 ff., der betont, dass das Entscheidende im syllogistischen Verfahren nicht logisch korrekt dargestellt werde: der Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen (S. 46). – Recht stecke nicht allein in der Verbalnorm, sei nicht aus ihr mithilfe logischer Verfahren zu gewinnen, so F. Müller, Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 150 ff.; ebenso J. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, Berlin 1911. S. 68 f.; vgl. jedoch auch O. Weinberger, Zum Problem des normenlogischen Deduzierens und Begründens, Conceptus 9 (1915), S. 106 – 111. 21 Vgl. dazu E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion / E. Forsthoff / W. Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 35 ff. (41). Ähnlich auch Kriele, S. 49.

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Wie nun die gängigen Methodenlehren und höchstrichterlichen Entscheidungen zeigen, existieren zwar einige Kriterien für die Textbearbeitung; sie sind jedoch uneindeutig und nicht kontrollfähig dogmatisierte Kürzel, die der jeweiligen Argumentation die Zustimmung in Fachkreisen sichern sollen22. Außenstehende werden durch diese Vorverständigung vom Kommunikationsprozess ausgeschlossen, auch wird eine interdisziplinäre Problembearbeitung erschwert und insgesamt stellt sich die juristische Textbehandlung gewissermaßen als „Geheimwissenschaft“ (W. Kilian)23 Es muss jedenfalls als zweifelhaft erscheinen, im Justizsyllogismus einen Vorteil insoweit zu sehen, als er glaubt, die Existenz eines Beurteilungsspielraums erst gar nicht auftreten zu lassen24.

IV. Das so genannte Lückenproblem: Bruch mit der Anwendungsdoktrin? Rechtsfortbildende und – faktisch – den Anwendungsbereich einer Kodifikation erweiternde Wirkung hat auch die „Lückenfüllung“. Die Feststellung einer Lücke innerhalb des positiven Rechts setzt nach h. M. eine „planwidrige Unvollständigkeit“ voraus. Dies sei der Fall – wird gemeinhin formuliert –, sobald sich weder nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzes noch nach dem Gewohnheitsrecht eine Regelung finden lässt, obwohl sich aus der Rechtsordnung als Gesamtheit eine solche als erforderlich erweist. Kritisch betrachtet stellt der Vorgang der Lückenfüllung einen Bewertungsvorgang dar, der mit der Anwendungsdoktrin unvereinbar ist. Gerade weil aber der Kategorisierung als Lücke die dogmatische Anerkennung einer „offenen Wertentscheidung“ gesichert ist, bleibt hier zu bedenken, wie wenig sie sich letztendlich von dem Bewertungsvorgang innerhalb der „Fortschreibung“ des Gesetzes unterscheidet. Jedes Lückenproblem lässt sich auch als Fortschreibungsproblem auffassen, erfolgt nicht als Textbearbeitung aufgrund eindeutiger Kriterien, sondern geht auf einen mehr oder minder umfassenden Wertungsprozess zurück. Diese Überlegungen stehen nun deutlich in Widerspruch zur klassisch-liberalen Auffassung der Gesetzesanwendung, die unmittelbar dem Gesetz entnommene Vgl. Kilian, Juristische Entscheidung, S. 47. Zur Verdeutlichung führt Kilian, S. 57 aus, dass bei der Frage enger oder weiter Auslegung meist keine Auslegungsbedingungen angegeben werden. die eine genauere Aussage über entscheidbare Anwendungsmöglichkeiten machen. Weiterhin bestehen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung hinsichtlich einer Verwendung von Analogie- und Umkehrschluss In diesem Zusammenhang fällt der nur unpräzis dargestellte Ähnlichkeitsgrad zweier Aussagen auf, wobei insbes. ein Hinweis auf die Funktion der jeweiligen Voraussetzung als notwendige oder hinreichende Bedingung bezüglich einer bestimmten Auslegung fehlt. 24 Auch H. J. Böhl / L. Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, S. 323 erwähnen eine sich verbreitende Einsicht darüber, dass die Justiz weder über Verfahren verfüge, Sachverhalte intersubjektiv verbindlich zu ermitteln, noch Techniken zu entwickeln imstande gewesen sei, mit denen sich aus gesetzlich vorgegebenen Normen Fallentscheidungen deduzieren, d. h. zwingend ableiten lassen. 22 23

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

Urteilsergebnisse als dem Gesetz entsprechend respektiert, das Lückenproblem also nicht bruchfrei lösen konnte. Zu der Frage, wie demgegenüber die heute festzustellende richterliche Fortbildung des Rechts gerechtfertigt werden kann, findet sich in der neueren Rechtsprechung der bemerkenswerte Hinweis: „Die richtige, d. h. dem Rechte gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert“25. Ist die Anwendungsdoktrin damit nicht mehr die universale Kategorie der richterlichen Entscheidungspraxis, muss das Recht innerhalb seiner eigenen Darstellungsbedingungen durch ein neues Paradigma strukturiert werden. Die Entstehung dieses Paradigmas ist nur durch die gescheiterte Fixierung auf die überkommene Anwendungsdoktrin zu bestimmen.

V. „Fortsetzung der Auslegung“? Zu Recht zweifeln neuere rechtstheoretische Ansätze zunehmend an dem bindungsorientierten Vollzugsparadigma des Gesetzes, das taugliche Kriterien, die eine Überschreitung konventioneller richterlicher Entscheidungsbefugnisse zweifelsfrei markieren könnten, nicht liefert. Die formale Rationalität des Gesetzes erscheint hier durchbrochen. In der Tat mutet es als einigermaßen widersinnig an, entgegen den Feststellungen über die semantische Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen oder entgegen den Erkenntnissen zum je differenten Vorverständnis des Richters daran festzuhalten, der Richter wende das Gesetz schlechthin an26. Ich meine, dass er dies nach allem, was wir über die richterliche Arbeit wissen, einfach nicht kann. Rechtsstaatlich höchst bedenkliche Konsequenz des Anwendungspostulats ist es dann, dass die Rechtsprechung, auch wo sie sich nach eigener Einschätzung nicht exakt ans Gesetz zu halten vermag, dennoch vorgibt, sie folge (nur) dem Gesetz. Schon wenn es zutrifft, dass richterliches Handeln den Bedeutungsumfang der Gesetzesworte erst in der Auslegung des Gesetzes am Fall konstituiert, kann eine „enge“ Auffassung der Gesetzesgebundenheit der richterlichen Entscheidung dieses Faktum des „Als-ob“ nicht ändern, sondern allenfalls verschleiern. Eine Rechtsprechung, die entgegen ihren Handlungsbedingungen zu einem blinden Gesetzesgehorsam verpflichtet ist, wird – wie Hassemer27 zu Recht hervorhebt – mangels einer Alternative weiterhin ihren Handlungsbedingungen folgen; zugleich werde sie, um dem Bindungspostulat zu genügen, die Unsicherheit ihres Handelns hinter einer Demonstration von Geschlossenheit und Sicherheit verstecken. 25 26 27

BGHZ 3, S. 308 (315 f.). So zutreffend Hassemer, S. 82. Ders., S. 82.

Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung

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Dass kein Gesetz die Entwicklung der Rechtsprechung determinieren kann, ist schlicht und unabweisbar ein Faktum: Sobald das Gesetz erlassen ist, stehen seine Anweisungen dem richterlichen Handeln offen. Die Richterbindung wandelt sich zur Herrschaft der Gesetzeshandhabung. Damit ist ein Verständnis des Vollzugsparadigmas ausgeschlossen, das die Fallentscheidung als „schlichtes Implikat des Gesetzeswortlauts“ (W. Hassemer) begreift. Ist aber das Gesetz in der konkreten Fallentscheidung variabel, so wird es auch selber disponibel: als Rechtsform. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bilden die in der bundesdeutschen Judikatur zunehmend praeter legem inszenierten Fortschreibungen von nicht mehr oder nicht mehr im bisherigen Umfang für anwendbar gehaltenen Rechtsvorschriften. Freilich, die Grenzen zwischen „Auslegung“ als mit dem Vollzugsparadigma noch vereinbarer richterlicher Tätigkeit und der richterlichen Rechtsfortschreibung können fließend sein, wobei die Annahme einer Rechtsfortschreibung – im Gegensatz zu den Auslegungsleistungen – durchweg innovatorische Züge trägt. Während die Auslegung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Menge der in der Norm enthaltenen Informationen verändert, indem sie z. B. der Norm weitere Sätze hinzufügt, dabei aber normbedeutungsorientiert bleibt, geht die. Rechtsfortschreibung über die äußerste noch mögliche Bedeutung der Norm hinaus und schafft neues Recht. Damit erweist sich eine interpretationstheoretische Betrachtung richterlicher Rechtsfortschreibung von vornherein als unzureichend; nur im Einzelfall kann beurteilt werden, ob von Auslegung noch die Rede sein kann, ob es sich nicht vielmehr um eine das Gesetz überschreitende richterliche Eigenschöpfung handelt, die mit Auslegung nichts zu tun hat. Unentbehrlich ist jedenfalls eine selbständig wertende Stellungnahme des Rechtsanwenders, wenn er eine eigene Rechtsschöpfung im Sinne einer Fortschreibung des bisherigen Rechts vornimmt, durch die eine nicht (mehr) für regelungsadäquat gehaltene- Rechtsnorm gewandelten sozialen Verhältnissen angepasst werden soll. Diesen Sachverhalt vermag die konventionelle Rechtsdogmatik, die sich als eine reine „Auslegungsdogmatik“ (W. Krawietz) versteht, nicht zu erfassen. Die richterliche Rechtsfortschreibung beruht weder ausschließlich noch überwiegend auf logischer Deduktion; sie wird vor allem nach Maßgabe weiterer Faktoren getroffen. Die vom Gesetz fixierten Prämissen der Entscheidung werden hier nicht mehr als gegenständliche Begrenzung der juristischen Überlegungen behandelt. Die richterliche Rechtsfortschreibung kann rechtstheoretisch daher nicht ohne verstärkte Orientierung an der Rechtswirklichkeit erfasst werden. Geht man hiervon aus, lässt sich die Fortschreibungsstrategie auch nicht als „Fortsetzung der Auslegung“, wie Larenz dies für die richterliche Rechtsfortbildung annimmt, qualifizieren. Dass es nicht um ein Auslegungsproblem geht, wird freilich selten offen zugegeben. Man kaschiert die Problemsicht, um das, was wirklich geschieht, wenn nicht zu verbergen, wenigstens zu verharmlosen; lässt sich doch mit der – wenn auch noch so strapazierten – „Auslegungs“-Ideologie recht bequem im „System“ verweilen. Bei Rechtssätzen aber, über die er längst „hinausjudiziert“ hat, kombiniert der Richter in Wirklichkeit die „Erwartung von Außenweltmodellen mit

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

einer gesteigerten kognitiven Flexibilität im Hinblick auf eine Wirklichkeitsanpassung“ (G. Teubner), wie sie sonst nur für gesetzliche Generalklauseln kennzeichnend ist. Die bisherige juristische Methodenlehre vermag durch die von ihr empfohlene dogmatisch-exegetische Methodik, Rechtsfindung nur im Zusammenhang mit einem als vorgegeben begriffenen Konditionalprogramm zu vermitteln, dessen genauen „Sinngehalt“ festzustellen dem Juristen aufgegeben sei. Ist aber die juristische Methodenlehre schon bei bloßen Rechtsanwendungsfragen durch ein ziemlich undefiniertes Nebeneinander historischer, sprachlicher, logisch-systematischer und teleologischer Auslegungskriterien schwer zu handhaben, so versagt sie vor dem Phänomen der Rechtsfortschreibung vollends. Müsste sie – konsequent – dieses Phänomen eigentlich ausklammern, vermag sie es angesichts der von der Rechtspraxis ständig „praeter legem“ vollzogenen Entscheidungen zwar nicht ganz beiseite zu lassen, kann es aber nur – und dies unzutreffend – auf Auslegungsleistungen reduzieren oder damit in Zusammenhang bringen. Die politische Funktion des Richters und seine heute real übernommene Folgenverantwortung kommen ihr dabei erst gar nicht in den Blick. Die Problematik und das Risiko einer Rechtsfortschreibung als Geschäft des zum (Ersatz-)Gesetzgeber avancierten Richters werden auf diese Weise heruntergespielt. Dass es unter den Bedingungen der Rechtsfortschreibung, insbesondere im Falle des Bedeutungswandels der Norm, noch darum geht, das gegebene Recht nur „anzuwenden“, dass also der Richter das vom Gesetzgeber Gewollte angeblich nur „vollzieht“, kann aber unter keinem Gesichtspunkt festgestellt werden. Dennoch ist eine Bindung des Richters gerade bei der Rechtsfortschreibung unverzichtbar. Zwar gibt es keine verbindliche Meta-Regel der Interpretationsmethoden und schon gar keine anerkannten Regeln für die Rechtsfortschreibung. Die Rechtsprechung darf aber ihre Fälle keineswegs nach fallweise gebildeten ad-hoc-Regeln diskontinuierlich entscheiden. Sie tut das auch nach aller Erfahrung nicht. Dies scheint mir die Vermutung nahe zu legen, wirksame Bindungselemente seien zwar nicht so sehr im Gesetz, wohl aber im Handeln der Richter selbst enthalten. Richter scheinen sich an ihre eigenen Präjudizien sehr weitgehend zu binden. Der richterliche Charakter der Rechtsentscheidung verdrängt die Diskontinuität, die in jeder Ungebundenheit liegt, indem er die Entscheidungsrealität auf ein verantwortliches Subjekt der Entscheidung zurückführt. Dies zeigt sich auch darin, dass Rechtssysteme ohne oder mit nur wenig ausgebildeter Kodifikation ebenfalls eine konsistente Rechtsprechung aufweisen. Nach allem, was wir über die Tätigkeit des Richters im Case-law-System wissen, ist kaum zu erwarten, dass die Richterbindung im kodifizierten System etwa verloren gehen könnte. Nur ist Bindung dann nicht mehr Gesetzesgehorsam, Bindung ist hier richterliche Entscheidungsverantwortung. Ich halte es – ungeachtet dessen – allerdings für denkbar, dass im Laufe der weiteren Entwicklung auch wieder Gründe für eine stärkere formale Rechtsgewinnung hervortreten und dass dadurch dem klassischen Rechtspositivismus erneut eine historische Aufgabe zufällt, die ihm wieder Aktualität verschaffen kann; aber derzeit ist eine solche nicht in Sicht. Sie könnte für die Zukunft allen-

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falls daraus hervorgehen, dass entsprechend den Anforderungen der modernen Gesellschaft eine Automation der Rechtsfindungsarbeit im größeren Umfang erforderlich wird und dass dabei die im Gesetz notwendig enthaltenen Lücken durch hochabstrakt gefasste Ergänzungen geschlossen werden müssen. Aber solange das unabweisbare Verlangen der Allgemeinheit nach juristischen Entscheidungen anhält, die auf materiale Gerechtigkeit abzielen, Würde ein Gesetzespositivismus, der sich auf dieser Grundlage ausbildet, jedenfalls nicht mehr mit einem Legalismus zu vergleichen sein, der die juristische Arbeit gegen Einflüsse von außen rigoros abzuriegeln sucht. Das Gesetz als Vollzugsprogramm wird dabei immer stärker abgelöst durch das Gesetz als „Aufgabe“. Die Dogmatik kann hier den bereits eingetretenen Bruch mit der tradierten juristischen Diskursformation nur noch kompensieren, indem sie sich wieder mit dem „Lebensvollzug“ (H.-G. Gadamer) ihrer institutionell sanktionierten Praxis identifiziert. Die Frage, die hierbei auftaucht, ist die, ob es gelingen kann, in Ablösung der herkömmlichen Versuche einen auch an der Realität richterlichen Handelns orientierten Theoriebegriff des Rechts, der den zunehmenden Einfluss der Rechtsprechung nicht unberücksichtigt lässt, angemessen zu erarbeiten. Denn gerade eine kodifizierte Rechtsordnung, die die richterliche Rechtsfortschreibung – was immer dies nun heißen mag und was als Rechtsänderung oder -erneuerung qua richterliche Entscheidung bezeichnet werden kann – unvermittelt beiseite lässt, läuft Gefahr, ihre soziale Lernfähigkeit zu vermindern und letztendlich zu verlieren.

VI. Konsequenzen Wie uns an dieser Stelle ein Blick auf die anglo-amerikanische Common LawTradition deutlich machen kann; sind die durch die Gesellschaft an das Rechtssystem gestellten Funktionsanforderungen28 von der „Gesetzesform“ selbst einigermaßen unabhängig. Sie können – wie sich darin zeigt – auch von einem flexiblen Richterrecht erfüllt werden. Mag dies ein gewisser Trost in der Sache sein, es beantwortet sich hierdurch natürlich nicht schon die Frage, warum an der „Gesetzesförmigkeit“ des Richterspruchs in Fällen, die längst nicht mehr auf der Grundlage des Modells konditionaler Programmierung (N. Luhmann) entschieden werden, festgehalten wird. Die hierzu schon oft wiederholte Antwort, dass dies der ideologischen Legitimationsfunktion entspreche, reicht m. E. nicht aus. Es bleibt nämlich offen, wie denn diese Legitimation noch funktioniert. Diese Frage ist überhaupt einmal zu stellen. Die Antwort zu geben, ist schwierig. Wenn richterliche Entscheidungen bei allem Wandel der formalen Rationalität des Gesetzes dennoch unverändert als Rechtsentscheidungen, die „aus dem Gesetz“ kommen, dargestellt werden, ohne dass sie als solche ihre prinzipielle Akzep28 Grundlegend und weiterführend E. Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung, Berlin 1977, der die Wandlungen gerade auch in der Haltung des Rechtsanwenders selbst gegenüber dem gesellschaftlichen Bereich näher beleuchtet, insbes. S. 195 ff.

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tanz einbüßen, dann fragt es sich, ob die Funktionsbedingungen der richterlichen Entscheidungskriterien sich in der formalen Rationalität des positivistischen Gesetzesmodells erschöpfen. Mir scheint, dass dieses Modell lange Zeit nur eine Variante der sehr viel allgemeineren Grundstruktur des Rechts gewesen ist, sozusagen die kontinentaleuropäisch geprägte Auflage dieser Struktur des Rechts, deren Konstitutionsbedingungen ein bestimmtes Maß an Wandel, wie wir ihn zugespitzt heute erfahren und registrieren, in der Kontinuität des Rechts als Gesamtstruktur durchaus vertragen, ja immer schon voraussetzen. Die dominante rechtsdogmatische Kommentarliteratur, die ihre Argtimente fast ausnahmslos zu potentiell verwertbaren Normen aufbereitet, scheint diese Vermutung ebenso zu bestätigen wie die gerichtliche Praxis selbst, die – soweit ich dies sehe – keine nennenswerten Probleme bei der Bewältigung der Krise der formalen Rationalität des Gesetzes erkennen lässt, mag sie sich hierbei auch fast stets sicherer zeigen, als ihrem wirklichen Zustand noch zukommt. Aber es zeigt sich auch, dass (auch) in der Epoche des positivistischen Gesetzesmodells die Wirkung des Rechts zumindest zu einem Teil in der Internalisierung gesellschaftlicher Werte durch die Rechtspraxis bestanden hat. So gesehen hatte richterliches Entscheidungsverhalten „Anschlusszwänge“ der Problembearbeitung schon immer besessen. Nur wechselten die Bearbeitungsstrategien. Dies bedeutet nun auch, dass die gegenwärtige, zunehmende Ablösung des Vollzugsparadigmas durch flexiblere Konzepte, die die Möglichkeit zu einer Berücksichtigung variabler Gesichtspunkte geben, zu einer Wende der Rechtstheorie und konsequenterweise der Methodologie führt, die ihre Darstellungsbedingungen neu reflektieren und vor allem prüfen muss, wie sie den durch die Praxis provozierten Wandel ihrer „Gegenstände“ auch als Wahrung der Kontinuität ihrer Essenz verarbeiten und darstellen kann. Rechtstheorie und Methodologie haben sich also nun präziser darauf einzustellen, dass die richterliche Praxis von der Gleichung „Rechtsprechung = Gesetzesvollzug“ längst abgerückt ist und das Gesetz auch als Auftrag wahrnimmt, wie immer verstandene politische Ziele zu verwirklichen. Was Recht ist, wird unter diesem Aspekt weitgehend von den gesellschaftlich relevanten Möglichkeitsbedingungen bestimmt; die die Umwelten den Entscheidungen im Einzelfall setzen. Dass deshalb nicht postuliert werden kann, Rechtsprechung verwirkliche das „einzig Richtige“ in der Entscheidung, ist evident; sie ist längst darauf verwiesen (und war es eigentlich immer), brauchbare Strategien zu entwickeln, die die durch die Umwelt bestimmten Implementationsbedingungen in die Entscheidungsformulierung angemessen aufnehmen. Die hier hervortretende Entgegensetzung von Gesetzes- und Richterstaat, wie sie schon René Marcic29 eindrucksvoll ausgearbeitet hatte, setzt auf Seiten der Gesetzeskategorie eine durch den (beschränkten) Wirkungsgrad des Gesetzes bestimmte (statische) Struktur des Rechts voraus, in der die Erfordernisse und Folgeprobleme des gesellschaftlichen Geschehens nicht hinreichend sichtbar werden 29

R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957.

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und infolgedessen durch nicht-gesetzlich determinierte Bedarfsgesichtspunkte erweitert und bearbeitet werden müssen. Gesetze verfügen nur über ein begrenztes Potential zur Konfliktbearbeitung, das erst dadurch hinreichend funktionsfähig wird, dass komplexe Probleme spezifiziert und ihre Bearbeitung in richterliche Praxis über führt werden. Konfliktbearbeitung erfolgt in diesem Sinne stärker und differenzierter über den richterrechtlich vermittelten Rechtsmechanismus, der das gesellschaftlich variable Bedürfnis nach Kompatibilisierung gesellschaftlicher Sinn-Horizonte kanalisiert. Nun meine ich allerdings nicht, dass dies notwendig den Prozess des Absterbens des Gesetzes bedeutet. Tatsächlich ist die Funktionsfähigkeit des Gesetzes nicht so begrenzt, dass es sich zu seiner Erhaltung aus der ihm auferlegten „Konkurrenz“ mit dem Richterrecht als der nicht-gesetzlichen Prozedur der Bearbeitung von Rechtsproblemen befreien müsste. Dies wäre auch gar nicht möglich. Gesetzesrecht und Richterrecht sind nur die selbst gegeneinander verschiebbaren „Strukturkerne“ des Rechts, nicht aber Antipoden in dem Sinne, dass ihnen nicht wenigstens tragende Grundwerte der Rechtsordnung im Sinne einer Zielkomplementarität gemeinsam wären. Das Gesetz duldet zwar keine anderen, von ihm nicht zugelassenen Formen der Normierung neben sich; aber dort, wo es keine oder keine zureichenden substantiellen Regeln aufstellt, weist es anschlussweise doch die Befugnis zur Fortschreibung seines benötigten Sinnes demjenigen zu, dem Recht zu sprechen als Aufgabe anvertraut ist. Die der Fortschreibung des Gesetzes immanente Grenze ist jeweils dadurch bestimmt, dass sich diese Form der Normierung in die Kontinuität und Gleichförmigkeit des Rechtssystems einzuordnen hat. Daher muss sich jede richterliche Rechtsfortschreibung als vereinbar mit dem fort gedachten und neu gestalteten Sinn des Verhältnisses des früheren Rechts zu seiner Entwicklung in verfassungsmäßiger Hinsicht erweisen. Vor dem Gesamthintergrund des Rechts gibt es letztendlich – selbst bei noch so starker Herabsetzung des Allgemeinheitsgrades des Gesetzes – keine durchgängige Trennung von Gesetzesanwendung und richterlicher Fortschreibung des Rechts. Darum ist die Kennzeichnung des Richters als (Ersatz-)Gesetzgeber zumindest funktional eine zutreffende Beschreibung seiner ihm zukommenden Handlungskompetenz. Soweit sich hiernach die Rechts(fort)bildung punktuell durch die Gerichte vollzieht, scheint in der damit einhergehenden partiellen Abkehr vom Vollzugskonzept sich eine Entwicklung anzubahnen, die – wie in den USA und in England – die Vorstellung stärker aufgreift, dass Recht primär ein gesellschaftliches Phänomen („common law“) ist. Damit drückt das Fortschreibungsmodell weniger ein gescheitertes Erkenntnis- oder Willensverhältnis zum allgemeinen Gesetz aus30, es ist schon als Paradigma verändernder Eingriff in die herkömmliche kontinentale Rechtsbetriebsstruktur selbst zu sehen. 30 Vgl. dazu R. Weimar, Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Universidad nacional autónoma de México (Hrsg.), Memoria del X Congrese Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Filosofía Social, Mexico City 1982, Bd. IX, S. 225 – 244.

Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Basis der Rechtsdogmatik und praktischen Vernunft* I. Zum Status der Rechtsdogmatik Unter dem Eindruck der neopositivistischen Kritik am traditionellen Methodeninstrumentarium der Rechtsdogmatik scheint es an der Zeit, den Charakter rechtsdogmatischer Erkenntnis neu zu durchleuchten. Sind trotz der Eingefügtheit rechtsdogmatischer Aussagen in die Situation des Rechtswissenschaftlers allgemeingültige Aussagen zu erzielen? Ist Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit in der Rechtsdogmatik einlösbar? Gibt es eine durchgängige rechtsdogmatische Objektivierbarkeit des Rechtsstoffes? Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt, im Einzelnen in eine Auseinandersetzung mit diesen Positionen einzutreten. Die Frage, wie weit die Rechtsdogmatik dem Postulat der Werturteilsfreiheit im Sinne der empirischen Wissenschaftsdisziplinen entsprechen kann oder ob sie – weil auf bestimmte Erkenntnisinteressen bezogen – insoweit eine unvermeidlich wertende Wissenschaft ist,1 die den stringenten Kriterien der modernen Wissenschaftstheorie nur begrenzt zu entsprechen vermag, ist für ihren Status innerhalb des modernen Wissenschaftssystems äußerst bedeutsam. Demgemäß soll hier das Problem, wie weit durch die Standort- und Wertbezogenheit rechtsdogmatischer Aussagen die Möglichkeit „objektiver“ (exakter) wissenschaftlicher Aussagen beeinträchtigt oder gar unmöglich wird, aufgewiesen werden – anhand einer Analyse des tatsächlichen Erkenntnisprozesses des Rechtsdogmatikers in seiner Einbettung in den metawissenschaftlichen Kontext. Während es sich empirische Wissenschaften zumindest bis zu einem gewissen Grade erlauben können, den metawissenschaftlichen Kontext des eigenen Fragens * Erstveröffentlichung in: H.-J. Koch / U. Neumann (Hrsg.), Praktische Vernunft und Rechtsanwendung. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 53 (1994), S. 246 – 254. Stuttgart: Steiner. 1 Zum Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaft näher R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 – 722; ders., Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423; ders., Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214; O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Der Wissenschaftsbegriff in den Naturund in den Geisteswissenschaften, Studia Leibnitiana, Sonderheft 5 (1975). S. 102 – 120; R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, Frankfurt am Main 1981, S. 48 – 69.

Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Basis der Rechtsdogmatik

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und Tuns zu vernachlässigen, im Besonderen dann, wenn sie sich in fest gefügten Bahnen wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und entlang bewährter Leitlinien bewegen, ist dies für die Rechtsdogmatik ebenso wie für die anderen Geistes- und Sozialwissenschaften – sofern letztere nicht auf einem eng umgrenzten empirischen Feld arbeiten (und auch dort mir in begrenztem Maße) – nicht angängig. Es ist zwar möglich zu zeigen, dass metawissenschaftliche Prämissen für den logischen Status und die formale Geltung der Aussagen auch dieser Wissenschaften letztlich ohne Bedeutung sind – eine Linie, auf der sich die Argumentation des Kritischen Rationalismus bewegt. Im Forschungsprozess jedoch spielen metawissenschaftliche Prämissen jedenfalls eine außerordentlich große Rolle. Vor allem bemisst sich die Relevanz der jeweiligen Forschungsergebnisse vornehmlich an der Relation zwischen den eingebrachten metawissenschaftlichen Prämissen und den dem Material abgewonnenen Arbeitsergebnissen. Es ist zwar unbestritten, dass es auch in der dogmatischen Rechtswissenschaftinnerwissenschaftlichen Fortschritt in einem objektiven Sinne gibt, nämlich in Gestalt der beständigen Akkumulation von Informationen über die Rechtsstoffe, doch wird kaum jemand die Ansicht vertreten, dass hierin das Wesen des Erkenntnisfortschritts dieser Disziplin liegt. Wenn es richtig ist, dass der Wissensbestand der Rechtsdogmatik in verhältnismäßig kurzen zeitlichen Abständen neu gesichtet werden muss, so gewiss nicht nur deshalb, weil neue Tatsachen hinzugekommen sind, sondern deshalb, weil sich die Gesichtspunkte gewandelt haben, unter denen die uns angehenden Rechtsstoffe erfasst und konstruiert werden. Die Erfahrung legt den Schluss nahe, dass hierbei der „Standort“2 des Rechtsdogmatikers nicht einfach ein unvermeidliches, die Urteilskraft beeinträchtigendes Moment seiner Erkenntnis darstellt, sondern dass dieser „Standort“ es ist, der ganz im Gegenteil die Möglichkeit rechtswissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts in einem mehr als nur auf Akkumulation rechtlicher Daten bezogenen Sinn erst begründet. Entsprechende wissenschaftliche Aussagen kommen daher nicht ohne ihre Eingefügtheit in die jeweilige Situation des Rechtsdogmatikers zustande, unbeschadet der Frage, ob und in welchem Sinne sie Geltung beanspruchen können. Es kann dabei nicht allein darum gehen, die transzendentallogischen Voraussetzungen aufzudecken, die jeder Erkenntnis zugrunde liegen. Hervorgehoben sei hier nur, dass Rechtsdogmatik weder ein lediglich wiederholendes Abbild noch eine bloße Reproduktion des Rechtsstoffes darstellt, sondern dass sie ihre spezifische Bedeutung in einer konstruktiven Organisation raumzeitlich lokalisierbarer normativer Elemente, Vorgänge und Handlungen hat. In der Tat vermag der Rechtsdogmatiker die Rechtsstoffe in ihrer Mannigfaltigkeit nur durch Perspektiven vermittelt zu erfahren, die er in den Erkenntnisprozess einbringt. Dabei spielen die Kategorien, Hypothesen, Theorien und Paradigmen, mit denen er die relevanten Daten aus der Menge primärer Informationen selektiert 2 Vgl. dazu K. R. Popper, Objective knowledge. An evo1utionary approach, Oxford 1972, S. 54.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

und ordnet, eine entscheidende Rolle, gleichviel ob er die Form herkömmlicher rechts systematischer Darstellung oder eine Präsentation wählt, die sich von bestimmten expliziten Erklärungsschemata leiten lässt. Demgemäß ist es auch wenig sinnvoll, von dem Recht oder gar dem richtigen oder vernünftigen Recht als „vorgegebenem Gegenstandsbereich“ rechtsdogmatischer Erkenntnis zu sprechen. Denn es ist wegen unseres begrenzten Erfahrungshorizonts und aufgrund der Struktur des rechtsdogmatischen Erkenntnisprozesses nicht möglich, die Tragweite des Rechts in seiner Totalität zu erfassen. Das Ganze des Rechts kann nicht als objektiv gegeben, nicht als bloßer realer Prozess, mithin nicht als erkennbare Realität erfasst werden. Insoweit handelt es sich im Wesentlichen um eine regulative Idee zur Erweiterung unseres an sozialer Sinnorientierung interessierten Rechtswissens. Wenn es also eine unmittelbare Erfahrbarkeit des Rechts als eines vorgegebenen regulativen Sozialprozesses nicht gibt, so keineswegs nur im Sinne eines transzendentalphilosophischen Ansatzes, der auf die konstitutive Rolle der Wertbeziehung und den Bewertungshorizont des Rechtsdogmatikers abhebt. Der perspektivische Charakter der Identifizierung der Rechtsstoffe, um den es hier geht, erstreckt sich sowohl auf die Selektion und Bewertung rechtlich relevanter Daten unter Auswahl- und Wertgesichtspunkten als auch auf das kognitive Begriffsinstrumentarium des Rechtsdogmatikers. Man bewegt sich insoweit im Rahmen der Annahmen der neueren Wissenschaftstheorie, die nomologisches Wissen als Voraussetzung von Erkenntnis auch in der Rechtsdogmatik betrachtet, wenn wir auch den metawissenschaftlichen Faktoren, die auf den Prozess der Selektion der Daten und des Begriffsinstrumentariums des Dogmatikers einwirken, etwas stärkeres Gewicht einräumen möchten, als es im Kritischen Rationalismus durchweg üblich ist. Hingegen ist diese Position unvereinbar mit herkömmlichen Verständnisweisen der Dogmatik, wie sie sich insbesondere in den hermeneutischen Schulrichtungen finden, die die Erfassung von Rechtstexten als eine Art „forschenden Verstehens“ oder „einfühlenden Nacherlebens“ interpretieren. Bei einer solchen Ausgangsposition läuft man Gefahr, von vornherein eines Subjektivismus oder Relativismus beschuldigt zu werden, der den Rechtsstoff verfehlt, weil er dessen Normativität und soziales Dasein nicht mehr erfassen kann. Darüber hinaus lässt sich geltend machen, dass sich von solchen Prämissen ausgehend Rechtsdogmatik nicht mehr als wissenschaftliche Disziplin begründen lässt und rechtsdogmatische Erkenntnis zur Beliebigkeit individueller Ansichten absinkt. Erfährt der einzelne Dogmatiker den Rechtsstoff nur in der Perspektive des jeweils eigenen Horizonts, dann ist – vor allem auch wegen des voluntaristischen Moments, das allen juristischen Erkenntnisperspektiven eigen ist – diese Erkenntnis allein auf die Dimension des betrachtenden Subjekts reduziert. Doch lässt sich zeigen, dass die Prämisse, nach der alle sinnvollen rechtsdogmatischen Aussagen durch die situationsbedingte Perspektive des Wissenschaftlers und der hinter ihm stehenden sozialen Gruppen konditioniert sind, das Prinzip der Objektivität von Rechtsdogmatik noch keineswegs obsolet macht. Zwischen Subjektivität im Sinne einer Interpretation von einem bestimmten Partei nehmenden Standpunkt aus, die

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die gewonnenen Ergebnisse zu Aussagen hypostasiert, die angeblich aus dem objektiven Prozess des Rechts selbst resultieren oder doch aus ihm ableitbar sind, und einer Interpretation aufgrund einer bestimmten, auf Wertgesichtspunkten und / oder theoretischen Einsichten beruhenden Anschauung, die sich der Partialität ihrer selbst bewusst bleibt, ist ein beachtlicher Unterschied. Während es sich bei dem ersten Verfahrens um bloßen Dogmatismus handelt, ist die letztere Verfahrensweise offen gegenüber intersubjektiver Prüfung, sei es gemessen an den eigenen Prämissen, sei es im Licht von vernachlässigten oder neu zutage geförderten Gesichtspunkten. II. Objektivität der Rechtsgewinnung? Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass es „das eine Recht in einem objektiven Sinne“ gibt oder dass der gesellschaftliche Prozess einen objektiven Sinngehalt in sich trägt, der sich bei entsprechender Inspektion für die Rechtsgewinnung objektiv erfassen und explizieren lässt. Noch weniger können wir uns auf objektive Gesetzmäßigkeiten im gesellschaftlichen Prozess des Rechts berufen. Eine Objektivierung rechtsdogmatischer Perspektiven durch deren Rückbindung an eine wie immer geartete materiale Rechts- oder Gesellschaftstheorie umfassenden Charakters ist in einer allgemeinverbindlichen Weise nicht möglich.3 Zwar wird durch eine solche Rückbindung die Eigenart des jeweiligen perspektivischen Zugriffs in wünschenswerter Weise aufgehellt, aber dessen grundsätzlich hypothetischer Status wird dadurch nicht berührt. An dieser Stelle ist es nicht möglich, alle Faktoren, die in die spezifische Perspektive des Rechtsdogmatikers eingehen, zu erörtern. Dies verbietet sich schon aus prinzipiellen Erwägungen. Denn jede Form der kritischen Reflexion auf bestimmte Rechtsfragen, die auf eine hier nicht näher zu charakterisierende Weise mit dem Bewusstsein der jeweiligen infrage stehenden sozialen Gruppe vermittelt sind, muss zugestehen, dass es prinzipiell konkurrierende Standpunkte der verschiedensten Art geben kann, über deren Berechtigung mit wissenschaftlichen Mitteln abschließend nichts ausgesagt werden kann. Dies bedeutet, dass im innerwissenschaftlichen Raum grundsätzlich eine Pluralität von Perspektiven Geltung beanspruchen darf, unbeschadet der Frage, ob man im konkreten Fall aus sachlichen Gründen oder aufgrund von Überlegungen wertorientierter Art einer bestimmten Perspektive Vorrang einzuräumen sich veranlasst sieht oder nicht. Eine weitere Voraussetzung bildet das Bekenntnis zur Rationalität des wissenschaftlichen Verfahrens, also insbesondere die Bereitschaft, die eigenen Aussagen als überprüfbar und gegebenenfalls revisionsbedürftig anzusehen. Dies bildet den Unterschied zu mythischen oder ideologischen Handhabungen des Rechts, die vor Verfälschungen des Rechts im Dienste bestimmter Zielsetzungen oft nicht zurück3

Vgl. auch G. Dux, Strukturwandel der Legitimation, Freiburg – München 1976, S. 25 ff.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

schrecken. Die Situation, die die Art des perspektivischen Zugriffs des dogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaftlers auf seinen Gegenstand bestimmt, ist regelmäßig bereits selbst perspektivisch geprägt, und zwar vor allem durch ein bestimmtes „Vorverständnis“.4 Der Rechtsdogmatiker ist also hiernach ebenso ein Kind seiner Zeit wie er zugleich einer bestimmten Klasse oder Sozialgruppe angehört. Damit ist er in seiner Sichtweise und seinem Rechtsverständnis in meist fundamentaler Weise beeinflusst. Das durch die zeitliche und die soziale Dimension geprägte Vorverständnis ist in der Regel Ausgangspunkt allen konkreten juristischen Fragens und Deutens und macht ein wesentliches Element des perspektivischen Zugriffs aus. Es ist durch Reflexion auf die eigene Ausgangslage sowie auf die internalisierten Wertpositionen nur in Grenzen zu beeinflussen, so unverzichtbar das Postulat der Offenlegung der jeweiligen eigenen Prämissen wissenschaftstheoretisch auch ist. Dieser zunächst allein die metadogmatische Sphäre berührende Tatbestand verweist im Weiteren auf die Interdependenz von Vorverständnis und methodischer Perspektive. Denn auf dieser Interdependenz beruht gerade die Möglichkeit einer Rückkopplung von wissenschaftlich kontrollierter Rechtserkenntnis, wie sie im Zuge rechtsdogmatischer Arbeit produziert wird, auf die rechtlich relevante Situation und deren Beurteilung durch den Wissenschaftler. Es lassen sich drei Gruppen von Fundamentalprämissen in den perspektivischen Konzeptionen ausmachen, die die „Erkenntnis leitenden Interessen“ des Wissenschaftlers und die übergreifenden Hypothesen, Paradigmen oder Theorien maßgeblich beeinflussen, gleichviel ob diese explizit formuliert werden oder der jeweiligen Darstellung implizit zugrunde liegen. Dabei handelt es sich – um eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen, – um eine bestimmte Konzeption von sozialem Wandel und der Bedingungen; unter denen ein solcher eintritt, und – um bestimmte Erwartungen über die künftige Entwicklung der Gesellschaft.

Derartige Annahmen beeinflussen nicht nur, was ja eigentlich heute allgemein zugestanden wird, die Fragestellungen sowie die Selektion der unter den dadurch konstituierten Gesichtspunkten rechtlich relevanten Daten, mag dies auch den betreffenden Wissenschaftlern nicht immer bewusst sein. Diese Annahmen gehen auch in die Paradigmen, generalisierenden Hypothesen, Quasitheorien ein, die eine sinnvolle Ordnung und erklärende Deutung des Rechtsstoffes erst möglich machen, gleichviel ob dies in einzelproblemorientierter oder systematischer Darstellungsform geschieht.

4 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972.

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III. Identifizierung des maßgeblichen Rechtsstoffes Daten der eben skizzierten Art werden erst im Zuge des Prozesses der Selektion unter bestimmten Gesichtspunkten, die ihrerseits perspektivisch im jeweiligen Erkenntnisinteresse verankert sind, sowie der erklärenden Einordnung in übergreifende Zusammenhänge, denen die Dimension des rechtlich Belangvollen zukommt, in den Rang juristisch-dogmatischer Gesichtspunkte erhoben. Dieser Vorgang lässt sich als eine Art von Sinnstiftung beschreiben, nicht in einem subjek-tivwillkürlichen Sinne, sondern im Sinne der Auszeichnung rechtsbedeutsamer Phänomene.5 Die Sachverhalte und Gesichtspunkte, die durch die Analyse des Rechtsdogmatikers zutage gebracht werden, sind an sich „objektiv“, obgleich sie sich nur mit Hilfe von Paradigmata, Quasitheorien oder generalisierenden Hypothesen sichtbar machen lassen. Lässt sich nun der zu untersuchende Rechtsstoffprinzipiell mit beliebigen theoretischen Ansätzen angehen oder setzt das „Widerlager“ des Rechts und seiner Realität einer derartigen Beliebigkeit Grenzen? Die Frage so stellen, heißt sie verneinen. Zum einen schließt schon die Einbindung des Wissenschaftlers in seine jeweilige fachwissenschaftlich konditionierte Situation eine Beliebigkeit seiner theoretischen Konzeptionen weitgehend aus. Aber auch der Objektbereich liefert Beschränkungen. Denn nicht alle theoretischen Konzeptionen erweisen sich als geeignet, die Fülle der jeweils relevanten Daten unter rational einsichtige und an plausiblen Positionen orientierte Modelle zu subsumieren. Vielmehr ist der Dogmatiker sozusagen nur im Anfang „frei“. Hat er erst einmal einen bestimmten Ausgangspunkt gewählt und von dort ein hypothetisches Modell entwickelt, mit dem er den betreffenden Problembereich zu erfassen und unter der eigenen Perspektive sinnvoll zu deuten sucht, so sieht er sich im Zuge der Konfrontation mit empirischen Daten, insbesondere auch mit bereits vertretenen Rechtsmeinungen, möglicherweise genötigt, subsidiäre Konzepte einzusetzen, um sich mit dem eingebrachten Modell intersubjektiv zu behaupten. Dieser Prozess führt einerseits zu einem beständig verfeinerten perspektivischen Zugriff, andererseits zur Einbeziehung von womöglich sehr zahlreichen neuen Aspekten, die als rechtsbedeutsam identifiziert werden. Dabei spielen „Verstehen“ und „Antizipation“ eine wesentliche Rolle. Insofern lässt sich dieser Prozess nur schwer in einer streng systematischen Form darstellen. Wir haben es mit einem kontinuierlichen Prozess wechselseitiger Angleichung zu tun, bei dem die theoretische Begrifflichkeit und der Problembezug des Gegenstandsbereichs sich gleichsam auf der Ebene der „Rechtskonstitution“ begegnen – teils einander bedingend, teils begrenzend. 5 Es werden hier außerjuristische (politische, kulturelle, wirtschaftliche usw.) Gesichtspunkte eingeführt, die „zu Rechtswertungen transformiert“ (J. Esser) werden. Wo die gesellschaftlichen Verhältnisse keine ganz überwiegende und eindeutige Orientierung zeigen, da scheint es nur eine einzige – elementare – Aufgabe des Rechts zu geben, die im Bewahren einer kulturellen Tradition erfüllt wird, die im allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein lebendig ist.

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IV. Normative Falsifikation? Rechtsdogmatische Konzeptionen; die bestimmte Theorien, Quasitheorien und Paradigmen mit metawissenschaftlichen Annahmen hypothetisch verknüpfen, bilden das begriffliche Rückgrat rechtsdogmatischer Interpretation. Ohne selbst der Sphäre der Praxis anzugehören, sind sie gleichwohl auf das Bewusstsein und die Belange der Rechtspraxis bezogen. Durch sie vor allem gewinnt die rechtsdogmatische Arbeitsweise ihren perspektivischen Charakter. Mag der Wissenschaftler bei der Behandlung von Rechtsproblemen auch zunächst allein die Forschungssituation im Auge haben, so ist diese ihrerseits konditioniert durch Fragestellungen, die das gesellschaftliche Bewusstsein und seine Bedürfnisse initiieren, und darüber hinaus durch die Konkurrenz der divergierenden Modelle und Konstrukte. Die latente oder augenscheinliche Beeinträchtigung der Objektivität des Erkenntnisprozesses der praktischen Rechtswissenschaft ist dabei natürlich tunlichst gering zu halten. Hat sich nun aber der Wissenschaftler mit den in den Gesetzen vorfindlichen Werthaltungen und Maßstäben zu identifizieren und die Probleme gleichsam aus dem Horizont des Gesetzes zu interpretieren? Wir wissen heute, dass dies faktisch kaum einlösbar ist. Abgesehen davon ist dieses Anliegen erkenntnistheoretisch unbefriedigend. Denn welcher Interpretationsstandpunkt zu wählen ist, d. h. welche Perspektive der Rechtswissenschaftler an den jeweiligen Gegenstandsbereich heranzutragen hat, lässt sich mit wissenschaftlichen Kriterien allein nicht entscheiden.6 Hierin macht auch das normativistisch-positivistische Programm mit seiner zumindest grundsätzlichen Orientierung an den Maßstäben des jeweiligen Gesetzes oder des Gesetzgebers prinzipiell keine Ausnahme. Im Übrigen liefe dies im Grunde nur auf eine Immunisierung der eigenen Vorgehensweise gegenüber möglicher Kritik hinaus. Gerade dieser Variante eines „normativistischen Objektivismus“ begegnen wir heute mit berechtigtem Misstrauen. Wenn dergleichen Positionen heute unsicher erscheinen, so heißt das nicht, dass deshalb Aussagen perspektivischen Charakters, wie sie hier als kennzeichnend für die Rechtsdogmatik vorgestellt werden, zwangsläufig subjektiv oder willkürlich sind. Sie sind zwar relativ zu einem bestimmten Standpunkt und ohne Bezug auf diesen blind und bedeutungslos, doch intersubjektiv durchaus nachvollziehbar und an den Maßstäben rationaler Wissenschaft logisch wie empirisch bzw. aufgrund einer Wertungsbasis überprüfbar. Das gilt auch für außergesetzliche Rechtfortschreibungen (Richterrecht, Postpositivismus). Dabei darf man davon ausgehen, dass es entsprechend der Pluralität möglicher metawissenschaftlicher Sichtweisen prinzipiell zu einem juristischen Problem oder Problembereich eine Mehrheit von Interpretationen gibt. Ich möchte daher sagen, dass es im Gebiet der juristischen 6 Dazu J. Rahlf, Die Rangfolge der klassischen Interpretationsmittel in der strafrechtswissenschaftlichen Auslegungslehre, in: E. v. Savigny (u. a.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München 1976, S. 14 ff.

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Dogmatik Erkenntnisse über ein und denselben Grundsachverhalt gibt, die nicht als wahr oder falsch, sondern prinzipiell nur als perspektivische, als fach- und standortgebundene nebeneinander gestellt werden können und gerade deshalb kritisierbar bleiben. Es ist möglich, die zugrunde liegenden Prämissen in einer Sequenz von Sätzen zu formulieren, die als solche in weitgehend objektivierter, „wertfreier“ Sprache abgefasst sind. Freilich lässt sich dadurch die Gefahr nur bedingt vermeiden, dass eine solche Sequenz von Aussagen eben eine bestimmte Sichtweise suggeriert, auch dort, wo gerade diese nicht explizit ausgesprochen wird. Was den Gegenstand der kritischen Prüfung angeht, so wird durch die Konfrontation von verschiedenen Deutungen einer jeweils gleichen normativen Situation Erkenntnisfortschritt induziert, und zwar nicht nur im Sinne einer Falsifikation einer dieser Deutungen zugunsten der mit dieser rivalisierenden, sondern auch durch die Entwicklung von Modellen, die die hier angesprochenen Aspekte systematisch aufarbeiten und womöglich auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Solche Modelle haben tendenziell ideologiekritische Funktion. Hier zeigt sich zugleich, dass sich dogmatisch-theoretische Konzeptionen, die als Referenzmodelle für die Deutung von bestimmten normativen Sachverhalten dienen, nur in Ausnahmefällen direkt widerlegen lassen. Dagegen wird der Nachweis, dass bestimmte empirische Gegebenheiten vernachlässigt worden sind, häufig zu einer Modifikation dieser Modelle führen. In jedem Fall aber zwingt die fachkritische Reflexion dazu, solche allgemeinen Referenzmodelle sowie alle konkreteren Erklärungs- und Deutungsschemata, die aus ihnen abgeleitet werden, in der Konfrontation mit der normativen Realität zu entfalten, mit dem möglichen Ergebnis, dass in ihnen Sätze aufgewiesen werden, die zur Aufgabe des dogmatischen Konzepts oder zu dessen Reformulierung zwingen. An diesem Punkt wird sichtbar, dass die Rechtsdogmatik gerade aufgrund ihres perspektivischen Modus eine „aufklärerische“ Funktion zu erfüllen vermag. Die Brücke zwischen rechtsdogmatisch angeleitetem Denken und der perzipierten Normativitätsstruktur des Rechts und seiner Wirklichkeit, die durch theoretische Konzepte der beschriebenen Art gebildet wird, ist zweispurig. Einerseits tritt der Rechtswissenschaftler an das Recht und seinen sozialen Kontext mit einem bestimmten begrifflichen Instrumentarium heran, das wesentlich durch seine jeweilige Situation und einen entsprechenden Bewusstseinshorizont geprägt ist. Andererseits wird er im Laufe seiner Arbeit zu steter Prüfung, Präzisierung, Weiterentwicklung, ja gegebenenfalls zur Aufgabe von Konstrukten und Modellen genötigt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die entsprechenden Referenzmodelle und die diesen zugrunde liegenden Prämissen. Was sich dabei einstellt, ist nicht selten eine „Läuterung der Position“, wobei sich im Hinblick auf die jeweilige Lage Modifikationen der anfänglich eingenommenen Grundhaltung als notwendig erweisen können.

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V. Verwissenschaftlichung der praktischen Vernunft Die Frage nach der praktischen Vernunft als Rechtsvernunft – was immer das im Einzelnen heißen mag – führt in die Rechts- und Sozialethik. Natürlich haben wir dann die „Inhalte“ immer noch nicht. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.7 Nur soviel: Ein „praktisch vernünftiges“ Rechtsverständnis wird von einem Rechtsverständnis zu unterscheiden sein, welches das rechtlich Gesollte auf rein subjektive Entscheidungen gründet und für welches die Zustimmungsfähigkeit seitens der Betroffenen (dennoch) immer schon unterstellt wird. Ich sehe in einem „praktisch vernünftig“ zu nennenden Rechtsverständnis auch und gerade die Offenheit für rationale Kritik. Kritik und kritische Verfahren reichen jedoch allein nicht aus. Die methodischen Ansätze bedürfen der kreativen inhaltlichen Ausfüllung. Der Kritische Rationalismus liefert ein Konzept methodischer Regeln. Rationale Kritik ist eine notwendige Voraussetzung der regulativen Idee der Vernunft. Dies führt dazu, dass gerade auch der Rechtsdogmatiker seine Anschauung über das Recht immer auch der Kritik zu überantworten hat. Wesentlicher Teil einer solchen kritischen Praxis des Rechts ist vor allem die Argumentation, in der wir die Orientierungen im Rechtsdenken kritisch reflektieren und zu intersubjektivieren suchen. Hiernach impliziert ein vernünftiges Rechtsverständnis das methodische Postulat, rechtliche Empfehlungen und Entscheidungen auf kritisch gewonnene Orientierungen zu stellen, die, indem sie sich um Überwindung der Subjektivität im Entscheiden bemühen, Vernunft als regulatives Prinzip (erst) konstituieren.8 Wer sich als rechtsdogmatisch arbeitender Wissenschaftler der Aufgabe praktischer Rechtsvernunft zuwendet, muss selbst in die Schranken kritischer Argumentation treten. Versteht man die kritisch-argumentative Klärung der auf Herstellung eines „guten“ oder „vernünftigen“ Rechts zielenden Absicht primär als rechts- / sozialethisch orientierte kritische Reflexion, so scheint sich das Prinzip Rechtsvernunft weniger am definitorischen Anfang dieses Prozesses zu erschließen als vielmehr erst an dessen praktischem Endpunkt greifbar zu werden. Nachdem man sich dieser Reflexion unterzogen hat, können wir Begriffe wie Rechtsvernunft, Rechtfertigung, Praktikabilität usw. verwenden, um auszudrücken, was wir dann als die bessere, die gerechtere Praxis ansehen.9 Die Funktion von Rechtsvernunft besteht dabei im Wesentlichen darin, Normen vor anderen Normen auszuzeichnen, sodass gegebenenfalls Vorschläge zur Änderung von Normen formuliert werden können. Kritik und Reform der Normen sind 7 Dazu und zum Folgenden R. Weimar, Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft, in: Rechtstheorie, Beiheft 8 (1985), S. 259 – 266 m. w. N. 8 Zu dem damit angesprochenen Transsubjektivitätsprinzip vgl. etwa P. Lorenzen, Normative Logic and Ethics, Mannheim 1969, S. 82; ders., Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1974, S. 35 f.; vgl. auch R. Weimar, Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: Festschrift für Ota Weinberger, Berlin 1984, FN. 46 und 47. 9 Zu weiteren Argumenten, die hier nicht nur strikt logisch gehandhabt werden müssen, vgl. H. Lenk, Pragmatische Philosophie, Hamburg 1975, S. 311 f.

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hier die Aufgabe. Der Pluralismus der Grundwerte wird in dem einen umfassenden Grundwert der Rechtsvernunft miterfasst. Rechtsdogmatik und ihre Praxisanleitung sind dann durch die Verwirklichung dieser Vernunft markiert. Damit ist selbstverständlich nichts über die Wahrheitsfähigkeit dieses Grundwertes ausgesagt. Dass auch Diskursverfahren qua Rationalität (im Sinne von „Vernünftigkeit des Argumentierens“) richtige Normen und objektiv gültige Werte nicht zu garantieren vermögen, ist von O. Weinberger gegen R. Alexy überzeugend dargetan worden.10 Wissenschaftstheoretisch ist aus non-kognitivistischer Sicht nicht zu bestreiten, dass es im Bereich von Rechtsvernunft keine praktische Erkenntnis, d. h. keine rein-kognitive Begründung praktischer Sätze gibt, ein Umstand, der für den gesamten Bereich der Jurisprudenz gilt. Aber es zweifelt wohl niemand daran, dass es hier sachlich begründete praktische Argumentation gibt, und solche Argumentation gibt es auch in Fragen der Rechtsvernunft, insbesondere bei Gerechtigkeitsfragen. Für den Non-Kognitivismus ist Rechtsvernunft ein Erzeugnis praktischen Argumentierens. Daher gibt es Rechtsvernunft als eine „objektiv“ gegebene Größe nicht, es gibt nur die verschiedenen historischen, auf Rechtsvernunft und ihre Korrelate abstellenden Rechtslehren bzw. -schulen. Dass die Möglichkeit von Erkenntnis, was vernünftigerweise sein soll, aus non-kognitivistischer Sicht verneint werden muss, bedeutet freilich nicht, dass nicht relativ zu gewissen präzisierten Vernunftinteressen festgestellt werden kann, was diesen Interessen kompatibel ist. Als „exakte“ Wissenschaft lässt sich dieses Geschäft nicht betreiben. Wissenschaftliche Rationalität ist aber auf eine kognitive Erfassung von Gegenständen nicht beschränkt. VI. Fazit Das rechtsdogmatisch angeleitete Denken kann dazu verhelfen, die Implikationen und Konsequenzen entsprechender Positionen klarer zu erfassen, zugleich aber auch die „relative Berechtigung“ alternativer Konzeptionen deutlicher zu sehen. Auf diese Weise vermag es dazu beizutragen, den einzelnen Rechtsstäben ein größeres Maß an rationaler Orientierung in ihrer jeweiligen Situation zu verschaffen. In diesem Zusammenhang kommt der Perspektivität dogmatischer Aussagen, die zunächst eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Wissenschaftlichkeit der Rechtsdogmatik zu bedeuten schien, die Funktion der Vermittlung von Rechtserkenntnis und gesellschaftlichem Bewusstsein zu. Sie begründet die Möglichkeit beständiger Rückkopplung rechtsdogmatischer Aussagen auf gesellschaftliches 10 O. Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 159 – 232 (188). Dies ist allerdings nur ein Aspekt der Problematik, der die Fragen um die Gestaltung der Inhaltlichkeit offen lässt und nicht erledigt. Die moderne Rationalitätsdebatte bleibt wenig fruchtbar, wenn sie die Inhaltsproblematik nicht materiell neu bearbeitet. Wer es nämlich für eine Aufgabe des Gesetzgebers hält, vernünftige Gesetze zu schaffen, muss sich fragen, wie der Gesetzgeber diese Aufgabe soll erfüllen können, wenn das „vernünftige Recht“ nicht erkennbar ist. Nichts anderes gilt für den Bereich der Rechtsdogmatik.

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Bewusstsein. Insoweit werden Aufklärungs- und Informationsprozesse induziert, die nicht nur unseren fachwissenschaftlichen Wissensbestand zu erweitern geeignet sind, sondern darüber hinaus Bedeutung für die Rechtspraxis gewinnen. Insofern sind Perspektivität und Objektivität nicht unvereinbare, sondern einander bedingende Wegweiser des rechtsdogmatischen Arbeits- und Erkenntnisprozesses.

Europarechtsbasierte Auslegungsrhythmen Eine wichtige Ausprägung der teleologischen Auslegung ist die Suche nach der „nützlichen Wirkung“,1 dem effet utile der auszulegenden Vorschrift. Dieses aus dem Völkerrecht bekannte Prinzip hat zum Inhalt, dass die einzelnen Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts dahingehend auszulegen sind, dass ihr Zweck nach Möglichkeit vollständig erreicht wird, dass also die Vorschrift ihre „Nutzwirkung“ voll entfalten kann. Häufig wird es jedoch mehrere Auslegungsmöglichkeiten geben, bei denen sich der Zweck einer Bestimmung in dieser Weise erreichen lässt.

I. Der effet utile als Auslegungs- und Argumentationsinstrument zur Rechtsangleichung und Integrationssteuerung Der EuGH versteht den Effektivitätsgrundsatz in dem Sinne, dass innerhalb der teleologischen Methode derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben ist, bei der sich die Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Norm am Stärksten entfaltet und bei der ihr praktischer Nutzen am Größten ist. Dazu im Folgenden einige instruktive effet utile-orientierte Urteile des EuGH. 1. Die Rechtssache „Kommission / Bundesrepublik“

Der EuGH2 entschied in der Rechtssache „Kommission / Bundesrepublik“, dass die Befugnis der Kommission, gemäß Art. 93 Abs. 2 EGV a. F. (Art. 88 n. F.) über die Aufhebung oder Umgestaltung von staatlichen Beihilfen zu entscheiden, auch die bindende Aufforderung an den betreffenden Mitgliedstaat umfassen kann, die unter Verletzung des EG-Vertrags gewährten Beihilfen vom Begünstigten wieder zurückzufordern, damit die Aufhebung oder Umgestaltung einen praktischen Nutzen hat. 2. Die Rechtssache „Broekmeulen“

In dem Urteil „Broekmeulen“ beschäftigte sich der EuGH3 mit der Frage, ob der niederländische Streitsachenausschuss für Angelegenheiten der allgemeinen Medi1 2 3

Vgl. etwa Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. München 1999, Rdnr. 583 ff. EuGH – Rs. 70 / 72 Kommission / Bundesrepublik, EuGH Slg. 1981, 2311, 2326. EuGH – Rs. 246 / 80 Broekmeulen, EuGH Slg. 2311, 2326 ff.

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zin, der von Ärzten angerufen werden kann, deren Registrierung als praktischer Arzt abgelehnt worden ist, ein Gericht im Sinne des Art. 177 EGV a. F. (Art. 234 n. F.) und damit befugt ist, ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einzuleiten. Der EuGH stellte hierzu fest, dass diese Berufsorganisation nach niederländischem Recht mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut ist, einer gewissen behördlichen Aufsicht unterliegt und für Rechtsbehelfe zuständig ist, die die Wahrnehmung gemeinschaftsrechtlicher Befugnisse – im vorliegenden Fall die Inanspruchnahme der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach Art. 52 und 59 EGV a. F. (Art. 43 und 49 n. F.) durch einen niederländischen Staatsangehörigen mit einem belgischen Ärztediplom – beeinflussen können. Die Entscheidungen des Streitsachenausschusses, die in einem streitigen Verfahren getroffen werden, würden von den Rechtssuchenden faktisch als endgültig hingenommen, sodass es auf einem gemeinschaftsrechtlich relevanten Gebiet in der Praxis keinen effektiven Rechtsbehelf zu den ordentlichen Gerichten gebe. Der EuGH vertrat daher den Standpunkt, dass er im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts für Auslegungs- und Gültigkeitsfragen zuständig sein müsse, die sich im Rahmen eines Rechtsstreits vor dem Streitsachenausschuss stellen und sah diesen demzufolge als ein mitgliedstaatliches Gericht im Sinne des Art. 177 EGV a. F. (Art. 234 n. F.) an.

3. Die Rechtssache „Kommission / Großbritannien“

Der effet utile ist vom EuGH4 auch im Zusammenhang mit dem System der eigenen Finanzmittel der Gemeinschaft herangezogen worden. In einem diesbezüglichen Rechtsstreit zwischen der Kommission und Großbritannien stellte der EuGH fest, dass Art. 10 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 2891 / 77 die Mitgliedstaaten verpflichte, einem an sie gerichteten Ersuchen der Kommission um vorgezogene Gutschrift der von dem jeweiligen Mitgliedstaat festgestellten eigenen Mittel nachzukommen, damit einer eventuell drohenden Kassenmittelknappheit der Kommission begegnet werden könne. Die von Großbritannien vertretene Ansicht, der Mitgliedstaat könne das Ersuchen ablehnen, würde nach den Ausführungen des Gerichtshofs Art. 10 Abs. 2 der Verordnung seiner praktischen Wirksamkeit berauben, weil diese Weigerung es der Kommission unmöglich machen würde, zu dem von ihr für richtig gehaltenen Zeitpunkt über die Eigenmittel zu verfügen. Dies könnte ein Defizit auf den Konten der Kommission verursachen, was Art. 10 Abs. 2 gerade verhindern soll.

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EuGH – Rs. 93 / 85 Kommission / Großbritannien, EuGH Slg. 1986, 4011, 4031 ff.

Europarechtsbasierte Auslegungsrhythmen

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4. Die Rechtssache „Nimz“

Der EuGH5 hat ferner entschieden, dass die Sicherung des effet utile der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen nicht nur ihm selbst, sondern auch den Gerichten der Mitgliedstaaten übertragen ist. Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste. Wie der EuGH in seiner Rechtsprechung betont, ist das Gemeinschaftsrecht gemäß dem Grundsatz des effet utile möglichst integrationspolitisch wirksam auszulegen. Gerade für die Umsetzung der Richtlinie hat der EuGH6 auf diesen Grundsatz aufmerksam gemacht: „Die den Mitgliedstaaten in Artikel 189 belassene Freiheit bezüglich der Form und der Mittel bei der Durchführung der Richtlinie lässt ihre Verpflichtung unberührt, diejenigen Formen und Mittel zu wählen, die für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Richtlinie am besten geeignet sind.“

Auch im Schrifttum7 wird dieses Effektivitätsprinzip (effet utile) ganz überwiegend als wichtiger Grundsatz der Auslegung von Normen des Gemeinschaftsrechts angesehen. Dem ist – ungeachtet einiger Gegenstimmen, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird, beizutreten. So lehnt etwa Simma8 die Auffassung, dass der Grundsatz „effet utile“ eine eigenständige Bedeutung habe, für den Bereich des Völkerrechts mit der Begründung ab, dass er „nur insoweit anwendbar sei, als er durch den Konsens der Vertragsparteien gedeckt“ sei. Daher sei er auch nicht in die Wiener Vertragskommission aufgenommen worden. Eine ähnlich ablehnende Haltung nehmen Pieper und Schollmaier9 ein, wenn sie ausführen, jeder Norm des Gemeinschaftsrechts sei nach dem Grundsatz „effet utile“ die Interpretation zu geben, dass ihr die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewünschte Wirkung zukomme. Wenn hiernach auf den Willen des Normgebers abgestellt wird, so ist dies zwar im Prinzip zutreffend, doch wird m. E. hierbei zu wenig beachtet, dass der Grundsatz „effet utile“ vor dem Hintergrund der subjektiven Theorie durch den EuGH expressis verbis einen herausgehobenen, ja sogar eigenständigen Stellenwert erlangt. Auch Zuleeg10 EuGH – Rs. C-184 / 89 Nimz, EuGH Slg. I-297, 321. EuGH – Rs. 48 / 75 Royer, EuGH Slg. 1976, Teil I, 497, 498, 517. 7 Vgl. statt vieler Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. Köln 1997, Rdnr. 559 m. w. N. 8 Simma, in: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. Berlin 1984, § 781. 9 Pieper / Schollmeier, Europarecht, Köln 1999, S. 42. 10 Zuleeg, Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1969, 97. 5 6

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äußert sich zurückhaltend gegenüber dem Aspekt des effet utile und meint, der effet utile lege nicht fest, welchem Zweck die Norm nützen sollte: „Setzt man ihn aber mit dem Grundsatz der Funktionsfähigkeit gleich, besagt er, dass diejenige Auslegung zu wählen ist, die am ehesten zum Gelingen des Integrationsvorhabens beiträgt.“ Auch diese Argumentation ist sicherlich insoweit richtig, als das Gemeinschaftsrecht auf Grund des ersten Erwägungsgrundes der Präambel des EGVertrages stets integrationsfreundlich auszulegen ist. Man wird aber richtigerweise über Zuleeg hinausgehend sagen müssen, dass die Ausprägung, die das Prinzip des effet utile durch den EuGH erfahren hat, in seiner Darstellung wohl zu schwach akzentuiert bleibt. Der Grundsatz des effet utile fasst vielmehr – ungeachtet einzelner vorgenannten Gegenstimmen – zwei besonders wichtige Aspekte der Auslegung zusammen, indem er einmal herausstellt, dass es auf den Willen des Normgebers ankommt, und zum anderen diesen Ansatz gleichsam überhöhend in einer dezidiert EG-spezifischen Weise den Gedanken enthält, dass der Wille des Gemeinschaftsgesetzgebers stets auf einen immer engeren Zusammenschluss der Völker gerichtet ist. Mit anderen Worten: die integrationsfreundliche Auslegung gezielt postuliert. Vor diesem Hintergrund verdient der Gesichtspunkt des effet utile als ein selbstständiges Auslegungskriterium bezeichnet zu werden. Für diese Ansicht spricht nicht zuletzt die Art und Weise der Rechtsvergleichung, der sich der EuGH bedient. Danach spielt nicht nur in den Fällen die Rechtsvergleichung eine Rolle, in denen die Rechtsnorm dies ausdrücklich anordnet, wie z. B. bei Art. 288 Abs. 2 EGV, sondern vor allem dort, wo es um Rechtsvergleichung zur Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts – z. B. bei den Grundrechten oder zur Ermittlung und Festlegung der gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung der Terminologie (z. B. bei Richtlinien) – geht. Der EuGH bedient sich dabei der wertenden Rechtsvergleichung, indem er nicht den nationalen Ansatz favorisiert, wie er am zahlreichsten in den Mitgliedstaaten vertreten wird, sondern den Ansatz wählt, der mit den allgemeinen Vertragszielen am Besten in Einklang zu bringen ist. Anders als im Völkerrecht müssen die entwickelten Rechtsgrundsätze daher nicht allen Rechtsordnungen gemein sein. In den Fällen, in denen die Rechtsvergleichung nicht bereits in der Rechtsnorm angeordnet ist, wird sie dennoch zu Recht mit der „materiellen Einheit von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht“ bzw. der „systematischen Geschlossenheit“ begründet. Insgesamt darf diesen Überlegungen entnommen werden, dass auch im Europäischen Privatrecht zwar die allgemeinen Kriterien der Auslegung wie z. B. Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinnzusammenhang gelten, dass aber darüber hinaus besondere Auslegungsgesichtspunkte existieren, die in ihrer Integrationsund Harmonisierungsbezogenheit – allen voran der Gedanke des effet utile – eine EG-geprägte, spezifisch gemeinschaftsrechtliche Komponente aufweisen.

Europarechtsbasierte Auslegungsrhythmen

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II. Direktwirkung von Richtlinien – Auslegungs- oder Richterrechtsdoktrin? Zur Direktwirkung von Rechtsnormen kann hier nur festgehalten werden, dass das tragende Argument für die unmittelbare Wirkung von Richtlinien zum Einen in der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts liegt. Zum Anderen soll dem Mitgliedstaat, der der ihm obliegenden Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie nicht nachgekommen ist, verwehrt werden, seinen Bürgern gegenüber Vorteile aus diesem vertragswidrigen Verhalten zu ziehen. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien zwischen Privaten ist hingegen ausgeschlossen, weil die Richtlinie – anders als die Verordnung – nicht geeignet ist, Einzelne unmittelbar zu verpflichten. Es handelt sich um eine Richterrechtsdoktrin.

III. Richtlinienkonforme Auslegung Zu prüfen ist, wie eindeutig bestehende nationale Vorschriften den Vorgaben der Richtlinie entsprechen müssen, damit eine Umsetzung der Richtlinie entbehrlich ist. Nationale Normen, die nur auf Grund einer richtlinienkonformen Auslegung den Zielen der Richtlinie entsprechen, genügen einer ordnungsgemäßen Umsetzung nicht. Indes ist jede noch so eindeutige Vorschrift der Auslegung fähig und im Einzelfall ggf. auch bedürftig. Die Mitgliedstaaten können daher nicht generell allein auf Grund der Tatsache, dass das bestehende nationale Recht nur durch Auslegung den Vorgaben der Richtlinie entspricht, zum Erlass einer neuen Rechtsnorm verpflichtet sein.11 Für die Frage, wie eindeutig das nationale Recht den Zielen der Richtlinie entsprechen muss, ist daher zunächst die richtlinienkonforme Auslegung von der herkömmlichen nationalen Auslegung abzugrenzen. Der EuGH12 hat zur richtlinienkonformen Auslegung grundlegend ausgeführt: „Allerdings ist klarzustellen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie 76 / 207 erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auszulegen hat, um das in Artikel 189 Absatz 3 genannte Ziel zu erreichen.“ 11 Vgl. zum Problemkreis allgemein Bleckmann, Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, München 1994. 12 EuGH – Rs. 14 / 83 von Colson / La Commercial Internacional de Alimentación SA, EuGH Slg. Teil 1, Bd. IV, 4135, 4159 Tz. 8.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

Diese Rechtsprechung griff der EuGH13 in der Rechtssache C-106 / 89 erneut auf und konkretisierte seine Ansicht wie folgt: „Daraus folgt, dass in nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag nachzukommen.“

In seinem Schlussantrag zur Rechtssache C-106 / 89 vom 12. 07. 1990 führte Generalanwalt van Gerven14 hierzu aus: „Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ist immer dann gegeben, wenn die nationale Rechtsvorschrift in irgendeiner Weise auslegungsfähig ist. Das nationale Gericht muß dann unter den in seinem System üblichen Auslegungsmethoden derjenigen Vorrang einräumen, die es in die Lage versetzt, der betreffenden nationalen Rechtsvorschrift eine Bedeutung zu geben, die mit der Richtlinie in Einklang steht. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird allerdings durch das Gemeinschaftsrecht selbst begrenzt, dem die Richtlinie angehört, insbesondere durch die auch im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots.“

Die richtlinienkonforme Auslegung unterscheidet sich hiernach dadurch von der herkömmlichen nationalen Auslegung, dass dem Auslegungsergebnis stets der Vorzug zu geben ist, das nach den herkömmlichen nationalen Interpretationsregeln möglich ist und gleichzeitig im Einklang mit der Richtlinie steht. Die richtlinienkonforme Auslegung postuliert daher zwar den Vorrang derjenigen Auslegung, die den Zielen der Richtlinie entspricht, jedoch nur unter Beachtung der herkömmlichen nationalen Auslegungsregeln. Eine vorhandene auslegungsfähige nationale Rechtsnorm verpflichtet daher zur Umsetzung, wenn die der Richtlinie entsprechende Auslegung sich nur auf Grund des Vorrangs der Auslegung ergibt, die der Richtlinie entspricht. Nach Ansicht des EuGH genügt jedoch auch nicht jede auslegungsfähige Rechtsnorm einer ordnungsgemäßen Umsetzung, selbst wenn sie unabhängig von einer richtlinienkonformen Auslegung zu einer der Richtlinie entsprechenden Interpretation führen kann. Der EuGH hebt vielmehr in seiner Rechtsprechung – und ausdrücklicher als früher – hervor, dass zur Umsetzung von Richtlinien eindeutige Regelungen erforderlich sind. So hat der EuGH15 in der Rechtssache 143 / 83 betreffend die Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ausgeführt:

13 EuGH – Rs. C-106 / 89 Marleasing SA / La Commercial International de Alimentation SA, EuGH Slg. 1990, Teil I, Bd. IV, 4135, 4159 Tz. 8. 14 Schlussantrag bezüglich der Rs. C-106 / 89, EuGH Slg. 1990, 4144, 4146. 15 EuGH – Rs 143 / 83 Kommission / Dänemark, EuGH Slg. 1985, 427, 435 Tz. 9 und 10.

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„Insoweit besitzt das umstrittene Dänische Gesetz nicht die für den Schutz der betreffenden Arbeitnehmer erforderliche Klarheit und Genauigkeit. Selbst wenn man mit der dänischen Regierung davon ausgeht, daß die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen in dem von der Richtlinie gewollten weiten Sinne im Rahmen der Tarifverträge gewährleistet ist, ist nicht bewiesen worden, daß die Anwendung dieses Grundsatzes in gleicher Weise für diejenigen Arbeitnehmer sichergestellt ist, deren Rechte nicht tarifvertraglich festgelegt sind. Da diese Arbeitnehmer in der Regel nicht organisiert sind und in kleinen oder mittleren Unternehmen arbeiten, ist besonders aufmerksam darauf zu achten, daß die sich für sie aus der Richtlinie ergebenden Rechte gewahrt werden. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes erfordern somit eine eindeutige Formulierung, die den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht und die Gerichte in die Lage versetzt, ihre Einhaltung sicherzustellen.“

Der EuGH fordert hiernach eine eindeutige nationale Regelung zur Umsetzung von Richtlinien. Die Begründung folgt primär aus der Pflicht der Mitgliedsstaaten, die Richtlinie möglichst effektiv umzusetzen. Eine Auslegung bestehender nationaler Rechtsnormen, die nicht hinreichend eindeutig sind bzw. nur im Zweifel mit den Vorgaben der Richtlinie in Einklang stehen, kann daher eine Umsetzung der Richtlinie nicht erübrigen. Überdies strebt die Richtlinie gerade die Einheit des Gemeinschaftsrechts auf dem betreffenden Gebiet an. Eine mehrdeutige Rechtslage führt jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit zur gewünschten Einheit des Gemeinschaftsrechts. Daraus ergibt sich, dass nicht jede auslegungsfähige Rechtsnorm der Umsetzung genügt, selbst wenn sie unabhängig von einer richtlinienkonformen Auslegung zu einer der Richtlinie entsprechenden Auslegung führen kann. Fraglich bleibt aber immer noch, welche Kriterien eine eindeutige Regelung ausmachen, sodass eine Umsetzung entbehrlich ist. Hierzu fordert etwa Jarass,16 dass die Bestimmtheit und Klarheit der Umsetzungsnorm nicht hinter den Bestimmtheitsgrad der Richtlinie zurückfallen darf. Über dieses Mindestmaß hinaus muss jedoch die Norm in einer Weise bestimmt und klar sein, dass der betroffene Einzelne seine Rechts und Pflichten erkennen und diese auch ggf. gerichtlich geltend machen kann. Diese Maßstäbe genügen indes noch nicht, um eine Regelung als eindeutig zu klassifizieren; daher sind weitere Kriterien zu entwickeln. So wird zu fordern sein, dass die nächstliegende und gleichzeitig herrschende Auslegung der bestehenden nationalen Norm den verbindlichen Zielen der Richtlinie entsprechen muss. Es genügt nicht, wenn nur eine von mehreren gleich naheliegenden Auslegungsvarianten im Einklang mit den Zielen der Richtlinie steht. Eine solche Rechtslage ist nämlich weder hinreichend klar noch eindeutig. Schließlich dürfte zu fordern sein, dass die Auslegung, die mit den Vorgaben der Richtlinie übereinstimmt – selbst wenn es sich um die herrschende Auslegung han16 Vgl. hierzu Jarass, Folgen der innerstaatlichen Wirkung von EG-Richtlinien, NJW 1991, S. 2665.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

delt –, nicht dem klaren Wortlaut, der grundsätzlichen Systematik bzw. dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers widersprechen darf. Denn eine solche Rechtslage wäre für den Bürger nur schwer durchschaubar und würde ihn im Zweifel daran hindern, seine Rechte gerichtlich geltend zu machen. Hiernach ist festzuhalten, dass eine Umsetzung erforderlich ist, wenn die bestehende nationale Rechtslage von den verbindlichen Zielen der Richtlinie abweicht. Um zu überprüfen, ob eine Divergenz zwischen den Vorgaben der Richtlinie und dem nationalen Recht besteht, sind zunächst die verbindlichen Ziele der Richtlinie durch Auslegung zu ermitteln. Ferner muss anhand der oben angeführten Kriterien überprüft werden, ob die nationale Regelung eindeutig genug den verbindlichen Zielen der Richtlinie entspricht. Unmittelbare Wirkung und richtlinienkonforme Auslegung genügen also einer ordnungsgemäßen Umsetzung nicht.

IV. Implied powers Im Rahmen der Implied-powers-Doktrin17 wird in begrenztem Umfang eine Ermächtigung der Gemeinschaftsorgane über die im EG-Vertrag speziell geregelten Rechtsgrundlagen und die Generalklausel des Art. 308 EGV hinaus angenommen. Dabei geht diese Lehre davon aus, dass eine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz immer diejenigen Kompetenzen mit enthält, ohne die die eigentlich geregelte Kompetenz nicht vernünftig und zweckmäßig wahrgenommen werden kann. Die Implied-powers-Doktrin ist jedoch keine Ausnahme vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Denn die Ermächtigung ist inzident bereits in der ausdrücklich geregelten Ermächtigung enthalten. Sie entspricht im Grunde einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs. Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung betont hat, darf die Implied-powers-Doktrin im Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen. Die Kompetenzerweiterung bedarf daher grundsätzlich einer Vertragsänderung.

V. Rechtsvergleichung als Rechtsfindungsweg im Gemeinschaftsinteresse Die Rechtsvergleichung ist keine nur formale Methode der Gegenüberstellung von Normen, sondern eine wissenschaftliche Behandlung des Rechts, die über eine bloße Beschreibung oder praktische Anwendung ausländischen Rechts hinausgeht18 Gegenstand der Rechtsvergleichung ist das Miteinandervergleichen von verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. Zum Einen kann sie erfolgen, indem Geist und Stil verschiedener Rechtsordnungen und die in ihnen verwendeten Denkmethoden und Verfahrensweisen miteinander verglichen werden (Makroverglei17 18

Orientierend hierzu Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, Köln 1963. Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1987, S. 11, 25.

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chung).19 Insoweit werden die allgemeinen Methoden des Umgangs mit dem Rechtsstoff oder die Arbeitsweise der mit dem Recht befassten Juristen zum Gegenstand der vergleichenden Untersuchung gemacht. Die Mikrovergleichung hat es demgegenüber mit speziellen Rechtsinstituten oder konkreten Einzelproblemen zu tun. Hier geht es um Regeln, nach denen bestimmte Sachprobleme oder Interessenkonflikte in verschiedenen Rechtsordnungen beurteilt werden.20 Allerdings sind die Übergänge zwischen Makro- und Mikrovergleichung fließend, da man die Lösungen, die die ausländischen Rechtsordnungen für ein konkretes Rechtsproblem anbieten, regelmäßig als Teil der jeweiligen Rechtsordnung als Ganzes sehen muss.21. Im Übrigen lässt sich die Bedeutung der ausländischen Rechtsinstitute regelmäßig erst vor dem Hintergrund der jeweiligen soziokulturellen Gegebenheiten hinreichend erfassen. Ziel der Rechtsvergleichung ist es, diejenige Lösung eines konkreten Problems zu finden, die bei verständiger Wertung des Vergleichsmaterials als die „bessere“ Lösung anerkannt zu werden verdient.22 Aus dem Vergleich mit ausländischen Regelungen ergeben sich Ideen, Einsichten und Argumente, zu denen man wahrscheinlich nicht oder nicht ohne weiteres gelangen würde, wenn man das eigene Recht allein aus sich heraus betrachtet.23 Zu beachten bleibt dabei, dass nur diejenigen Regeln miteinander vergleichbar sind, die in den verschiedenen Rechtsordnungen den gleichen als problematisch empfundenen Lebenssachverhalt ordnen wollen. Der Vergleich der nationalen Regelungen lässt dann die Umrisse der zu lösenden Fragen klarer hervortreten und erleichtert es, von mehreren möglichen Lösungen die beste, zweckmäßigste und gerechteste zu wählen. Während die Rechtsvergleichung im nationalen Recht einen eher geringen Einfluss auf die Auslegungspraxis der Gerichte hat, hat Daig24 den EuGH geradezu als „Hochburg“ der angewandten Rechtsvergleichung“ bezeichnet und dies sicherlich nicht zu Unrecht. Denn im Europäischen Gemeinschaftsrecht kommt der Rechtsvergleichung insofern eine besondere Bedeutung zu, als es sich hier um eine internationale Rechtsordnung handelt, die trotz ihrer Eigenständigkeit eng mit den Rechtstraditionen ihrer Mitgliedstaaten verwurzelt ist. Gerade auch das geschriebene Gemeinschaftsrecht ist daher vor dem Hintergrund der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu betrachten. Rechtsvergleichung im Gemeinschaftsrecht ist – wie Daig bemerkt – sowohl zur Interpretation von Textbegriffen als auch zur Ausfüllung von Lücken zu betreiben. Das Auslegungsergebnis muss nämlich international akzeptabel sein und Rechtseinheitlichkeit gewährleisten. Ders., Einführung, S. 31. Ders., Einführung, S. 31. 21 Ders., Einführung, S. 32. 22 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvertragsgleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 2. Aufl. Tübingen 1984, S. 8. 23 Rheinstein, Einführung, S. 26. 24 Daig, Zu Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für Konrad Zweigert, Tübingen 1981, S. 395, 415. 19 20

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Ein mit großer Sachkunde zusammengestelltes, abgewogenes rechtsvergleichendes Material wird nicht selten in den Schlussanträgen der Generalanwälte ausgebreitet, während sich der EuGH in seinem entsprechenden späteren Urteil darauf beschränkt, durchweg lediglich das Ergebnis dieser Analysen festzuhalten. Die Zulässigkeit der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode im Gemeinschaftsrecht ergibt sich aus den Verträgen selbst. Nach Art. 288 EGV hat die Gemeinschaft im Bereich der außervertraglichen Haftung (Amtshaftung) den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, zu ersetzen. Die Vorschriften verweisen den EuGH ausdrücklich auf die Lösungen der nationalen Rechtssysteme und damit auf die das Amtshaftungsrecht der Mitgliedstaaten tragenden Grundsätze. Die rechtsvergleichende Methode kommt also hier nicht etwa nur als eine unter mehreren Methoden der Auslegung in Betracht; ihre Anwendung wird dem EuGH vielmehr durch die Verträge verbindlich vorgeschrieben. Bei aller Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts sollte der EuGH die Verbundenheit des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten durch Anwendung der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode stärker unterstreichen, zumal diese Verbundenheit in der zentralen Vorschrift über den Gerichtshof, Art. 220 EGV, besonders zum Ausdruck kommt.

VI. Zur „richtigen“ Auslegung im Prozess der Europäisierung des Privatrechts Da dem EuGH – wie oben gezeigt – mehrere anerkannte Wege zur Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm zur Verfügung stehen, fragt es sich, inwieweit der Gerichtshof an diese Auslegungsmethoden gebunden ist. Dies hängt davon ab, ob es sich bei ihnen um (echte) Rechtsregeln oder eher um Methodenregeln, die dem Bereich des im Einzelfall lege artis zu findenden Rechts angehören und die nur eine Palette möglicher Maximen bereitstellen, aufgrund derer der Richter – ohne eigentliche rechtliche Bindung – die ihm als angemessen erscheinenden Gesichtspunkte auswählen kann. 1. Zweifel an der Verbindlichkeit methodischer Vorgehensweise bei der Auslegung?

Auslegungsmethoden dienen dazu, insbesondere den Sinn und Zweck der anzuwendenden Normen aufzudecken und näher zu erhellen. Daher gehören sie einer anderen Ebene an als das materielle Recht und seine Normen selbst. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass die Auslegungsregeln völlig unverbindlich seien. Daig25 geht 25

Ders., Rechtsvergleichung, S. 395.

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m. E. zutreffend davon aus, dass sie „in anderer Weise“ verbindlich seien als die Normen des materiellen Rechts. Zu Recht sind die Auslegungsmethoden daher auch als „Rechtsvorbereitungsrecht“ (Daig) bezeichnet worden. Gegen die Annahme einer Unverbindlichkeit der Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht spricht insbesondere Art. 288 Abs. 2 EGV, der ein Beispiel für eine Methodenanweisung und ihre Verbindlichkeit liefert. Methodische Anweisungen für den Richter, insbesondere die Notwendigkeit, das Gemeinschaftsrecht in breitem Umfang teleologisch zu interpretieren, ergeben sich auch bereits daraus, dass Präambel und Einleitungsartikel des EGV dessen Ziele beschreiben. Im Übrigen schließt die Feststellung in Art. 314 EGV, alle sprachlichen Fassungen des EGV seien „gleichermaßen verbindlich“ eine beliebige Handhabung der grammatischen Auslegungsmethode aus. Hiernach ist der Richter nämlich gehalten, bei sprachlichen Abweichungen die Bedeutung eines jeden beteiligten Wortlauts zu prüfen und in die Bestandsaufnahme und Abwägung der für die eine oder andere Lösung sprechenden Argumente gleichberechtigt einzubeziehen. Somit handelt es sich insbesondere auch bei der für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts maßgebenden Gesichtspunkten der Integration und Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts nicht etwa nur um bloße Empfehlungen, sondern um Anweisungen mit Verbindlichkeitscharakter der Vertragsparteien an den EuGH. Dabei ist auf der anderen Seite allerdings nicht zu übersehen, dass bei ihrer Anwendung ein nicht unbeträchtlicher Spielraum besteht. Die genannten Auslegungsgesichtspunkte liefern dem Gerichtshof für diese oder jene Bedeutung der entsprechenden Rechtsnorm Argumente, die er zu erwägen verpflichtet ist. Im Übrigen liegt der Gerichtshof auch mit seiner Annahme richtig, wenn er die Vorschrift des Art. 288 Abs. 2 EGV als allgemeine Methodenanweisung für die Schließung von Lücken versteht, wobei zusätzlich auch aus der Perspektive der wertenden Rechtsvergleichung als Methode zur Ausfüllung von Regelungslücken die Verbindlichkeit methodischen Vorgehens des EuGH bei seinen Entscheidungen unterstrichen wird.26

2. Das Nebeneinander mehrerer Auslegungsmethoden

Bei der Beschränkung auf eine einzige Auslegungsmethode wäre dem EuGH eine umfassende Sinnermittlung grundsätzlich nicht möglich. Daher steht ihm zur Auslegung des geschriebenen Gemeinschaftsrechts ein gewisses Spektrum an Auslegungsmethoden zur Verfügung, um den konkreten Einzelfall einer Lösung zuzuführen. Handelt es sich dagegen um die Ermittlung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen, so ist der Gerichtshof auf die Anwendung der Methode der wertenden Rechtsvergleichung beschränkt. Insofern muss der Gerichtshof von vornherein eine Auswahl unter den Auslegungsregeln treffen. Dabei lässt sich nicht annehmen, 26 In der Perspektive einer Vereinheitlichung des Europäischen Privatrechts und über bloße Harmonisierung hinausweisend etwa Taupitz, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung heute und morgen, Tübingen 1993.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

dass die hergebrachten Auslegungsregeln stets zu ein und demselben Auslegungsergebnis führen. Vielmehr wird der EuGH bei der Anwendung der einzelnen Methoden womöglich auf Argumente stoßen, die mehrere Deutungen der auszulegenden Norm zulassen. So müssen etwa die Zielsetzung einer Norm einerseits und ihre Entstehungsgeschichte andererseits im Rahmen der Auslegung der Norm nicht zu demselben Ergebnis führen. Auch kann der Wortlaut der Norm für eine Auslegung sprechen, die die systematische Stellung der Norm nicht notwendigerweise stützen muss und umgekehrt.

3. Rangordnung der Auslegungsmethoden

Was zunächst das geschriebene Gemeinschaftsrecht angeht, so ist in einigen Urteilen des Gerichtshofs einer Rangfolge der Interpretationsmethoden erkennbar. Der EuGH hat sich in den Urteilen „APS“27 und „Kommission / Rat“28 für einen Vorrang der teleologischen gegenüber der historischen Auslegung ausgesprochen. Zur Begründung führt er an, dass für die Ermittlung der zutreffenden Rechtsgrundlage eines Gemeinschaftsrechtsakts nicht die subjektive Auffassung des rechtssetzenden Organs entscheidend sei – die sich aus den Begründungserwägungen (Art. 253 EGV) ergibt –, sondern das objektiv mit der Regelung verfolgte Ziel. Ein Vorrang der grammatischen gegenüber der historischen Auslegung kommt in anderen Urteilen des EuGH – „Antonissen“29 und „Kommission / Italien“30 – zum Ausdruck. Danach können Protokollerklärungen des Rates dann nicht zur Auslegung einer Verordnung oder Richtlinienbestimmung herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung im Wortlaut der jeweiligen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und damit keine rechtliche Bedeutung erlangt hat. Schließlich wird die vorrangige Anwendung der grammatischen Auslegungsmethode gegenüber der Auslegung im Lichte der nachfolgenden Praxis der Mitgliedstaaten durch den EuGH bejaht. So hat der EuGH31 im „Defrenne“-Urteil ausgesprochen, dass Art. 141 EGV in seiner Wirksamkeit nicht dadurch beeinträchtigt werden dürfe, dass einige Mitgliedstaaten, die ihnen vom Vertrag auferlegte Verpflichtung nicht erfüllt haben und die Gemeinschaftsorgane gegen diese Untätigkeit nicht mit der erforderlichen Schärfe eingeschritten seien. Selbst eine übereinstimmende nachfolgende Praxis aller Mitgliedstaaten vermöge sich nicht über den Wortlaut des Art. 141 EGV hinwegzusetzen; ihre Berücksichtigung würde nämlich auf eine unzulässige Änderung des Vertragswortlauts außerhalb des dafür vorgesehenen formellen Verfahrens hinauslaufen. 27 28 29 30 31

EuGH-Rs. 45 / 86 APS, EuGH Slg. 1987, 1493, 1520. EuGH-Rs. C-300 / 89 / Kommission / Rat, EuGH Slg. 1991, S I-2867, 2898. EuGH-Rs. C-292 / 89 Antonissen, EuGH Slg. 1991 I-745, 778. EuGH-Rs. 429 / 85 Kommission / Italien. EuGH Slg. 1988, 843, 852. EuGH-Rs. 43 / 75 Defrenne, EuGH Slg. 1976, 455, 473.

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Abgesehen von der Subsidiarität der historischen Auslegung und der Auslegung im Lichte der nachfolgenden Praxis, wird man sich mit generalisierenden Aussagen zum Verhältnis der Auslegungsmethoden untereinander eher zurückhaltend sein, um dadurch nicht von vornherein den Auslegungsvorgang zu verkürzen. Zwar nimmt der EuGH in zahlreichen Urteilen auf die teleologische Methode Bezug, aus diesem Umstand allein lässt sich jedoch nicht ein genereller Vorrang der teleologischen Methode ableiten. Wie der EuGH32 ausgeführt hat, seien nach seiner Rechtsprechung bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem die Vorschrift stehe, und die Ziele, die mit ihr verfolgt würden, zu berücksichtigen. Dies legt die Annahme nahe, dass der EuGH von einer grundsätzlichen Gleichberechtigung der grammatischen, systematischen und teleologischen Auslegung ausgeht. Diese Gleichberechtigung dürfte – mangels gegenteiliger Ausführungen des EuGH – auch für die übrigen Methoden gelten, ausgenommen freilich die historische Auslegung und die Auslegung im Lichte der nachfolgenden Praxis der Mitgliedstaaten, denen der EuGH – wie oben ausgeführt – Gleichrangigkeit explizit abgesprochen hat. Letztere besitzen Bedeutung nur insofern, als sie eine bereits aufgrund anderer Methoden gefundene Auslegung bestätigen können. Die Frage, welche der gleichrangigen Auslegungsmethoden für den EuGH ausschlaggebend ist, wenn diese zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, lässt sich daher nicht generell, sondern nur aufgrund der Umstände und gegebenenfalls der Besonderheiten des Einzelfalles entscheiden. Etwaige Widersprüche zwischen den Auslegungsmethoden müssen daher in einer abwägenden Entscheidung aufgelöst werden.

VII. Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Auslegungstheorie in der Methodologie des Europarechts Die Entscheidung über die „richtige“ Auslegung einer gemeinschaftsprivatrechtlichen Norm, die der EuGH als oberste Auslegungsinstanz zu treffen hat, lässt sich nicht mit letzter Exaktheit gewinnen. Die Anwendung der einzelnen Auslegungsmethoden führt – wie wir gezeigt haben – nicht immer zu einem übereinstimmenden Ergebnis. Die Methoden lassen vielmehr regelmäßig Raum für mehr oder weniger breite Spielräume. Da im Gemeinschaftsrecht eine feste Rangordnung der Auslegungsmethoden nach der Rechtsprechung des EuGH nur insoweit besteht, als – wie oben ausgeführt – der historischen Auslegung und der Auslegung im Lichte der nachfolgenden Praxis der Mitgliedstaaten grundsätzlich eine untergeordnete Rolle gegenüber der grammatischen und der teleologischen Auslegung zukommt, wird das Auslegungsergebnis letztlich über eine Interessenabwägung gefunden. In diese fließen alle in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten ein, die zuvor anhand der Auslegungsmethoden ermittelt worden sind. Dabei erweisen sich – wie ebenfalls oben gezeigt – Integration und Harmonisierung auch 32

EuGH-Rs. 136 / 91 Findling, EWS 1993, 287, 288.

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im Gemeinschaftsprivatrecht, insbesondere auch im europäischen Produkthaftungsrecht, als den Auslegungsvorgang wesentlich mitbestimmende Faktoren. Ziel einer gemeinschaftsrechtlichen Auslegungstheorie ist dabei die „richtige“ Auslegung der jeweiligen Bestimmung des geschriebenen Gemeinschaftsrecht. Zu diesem Zweck hat der EuGH die unter Anwendung der einzelnen Auslegungsmethoden gewonnenen Ergebnisse einer Kontrolle zu unterziehen, ob und inwieweit sie den beteiligten Interessen gerecht werden.33 Je nach Lage des Falles bedeutet dies, dass die Interessen der Gemeinschaft und die der Mitgliedstaaten, aber auch der Schutz der Individualinteressen, in die Interessenabwägung einzubeziehen sind. Dabei sind auch jeweils die Folgen der Entscheidung zu berücksichtigen. Wie die Rechtsprechung des EuGH in zahlreichen Urteilen erkennen lässt, bestimmt der Gerichtshof die Tragweite von Primär- und Sekundärrechtsvorschriften im Zweifel im Sinne einer weiten Auslegung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages34. Allgemein lässt sich sagen, dass der EuGH, wo immer ihm dies möglich war, das Gewicht seiner Entscheidung zu Gunsten der schwächsten Partei in die Waagschale geworfen hat, was sich gerade auch im Bereich der Produkthaftung als Teilgebiet des Verbraucherschutzes zu Gunsten der Bürger in den Mitgliedstaaten in Zukunft sicherlich erwarten lässt. Da es sich bei dem Gemeinschaftsrecht um Integrationsrecht handelt, neigt der Gerichtshof überdies – wie oben ausgeführt – im Zweifel zu einer integrationsfreundlichen Auslegung. Mit der Interessenabwägung ist die letzte Stufe des Entscheidungsprozesses erreicht. Es ist jedoch unabweisbar, dass immer noch ein Raum für die Dezision des Interpreten verbleibt, wobei dieser Entscheidungsspielraum je nach der Bestimmtheit der Norm unterschiedlich sein kann. Eine gemeinschaftsprivatrechtliche Auslegungslehre wird daher nicht übersehen dürfen, dass die Auslegungstätigkeit eines Rechtsprechungsorgans und damit auch des EuGH letztlich von der klassischen Aufgabe jeder Rechtsprechung bestimmt sein muss, Frieden und Gerechtigkeit zu stiften. Da das Gemeinschaftsrecht kein auch nur tendenziell lückenloses Gebilde ist, wird eine solche Auslegungslehre zugestehen können, dass der EuGH zwangsläufig in höherem Maße zur Rechtschöpfung berufen ist, als ein nationales Gericht, um der Gemeinschaft die Züge einer Rechtsgemeinschaft zu verleihen. Seine Auslegung im weiten Sinne orientiert sich an den primärrechtlichen Wertungen und darf nicht im Wege einer autarken richterlichen Abwägung betrieben werden. Der EuGH dürfte sich der Tatsache bewusst sein, dass die Lösung komplexer rechtspolitischer Fragen, die eine Vielzahl möglicher Entscheidung zulassen, nicht mehr von dem ihm nach Art. 220 EGV übertragenen Rechtsprechungsauftrag gedeckt wird. Seine richterliche Zurückhaltung in diesem Bereich kommt immer dann zum Ausdruck, wenn der Gerichtshof „beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. 33 34

Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 134. Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1179.

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VIII. Ausblick Wer das vom EuGH erzeugte ungeschriebene Gemeinschaftsrecht oder die bisweilen extensive, als in besonderem Maße europafreundlich empfundene Auslegung der Verbandskompetenzen der Gemeinschaft kritisiert, dem dürfte entgegen zu halten sein, dass Richterrecht immer der Korrekturmöglichkeit durch den Gesetzgeber unterliegt. Die Legislativorgane der Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten haben es daher in der Hand, von ihnen etwa missbilligtes Richterrecht durch neue Gesetzgebungsakte oder Vertragsänderungen zu korrigieren. Die Rechtsprechung des EuGH bestätigt aber, dass der Gerichtshof sowohl die Kompetenzen der anderen Gemeinschaftsorgane als auch die der Mitgliedstaaten beachtet, die seine Auslegungsbefugnis begrenzen.

Integrations- und angleichungsorientierte Interpretationskonzepte im Europäischen Privatrecht Auch für das Gemeinschaftsrecht ist der Wortlaut Ausgangspunkt der Auslegung. Die Richtlinie macht insoweit im Grundsatz keine Ausnahme. Die wörtliche oder grammatikalische Auslegung versucht den Inhalt der Richtlinie aus der sprachlichen Fassung abzuleiten. Dabei ist sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch die vom Normgeber verwendete Fachsprache zu berücksichtigen. Indes sind bei der grammatikalischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts Besonderheiten zu beachten. Die einzelnen, verbindlichen sprachlichen Fassungen weichen nämlich teilweise von einander ab.

I. Methodische Auslegung und Leitaspekte bei kodifiziertem Gemeinschaftsrecht Lutter1 will bei der Auslegung von EG-Richtlinien zunächst „eine Textkritik“ vornehmen und durch „Vergleich“ der sprachlichen Fassungen feststellen, welche genaue Formulierung gemeint ist. Damit bleibt jedoch die entscheidende Frage offen, wie die maßgebliche sprachliche Fassung zu ermitteln ist. Durch einen bloßen Vergleich kann man lediglich die Unterschiede der einzelnen Fassungen erkennen. Richtigerweise wird man in Fällen dieser Art aus der verwendeten Terminologie keine abschließenden rechtlichen Folgerungen ziehen können. Es wird daher insoweit primär auf andere Auslegungskriterien abzustellen sein. Der historischen Methode der Auslegung kommt für die Auslegung von Richtlinien nur geringe Bedeutung zu, da die nationalen Vorbilder der Richtlinie nicht herangezogen werden können und daher lediglich die wenigen, vorhandenen Vorgänger-Richtlinien im Rahmen der historischen Methode berücksichtigt werden können. Indes kann die Entstehungsgeschichte der Richtlinie Aufschlüsse für die Ermittlung des Willens des Gemeinschaftsgesetzgebers geben. In diesem Sinne können insbesondere die Entwürfe einschließlich ihrer Begründungen, die Erwägungsgründe, die gemeinsamen Erklärungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Erlass der Richtlinie sowie die Stellungnahmen des Parlaments und gegebenenfalls der Ausschüsse zur Auslegung herangezogen werden. Ebenso können Protokollerklärungen des Rates berücksichtigt werden, wenn sie veröffentlicht worden sind. Hingegen sind einseitige Erklärungen von Mitgliedstaaten, insbesondere zu Protokoll des Rates gegebene Erklärungen, nur von Gewicht bei Richtlinien, die auf einer 1

Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593, 599.

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Rechtsgrundlage beruhen, die einen einstimmigen Beschluss zur Grundlage haben. Erklärungen der Kommission sind nützlich, wenn sie einen Hinweis auf den Willen des Rates geben. Insgesamt kann der Entstehungsgeschichte somit bei der Auslegung von Richtlinien Gewicht zukommen; sie darf daher nicht unbeachtet bleiben. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts anhand des Sinnzusammenhangs der Norm (systematische Auslegung) ist sowohl beim Primärrecht als auch beim Sekundärrecht anerkannt.2 Die Auslegung dieser Art untersucht den Zusammenhang der einzelnen Regelung in der Richtlinie bzw. der Richtlinie im Gesamtzusammenhang des EG-Rechts. Sie kann hieraus Rückschlüsse auf den Willen des Rates ziehen, weil im Zweifel davon auszugehen ist, dass der Rat zum Einen den Aufbau bewusst gewählt hat und zum Anderen auch im Einklang mit der übrigen Rechtsordnung handeln wollte. Der EuGH3 formulierte insoweit bei der Auslegung einer Verordnung wie folgt: „Dass die Verfasser der Verordnung Nr. 3 die Freiheit des staatlichen Gesetzgebers in dieser Weise einschränken wollten, kann daher nur insoweit angenommen werden, als die gleichzeitige Anwendung mehrerer Rechtsordnungen eindeutig in Widerspruch zum Vertrag, insbesondere zu dessen Art. 48 bis 51 stehen würde.“

Ähnlich wie die verfassungskonforme Auslegung im nationalen Recht wird die primärrechtskonforme Auslegung im Gemeinschaftsrecht allerdings teilweise neben der systematischen Auslegung als besonderes Kriterium genannt. Grund ist, dass sowohl unter der verfassungskonformen Auslegung als auch der primärrechtskonformen Auslegung teilweise nur der Grundsatz verstanden wird, dass bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten die verfassungskonforme bzw. die mit dem EGV zu vereinbarende Möglichkeit zu wählen ist. Mit der in dieser Weise definierten primärrechtskonformen Auslegung ist im Grunde allerdings nur ein Teilaspekt der systematischen Auslegung angesprochen, der freilich wegen der besonderen Bedeutung des EG-Vertrages besonders hervorgehoben werden kann. Im Rahmen der systematischen Auslegung kommt es im Einzelnen auf folgende drei Hauptaspekte an.4 Einmal wird die Stellung des Begriffs innerhalb der Richtlinie selbst überprüft. Auch die Gliederung der Richtlinie kann das verbindliche Ziel der Richtlinie verdeutlichen. Zum Anderen wird die Richtlinie und deren Regelungen mit dem übrigen Sekundärrecht und dessen Regelungen verglichen, was damit zu erklären ist, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber eine einheitliche Rechtsordnung schaffen will. Und schließlich wird die Richtlinie am Primärrecht der Gemeinschaft gemessen, da dieses höherrangig ist. Daneben können als Bestandteil des Primärrechts, insbesondere die in Art. 1 ff. EGV enthaltenen Grundsätze, die vier Grundfreiheiten, die Präambel des EG-Vertrages sowie die vor allem 2 Vgl. statt zahlreicher anderer etwa Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. Köln 1997, Rdnr. 542 f. 3 EuGH vom 9. 6. 1964 – Rs. 92 / 63 Nonnenmacher / Verzekeringsbank, EuGH Slg. 1964, 611 ff., 628. 4 Zum Folgenden vgl. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. München 1999, Rdnr. 585 ff.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

aus dem EG-Vertrag ableitbaren Rechtsgrundsätze (z. B. Verhältnismäßigkeitsprinzip, Rechtssicherheit) bei der systematischen Auslegung berücksichtigt werden. Die integrationsfreundliche Auslegung des EuGH resultiert aus dem ersten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrags. Sie ist daher als Bestandteil der systematischen Auslegung aufzufassen und stellt kein besonderes Auslegungskriterium des Gemeinschaftsrechts dar. Was die Bedeutung der teleologischen Auslegung angeht, so betont der EuGH in seinen Entscheidungen häufig den Zweck der Norm. Natürlich kann aus der Tatsache, dass der EuGH die teleologische Auslegungsmethode heranzieht, nicht ohne weiteres erkannt werden, wie er den Zweck der Richtlinie ermittelt hat, wenn er den Zweck der Richtlinie lediglich feststellt. In Fällen dieser Art greift der EuGH jedoch oft auf die Entstehungsgeschichte, insbesondere die Begründungserwägung, zurück. Es darf daher angenommen werden, dass die Betonung der teleologischen Auslegung durch den EuGH – zumindest in Fällen dieser Art – dafür spricht, dass er (auch) der subjektiven Auslegungstheorie folgt. Dies mag durch drei Beispiele kurz belegt werden: In der Rechtssache 139 / 84 bezüglich der Richtlinien 67 / 228 und 77 / 388 formuliert der EuGH wie folgt:5 „Der Umstand ( . . . ) spricht eindeutig dafür, dass der Rat diesem Begriff eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung geben wollte.“

In der Rechtssache 260 / 78 heißt es mit Bezug auf eine Verordnung: „Dieses Ergebnis der wörtlichen Auslegung der Bestimmung entspricht den gesetzgeberischen Absichten.“

Schließlich hat der EuGH in der Rechtssache 29 / 69 bezüglich einer Entscheidung wie folgt formuliert: „Ist eine Entscheidung an alle Mitgliedstaaten gerichtet, so verbietet es die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung, die Vorschrift in einer ihrer Fassung isoliert zu betrachten, und gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Lichte ihrer Fassung in allen vier Sprachen auszulegen.“

Hiernach darf davon ausgegangen werden, dass der EuGH bei der Auslegung von Richtlinien der subjektiven Theorie folgt. Dies wird noch besonders bestätigt in der Entscheidung der Rechtssache 294 / 83, die sich freilich auf die Auslegung von Primärrecht (Art. 177 EWG-Vertrag) bezog; in dieser Entscheidung wich der EuGH sogar vom ausdrücklichen Wortlaut der Norm ab. Hält man den möglichen Wortlaut der Norm für die Grenze der Auslegung, dann hat sich in dieser Entscheidung der Gerichtshof – zumindest indirekt – zur subjektiven Theorie bekannt.

5 EuGH vom 14. 5. 1985 – Rs. van Dijk’s Bouhuls / Staatssecretaris van Financien, EuGH Slg. 1985, Teil II, 1405, 1417.

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II. Funktionelle Integration oder kulturgeschichtlich-integrative Wirkungseinheit Europas als Basis und Ziel interpretativer Harmonisierungsbestrebungen? 1. Die funktionelle Integration

Die Gegenüberstellung Europa als bloß funktionale Integration einerseits und Europa als geistesgeschichtliche Wirkungseinheit andererseits entspricht nur einer selektiven Wahrnehmung der europarechtlichen Entwicklung.6 Obwohl das System der Europäischen Gemeinschaften lange von der Rückbindung an wirtschaftspolitische Zielsetzungen bestimmt war, ist diese „funktional begrenzte Finalität“ (Herdegen) von den Mitgliedstaaten nie als letzter Zweck verstanden worden. Sie hat stets auch für eine umfassendere Vernetzung nationaler Politiken gedient. Die Gründungsstaaten der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft bekennen den festen Willen, die „Grundlagen“ für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“ (Präambel des EG-Vertrages). Hinter der Art der Integration stand immer das Bemühen, durch die Rückwirkung auf andere Bereiche den „spill-over-Effekt“ (Herdegen) in eine engere politische Zusammenarbeit münden zu lassen.7 2. Das kulturelle Erbe: Einheit und Vielfalt

Neuere Äußerungen zum Begriff der kulturellen Identität wie zum für jenen Begriff wiederum konstitutiven Kulturbegriff sind geprägt von einem im Grundsätzlichen aufbrechenden Gegensatz zwischen der „Moderne“ einerseits und der „Postmoderne“ andererseits, wobei beide Strömungen heutiges Denken – auch das Rechtsdenken – „gleichzeitig“ beeinflussen. Die insoweit bestehende wissenschaftliche Kontroverse wirkt sich auf den jeweiligen Kulturbegriff nicht unwesentlich aus, zumal die Ursprünge der Debatte in den ästhetischen Kulturwissenschaften liegen.8 Eines der Charakteristika der Postmoderne ist das offene Bekenntnis zum Gefühl.9 Damit ist auch gesagt, dass Irrationales an die Oberfläche drängt. Zu den Denkstilen und Ausdrucksformen führt Jayme10 aus: „Relativ einfach erscheint es, übergreifende Werte der postmodernen Gesellschaft – wie etwa das Bekenntnis zur Pluralität – heranzuziehen und die verschiedene Haltung der Vgl. Herdegen, Europarecht, 2. Aufl. München 1999, Rdnr. 11. Zum Ganzen Herdegen, Europarecht, Rdnr. 12. Insbesondere ist mit der Entwicklung „allgemeiner Rechtsgrundsätze“ die Beziehung der funktionellen Integration zu einem gemeineuropäischen Standard im Bereich der Grundrechte auf der Basis der überkommenen Verfassungen der Mitgliedstaaten offensichtlich; ähnlich Herdegen, Europarecht, Rdnr. 13. 8 Einführend zur Problematik etwa Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne – Diskussion, Frankfurt am Main 1988, S. 7 ff. 9 Jayme, Rechtsvergleichung – Ideengeschichte und Grundlagen von Emerico Amari zur Postmoderne, Heidelberg 2000, S. 111. 10 Jayme, Rechtsvergleichung, S. 115. 6 7

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

Rechtssysteme zu diesen Fragen zu untersuchen. Schwieriger wird es, wenn man Denkstil und Ausdrucksformen aus der postmodernen Kultur für rechtliche Fragestellungen verwenden möchte. Während in anderen Ländern die ästhetischen Dimensionen des Rechts durchaus erörtert werden, haben wir eine Scheu, solchen Überlegungen nachzugehen. Dabei gibt es assoziative Verbindungen zwischen dem Recht und anderen Kulturerscheinungen, die sich aufdrängen.“

Diesen Gedanken, denen auch im Rahmen der Europäisierung des Privatrechts – zumal bei den Auslegungsgesichtspunkten der Integration und Harmonisierung – und auch vor dem Hintergrund der Rechtsvergleichung – zentrale Bedeutung zukommt, soll hier in der aus Raumgründen leider gebotenen Kürze einmal nachgegangen werden. Wie sehr die „kulturelle Identität eines Rechtssystems“ (Jayme) die Haltung zur Frage der Pluralität bestimmt, zeigt sich schon in verschiedenen Richtlinien, insbesondere in der Produkthaftungsrichtlinie und dort vor allem in ihrer teilweise optionell gestalteten Harmonisierungstendenz, die wie an anderer Stelle näher ausgeführt ist, der Vielfalt der Rechtsordnungen entgegenkommt. Dabei darf hier vorweggenommen werden, dass die postmoderne Theorie der Auslegung, die vor allem auch die Rechtsvergleichung einbezieht, nicht am „Bestehenden und Bewährten“ (Jayme) rüttelt; sie möchte vielmehr neue Fragestellungen an eine traditionelle Wissenschaft heranführen. Fragen dieser Art lassen sich vor allem dadurch gewinnen, dass man postmoderne Werte auf ihre Verwirklichung im Prozess der Europäisierung des Privatrechts prüft. Wie Jayme insbesondere für die postmoderne Rechtsvergleichung gezeigt hat, sind als Werte dieser Art insbesondere die Pluralität und das Nebeneinander verschiedener Kulturen, Narration und Kommunikation sowie die existenzielle Bedeutung von Empfindungen und Gefühlen anzusehen.11 Dabei können – wie Jayme weiter ausführt – neue Fragen an die Rechtsvergleichung – und man wird hinzufügen dürfen: auch an die Auslegung – in der Weise gestellt werden, dass man „die kulturellen Veränderungen unserer Zeit beschreibt und in ihren rechtlichen Äquivalenzen untersucht“.12 Ein spezifisches Material der postmodernen Vergleichung ist daher auch das Europäische Privatrecht unserer Tage, vor allem und auch vor dem Hintergrund der Suche nach Unterschieden in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen, bei denen davon auszugehen ist, dass sie bestehen. Aus dem „Unvereinbaren“ könnte sich dann eine Quelle der Erkenntnis auch für die rechtswissenschaftliche Arbeit ergeben.13 Da der Postmoderne ein ästhetischer Zug eigen ist, kann postmodernes Denken im Hinblick auf den Kulturbegriff und damit exemplarisch auch für den Begriff der Rechtskultur exemplarisch herangezogen werden. Grundtenor aller postmodernen Kritik an der Moderne ist eine Absage an universalistische Theorien, sodass an deren Stelle ein Denken zu setzen sei, das u. a. auf der Pluralität beruhe. Die 11 12 13

Jayme, Rechtsvergleichung, S. 118. Jayme, Rechtsvergleichung, S. 118. In diesem Sinne Jayme, Rechtsvergleichung, S. 118.

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Moderne sei – wie insbesondere Koslowski14 annimmt – geprägt von einem „kulturellen Kontextverlust“, ihre utopischen Hoffnungen seien erschöpft, wohingegen postmodernes Denken mit seiner „Mehrsprachigkeit“ sowie dem Prinzip des „anything goes“ eingefahrene Denkstrukturen aufbrechen und auf diesem Wege zu einem eigenständigen „mehrsprachigen“ Kulturbegriff gelangt.15 Ein näheres Eingehen auf diese Grundsatzdebatte tragenden theoretischen Implikationen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Hervorgehoben sei nur, dass im postmodernen Denken Kultur nicht mehr als bloßer „Überbau“ begriffen wird, sondern in ihr ein entscheidender Faktor der Selbstreproduktion der Gesellschaft erblickt wird, da kulturelle Veränderungen die Matrix für alle Entwicklungen vorgeben. So betrachtet die Postmoderne den Verlust „bestimmter Leitideen“ als einen Gewinn an Autonomie und Freiheit des Einzelnen. Differenz und Heterogenität, Spezifität, Mehrdimensionalität und Pluralität – auch in ihrer möglichen Konfliktträchtigkeit – als Paradigmen sind Stichworte, die das postmoderne Denken kennzeichnen, den Kulturbegriff beeinflussen und auf ihn zurückwirken. Demgegenüber setzt die Moderne weiterhin auf den Vernunftbegriff der Aufklärung, betont die „unvollendeten Möglichkeiten der Moderne“ und der in ihr selbst – als kritischem Prinzip – angelegten Heilungspotentiale. Ohne die Notwendigkeit von Pluralität zu leugnen, gelangt sie auf dieser Basis zu einem am Vernunftprinzip orientierten Kulturbegriff. Innerhalb eines „kommunikationsoffenen Systems“ wird durch Rückkoppelung der Expertenkulturen an die Lebenswelt sowie durch Kommunikationsstrategien versucht, in der Kultur ein sowohl Einheit stiftendes System zu sehen als auch die Kennzeichnung des Systems zu etablieren. Die Postmoderne stellt sich nicht als eine „einheitliche“ Denkrichtung dar. Ihr unterfallen unterschiedliche Denkmodelle, deren gemeinsames Band eine dezidierte Absage an die Moderne ist und denen es im Wesentlichen auf die Betonung von Vielheiten, Differenzen, Mehrdimensionalitäten etc. ankommt. In diesem Sinne liegen postmoderne Phänomene immer dort vor, wo nicht Uniformierung, sondern Mehrsprachigkeit besteht, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen praktiziert wird. Wichtig ist hierbei auch, dass diese Sichtweise nicht in verschiedenen „Werken“ nebeneinander stattfindet, sondern im ein und demselben „Werk“. Stärker in das Zentrum führt das der Postmoderne inhärente ästhetische Denken, das geprägt durch die Kunsterfahrung, versucht, die Wirklichkeit zu verstehen und geschichtlichen Elementen im Kulturverständnis Ausdruck zu verleihen. Pluralität der Denk- und Lebensformen wird daher zu einem Hauptanliegen eines solchen Denkens. Exemplarisch demonstrieren lässt sich postmodernes KulturverKoslowski, Die postmoderne Kultur, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1988, S. 27 ff., 64 ff. Vgl. zum Problemkreis Jayme, Langue et Droit, Brüssel 1999; ferner Jayme, Multicultural Society and Private Law, Rom 1999. 14 15

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

ständnis am Beispiel der postmodernen Architektur, worauf Jayme16 besonders hingewiesen hat. Kernelemente eines postmodernen Kulturbegriffs sind demnach:17 – Unbestimmtheiten, d. h. es gibt keinen bestimmenden Einfluss „eines“ Stils; der Begriff des Stils eignet sich nicht als ein Einheit stiftendes Band für „den“ Kulturbegriff. – Pluralitäten, wobei auch die Erfahrung der Gleichzeitigkeit in der Zeit eine Rolle spielt, die die Unterschiede von Vergangenheit und Gegenwart zumindest relativiert und die unterschiedlichen Zeitebenen im Nebeneinander akzeptiert. Als Konsequenz in dieser so gedachten Pluralität ergibt sich eine Verschiedenheit von Kulturbegriffen, die nebeneinander bestehen können, sodass Pluralität zum Schlüsselwort für postmoderne Kulturvorstellungen wird.

Auffassungen dieser Art stehen „moderne“ Positionen gegenüber, die dem von der Postmoderne in den Vordergrund gerückten Charakter der Kultur mit Skepsis begegnen.18 Grundlage eines an der Moderne orientierten Kulturbegriffs ist die These, dass grundsätzlich an der Möglichkeit der Einheitsstiftung durch Kultur festgehalten wird, obwohl die Vernunft sich in ihre einzelnen Momente ausdifferenziert hat. So wird in der Kultur unter dem Stichwort „Demokratisierung der Kultur“ eine Möglichkeit gesehen, die plurale Gesellschaft auf der „kommunikativen Ebene“ (Habermas) zusammenzubringen.19 Aber auch demgegenüber behalten die Elemente postmodernen Kulturverständnisses ihre Gültigkeit, sodass es sich anbietet und sinnvoll erscheint, sie auf ihre europarechtliche Umsetzbarkeit im Privatrecht hin zu überprüfen. Ein Kulturbegriff in diesem Sinne wird – wie an dieser Stelle schon hervorgehoben sei – verschiedene Elemente der unterschiedlichen Kulturdefinitionen aufzunehmen haben. Andererseits darf er nicht so weit gehen, dass er sich als ein „Konglomerat“ verschiedener Definitionen versteht, da ihm sonst seine rechtliche Handhabbarkeit fehlt. Auf die damit in Zusammenhang stehende Problematik soll im Folgenden eingegangen werden. Für das Erkennen der Eigengesetzlichkeiten eines Sachbereichs ist eine Analyse des „außerrechtlichen Materials“ erforderlich. Das gilt insbesondere im in der vorliegenden Arbeit zu behandelnden Bereich der Haftung, wo es nicht genügt, auf ein eher kulturwissenschaftliches Gesamtverständnis zurückzugreifen, da dieses nicht den Normen voraus liegende Grundlagen erfasst, und nicht die Frage beantwortet, wie außerrechtliche Faktoren zu rechtsnormativen Maßstäben für die InterJayme, Rechtsvergleichung, S. 111 und passim. Vgl. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne, S. 50 ff. 18 Vgl. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 26 ff. 19 Hierzu ausführlich Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1987, S. 206 ff., 584 ff. und passim. 16 17

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pretation geltenden Rechts werden. Die Frage nach denjenigen Realdaten, die letztlich den Normbereich konstituieren und damit zur Grundlage der juristischen Entscheidung gemacht werden, wird daher zu einem – ebenfalls – entscheidenden Gesichtspunkt der Normkonkretisierung. Es geht um die Einbeziehung außerrechtlicher Faktoren in den rechtlichen Entscheidungsprozess, welche von dem durch juristische Interpretation zu ergründenden Normprogramm umfasst werden. Um auf das gewählte Beispiel der Haftung zurückzukommen: Dort zeigt sich im außerrechtlichen Bereich, dass eine Unterscheidung zwischen Haftung und Nichthaftung im konkreten Fall durchaus schwierig sein kann, weil die Kriterien, die zur Abgrenzung entwickelt werden, fließend sind und von der Einschätzung „in der Zeit“ abhängen. Dass damit notwendigerweise über die normative Relevanz oder Irrelevanz von den den Sachbereich mitbegründenden außerrechtlichen Faktoren entschieden wird, liegt im Wesen der Jurisprudenz als einer Normwissenschaft und begegnet keinen Bedenken, solange diese Entscheidungsvorgänge offen gelegt werden und damit der Nachvollziehbarkeit unterliegen. Gerade Normen, die sich auf nicht rechtserzeugte Sachbereiche erstrecken, weisen demgemäß ein hohes Maß an außerrechtlichen Entscheidungsgehalten auf, die im Prozess der Rechtsfindung vom Rechtsanwender zu konkretisieren und letztlich als verbindlich festzulegen sind. Wer teleologisch interpretiert, also den Sinn und Zweck einer Rechtsnorm eruiert, deren Wortlaut kraft der Vielschichtigkeit der Sprache mehrere Auslegungen zulässt, der erforscht die der Norm zu Grunde liegende Idee als eine dem Recht vorgegebene, außerrechtliche und auf wirtschaftlichen, sozialen, natürlichen etc. Umständen beruhende Gegebenheit. Damit wird der strenge juristische Interpretationszusammenhang verlassen und es fließen außerrechtliche Entscheidungsmaßstäbe in die juristische Auslegung der Norm ein, wodurch das Recht den Anschluss an die seinen Regelungen zu Grunde liegende Lebenswirklichkeit wahrt. Recht ist so verstanden ein Kulturphänomen, das über seine formalen Bedingungszusammenhänge hinaus auch auf die Lebenswirklichkeit steuernd einwirkt. Erst eine Annäherung des Rechts an außerrechtliche Sinninterpretationen ermöglicht eine über die Auslegung erfolgende Anbindung des Rechts an die Lebenswirklichkeit. Daraus ergibt sich, dass der Einfluss „vorrechtlicher Erkenntnisse“ nicht zuletzt auch im postmodernen Sinne um so größer sein wird, je weniger präzis bestimmte und scharf abgegrenzte Rechtsbegriffe vorhanden sind, was – wie gesagt – insbesondere für den Bereich nicht rechtserzeugter Sachbereiche gilt. Vor diesem Hintergrund kann Kultur als Rechtskultur20 als ein umfassender Prozess der Humanisierung aufgefasst werden, der durch die Reproduktion symbolischer Gehalte und durch die Begründung kommunikativer Handlungsformen auf der einen Seite kollektive Identitätsbildung ermöglicht und damit auch europaorientierte Integrationsleistungen ermöglicht. Zugleich aber braucht ein solcher 20 Dazu näher Schulze, Die europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte – Zu den gemeinsamen Grundlagen europäischer Rechtskultur, Saarbrücken 1991.

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Kulturbegriff des Rechts die Öffnung der Kultur für die in den Staaten und in der einzelnen Gesellschaft vorhandenen Pluralitäten. Das insofern auch gemeinschaftsrechtlich begründbare Pluralitätserfordernis erfährt im Zusammenhang und Zusammenspiel mit der Kultur, für die Pluralität einen Wesenskern darstellt, die Prägung, dass in den Kulturbegriff selbst plurale Strömungen einfließen und aufzunehmen sind. Er wird mithin in einem Maße offen sein müssen, dass er – wie nicht zuletzt durch das im Europarecht verankerte Subsidiaritätsprinzip deutlich wird – auch Widersprüchliches und Unvereinbares zu einem Bestandteil seines Begriffs machen kann. Kultur als ein Spielsystem und Ereignis von Möglichkeiten ist daher nicht nur ein Wesenskern des Kulturbereichs im außerrechtlichen Bereich, sondern über seine heutige gemeinschaftsrechtliche Anbindung auch ein Element eines normativ geprägten und geleiteten Kulturbegriffs in Europa. Aus dieser Sicht ergibt sich schließlich auch, dass die als praktische Ordnungsaufgabe im Rahmen von Auslegungsleistungen zu betreibende Rechtsvergleichung21 nicht etwa nur das Ziel zu verfolgen hat, das Gemeinsame der Rechtssysteme aufzuspüren, sondern sich auch um die Unterschiede und das Trennende zu kümmern hat.22 Daher gilt es, die einzelstaatlichen Spielräume zu erhalten. Das amerikanische Beispiel zeigt, wie selbst in einem ausgereiften Bundesstaat unterschiedliche Gesetze und eine entsprechende Rechtspraxis in einem gleichsam postmodernen Sinne koexistieren können.23

21 Dazu näher Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, RabelsZ 54 (1990), 203 ff.; Buxbaum, Die Rechtsvergleichung zwischen nationalem Staat und internationaler Wirtschaft, RabelsZ 60 (1996), 201 ff.; Großfeld, Rechtsmethoden und Rechtsvergleichung, RabelsZ 55 (1991), 4 ff.; Mansel, Rechtsvergleichung und europäische Rechtseinheit, JZ 1991, 529 ff.; Reinhart, Rechtsvergleichung und richterliche Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Privatrechts, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-JahrFeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg 1986, S. 599 ff. 22 Zur Problematik siehe auch Sandrock, Die Europäische Gemeinschaften und die Privatrechte ihrer Mitgliedstaaten: Einheit oder Vielfalt, EWS 1994, 1 ff. 23 In der durch ein Nebeneinander bundes- und zwischenstaatlicher Strukturen geprägten EU verfestigt sich – bis auf weiteres – ein tief verwurzelter Grundwert, der allerdings im politischen Alltag nicht in jedem Land gleichermaßen Geltung hatte; die „Solidarität“. Sie entspricht weitgehend den in Deutschland mit der „sozialen Marktwirtschaft“ verbundenen Werten. Doch die Zeiten und Umstände sind so, dass es hierüber zu einem transatlantischen Systemwettbewerb kommen kann: Die EU hat sich im März 2000 in Lissabon auch das Ziel gesetzt, in einem Jahrzehnt führende ökonomische Weltmacht zu sein. Diese wirtschaftliche Ambition und ein Streit über den Weg könnten für die Wertegemeinschaft der EU zu einer Art Zerreißprobe werden.

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III. Harmonisierung im Auslegungsprozess als Mittel von Integrationssicherung und Integrationsförderung 1. Harmonisierung

Der Begriff Harmonisierung wird in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Da die fehlende inhaltliche Schärfe nicht nur theoretisch unbefriedigend ist, sondern auch negative praktische Auswirkungen haben kann, wird hier zunächst versucht, eine Bestimmung des Begriffs der Harmonisierung vorzunehmen. Für die weitere Untersuchung ist es außerdem nützlich, die teils synonym, teils zusätzlich verwendeten Begriffe „Integration“ und „Zentralisierung“ hiervon abzugrenzen. Einer geläufigen Begriffsbestimmung zufolge bedeutet Harmonisierung die Anpassung gesetzlicher Bestimmungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften mit dem Ziel der Liberalisierung des Dienstleistungs-, Güter- und Kapitalflusses. Als Gegenstand der Harmonisierung werden meist die Zoll- und Steuerpolitik, aber auch die Verkehrspolitik und das Gesellschaftsrecht genannt. Diese Definition entspricht – obgleich wegen der Nichtberücksichtigung des freien Personenverkehrs unvollständig – der klassischen Vorstellung von dem, was harmonisierungsbedürftig ist, nämlich solche einzelstaatlichen gesetzlichen Bestimmungen, die das Funktionieren des Binnenmarktes im Sinne des Art. 7 a EGV stören könnten. Die Definition ist kompatibel mit dem Wortlaut der entsprechenden Passage im EG-Vertrag: Art. 100 betrifft die „Richtlinien“ für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Anders ausgedrückt, Art. 100 EGV handelt von der Harmonisierung der dort genannten binnenmarktrelevanten Rechtsvorschriften. Der Begriff Harmonisierung kam jedoch im EGVertrag vor 1987 nicht vor und wurde ab 1987 bis zur erneuten Reform von 1992 nur in Art. 100 a Abs. 4 EGV erwähnt: „Hält es ein Mitgliedstaat, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat, für erforderlich . . .“ Ein anderer Ansatz zur begrifflichen Bestimmung unterscheidet zwischen der Harmonisierung im engeren und weiteren Sinne. Harmonisierung im engeren Sinne steht für „. . . die Anpassung gesetzlicher Regelungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, besonders im Zusammenhang mit der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes.“ Diese Begriffsbestimmung entspricht im Wesentlichen der oben genannten Definition. Harmonisierung im weiteren Sinne ist dagegen die „Bezeichnung für die Abstimmung konjunktur-, finanz-, sozial- und außenwirtschaftspolitischer Maßnahmen verschiedener Staaten im Sinne einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik (z. B. auf den Weltwirtschaftsgipfeln)“. Auch dieser weit gefasste Harmonisierungsbegriff ist ergänzungsbedürftig, und zwar um den Bereich des Verbraucherschutzes, insbesondere der Produkthaftung. Doch selbst mit dieser Ergänzung reicht die weite Definition nicht aus, um die produkthaftungsrelevante Tätigkeit der EG befriedigend zu beschreiben. Nur beide Definitionen zusammen genommen, also Harmonisierung im engen und im weiten

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Sinne, können alles erfassen, was die EG an Harmonisierungsbestrebungen im Produkthaftungsbereich unternommen hat. Der Begriff Harmonisierung umfasst deshalb im Folgenden sowohl die ex-postAnpassung rechtlicher Regelungen der Mitgliedstaaten als auch die ex-ante-Abstimmung einzelner Produkthaftungspolitiken. Der Begriff wird also im weitesten Sinne verwendet. Dazu gehört selbstverständlich auch die Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht.24 Spezifizierungen sind für den politischen Erklärungsansatz und für die ökonomische Analyse notwendig. Sie können durch entsprechende Zusätze wie „positive“ Harmonisierung oder „Mindestharmonisierung“ vorgenommen werden.25 2. Integration, Zentralisierung

„Integration“ bedeutet in Abgrenzung gegenüber Harmonisierung die Herstellung einer Einheit oder Eingliederung in ein größeres Ganzes.26 Integration in den nationalen Wirtschaftsbeziehungen steht sowohl für die Situation als auch für den Prozess des wirtschaftlichen Zusammenschlusses mehrerer Länder. Dies geschieht durch den Abbau von Beschränkungen in den gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen (z. B. Handelshemmnisse) und den Aufbau gemeinsamer Politiken (z. B. Wirtschaftspolitik). Die Integration kann verschiedene Grade aufweisen. Dabei werden Stufen wie z. B. Präferenzzone, gemeinsamer Markt und vollständige wirtschaftliche Integration mit entsprechenden zuständigen supranationalen Instanzen, unterschieden. Während der Begriff „Integration“ sowohl einen Zustand beschreibt als auch für den Prozess zur Erreichung dieses Zustands steht,27 bezeichnet der Begriff „Harmonisierung“ den Weg oder die Methode, wie dieser Prozess in Gang gesetzt bzw. der gewünschte Zustand erreicht wird. Integration ist also das Ziel, Harmonisierung ist als Mittel zu dieser Zielerreichung anzusehen. Integration und Harmonisierung stehen also in einem Ziel-Mittel-Verhältnis. Im Gegensatz zur Harmonisierung geht Integration nicht zwangsläufig mit der Angleichung von Produkthaftungsanforderungen in den Mitgliedstaaten einher. Unterschiedliche Anforderungen, die einer optionellen Harmonisierung Rechnung Everling, RabelsZ 1986, 193 ff. Eingehend zum Harmonisierungsbegriff Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. München 1999, Rdnr. 1200 ff.; vgl. auch Dölle, Gezielte und gewachsene Rechtvereinheitlichung, ZfRV 4 (1963), 133 ff.; Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluss Europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), 71 ff. 26 Zum Begriff der Integration und seiner Differenzierung ebenfalls Oppermann, Europarecht, insb. Rdnr. 20, 1856, 2068. 27 Dazu näher Rittner, Das Gemeinschaftsprivatrecht und die europäische Integration, JZ 1995, 849 ff.; Koehler, Integration und Auslegung – Zur Doppelfunktion des Europäischen Gerichtshofes, in: Jayme (Hrsg.), Ein internationales Zivilverfahrensrecht für Gesamteuropa, Heidelberg 1991, S. 11 ff. 24 25

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tragen, können in einem integrierten Markt und mit gemeinsamer Politik durchaus kompatibel sein. Wird als Mittel der Integration die Harmonisierung von nationalen Regelungen gewählt, so resultiert daraus ein Angleichungseffekt. Der Grad der Angleichung ist davon abhängig, welche Harmonisierungstechnik angewandt wird sowie davon, was Gegenstand der Harmonisierungsmaßnahmen ist. Gelegentlich wird – in einem eher abwertenden Sinne – bei der Diskussion der Harmonisierungspolitik der EG – auch der Begriff „Zentralisierung“ verwendet. Zentralisierung in der EG entspricht der Verlagerung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die EG-Organe. Diese Kompetenzverlagerung ist vertragsrechtlich möglich, jedoch nicht zwingend. Jede Harmonisierungsmaßnahme der EG bedeutet, dass diese eine gemeinschaftsrechtliche Aufgabe wahrnimmt, während gleichzeitig mindestens ein Mitgliedstaat in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt wird. Ein Zentralisierungseffekt durch Harmonisierung entsteht jedoch nicht oder zumindest nur in abgeschwächter Form, wenn den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume für nationale Alleingänge verbleiben oder wenn die Mitgliedstaaten Anpassungen ohne Beteiligung bzw. ohne Federführung der EG vornehmen. Harmonisierung und Zentralisierung tragen im Übrigen nicht notwendig interventionistische Züge. Sie können auch zur Liberalisierung nationaler Regelungssysteme und zum Aufbruch bürokratischer Strukturen in den Mitgliedstaaten führen, wenn dadurch Monopole – etwa im Bereich der Abwasser oder der öffentlichen Müllentsorgung – aufgebrochen werden. Schließlich können Verbraucherschutzaspekte und ökonomische Gründe verdeutlichen, dass bestimmte Harmonisierungsaktivitäten und damit verbundene „Zentralisierungstendenzen“ im Produkthaftungsbereich durchaus sinnvoll sein können.

3. Einheit des Gemeinschaftsrechts

Um die Einheit des Gemeinschaftsrechts zu sichern, ist eine integrations- und angleichungsorientierte Auslegung gerade auch im Europäischen Privatrecht erforderlich. Vor diesem Hintergrund werden die zuvor vorgestellten Begriffe wie Integration und Harmonisierung als Gesichtspunkte der Auslegung besonders relevant. So vertritt – wenn auch nicht speziell für den Bereich des Europäischen Privatrechts – etwa Bleckmann28 die Auffassung, dass die Funktion, die Funktionsfähigkeit sowie die Einheit des Gemeinschaftsrechts besondere gemeinschaftsrechtliche Auslegungsprinzipien darstellen. Lutter29 hält sogar den Regelungszusammenhang für ein spezifisches EG-Kriterium bei der Auslegung. Alle diese Aspekte stellen EG-relevante Kriterien dar, die zwar mit den allgemeinen Grundkriterien der Auslegung in Zusammenhang stehen, aber in dem verwendeten Kontext infolge ihrer 28 Bleckmann, Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, 1777, 1979. 29 Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593, 598.

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Integrations- und Harmonisierungsbezogenheit ihre Besonderheiten aufweisen. Da in der Praxis der Text der Richtlinie bei der Vielzahl der verbindlichen Fassungen der Richtlinie wohl nur selten klar sein dürfte, erscheint auch aus dieser Perspektive für die „richtige“ Auslegung der Richtlinie die Notwendigkeit der Heranziehung von Auslegungsgesichtspunkten wie Integration und Harmonisierung im Grundsatz unabweisbar, soll der Sinn bzw. das Ziel der Richtlinie insbesondere bei entsprechender Unklarheit der Richtlinie zutreffend ermittelt werden.

IV. Auslegungsmethodik bei Schließung von Regelungslücken 1. Regelungslücken in Richtlinien

Es stellt sich zunächst die Frage, wer Regelungslücken in einer Richtlinie schließen darf bzw. muss und wie dies ggf. zu geschehen hat. Bei der Frage der Lückenfüllung im nationalen Recht geht es im Grunde um die Abgrenzung der Kompetenzverteilung zwischen Institutionen einer Rechtsordnung, also insbesondere um die Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Bei Regelungen des Gemeinschaftsrechts kommt allerdings eine weitere Dimension hinzu, die für die ordnungsgemäße Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten besonders wichtig ist. Denn es ergibt sich zusätzlich die Frage, ob die Lücke von Institutionen der Gemeinschaft oder von solchen der Mitgliedstaaten zu füllen ist. Mit Bieber30 wird anzunehmen sein, dass sich die Kompetenz zur Lückenfüllung zunächst nach der allgemeinen Kompetenzaufteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten richtet, wobei zwischen konkurrierenden und ausschließlichen Zuständigkeiten zu unterscheiden ist. In Art. 5 EGV wird nunmehr diese Unterscheidung auch ausdrücklich vorausgesetzt. Eine Lücke, die einen Regelungsbereich betrifft, der in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, darf hiernach nur von dieser geschlossen werden. Solange der Gemeinschaftsgesetzgeber untätig bleibt und die Richtlinie nicht nachbessert, kann nur der EuGH die Lücke schließen. Aufgrund seines Auftrags gemäß Art. 220 EGV – Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages – wird der EuGH als befugt angesehen, Lücken des Gemeinschaftsrechts zu schließen. In dieser Hinsicht kann er auf das primäre und sekundäre Recht der Gemeinschaft und die daraus entwickelten Rechtsgrundsätze zurückgreifen. Dabei bleibt hier nur am Rande zu erwähnen, dass ausschließliche Zuständigkeiten der Gemeinschaft selten sind; anerkannt wurden sie z. B. vom EuGH zum Teil für die gemeinsame Handelspolitik gemäß Art. 133 EGV. 30 Bieber, Zur Rolle der Mitgliedstaaten bei der Ausfüllung von Lücken im EGRecht, in: Bieber / Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Baden-Baden 1987, S. 283 ff.

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Lücken, die Regelungsbereiche betreffen, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, sind von diesen zu schließen. Auch diese Variante dürfte bei der Umsetzung von Richtlinien zur seltenen Ausnahme gehören, da der Erlass der Richtlinie gerade zeigt, dass die Gemeinschaft in dem Bereich, in dem die Richtlinie ergangen ist, zumindest eine konkurrierende Zuständigkeit besitzt. Als die wichtigste und eigentlich problematische Variante stellt sich die Konstellation dar, bei der die Lücke in einen Bereich fällt, der unter die konkurrierende Gesetzgebung fällt. Hier ist bei erster Betrachtung denkbar, dass die Kompetenz zur Schließung der Lücke sowohl den Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft zustehen könnte. Klar ist, dass die Mitgliedstaaten insoweit zuständig sind, als die Gemeinschaft aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes des Art. 5 EGV von ihrer im Grunde bestehenden Kompetenz zur Regelung der Lücke keinen Gebrauch machen darf. Mit der Richtlinie soll zudem lediglich das Ziel verbindlich festgelegt werden; dagegen soll der „Rest“ der Regelung in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben. Eine abschließende Regelung einer Materie wird daher – nach dem Wesen der Richtlinie im Gegensatz zu den nationalen Gesetzen und den EG-Verordnungen – im Normalfall gerade nicht angestrebt. Auch wenn die Richtlinien überwiegend recht detailliert gestaltet sind, so stellen doch Lücken im Konzept einer Richtlinie nicht die Ausnahme dar, sondern die Regel. Man wird daher nicht annehmen können, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Kompetenz stets umfassend an sich zieht, wenn er eine Richtlinie erlässt. Danach könnte die Richtlinie als Handlungsform insoweit für eine generelle Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Lückenfüllung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung sprechen. Zu einer abschließenden Beurteilung dürfte jedoch zweckmäßigerweise zwischen Lücken im eigentlichen Sinne und im uneigentlichen Sinne zu differenzieren sein.

2. Lücken im uneigentlichen Sinne

Unter Lücken im uneigentlichen Sinne wird man fehlende Regelungen zu verstehen haben, die vom Gemeinschaftsgesetzgeber bewusst nicht geschlossen wurden, obwohl er die Regelungsmöglichkeit erkannt hat. Lücken dieser Art beruhen also auf einer planmäßigen Unvollständigkeit. Da die Richtlinie insoweit keine verbindliche Regelung für die Mitgliedstaaten treffen will, sind derartige Lücken von den Institutionen der Mitgliedstaaten zu schließen. Die Gemeinschaft will in Fällen dieser Art den betreffenden Bereich nämlich gerade nicht verbindlich für alle Mitgliedstaaten normieren. Dies bedeutet, dass die konkurrierende Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung der Lücke bestehen bleibt und durch den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht im Wege des Erlasses der Richtlinie eingeschränkt wird. Daher ist der Mitgliedstaat in materieller Hinsicht bei der Gestaltung frei, solange seine Lösung nicht mit den anderen verbindlichen Zielen der Richtlinie in Widerspruch gerät.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

Die Frage, ob insoweit die nationalen Gerichte oder der nationale Gesetzgeber tätig werden müssen, richtet sich nach der jeweiligen Rechtslage der Mitgliedstaaten. In Deutschland etwa stünde das Handeln des Gesetzgebers in seinem Ermessen, freilich eingeschränkt durch seine grundrechtliche Verpflichtung, wesentliche Dinge selbst zu normieren. Dieses Ergebnis entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, der in der verbundenen Rechtssache 286 / 82 und 26 / 83 darauf abgestellt hat, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber den Mitgliedstaaten weitere Regelungen vorbehalten hat. Der EuGH hat insoweit ausgeführt:31 „Der letzte Aspekt des durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Problems betrifft die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit die Mitgliedstaaten noch befugt sind, (den) liberalisierten Transferierungen und Zahlungen Maßnahmen zur Kontrolle des Devisentransfers zu unterwerfen. ( . . . ) Sodann ist darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 2 der vorgenannten Richtlinie 63 / 340 die in dieser Richtlinie vorgesehenen Liberalisierungsmaßnahmen das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lassen, ,die Art und die tatsächliche Durchführung der Zahlungen zu überprüfen‘. Dieser Vorbehalt ist wohl auf (den) Umstand zurückzuführen, daß die sich auf den Waren- und Dienstleistungsverkehr beziehenden Zahlungen und der Kapitalverkehr damals noch nicht völlig liberalisiert waren. Diese Liberalisierung ist jedoch auch nach dem Ende der Übergangszeit noch nicht in vollem Umfang erfolgt. Die Ratsrichtlinien, die in Artikel 69 EWG – Vertrag zur Herstellung des freien Kapitalverkehrs – vorgesehen sind, haben noch nicht alle Beschränkungen auf diesem Gebiet beseitigt ( . . . ). Unter diesen Umständen sind die Mitgliedstaaten weiterhin befugt, den Devisentransfer Kontrollen zu unterwerfen, durch die festgestellt werden soll, ob es sich nicht in Wahrheit um einen liberalisierten Kapitalverkehr handelt.“

Ein weiteres Beispiel: es sei noch auf die fehlenden Vorgaben in der Pauschalreise-Richtlinie bzgl. eines freien Rücktrittsrechts des Kunden hingewiesen. In den Erwägungsgründen der Richtlinie heißt es:32 „Der Verbraucher muss unter bestimmten Umständen die Möglichkeit haben, von einer gebuchten Pauschalreise vor ihrem Antritt zurückzutreten.“

Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie regelt aber nur ein Rücktrittsrecht des Verbrauchers wegen Änderungen wesentlicher Bestandteile des Vertrages seitens des Veranstalters. Man könnte daher annehmen, der Gemeinschaftsgesetzgeber habe das freie Rücktrittsrecht des Verbrauchers nicht bewusst ungeregelt gelassen, sondern planwidrig übersehen. Wie sich jedoch aus Art. 8 der Richtlinie ergibt, will sie nur einen Mindeststandard festlegen. Das fehlende freie Rücktrittsrecht der Richtlinie lässt daher keinen Schluss auf eine planwidrige Regelungslücke der Richtlinie zu. Vielmehr handelt es sich um eine Lücke im uneigentlichen Sinne. Insoweit bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, diesbezüglich eine Regelung zu treffen oder aber nicht. Die Beibehaltung 31

EuGH vom 30. 4. 1998 – Rs. C-21597 Barbara Bellene / Yokohama SpA, EuZW 1998,

409. 32

ABl. EG Nr. L 158, 60.

Integrations- und angleichungsorientierte Interpretationskonzepte

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des freien Rücktrittsrechts in Deutschland gemäß § 651 i BGB ist aus der Sicht der Richtlinie daher nicht zu beanstanden.

3. Lücken im eigentlichen Sinne

Lücken im eigentlichen Sinne liegen vor, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber die fehlenden Regelungen unbewusst nicht (verbindlich) geschlossen hat. Eine Lücke im eigentlichen Sinne liegt damit nicht schon dann vor, wenn die Materie, die die Richtlinie aufgreift, nicht abschließend normiert wird und dadurch bestimmte Fallgestaltungen offen bleiben. Eine Lücke im eigentlichen Sinne liegt bei Richtlinien vielmehr nur dann vor, wenn sich durch Auslegung der Richtlinie ergibt, dass eine bestimmte Frage in der Richtlinie zwar nicht verbindlich geregelt wird, diese Frage jedoch auch nicht den Mitgliedstaaten zur Entscheidung überlassen werden soll, sondern dass die Gemeinschaft sie selbst regeln will. In Fällen dieser Art wird also die Lücke vom Gemeinschaftsgesetzgeber planwidrig offen gelassen. Zweifelhaft erscheint, ob der nationale Gesetzgeber bei Lücken im eigentlichen Sinne die Kompetenz zur Regelung dieser Lücke allein dadurch verliert, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Lücke planwidrig nicht geschlossen hat. Hierzu könnte man der Meinung sein, die Mitgliedstaaten dürften die konkurrierende Zuständigkeit so lange wahrnehmen, wie der Gemeinschaftsgesetzgeber faktisch keine Regelung erlassen hat. Andererseits macht die konkurrierende Zuständigkeitsverteilung den Verbleib der Kompetenz bei den Mitgliedstaaten grundsätzlich von der Entscheidung des höherrangigen Normgebers, also der Gemeinschaft, abhängig. Es würde daher m. E. der Kompetenzverteilung des EG-Vertrages widersprechen, wenn die konkurrierende Kompetenz der Mitgliedstaaten nicht gesperrt würde, obwohl der Gemeinschaftsgesetzgeber eine einheitliche Regelung für erforderlich gehalten und diese nur planwidrig nicht in die Richtlinie aufgenommen hat. Ebenso wenig können die Mitgliedstaaten die Lücke einheitlich für die Gemeinschaft schließen, auch wenn die Gemeinschaft eine einheitliche Regelung für erforderlich hielt. Die Richtlinie lässt nämlich gerade keine Vorgaben erkennen; sie erlaubt nur durch Auslegung den Schluss, dass die Gemeinschaft auch diesbezüglich eine verbindliche einheitliche Regelung wollte. Könnte man durch Auslegung der Richtlinie auch bezüglich der Lücke inhaltlich das verbindliche Ziel der Richtlinie ermitteln, so läge eine Lücke gar nicht vor; vielmehr würde es sich um ein Auslegungsproblem handeln. Im Übrigen wird man wohl nur in Ausnahmefällen zu dem Ergebnis kommen, dass eine Lücke im eigentlichen Sinne vorliegt. Das Konzept der Richtlinie spricht nämlich zumindest im Grundsatz für eine planmäßige Lücke. Weist man daher die Kompetenz zur Lückenfüllung in diesen Fällen der Gemeinschaft zu, so werden den Mitgliedstaaten nur geringfügige Kompetenzen genommen, auf die sie ohnehin letztlich gegenüber der Gemeinschaft nicht bestehen könnten.

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3. Teil: Der Umgang mit dem Gesetz

In diesem Sinne macht auch der EuGH die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei konkurrierenden Kompetenzen von dem Bewusstsein des Gemeinschaftsgesetzgebers bei Erlass der Regelung abhängig. In der Rechtssache 237 / 82 führt der EuGH33 dazu aus: „Jedoch kann man aus dem Schweigen der fraglichen Regelung über die Kennzeichnung und die Qualität von Käse nicht herleiten, dass die Gemeinschaft notwendigerweise bewusst beschlossen habe, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, auf dem genannten Sektor ein System völliger Produktionsfreiheit zu beachten. Da es keinerlei gemeinschaftliche Vorschriften über die Qualität von Käseerzeugnissen gibt, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten weiterhin befugt sind, zu Lasten der in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassenen Käseerzeuger solche Vorschriften zu erlassen.“

Richtigerweise wird daher der Fortbestand der konkurrierenden Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Schließung von planwidrigen Regelungslücken zu verneinen sein und bei Lücken im eigentlichen Sinne der Gemeinschaft die Kompetenz zur Schließung der Lücke zuzuweisen. Solange der Gemeinschaftsgesetzgeber untätig bleibt und die Richtlinie nicht nachbessert, kann daher nur der EuGH die Lücke schließen. 4. Ergebnis

Es bleibt nach allem festzuhalten, dass Lücken im eigentlichen Sinne bzw. Lücken, die einen Regelungsgegenstand betreffen, in dem die Gemeinschaft ausnahmsweise ausschließlich zuständig ist, vom EuGH zu schließen sind, solange der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht selbst tätig wird. In allen übrigen Fällen können die Mitgliedstaaten die Lücken in Richtlinien selbst schließen. Ob insoweit der nationale Gesetzgeber tätig werden muss oder die Lücke auch von den nationalen Gerichten geschlossen werden kann, richtet sich nach dem jeweiligen nationalen Recht.

33 EuGH vom 7. 2. 1984 – Rs. 237 / 82 Jongeneel / Niederlande, EuGH Slg. 1984, Bd. 1, 483 (502 Tz. 13).

Vierter Teil

Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus* I. Naturrecht versus Rechtspositivismus Die bis heute kontrovers geführte Diskussion, welches die Kriterien für „geltendes Recht“ seien, verweist in einer ihrer markantesten Ausprägungen auf den hierüber zwischen naturrechtlichen und positivistischen Rechtsanschauungen seit jeher geführten vielfältigen Theorienstreit. Ohne auf die historisch ungemein subtilen Differenzierungen dieser Anschauungen hier näher eingehen zu können, seien die positivistischen Doktrinen – zusammengefasst und sehr vereinfacht – als eine Richtung verstanden, für die jedes ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt verbindlich ist1, Gesetz bedeutet hier den Akt einer kompetenten Macht, der einem bestimmten normativen Inhalt äußerlich erkennbar Rechtsqualität zuerkennt. Damit sind alle sonstigen Rechtsquellen zur Disposition des Gesetzgebers gestellt: Das Gesetz avanciert zur Rechtsquelle schlechthin. Nur solange der Gesetzgeber sich einer Regelungsmaterie nicht angenommen hat, können auch andere Rechtsquellen zum Zuge kommen (z B. Gewohnheitsrecht, Richterrecht, Naturrecht – jeder wie auch immer behaupteten Provenienz), soweit nicht Phänomene dieser Art – z. B. die naturrechtlich gedeutete „Natur der Sache“ – überhaupt geleugnet werden. Der Rechtspositivismus ist insbesondere wegen seiner Verknüpfung mit dem Gedanken der Systemfunktionalität (Luhmann), wie er in der Rechtssoziologie vertreten wird, aktuell. In der bundesdeutschen Rechtsprechungspraxis scheint er mehr und mehr einer Art Regelskeptizismus zu weichen, ist aber in der herkömmlichen Methodenlehre (z B. Festhalten an der Bindungsdogmatik, Subsumtionsideologie) nach wie vor stark verbreitet. Die Funktionsfähigkeit des Systems wird in Abhängigkeit davon gesehen, dass auf zwei Ebenen entschieden wird: auf der politischen Ebene der Gesetzgebung (erste Ebene), wo die allgemeinen Konditionalprogramme entworfen werden, und auf der diesen Programmen nachgeordneten, „vollziehend“ genannten Ebene, wo es um die Einzelfallentscheidung geht * Erstveröffentlichung in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic. 1983, S. 473 – 495. Berlin: Duncker & Humblot. 1 G. Ellscheid, Das Naturrechtsproblem in der neueren Rechtsphilosophie, in: A. Kaufmann / W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Philosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Karlsruhe 1977, S. 25.

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

(zweite Ebene). Die arbeitsteilige Zuordnung dieser beiden Ebenen verbietet es nach herkömmlichem Bindungsdenken, die Gültigkeit einer auf der ersten Ebene getroffenen Regelung durch Entscheidungen der zweiten Ebene in Frage zu stellen. Anderenfalls wird die „mechanisch“ gedachte Ordnung als gestört angesehen2. Durch die gesetzliche Positivierung des Rechts kann für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung erreicht werden. Die auf bloße „Anwendung“ des Gesetzes reduzierte Rechtstechnik der zweiten Ebene wird damit von einer „Folgenverantwortung“ entlastet. Der Gesetzesvollzug hat sich strikt an den Inhalt des Gesetzes zu halten und sich um eine „Folgenbehandlung“ nicht zu kümmern. Demgegenüber stellen naturrechtliche Konzeptionen – pauschal gesehen – die Unverfügbarkeit von Recht in den Vordergrund: „Im genauen Gegenzug zur Doktrin des Gesetzespositivismus, wonach dem Staat die Verfügung über das Recht zusteht, wird Naturrecht als das verstanden, was die Manipulierbarkeit von Recht durch Gesetzgebung (real oder auch bloß normativ) durchkreuzt3.“ Das politisch Gewollte scheint ontologisch vorgegeben: Die Vorstellung von Verfügbarkeitsgrenzen des Rechts beinhaltet also gewissermaßen eine „Zähmung“ (Ellscheid) der politischen Rechtssetzung. Dabei hat die unter dem Namen „Naturrechtslehre“ versammelte Denkrichtung ihre Bindung an einen wie immer gearteten Naturbegriff zunehmend gelockert4. Sie lässt sich – vereinfacht – dahin kennzeichnen, dass sie die universale Verfügungsgewalt des Staates über das Recht leugnet. Danach ist der Begriff des Naturrechts nicht auf die Idee der Maßgeblichkeit vorgegebener Wesensnaturen und Beschaffenheiten beschränkt, sondern enthält alle Vorgegebenheiten, an die der Gesetzgeber, gleichviel in welchem Ausmaß, gebunden ist: Werte, Strukturen des menschlichen Miteinander, Institutionen, Rollen usw. Das sog. moderne, gegen den (Unrechts-)Gesetzgeber zielende Naturrecht verpflichtet den Richter gegen das Unrechtsgesetz auf das Naturrecht. Naturrechtslehren bestreiten also ein Rechtssetzungsmonopol des Gesetzgebers. Unter der Annahme, dass Naturrecht gilt, bleibt allerdings die Frage offen, wem seine „Erkenntnis“ und Auslegung maßgeblich zukommt5. Damit gerät das Naturrecht auch in den Streit um die politische Verfassung. Die Frage, ob Gesetze verbindlich sind, hängt nach der naturrechtlich orientierten Doktrin von ihrem Inhalt ab, und zwar von dessen Vereinbarkeit mit bestimmten naturrechtlichen (primären) Normen6. Dabei geht es auch dem „modernen Naturrecht“ letztlich um die Übereinstimmung aller um Einsicht sich Mühenden in möglichst vielen Fragen des Rechts7. Gewissheit Ellscheid, S. 24. Ders., S. 28. 4 Vgl. dazu orientierend E. Zacher, Der Begriff der Natur und das Naturrecht, Berlin 1973, insbes. S. 122 ff., 148 ff. 5 Ellscheid, S. 29. Hier müsste begründet werden, wem die Kompetenz verbindlicher „Erkenntnis“ von Naturrecht „naturrechtlich“ zufällt; ders., S. 30. 6 Ders., S. 35. 7 Ders., S. 37. 2 3

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung

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gibt aber nur die Einsicht in die Sache selbst. Das bedeutet, dass die Zustimmung der anderen im Grunde entbehrlich erscheint. Freilich muss sich die mit dem Naturrecht gemeinte „Rechtswahrheit“ intersubjektiv vermitteln lassen. Die „Unbestreitbarkeit“ der Rechtsaussage stützt sich damit auch auf die Rechtserfahrung der anderen. Als „richtiges Recht“ gilt danach grundsätzlich nur, was übereinstimmend als Recht evident erlebt wird. Naturrechtsdenken lässt sich so auf eine Technik einsichtigen Argumentierens theoretisch reduzieren8. Bei Annahme der Konsensfähigkeit bestimmter Grundsätze und Prinzipien des „Naturrechts“ kann auf diese Weise zumindest die faktische Argumentationsstruktur naturrechtlichen Denkens analysiert werden. Es mag genügen, dies hier nur zu erwähnen. Im Folgenden geht es zunächst um das Problem einiger metaphysischer Implikationen, die der Rechtspositivismus nicht ganz ausklammern darf, kann es doch sein, dass sich hier dem Rechtspositivismus eine dem Naturrechtsdenken verwandte Vorfragenproblematik auftut. II. Naturrecht und Rechtspositivismus: Ontologische und erkenntnistheoretische Aspekte In seinen Untersuchungen über „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit“ hat Hans Welsel9 gezeigt, dass es nicht möglich ist, aus der Natur des Menschen ein ganzes System absolut und überzeitlich gültiger Rechtssätze logisch zu deduzieren, deren Existenz und Geltung dem positiven Recht gegenüber unabhängig sind. Mit einer bloßen Gegenüberstellung von positivem Recht und überpositivem Naturrecht lässt sich also nichts gewinnen; denn es bleibt offen, welche dieser beiden rechtlichen Ordnungen allein gültig sein kann. Man kommt auch nicht weiter, wenn man annimmt, Naturrecht gelte ideal, das positive Recht dagegen real: Gelten kann nämlich immer nur – so die griffige Formel Arthur Kaufmanns – ein Recht, und wenn es gelten soll, muss es real existieren. Sieht man als eine Bedingung der Realität von Recht seine Positivität10 an, dann besitzt ein so genanntes Dies nimmt auch ders., S. 37, an. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. Göttingen 1962; ders., Naturrecht und Rechtspositivismus, in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1966, S. 322 ff.; vgl. auch H. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958. 10 Will man Recht als real existierend ansehen, lässt sich dies mit der formal-ontologischen Kategorie der Positivität bezeichnen. Eine solche Positivität muss dem Recht zukommen, soll es nicht bloß als individuelle Bewusstseinsvorstellung, sondern sozial und damit real existieren. Nur positives Recht ist als Recht überhaupt da, überpositives Recht ist als solches (noch) nicht wirklich. Es ist erst die Möglichkeit von Recht, die durch die Positivierung Realität wird. Die Positivität von Naturrecht also macht dieses zum (realen) Recht. – Dabei fällt der Begriff der Positivität mit dem der Realität nicht zusammen. Realität des Rechts ist mehr als seine Positivität. Im Sinne des Unterschieds von Existenz und Essenz ist Existenz nicht gleichbedeutend mit Realität; so zutreffend A. Kaufmann, Schuldprinzip. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1961, S. 92 Anm. 30. Positivität als solche gibt es überhaupt nicht. Der (ontologisch fundierte) Positivitätsbegriff bedeutet dann 8 9

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

überpositives Recht keine Rechtsexistenz. So gesehen kann es daher nur „positives Recht“ geben. Hieraus ergibt sich allerdings nur, dass die idealistisch-rationalistische Naturrechtsdoktrin, wie sie aus dem 17. und 18. Jahrhundert überkommen ist, sich als nicht haltbar erweist. Nicht schon ist damit die Naturrechtsidee als solche widerlegt. Denn diese meint nicht notwendig ein überpositives, allgemein gültiges absolutes Recht; vielmehr ist die Grundfrage allen Naturrechts das „objektiv richtige Recht“, das seine Gültigkeit nicht dem Willen eines Gesetzgebers, sondern einer wie immer verstandenen „Rechtswahrheit“ entnimmt oder ihr zuschreibt. Dies aber bedeutet, dass der Begriff des Naturrechts – versteht man dieses als das „objektiv richtige Recht“ – seine Positivität nicht ausschließt. Grundlegendes Merkmal der Existenz und Gültigkeit von Recht ist für den Rechtspositivismus die Positivität. Hierfür soll es allein auf den Willen des Gesetzgebers ankommen. Nicht entscheidend ist also, welche Inhalte positiviert werden, sofern nur das Gesetz selbst formell korrekt erzeugt ist („Setzungspositivismus, z. B. Hans Kelsen). Auch legislatives Unrecht muss hiernach als verbindlich anerkannt werden, sofern man nicht aus positivistischer Sicht solches überhaupt, da es ja gesetztes und damit „gültiges“ Recht ist, leugnen muss. Wer dagegen Naturrechtlichkeit anerkennt, kann annehmen, dass erst Naturrechtlichkeit und Positivität zusammen die Realität des Rechts ausmachen. Das Verhältnis von Naturrecht zu positivem Recht lässt sich dann dahin kennzeichnen, dass es sich nicht um ein Verhältnis des Gegen- oder Nebeneinander, sondern um ein integratives Verhältnis des „Ineinanderstehens“ handelt. Recht kann damit als Naturrecht und positives Recht zugleich angesehen werden11. Dieser Beziehung von Naturrechtlichkeit und Positivität entspricht das Verhältnis von Rechtsgültigkeit und Rechtswirksamkeit. Monistischen Rechtstheorien kommt nur jeweils ein Aspekt der Rechtsrealität in den Blick: der idealistischen Naturrechtsdoktrin nur der essentielle, dem Positivismus allein der existentielle Aspekt des Rechts. Mit anderen Worten: die idealistinicht „Gesetzesförmlichkeit“, und der Begriff „positives Recht“ ist nicht identisch mit dem Begriff „Gesetzesrecht“; anders R. Marcic, Die bedingte Natur des positiven Rechts, in: JZ 1960, S. 198 ff., 200 Anm. 15: Positivität sei die Eigenschaft einer Norm, die von einem Subjekt gesetzt worden sei. – Positivität heißt im Anschluss an Kaufmann soviel wie „Anwesenheit“, „Dasein des Rechts“, bedeutet also, dass das Recht (aktuell) angewendet werden kann. Das nicht der setzenden Tätigkeit eines Subjekts entstammende Gewohnheitsrecht ist damit – wie Kaufmann m. E. überzeugend darlegt – ebenso positives Recht wie die konkreten Naturrechtssätze, die positiv kraft ihrer Evidenz oder einer verbreiteten Ansicht sind; andererseits gibt es Gesetzesnormen, die wegen ihres hohen Allgemeinheitsgrades und der Unbestimmtheit ihrer Grenzen im ontologischen Sinne nicht positiv genannt werden können (so im Ergebnis Kaufmann, Schuldprinzip, S. 92), also in erster Linie die sogen. Generalklauseln, deren Positivität sich erst mit ihrer Konkretisierung ergibt und die allenfalls im Sinne eines positivistischen Begriffs der Positivität positives Recht genannt werden können; s. dazu auch unten III. 11 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 43; ders., Naturrecht und Geschichtlichkeit, Tübingen 1957, ders., Rechtspositivismus und Naturrecht in erkenntnistheoretischer Sicht, in: Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt am Main 1972, S. 71 ff.

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung

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sche Naturrechtslehre sieht die Gültigkeit zugleich als Kriterium der Wirksamkeit an, während der Positivismus mit der Wirksamkeit der Norm auch ihre Gültigkeit für gegeben hält. Ein gemeinsames Kennzeichen beider Anschauungen liegt darin, dass für sie die Probleme „Recht und Macht“ und „Gerechtigkeit und Rechtssicherheit“ letzten Endes unlösbar bleiben12. Geht man davon aus, dass die Realität des Rechts erst durch die Verbindung des essentiellen mit dem existentiellen Element, der Naturrechtlichkeit mit der Positivität, zustande kommt, so lässt sich – wie insoweit auch Arthur Kaufmann annimmt – sagen, dass Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Gültigkeit und Wirksamkeit weder identisch noch antinomisch, sondern polar aufeinander bezogen sind. Wie Kaufmann gezeigt hat, verfehlt das einseitige Abstellen auf die Gerechtigkeit ebenso die ontologische Struktur des Rechts wie die Auffassung, dass es letzten Endes die Macht der Durchsetzung sei, die über den Rechtscharakter einer Norm entscheide13. Die Gerechtigkeit, verstanden als überpositives Rechtsprinzip, ist real nur im positiven Recht, und positives Recht ist in dieser Version dann nur gültig durch seine Partizipation an der Gerechtigkeit14. Beide, Gerechtigkeit und Positivität, bedingen und fordern sich unter diesen Prämissen wechselseitig, um das Recht real und gültig hervorzubringen. Diese Interdependenz wird bisher m. E. zu wenig beachtet – sofern sie überhaupt in die theoretische Analyse eingegangen ist. Kennzeichnet man – wie dargelegt – den Rechtspositivismus dadurch, dass er ausschließlich auf die Positivität abstellt und den Naturrechts- oder Gerechtigkeitsgehalt – beispielsweise als „metaphysisch“ – ablehnt, so lässt sich seine theoretische Fundierung im Folgenden auf eine ontologische und eine erkenntnistheoretische Komponente reduzieren. Liegt der Positivität des Rechts ontologisch kein innerer Rechtsgehalt voraus und ist dieser im Grunde mit jener identisch, dann ist die Bestimmung dessen, was Recht sein soll, beliebig: der Gesetzgeber ist nicht gebunden, ihm ist nichts „vorgegeben“. Was immer er in der Form des Rechts ausgibt, muss daher Recht sein15: Die Positivität ist dann das Wesen des Rechts. Dieses Vorgeordnetsein des existentiellen vor das essentielle Element des Rechts liegt jedem Rechtspositivismus zugrunde16. Ders., Schuldprinzip, S. 44. Ders., Schuldprinzip, S. 44; zu den verschiedenen Arten des Rechtspositivismus vgl. eingehend W. Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, Berlin 1975, S. 33 – 110. Vgl. auch R. Weimar, Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt – Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: W. Krawietz / H. Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen. Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423. 14 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 44. 15 Ders., Schuldprinzip, S. 47. 16 Vgl. dazu nur etwa H.-U. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956, S. 107; dagegen R. Marcic, Ansätze zu einer Fundamentalontologie des Rechts, in: JBl. 1957, S. 149 ff.; s. auch N. Hoerster, Einleitung zu H. L. A. Hart, Recht und Moral. Drei Aufsätze, Göttingen 1971, S. 5 ff. 12 13

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

Erkenntnistheoretisch bemerkenswert in diesem Zusammenhang scheint der Versuch, den Gustav Radbruch unternommen hatte, um den Rechtspositivismus zu begründen. Radbruch meinte einmal, die Verbindlichkeit positiven Rechts könne nur auf die Tatsache gegründet werden, dass das richtige Recht weder erkennbar noch beweisbar sei17. Anstelle der praktischen Wahrheit, die zu erkennen unmöglich ist, wird dann ein Akt der Autorität notwendig. Damit fungiert die erkenntnistheoretische Undurchführbarkeit des Naturrechts als Rechtfertigung des Positivismus: „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll, und soll das gesetzte Recht der Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtanspruch zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem Willen zustehen, dem auch eine Durchsetzung gegenüber jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich ist18.“ Daher legte Radbruch den Richter darauf fest, nur zu fragen, was rechtens ist, nicht jedoch, ob es auch gerecht sei19. Beide Versionen des Positivismus, die ontologische und die erkenntnistheoretische, weisen dasselbe Manko auf: dass nichts „Positives“ über den Gehalt des Rechts selbst ausgesagt wird, nur das Nein gegenüber präpositiven Gehalten des Rechts wird begründet. Damit hat der Rechtspositivismus sein Rechtfertigungsproblem freilich nicht lösen können. Denn den Positivismus „positivistisch“ zu begründen, erscheint nicht möglich. Aus der Wirklichkeit, welche der Positivismus erkennt, ist nicht zu begreifen, dass sie erkannt wird20. Ilmar Tammelo bringt dies auf die treffende Formel: „. . . der positivistische Standpunkt über die Alleinmaßgeblichkeit des Wahrnehmbaren, Sinnenfälligen ist nichts anderes als eine unbeweisbare metaphysische Voraussetzung21.“ Der Positivismus möchte Wissenschaft auf empirisch Wahrnehmbares beschränken, kann dies aber nicht begründen, ohne mit seiner eigenen These zu brechen, kann sich also selbst nicht begreifen22. Es erscheint nicht möglich, dasjenige empirisch bewahrheitet zu sehen, was jeder möglichen Verifizierung als notwendige Bedingung vorausliegt. Daraus ergibt sich, dass die positivistische Doktrin – der wissenschaftliche Positivismus schlechthin – nur unter der Bedingung „möglich“ ist, dass dessen grundlegende Behauptung sich selbst widerspricht. Nicht anders steht auch der Rechtspositivismus mit sich selbst G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. Stuttgart 1956, S. 179. Ders., S. 179. 19 Radbruch hat diese Version indes später aufgegeben; vgl. Kaufmann, Schuldprinzip, S. 48 Anm. 28. 20 K. Jaspers, Philosophie, Bd. I, 3. Aufl. Berlin – Göttingen – Heidelberg 1956, S. 220; I. Tammelo, Drei rechtsphilosophische Aufsätze, Heidelberg 1948, S. 9. Zum positivistischen Wissenschaftsbegriff vgl. auch K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. München 1979, S. 39 ff.; ferner W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 228. 21 Tammelo, S. 25. 22 Jaspers, S. 220. 17 18

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung

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in Widerspruch. Arthur Kaufmann23 hat m. E. durchaus richtig gesehen, dass die Auffassung, Rechtsqualität sei ohne Rücksicht auf den Inhalt der Normen schon mit ihrer Positivität gegeben, einen wissenschaftlichen Sinn nur dann haben kann, wenn damit etwas über die Richtigkeit des Rechts ausgesagt wäre – aber dann würde es sich um eine „Naturrechtslehre“ handeln24. Daher musste auch Hans Kelsen einräumen, dass es ohne ein „Minimum an Metaphysik“ nicht geht; jede positivistische Rechtserkenntnis – so Kelsen – müsse eine „Grundnorm“ voraussetzen, die „nicht in der Erfahrung gegeben“ sei25. Sie „gilt nicht, weil sie in bestimmter Weise gesetzt wurde, sondern sie wird – kraft ihres Gehaltes – als gültig vorausgesetzt. Sie gilt also . . . wie eine Norm des Naturrechts“26. Man kommt also um eine Metaphysik nicht herum27. So gesehen kann auch der Positivismus ohne Naturrecht nicht auskommen; er ist eigentlich nur „naturrechtlich“ begründbar28. Wer es für eine Aufgabe des Gesetzgebers hält, gerechte Gesetze zu schaffen, muss sich allerdings fragen, wie der Gesetzgeber diese Aufgabe soll erfüllen können, wenn das „richtige Recht“ nicht erkennbar ist. Ein in dieser Hinsicht nicht angreifbarer Gesetzespositivismus ist daher allenfalls unter der Prämisse möglich, dass Naturrecht als unmöglich abgelehnt werden kann. Eine Auffassung aber, die postuliert, dass in den Gesetzen letzte wie immer verstandene Wahrheiten durch menschliche Vernunft eingefangen werden müssen, ist schon kein Positivismus mehr. Hier befindet man sich auf naturrechtlichem Boden und hat nicht nur das Naturrecht nicht ausgeschlossen. Wenn Kelsen29 meint, dass zwar die Rechtswissenschaft nicht in der Lage sei, eine positive Rechtsordnung abzulehnen oder ein bestimmtes Rechtssystem zu fordern, dass aber wohl die Rechtspolitik ein solches Werturteil abgeben könne, so wird damit die entscheidende Frage nach der Richtigkeit des Rechts nur verlagert, indem die Verantwortung für sie auf die Politik Kaufmann, Schuldprinzip, S. 50. Ders., Schuldprinzip, S. 50. 25 H. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Positivismus, Berlin 1928, S. 66. 26 Kelsen, S. 20. 27 Damit ist nicht gesagt, dass in diesem Bereich eine intersubjektiv zugängliche Darstellung im Sinne einer sachlichen, am Gegenstand orientierten Einsicht ganz unmöglich sei. Nur wer Erkenntnis im „exakt“ naturwissenschaftlichen Sinne für „wissenschaftlich“ hält, ist hier schon im Bereich des „philosophischen Glaubens“. Es ist aber klar, dass dann jede „Wissenschaft“ letztlich auf Grundlagen beruht, die „wissenschaftlich“ nicht bewiesen werden können, was letztlich zur Annahme der Unmöglichkeit von Wissenschaft überhaupt führen müsste. Bei einer solchen Resignationslösung wird wohl niemand gerne stehen bleiben. 28 Zur Notwendigkeit einer „heute als triftig zu betrachtenden Begründung“ der Grundsätze des Naturrechts vgl. I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, Freiburg / München 1977, S. 82 f. – Wer die faktische Anerkennung und Durchsetzung bestimmter Normierungen für ausschlaggebend und diese bei faktischer Geltung daher für unkritisierbar hält, der hat die Objektivitätsidee aufgegeben, die man früher mit dem Begriff des Rechts verbunden hatte; H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S. 35. 29 H. Kelsen, Existentialismus in der Rechtswissenschaft?, in: ARSP 43 (1957), S. 161 ff. 23 24

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überwälzt wird. Doch kann damit die Frage nicht verneint werden, ob Naturrechtslehre wissenschaftlich überhaupt möglich ist; es kann jedenfalls untersucht werden, wie sie betrieben wird und welche Implikationen sie hat. Nur wer behauptet, eine materiale Naturrechtslehre sei als „exakte“ Wissenschaft nicht möglich, hat damit sicherlich recht. Denn es ist kaum zu bestreiten, dass es im Bereich des Naturrechts keine praktische Erkenntnis, d. h. keine rein-kognitive Begründung praktischer Sätze gibt, ein Einwand, der allerdings für den gesamten Bereich der materialen Jurisprudenz gilt und der auch den Positivismus trifft. Aber es zweifelt wohl kaum jemand daran, dass es hier sachlich begründete praktische Argumentation gibt (nicht praktische Erkenntnis), und solche Argumentation gibt es aber nun auch in Fragen des Naturrechts, insbesondere bei Gerechtigkeitsfragen30. Die Begründung der „sachlichen Richtigkeit“ erfordert eine rationale Methode, nach der das praktische Argumentieren im Wesentlichen eine Leistung des Verstandes und nicht des Gefühls und der Intuition ist. Die Rationalität wird nicht auf die naturwissenschaftlich-kognitive Erfassung der Dinge eingeschränkt; ich habe dies an anderer Stelle31 zu begründen versucht. In non-kognitivistischer Sicht stellt sich damit das Naturrecht in einem wesentlichen Punkt als dem Positivismus verwandt dar32. Denn für den Non-Kognitivismus ist Naturrecht allenfalls ein Erzeugnis praktischen Argumentierens und daher gibt es das Naturrecht als eine „objektiv“ gegebene Größe überhaupt nicht, sondern es gibt im Grunde nur die verschiedenen historischen Naturrechtslehren33. Die Verneinung der Möglichkeit von Erkenntnis, was richtigerweise sein soll, schließt freilich nicht aus, dass „relativ zu gewissen Zielen oder Werteinstellungen erkannt werden kann, was diesen Voraussetzungen entspricht“34. Gerade wer den „klassischen“, d. h. den absolutistischen Naturrechtsbegriff meint, spricht damit ein von der positiven Satzung unabhängiges, unwandelbares und allgemein gültiges Recht an, das aus non-kognitivistischer Sicht ausgeschlossen ist. Hinter der Mannigfaltigkeit der Auffassungen über das Naturrecht und hinter den sich scheinbar ausschließenden Standpunkten scheint mir allerdings ein sehr einheitlicher Grundgehalt zu liegen: es ist dies die Idee des richtigen Rechts. Formuliert man dies als eine empirische Hypothese, so ist eine Erfassung dieses Rechts in schrittweiser gemeinsamer Kooperation aller Kulturkreise nicht 30 Dazu grundlegend O. Weinberger, Dialektische Gerechtigkeit – Skizze einer handlungstheoretischen und non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 307 – 330. 31 R. Weimar, Explikative oder normative Rechtswissenschaft?, in: I. Tammelo / A. Aarnio (Hrsg.), Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik, Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214. 32 Interessant ist, dass W. Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, 2. Aufl. Basel 1949, S. 435, das rationalistische Naturrecht der Aufklärung als eine Abart des Positivismus dargestellt hat. 33 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 71. 34 O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ehtik – Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen, Berlin 1981, S. 77.

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ausgeschlossen (sogenanntes „experimentelles“ Naturrecht)35. Die wechselvolle Geschichte der Naturrechtslehren ist allein kein Grund, die hier bestehenden Probleme vorab schon aufzugeben. Der Pluralismus der Naturrechtslehren ist vielmehr geradezu die Bedingung seiner weiteren Erforschung. Er führt zu der Frage, ob es so etwas wie ein allgemeines naturrechtliches Rechtsbewusstsein geben kann. Der Naturrechtsgedanke tritt – relativiert – als „geschichtliches Naturrecht“36 auf, das man auch als „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“ bezeichnet. Die Vorstellung von einem alle Zeiten und alle Völker umfassenden Recht, wie sie schon in der Antike anzutreffen ist, ist nicht die Version des Naturrechts der abendländischen Tradition. So hatten schon Aristoteles und Thomas von Aquin den Gedanken eines geschichtlichen, an die Schranken von Raum und Zeit gebundenen Naturrechts anerkannt37. Und es gibt bis heute zahlreiche Rechtsdenker, die zwar den absolutistischen Geltungsanspruch des Naturrechts ablehnen, im Ergebnis aber ein geschichtliches Naturrecht anerkennen. Als bedeutsamste hier zu nennende Richtung gilt die so genannte institutionelle Rechtsauffassung, die in geschichtlich gewachsenen Institutionen wie Staat, Familie, Eigentum usw. überindividuelle, dem Gesetzgeber vorgegebene Ordnungsgebilde sieht38. Wie oben bereits dargelegt, bestimmen Rechtspositivismus und die rationalistische Naturrechtslehre die Struktur des Rechts monistisch, jener, indem er das Wesen in der Existenz, diese, indem sie die Existenz im Wesen des Rechts aufgehen lässt39. Folgt man dem eingeführten Realitätsbegriff des Rechts, dann sind Positivität. und Wesen des Rechts nicht voneinander ablösbar. Beide sind zwar ontologisch unterscheidbar, aber doch konkret identisch. Das bedeutet, dass neben dem real geltenden positiven. Recht nicht noch ein ideal geltendes überpositives Recht begründet werden kann. Mit Recht bezeichnet es Arthur Kaufmann40 als den entscheidenden Fehler der neuzeitlichen Naturrechtslehre, dass sie die beiden Pole des einen Rechts voneinander getrennt und verselbständigt hat. Wer hieran Vgl. Ellscheid, S. 37. Vgl. R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Halle / Saale 1926, S. 82 ff. 37 Vgl. hierzu Kaufmann, Schuldprinzip, S. 88. Im Übrigen können die verschiedenen naturrechtlichen Richtungen hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Nur soviel sei gesagt, dass z. B. manche an Thomas von Aquin anknüpfen (z. B. Arthur F. Utz, Josef Fuchs); andere – z. B. Werner Maihofer, Max Müller u. a. – kommen von Heideggers existentialer Ontologie her; Marcic versuchte eine – fragwürdige – Synthese zwischen Thomas von Aquin und Heidegger; vgl. R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, insbes. S. 37 ff., 131 ff., 168. Diese Schrift von Marcic, die in Österreich kaum ein Echo erfahren hat, ist heute für den in der BRD verbreiteten richterlichen Regelskeptizismus durchaus aktuell. 38 Geht man davon aus, dass es nicht möglich ist, einen Gegenstand wie das Recht in seiner Ganzheit adäquat zu erfassen, kann „Rechtserkenntnis“ nie in den Besitz dauernden Rechts gelangen. 39 So zutreffend Kaufmann, Schuldprinzip, S. 93. 40 Dazu ders., Schuldprinzip, S. 93; vgl. auch ders., Rechtspositivismus und Naturrecht, S. 71. 35 36

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festhält, trifft den Positivismus erst gar nicht; denn ein nur idealiter existierendes Recht existiert eben damit – als real geltend – überhaupt noch nicht. Wer die Differenz von Naturrechtlichkeit und Positivität des Rechts als ein Verhältnis der Generierung (als selbständigen Prozess) zugrunde legt, vermag das Naturrechtsproblem immerhin im Sinne eines Entwicklungsproblems zu begreifen. Dieser Prozess der Konkretisierung des Rechts erfolgt nicht allein auf der ersten Ebene durch einen einmaligen Akt der Gesetzgebung, sondern in besonderem Maße auf der zweiten Ebene durch die Tätigkeit der Rechtsprechung. Eine Rechtsentscheidung lässt sich aus der abstrakt-generellen Norm nicht als gegeben ablesen41, richterliches Entscheiden ist auch nicht bloße Gesetzesanwendung. Das gilt im Naturrechtsdenken wie im Positivismus gleichermaßen. Das Gesetz ist immer nur ein Lösungsvorschlag (Regelungsmuster) für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Sachverhalts, verbindlich dann, wenn es auch „jetzt und hier die Sache trifft“42. Ob das Gesetz die Sache trifft, lässt sich nur im Hinblick auf das im konkreten Fall der Sachstruktur entsprechende Sollen43 bestimmen (Problem der Adäquatheitsbedingungen). Der Richter darf freilich das Gesetz nicht nach Belieben beiseite schieben, sondern ist unter allen Umständen an das (gültige) Gesetz gebunden: „Aber das Gesetz ist in keinem Fall schon die allein ausreichende Quelle für die konkrete richterliche Entscheidung“44, vielmehr orientiert sich diese immer auch und sogar primär an der „sachbestimmten Mitte der konkreten Situation“45. Mit der Tätigkeit auf der zweiten Ebene geschieht daher ein Mehr an Informationsverarbeitung gegenüber der Leistung auf der ersten Ebene46, d. h. ein „Stück punktueller Rechtsfortbildung“47. Oder – wie Arthur Kaufmann dies deutet: „ein Stück Verwirklichung des Naturrechts“48. Im Endpunkt der Rechtsgewinnung trifft daher 41 Vgl. dazu im Einzelnen R. Weimar, Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Universidad national autonoma de México (Hrsg.), Memoria del X Congrese Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Problemas de Filosofia Social, Bd. IX (1982), S. 225 – 244. 42 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 103, der hier eine Formulierung Maihofers (s. u. Fn. 43) zitiert. 43 Wenn W. Maihofer, Die Natur der Sache, in: ARSP 44 (1958), S. 145 ff., 1972, von einem „aus der Natur der Sache geforderten Sollen“ spricht, ist dies freilich eine Vorstellung, die ich gerade nicht zugrunde lege, ohne damit schon die „Natur der Sache“ auf eine bloße Negativfunktion zu beschränken. 44 So zutreffend Kaufmann, Schuldprinzip, S. 103; jedoch teile ich nicht Kaufmanns Ansicht, die Entscheidung „entspringe“ der Natur der Sache – das funktioniert anders; vgl. zu diesem Problem meine in Fn. 41 und 46 angegebenen Arbeiten; s. auch Weinberger unten Fn. 70. 45 Marcic, Richterstaat, S. 312. 46 Vgl. R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck Bern 1996); ders., Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: E. Mock / R. Jakob (Hrsg.), Auslegung, Einsicht und Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – Cirencester 1983, S. 81 ff. 47 Vgl. F. Wieacker, Gesetz und Richterkunst, Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, Karlsruhe 1958, S. 7. 48 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 103.

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jeder Positivismus auf ein – wie immer verstandenes – Naturrecht der zweiten Ebene. Andererseits kann dem „richtigen Recht“ der ersten Ebene seine Richtigkeit auf der zweiten Ebene entgleiten. Ob Naturrecht oder Positivismus, der Richter avanciert hier in jedem Falle zur maßgebenden Instanz. Die richterliche Entscheidung ist der Endpunkt, an dem das Recht in seiner konkreten Fülle existent wird. Das Gesetz-vor-Recht-Denken weicht der Vorrangstellung des Rechts. Soweit das Recht mit der „natürlichen Ordnung“ der Dinge korreliert, hat es den ontologischen Vorrang vor dem Gesetz als dem Ausdruck des Staatswillens. Im Übrigen mag das Recht verfügbar sein, d. h. es kann das sein, wozu immer es die Menschen machen; insoweit kann für den Naturrechtler ein Gesetz nicht „naturrechtswidrig“ sein, d. h. hier kann auch der Naturrechtler sozusagen ohne Schaden „Positivist“ sein (Paradebeispiel: Rechts- bzw. Linksfahrgebot). III. „Naturrecht“ im Positivismus? Wenn man in positivistischer Sichtweise Gesetz und außergesetzliche Grundsätze (Rechtsprinzipien) unterscheidet, ergibt sich damit die Frage, ob der (normativistische) Positivismus überhaupt „positivistisch“ in einem Sinne sein kann, dass er die herkömmlicher Weise als „präpositiv“ angesehenen Prinzipien im Rechtssystem auszuschließen vermag; Es fragt sich daher, ob die Funktionen der Rechtsgrundsätze vielleicht im. positivistischen Systemstreben nur unsichtbar geblieben sind. Geht man davon aus, dass es nicht schon Aufgabe der politischen Legislative sein kann, allgemeine Rechtsprinzipien zu etablieren, dass dies jedenfalls nicht einer von ihr beanspruchten Gesetzgebungspraxis entspricht, so fragt es sich, ob die positivistische Doktrin, indem sie sich an die „gesetzlichen“ Institutionen klammert, in dieser Position im Rechtssatz die alleinige Kategorie unter den entscheidungsbildenden Faktoren überhaupt sehen kann: ob sie nicht vielmehr die Leistungsfähigkeit des Gesetzessystems verkennt, den Gesetzesbegriff also schon funktionell verfehlt. Nimmt man nicht an, positives Recht sei nur eine Positivierung von Prinzipien – dies lässt sich philosophisch, m. E. nicht aber juristisch vertreten –, so ist zu untersuchen, wovon es abhängt, ob ein anerkanntes Prinzip zum positiven Rechtssystem gehört: genauer, von wann ab die Positivierung eines Prinzips beginnt und welche Rückschlüsse als positives Recht „mitgedacht“ werden müssen, bzw. welche jenseits davon als bloße Maximen, Postulate oder Leitlinien auf Positivierung gleichsam „warten“ müssen. Es ist dies die nach Esser49 „fundamentale Systemfrage“ , die im kodifizierten Recht zunächst als „Interpretationsproblem“ auftritt. Das Problem ist hier, ob die Prinzipien erst bei ihrer Anwendung durch Rechtspraxis positiviert werden. Die naturrechtliche Konzeption wird hier m. E. in dem 49 J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. Tübingen 1964, S. 42.

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Moment unzutreffend, in dem sie auch auf die „immanenten“ institutionellen Prinzipien, welche mit der Institution positives Recht sind, angewandt wird50. Ferner interessieren die gleich bleibenden Denkformen, in denen präjuristische Werturteile in echte Rechtswertungen typischerweise transformiert werden. Hier lassen sich im Anschluss an Esser51 vier Vorstellungen nennen, die – vom Positivismus nicht explizit ausgeschlossen – eine spezifisch juristische Interpretationsund Argumentationsbasis für das System abgeben und damit die Anknüpfung rechtstechnischen Denkens an soziale Wertmaßstäbe erlauben. Es handelt sich dabei um a) die naturalis ratio, b) die Natur der Sache, c) die aequitas und d) die Rechtslogik (soweit sie nicht bloß axiomatische Ableitungstechnik ist, sondern die im Rechtsbegriff konservierte Sachlogik und Wertung nachzeichnet). Insbesondere der Rechtslogik könnte kaum die Bedeutung zukommen, die sie tatsächlich hat, reflektierte sie nicht auch spezifische Wertungen und Gerechtigkeitsvorstellungen52. Diese Transponierung des Ethischen oder Politischen ins Rechtliche widerlegt jeden naturrechtlich verstandenen Monismus von Recht und Ethos ebenso wie die etatistische Vorstellung von einem angeblich autonomen Charakter der positiven Regeln und Rechtsfiguren gegenüber allem „Metajuristischen“ 53. Rechtspraxis bedeutet ständig erneuerte Wiederherstellung der Kommunikation zwischen ethischen Wertvorstellungen und rechtlichen Institutionswerten. Dieser Integrationsvorgang kann verhüllt im Auslegungsprozess oder offen geschehen, indem ein ethisches Postulat auf die Rechtsebene (z. B. gute Sitten) transponiert wird, er kann allgemein aber nicht ohne Zwischenschaltung spezifisch juristischer Topoi (wie z. B. naturalis ratio, aequitas, „Logik der Sache“) vonstatten gehen. Dieser Verschmelzungsvorgang von Recht und Moral in der Ebene des scheinbar rein Technischen ist nicht zu unterschätzen: weder für die Überwindung einer positivistischen Gesetzesgläubigkeit noch für die Überwindung eines Dualismus von Gesetz und Ethos54. Die Diffamierung „formaler“ rechtlicher System- und Prinzipienbildung durch das beliebige Ausspielen rechtsethischer Postulate in einer ihnen nicht allein und nicht vorbehaltlos zugänglichen Rechtsebene hat freilich Schattenseiten, die unter dem Eindruck „idealistischer“ Naturrechtsansprüche nur zögernd zugegeben werden55. Sittliche Prinzipien – führt Esser56 aus – geben die Zweckbindung der Norm und den ethischen Standard des Rechtssystems an, aber nicht seinen institutionellen Aufbau. Hier sei die Stabilität des „Positiven“ und insoweit die Beachtung der Form ein Eigenwert, der, ebenso wie die Ausschaltung Ders., S. 43. Ders., S. 56. 52 Vgl. ders., S. 56 m. w. Nachw. 53 So ders., S. 60; zur Trennung von Recht und Moral und zur Kontroverse um die Trennungsthese vgl. vor allem Ott, S. 174 – 192. 54 Esser, S. 61. 55 Zutreffend ders., S. 61. 56 Grundsatz und Norm, S. 61. 50 51

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interner Gesinnungsfragen, der „Rechtswahrheit“ und den Prinzipien rechtlicher Beurteilung eine eigene Dimension gegenüber jedem moralisierenden ethischen Interventionismus sichere. Die Einhaltung solcher „rechtlichen“ Formgebung sittlicher Gesichtspunkte, Maximen und Postulate wird von den insoweit ethisierenden Naturrechtstheorien verkannt, vom positivistischen Rechtsdenken dagegen erst ermöglicht. Kaum einsichtig ist es dagegen, wenn. die positivistische Doktrin hier den „naturrechtlichen“ Gehalt ihrer Konstruktionsarbeit abweist. Richtig sagt Esser, dass Naturrechtler und Positivisten in fruchtlosen antinomischen Formulierungen, deren jede aus der Einseitigkeit („methodologischen Grundsätzlichkeit“) der gegnerischen hinreichende Argumente enthält, sich darin ergehen, die eigenen Mängel zu maskieren57. Die zentrale Bedeutung der richterlichen Transformierung durch die vermittelnden Topoi usw. werde beiderseits übersehen. So komme man zu keiner wirklichkeitsnahen Vorstellung von dem, was die „spezifischen Umwandlungsstationen“ (z. B. Treu und Glauben usw.) für den Rechtsbildungsvorgang wirklich bedeuten. Man verneine hier „Einbrüche“ ethischer Maßstäbe von rechtlicher Geltung in die juristische Ordnungswelt, was ein unzulängliches Bild des Transformationsprozesses sei58. Die Idee eines „geschlossenen Systems“ gestattet indes nur durch Hervorhebung spezifischer Topoi sachgerechte Lösungen, gleichgültig, ob dabei die richterliche Normgestaltung im Übrigen als bloße „Auslegungsarbeit“ oder heuristische Würdigung der Einzelumstände heruntergespielt wird. Allein selbst für den die Illusion lückenloser Ableitungsmöglichkeit voraussetzenden Gesetzespositivismus bleibt die zentrale Bedeutung der Sachlogik, aequitas und naturalis ratio unangefochten – wird freilich auf „Interpretationsaufgaben“ beschränkt. Doch dehnen sich diese Grenzen ständig mit der wachsenden wirtschaftlichen Entwicklung (z. B. richterliche Innovationen im Wirtschaftsrecht einschließlich Umweltrecht, Arbeitsrecht usw.) heute aus59. Die hier angesprochenen Prinzipien, deren Rechtsqualität im Übrigen nicht in abstracto ohne Kenntnis der Rechtsfindungsmethode bestimmbar ist, liegen ganzen Komplexen von Rechtssätzen und Institutionen nicht nur zugrunde, die Systembildung selbst würde ohne ihre Anerkennung den Ordnungssinn verlieren: keine der Einzelbestimmungen könnte funktionieren60. Positives Recht sind sie nicht als Ders., S. 62. Vgl. ders., S. 63. 59 Dies wird auch am Beispiel der Verfassungsinterpretation deutlich. So muss der Verfassungsrichter seine Entscheidung auf allgemeine staatspolitische Erwägungen beziehen und kann auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen, soweit sie auf die Verwirklichung des Staatszwecks ausgerichtet sind, nicht einfach beiseite lassen. Richtig sieht hier Krawietz, Juristische Entscheidung, insbes. S. 55 f., dass die moderne Methodik der Verfassungsinterpretation „die Behinderung des Rechtsdenkens durch einen noch latent vorhandenen Gesetzes- und Rechtspositivismus weitgehend abgestreift“ habe. Dieser Entwicklung entspricht ohne Zweifel auch das Selbstverständnis der Karlsruher Verfassungsrichter. 60 Esser, S. 70. 57 58

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selbständige oder abtrennbare Anordnung, sondern – wie Esser sagt – „als immanente Seins- und Funktionsbedingung“61. Auch außerhalb bloßer „Text-Einverleibung“ (Esser) müssen daher – auch aus positivistischer Sicht – derartige Prinzipien als relevant angesehen werden. So ist etwa das Prinzip der Vertragsfreiheit oder das Gewaltentrennungsprinzip im Rechtssinne positives Recht – auch ohne expressis verbis gesetzlich „niedergelegt“ zu sein. Ein Rechtsprinzip kann also, zumindest bei hinreichender interpretativer Konkretisierung, positives Recht sein, ohne für sich allein den Gehalt eines formellen Rechtssatzes aufzuweisen. Dabei ist der Rückgriff des Richters auf den Bestand von ethischen und opinio-communisGesichtspunkten eine Allgemeinerscheinung bei jeder Berufung auf ein Rechtsprinzip. Die Mängel der politischen Legislative wie die Grenzen axiomatischer Ableitungsmöglichkeiten führen zur Anerkennung des am Problemdenken orientierten Richterrechts auch und gerade im Rechtspositivismus62. Somit können wir sagen, dass „die formulierten Texte als solche nie die Gesamtheit eines positiven Rechtsstoffes ausmachen“63. Rechtssätze sind zwar die Prinzipien nicht, sie sind aber als ratio legis möglicherweise positives Recht, das durch Interpretation oder weitergehende Rechtsgestaltung Ausdruck erhält und damit auf eine konkrete Stufe transformiert wird64.

IV. „Natur der Sache“ zwischen naturrechtlicher und institutionell-positivistischer Deutung Ein weiterer Schritt führt zu einem Rechtsprinzip, das seine vorjuristische Wertung in den Rahmen des institutionellen Denkens stellt: das Prinzip der „Natur der Sache“. Hier wird die Rechtsqualität nicht von einem Obersatz logischer Axiomatik selbst abgeleitet, sondern von der einer bestimmten Einrichtung zugedachten Ordnungsaufgabe65. Im (normativistisch-)positivistischen Denken sind die Zweckbestimmungen der Institutionen so normativistisch technisiert, dass angeblich alle Wertabwägungen aus dem „vorpositiven“ Interessenbereich entbehrlich sind, geschweige denn die im empirischen Sinne „natürlichen“ Qualitäten argumentativ herangezogen werden dürfen. Und doch erfolgt bei jeder Interpretation ein „Rückgriff“ auf die außerhalb der doktrinären Struktur eines Rechtsinstituts erfassbare allgemeine („natürliche“) Aufgabe desselben, von der aus die konkrete ProblemaDers., S. 70. Dies zeigt sich besonders am Problem des „Normenwandels“; vgl. R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 241 – 261. 63 Esser, S. 94. 64 Ders., S. 94; vgl. auch Weinberger, Normentheorie, S. 79, wo die Beziehung der hier dargelegten Gedanken zum „institutionellen Positivismus“ deutlich werden kann. Aber alles dies ist auch einer abgeschwächt „naturrechtlichern“ Deutung keinesfalls schlechthin entzogen. 65 Esser, S. 102. 61 62

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tik dann bewältigt wird66. Dabei bleibt die Argumentation nur scheinbar im Rahmen des gegebenen Gesetzesinhalts, transformiert vielmehr Einsichten ins positive Recht, die den formellen Quellen als solchen nicht entnommen werden können67. Der anzuwendende Rechtssatz wird hier aus den Prinzipien des bestehenden Rechts gestaltet – mag man sie naturrechtlich deuten oder nicht. Ohne eine bestimmte „Logik der Institutionen“ kann auch kein etatistischer Positivismus auskommen, mag es ihm auch nicht vorstellbar bzw. inkonsequent erscheinen, dass man der „Natur der Sache“ eine nicht an die politischen Rechtsquellen gebundene Interpretationsrolle in der praktischen Argumentation zuzuerkennen hat. Es lässt sich hier von „institutionellen Prinzipien“ sprechen, soweit nämlich die Gesichtspunkte der Natur der Sache, insbesondere der Funktion eines Instituts, in dem gegebenen Rechtssystem bestimmte Prinzipien als notwendig erscheinen lassen68. Dies gilt etwa von dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ bis zu den Funktionen des prozessrechtlichen Verfahrens, die durch die Struktur des Prozessinstituts zumindest in einem bestimmten Rahmen bestimmt sind. Und ebenso ist etwa das strafrechtliche Analogieverbot oder das Verbot rückwirkend belastender Gesetze kein Prinzip von nur politischem Interesse, sondern ein funktionell bedingtes Element rechtsstaatlicher Gesetzgebung, es handelt sich um eine „notwendige Funktionswahrheit“ (Esser)69, die man – wie manche anderen Prinzipien – durchaus abgeschwächt naturrechtlich oder bei einer entsprechenden Bestimmung des Rechtsbegriffs auch funktionell bzw. institutionell positivistisch deuten kann70. V. Methodologische und funktionale Gemeinsamkeiten naturrechtlichen und rechtspositivistischen Denkens Gewiss bleibt ein tief greifender Unterschied zwischen den grundlegenden Richtungen: bei aller Relativität naturrechtlich präformierter Unverfügbarkeit von Rechtsinhalten gibt es irgendwo Reservate, in denen Rechtsinhalte nicht beliebiger politischer Gestaltung anheim gegeben sind, während beim (normativistischen) Positivismus eben sozusagen „alles“ oder „fast alles“ zur Disposition der ersten Ders., S. 102. Zur „sachgesetzlichen Bedingtheit“, die hier für die Norminhalte relevant ist, vgl. W. Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion – Kategoriale und methodologische Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie, Berlin 1967, insbes. S. 105 – 110. 68 Vgl. Esser, S. 104. 69 Vgl. ders., S. 105 Anm. 59. Ein institutionelles Prinzip lässt im Hinblick auf seine Funktionsbedingungen sachbedingte Argumentation zu: So zwingt der Vertragsbegriff zu entsprechend sachgemäßer Behandlung von Einzelfragen: etwa der Vertragstreue, der Willensmängel usw. ders., S. 105 f. Hieran kann kein Positivismus, welcher Prägung auch immer, vorbeikommen. Vgl. auch R. Weimar, Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozeß, in: Festschrift für Bruno Gleitze, Berlin 1978, S. 511 – 526; ders., Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?, in: Festschrift für Karl Klein, Siegen 1982, S. 664 – 684. 70 Vgl. dazu Weinberger, Normentheorie, S. 79. 66 67

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Ebene steht. Dieses Spiel hat im Naturrechtsdenken jedenfalls Grenzen, mögen diese auch unbestimmt sein. Es war und ist der Irrtum (extrem-)positivistischer Doktrinen, dass die Dispositionsfreiheit auf der zweiten Ebene nicht unterlaufen werden könne, ohne dass es damit zum offenen Systembruch käme. So gesehen müssten Naturrechtsdenken und positivistische Doktrinen tendenziell letztlich weitgehend übereinstimmende Ergebnisse erzielen, wenn man hierbei auf den gesamten Rechtserzeugungsprozess bis zum Endpunkt der zweiten Ebene abstellt, diese Ebene jedenfalls nicht ausklammert. Und das heißt konkret, dass es eben nicht zum Vollzug eines Unrechtsgesetzes notwendig kommen muss, dass vielmehr die mit der ersten Ebene arbeitsteilig notwendig verbundene zweite Ebene dies bereits mit den auch vom Positivismus nicht auszuschließenden Gestaltungsmitteln der richterlichen Folgenprophylaxe vermeiden kann71. Man sieht hier jedenfalls, wie unglücklich es ist, dass dem Positivismus, aber auch den Naturrechtsdoktrinen, die Aktionsmöglichkeiten der zweiten Ebene in so starkem Maße offenbar aus dem Blick geraten sind. Vermag also der Positivismus, welcher Richtung auch immer, den Vollzug legislativen Unrechts – wie so oft befürchtet – erst gar nicht sicherzustellen, so können andererseits aber auch die naturrechtlichen Systeme eben wegen ihrer Diffusität und ihrer weitgehend offenen Gerechtigkeitsformeln eine von vornherein festliegende und deduktivistisch sicher hervorzubringende Inhaltsund Ergebnisbestimmtheit keinesfalls garantieren. Sie arbeiten mit nicht weniger potentiellen Transformationsrisiken als die positivistischen Systeme. Anders gesagt: Die Programmierungsstrukturen von Naturrecht und Gesetzesrecht vermögen – wie sich hier zeigt – nicht sich selbst in den Endprozess der Rechtsgewinnung zu transformieren; sie sind bloße Rahmenvorgaben mit unterschiedlich großer Regelungsdichte und erreichen ihre „Identität“ nur im Endprozess der Konkretisierung. Beide, Rechtspositivismus wie Naturrechtslehren, erweisen sich gleichermaßen als unfähig, die zweite Ebene hinreichend zu determinieren. Indes trifft dies die unter diesen Namen versammelten Richtungen weniger in ihrer spezifischen Ausprägung, vielmehr handelt es sich um eine systemimmanente Bedingtheit und Schwäche, die allen bipolar strukturierten Systemen anhaftet. Es kömmt also letztlich (auch) auf den Richter an. Mit dieser Erscheinung hat indes ebenso sehr der Gewalten teilende und kontrollierende Staat und sein Verfassungsdenken zu leben, weil auch er im Grunde nicht mit Ergebnisgewissheit für eine positivistisch oder naturrechtlich orientierte Rechtspraxis zu optieren vermag. Die Zügel behält nur selbst in der Hand, wer sein wie immer konzipiertes System auch „eigenhändig“ realisiert. Oder anders gesagt: Die zweite Ebene ist das Risiko eines jeden Positivismus wie einer jeden Naturrechtsdoktrin. Dies ist spätestens seit dem Vorrücken der politisch fungierenden teleologischen Methode der Rechtsfindung und der damit einhergehenden Rollenübernahme durch den nicht wertungsunabhängig handelnden Richter als Sozialgestalter unabweisbar. 71 So greift auch Ota Weinberger, der einen institutionellen Positivismus vertritt, bei Löschung der Norm durch desuetudo zum Mittel der „Korrektur“ durch die opinio iuris; vgl. Weinberger, Normentheorie, S. 142 Anm. 5. Zumindest im Ergebnis erscheint dies plausibel.

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Deshalb wird heute m. E. zu Recht die Frage aufgeworfen72, ob das Zwei-Ebenen-Modell eine richtige Beschreibung irgendwelcher wirklicher oder auch nur möglicher Rechtssysteme darstellt: ob hier nicht vielmehr eine Reihe von Einwänden zu einer Modifikation des Modells führt. Naturrechtlichen und positivistischen Systemen kann nämlich eigentlich kaum entgehen, dass Bindungsdenken voraussetzende Modelle Systemdurchbrechungen erfahren. Die Pluralität der Intentionen auf der politischen Entscheidungsebene führt dazu, dass „ein Gutteil offener Fragen . . . durch unbestimmte oder widerspruchsreiche Programmierung auf dem Wege der Rechtssetzung auf die rechtsanwendenden Instanzen abgewälzt (wird)“73. Der Gesetzgeber schiebt die auf seiner eigenen Ebene nicht erreichbare Einigung, im Grunde also eine mangelnde. Entscheidung, auf die zweite Ebene ab. Dies zeigt sich nicht selten in einer Systemhilfe durch Generalklauseln. Der Richter trägt hier – aus naturrechtlicher wie positivistischer Sicht gleichermaßen im Grunde systemwidrig – die Folgenverantwortung. Erheblich relativiert erscheinen (positivistisch-)bindungsorientierte Modelle auch aus der Sicht der juristischen Hermeneutik74, die in einigen ihrer Spielarten die „Unablösbarkeit des Sinnes eines Textes von dem Vorverständnis des Interpreten“ (Ellscheid) mit beachtlichen Gründen dargetan hat. Wem immer also der Text sich hiernach als nicht voll determinierbar darstellt, der muss davon ausgehen, dass der zweiten Ebene die Verantwortung für die sich im Konkretisierungsprozess konstituierenden Sinnzusammenhänge zufällt. Das ist nicht neu. Dass der Inhalt eines Gesetzes auch bei seinem Interpreten liegt, darf vielmehr schon als Binsenweisheit .gelten. Der Weg ist nicht weit, aufgrund dieser rechtstheoretischen Einwände das Zwei-Stufen-Modell, wie es der reine Gesetzespositivismus zu verstehen scheint, als irreal zu klassifizieren75. Es ließe sich dann allerdings kaum verstehen, inwiefern der Gesetzespositivismus überhaupt noch zum naturrechtlichen Problem avancieren konnte. Kann etwa doch nicht das Gesetz durch „unbegrenzte Auslegung“ (Rüthers) ausgetrickst werden? Die Antwort fällt nicht leicht. Die Frage kulminiert überhaupt nur bei Naturrechts- bzw. Gerechtigkeitsproblemen und nicht im verfügungsfreien Bereich des Gesetzgebers. Und andererseits mag der Entscheidungsinhalt eines Gesetzes durchaus in manchen Fällen so präzis vorgegeben sein, dass die zweite Ebene nicht nur relativ, sondern ausnahmsweise in ganz bestimmter Weise programmiert ist, sodass sich die Mitglieder dieser Ebene allenfalls durch einen nicht mehr zu kaschierenden Systembruch zu einer ihrer verantwortungsbewussten Einsicht gemäßen Entscheidung durchfinden können. Die Bindungsfähigkeit von Gesetzen muss daher im Wesentlichen Postulat bleiben, als empiri-

Ellscheid, S. 24. N. Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966, S. 195. 74 Diesen Gesichtspunkt verengt Ellscheid, S. 25, m. E. zu Unrecht auf das gesetzespositivistische Modell. Er gilt nicht anders für naturrechtliche Auffassungen, weil er alle axiomatischen Systeme treffen muss. 75 Vgl. dazu ders., S. 26. 72 73

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scher Befund wäre sie illusorisch. Wer darin einen naturrechtlichen Sieg über den Gesetzespositivismus signalisiert sieht, muss sich jedoch getäuscht sehen. Die in diesem Zusammenhang häufig apostrophierte Perversion der Rechtsordnung kann sich nämlich auch und gerade aus dem so genannten überpositiven Rechtsdenken, und zwar aus der sich als Naturrecht deklarierenden Ideologie ergeben, die die Gehalte richtigen Rechts verfehlt. Im Bereich der Verfügbarkeitsfreiheit des Gesetzes ist denn auch antipositivistisches Rechtsdenken wohl jedenfalls der politischen Systemveränderung zuzurechnen. Wir können daher festhalten: Naturrechtslehre und Gesetzespositivismus unterscheiden sich zwar ontologisch in der Auffassung über den Seinsgrund, in der Frage der Geltung des Rechts. Ist es bei jener die vorgegebene und gleich bleibende Natur des Menschen (und nicht nur die Natur der Sache), so ist es bei diesem der nicht an eine schon vorhandene natürliche Ordnung gebundene „Wille des Gesetzgebers“76. Rechtstheoretisch und methodologisch jedoch gleichen sich die Antipoden im Verständnis des Rechtsfindungsprozesses: Rekurriert die Naturrechtsdoktrin auf die rechtsethischen Prinzipien, die die positiven Rechtsnormen und die aus diesen dann gewonnenen konkreten Rechtsentscheidungen determinieren, so will der Gesetzespositivismus aufgrund der jeweiligen Direktiven des Gesetzgebers gleichfalls die konkreten Rechtsentscheidungen deduktiv erschließen. Beide Denkrichtungen begreifen also das konkrete Recht als ein a priori festgelegtes Handlungsprogramm. Die Verträglichkeit, wenn nicht gar Verwandtschaft, der beiden fundamentalen Richtungen des Rechtsdenkens erscheint denn auch nicht mehr verwunderlich, falls man nur bedenkt, dass beide axiomatisch orientiert sind, beiden das kodifikatorische Denken zugrunde liegt, beide der Systemphilosophie verpflichtet sind, beide also geschlossene Systeme adäquater und exakter Erkenntnisse errichten wollen77. Die großen „Naturrechtsgesetzbücher“ des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts traten denn auch allesamt mit dem Anspruch abschließender Regelung der rechtlichen Verhältnisse auf78. Und kaum anders steht es um den Gesetzespositivismus der Jahrhundertwende, der dieses rationalistisch-naturrechtliche Erbe bekanntlich übernommen hatte79. Bereits Arthur Kaufmann80 stellt m. E. richtig fest, dass „auch hier wie anderswo die Gegner einander mehr, als sie das selber wahrhaben wollen, (gleichen) und nur wer das nicht sieht, kann sich darüber wundern, daß sowohl Tyrannis wie Rechtsstaat zur einen Zeit das Naturrecht und zur anderen Zeit den Postivismus 76 A. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Licht der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie – Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, Karlsruhe 1971, S. 92. 77 So zutreffend ders., Geschichtlichkeit, S. 92. 78 Vgl. ders., Geschichtlichkeit, S. 92. 79 Dazu K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I, Leipzig 1892, S. 367 ff., der besonders die logische Geschlossenheit und Lückenlosigkeit der Rechtsordnung hervorhob, im Übrigen „das Unkraut Naturrecht mit Stumpf und Stiel auszurotten“ sich bemühte. 80 Kaufmann, Geschichtlichkeit, S. 93.

Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung

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auf ihre Fahnen schreiben“. Weder Naturrechtsdoktrin noch Gesetzespositivismus seien per se autoritär oder rechtsstaatlich, beide könnten dem Recht dienen oder es pervertieren, es komme immer nur auf eine „Kleinigkeit“ an: wie die Akzente gesetzt würden. Dafür, wie die Akzente richtig zu setzen sind, gibt es keine Patentlösung. Gerade der Rechtssicherheitsgedanke, der immer wieder von rechtspositivistischer Seite angeführt wird, erscheint ambivalent und kann, zum Dogma erhoben, gefährliche Ideologie sein: „Er begünstigt einerseits die herrschende Klasse, dient der Erhaltung und Festigung der bestehenden Machtposition, gibt neuen Kräften und Ideen keine Chance81.“ Jeder Widerstand gegen eine gesetzliche Aussage – insbesondere die richterliche contra-legem-Entscheidung – muss sich freilich wiederum vom Ganzen des Rechtssystems her rechtfertigen. In diesen wie in anderen Fällen steht erst mit der Anwendung der Norm fest, was hier und jetzt gemäß dieser richterlichen Entscheidung rechtens ist, in welcher Richtung also das Gesetz wirkt. Kommentierungs- und Interpretationsverbote früherer Gesetzgeber, die die Wirkungsrichtung des Gesetzes möglichst sicherzustellen suchten, übersahen die Möglichkeitsbedingung jeder Auslegung und blieben erfolglos. Wenn immer Auslegung Veränderung ist und außerhalb von Auslegung kein „Sinn des Gesetzes“ behauptet werden kann, vermag der Gesetzgeber keine künftige Anwendung des Gesetzes zu fixieren oder zu prognostizieren. Das (taugliche) Mittel, den Gesetzgeber vor jeder Anwendung seines Gesetzes nach dem Sinn seiner Aussage zu befragen, würde Gesetzgebung schlechthin aufheben. Kann aber das Rechtssystem die Entscheidung des Richters nicht vollständig determinieren, so ist damit das Gesetz dem Richter überantwortet: In seiner Regie kann es – der herrschenden Methodenlehre zufolge – klüger sein als der Gesetzgeber. Prägnant umschreibt Winfried Hassemer82 diese Wirkungseinschränkung des Gesetzes: das Gesetz habe keinen anderen Sachwalter als den, der es auslege. Die Rechtsprechung könne – auch das trifft zu – von der Legislative niemals „eingeholt“ werden. Andererseits kann das Naturrecht ebenso wenig ein „geschlossenes“ System schaffen, wie dies dem Positivismus gelungen ist. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit jedes Erkenntnisprozesses impliziert, dass es naturrechtlich ungelöste Fragen gibt83. Auch in einem naturrechtlich gedachten Rechtssystem kann die Rechtsanwendung nicht ausreichend determiniert werden, auch das Naturrecht ist nur Möglichkeit von Recht, ist nur Recht in seiner Anwendung, also geschichtliche Rechtsschöpfung. Aber dem Naturrecht ist „Rechtsentwicklung“ nicht ein von Denkverboten dicht umstellter Bereich, es postuliert nicht Technik, sondern lässt seiner Konzeption nach ein Mehr an Praxis zu – und damit auch ein Mehr an Plausibilität aufgrund einer vernünftigen, von annehmbaren Prämissen 81 Ders., Geschichtlichkeit, S. 93. Im Übrigen übersieht die allzu starke Betonung des Rechtssicherheitsgedankens, dass er stets mit der „Gesetzesauslegung“ korreliert, von dort also immer schon relativiert ist. 82 Rechtstheorie, Methodenlehre und Rechtsreform, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 31. 83 So zutreffend Ellscheid, S. 35.

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ausgehenden Argumentation. Es zeigt die bestehende „Offenheit“ des Rechtssystems weniger verkrampft als der Rechtspositivismus und macht mit der Einsicht ernst, dass „Rechtssicherheit niemals mehr bedeuten kann als die Summe der vernünftigen Erwartungen gegenüber dem Recht von Leuten, die es mit dem Recht zu tun haben“84. Und daraus ergibt sich: „Daß die Menschen allein sub lege leben, ist nicht vorstellbar, denn die Gesetze können auf bestimmte menschliche Sachverhalte nur von Menschen angewendet werden: die Gesetze stehen sub homine85.“ Die Rechtswissenschaften werden sich daher im gegenwärtig festgefahrenen Positivismus-Naturrechts-Streit nicht nur mehr mit dem Richter, sondern auch mit einer „Vermenschlichung des Rechts“ (Tammelo) zu beschäftigen haben. Wenn sich die herkömmlichen Perspektiven in diesem Sinne mobilisieren, rückt auch die Hoffnung näher, dass die Richtungskämpfe im Rechtsdenken, von denen hier die Rede war, ihren eigenen Gemeinsamkeiten zum Opfer fallen. Oder hat vielleicht die Dynamik der Teleologisierung und der übrigen Öffnung modernen Rechtsdenkens die alte Gegnerschaft schon längst überspielt und hinter sich gelassen? Wer die erste nicht ohne die zweite Ebene der Rechtsgewinnung heute untersucht, wer also den Rechtsgewinnungsprozess insgesamt in den Blick nimmt, der wird die Frage kaum mehr grundsätzlich verneinen: Ihm wird aufgehen, dass juristische Argumentation immer Auseinandersetzung um Rechtsinhalte und deren Vernünftigkeit86 ist, die der gesetzlichen Regelung und der Sache, auf die sie sich bezieht, gerecht zu werden sucht87. Dass hierbei Entscheidungsinhalte letztendlich nicht unkritisierbar sind, ist eine Binsenweisheit, die freilich von der juristischen Methodenlehre – was Wunder – bisher nicht oder nur sehr zögernd angenommen wird.

84 I. Tammelo, Non solum sub lege – enimvero sub homine, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 52. 85 Tammelo, Non solum sub lege, S. 52. Auch unter diesem Aspekt zeigt sich die Einheit der Relativitätsproblematik in Gesetzgebung und richterlicher Rechtsgewinnung: „Wie kann“ – um eine Formulierung von G. Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken, Berlin 1977, S. 221 aufzugreifen – „. . . die Tatsache einer autoritativen Setzung (des Rechts, R. W.) begriffen werden, ohne daß man den Richtigkeitsanspruch des Rechts . . . preisgeben müßte?“ Die Antwort wirkt einfach, sie ist aber ein großes Problem: die politischen Elemente der „Rechtsanwendung“ verweisen diese auf eine neue Begründung ihrer Legitimität: auf die Offenlegung ihrer Gründe; Haverkate, S. 231. Die Rechtsanwendung „findet“ nicht Recht, sondern „macht“ Recht – und dementsprechend sind – so Haverkate – die, die es machen, dafür verantwortlich (S. 239). – Hier leider erst beginnen die (ungelösten) Probleme des heutigen richterlichen Regelskeptizismus – gerade für eine neue juristische Methodenlehre. 86 Dazu näher R. Weimar, Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft, in: A.-J. Arnaud / R. Hilpinen / J. Wróblewski (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht. Rechtstheorie, Beiheft 8 (1985), S. 259 – 266. 87 Haverkate, S. 165.

Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft* I. Konstruktion oder Rekonstruktion? Will man „gute“ oder „vernünftige“ Verhältnisse von davon abweichenden Situationen unterscheiden, kann dies ohne Rekonstruktion nicht geleistet werden. Wer rechtlich akzentuiertes Orientierungsbemühen rekonstruiert, will aus der Gemengelage von Vernunft1 und Unvernunft, die wohl beide das rechtliche Sollen bewegen, das Einsichtige herausarbeiten. Wissenschaftstheoretische Ansätze, um die es bei den Betrachtungen über Vernunft im Recht (auch) geht, sind grundsätzlich rekonstruktiv, die objekttheoretischen Ansätze im Rahmen der Rechtswissenschaft selbst hingegen grundsätzlich konstruktiv. Wie eine Konstruktion erst nach ihrem Abschluss rekonstruierbar wird, so setzt jede Rekonstruktion voraus, dass ihr Analyseobjekt zuvor konstruiert worden ist. Rekonstruktion erfordert damit – nicht anders als vorwärts greifende Konstruktion – ein genaueres Verständnis der Kriterien der Rationalität und der Adäquatheit. Die üblichen Vorschläge für solche Kriterien bemühen einen Verständnishorizont, der jedoch noch denjenigen Entwicklungen zuzurechnen ist, die gerade erst selbst einer Rekonstruktion bedürfen. Ein Rekonstruktionsanspruch, der „Rechtsvernunft“ zu seinem Gegenstand erhebt, bezieht seine Maßstäbe nicht aus dem faktischen Selbstverständnis der Mitglieder des Rechtsstabes. Ein solcher Anspruch gerät allerdings in die Schwierigkeit, wie er – von selbst noch rekonstruktionsbedürftigen Orientierungen unabhängige – Kriterien für eine rationale Rekonstruktion gewinnen kann. II. Das halbierte Praxisverständnis Die Frage nach einem vernünftig zu nennenden Rechtsverständnis führt letztlich in die Rechts- bzw. Sozialethik. Bevor ich auf diesen für rechtliche Überlegungen relevanten Zusammenhang eingehe, möchte ich etwas näher nach der Bedeutung von Rekonstruktivität fragen, weil sich hier eine grundlegende Spezifikation gegenüber Konstruktion aufzutun scheint. Während (vorwärts gerichtete) Konstruktion mit Kenntnis von (Rechts-)Praxis notwendig einhergeht, scheinen wir diese * Erstveröffentlichung in: A.-J. Arnaud / R. Hilpinen / J. Wróblewski (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht. Rechtstheorie, Beiheft 8 (1985), S. 259 – 266. Berlin: Duncker & Humblot. 1 Zum Vernunftbegriff allgemein vgl. etwa H. Lenk, Pragmatische Vernunft, Stuttgart 1979, insbes. S. 8 – 33; ders., Pragmatische Philosophie, Hamburg 1975, S. 38 – 55.

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Praxis immer nur zu begreifen, wenn wir sie rekonstruieren können. Versteht man Konstruktion etwa im Lichte der entscheidungstheoretischen Ansätze für den Bereich der juristischen Dogmatik, dann bedeutet dies, dass wir sagen, wie wir bestimmte Entscheidungen systematisch unter Einbeziehung der Zweck- und Zielorientiertheit der einschlägigen Rechtsnormen im Rahmen der jeweiligen rechtlichen Verhältnisse aufbauen. Hier ist es ratsam, Konstruktion von Praxis – als noch unzureichend verstandenen Zusammenhang des Entscheidens und Handelns – durch eine Betrachtungsweise zu ergänzen, die „Rekonstruktion“ des noch unzureichend erfassten Praxisverständnisses genannt werden könnte.

III. Rechtsvernunft durch kritische Argumentation? Für die rationale Rekonstruktion kommt es darauf an, was man unter dem Prinzip Rechtsvernunft versteht. Ein „vernünftiges“ Rechtsverständnis möchte ich unterscheiden von einem Rechtsverständnis, welches das rechtlich Gesollte auf bloße subjektive Entscheidungen gründet und für welches die Zustimmungsfähigkeit seitens der Betroffenen (dennoch) immer schon unterstellt wird. Vielmehr sehe ich im vernünftig zu nennenden Rechtsverständnis auch und gerade die Offenheit für Kritik.2 Dies führt dazu, dass wir unsere (subjektive) Anschauung über das Recht immer auch der Kritik zu überantworten haben. Wesentlicher Teil einer solchen kritischen Praxis des Rechts ist insbesondere die Argumentation, in der wir die Orientierungen im Rechtsdenken kritisch reflektieren und zu intersubjektivieren suchen. Hiernach impliziert ein vernünftiges Rechtsverständnis. das methodische Postulat, rechtliche Entscheidungen auf kritisch gewonnene Orientierungen zu stellen, die, indem sie sich um Überwindung der Subjektivität im Entscheiden bemühen, Vernunft als regulatives Prinzip (erst) konstituieren.3 Daher gibt der Vernunftanspruch auch selbst das Problem rationaler Rekonstruktion auf. Muss aber nicht Rekonstruktion an dieser Stelle identisch werden mit einer bloß faktischen Orientierung? Oder ist hier vielleicht nur Dezision möglich? Dies würde in die Schwierigkeit führen, dass jeder seine eigene Definition des Vernünftigen im Rechts wählen und daher Entscheidungen, die hiermit nicht verträglich erscheinen, als „irrational“ hinstellen könnte, nur weil sie gerade seiner Dezision zuwiderlaufen. Wer sich der Aufgabe von Rechtsvernunft zuwendet, muss wohl selbst in die Schranken kritischer Argumentation treten. Versteht man die kritisch-argumenta2 Dass Kritik und kritische Verfahren allein nicht ausreichen, begründet überzeugend Lenk, Pragmatische Vernunft, S. 22. Die methodischen Ansätze bedürften der kreativen inhaltlichen Ausfüllung. Der kritische Rationalismus liefere nur ein Konzept methodischer Regeln. Rationale Kritik hält Lenk für eine notwendige Voraussetzung der regulativen Ideen der Vernunft. 3 Zu dem damit angesprochenen Transsubjektivitätsprinzip vgl. etwa P. Lorenzen, Normative Logic and Ethics, Mannheim 1969, S. 82; ders., Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1974, S. 35 f.; vgl. auch R. Weimar, Rechterkenntnis und erkenntniskritische Wissenschaft, in: Festschrift für Ota Weinberger, Berlin 1984, N. 46 und 47.

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tive Klärung der auf Herstellung eines „guten“ oder „vernünftigen“ Rechts zielenden Absicht primär als rechts- / sozialethisch orientierte kritische Reflexion, so scheint sich das Prinzip Rechtsvernunft weniger am definitorischen Anfang dieses Prozesses zu erschließen als vielmehr erst an dessen praktischem Endpunkt greifbar zu werden. Nachdem man sich dieser Reflexion unterzogen hat, können wir Begriffe wie Rechtsvernunft, Rechtfertigung, Praktikabilität usw. verwenden, um auszudrücken, was wir dann als die bessere, gerechtere Praxis ansehen.4 Dann lässt sich das so gewonnene Verständnis von Rechtsvernunft auf eben diesen Prozess von Reflexion anwenden, der zu diesem Verständnis geführt hat, und rekonstruktiv fragen, ob dieser Weg selbst vernünftig ist. Oder ganz allgemein gesagt: Indem man etwas tut, gewinnt man damit oft eine auch begriffliche Klärung dessen, was man tut und warum man dies tut – eine Vorgehensweise, die oben rationale Rekonstruktion genannt wurde. Im Falle der vernünftigen Praxis des Rechts gehören das „Was“ und „Warum“ unseres Orientierungshandelns unbeschadet der analytischen Differenzierbarkeit zusammen. So gesehen muss Rechtsvernunft, heißt das, letztlich „für sich selber sprechen“. Führt allerdings kritische Reflexion auf einen Begriff „vernünftiger“ Rechtspraxis, der das von ihr in Anspruch genommene „Vorverständnis“ nicht deutlich werden lässt, dann ist das immer eine Situation, die es näher aufzuhellen gilt (vgl. dazu unten Abschnitt VI.).

IV. Rechtsvernunft – politische Fähigkeit oder oberster Grundwert? Statt rechtsvernünftig lässt sich traditionell auch „gerecht“ sagen. Als Tugend des Denkvermögens erscheint Vernunft in Klugheit und Gerechtigkeit differenziert. Dies entspricht der Unterscheidung von technischer und politischer Vernunft. Rechtsvernunft gehört zu dieser politischen Vernunft. Diese Zuordnung empfiehlt sich (auch) deshalb, weil Vernunft als bloß technische Vernunft, als Klugheit, heute leicht missverstanden werden kann. Es bleibt dann die Frage, an welchem Maßstab Rechtsvernunft gemessen werden soll. Woher stammen die Gründe, die es gestatten, ein Rechtsdenken „vernünftig“ zu nennen, ein anderes „unvernünftig“, „ungerecht“ usw.? Festzustehen scheint nur soviel: Da aus nichts auch nichts folgt, lässt sich ein Prinzip Rechtsvernunft nicht aus nichts deduzieren. Zieht man, um dieser Schwierigkeit zu entgehen, die Ethik heran, kann diese als eine Art Proto-Recht aufgefasst werden. Dem ethisch verpflichteten Rechtsdenken ist dann die Aufgabe gestellt, der Erhaltung und der Verbesserung normativ geordneten Zusammenlebens zu dienen.5 Auf diese Weise wird Rechtsvernunft zugleich funktional greifbar. 4 Zu weiteren Argumenten, die hier nicht nur strikt logisch gehandhabt werden müssen, vgl. Lenk, Pragmatische Philosophie, S. 311 f. 5 Dazu näher I. Tammelo, Zur Rechtsphilosophie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main / Bern 1982, S. 31 – 39, dem es dabei um die Frage nach dem „normativ Zwingenden“ in Gerechtigkeitskriterien geht.

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Mit abnehmender oder gar fehlender Anerkennung „natürlicher Autorität“ in einer Gesellschaft bleibt als Alternative gegenüber dem Zwang zur Durchsetzung einer normativen Ordnung nur das Prinzip der kritisch-vernünftigen Argumentation. Es wird „ohne Ansehen der Person“ diskutiert – mit dem Ziel einer zwanglosen Einigung vorbehaltlich neuer Infragestellung und erneuter Einigung usf. Dieses Prinzip, bei dem keiner auf seiner bloßen Subjektivität besteht, mag Vernunftprinzip genannt werden. Nun erfordert die Bewältigung unserer Lebensprobleme – neben technischem Wissen – eine Einübung der Fähigkeit, konfligierende Interessen durch Herstellung gemeinsamer Ordnung friedlich zu koordinieren. Recht fungiert hier als Mittel sozialer Steuerung. Die Funktion von Rechtsvernunft besteht dabei im Wesentlichen darin, Normen vor anderen Normen auszuzeichnen, mit dem Ergebnis, dass Vorschläge zur Änderung von Normen formuliert werden können. Kritik und Reform der Normen sind hier die Aufgabe. Dabei avanciert die Vernunft als Idee der Überwindung der Subjektivität zum Kriterium dieser Kritik. Als Richtung, in der sich eine Gesellschaft ändern sollte, lässt sich hier allgemein angeben, dass die Menschen immer mehr zu „Personen“ werden, die in einer kritisch zu erzielenden Einigung über Normen letztlich die oberste Norm selbst sehen. Der Weg scheint hier selbst zum Ziel zu werden: Das Prinzip Rechtsvernunft beschreibt dann keinen Zustand, sondern eine Richtung. Der Pluralismus der Grundwerte wird in dem einen umfassenden Grundwert der Rechtsvernunft miterfasst.6 Rechtsdenken und seine Praxisanleitung sind dann durch die Verwirklichung dieser Vernunft markiert. V. Ungewissheit und Unvollständigkeit der Rechtsvernunft Die Organisation der rechtlichen Verhältnisse unter der Idee ihrer vernünftigen Entwicklung hat im Vernunftinteresse (mindestens) folgenden Kriterien zu genügen: Die zu verwirklichenden Verhältnisse müssen – allgemein zumutbar sein, – sich gegenüber den herrschenden Verhältnissen als Fortschritt im Bewusstsein realer oder doch möglicher Kritik gestaltet haben und – geeignet sein, als Grundlage zukünftiger, freiheitlicher Entwicklung zu dienen. 6 Damit ist selbstverständlich nichts über die Wahrheitsfähigkeit dieses Grundwertes ausgesagt. Dass auch Diskursverfahren qua Rationalität (im Sinne von „Vernünftigkeit des Argumentierens“) richtige Normen und objektiv gültige Werte nicht zu garantieren vermögen, ist von O. Weinberger gegen R. Alexy überzeugend dargetan worden; vgl. Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 159 – 232 (188). Dies ist allerdings nur ein Aspekt der Problematik, der die Fragen um die Gestaltung der Inhaltlichkeit offen lässt und nicht erledigt. Die moderne Rationalitätsdebatte bleibt wenig fruchtbar, wenn sie die Inhaltsproblematik nicht materiell neu bearbeitet. Die Grenzvernetzung von Form und Gehalt wird man wohl kaum voreilig mit der empirisch offenen Möglichkeit gewisser minimaler normativer Systeminvarianzen verwechseln können.

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Wo nämlich die Bedingungen der Zumutbarkeit beeinträchtigt sind, werden entweder Gleichheitsnormen verletzt oder die Möglichkeit von Kritik durch Zwang ersetzt. Wo sich die rechtlichen Verhältnisse nicht als unter der Möglichkeit von Kritik freiheitlich entwickelt haben, liegt in Wahrheit noch keine akzeptable Rechtskultur vor. Wo rechtliche Verhältnisse ohne die Chance freiheitlicher Weiterentwicklung bleiben, müssen sie als „dogmatisch“ gelten und erweisen sich deshalb als reformbedürftig. Den Fortschritt im Sinne der Schaffung rechtsvernünftiger Verhältnisse zu postulieren und deren Vorhandensein als gegeben zu denken, bedeutet jedoch nicht, dass wir im Einzelnen wüssten, wie solche Verhältnisse ausgebildet sein müssten; es bedeutet nur, dass wir uns von Bestimmungen des Vernunftinteresses dabei überhaupt leiten lassen. Für die Lösung der sich hier ergebenden Inhaltsprobleme lassen sich – ihre hinreichende Konkretisierung vorausgesetzt – entsprechende Adäquatheitsbedingungen formulieren. Wer es für eine Aufgabe des Gesetzgebers hält, vernünftige Gesetze zu schaffen, muss sich nun allerdings fragen, wie der Gesetzgeber diese Aufgabe soll erfüllen können, wenn das „vernünftige Recht“ nicht erkennbar ist. Doch kann damit die Frage nicht verneint werden, ob Rekonstruktion von Rechtsvernunft wissenschaftlich überhaupt möglich ist; es kann jedenfalls untersucht werden, wie sie betrieben wird und welche Implikationen sie hat. Nur wer behauptet, solche Rekonstruktion sei als „exakte“ Wissenschaft nicht möglich, hat damit sicherlich recht. Denn es ist kaum zu bestreiten, dass es im Bereich von Rechtsvernunft keine praktische Erkenntnis, d. h; keine rein-kognitive Begründung praktischer Sätze gibt, ein Umstand, der für den gesamten Bereich der Jurisprudenz gilt. Aber es zweifelt wohl kaum jemand daran, dass es hier sachlich begründete praktische Argumentation gibt, und solche Argumentation gibt es aber nun auch in Fragen der Rechtsvernunft, insbesondere bei Gerechtigkeitsfragen.7 Die Begründung rechtsvernünftiger Regelungen erfordert eine rationale Methode, nach der das praktische Argumentieren im Wesentlichen eine Leistung des Verstandes und nicht des Gefühls und der Intuition ist. Die Rationalität wird nicht auf die wissenschaftlich-kognitive Erfassung der Dinge eingeschränkt. Für den Non-Kognitivismus ist Rechtsvernunft ein Erzeugnis praktischen Argumentierens und daher gibt es Rechtsvernunft als eine „objektiv“ gegebene Größe überhaupt nicht, sondern es gibt im Grunde nur die verschiedenen historischen, auf Rechtsvernunft und ihre Korrelate abstellenden Rechtslehren bzw. -schulen. Dass die Möglichkeit von Erkenntnis, was vernünftigerweise sein soll, aus non-kognitivistischer Sicht verneint werden muss, bedeutet 7 Dies wird auch von den Non-Kognitivisten nicht bestritten. Dass Normen Tatsachen seien („kritischer Monismus“), nimmt fachrevolutionär Ch. v. Mettenheim, Recht und Rationalität, Tübingen 1984, S. 36, an. Zu der Beschränkung der kritisch-rationalen Diskussion auf den Bereich einer Lebensform vgl. die Nachweise bei Weimar, N. 71 und 72. Vgl. auch ders., Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: W. Krawietz / Th. Mayer-Maly / O. Weinberger (Hrsg.), Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 – 722.

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freilich nicht, dass nicht relativ zu gewissen präzisierten Vernunftinteressen festgestellt werden kann, was diesen Interessen kompatibel ist.

VI. Rechtsvernunft als Wertungsrationalität? Abschließend möchte ich noch die Frage anschneiden, ob es aus den skizzierten Schwierigkeiten, aus der verbleibenden Unsicherheit um die Frage nach der Rechtsvernunft einen befriedigenden Ausweg überhaupt geben kann. Wer das Verhältnis von Rechtsvernunft und Positivität des Rechts als ein Verhältnis der Generierung (als selbständigen Prozess) zugrunde legt; vermag das Problem der Rechtsvernunft im Sinne eines Entwicklungsproblems zu begreifen. Dieser Prozess der Konkretisierung des Rechts erfolgt nicht allein durch einen einmaligen Akt der Gesetzgebung, sondern in besonderem Maße durch die Tätigkeit der Rechtsprechung. Eine Rechtsentscheidung lässt sich aus der abstrakt-generellen Norm nicht als gegeben ablesen. Das Gesetz – zunehmend eine Art framework – ist ein Lösungsvorschlag für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Sachverhalts, verbindlich dann, wenn es im Hinblick auf das im konkreten Fall der Rechtsvernunft entsprechende Sollen die Sache trifft. Der Richter darf das Gesetz selbstverständlich nicht nach Belieben beiseite schieben, sondern ist unter allen Umständen an das (gültige) Gesetz gebunden. Aber in der richterlichen Tätigkeit erfolgt eine Erweiterung der Informationsverarbeitung gegenüber der Leistung auf der Gesetzesebene, d. h: ein Stück Rechtsfortschreibung oder – wie man auch sagen könnte: ein Stück Verwirklichung von Rechtsvernunft. Im Endpunkt der Rechtsgewinnung, heißt das, trifft jeder Positivismus auf eine – wie immer verstandene – Rechtsvernunft des Richters. Andererseits kann dem „vernünftigen Recht“ des Gesetzgebers seine Vernünftigkeit auf der richterlichen Ebene entgleiten. In jedem Fall avanciert der Richter hier faktisch zur maßgebenden Gerechtigkeitsinstanz.8 Da es allerdings eine (absolute) „Richtigkeit“ von Präferenzen nicht geben kann, geht es hier um ein pragmatisches Konzept ihrer „Vernünftigkeit“. Dabei wird man kaum umhin kommen, Bewertungen als letztlich durch Bezugssysteme kultureller Art und durch in ihnen wurzelnde materiale Wertoptionen determiniert aufzufassen. Ihre Hinterfragung gestaltet sich von einer bestimmten Grenze ab schwierig. Erreichbar ist nur eine Strukturbeschreibung der Präferenzordnung, die aber doch das Problem. verdeutlichen kann. Dieser Weg erscheint geeignet, wertbezogene Aussagen als relevante Information festzustellen und dabei das ebenso vielzitierte wie selten klar aufgedeckte „Vorverständnis“ zu erfassen. Damit wird zugleich deutlich, dass jede rationale Rechtsentscheidung – diese definiert als Informationsgewinnungs- und Informationsverarbeitungsprozess – möglichst auf operationalisierten Präferenzen aufzubauen hat. 8 Dazu Weimar, Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus, in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, Berlin 1983, S. 473 – 497.

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Ohne Klärung der darin liegenden einzelnen Vor- und Teilfragen ist eine Entscheidung rechtsvernünftig nicht möglich. Daher hat jede Lösung eines Rechtsproblems im Sinne der Endentscheidung auch gewisse Vorentscheidungen auszuloten. Bei diesem „Aufbruch ins Vorverständnis“ kommt es darauf an, die „Vorentscheidungskette“ (Kilian) kontinuierlich zu präzisieren und ihre Relevanz für die Endentscheidung möglichst aufzuklären. Aus der Sicht des Rationalitätspostulats und einer interdisziplinär erweiterten Rechtstheorie gibt es dann keinen durchgreifenden Grund, an einer Tabuierung des Entstehungszusammenhangs juristischer Entscheidungen länger noch festzuhalten. Entdeckungsverfahren werden zwar als nicht logisch überprüfbar angesehen und deshalb meist ausgeklammert oder vernachlässigt. Die Zweckmäßigkeit dieser Haltung darf aber bezweifelt werden (z. B. Albert, Spinner, Staehle): Die Analyse der der juristischen Entscheidung vorgelagerten Determinanten muss dabei nicht ergeben, dass dieser Datenkreis schlechthin irrational zu nennen ist. Interdisziplinär informierte Rechtstheorie wird ein Höchstmaß an eigentlich bestimmenden Gründen im Sinne sozialer Determinanten der Entscheidung explizit machen können. Das setzt vor allem eine weitere Verbesserung der im Allgemeinen bislang wenig erhellenden Analysen über „Werte“ voraus. Aber auch schon der Rechtsstab selbst sollte sowohl die Prämissen der Entscheidungsnorm als auch die Anwendung der legitimierenden Begriffsauslegungen und Prinzipien stärker substantiieren. Er sollte, heißt das, (mindestens) die Gründe offen legen, warum er sie und nicht andere gewählt hat. Mit solchen Offenlegungen unterwirft der Rechtsstab sein Handeln größerer interner und externer sozialer Kontrolle. Je mehr Transparenz, desto größer ist auch die Chance sozial- und selbstkritischer Rationalität. Die Vernünftigkeit der Rechtsfindung kann dann wenigstens untersucht und weiter problematisiert werden. Eine allein rationale Deduktion der Ergebnisse hat sich als unmöglich erwiesen. Der Weg zur Entscheidung und ihr Ablauf auch in seiner Hintergrundstruktur gehören zur Entscheidungsbasis, die dem Richter nach Möglichkeit darzulegen aufgegeben ist und die wissenschaftlich erforscht werden kann. Diese Aufgabe ist trotz zusätzlicher Schwierigkeiten – in Grenzen – erfüllbar. Die kaum prognostizierbaren, weil mit zahlreichen Überraschungsmomenten durchsetzten Stationen der Gesetzesinterpretation über die Lückenausfüllung bis zu den Faszinationen der strategischen Rechtsfortschreibung verlangen als rechtsstaatliches Korrektiv an jeder einzelnen Stelle einen rekonstruierbaren Gedankengang, der nicht nur dem Richter, sondern auch dem Rechtsinteressenten bewusst macht, wieweit in den Problemen seines Falles die Mittel der Ratio und der Erkenntnis reichen und mit welchen Gründen der Richter entscheiden kann. Risikobegrenzung im Recht, im „Kampf ums Recht“? Mir ist klar, dass dieser Weg nicht eben bequem und noch weniger vielleicht jedermanns Sache ist.

Staatsakt und Unrecht bei Hans Kelsen Ausgehend von dem alten Dogma des englischen Staatsrechts, dass der König kein Unrecht tun könne (the king can do no wrong), fragte Kelsen, ob man diesen Satz in die moderne Staatstheorie mit der Abwandlung übernehmen könne, dass nun nicht von der physischen Person des Monarchen, sondern „von der juristischen Persönlichkeit des Staates die Unmöglichkeit eines rechtswidrigen Verhaltens“ zu behaupten sei.1 Kelsen meinte, das grundlegende Prinzip der Staatsrechtswissenschaft, dass der Staat eine der Rechtsordnung unterworfene juristische Person sei, scheine einer solchen Annahme zunächst zu widersprechen. Denn sofern der Staat innerhalb und unterhalb der Rechtsordnung stehe, sei er wie alle anderen Personen Subjekt von Rechten und Pflichten; und diese Gleichstellung des Staates mit den übrigen Rechtssubjekten lasse die Existenz staatlichen Unrechts zunächst als durchaus möglich erscheinen.2 Wenn der Staat wie andere Personen im Rechtssinne Pflichten habe, dann könne er diese Pflichten wie diese Personen auch verletzen; wenn der Staat Rechte habe, könne er sie missbrauchen wie die übrigen Rechtssubjekte.

I. Ausgangspunkte und Grundlagen Doch dieser erste Eindruck, meinte Kelsen, lasse den prinzipiellen Unterschied, der zwischen der Rechtsperson des Staates und den übrigen Rechtssubjekten bestehe, unberücksichtigt: der Staat sei nicht nur ein der Rechtsordnung unterworfenes und deshalb mit Rechten und Pflichten ausgestattetes Subjekt, sondern auch und vor allem der „einheitliche Träger der Rechtsordnung“.3 Während also der in der Rechtsordnung zum Ausdruck kommende staatliche Wille allen übrigen Rechtssubjekten gegenüber ein fremder sei, zu dem der individuelle Wille dieser Subjekte in Widerspruch geraten könne, trete dem Staat in der Rechtsordnung kein fremder, sondern ihr eigener Wille entgegen.4 Akzeptierte man den fundamentalen Satz der modernen Staatsrechtslehre, dass hinter jeder staatlichen Willensäußerung – und als solche müsse jede staatliche Tätigkeit ver1 Kelsen, Über Staatsunrecht, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 40 (1914), S. 1 (5). 2 Ebd., S. 7; Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. Tübingen 1923, S. 245; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 306. 3 Staatsunrecht, S. 13 und S. 31. 4 Hauptprobleme, S. 250, Staatsunrecht, S. 7.

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standen werden – eine einheitliche Persönlichkeit stehe, dass also der Staat als Subjekt von Rechten und Pflichten und der Staat als einheitlicher Träger der Rechtsordnung, ja als „Personifikation des Rechts“5, völlig identisch seien, so bedeute die Annahme staatlichen Unrechts, d. h. eines dem Staat zuzurechnenden, die Rechtsordnung verletzenden Tatbestands, dass der Staat in einer bestimmten Tätigkeit (Willensverwirklichung) das Gegenteil dessen wolle, was er in der Rechtsordnung als seinen Willen gesetzt habe. Es läge somit ein zwiespältiger Wille des Staates vor, genauer: zwei einander zu gleicher Zeit widersprechende Willensverlautbarungen.6 Eine solche Vorstellung würde die Grundvoraussetzung moderner Staatsrechtslehre zerstören: nämlich die These von der Einheitlichkeit des Staatswillens und damit der Staatspersönlichkeit; sie stehe im Widerspruch zu dieser Voraussetzung und sei daher ein „unlogisches Monstrum“.7 Es lohnt sich, dieser – nicht nur rechtstheoriegeschichtlich – interessanten Auffassung Kelsens näher nachzugehen. Zunächst: Kelsen macht geltend, die von ihm vorgenommene Identifikation aller staatlichen Tätigkeit, ihre Zurückführung auf einen einzigen Bezugspunkt, könne nicht mit dem Hinweis in Zweifel gezogen werden, dass der formellen Trennung der Trägerrolle des Staates gegenüber der Rechtsordnung von seiner Eigenschaft als Rechts- und Pflichtensubjekt auch eine materielle Aufgliederung der staatlichen Erscheinungsformen entsprechen müsse, dass also die Differenzierung in den Begriff der Staatspersönlichkeit selbst hineinverlegt werden müsse. Eine solche Scheidung könne als vorläufige, Arbeit erleichternde Hilfsvorstellung hingenommen, dürfe aber nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob sich zwei isolierte Persönlichkeiten in ihren Äußerungen unabhängig einander gegenüberständen. Das zeige der Verlauf der beiden Gedankenprozesse, von denen der eine den Staat zum Träger der objektiven Rechtsordnung mache, der andere ihn der Rechtsordnung unterwerfe, also mit Rechten und Pflichten ausstatte,8 und die beide in einem einheitlichen Bezugspunkt zusammenliefen: in der einen stets mit sich selbst identischen Staatspersönlichkeit. Zusammenfassend stellt Kelsen fest: Eine Rechtsordnung, also eine Summe von Rechtssätzen verschiedensten Inhalts, als Ganzes zu betrachten, heiße zu erkennen, dass alle die zahlreichen und unterschiedlichen Rechtssätze einander nicht widersprächen, nebeneinander in Geltung stehen könnten, einander logisch nicht ausschließen, sondern sich geradezu ergänzen würden, aufeinander angewiesen seien, ein einheitliches System bildeten.9 Dieser Grundsatz von der logischen Geschlossenheit und inneren Widerspruchslosigkeit eines Systems von Rechtsnormen impliziere, dass alle Rechtssätze, da jede einzelne Rechtsnorm für sich als Ausdruck 5 6 7 8 9

Hauptprobleme, S. 114. Staatsunrecht, S. 8; Hauptprobleme, S. 245 und S. 248, unklar jedoch S. 434. Staatsunrecht, S. 18; vgl. dort auch S. 32 und S. 24; Hauptprobleme, S. 240. Staatsunrecht, S. 8. Ebd., S. 9.

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eines Willens zu verstehen sei, auf einen einheitlichen Willen zurückgehen müssten. Von der Einheitlichkeit des Normensystems wird also auf die Einheitlichkeit des dahinter stehenden Willens geschlossen. Diese Konstruktion eines einheitlichen persönlichen Trägers der staatlichen Ordnung entspringt bei Kelsen dem gleichen Denkbedürfnis, das – wie er sagt – auch zum Gottesbegriff als dem einheitlichen Bezugspunkt aller das Universum beherrschenden Normen führe.10 Die Betrachtung des Staates als Träger von Rechten und Pflichten hat nach Kelsen vom Begriff des subjektiven Rechts auszugehen, der Rechtspflichten ebenso umfasse wie Berechtigungen.11 Recht im subjektiven Sinne sei nur die subjektive Erscheinungsform des Rechts im objektiven Sinne.12 Die den Subjektivierungsprozess des Rechts, den Vorgang der Ableitung des subjektiven aus dem objektiven Recht einleitende Frage lautet bei Kelsen: Wie wird ein objektiver Rechtssatz zu meiner Berechtigung, zu meiner Pflicht?13 Für den vorliegenden Zusammenhang genüge dazu der Hinweis, dass im Bereich der staatlichen Berechtigungen und Verpflichtungen ein anderes Subjektivierungsprinzip gelte als für die übrigen Rechtssubjekte.14 Während die Einmündung eines objektiven Rechtssatzes in den subjektiven Bereich der vom Staat unterschiedenen Rechtspersonen ihren Grund darin habe, dass der Rechtssatz auf diese Individuen angewendet werden könne, dass also über ein konkretes Rechtssubjekt, wenn es die im Rechtssatz ausgesprochenen Bedingungen setze, jener Nachteil verhängt werden könne und solle, den der Rechtssatz als Willen des Staates beinhalte15 – und damit der Rechtssatz auf eine konkrete Situation dieses Rechtssubjekts „passe“ –, erscheine ein konkreter objektiver Rechtssatz als Recht oder Pflicht des Staates nur insofern, als er eben den eigenen Willen des Staates zum Ausdruck bringe.16 Der Staat ist für Kelsen Subjekt bestimmter Rechte und Pflichten nur deshalb, weil er Subjekt einer bestimmten Rechtsnorm ist, d. h. weil der Rechtssatz seinen Willen verkörpert. Dieser Gedanke habe, so erklärt Kelsen, seinen Grund nicht in einer Selbstverpflichtung oder Selbstberechtigung des Staates; für eine formale und konstruktive Betrachtungsweise sei vielmehr entscheidend, ob ein Rechtssatz existiere, der etwas über das Verhalten des Staates aussage. Die Linie verlaufe also von der Berechtigung oder Rechtspflicht des Staates über einen objektiven Rechtssatz hin zum Staat als Subjekt eben dieses Rechtssatzes, das aber nicht anders gedacht werden könne denn als Träger der gesamten Rechtsordnung. Seine Position als berechtigtes oder verpflichtetes Subjekt gewinne der Staat im Hinblick auf einzelne Rechtsnormen, seine Rolle als umfassender Träger komme 10 11 12 13 14 15 16

Ebd. Hauptprobleme, S. 311 ff. Staatsunrecht, S. 10 f.; Hauptprobleme, S. 434. Hauptprobleme, S. 312; Staatsunrecht, S. 10. Hauptprobleme, S. 435; Staatsunrecht, S. 10. Vgl. hierzu Hauptprobleme, S. 348. Ebd., S. 435; Staatsunrecht, S. 11.

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ihm im Hinblick auf die gesamte Rechtsordnung zu: das Verhältnis des Staates als Träger der Rechtsordnung zum Staat als Subjekt von Rechten und Pflichten reduziert sich damit für Kelsen auf eine Relation des Ganzen zu seinen Teilen. Wie könnte sich hier noch ein materieller Gegensatz zwischen beiden staatlichen Erscheinungsformen manifestieren? 17 Die angebliche Undenkbarkeit staatlichen Unrechts lässt sich nach Kelsens Ansicht besonders deutlich aufweisen, wenn man nicht vom wollenden Staat, d. h. vom Staat als dem einheitlichen Träger der Rechtsordnung, sondern vom handelnden Staat, also vom Staat in der Erscheinungsform der Exekutive ausgeht. Dabei sei, legt Kelsen dar, zunächst zu berücksichtigen, dass es den handelnden Staat im eigentlichen Sinne nicht gebe. Als Handelnde erschienen immer nur Individuen. Die Vorstellung eines handelnden Staates bedeute, dass gewisse menschliche Handlungen nicht dem physisch Handelnden selbst, sondern einem anderen, hinter den agierenden Menschen gedachten einheitlichen Subjekt zugerechnet würden.18 Die Zurechnungslinie verlaufe gleichsam durch die natürliche Person, die tatsächlich handele, bis auf einen außerhalb des physischen Subjekts gedachten Punkt, wo sich die Zurechnungslinien schneiden. Die Individuen, bei denen eine derartige Zurechnung stattfinde, seien die „Staatsorgane“, und der gemeinsame Treffpunkt aller Zurechnungsprozesse, die von den als Organhandlungen qualifizierten Tatbeständen ausgehen, sei der „Staatswille“.19 Die Operation der Zurechnung oder Zuordnung20 sei nicht auf den Bereich des Rechts beschränkt. Sie sei vielmehr eine Denkfigur, die sich auf allen Gebieten normativer Prägung nachweisen lasse. So gebe es neben der rechtlichen beispielsweise eine sittliche und eine wirtschaftliche Zurechnung. Immer handele es sich um die Verknüpfung eines Seinstatbestands – sei er positiver oder negativer Natur, ein Geschehen oder Unterlassen mit einem Subjekt.21 Da Zurechnung also für Kelsen bedeutet, dass ein äußerer Tatbestand in Beziehung zu einer Person gesetzt wird, muss sich seiner Ansicht nach ein Auswahlprinzip finden lassen, nach dem ein realer Vorgang in der Sinnenwelt mit einem der unzähligen Individuen zusammengebracht und verknüpft wird. Es bietet sich für ihn zunächst eine kausale Betrachtungsweise an, wonach ein spezifischer Seinstatbestand dem Subjekt zugerechnet wird, das ihn herbeigeführt hat.22 Doch lasse sich, so Kelsen, leicht zeigen, dass das Kausalprinzip zur Klärung der Zurechnung nicht ausreiche. Denn für ein kausalmechanisches Denken bestehe kein Anlass, aus der unendlichen Reihe der Kausalfaktoren eine Bedingung als die allein maßStaatsunrecht, S. 11. Ebd., S. 11; Hauptprobleme, S. 183. 19 Hauptprobleme, S. 183. 20 Mit „Zuordnung“ benennt Kelsen denselben Sachverhalt in der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre (1960). 21 Hauptprobleme, S. 72. 22 Vgl. hierzu Staatsunrecht, S. 12; Hauptprobleme, S. 73 ff. 17 18

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gebliche herauszugreifen, da die dieser vorausgehende Ursache nicht mehr und nicht weniger an der Wirkung beteiligt sei als jene Bedingung selbst. Konsequent zu Ende gedacht führe diese Auffassung zu dem Ergebnis, dass jede Wirkung jeder ihrer Ursachen zugerechnet werden müsse, da für die Bevorzugung einer bestimmten Ursache kein Anlass bestehe. Hinzu komme noch, dass eine Wirkung regelmäßig nicht nur eine Ursachenkette habe, sondern mehrere derartige Reihen, in deren Schnittpunkt der zuzurechnende Erfolg steht.23 Häufig genug könne man auch in mehreren Reihen menschliche Handlungen als Kausalfaktoren nachweisen. Das Kausalprinzip liefere von sich aus kein Kriterium dafür, dass beim Prozess der Zurechnung nur auf eine dieser Ursachenketten zurückgegriffen werde. Versage die kausale Betrachtungsweise schon im Allgemeinen, so sei sie erst recht untauglich in dem Sonderfall der Zurechnung eines menschlichen Verhaltens zum Staat: Da die juristische Staatsperson keine der Sinnenwelt angehörende Erscheinung darstelle, könne sie auch niemals in irgendeiner Ursachenkette als mitbeteiligtes Glied auftreten. Aber auch eine teleologische Auffassung vom Wesen der Zurechnung lasse sich nicht halten. Sie besage, dass ein bestimmter Seinstatbestand der Person zugerechnet wird, die ihn bezweckt, d. h. beabsichtigt oder gewollt hat.24 Es könne noch davon abgesehen werden, dass in zahlreichen Fällen – beispielsweise bei Fahrlässigkeitsdelikten – auch ungewollte Realvorgänge rechtlich zugeordnet würden und deshalb eine Zurechnung anhand teleologischer Kriterien schon im Allgemeinen als problematisch erscheinen müsse. Jedenfalls scheitere aber die teleologische Betrachtungsweise im Bereich des Staatsrechts an ihrer eigenen Voraussetzung: Sie verlange stets einen real-psychischen Willensakt des Zurechnungssubjekts; die Person, der etwas zugerechnet werde, könne nur ein Mensch sein.25 Eine derartige Voraussetzung könne die der juristischen Konstruktion entsprungene Staatsperson nicht schaffen. Die teleologische Auffassung könne den Zurechnungsprozess nur bis zu einer physischen Person erklären, nicht aber durch diese hindurch bis zu dem formalen Subjekt der Staatsperson. An dem Punkt jedoch, an dem die teleologische Betrachtungsweise ende, setze das Problem der Zurechnung gerade erst ein.26 Es gelte deshalb, nach einem geeigneten Kriterium, einem hinreichenden Grund für die Zurechnung im Allgemeinen wie für die Zurechnung menschlichen Handelns zum Staat im Besonderen Ausschau zu halten. Als Zurechnungsgrund in diesem Sinne könne allein eine Norm, ein Rechtssatz fungieren.27 Wenn beispielsweise der Henker einen wegen Hochverrats zum Tode Verurteilten hinrichte, dürfe der Henker nur deshalb nicht wegen Mordes oder Totschlags 23 24 25 26 27

Hauptprobleme, S. 74. Ebd. Staatsunrecht, S. 12. Ebd., S. 13; vgl. auch Hauptprobleme, S. 75. Hauptprobleme, S. 75; Staatsunrecht, S. 14.

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zur Verantwortung gezogen werden, weil sich im System der Rechtsnormen ein spezifischer Rechtssatz finden lasse, der dazu zwinge, die Hinrichtungshandlung dem Staat zuzurechnen: es sei die Vorschrift, die das Verbrechen des Hochverrats mit dem Tode bedrohe. Dem Staat müsse diese Exekutionshandlung zugerechnet werden, weil sie dadurch als vom Staat gewollt gekennzeichnet werde, dass sie als Unrechtsfolge für einen bestimmten Sachverhalt ausgesprochen sei. Nur eine solche Handlung sei also zurechenbar, die in einem Rechtssatz als Unrechtsfolge eines in der Norm umschriebenen Verhaltens vorgesehen sei.28 Die Summe der dem Staat zurechenbaren Handlungen sei gleich der Summe der in sämtlichen Rechtsnormen vorgesehenen, vom Staat zu realisierenden Rechtsfolgen. Hierunter fallen bei Kelsen nicht nur Unrechtsfolgen, also Strafen und zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen, sondern auch Tatbestände, die als Reaktionen des Staates auf bestimmte im jeweiligen Rechtssatz angegebene Bedingungen einzutreten haben. Wie Strafe und zivilrechtliche Exekution, so können auch z. B. eine Armenunterstützung oder eine Konzessionserteilung als Rechtsfolge spezifischer Voraussetzungen normiert sein.29 Immer wenn sich der fragliche Tatbestand im Nachsatz, d. h. im Rechtsfolgensatz einer Norm nachweisen lässt, wird dieser Tatbestand nach Kelsens Theorie dem Staat zugerechnet, sind die diesen Tatbestand realisierenden Menschen Staatsorgane, sind ihre Handlungen Organfunktionen.30 Kelsen fasst zusammen: Nachdem nur eine Rechtsnorm hinreichender Grund dafür sei, dass eine konkrete Handlung dem Staat zugerechnet werden könne, lasse sich die völlige Undenkbarkeit von Staatsunrecht mit aller Klarheit aufweisen: Da nur das, was der Rechtssatz selbst bezeichne, also nur die normativ umschriebene Handlung, dem Staat zugerechnet werden könne, müsste der Staat in der Rechtsordnung selbst das Unrecht wollen, damit es ihm in der Exekutive zugerechnet werden könne.31 Der Staat müsste also – wolle man an der Vorstellung staatlichen Unrechts festhalten – Rechtsnormen aufstellen, die eine rechtswidrige Handlung als Reaktion des Staates auf einen bestimmten Lebenssachverhalt vorsähen.32 Berücksichtige man nun noch die rechtstheoretische Genese des Begriffs „Unrecht“, dann erhelle mit letzter Deutlichkeit die Unmöglichkeit staatlicher Unrechtshandlungen. Allein dadurch werde ein Lebenssachverhalt, ein faktisches Geschehen in der gesellschaftlich-staatlichen Ebene zum Unrecht, dass die Rechtsordnung durch Strafen und zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen auf diesen Vorgang reagiere, dass er in einer konkreten Rechtsnorm als Bedingung für eine spezifische Unrechtsfolge gesetzt sei.33 Unrecht löse daher ein Handeln des Staates zwar aus, 28 29 30 31 32 33

Staatsunrecht, S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Das aber wäre nach Kelsen „vollkommener Unsinn“, ebd., S. 16; vgl. dort auch S. 32. Staatsunrecht, S. 14, 16 und 18.

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es könne aber nie in diesem Handeln selbst ein Unrechtsgehalt liegen. Nach den „unumstößlichen Prinzipien der Rechtslogik“ könne Unrecht „immer nur als Voraussetzung, nicht aber als Inhalt des staatlichen Wollens und Handelns gelten“.34

II. Zum Problem der gegen den Staat gerichteten Exekution In eine Schwierigkeit gerät diese Theorie der mit sich selbst identischen und daher jedes eigene Unrecht ausschließenden Staatsperson schon bei der Einordnung des Phänomens einer gegen den Staat gerichteten Exekution, d. h. einer Zwangsvollstreckung wegen zivilrechtlicher Forderungen in das staatliche Vermögen.35 Ich folge hierzu zunächst noch Kelsens weiterer Darstellung: Wird beispielsweise das Kriegsministerium auf die Klage eines Manövergeschädigten durch ein ordentliches Gericht verurteilt, den Schaden durch Zahlung eines bestimmten Geldbetrags auszugleichen, und verweigert dieses Ressort trotz des Urteils die Leistung, wird gegen die Kasse dieses Ministeriums ein Zwangsverfahren eingeleitet. 36 Das Gericht nimmt aus dem Vermögen dieses Ressorts zwangsweise den eingeklagten Betrag und befriedigt damit den Gläubiger. Da aber diese Exekution nach der Auffassung Kelsens als die normale zivile Unrechtsfolge, d. h. als die typische, in den einschlägigen Rechtsnormen vorgesehene Reaktion auf ziviles Unrecht anzusehen ist37, müsste die Annahme nahe liegen, dass der Staat zumindest ziviles Unrecht setzen kann. Wie eine Handlung dadurch zu kriminellem Unrecht wird, dass sie in einem Rechtssatz als Bedingung einer Strafe gesetzt ist, wird ein bestimmter Vorgang, z. B. die Unterlassung der Erfüllung einer zivilen Rechtspflicht, dadurch zu zivilem Unrecht, dass eine Rechtsnorm die zivilrechtliche Exekution daran knüpft. Ein gegen den Staat gerichtetes Zwangsverfahren müsste daher den Schluss auf einen dem Staat zuzurechnenden zivilen Unrechtstatbestand erlauben. Tatsächlich wird, wie Kelsen näher erläutert, auf diesem Konstruktionsweg die Unrechtsfähigkeit der von der Person des Staates zu unterscheidenden juristischen Personen gewonnen. Die Anerkennung derartiger juristischer Subjekte durch die Rechtsordnung habe in erster Linie die Bedeutung, dass, wenn die Organe der juristischen Person die ihnen obliegenden Rechtspflichten nicht erfüllten, aufgrund der Klage des dadurch Geschädigten die Exekution als staatliche Unrechtsfolge gegen die juristische Person geführt werde. Person und Vermögen des Organs blieben unbehelligt.38 Dadurch, dass die Rechtsordnung das Zwangsverfahren direkt auf das Vermögen der juristischen Person lenke, bestimme sie, dass der bürgerlich34 35 36 37 38

Ebd., S. 17. Vgl. hierzu ebd., S. 37 ff. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 14, 16, 18 und 37. Ebd., S. 22.

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rechtliche Unrechtstatbestand der juristischen Person und nicht dem Organ zuzurechnen sei. Wen die Rechtsordnung mit der Unrechtsfolge belaste, dem rechne sie das Unrecht zu. In der gleichen Weise könne die normative Ordnung der juristischen Person eine kriminelle Unrechtshandlung zuschreiben, indem sie nämlich eine an einen vom Organ verwirklichten Tatbestand geknüpfte Strafe über die juristische Person und nicht über das Organ verhänge. Auch hier indiziere die gegen die juristische Person gerichtete Aktion des Staates eine Unrechtshandlung eben dieser juristischen Person.39 Versucht man unter Berücksichtigung dieser Gedanken das Phänomen einer gegen den Staat gerichteten Exekution zu erfassen, so erscheint die Möglichkeit staatlichen Zivilunrechts unabweisbar. Eine derartige Annahme ist jedoch für Kelsen mit dem Fundamentalprinzip der modernen Staatsrechtslehre, dem Satz von der Einheitlichkeit der Staatsperson und des Staatswillens in der Rechtsordnung und Verwaltung, schlechterdings unvereinbar.40 Eine Betrachtung der Zwecke der Rechtsordnung lässt dies nach Auffassung Kelsens deutlich werden: Der Staat wolle durch die Statuierung von Unrechtsfolgen kriminelles wie ziviles Unrecht vermeiden. Nicht die Realisierung der Unrechtsfolgen, sondern gerade deren Vermeidung sei das von der Rechtsordnung verfolgte Ziel. Wenn man diesen Zweck der Rechtsordnung den Willen des Staates nenne, so könne der Staat nicht in der von ihm geschaffenen normativen Ordnung ziviles Unrecht verhindern wollen, das er dann in der Exekutive selbst setze.41 Es gilt daher für Kelsen, eine Konstruktion zu finden, die es ermöglicht, die Erscheinung der gegen den Staat gerichteten Zwangsmaßnahmen widerspruchslos in das rechtliche Gesamtsystem einzuordnen. Einen Weg für die Ausräumung dieser Schwierigkeit bieten nach Kelsen die Unterschiede, die zwischen der Exekution gegen einen Bürger und einer entsprechenden Vollstreckung gegen den Staat bestehen.42 Kelsen sagt, wenn anlässlich der Vollstreckung aus der Kasse des Kriegsministeriums zwangsweise der eingeklagte Betrag entnommen und der Gläubiger damit befriedigt werde, dann liege hier nichts anderes vor, als dass der Staat nunmehr durch ein anderes als das ursprünglich vorgesehene, pflichtwidrig sich weigernde Organ seine Rechtspflicht erfülle. Hier ständen sich nicht wie bei der eigentlichen Exekution zwei voneinander verschiedene Rechtssubjekte gegenüber, sondern der Vorgang vollziehe sich innerhalb der Sphäre einer einzigen Person. Der Staat korrigiere lediglich einen internen Fehler. Er erfülle keine fremde, sondern eine eigene Rechtspflicht. Der mit der Vollstreckung verbundene Zwang richte sich allein gegen das pflichtwidrig sich verhaltende Organ, das bei diesem Tun den Staat nicht 39 40 41 42

Ebd., S. 22. Ebd., S. 39 ff. Ebd., S. 40; Reine Rechtslehre, S. 307. Vgl. Staatsunrecht, S. 40; hierzu auch Reine Rechtslehre, S. 309.

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mehr repräsentieren könne, also im eigentlichen Sinne kein Staatsorgan mehr sei.43 Die Vorstellung, ein Staat könne gegen sich selbst Gewalt ausüben, ist für Kelsen „absurd“.44 III. Staatsunrecht und Organunrecht Wie aber lässt sich die These Kelsens, dass die Staatsperson nicht pflichtwidrig oder unrechtmäßig handeln kann, mit der Erfahrung vereinbaren, dass Staatspflichten nicht selten unerfüllt bleiben und Staatsbürger durch Eingriffe der öffentlichen Hand vielfach Schaden erleiden? Wie lassen sich diese Phänomene erfassen und systematisch einordnen? Wenn ein staatliches Organ dem Staat obliegenden Verpflichtungen, deren Erfüllung ihm übertragen ist, nicht nachkommt, dann kann dieser Vorgang auch aus der Sicht Kelsens freilich nur als ein unrechtes Verhalten angesehen werden.45 Nur kann man nach Kelsen dem Staat diese Pflichtwidrigkeit nicht zurechnen. Das Staatsorgan repräsentiere den Staat nur solange, als es dessen Willen realisiere und seine Handlungen mit dem in der Rechtsordnung zum Ausdruck gekommenen Willen des Staates übereinstimmten.46 Anderenfalls handele das Organ außerhalb seiner Kompetenz. Eine gegenteilige Auffassung – argumentiert Kelsen – müsste, da die Kompetenz eines Staatsorgans sich juristisch als Summe seiner Amts- und Rechtspflichten darstelle, eine Rechtspflicht, Rechtspflichten zu verletzen, statuieren.47 Es sei jedoch undenkbar, eine Kompetenz zu rechtswidrigem Verhalten anzunehmen.48 Werde eine dem Staat obliegende Pflicht nicht erfüllt, handele es sich um Unrecht des zuständigen Staatsorgans, nicht des Staates. Dass die herkömmliche Staatslehre in dieser Frage zu keiner klaren Vorstellung gelangt sei, habe darin seinen Grund, dass sie das Organschaftsverhältnis nicht als Beziehung zweier Rechtssubjekte ansehe, sondern eine selbständige Rechtspersönlichkeit des Organs leugne und das Organ mit der Staatsperson identifiziere.49 Eine derartige Identifizierung führe zwangsläufig dazu, auch rechtswidriges Verhalten des Organs dem Staat zuzurechnen.50 Dass aber ohne die Annahme einer selbständigen Organpersönlichkeit nicht auszukommen sei, lasse sich mit aller Deutlichkeit der Tatsache entnehmen, dass es Organpflichten gebe, die von den Staatspflichten verschieden seien.51 43 Staatsunrecht, S. 41. An dieser Stelle wird die Verwandtschaft der Theorie Kelsens mit der im englischen Staatsrecht entwickelten Ultra-Vires-Lehre besonders deutlich. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 43. 46 Ebd., S. 44; Reine Rechtslehre, S. 307. 47 Staatsunrecht, S. 32. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 45. 50 Vgl. ebd., S. 41. 51 Vgl. ebd., S. 45.

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Der Rechtssatz, der dem Staat ein bestimmtes Handeln zur Pflicht mache, müsse, um überhaupt realisiert werden zu können, durch einen weiteren Rechtssatz ergänzt werden, der bestimme, welches Staatsorgan mit der Erfüllung der staatlichen Pflicht beauftragt sein solle. Das Staatsorgan – ein Mensch – könne aber nicht anders verpflichtet werden als durch einen Rechtssatz, der auf ein pflichtwidriges Verhalten eine Unrechtsfolge setze. Als eine die Realisierung des Staatswillens sicherstellende Norm könne nur ein Disziplinarrechtssatz fungieren.52 Er wende sich unmittelbar an das Organ und mache ihm die Erledigung der staatlichen Aufgaben zur Pflicht. Ein derartiger Disziplinarrechtssatz enthalte in seinem bedingenden Vordersatz eine Organisations- oder Kompetenzvorschrift und spreche in seinem Nachsatz die Disziplinarfolge aus.53 Er werde verletzt, wenn das Organ es pflichtwidrig unterlasse, den Staatswillen in der gehörigen Weise zu realisieren. Ein derartiger Vorgang könne aber nur als Organunrecht, niemals als Staatsunrecht angesehen werden.54 An diesem Ergebnis ändere sich auch dadurch nichts, dass der Staat verschiedentlich die Haftung für die Unrechtshandlungen seiner Organe übernehme.55 In solchen Fällen hafte er nicht für eigenes, sondern für fremdes Unrecht. Und eine Rechtspflicht des Staates, den von seinen Organen verursachten Schaden zu ersetzen, lasse sich nicht aus einer irgendwie gearteten Verantwortlichkeit des Staates für seine Organe herleiten, sondern könne allein aufgrund eines positiven Rechtssatzes angenommen werden. IV. Diskussion der Lehre Kelsens Der Versuch, gegenüber Kelsens Doktrin von der Denkunmöglichkeit staatlichen Unrechts eine kritisch abwägende Stellung einzunehmen, ist – wie sich bald zeigen wird – ein Unterfangen von nicht geringer Schwierigkeit. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass man vor jeder Auseinandersetzung mit seiner Lehre eine grundlegende Vorfrage zu entscheiden hat, deren Beantwortung die Diskussion alsbald zu beenden scheint: Akzeptiert man die von Kelsen beanspruchte Voraussetzung, dass die Staatsrechtslehre sich wie jede dogmatische Rechtstheorie mit einer rein formalen Betrachtung der rechtlichen Sollenssätze zu begnügen habe,56 dass sie also von allen Seinselementen und materiellen Inhalten abzusehen habe,57 dann scheint man sogleich in ein widerspruchslos konstruiertes System von Rechtsbegriffen versetzt zu sein, in dem es zwar das eine oder das andere zurechtzurücken, aber nichts grundsätzlich zu verändern gibt. Ist man dagegen der Ansicht, dass das Wesen 52 53 54 55 56 57

Reine Rechtlehre, S. 309. Ebd. Ebd., S. 156. Vgl. hierzu Staatsunrecht, S. 103; unklar Reine Rechtslehre, S. 310. Vgl. Staatsunrecht, S. 2. Hauptprobleme, Vorrede S. V ff.

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rechtsdogmatischer Bemühungen nicht in einem bloßen mehr oder weniger inhaltsleeren Konstruieren und Systematisieren, in einer rein formalen, die inhaltlichen Elemente unberücksichtigt lassenden Arbeit am Rechtssatz bestehe,58 so versagt sich die Rechtslehre Kelsens einem solchen Ansatz von vornherein. Sie kann und will diese Auffassung nicht verstehen, wie sie umgekehrt auch von dieser nicht diskutiert werden kann.59 Ansatzpunkte für eine sachliche Auseinandersetzung ergeben sich primär überhaupt nur für eine immanente, die Voraussetzungen ungeprüft hinnehmende Kritik im System selbst und im Bereich der methodologischen Implikationen Kelsens. 1. Immanente Kritik

Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, die einzelnen Teilstücke des Kelsenschen Begriffsgebäudes auf ihre begriffliche Sauberkeit und das ganze System auf seine durchgängige Widerspruchslosigkeit hin zu prüfen. Bei der – wie Häfelin mit Recht sagt –„unerhörten Kompliziertheit“60 und Differenziertheit der Reinen Rechtslehre wäre dazu eine breit angelegte spezielle Analyse erforderlich. Überhaupt würde sich eine von der Reinen Rechtslehre abweichende Auffassung vom Wesen des Staates nicht durch die Aufdeckung innerer Widersprüchlichkeiten im Gesamtgebäude der Lehre Kelsens begründen lassen, sondern allein durch die Wahl eines anderen Ausgangspunkts. Es soll daher lediglich auf einige für die Rechtswidrigkeitsproblematik relevante Schwierigkeiten hingewiesen werden, die die von Kelsen behauptete durchgängige Logizität und formale Reinheit seiner Staatsrechtslehre zumindest problematisch erscheinen lassen. Sein Versuch, das Phänomen der gegen den Staat gerichteten zivilrechtlichen Exekution in die Gesamtkonstruktion der Staatsdoktrin bruchlos einzugliedern, kann nicht als geglückt bezeichnet werden. Dass von der Rechtsordnung neben den natürlichen auch juristische Personen anerkannt werden, hat zwar auch für Kelsen hauptsächlich die Bedeutung, dass in Fällen, in denen Rechtspflichten der juristischen Person durch ihre Organe nicht erfüllt werden, auf Klage des Geschädigten die staatliche Exekution sich gegen die juristische Person, gegen ihr Vermögen und nicht bzw. nicht nur gegen das Vermögen des Organs richtet.61 Aus diesem Umstand folgert Kelsen die Unrechtsfähigkeit juristischer Personen, denn Unrechtsfähigkeit betrifft nach seiner Auffassung die Frage, wem die Rechtsordnung einen Unrechtsbestand zurechnet; wem aber sie dieses Unrecht zurechnet, das gehe daraus hervor, wen sie mit der Unrechtsfolge treffe.62 58 Vgl. dazu Staatsunrecht, S. 3 und S. 15; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl. Tübingen 1928, S. 73. 59 Vgl. hierzu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1. 60 Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teil: Dogmengeschichtliche Darstellung, Tübingen 1959, S. 194. 61 Vgl. Kelsen, Staatsunrecht, S. 45. 62 Vgl. ebd., S. 22.

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Wie dieser Gedankengang zeigt, schreitet Kelsen in einem rein formalen Schlussverfahren von einem Unrechtstatbestand ausgehend über die daran geknüpfte Exekution zur Zurechnung des Unrechts und schließt daraus auf die Unrechtsfähigkeit der juristischen Person; ja, dieser gedankliche Prozess lässt die Rechtsfigur der juristischen Person überhaupt erst entstehen.63 Bei der Staatspersönlichkeit hingegen soll diese Kette von einander ergänzenden Folgerungen nicht statthaft sein. Die gegen den Staat gerichteten zivilrechtlichen Zwangsmaßnahmen sollen sich nur dem äußeren Anschein nach und nur nach oberflächlicher Betrachtung als Exekution im eigentlichen Sinne darstellen,64 weil sich die Maßnahmen in Wirklichkeit nicht gegen den Staat, sondern gegen das pflichtvergessene Organ richteten.65 Nur gegen dessen Person werde Zwang ausgeübt.66 Da aber demjenigen, gegen den die staatliche Zwangsmaßnahme gerichtet sei, das Unrecht zugerechnet werde, sei nur auf Seiten des Organs Unrecht denkbar, nicht jedoch auf Seiten des Staates.67 Diese Ableitung überzeugt schon deshalb nicht, weil die Übereinstimmungen in der Struktur der beiden Rechtserscheinungen – juristische Person einerseits und Staatsperson andererseits – zu auffällig sind, als dass insoweit hinsichtlich ihrer Unrechtsfähigkeit differenziert werden könnte. Wie wenig sicher Kelsen selber ist, ergibt sich daraus, dass er diesen Ansatz als einen „Ausweg“ bezeichnet, durch den ein „arger Schönheitsfehler im Gesamtsystem des juristischen Gedankengebäudes“ vermieden werde.68 Geht man mit Kelsen davon aus, dass der entscheidende Faktor für die Konstituierung der Unrechtsfähigkeit juristischer Personen darin zu erblicken ist, dass ihnen ein Unrechtstatbestand zugerechnet wird, dass ferner diese Zurechnung sich aus der Zielrichtung einer staatlichen Exekution ergibt, dann kann, wenn sich im Bereich der Staatspersönlichkeit die gleichen Elemente aufzeigen lassen, auch dort die gleiche Kette von Schlussfolgerungen nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Hier wie dort richtet sich die Klage nicht gegen das Organ, sondern gegen die zugehörige Rechtsperson; hier wie dort ist Gegenstand der Zwangsmaßnahme nicht das Vermögen des Organs, sondern das der juristischen Person des privaten bzw. öffentlichen Rechts. Kelsens Hinweis, dass der im Rahmen der Exekution ausgeübte Zwang sich nicht gegen den Staat, sondern gegen das Organ richte,69 kann keinen Unterschied begründen, sondern bestätigt gerade die grundsätzliche Gleichheit der beiden Phänomene. Denn auch bei den vom Staat zu unterscheidenden juristischen Personen wird ein etwaiger Zwang 63 Die Annahme der zivilen Unrechtsfähigkeit der juristischen Personen ist nach Kelsen „identisch mit der Konstruktion der juristischen Persönlichkeit überhaupt“, ebd. 64 Kelsen, Staatsunrecht, S. 39. 65 Ebd., S. 44. 66 Ebd., S. 43. 67 Ebd., S. 44 ff. 68 Ebd., S. 39. 69 Ebd., S. 43.

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nicht gegen die juristische Person selbst, sondern gegen die Organe ausgeübt (wie ja Zwang nur gegenüber Menschen angewendet werden kann). Ob im Hinblick auf diese prinzipielle Uniformität die übrigen von Kelsen angeführten Differenzierungsmerkmale noch entscheidend ins Gewicht fallen, muss bezweifelt werden. Merkwürdig mutet auch die wechselnde Rolle an, die Kelsen dem Staat im Rahmen eines mit einem Rechtsstreit beginnenden und einer Exekution endenden Verfahrens einräumt: „Während . . . im Prozeß bis zum Augenblicke des rechtskräftigen Urteils der Staat dem Gericht gegenübersteht, weil der Staat als Gerichtsbehörde und der Staat als Partei bis zu diesem Augenblick nicht von divergierendem Willen sind, wird doch erst festgestellt, ob die fragliche Rechtspflicht besteht, ist im Zwangsverfahren nicht mehr die Staatsperson, sondern das sich pflichtwidrig weigernde Organ das Subjekt, gegen das sich staatliche Gewalt richtet.“70 Und wenn Kelsen die Annahme eines „Staates, der sich selbst exequiert, gegen sich selbst Gewalt ausübt“71, als absurd bezeichnet, so ist kein Grund ersichtlich, die Vorstellung eines über sich selbst zu Gericht sitzenden Staates, von der Kelsen ausgeht, als weniger eigentümlich zu bezeichnen. Schließlich sei noch auf eine andere Spannung und Unebenheit im System Kelsens kurz eingegangen.72 Indem Kelsen seinen angeblich rein normativen, von allen psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten gereinigten Begriff des Staatswillens einmal als „Endspurt der Zurechnung“73 bei der Verknüpfung von Seinstatbeständen mit der Person definiert (in dieser Beziehung sind im Übrigen der Staatswille und der Wille der anderen Rechtssubjekte identisch,74 indem er ihn zum anderen aber als Ausdruck einer zielgerichteten Intention versteht („der Staat will, d. h. die Rechtsordnung bezweckt durch die Androhung der Exekution ebenso die Vermeidung des zivilen Unrechts wie durch die Androhung der Strafe das Unterlassen des Kriminellen“,75 begründet er einen doppelsinnigen, inhomogenen Begriff des Staatswillens, den er je nach Bedarf in dem einen oder anderen Sinne verwendet. Ja, indem er vom Staat als von einem wollenden, bezweckenden, auf bestimmte Wirkungen bedachten Subjekt spricht, fügt er mit dieser Charakterisierung die nicht normativen Aspekte, die er aus dem Begriff zuvor entfernt hatte, wieder ein. Bei dieser Disparität gewinnt der zentrale Grundsatz der Staatslehre Kelsens eine ganz eigentümliche Prägung. Kelsen sagt weiter: „Will man dem Staat Unrechtsfähigkeit zusprechen, dann müßte man annehmen, daß er in der Exekutive handelnd etwas anderes wolle Ebd. Ebd. 72 Vgl. hierzu im Einzelnen E. v. Hippel, Zur Kritik einiger Grundbegriffe in der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens, in: E. v. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, Meisenheim 1959, S. 15 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. Berlin – Frankfurt am Main, S. 141; Häfelin, S. 179 ff.; vgl. auch Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. Stuttgart 1963, S. 285. 73 Kelsen, Hauptprobleme, S. 145. 74 Ebd., S. 186. 75 Staatsunrecht, S. 39. 70 71

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(Wille als Zurechnungsendpunkt verstanden), als er in der Rechtsordnung wolle (Wille als Ausdruck eines zielgerichteten Strebens verstanden)“. Es ist ganz deutlich, dass hier der Willensbegriff in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird: in einem juristisch-normativen und einem psychologisch-empirischen Sinne. Würde man den Willensbegriff juristisch-normativ fassen, dann ergäben sich für die Anerkennung staatlichen Unrechts keinerlei Schwierigkeiten, da ja aus der Zurechnung eines Unrechtstatbestands zu einer Person keineswegs folgt, dass diese den Tatbestand gewünscht, bezweckt, „gewollt“ hat.76 Dass Kelsen die von ihm postulierte prinzipielle Disparität von Sollen und Sein, von Normativität und Faktizität77 nicht immer aufrechtzuerhalten vermag, lässt sich an zahlreichen Stellen seines Systems nachweisen.78 Diese Inkonsequenz, die ihm häufig zum Vorwurf gemacht wurde, hat er nicht überzeugend widerlegen können. Lassen bereits diese Einwände erkennen, dass man Kelsens Lehre in der Frage des Staatsunrechts mit Skepsis zu begegnen hat, so dürfte die folgende Betrachtung aus methodologischer Sicht vollends zeigen, wie wenig Kelsens System eine über positivistisches Denken hinausgehende Perspektive vom Wesen des Rechts berücksichtigen kann. 2. Kritik aus methodologischer Sicht

Die Methodenlehre einer Wissenschaft ist deren Besinnung auf ihr Wesen, ist der bewusst unternommene Versuch, die logischen Strukturen der spezifischen Disziplin zu begreifen, ist kurz der Ausdruck dafür, dass Wissenschaft sich selbst problematisch ist. Methodenlehre hat aber nicht nur mit einer spezifischen Art und Weise des Erkennens, mit einer besonderen Form der Wahrheitsbemächtigung zu tun, sondern sie muss, da Notwendigkeit und Berechtigung einer Methode sich zwangsläufig aus der Struktureigenschaft ihres Gegenstandes ergeben, stets auch diesen mit in ihre Betrachtung einbeziehen. Seit sich die Erkenntnis durchsetzte, dass jeder Gegenstand seine eigene ihm adäquate Methode erfordert, und die Vorstellung überwunden ist, dass allein die experimentelle, messende oder kausal orientierte Forschungsweise eine wissenschaftliche ist, gehört es zur Methodenlehre einer Wissenschaft, neben der Struktur des Erkenntnisverfahrens die Strukturen des zu erforschenden Gegenstands aufzuweisen. Es ist daher zunächst möglichst von der Methode selbst und dann von dem Problemgegenstand Recht / Unrecht zu handeln, wobei sich eine völlige Trennung dieser Fragenbereiche nicht erzielen lässt.

76 Auch in anderer Hinsicht sieht sich Kelsen vielfach gezwungen, Abwandlungen, Einschränkungen und Erweiterungen des Staatswillensbegriffs vorzunehmen; vgl. hierzu Häfelin, S. 185 ff. 77 Hauptprobleme, S. 7 ff. 78 Vgl. E. v. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, S. 15 ff.; Leiminger, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, Wien – New York 1969.

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a) Die Methode Kelsens Bemühen ging dahin, ein „logisch geschlossenes System allgemeingültiger Rechtsbegriffe zu schaffen“,79 einen „logischen, einheitlichen Aufbau der juristischen Begriffspyramide durchzuführen“.80 Die darin enthaltenen Begriffe sollten formaler Natur und von allen außerjuristischen Elementen befreit, d. h. „rein“ sein.81 Dadurch sollte es möglich werden, eine allgemeine „Theorie des positivistischen Rechts“ zu liefern.82 Die Suche nach einem auf einen oder mehrere Grundbegriffe zurückführenden axiomatischen System entspricht einem alten Anliegen der Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Als Idealbild galt die methodische Wissenschaft, der es gelang, aus wenigen Axiomen in fortschreitender Ableitung und streng logischer Folgerung den Gesamtbereich ihres Wissenschaftsgegenstands bis in die letzten Einheiten zu entfalten.83 Ein bemerkenswertes, aber nicht wenig gefährliches Beispiel eines „more geometrico“ gewonnenen juristischen Systems ist die Rechtslehre Christian Wolffs.84 Frühzeitig ist an Verfahren solcher Art Kritik geübt worden, die sich nicht nur dagegen richtete, dass ein solches Vorgehen die Positivität des gesetzten Rechts außer acht lasse, indem es die konkreten Rechtssätze und Entscheidungen aus den Begriffen und nicht umgekehrt die Begriffe aus den positiven Normen, überlieferten Lehrsätzen und Präjudizien ableitete.85 Grundsätzlicher noch sind Bedenken, die sich gegen eine permanente Problemauslese86 richten, die solche Verfahren häufig kennzeichnet. Die Konstruktion eines geschlossenen Systems, das beansprucht, das Ganze zu umfassen, das also mit einem Ausschließlichkeitspostulat auftritt, trägt die Tendenz in sich, systeminadäquate Probleme auszuklammern oder als Scheinprobleme hinzustellen. „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird zu allererst eingenommen. Und von ihm aus werden die Probleme ausgelesen. Problemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen. Sie gelten als falsch gestellte Fragen“.87 Eine andere, allein an einer sachgerechten Problemerfassung interessierte Auffassung führt, konsequent zu Ende gedacht, zu dem Ergebnis, dass der GesamtKelsen, Staatsunrecht, S. 3. Ebd., S. 31; vgl. dort auch S. 39. 81 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1. 82 Ebd. 83 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. München 1974, S. 53 ff. 84 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Tübingen 1964, S. 318 ff. 85 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. Tübingen 1990, S. 226 und S. 267. 86 Dazu Viehweg, S. 17. 87 Nicolai Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien XXIX, S. 160 ff. 79 80

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bereich der rechtswissenschaftlichen Forschung in eine Vielzahl einzelner Problembereiche aufzuteilen ist, um der Gefahr zu begegnen, neu auftauchende Fragenkomplexe theoretisch nicht verarbeiten zu können.88 Von einem solchen Standpunkt aus muss das System Kelsens als ein die zu erforschenden Gegenstände nicht adäquat abbildendes Modell angesehen werden, das – in sich selbst ruhend und bestrebt, sich selbst zu genügen – den Gegenstand nach seiner Theorie formt und nicht umgekehrt Theorie dem Gegenstand gemäß entwickelt. Aber auch eine vermittelnde, den Systemgedanken grundsätzlich akzeptierende Auffassung wird nicht umhin können, die extremen Konstruktionstendenzen Kelsens kritisch zu sehen. In dreifacher Hinsicht muss Kelsens Verfahren eine Korrektur erfahren. Zunächst muss ein etwaiges System grundsätzlich offen, flexibel und neu auftauchenden Gesichtspunkten gegenüber aufnahme- und anpassungsfähig sein.89 Ein geschlossenes System erweist sich gegenüber der geschichtlichen Entwicklung als retardierendes Moment. Jedes Systemdenken muss notwendigerweise durch ein Problemdenken ergänzt werden.90 Ferner muss ein System normativ sein, freilich nicht in dem Sinne, den Kelsen diesem Begriff gibt, indem er als normativ eine Wissenschaft bezeichnet, die sich mit Normen, mit Sollenssätzen, befasst, und sie damit in Gegensatz zu den empirisch orientierten Wissenschaften setzt,91 sondern in der Bedeutung, dass die dogmatische Rechtswissenschaft als eine wertende Disziplin verstanden wird, die nicht ohne den ständigen Rekurs auf den hinter dem Recht gelegenen Komplex von Wertvorstellungen auskommt.92 Diese Wertkonzeptionen, die historisch gewachsen sind und wie geschichtliche Einheitsbilder eines bestimmten Kulturkreises eine gewisse Permanenz aufweisen, beeinflussen die Tätigkeit der Rechtsdogmatik in besonderem Maße. Hinter ihnen steht der systematische Zusammenhang der kulturellen Wertordnung selbst,93 und diese erheischt bei der Errichtung eines Systems sinnvoll miteinander verbundener Begriffe und Prinzipien starke Beachtung.94 Schließlich haben juristische Systematisierungsversuche die Eigenart des zu ordnenden Stoffes zu berücksichtigen, soweit die Lebenszusammenhänge, in die 88 Vgl. insbes. Viehweg, S. 66. Ähnlich auch Esser, S. 6: „Das Problem und nicht das System bleibt das Zentrum des juristischen Denkens“; vgl. aber dort auch S. 226. 89 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. München 1991, S. 156 ff. 90 Treffend hat Esser die Ausweitung des kontinentalen Systemdenkens zu einem am Einzelproblem orientierten Falldenken und umgekehrt die Hinwendung des angloamerikanischen case-law zu dogmatisch-systematischem Begriffsdenken geschildert; vgl. Grundsatz und Norm, S. 45 ff., S. 193 ff. und S. 238 ff. 91 Vgl. Kelsen, Staatsunrecht, S. 3. 92 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. Berlin 1969, S. 277. 93 Vgl. Coing, ebd. 94 Vgl. auch Engisch, Über Sinn und Tragweite juristischer Systematik, in: Studium Generale, Bd. 10, S. 173 (176).

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das Recht regelnd eingreift, von sich aus bereits eine natürliche, wenngleich nur rudimentäre Strukturierung aufweisen, die die rechtliche Regelung weitgehend nur aufzugreifen und zu präzisieren braucht.95 Von seinen methodischen Voraussetzungen her ist es Kelsen unmöglich, dieses Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Recht sowie zwischen Recht und Jurisprudenz zu erkennen. Von dort aus muss die Reine Rechtslehre als ein starres und unbewegliches, in sich ruhendes und über der juristischen Welt schwebendes System erscheinen, eine l’art pour l’art-Erscheinung, ein Begriffsgefüge, dessen Ziel nicht in der Gewinnung klarer, die Wirklichkeit adäquat darstellender Erkenntnisse, sondern widerspruchsloser Aussagen und zueinander passender Begriffe besteht. Kelsens System dient lediglich gewissen Bedürfnissen der „Denkökonomie oder der Denkästhetik“.96 Seine formale Reinheit und logische Geschlossenheit machen es nicht nur für die Praxis unbrauchbar97 (was nicht unbedingt der schwerste Vorwurf wäre, der ein System treffen kann), sondern überhaupt unhaltbar. Im Folgenden soll noch ein weiterer Gesichtspunkt aufgegriffen werden, der die Mängel der Kelsenschen Doktrin ebenfalls sichtbar werden lässt. b) Staat und Recht Eine zentrale Frage der alten wie der neuen Staatsrechtswissenschaft kreist um das Prioritätsverhältnis von Staat und Recht: Geht der Staat dem Recht voran oder umgekehrt das Recht dem Staat.98 Jede der möglichen Antworten begegnet gleichermaßen gravierenden Bedenken.99 Behauptet man die Priorität des Staates vor dem Recht, dann sieht man sich vor die Notwendigkeit gestellt, einen juristischen Staatsbegriff zu konstruieren, ohne auf eine Rechtsordnung zurückgreifen zu können, ein Ergebnis, das wenig befriedigend erscheint, weil der Staat in seinem rechtlich relevanten Dasein gerade als Produkt des Staatsrechts dargestellt wird. Andererseits bedeutet die Annahme eines vor- oder überstaatlichen Rechts, dass die Problematik des Naturrechtsdenkens mitsamt den schier unlösbar erscheinenden Erkenntnisfragen thematisch wird. Allen diesen Schwierigkeiten geht Kelsens Identitätslehre, indem sie die gleichzeitige Entstehung von Recht und Staat annimmt, aus dem Wege. Damit wird jede Frage nach der Prävalenz des einen über das andere Moment hinfällig. Vgl. Larenz, S. 132 ff.; Coing, S. 278. Kelsen, Staatsunrecht, S. 39; vgl. auch Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1955, S. 378. 97 Vgl. Larenz, S. 17 ff., insbes. S. 19 für die Begriffspyramide Puchtas hinsichtlich Kelsens. 98 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (6. Neudruck) Darmstadt 1959, S. 364, mit zahlreichen Hinweisen auf den damaligen Meinungsstand; vgl. auch Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehren, Erlangen 1959, S. 110 ff. 99 Vgl. zum Folgenden Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 284. 95 96

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Bringt man die drei Versionen über das Prioritätsproblem in Beziehung zu der Frage nach der Unrechtsfähigkeit des Staates, so zeigt sich, dass überhaupt nur die Identitätslehre und die die Superiorität des Staates behauptende Doktrin die Möglichkeit bieten, dem Staat die Unrechtsfähigkeit abzusprechen.100 Einer das Recht über den Staat setzenden Auffassung ist die Vorstellung, dass der Staat gegen das ihm vor- und übergeordnete Recht verstoßen kann, von vornherein selbstverständlich. Lässt sich also zeigen, dass der Staat eine sekundäre, abgeleitete Erscheinung ist, dass vor ihm bereits von staatlicher Positivierung unabhängiges Recht existiert, dann kann die These von der Unmöglichkeit staatlichen Unrechts nicht aufrechterhalten werden. Es soll hier nicht näher dargelegt werden, wie sich im Nachkriegsdeutschland unter dem Eindruck der historisch erwiesenen Unzulänglichkeit einer rein positivistischen Wissenschaftsbetätigung die Überzeugung von der Existenz außergesetzlicher Bewertungsgrundlagen101 oder übergesetzlichen Rechts102 ausgebreitet hat. Dieser Vorgang ist oft und eindringlich beschrieben worden. Hier kommt es jedenfalls für den vorliegenden Zusammenhang nicht weiter darauf an, ob die Gültigkeit eines vorpositiven Rechts auf die Grundmerkmale der menschlichen Natur, auf die geschichtliche Entwicklung der abendländischen Kulturgemeinschaft mit ihrer typischen Werteordnung, auf die so genannte Natur der Sache oder schließlich auf einen göttlichen Ursprung gegründet wird. Unerheblich ist auch, ob über einzelne Probleme der Ausgestaltung einer solchen ein vorstaatliches Rechtsgefüge behauptenden Lehre Streit herrscht, ob also dieser Rechtsbereich als ein umfassender Komplex konkreter Rechtsnormen zu denken ist oder als ein Bestand nur weniger oberster Rechtssätze verstanden wird, ob es sich um unmittelbar anwendbare Normen oder dirigierende Prinzipien mit der Funktion von Leitbildern handelt, ob man ihnen Unveränderlichkeit oder Flexibilität zuspricht. Entscheidend ist allein, dass der Staat in seinem Wirken schon zu Beginn seiner Existenz rechtliche Maßstäbe vorfindet, die über die rechtlichen Qualitäten seines Handelns entscheiden. Und dieser gemeinsame Kern der verschiedenen Auffassungen darf als vorherrschende Meinung in der Staatsrechtswissenschaft der Gegenwart bezeichnet werden.103 Danach gibt es dem Staat vorgeordnete Sollensansprüche, die die einzelnen 100 Über die im Rahmen dieser beiden Theorien unternommenen Versuche, die Möglichkeit eines Staatsunrechts auszuschließen, vgl. Häfelin, S. 178 Anm. 83. 101 Vgl. Larenz, S. 133 ff. 102 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. Göttingen 1969, S. 313. 103 Aus der heute kaum übersehbaren Zahl der Veröffentlichungen vgl. insbesondere noch v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Berlin – Frankfurt am Main 1957, S. 70 und S. 93; Maunz-Dürig, Das Grundgesetz, München – Berlin 1963, Art. 20 Anm. 72 und 59; Art. 1 Anm. 73 ff.; Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Tübingen 1951, S. 27 ff.; für die Rechtsprechung vgl. Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des BGH, NJW 1960, 1689 ff. und kritisch Evers, Zum unkritischen Naturrechtsbewußtsein in der Rechtsprechung der Gegenwart, JZ 1961, 241.

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Organe der staatlichen Gewalt erfüllen oder verfehlen können: der Staat kann Unrecht tun.104 V. Das Problem der Zurechnung individuellen Handelns zum Staat Eine vom Sprachgebrauch ausgehende Untersuchung staatlichen Wirkens stößt zunächst auf eine Reihe typischer Verbalisierungen, die die Tätigkeit des Staates ihrem Modus nach anscheinend nicht anders beschreiben als das Verhalten von Menschen: der Staat richtet diesen oder jenen Schaden an, er erlegt Steuern auf, ruft zum Wehrdienst, tut recht oder unrecht. Der Gebrauch solcher oder ähnlicher der Individualebene entlehnter Aussageweisen bedeutet nicht schon, dass der Staat als eine anthropomorphe Erscheinung zu gelten hätte. Vielmehr verbleibt es bei der Vorstellung, dass es in Wirklichkeit Menschen sind, die tätig werden: wollend, urteilend und handelnd. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, eine einzelne Person mit dem Gemeinwesen zu identifizieren, sodass beide ganz ineinander aufgehen105, dann wird deutlich, dass die Vorstellung „Der Staat tut recht oder unrecht“ als das Endprodukt eines mehr oder weniger bewusst vollzogenen summarischen Zurechnungsprozesses aufgefasst werden muss: Aus der Mannigfaltigkeit und kaum übersehbaren Vielzahl menschlicher Betätigungen werden unter bestimmten Gesichtspunkten einzelne Handlungen herausgehoben, die bisweilen nicht erst den in ihnen sich betätigenden Realpersonen, sondern dem Staat als dem rechtlichen Erscheinungsbild der Gemeinschaft zugeschrieben werden.106 Aber auch diese Kennzeichnung ist, wie sich bei näherem Zusehen zeigt, noch zu ungenau, da sie recht allgemein ist. Denn es sind nicht eigentlich die je konkreten individuellen und kollektiven menschlichen Akte mit ihren begleitenden Merkmalen, zugehörigen Eigentümlichkeiten und der ganzen Fülle ihrer faktischen Geschehenszufälligkeiten, die dem Staat zugerechnet werden, sondern lediglich deren rechtliche Auswirkungen und die aus ihnen resultierenden relevanten Folgen. Dennoch soll vorerst die vereinfachende und verkürzende Redeweise von der Zurechnung menschlichen Handelns zum Staat beibehalten werden. Um diesen vom Sprachgebrauch unreflektiert vollzogenen Vorgang der Zurechnung ins Bewusstsein zu heben und in seinen Einzelzügen zu klären, ist es erfor104 An dieser Stelle kommt es nur auf die prinzipielle Möglichkeit staatlichen Unrechts an, nicht darauf, wie und durch wen eine derartige Unrechtmäßigkeit festzustellen ist. Vgl. hierzu auch H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Bd. I, Berlin 1933, S. 147. 105 Vgl. Wolff, S. 189. Diese Vorstellung scheitert meist allerdings schon an der großen Zahl der für den Staat handelnden Personen. Gelegentlich ist jedoch versucht worden, den Staat mit dem höchsten Staatsorgan, dem Monarchen, zu identifizieren, vgl. hierzu die Nachweise bei Häfelin, S. 356 ff. 106 Über die dogmengeschichtliche Entwicklung des Begriffs „Zurechnung“ vgl. Wolff, S. 142. Kelsen verwendet für den hier gemeinten Sachverhalt den Begriff der „Zuschreibung“; vgl. Reine Rechtslehre, S. 154 Anm. 1 und 155 ff. Beide Begriffe werden hier synonym gebraucht.

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derlich, in einer fortschreitenden Analyse die einzelnen am Zurechnungsprozess beteiligten Faktoren und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen jeweils gesondert zu untersuchen. Zunächst sind danach die in die Zurechnungsrelation einbezogenen Subjekte zu betrachten: also der Staat einerseits und die Amtswalter andererseits. Es ist zu fragen: Wem wird etwas zugerechnet und wessen Handlungen werden zugerechnet (Subjekt der Zurechnung)? Sodann ist der Gegenstand der Zurechnung, die Handlung, zu erforschen; es muss geprüft werden, welche Qualitäten die Handlung eines bestimmten Individuums oder Kollegiums aufweisen muss, um als dem Staat zurechenbares Verhalten zu gelten (Objekt der Zurechnung). Schließlich ist das entscheidende Kriterium dafür, dass ein bestimmtes menschliches Handeln dem Staat zugeordnet wird, aufzuzeigen (Grund der Zurechnung). 1. Subjekte der Zurechnung

a) Der Staat Die deutsche Staatsrechtslehre der letzten zweihundert Jahre geht grundsätzlich von der Annahme aus, dass der Staat sich einer juristischen Betrachtung als Rechtspersönlichkeit darstellt. Gemeint ist damit die Fähigkeit des Staates, Träger von Rechten und Pflichten zu sein und in rechtlich relevanter Weise tätig zu werden.107 Wie unterschiedlich die Theorien im Einzelnen auch ausgestaltet sind: darin stimmen alle überein, dass mit dem Begriff der juristischen Persönlichkeit die rechtliche Natur des Staates adäquat zum Ausdruck gebracht wird.108 Lässt man die in der heutigen Diskussion bedeutungslose Staatspersönlichkeitstheorie der neuzeitlichen Naturrechtslehre, die aufgrund des individualistischen Denkens der Aufklärungszeit den Staat wie alle anderen sozialen Gebilde auf den Willen der im Staat zusammengetroffenen Einzelmenschen, d. h. auf einen Vertrag zurückführte, außer Betracht, dann stehen sich in der Frage, wie der Begriff der staatlichen Rechtssubjektivität genauer zu erfassen ist und welchen Gegenstand er bezeichnet, zwei Theorien gegenüber, die organische und die anorganische Staatslehre. Die Frage nach dem Endpunkt der vielfältigen Zurechnungsprozesse, in denen menschliches Verhalten dem Gemeinwesen zugeschrieben wird, ist demnach identisch mit der Frage nach der rechtlichen Qualität und Struktur des Staates. Die Theorie vom organischen Wesen des Staates wurzelt im romantischen Denken. Die Philosophie der Romantik, insbesondere das spekulative System Schellings, betrachtete den Gesamtbereich des Seienden, das Universum., als eine „absolute Totalität“, in der sich Natur und Geist zu „Einer Welt“ vereinigen.109 In 107 Über die wenigen den Grundsatz der Staatspersönlichkeit ablehnenden Theorien berichtet Häfelin, S. 355 ff. Diese Lehren identifizieren zumeist den Staat mit der Person des Monarchen. 108 Was der Staat in philosophischer, soziologischer, politologischer und ökonomischer Hinsicht ist, bleibt hier außer Betracht. 109 Vgl. Häfelin, S. 98 ff.

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diesem All stehen Teil und Ganzes in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht als eine starre, mechanische Relation zu verstehen, sondern „als lebendige Wechselwirkung“, die von einer gemeinsamen Seele gesteuert wird: das Universum ist der von der „Weltseele“ belebte „allgemeine Organismus“.110 Dieser Begriff des allumfassenden ursprünglichen Organismus wurde von den Vertretern der historischen Rechtsschule auf die einzelnen kulturellen Erscheinungen und sozialen Gebilde in der Welt des Menschen und damit auch auf den Staat übertragen. Unter diesem Aspekt stellte sich der Staat als ein lebendiges Ganzes dar, als die organische Erscheinung der vom „Volksgeist“111 beseelten Gemeinschaft.112 Als der markanteste Vertreter dieser Richtung gilt Otto von Gierke, der, ausgehend von einer historisch-universalistischen Betrachtung der menschlichen Vergesellschaftungen den Staat als eine ursprüngliche, organisch gegliederte Ganzheit kennzeichnete, die unabhängig vom Leben der Einzelmenschen ein eigenes Leben besitze, „über der Daseinsordnung der Individuen eine zweite selbständige Daseinsordnung der menschlichen Allgemeinheiten“ darstelle.113 Der Staat ist eine Gesamtexistenz, die zwar nicht sinnlich wahrnehmbar, aber mit „geistigen Mitteln als wirklich zu erkennen“ ist.114 Er besitzt die gleichen typisch menschlichen Fähigkeiten wie eine reale Individualexistenz: er ist „ein wollendes und denkendes geistiges Ich“. Mit dieser Charakterisierung des Staates als einer realen, substanzhaften, geistig erfahrbaren Erscheinung im zwischenmenschlichen Raum setzt sich O. v. Gierke in Gegensatz zum konstruktiv-fiktiven Denken der neuzeitlichen Vernunftrechtsdoktrin, die den Staat als ein auf den Vertragsabschluss der Individuen zurückführbares bloßes gedankliches Konstrukt ansah. Eine lebendige Dinghaftigkeit konnte v. Gierke dem Staat nur deshalb zusprechen, weil er dem Staat das Volk einordnete, ja, weil er beide miteinander in eins setzte. Der Staat sei identisch mit der „Gesamtheit, so wie sie ist und lebt“. Dabei bedeutet für ihn der Begriff des Volkes nicht eine mechanische Zusammensetzung von Einzelpersonen, sondern die Gesamtheit der tatsächlich geübten Beziehungen konkreter Menschen.115 Betrachtet man dieses real existente Gemeinwesen unter rechtlichen Aspekten, so nimmt es den Charakter einer juristischen Person an oder, wie v. Gierke formuliert, einer „Verbandspersönlichkeit“, die die Fähigkeit besitzt, als ein von der Vgl. G. Jellinek, Staatslehre, S. 149. Zur Dogmengeschichte des Begriffs „Volksgeist“ vgl. Häfelin, S. 106 Anm. 8. 112 Zur Organismustheorie vgl. Badura, S. 115 ff. 113 O. v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, in: ZgStW Bd. 30, S. 153. 114 Ebd. 115 Vgl. ebd. 110 111

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Summe der verbundenen Personen unterschiedenes einheitliches Ganzes Subjekt von Rechten und Pflichten zu sein. Die Merkmale der lebendigen geistigen Wirklichkeit und der rechtlichen Personenhaftigkeit vereinigen sich im Begriff der „realen Verbandsperson“.116 Die organische Theorie v. Gierkes erblickt aber nicht nur im Staat eine wirklich existierende Persönlichkeit, sondern auch in der Vielzahl anderer dem Staat untergeordneter Gesellschaftsverbände.117 Auch ihnen wird die Eigenschaft lebendiger, substanzieller Rechtssubjektivität zugeschrieben, da sie ebenso wie der Staat die organische Erscheinungsform eines Ausschnittes aus der Wirklichkeit des tatsächlichen Gemeinschaftslebens darstellen. Die Staatspersönlichkeit bildet danach nur die Spitze, das oberste Glied in der Reihe der zu realen Rechtspersonen entwickelten Verbände.118 Zwischen den einzelnen Verbandsgebilden und dem Staat besteht ein wohl abgewogenes Verhältnis der Unter- und Überordnung, das bis zu den einzelnen Mitgliedern der Volksgemeinschaft hinabreicht.119 Auf Basis des Begriffs der wirklichen, mit unabhängiger Wesenhaftigkeit ausgestatteten Rechtspersönlichkeit des Staates entwickelte v. Gierke das „deutschrechtliche Denken“ der historischen Rechtsschule zu einem umfassenden staatsrechtlichen System.120 Jedoch wurde schon früh, insbesondere von Georg Jellinek auf die Schwierigkeiten und entscheidenden Nachteile der organischen Staatslehre hingewiesen, die verhindert habe, dass diese Theorie zum festen Bestandteil der deutschen Staatsrechtswissenschaft wurde. Zunächst muss festgehalten werden, dass der Terminus der organischen Rechtspersönlichkeit des Staates kein eigentlich juristischer Begriff ist. Er umfasst vielmehr eine ganze Fülle vorjuristischer und außerjuristischer, vor allem soziologischer Elemente.121 Er bringt in die rechtswissenschaftliche Terminologie eine empirisch orientierte Betrachtung vom Staat ein. Juristische und soziologische Sichtweise gehen dabei ineinander über. Eine Beschränkung auf rechtliche Aspekte wurde von den Vertretern der organischen Staatslehre aber auch nicht angestrebt. Es ist geradezu ein Kennzeichen dieser. Doktrin, dass sie sich weitgehend 116 O. v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. I, Allgemeiner Teil und Personenrecht, München – Leipzig 1895, S. 467 ff. 117 Ebd., S. 475. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 469. 120 Zu weiteren Vertretern der organischen Staatslehre vgl. Häfelin, S. 111 ff. und S. 119 ff. Explizit wurde diese Theorie von Helfritz, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl. Detmold – Berlin 1949, S. 86 und 94, von H. Kipp, Staatslehre, 2. Aufl. Köln 1949, S. 44 ff. und 89 ff. und von Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 228 vertreten (Staat als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit“). 121 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1905, S. 35 ff.; ders., Staatslehre, S. 157; Rehm, Allgemeine Staatslehre, Freiburg i. Br. 1899, S. 154 ff.

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in der Beschreibung sozialer Wirklichkeiten erschöpft, indem sie z. B. darum bemüht ist, sich von allen Isolierungstendenzen abzusetzen und den Staat in das lebendige Beziehungsgeflecht des Kulturganzen einzuordnen. Die rechtswissenschaftliche Staatslehre geriet dadurch in die Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und mit anderen Forschungsrichtungen, die das Phänomen des Staates aus ihrer Sicht untersuchten, vermengt zu werden. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass es der organischen Theorie nicht gelungen ist, den zentralen Begriff des Organismus über eine bloße Anschaulichmachung hinaus exakt zu definieren.122 Überhaupt haftet dieser Lehre, die ihren Fundamentalsatz von der realen, organisch strukturierten Staatspersönlichkeit wie ein Dogma verteidigte, ein mystischer, das rationale Analysieren abweisender Wesenszug an:123 Einem Denken, das von der Tatsächlichkeit der sozialen Erscheinungen, soweit sie nachprüfbar ist, und der objektiven Geltung der Rechtsordnung ausgeht, ist es nicht möglich, hinter oder über den Individuen eine reale, lebendige, wollende und denkende Einheit zu entdecken. Unter der anorganischen Staatstheorie lässt sich eine Gruppe staatsrechtlicher Lehrmeinungen zusammenfassen, bei denen trotz systematischer und auch konstruktiver Verschiedenheiten ein gemeinsamer Ausgangspunkt festzustellen ist: die Kennzeichnung der Staatspersönlichkeit als einer bloß gedachten Subjektivität und damit die Ablehnung jeder organisch orientierten Staatsauffassung. Ohne nähere Berücksichtigung der mannigfachen Differenzierungen sollen hier nur die für unsere Thematik bedeutsamen allgemeinen Grundgedanken aufgezeigt werden. Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Niedergang des systematischspekulativen Denkens des deutschen Idealismus und der gleichzeitig wachsende Einfluss der Naturwissenschaften und der Philosophie des Positivismus ließen den in die Staatskonstruktion eingefügten Begriff des Organismus mehr und mehr problematisch werden.124 Die mit der philosophischen Neuorientierung verbundene erkenntnistheoretische Besinnung auf die wissenschaftliche Methode, die vor allem von der sogenannten „südwestdeutschen“ Richtung des Neukantianismus wirkungsvoll in die Rechtswissenschaft hineingetragen wurde, konnte den auf metaphysischen Annahmen und spekulativen Hypostasierungen beruhenden Begriff der realen, organischen Staatsperson nicht übernehmen.125 Vornehmliches Forschungsziel wurde es jetzt, auf der Grundlage der positiven Rechtsnormen und der sozialen Gegebenheiten einen juristischen Begriff der staatlichen Rechtspersönlichkeit zu gewinnen,126 der als Zentralbegriff eines neu zu errichtenden G. Jellinek, Staatslehre, S. 153; Häfelin, S. 123. Häfelin, S. 110 mit weiteren Hinweisen. Ablehnend auch Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 1. Teil: Grundlegung, Köln – Einsiedeln 1945, S. 19; Rehm, S. 154 ff. 124 Rehm, S. 154 ff.; G. Jellinek, System, S. 36. 125 Vgl. Larenz, S. 96 ff.; von Krieken, Über die sogenannte organische Staatstheorie. Ein Beitrag zur Geschichte des Staatsbegriffs, Leipzig 1873, S. 130 ff. 126 Häfelin, S. 125; G. Jellinek, Staatslehre, S. 140. 122 123

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Systems fungieren konnte. Damit wurde eine Grenzziehung erforderlich, die der rechtstheoretischen Erforschung des Staates gegenüber anderen den Staat untersuchenden Wissenschaften einen eigenen selbständigen Forschungssektor verschaffte. So setzte sich die juristische Staatslehre auf der einen Seite von der sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise ab, die den Staat als ein in der sozialen Wirklichkeit feststellbares und wirkendes gesellschaftliches Gebilde ansah127, und auf der anderen Seite von jeder philosophisch-spekulativen Betrachtungsweise im Bereich des Staates.128 Auch die politisch-ideologischen Momente wurden ausgegliedert.129 Der über diese Reduktionen gewonnene juristische Staatsbegriff konnte freilich nicht mehr beanspruchen, das Gesamtphänomen Staat hinreichend zu erfassen. Indes erhob er diesen Anspruch auch nicht, sondern begnügte sich damit, die mit den sozialen Tatbeständen gegebenen Rechtsbeziehungen zu systematisieren und auf einen zentralen „Zurechnungspunkt“ zu beziehen130 und den Staat auf diese Weise „juristisch denkbar zu machen“.131 Von einem so abgegrenzten Standpunkt aus erscheint der Staat als „Abstraktion“,132 als gedachte Erscheinung, als ein „bloßes Gedankending“ (H. J. Wolff)133, das keine reale Wesenheit, kein wirklich existierendes Subjekt bezeichnet, sondern nur eine abkürzende Zusammenfassung für einen Komplex vorgestellter Rechtsbeziehungen, eine für die Erkenntniszwecke der Jurisprudenz gedachte „Konstruktion“ (H. J. Wolff)134 darstellt. Die Entfernung der substanziellen Momente aus dem Staatsbegriff war der anorganischen Staatstheorie aber nur durch eine weitgehende Relativierung des Persönlichkeitsbegriffs möglich.135 „Person ist die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Sie gehört nicht der Welt der Dinge an sich an, ist überhaupt kein Sein, sondern eine Relation von einem Subjekt zum andern und zur Rechtsordnung“.136 So vor allem G. Jellinek, ebd., S. 11. Kelsen, Hauptprobleme, S. V ff. 129 Dieser Methodenpluralismus, der sich als Folge der sich an ein und demselben Gegenstand bestätigenden Disziplinen entwickelte, führte zur Ausbildung verschiedener Staatsbegriffe, eines philosophischen, eines politologischen, eines soziologischen und eines juristischen; vgl. Rehm, S. 11; Nawiasky, Grundlegung, S. 1 ff.; G. Jellinek, ebd., S. 11. 130 Kelsen, Staatsunrecht, S. 13 und S. 15. 131 G. Jellinek, ebd., S. 163; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 294. 132 Rehm, S. 156; G. Jellinek, System, S. 17. 133 Vgl. auch Kelsen, ebd., S. 154. 134 Der Staat ist hiernach die „konstruktive Zusammenfassung der vorgefundenen Vielheit“ (H. J. Wolff). 135 Kelsen, Hauptprobleme, S. 707. 136 G. Jellinek, System, S. 28; ders., Staatslehre, S. 169 ff. 127 128

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Der Persönlichkeitsbegriff ist hier nicht mehr Ausdruck einer realen Qualität, einer Substanz, er bezeichnet nur die besondere Beziehung eines Individuums oder einer Kollektivität zu einem Komplex von Normen.137 Von diesen Grundlagen aus hat sich die anorganische Staatslehre unter verschiedenen Abwandlungen in den letzten hundert Jahren zur herrschenden Staatstheorie entwickelt.138 Sie kennzeichnet den Staat als ein Subjekt von Rechten und Pflichten, dem nur gedankliche Existenz zukommt (und genügt damit den an die Staatsrechtswissenschaft gestellten Anforderungen). Zurechnungsendpunkt für die Projektion bestimmter menschlicher Handlungen auf die staatliche Gemeinschaft ist danach ein konstruiertes Gebilde, eine bloß fingierte Subjektivität. b) Die Organwalter In engem Zusammenhang mit der Frage nach der Rechtsfähigkeit des Staates steht das Problem der staatlichen Willens- und Handlungsfähigkeit. Es ist denkbar, dem Staat zwar die Rechtssubjektivität zuzuerkennen, ihm das Vermögen, zu wollen und zu handeln, jedoch abzusprechen.139 Ein Staat dieser Art würde einem zwar rechtsfähigen, jedoch handlungsunfähigen Subjekt entsprechen; ein Organ des Staates könnte dann nur als Stellvertreter bezeichnet werden, als eine willensund handlungsfähige Person, die anstelle des in jeder Hinsicht unbeweglichen Staates zu agieren hätte.140 Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass dem Staat sowohl die Rechtsfähigkeit als auch das Handeln- und Wollenkönnen zuerkannt werden. Von diesem Standpunkt aus erscheint das Organ als „Teil der Verbandsperson, ebenso wie die natürlichen Organe einer physischen Person“.141 Eindringlich ist diese Auffassung von O. v. Gierke beschrieben worden: „Die Verbandsperson kommt in den Lebensaktionen ihrer Organe, z. B. in dem Beschluss einer Versammlung oder in den Ausführungshandlungen eines Vorstandes gleich unmittelbar zur Erscheinung wie die Einzelperson in der Rede des Mundes oder der Bewegung der Hand.“142 Der Streit zwischen der Stellvertretertheorie und der Organlehre wurde in der zivilistischen wie in der publizistischen Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. 137 Zur Entwicklung des relativierten Personenbegriffs in der anorganischen Staatslehre vgl. Häfelin, S. 15. 138 Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. Tübingen 1928, S. 45 ff.; Heller, S. 245 ff.; Nawiasky, Grundlegung, S. 49 ff. und S. 151 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 286 ff.; vgl. auch noch Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl. München 1966, S. 178 und S. 450. 139 Vgl. etwa Lingg, Empirische Untersuchungen zur allgemeinen Staatslehre, Wien 1890, S. 65. 140 G. Jellinek, System, S. 29. 141 Helfritz, S. 88. 142 O. v. Gierke, Privatrecht, Bd. I, S. 472.

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und des beginnenden 20. Jahrhunderts meist unter der besonderen Fragestellung der Deliktsfähigkeit juristischer Personen in einer breit geführten Diskussion erörtert. Auch später hielt diese Auseinandersetzung noch an.143 Die Vertreter der Organtheorie weisen darauf hin, dass Gegenstand einer Stellvertretung nur rechtsgeschäftliche Handlungen sein könnten, während die Organschaft auch die faktischen Betätigungsformen umfasse; ferner, dass die Stellvertretung eine, wenn auch beschränkte Handlungsfähigkeit, zumindest jedoch die Rechtsfähigkeit des Vertreters, postuliere, wogegen die Lehre von der Organschaft keine Rechtssubjektivität des Organs (z. B. Behörde) verlange.144 Vor allem wird aber geltend gemacht, dass bei der Stellvertretung der Vertretene nicht selbst, sondern an seiner Stelle der Vertreter handle,145 sodass einem Dritten gegenüber nicht nur ein, sondern zwei Rechtssubjekte in Erscheinung treten würden: Vertreter und Vertretener. Bei der Organschaft hingegen handelt die Verbandsperson selbst und zwar durch ihr Organ; aufgrund der Identität beider erscheint nach außen immer nur ein Subjekt: der Staat. Es lässt sich jedoch unschwer aufzeigen, wie wenig glücklich diese Alternative in ihren wesentlichen Punkten gewählt ist. Für eine unvoreingenommene Betrachtungsweise liegt sowohl im Fall der Stellvertretung als auch bei der Organschaft nur ein Wollen und Handeln der Realperson vor. Der Akt des Stellvertreters ist für eine unbeeinflusste Sicht seine Handlung, wie auch der Akt des Organs unter empirischem Aspekt nur dessen Handlung ist.146 In beiden Fällen können Rechtswirkungen der Handlung nur über eine gedankliche Operation von dem Handelnden auf ein dahinter stehendes Subjekt gelenkt werden: Gemeint ist der aufgrund eines Rechtssatzes vollzogene Zurechnungsprozess.147 Ein Geschehnis, ein Vorgang wird so behandelt, als ob er nicht von der tätig gewesenen Person herrühre, sondern von einem nur gedachten Subjekt, dem keine reale Existenz zukommt. Der Vorgang wird dem vorgestellten Gebilde zugeordnet, das die rechtlichen Folgen trifft. Die Einsicht in diesen Zusammenhang zwischen der Annahme eines handlungsfähigen Staates und der Projektion realer Momente in die Sphäre der Rechtsbegriffe relativiert den Streit zwischen der Stellvertreter- und der Organtheorie; sie nimmt ihm die grundsätzliche Bedeutung. Zugleich aber lässt sie deutlich werden, dass die eigentliche Auseinandersetzung nicht zwischen diesen beiden einander nur scheinbar widersprechenden Zurechnungstheorien zu führen ist, sondern zwischen einer vom Begriff der organischen Staatspersönlichkeit ausgehenden staatsrechtlichen Grundauffassung und einer Staatslehre, die den Staat als ein bloß geVgl. Helfritz, S. 87 ff. G. Küchenhoff und E. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. Stuttgart – Köln 1971, S. 89. 145 Helfritz, S. 88. So wohl auch G. Jellinek, Staatslehre, S. 560; ders., System, S. 224. 146 Kelsen, Hauptprobleme, S. 708. 147 Kelsen, Staatsunrecht, S. 21 und 45. 143 144

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dachtes Subjekt charakterisiert. Während die erstere die Organe als „Teile“148 der real existierenden Staatsperson auffasst, beide miteinander identifiziert,149 die Organpersönlichkeit völlig auslöscht und nur die des Staates gelten lässt, ordnet die letztere die Handlungen der Organe dem Staat lediglich zu, betrachtet also den Vorgang so, als ob der nur gedanklich existierende Staat gehandelt hätte, wissend freilich, dass sie mit dieser Annahme eine Fiktion setzt. Hier zeigt sich, dass die organische Staatstheorie den einzigen Realfaktor ihres Systems, das Staatsorgan, zugunsten des Staatsgebildes vernachlässigt, das sie zu alleiniger Wirklichkeit hypostasiert und verdinglicht, dass hingegen die anorganische Theorie die Realität des Organs unberührt lässt, sie bloß gedanklich umformt und in theoretisch legitimer Weise deutet. Die Linien, die die Lehrmeinungen voneinander abgrenzen, verlaufen also nicht zwischen der Organ- und Stellvertretertheorie, sondern zwischen der organischen und anorganischen Staatslehre.150 Für eine rechtlichen Kategorien genügende Auffassung kann danach der Organschaftsbegriff nichts anderes bedeuten, als dass das Wollen und Handeln bestimmter Individuen als Wollen und Handeln des Staates „gilt“. Unter Verzicht auf jegliche Identifizierung wird dem Organbegriff eine nur gedankliche Zurechnung zugrunde gelegt. Nur auf diese Weise erscheint eine angemessene und befriedigende Einordnung des Phänomens möglich, dass die an typische individuelle Betätigungsweisen geknüpften Rechtsfolgen nicht den Handelnden, sondern die Staatsperson treffen. Weit weniger Schwierigkeiten bereitet die Frage, welche Individuen zum Kreis der Staatsorgane zu zählen sind. Nach h. M. ist dieser Kreis weit zu ziehen und umfasst alle „physischen Personen und Personenmehrheiten, die den Staatszweck durchzuführen berufen sind“.151 Ohne dass es hier auf die mannigfaltigen Unterschiede zwischen den einzelnen Organtypen ankäme,152 sind demnach als Staatsorgane zu kennzeichnen Individuen oder Kollektive, die aufgrund einer mittelbaren oder unmittelbaren Berufung in einem System arbeitsteiliger Funktionen am Prozess der staatlichen Willensbildung oder -ausübung beteiligt sind. Allein Kelsen ist über den Kreis dieser Personen hinausgegangen und hat in einer bedeutenden Begriffserweiterung alle rechtsfähigen Individuen in den Rang potenzieller Staatsorgane erhoben.153 148 Helfritz, S. 88. Vgl. auch die – missverständliche – Definition bei G. Jellinek, Staatslehre, S. 85. 149 Kelsen, Staatsunrecht, S. 45; Rehm, S. 180; O. v. Gierke, S. 45; Rehm, S. 180. 150 Damit erweist sich auch die vielfach vertretene Meinung, die Fiktionstheorie müsse notwendigerweise zur Vertretertheorie gelangen wie die Lehre von der realen Staatsperson zur Organtheorie, als unhaltbar; vgl. Häfelin, S. 125 Anm. 14. 151 Rehm, S. 180 Anm. 2; vgl. auch G. Jellinek, Staatslehre, S. 544 und S. 580; ders., System, S. 223; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 267 und S. 294. 152 Vgl. hierzu G. Jellinek, Staatslehre, S. 544 ff.; Nawiasky, Staatslehre, S. 69 ff. 153 Vgl. Reine Rechtslehre, S. 154.

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Kelsen geht dabei davon aus, dass das Verhalten eines Individuums „der durch eine normative Ordnung konstituierten Gemeinschaft nur zugeschrieben und . . . auf die die Gemeinschaft konstituierende normative Ordnung bezogen werden“ kann, wenn dieses „Verhalten in dieser normativen Ordnung als Bedingung oder Folge bestimmt ist“.154 Tauche ein spezifisches Verhalten irgendeiner natürlichen Person auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite einer beliebigen Norm der Rechtsordnung auf, so werde dieser Akt der durch die Normenordnung begründeten Gemeinschaft zugerechnet. Die Rechtsordnung enthält nämlich nach Kelsen nicht nur solche Akte als Bedingung oder Folge, die als „Rechtserzeugungs- oder Rechtsanwendungsfunktionen“,155 also als die eigentlichen Staatsfunktionen zu bezeichnen sind,156 sondern auch andere individuelle Verhaltensweisen, beispielsweise die Erfüllung von Rechtspflichten, die Ausübung von Rechten. Kelsen bezeichnet derartige Akte als „Rechtsbefolgungsfunktionen“. 157 Im sinne Kelsens kann daher das Individuum, das die ihm verliehene Rechtsmacht ausübt, indem es z. B. eine gerichtliche Klage erhebt oder ein Rechtsgeschäft tätigt, als „Rechtsorgan“ und die ihm verliehene Rechtsmacht als eine Kompetenz oder Zuständigkeit bezeichnet werden, und zwar in eben demselben Sinne, in dem der Gesetzgeber, Richter oder Verwaltungsfunktionär als Organ und die ihnen verliehene Rechtsmacht als ihre Kompetenzen bezeichnet werden. In diesem Sinne hat bei Kelsen das Individuum, das seine Rechtspflicht erfüllt oder ein Recht ausübt, Organfunktion. In diesem Begriff kommt nichts anderes als die Beziehung der Funktion zu der sie bestimmenden, die Gemeinschaft konstituierenden normativen Ordnung zum Ausdruck.158 Demgegenüber ist für den engeren Bereich des Staatsrechts eine auch von Kelsen selbst angestrebte Einschränkung des Begriffs des Staatsorgans in dem Sinne vorzunehmen, dass hierunter nur „in bestimmter Weise qualifizierte. . . arbeitsteilig funktionierende“ Individuen anzusehen sind.159 Die Qualifikation, die für die Eigenschaft als Staatsorgan konstitutiv ist, erwirbt ein Individuum nur dadurch, dass es „in einem von der Rechtsordnung bestimmten Verfahren zur Leistung seiner Funktionen berufen“ wird160, sei es unmittelbar durch die Verfassung oder mittelbar durch ein Organ.161 Ebd. Ebd., S. 156. 156 Ebd., S. 296. 157 Ebd., S. 157. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 295. 161 Vgl. hierzu auch G. Jellinek, Staatslehre, S. 544 und S. 557. Handlungen eines Individuums, das nicht Staatsorgan im obigen Sinne ist, werden dem Staat nicht zugerechnet. So bestimmte das Preußische ALR in seinen §§ 76 und 77 II 10: „Niemand soll sich eigenmäch154 155

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit 2. Objekt der Zurechnung

Auch im Folgenden soll noch an der vereinfachenden und abkürzenden Redeweise festgehalten werden, dass menschliche Individual- oder Kollektivakte dem Staat zugerechnet werden, d. h. als Staatsakte oder Staatsfunktionen gewertet werden, obwohl bereits angedeutet wurde, dass es nicht eigentlich die einzelnen physischen Verhaltensmomente sind, die auf den Staat projiziert werden, sondern nur die daraus fließenden Rechtsfolgen. Will man jedoch eine bestimmte Rechtswirkung dem Staat zuschreiben, muss sich zuvor ein menschliches Verhalten finden lassen, das diese Wirkung hervorgebracht hat.162 Die Handlung bleibt hierbei, insoweit sie Realvorgang ist, allein ein Akt des Organs; in die staatliche Sphäre wird nur die rechtliche Bedeutung des Akts transponiert. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird demgegenüber nicht nur die Rechtsfolge als auf Seiten des Staates eingetreten ansehen, sondern auch der sie bedingende individuelle oder kollektive Akt. Die Frage der Beschaffenheit einer zurechenbaren Handlung müsste daher präzise gefasst lauten: Welche Qualitäten muss ein spezifischer menschlicher Akt aufweisen, damit Rechtsfolgen eintreten, die dem Staat zugerechnet werden? Zunächst ist zu berücksichtigen, dass sich das Verhalten der als Staatsorgane zu charakterisierenden menschlichen Personen nicht in der Erfüllung staatlicher Funktionen erschöpft. Sie zeigen außer den den staatlichen Willen bildenden und ausübenden Betätigungsformen eine Reihe anderer typischer, allgemein menschlicher Verhaltensweisen. Es gilt also das entscheidende Kriterium dafür zu finden, welche Handlungen überhaupt als Grundlage eines Zurechnungsurteils dienen können. Überschaut man die Reihe der Handlungen eines Staatsorgans, die für diese Funktion als typisch gelten können, dann scheiden zunächst solche Akte als dem Staat nicht zurechenbar aus, die im Bereich der Kreatürlichkeit des Handelnden zu lokalisieren sind.163 Aber auch die ansonsten der „höchstpersönlichen tig die Verwaltung eines Amtes anmaßen, wozu er von der vorgesetzten Behörde nicht angewiesen worden. Wer dieses tut und vermöge eines solchen Amts Handlungen vornimmt, zu welchen er nach den Gesetzen überhaupt nicht qualifiziert ist, dessen Handlungen sind unkräftig.“ Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellte § 11 Abs. 2 des Ehegesetzes von 1846 dar. Nach dieser Vorschrift galt auch eine solche Person als Standesbeamter, die, „ohne Standesbeamter zu sein, das Amt eines Standesbeamten öffentlich ausübt“. Ein anderer Sachverhalt ist gegeben, wenn jemand eine Organstellung erschlichen hat. Für den Bereich der exekutiven Staatsgewalt ist dieser Fall in den Vorschriften des Beamtenrechts geregelt. Die aufgrund der Täuschung erfolgte Rücknahme der Beamtenernennung bringt zwar die Beamtenstellung ex tunc zum Erlöschen, berührt aber die Wirksamkeit der bisherigen Amtshandlungen nicht. Die Akte sind ebenso gültig, wie wenn sie ein ordnungsgemäß bestellter Beamter vorgenommen hätte. 162 Es bleibt hier unberücksichtigt, dass dem Staat nicht nur solche Rechtsfolgen zugeordnet werden, die auf einen menschlichen Akt zurückzuführen sind, sondern auch andere, die sich aus bloßen kausalen Geschehensabläufen ergeben. 163 Es ist deshalb selbstverständlich undenkbar, dass ein Verband und damit der Staat Notzucht begehen kann; so aber die Ansicht Hafters, Delikts- und Straffähigkeit der Personenverbände, Berlin 1903, S. 143; vgl. hierzu auch Nawiasky, Staatslehre, S. 71.

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Sphäre“ des Individuums entstammenden Verhaltensweisen (z. B. Eheschließung) kommen als Staatsakte naturgemäß nicht in Betracht. Angesichts der Vielzahl und Verschiedenartigkeit der nach dieser ersten Abgrenzung verbleibenden Akte scheint der Versuch, eine Definition der als Staatsakte zurechenbaren Handlungen nach materiell-inhaltlichen Gesichtspunkten zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt zu sein. Ernst von Hippel kommt in der Tat über diesen Stand nicht hinaus; es ist ihm unmöglich, „apriorisch materiell die als Staatsakte anzusehenden Gegenständlichkeiten zu bestimmen“.164 Er gelangt nur zu einer formalen Definition, in der der Staatsakt als eine menschliche Handlung umschrieben wird, die „aus Rechtsgründen irgendwelcher Art dem Staate zuzurechnen ist“.165 Danach entscheidet allein das positive Recht darüber, ob eine Handlung als Staatsakt zu qualifizieren ist. Hier ist jedoch nicht stehen zu bleiben, sondern trotz aller Schwierigkeiten nach inhaltlichen Unterscheidungsmerkmalen zu forschen, die es erlauben, bestimmte natürliche Handlungen als dem Staat zuschreibbar, als Staatsakte zu kennzeichnen. Einen interessanten Versuch systematischer Klassifizierung in dieser Richtung hat Walter Jellinek unternommen.166 Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Feststellung, dass die Organe des Staates Menschen sind. „Jede staatliche Tätigkeit ist daher menschliche Tätigkeit; wer die Arten der menschlichen Tätigkeiten kennt, kennt auch die Arten der staatlichen Tätigkeiten“.167 Um die verschiedenen Typen menschlicher Verhaltensweisen voneinander trennen zu können, unterscheidet er drei Funktionen des menschlichen Geistes, die er als Wahrnehmung, Wille und Gedanken bezeichnet.168 Sodann führt er die Grundeinteilung der staatlichen Akte auf diese drei Funktionen und deren Kombinationen zurück und gelangt damit zur Aufstellung von drei Fallgruppen staatlicher Betätigungen: „Entgegennahme von Erklärungen, Urteil, Handlung“.169 Dieser Systematik stehen erhebliche Bedenken entgegen. Es mag noch davon abgesehen werden, dass der Versuch, aus den genannten drei psychischen Funktionen ein Gliederungsprinzip für die äußeren Tätigkeiten, mit deren Regelung es die Rechtsordnung doch zunächst zu tun hat, Schwierigkeiten begegnet;170 es mag auch ungeprüft bleiben, ob die von Jellinek berücksichtigten psychischen Funktionen die komplizierte Tätigkeit des menschlichen Geistes erschöpfend darstellen. 164 E. v. Hippel, Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsaktes, 2. Aufl. Berlin – Göttingen – Heidelberg 1960, S. 2. 165 Ebd., S. 2 und S. 22. 166 Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen, Tübingen 1908. 167 Ebd., S. 25. 168 Ebd., S. 9. 169 Ebd., S. 18. 170 Vgl. hierzu E. v. Hippel, Staatsakt, S. 36.

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

Entscheidend ist, dass der Gliederungsversuch Jellineks kein Kriterium bietet, das es ermöglicht, ein dem Staat zuzurechnendes Wahrnehmen, Urteilen und Handeln von staatsrechtlich irrelevanten gleichartigen Betätigungsformen zu unterscheiden. Die zahlreichen Wahrnehmungs-, Wollens- und Handlungsakte staatlicher Organe lassen sich anhand der von Jellinek entwickelten Gesichtspunkte nicht in Staatsakte und Privatakte gliedern. Möchte man nicht auf jegliche inhaltliche Kennzeichnung der dem Staat zuzurechnenden individuellen Akte verzichten, will man also über eine bloß positivrechtliche Bestimmung hinaus materielle Merkmale einer als Staatsakt zu wertenden natürlichen Handlung ausfindig machen, dann bleibt allein der Rekurs auf das traditionelle Gliederungsschema staatlichen Handelns, auf das Prinzip der Gewaltenteilung. Freilich wird dieses Prinzip im vorliegenden Zusammenhang nicht als politisches Postulat der Gewaltentrennung oder als rechtliche Sollensanforderung hinsichtlich einer arbeitsteiligen Abgrenzung der einzelnen Erscheinungsformen der Staatsgewalt herangezogen, sondern als Ordnungsschema, das eine systematische Gliederung des empirischen Befunds ermöglichen soll. Es handelt sich hier allein darum, die Wirklichkeit zu beschreiben, typische Merkmale einzelner Handlungen zur Fallgruppenbildung heranzuziehen.171 Ein mit dieser Intention unternommener Einteilungsversuch ergibt, dass es eine Klasse natürlicher Handlungen von Staatsorganen gibt, die sich als Rechtserzeugungsfunktionen im weitesten Sinne darstellen.172 Eine weitere Gruppe lässt sich dem gegenüber als eine Zusammenstellung von Entscheidungsfunktionen kennzeichnen und eine letzte schließlich als eine Klasse von gesetzesvollziehender oder im Rahmen der Gesetze leitenden Tätigkeiten kennzeichnen. Anhand dieses Gliederungskonzepts lässt sich die je konkrete Handlung eines Staatsorgans, insofern sie die typischen Merkmale einer dieser Gruppen aufweist, als Staatsakt qualifizieren. Es darf dabei jedoch nicht verkannt werden, dass dieses Ordnungsschema und die daraus abgeleiteten Unterscheidungsmerkmale nur ein erstes grobes und eher vorläufiges Abbild der Wirklichkeit vermitteln, das in vielen Einzelzügen noch verfeinert werden muss;173 es dürfen vor allem nicht die Schwierigkeiten übersehen werden, die mit der begrifflichen Umschreibung der Exekutive verbunden sind.174 Die Bedenken, die heute gegen den überkommenen Stufenbau der staatlichen Funktionen geltend gemacht werden, vermögen aber nichts daran zu ändern, dass das Gewaltenteilungsprinzip ein brauchbares Schema jedenfalls für die Qualifizierung menschlicher Betätigungen als staatlicher Akte darstellt. Von diesem Standpunkt aus sind im Folgenden noch weitere Fragen zu beantworten. Dass nicht nur rechtmäßiges, sondern auch rechtswidriges Handeln dem Staat zuzurechnen ist, entspricht allgemeiner Auffassung.175 Damit ist grundsätzlich 171 172 173 174

Vgl. Maunz-Dürig, Art. 20 Anm. 76; Helfritz, S. 118. Ausführlich G. Jellinek, Staatslehre, S. 595 ff. Hierzu Maunz-Dürig, Art. 20 Anm. 77. Forsthoff, ebd., S. 60 ff. und 70 ff.

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auch klargestellt, dass neben äußeren Handlungsmerkmalen subjektive Elemente dem Staat ebenfalls zugeschrieben werden können. Lässt sich nämlich die Qualität einer Handlung nur unter Berücksichtigung der Willenseinstellung des Handelnden feststellen, dann wird diese zu einem wesentlichen Teil der Handlung und unterliegt damit dem Zurechnungsprozess.176 Schwieriger sind Fragen zu beantworten, die das Verhältnis der Handlung zum Kompetenz- oder Ermächtigungsbereich des jeweils handelnden Organs betreffen. Einverständnis herrscht noch über den Grundsatz, dass nur das Handeln innerhalb der Kompetenzen, also innerhalb der von der Rechtsordnung eingeräumten Rechtsmacht dem Staat zugeschrieben werden kann. Das von der Kompetenz nicht gedeckte Handeln ist allein Handeln des Organs.177 Dabei wird der Kompetenzbereich nicht als das enge Quadrat aus örtlicher und sachlicher Zuständigkeit verstanden, sondern als ein umfassender, wenngleich abgegrenzter Bezirk staatlicher Tätigkeit. Bei der Frage jedoch, ob ein unrechtmäßiges Handeln, das als solches dem Staat zugeordnet werden kann, als innerhalb des Kompetenzbereichs gelegen angesehen werden kann, lebt der bekannte Streit um die Denkbarkeit staatlichen Unrechts wieder auf. Kelsen erklärt eine Kompetenz zu unrechtmäßigem Verhalten für schlechterdings unvorstellbar.178 Für ihn stellt die Kompetenz eines Staatsorgans nur „die Summe seiner Amts- resp. seiner Rechtspflichten“ dar. „Eine Rechtspflicht, Rechtspflichten zu verletzen, ist undenkbar“.179 Eine Auflösung dieser Schwierigkeit kann nur gelingen, wenn man die Kompetenzbereichsgrenzen weiter als Kelsen zieht. In der Tat lässt sich feststellen, dass die Rechtsordnung einem Staatsorgan in allen Bereichen zur Erledigung der ihm obliegenden Aufgaben einen gewissen Spielraum gewährt. Insoweit räumt der Staat dem Organ zur Erfüllung seiner Rechtspflichten in gewisser Weise mehr Macht ein, als es dazu benötigt. Diesen „überschüssigen Teil“ der Ermächtigung kann das Organ missbrauchen. Es liegt hier ein Fall der Inkongruenz von rechtlichem Können und rechtlichem Dürfen bzw. Sollen vor. Der Differenzbereich zwischen Rechtsmacht und Rechtspflicht ist der Raum, in dem staatliches Unrecht möglich ist. Die Grenze dieses weiter gefassten Kompetenzbegriffs dürfte etwa dort verlaufen, wo die Verfassung selbst Zuständigkeiten verteilt hat; so etwa im Verhältnis der konstitutionell gesicherten Staatsgewalten zueinander (ein von einem Gericht erlassener Steuerbescheid wäre danach als nicht zurechenbar zu bezeichnen), ferner zwischen den so genannten Verfassungsorganen. Schließlich dürfte auch die so genannte Verbandskompetenz zur genaueren Bestimmung des 175 Vgl. ders., ebd., S. 213 ff. und S. 251 ff. Dagegen wird z. B. im englischen Recht jedes rechtswidrige Handeln als aus der Sachkompetenz herausfallend nicht mehr dem Staat zugerechnet; so ders., ebd., S. 224. 176 Dieses Problem ist jeweils für die einzelnen staatlichen Handlungsbereiche zu prüfen. 177 Helfritz, S. 90; G. Jellinek, System, S. 241 ff. 178 Staatsunrecht, S. 33. 179 Staatsunrecht, S. 34.

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rechtlichen Könnensbereichs heranzuziehen sein. Was außerhalb dieser nur ganz vage angedeuteten Grenzen liegt, kann dem Staat nicht zugerechnet werden; es ist ein Akt des gerade handelnden Organs ohne Wirkung gegenüber der Staatsperson. Mit dieser Grenzziehung ist zugleich aber die prinzipielle Möglichkeit der Zurechnung unrechtmäßigen Organverhaltens zum Staat nach dieser Seite hin dargetan.180 Anhand der aus dem Gewaltenteilungsschema gewonnenen Gesichtspunkte lässt sich eine weitere Zweifelsfrage entscheiden: nämlich die nach der Zurechenbarkeit rein faktischen Verhaltens. Äußerungen staatlicher Gewalt vollziehen sich nicht selten in einem tatsächlichen, unmittelbaren Handeln der beteiligten Organe; so etwa, wenn der Gerichtsvollzieher dem säumigen Schuldner die geschuldete Sache wegnimmt oder der Polizeibeamte mit unmittelbarem Zwang gegen den Widerstand leistenden Dieb einschreitet.181 Aber auch wenn der Staat Schulen errichtet, Krankenhäuser oder Museen unterhält und damit eine Tätigkeit entfaltet, wie sie auch für Privatpersonen182 in Betracht kommt, bedeutet diese Aufgabenerfüllung hier nichts anderes als die Hereinnahme in den Komplex der Handlungen, die sich als eine typische Form staatlicher Daseinsvorsorge darstellt. Dass damit der Begriff des „Staatsakts“, der ursprünglich als Willenserklärung des Staates an den Untertan verstanden wurde, als Kundgabe dessen, was rechtens sein sollte,183 eine sehr beträchtliche Ausweitung, insbesondere im Bereich des Verwaltungshandelns, erfahren hat, bedarf keiner weiteren Begründung. Stets muss aber auch dieses tatsächliche Handeln, soll es zurechenbar sein, sich als „Ausübung öffentlicher Gewalt“184 oder als „Ausübung eines anvertrauten öffentlichen Amtes“185 darstellen. Es bleibt nach alledem festzuhalten, dass als auf das staatliche Gemeinwesen projizierbar eine solche Handlung im natürlichen Sinne zu gelten hat, die von einem ordnungsgemäß berufenen Staatsorgan vorgenommen wird, sich als Betätigung von Staatsgewalt im weitesten Sinne darstellt und innerhalb des umfassend bestimmten Kompetenzbereichs des betreffenden Organs gelegen ist. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist es für die Zurechnungsproblematik nicht weiter von Bedeutung, ob die Handlung als rechtmäßig oder unrechtmäßig anzusehen ist.

180 Über diese andeutungsweise durchgeführte Abgrenzung des hier anzuwendenden weiteren Kompetenzbegriffs hinauszugehen, ist nicht möglich. Hinweise zu dieser Frage in der Literatur fehlen bislang. 181 Außer Betracht bleiben diejenigen faktischen Handlungen, die zugleich eine Willenskundgebung enthalten, z. B. Verkehrsregelung durch einen Polizeibeamten. 182 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 298 f.; Forsthoff, S. 340 ff., S. 349 ff. und S. 530 ff. 183 Nachweise bei E. v. Hippel, Staatsakt, S. 22 ff.; Forsthoff, S. 188 ff. 184 So Art. 131 Weimarer RVerf.; vgl. auch Forsthoff, S. 190; O. v. Gierke, S. 476. 185 Vgl. Art. 34 GG.

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3. Grund der Zurechnung

Die Frage, welcher rechtlich maßgebliche Grund die Transponierung rechtlicher Bedeutungsgehalte in die staatliche Sphäre ermöglichen kann, besitzt für die gesamte Zurechnungsproblematik zentrale Bedeutung. Zu untersuchen ist hier, ob es eine zureichende rechtliche Begründung dafür gibt, dass „das Verhalten der Staatsorganwalter weder diesen selbst noch irgendeiner anderen Organisation oder Person, sondern eben dem Staat zugerechnet wird“.186 Die Vertreter der organischen Staatsauffassung lösen das durch diese Fragestellung aufgeworfene Problem mit einem bloßen Hinweis auf die strukturelle Einfügung der Staatsorgane in den staatlichen Gesamtorganismus: Da die Verbandsperson, also auch der Staat, nur durch ihre Organe in Erscheinung tritt, nur durch sie wollen und handeln kann, sind deren Akte Handlungen der Verbandsperson selbst. Aus der Struktur des staatlichen Organismus wird einfach der wesentliche Gesichtspunkt für die Zurechnung entnommen.187 Ein derartiges Verfahren begegnet Bedenken. Selbst Theorien über die Natur der Sache sind nicht so weit gegangen, aus erforschten Seinstatbeständen unmittelbar gültige Rechtsnormen abzuleiten. Ein anderer Versuch, die Zurechnung zu begründen, geht vom Gedanken der kausalen Verknüpfung aus: Der Kausalnexus zwischen Subjekt und Objekt der Zurechnung, zwischen Handelndem und Handlung, ist danach der eigentliche Grund für die Zurechnung. So definierte bekanntlich schon Kant die Zurechnung als das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung angesehen wird. Aber diese Vorstellung versagt bei der Zurechnung menschlicher Handlungen zum Staat. Fragt man nämlich nach den Ursachen der dem Staat zuzurechnenden Handlung, so wird man in der Kausalkette niemals auf ein Glied stoßen, das als Staatsperson erkannt werden könnte. Die juristische Staatsperson ist keine in der Welt der wirklichen Dinge existierende Tatsache, sondern gehört in den Bereich vorgestellter Bedeutungen.188 Das Kausalprinzip reicht zur Erklärung der Zurechnung hier nicht aus. Ebenso wenig ist dem Zurechnungsproblem mithilfe einer teleologischen Betrachtungsweise zufrieden stellend beizukommen. Diese Sichtweise postuliert, dass einer Person zugerechnet wird, was von ihr bezweckt, beabsichtigt oder gewollt ist. Dieser Gesichtspunkt versagt aber bereits bei der Zurechnung im Bereich der natürlichen Personen, da es zahlreiche Fälle gibt, in denen auch nicht willentlich eingetretene Tatbestände demjenigen, der sie verursacht hat, zugerechnet werden (z. B. Fahrlässigkeitsdelikte).189 Vgl. Wolff, S. 369 f. Helfritz, S. 88, spricht von dieser rein deskriptiv entwickelten Theorie als von einem „grundlegenden Rechtsgedanken“. 188 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, S. 72 ff.; ders., Staatsunrecht, S. 12. 189 Vgl. Staatsunrecht, S. 12. 186 187

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

Reichen somit weder die empirisch orientierte Betrachtung der Struktur des Staat-Organ-Verhältnisses noch das Kausalprinzip noch der Gedanke der teleologischen Verknüpfung zur Begründung der Zurechnung aus, so bleibt allein der Rückgriff auf die Rechtsordnung.

VI. Ergebnis In seiner streng formalistisch orientierten Theorie hatte Kelsen darauf abgestellt, ob das zuzurechnende Verhalten eines Individuums in der die staatliche Gemeinschaft konstituierenden Rechtsordnung „als Bedingung oder Folge“ bestimmt ist.190 Deckt sich also eine bestimmte natürliche Handlung eines Staatsorgans mit dem in einem Rechtssatz – gleichgültig, ob auf der Tatbestands- oder der Rechtsfolgenseite – beschriebenen Verhalten, so ist diese Handlung dem Staat zuzuschreiben. Die herrschende Meinung ist zu Recht über diese formalistische Sichtweise hinausgegangen und hat die für die Zurechnung maßgebende Norm inhaltlich gekennzeichnet. Der Grund für die Zurechnung individuellen Verhaltens zum Staat ist danach in den organisatorischen Normen des Staatsrechts zu erblicken, die die Einrichtung der Staatsorgane, die Berufung der Organträger sowie die Abgrenzung der Kompetenzen und Machtbefugnisse zum Gegenstand haben.191 Der maßgebende Grund für die Zurechnung liegt somit darin, dass ein ordnungsgemäß berufenes Organ im Rahmen seiner Kompetenz tätig wird. Dabei darf der Kompetenzbe-griff nicht als ein enger, von örtlicher, sachlicher und funktioneller Zuständigkeit umgrenzter Amtskreis verstanden werden. Für das Problem der Zurechnung ist vielmehr von einem relativ undifferenzierten, rudimentären, nur grob gegliederten Kompetenzbegriff auszugehen. Eine in diesen Rahmen fallende Tätigkeit soll nach der Rechtsordnung als Staatsakt, als Staatsfunktion gelten.

190 191

Reine Rechtslehre, S. 294. Nawiasky, Staatslehre, S. 70; Heller, S. 231.

Rechtswissenschaft als Weltbild* Im Zuge der seit einigen Jahren verstärkt geführten Debatte um die Rationalität der Wissenschaft und die Rationalitätsbedingungen des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ist das Augenmerk auf die Relevanz der verschiedenen Positionen und ihrer Paradigmen für die Erkenntnis von Recht und Rechtswissenschaft gerichtet worden. Auch im engeren Bereich der Rechtswissenschaft, der juristischen Dogmatik oder dogmatischen Rechtswissenschaft – beide Ausdrücke verwende ich im Folgenden synonym –, wird damit der Boden bereitet für die heute wohl unangefochtene Einsicht, dass juristische Dogmatik wie alle Rechtswissenschaft nicht ohne philosophische Annahmen betrieben werden kann und auch nicht betrieben wird. Nach den anhaltend eindrucksvollen Reklamationen Josef Essers1 zum Vorverständnis und seinem bestimmenden Einfluss auf die Rechtsfindung, die eine vorläufige Klärung dieses Phänomens unter verschiedenen Aspekten erreichten, scheint es angezeigt, ein in seiner Tragweite nicht weniger bedeutsames, über den Entdeckungszusammenhang der Rechtsfindung hinausweisendes wissenschaftsrelevantes Phänomen der Aufarbeitung wenigstens in einigen Grundlinien zuzuführen: das Weltbild der Rechtswissenschaft und seine Zuspitzung auf die in der Fassung des Themas ganz und gar unpolemisch verwendete Formel von der „Rechtswissenschaft als Weltbild“. I. Wissenschaft und Weltbild Mit „Weltbild“ ist die vereinfachende Vorstellung von der Welt und ihrer Wirklichkeit gemeint, die gegenüber ihrer ansonsten undurchdringlichen Komplexität eine das individuelle und soziale Dasein des Menschen ermöglichende Ordnung in dem Sinne herstellt, dass sie ihm Daseinsorientierung vermittelt. Weltbilder beziehen sich nicht auf die Wirklichkeit selbst, sondern auf ihre Bedeutung. Weltbilder finden diese Bedeutung „in“, „aus“ oder „hinter“ den Tatsachen oder schreiben die Bedeutung den Tatsachen zu. Im Gegensatz hierzu hebt die Wissenschaft, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften, auf die Tatsachen als bedeutungsfreie Gegebenheiten ab2. Wissenschaft und Weltbild schließen damit einander aus, Wis* Erstveröffentlichung in: W. Krawietz / W. Ott (Hrsg.), Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart. Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag. 1987. S. 351 – 368. Berlin: Duncker & Humblot. 1 Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972. 2 Vgl. F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz – Wien – Köln 1984, S. 54 f.

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senschaft ist als solche kein Weltbild. Dies heißt nicht, dass Wissenschaft nicht in Beziehung zu einem Weltbild steht, dass sie ohne Weltbild sei. Liegt eine wesentliche Funktion des Weltbildes darin, durch die in ihm antizipierte Deutung der Welt eine Ordnung der Welt zu entwerfen, basieren Wissenschaften in diesem Sinne auf Weltbildern. Mehr noch, sie haben nicht nur eigene Weltbilder, die Ausdruck bestimmter Welt-Anschauungen sind, sie können – wie sich zeigen wird – in ihrem Bemühen um sinnhafte Orientierung gerade in Gestalt der Sozialwissenschaften und der dogmatischen Rechtswissenschaft selbst Weltbildcharakter annehmen, der in der kulturellen Überlieferung ständig weitergegeben wird. Dazu sind Weltbilder auf Institutionen angewiesen, die für die laufende Unterweisung und gesellschaftliche Einübung sorgen, indem sie – wie dies Karl Engisch3 detailliert für das „Weltbild des Juristen“ beschrieben hat – aus der Wirklichkeit diejenigen Tatsachen und Ordnungselemente herausheben, in die der Mensch einbezogen ist. Dem traditionellen Gegensatz von Wissenschaft und Weltbild – als Alternativformen der Erfassung von Welt – entspricht die Ansicht, die dem Weltbild das spekulative Denken zuordnet, während Wissenschaft durch die Wahrheitsfähigkeit ihrer Aussagensysteme gekennzeichnet ist. In einer Welt, deren Wesen ihre Fraglichkeit ist, fehlen der Wissenschaft sichere Fundamente. Die Last, das Ganze der Welt von Grund auf selbst denken zu müssen (wenn man nicht bloß glauben will) und trotzdem zu handeln, scheint die Kraft des Menschen wie die bisherige Kapazität der Wissenschaft zu übersteigen. In dieser Zwiespältigkeit ist es die Zuflucht zum Weltbild, welches die Gedanken ausgibt, aber darin nicht selbst zum Vollzug dieser Gedanken kommt, und es im Übrigen der Wissenschaft überlässt, ihre Probleme zu behandeln, sodass diese möglichst nicht bis in den Grund zu denken braucht. Auf diese Weise entlastet sich die Wissenschaft von ihrem eigenen Basisdenken, das sie außerhalb ihres engeren Expertentums durch Weltbilder ersetzt. So bleibt in der wissenschaftlichen Haltung ein Weltbild zumindest latent; die Frage, ob das Weltbild zu den Voraussetzungen von Wissenschaft gehört oder auch Implikat von Wissenschaft sein kann, tritt dann zurück. Nur selten scheint der Besitz des Weltbildes und die von ihm ausgehende Beeinflussung des wissenschaftlichen Handelns überhaupt bewusst zu sein. Damit ist aber zugleich behauptet, dass „Wissenschaft“ und „Weltbild“ jedenfalls bei den nicht ausschließlich an der Erfahrung, sondern im Wesentlichen an der Bedeutung von Welt orientierten Wissenschaften sich nicht nur in ihrer herkömmlichen Entgegensetzung abschwächen, sondern dass der notwendige, nicht nur vorwissenschaftliche Bezug zum Weltbild auch innerwissenschaftlich bzw. intradisziplinär im Selbstbezug auf das internalisierte Weltbild statthaben kann. Diese Frage korreliert nun ganz offensichtlich (auch) mit der Kontroverse um den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, dem ich der begrenzten Absicht 3 Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl., Heidelberg 1965; s. a. die instruktive Literaturzusammenstellung zur Weltbild-Philosophie, ebd., S. 165 – 178. Zur juristenorientierten Weltbild-Forschung aus soziologischer Sicht vgl. W. O. Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des Juristen, Neuwied – Berlin 1970.

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meiner Präsentation entsprechend nicht grundlegend, sondern nur, soweit es für die vorliegende Thematik unumgänglich erscheint, nachgehen kann4. Die vielfältigen Versuche zum Problem der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft haben jedenfalls eines nicht auszuschließen vermocht: dass man die dogmatische Rechtswissenschaft – nur überhaupt deren Wissenschaftscharakter, nicht der der übrigen Rechtswissenschaft ist angezweifelt worden – als Wissenschaft ansehen kann. Unter dieser Prämisse lässt sich die These von der in der dogmatischen Rechtswissenschaft verborgenen Weltbild-Dimension zumindest diskutieren, um daraus gegebenenfalls Folgerungen für rechtsdogmatisches Handeln zu ziehen. Soviel scheint sich schon jetzt abzuzeichnen: Soweit sich dogmatische Rechtswissenschaft selbst als Ausdruck unkritisch übernommener Weltanschauung und eines daraus gewonnenen Weltbildes erweisen sollte, wird – dünnt man nicht den Wissenschaftsbegriff bis an die Grenze der Preisgabe aus oder wandelt sich ein solches Weltbild nicht zu einer wissenschaftlich akzeptablen Position – ihr Wissenschaftscharakter zumindest wieder problematisch. Die Weltbildhaftigkeit der Rechtswissenschaft scheint heute – parallel zu einer zunehmenden wissenschaftstheoretischen Durchdringung und methodologischen Disziplinierung5 – ins Abseits gestellt. Dies erscheint paradox; denn das Bemühen, ihre Grundorientierung offen zu legen und den eingetretenen Verlust ihrer Handlungsgewissheiten zu analysieren, müsste sich dabei verstärken, während das Gegenteil der Fall ist. Die Gewissheitseinbußen zeigen sich am deutlichsten im Wandel der Ideologien, der auch die Weltbilder erfasst, ihre Resistenz aber immer erst spät überwinden kann6.

II. Grundmerkmale des „juristischen Weltbildes“ Hervorstechendes Merkmal des „juristischen Weltbildes“ ist zugleich ein Grundzug aller Weltbilder: die Tendenz zur radikalen Vereinfachung der jeweils befragten Komplexität der Welt, mit der Folge, dass sich ein Relevanzdenken herausbil4 Vgl. zum Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaft näher R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 – 722; ders., Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 – 423; ders., Explikative oder normative Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 193 – 214; O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Der Wissenschaftsbegriff in den Natur- und in den Geisteswissenschaften, Studia Leibnitiana, Sonderheft 5 (1975), S. 102 – 120; R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, Frankfurt am Main 1981, S. 48 – 69. 5 Dazu näher R. Weimar, Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984, S. 69 – 102. 6 Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Heidelberg 1922, insbes. S. 88 ff., der von der „Hartnäckigkeit“ der Weltbilder spricht.

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det, das sich in dem Anspruch spezifiziert, die Welt in einem Ordnungsschema auf eine Wahrheit zu reduzieren, um sie zugleich dichotomisch in gerecht / ungerecht, gleich / ungleich, Freund / Feind usw. aufzuspalten. Dieses Grundmuster der Welterfassung verheißt eine weitgehende Erfüllung zumindest des Bedürfnisses nach Orientierung einerseits, nach Sicherheit andererseits. Wo diese selektive Deutung auftritt, schließt sie Alternativen zu der verfochtenen Weltorientierung aus. Auf diese Weise erhält das juristische Weltbild notwendig ein Stück Wirklichkeitsverweigerung. Für die Bereitschaft, auch „Gegenbilder“ zu akzeptieren, ist wegen des Grundbedürfnisses, „Identität“ durch das – wie immer verstandene – „Recht“ zu erlangen, kein Raum. In dem Maße, in dem damit die Chance weitergehender, hinreichender Welterfassung gering ist, wird auch das auf rationale Fundierung von Ordnung angelegte Rechtsdenken ungewiss. Die „Erlösung“ stellt sich nicht ein. Der Zustand zwischen Ungewissheit und Unerlöstheit ruft ein um so stärkeres Bedürfnis nach besser begreifbaren Weltauslegungsangeboten hervor, die Auskunft geben über den „rechten Platz“ des Menschen und den Quell für sein „richtiges Handeln“ in der Welt. Solche Angebote aber scheint es nach dem Verfall von Religion und bei allem Zweifel an der Universalisierbarkeit von Moralprinzipien und ihren Normen nicht überall mehr zu geben. So bleibt es denn dabei, auf die Effizienz oder – um vieles anspruchsvoller – auf die praktische Richtigkeit7 des Rechts zu rekurrieren, diese Strategie dann für die Verrechtlichung der gegebenen Systeme zu bemühen, um auf diese Weise die ganze Komplexität in einer handhabbaren Ordnung „regierbar“ zu gestalten und zu beherrschen, was wiederum für sich selbst eigene Wirklichkeit schafft. Damit hat sich nicht nur der „Kampf ums Recht“, sondern auch die diesem zuarbeitende Rechtswissenschaft eines solchen dem Recht eignenden Reduktionismus zu bedienen. Die Frage, wie die Rechtswissenschaft ihre Fähigkeit zur Bereitstellung ihres Gegenstandes – des Rechts auch in seiner praktischen Richtigkeit – soll steigern können, wird hiervon unmittelbar beeinflusst. Der Jurist fragt als solcher nicht beim Anthropologen oder sonst wem nach der Vorstellung vom Menschen8. Ist für 7 Grundlegend O. Weinberger, Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie. Skizze einer handlungstheoretischen und non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre, in: Rechtstheorie, Beiheft 3 (1981), S. 307 – 330. 8 Diese Problematik liegt indes nur scheinbar außerhalb der juristischen Dogmatik und der juristischen Praxis. Das heißt also nicht, dass das „Menschenbild“ in diesen Bereichen keine Rolle spielt. Es wird nur meist nicht thematisiert, sondern bleibt im Alltag der Rechtsfindung unsichtbar. Zu Recht erinnert Engisch, Weltbild, S. 31, daran, wie sehr etwa innerhalb des Naturrechts die Vorstellung vom Menschen schwankte, wenn z. B. Grotius im Menschen ein friedliches, zur Gemeinschaft hinstrebendes Wesen, Hobbes ein eigensüchtiges, feindseliges und zugleich furchtsames Wesen, Pufendorf ein selbstsüchtiges, boshaftes, aber auch hilfsbedürftiges Wesen sahen. Was diese Vorstellungen allerdings verbindet, ist die Auffassung des Menschen als eines „Vernunftwesens“. Erst im 19. Jahrhundert erscheint der Mensch vor dem Recht als „Kaufmann“ und „Unternehmer“, während sich im 20. Jahrhundert das Bild des Menschen als „Kollektivmenschen“ durchsetzt, gleichzeitig aber die älteren Gedanken des Naturrechts, der Aufklärung und der historischen Schule daneben noch weiterwirken (ebd., S. 32).

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eine als richtig oder gerecht auszuweisende oder auch nur als funktionsfähig zu etablierende Ordnung ein bestimmtes Verhalten des Menschen notwendig, kümmert die Natur des Menschen wenig: ob er Natur- oder Geistwesen ist, ob er nur auf sein Wohl bedacht oder altruistisch ist. Der hiernach auf die Person reduzierte Mensch hat das zur gesollten Leistung normierte Verhalten an die Umwelt zu erbringen, ausgenommen, es tastet seine Würde an. Die dabei schon hier auf die Begründungsmöglichkeit des Rechts bedachte Sichtweise – wir gehen darauf unten näher ein – hält sich von Schwierigkeiten frei, wo immer sie diese umgehen kann. Dies bedeutet auch, dass sich eine solche Sichtweise nicht auf systematisch erarbeitetes Wissen stützt, dass vielmehr die empirische Grundlage in einer Weise verdünnt wird, dass nahezu jede Wertung möglich erscheint. Wenn es denn in diesem Sinne für das juristische Weltbild typisch ist, bestimmte Fragestellungen als nicht angängig abzuweisen, liegt dies nicht immer schon daran, dass es ohne übergreifendes, weiteres Fragen den vom Recht vorgegebenen Grundlagenbereich akzeptieren muss. Der im Abschneiden von empirischen Hinterfragungen sich zeigende Dogmatismus ist signifikanter Ausdruck des juristischen Weltbildes selbst. Warum dieses Weltbild seine überkommene Struktur trotz der revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie weitgehend hat bewahren können, ist – wie mir scheint – unschwer beantwortbar: weil sich aus dem Umbruch in Philosophie und Wissenschaft bis heute keine intellektuell befriedigende Weltorientierung ergeben hat, die für die hier erörterten Punkte eine wesentliche Verbesserung bieten könnte. So tritt die Rechtswissenschaft in ihrem dogmatischen Reduktionismus weiterhin auf der Stelle; dabei sind ihr hier sicherlich auch die hinterfragungs- und öffnungsresistenten Bedingungen ihres institutionellen Wirkens, die ihr zwangsläufig Begrenzungen auferlegen, zugute zu halten. Sie steht nicht anders als die Rechtspraxis vor allem unter Zeitknappheit, wodurch das „Diskursstreben“ regelmäßig sehr begrenzt bleibt9. Was sich hiernach als ein Zentralpunkt des zugrunde liegenden Weltbildes erweist, ist eine Auffassung von der allgemeinen Bedeutung der Rechtsidee, die mit einer Verkürzung der erkenntnistheoretischen Probleme einhergeht. Die Frage nach dem Grunde der Wahrheit wird zu einer Frage nach dem „Recht“: der Verrechtlichungsgedanke reduziert damit den Erkenntnisbereich. Meinung begibt sich auf die Ebene des Wissens. Tatsachen wird ein Rechtsbild aufgesetzt. Die Welt wird normativ und nicht deskriptiv-explanativ verstanden, das Erkennen stellt sich unter die Kategorie des Rechts im Sinne einer Betonung des formalen oder methodischen Aspekts, der auf Formen und Regeln („manner“ statt „matter“) abhebt. Die Rechtsphilosophie tut sich schwer daran, die erkenntnistheoretische Relevanz dieser Weltsicht überhaupt aufzugreifen.

9 Vgl. H.-J. Koch / H. Rüßmann. Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in die Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982, S. 371 f.

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III. Der Aufbruch in die „Logik des Allgemeinen“ Will der Mensch in der Unsicherheit der Welt einer Ordnung versichert sein, sind es in erster Linie die mit dem Recht befassten Institutionen, die entsprechende Orientierungen zu leisten berufen sind. Indem das Recht auch selbst zur Institution wurde und das Erbe von Mythos und Religion in der Frage antrat, was als Daseinsorientierung zu gelten hat, übernahm es zwangsläufig auch deren Autorität, an der die Rechtswissenschaft teilhat. Dieser Prozess zeigt sich in nichts deutlicher als daran, dass an die Stelle der einst „religiösen Logik“ sich im Recht eine Logik des Weltbegreifens setzte, die ebenfalls nach einem „Abschluss im Absoluten“ verlangt. Diese Logik ist absolutistisch ausgerichtet: sie setzt ein Absolutes voraus. So wundert es nicht, dass etwa naturrechtliche Systeme wie überhaupt das ganze ontologische Denken immer wieder zu zeigen bemüht sind, dass das Recht irgendeines „absoluten Rückhalts“ bedürfe10. Auch der juristische Positivismus macht hiervon keine Ausnahme; er bedient sich dieser Logik, indem er den hierarchisch gedachten Stufenbau der Rechtsordnung an der Grundnorm (H. Kelsen) festmachte und auf diese Weise den Rückgriff auf eine außerhalb seiner selbst liegende – zweckhypothetisch – gesetzte formale „Instanz“ zu sichern suchte. Nachdem die bedingungslose Bindung an das positive Gesetz mehr und mehr als Irrtum eines weitgehend überwundenen Gesetzespositivismus angesehen wird, gewinnt der Glaube wieder an Boden, materialen Werten der Gerechtigkeit verpflichtet zu sein. Deshalb gelten die Bemühungen der professionellen Verwalter des juristischen Weltbildes – bei aller Detailverschiedenheit der rechtsdogmatischen Spielarten – ganz überwiegend den allgemeinen Prinzipien, in denen das Recht der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen wird. Für das Recht wird damit ein letzter, nicht mehr hintergehbarer Fixpunkt anvisiert. Dabei ist es keineswegs immer ein Welt übersteigender Status der in Anspruch genommenen Letztinstanz; ebenso gut kann eine „ins Diesseits gewendete Transzendenz“ (G. Dux) bemüht werden, die das gleiche leistet wie metaphysische Systeme, nur eben mit dem Unterschied, dass es dann der Mensch ist, auf den als letzte Entscheidungsinstanz rekurriert wird. Allen diesen Perspektiven ist gemeinsam, dass sie das Recht so auffassen, dass es einen letzten sinnhaften Bezug seiner inneren Logik nach fordert. In diesem Rekurs auf ein darin beschlossenes Allgemeines liegt die geheime Möglichkeit der Übereinstimmung sonst verschiedener Zugangsweisen zum Recht und seiner Begründung auch unterhalb dieser Ebene.

1. Formalismus der Prinzipien und Kontingenz des Rechts

Die Anforderung der immanenten Logik des Rechts selbst ist es, die es erleichtert, die ihr entsprechende einheitliche Grundstruktur des juristischen Weltbildes bloßzulegen. Diese Logik bildet die Grundlage dafür, dass nach der ihr gemäßen 10

G. Dux, Strukturwandel der Legitimation, Freiburg – München 1976, S. 25.

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Vorstellung immer etwas auf einen hinter ihm gelegenen, selbst der Erklärung aber entrückten Ursprung zurückführbar sei. In dieser Sicht erscheint der Ursprung als Emanation aller materialen Rechtswirklichkeit. Der Aufweis absoluter Prinzipien kann dann als Korrektiv gegenüber unrechtmäßiger Machtausübung nutzbar gemacht werden. Aus demselben Grund wird es möglich, dass die Allgemeinheit der Prinzipien, zumindest mittelbar, auch ihre substantielle Qualität sichert: Sie soll traditionell das, was allgemeines Gesetz sein kann, vor dem, was Unrecht ist, auszeichnen11. Indes haben Rechtswissenschaft und Philosophie nirgendwo zu zeigen vermocht, dass die Allgemeinheit der Prinzipien, d. h. ihre formale Reinheit auch Gewähr für ihre materiale Inhaltlichkeit leistet. Dass dies aber doch der Fall sei, diese implizite Meinung landläufigen Lehrguts entlarvt sich als nichts anderes denn als Ideologie des juristischen Weltbildes, dem diese Vorstellung im Grunde als Voraussetzung dafür dienen muss, bestimmte Ordnungsleistungen gültig hervorzubringen. Damit wird im Begreifen des Formalismus der Prinzipien deren Verwiesenheit auf ein Gegebenes überspielt: Das Rechtsdenken lässt sich von der Vorstellung bestimmen, das Allgemeine bzw. der Aufstieg zum Allgemeinen biete einen Maßstab für die Regelung der konkreten Verhältnisse. Damit enthält das Allgemeine immer auch schon die Regel für das Besondere. Die Deduktion kann Inhaltliches – dies wird allenthalben zugestanden – nicht hinzufügen. Es kann sich nur um eine Gestaltung der Prämissen selbst handeln (die oft als solche verschleiert bleibt), wenn Inhalte ableitbar werden sollen. Ist also zuvor nicht schon im Allgemeinen das Konkrete festgehalten worden, versagt es sich dem erstrebten Output. Ebenso wenig versorgt die in den sozialen Verhältnissen wirkende Ordnung die Prinzipien – wenigstens nach herkömmlicher Anschauung – mit realem Gehalt. Diese Vorstellung ist mit einem Logik-Schema nicht verträglich, das seinen (logischen) Ausgang vom Allgemeinen nimmt. Dass in diesem Sinne Rechtsprechung und juristische Dogmatik die gleichen allgemeinen Prinzipien mit unterschiedlichen Gehalten anfüllen und anfüllen können, liegt in dieser ein – mal mehr, mal weniger erwünschtes – Maximum an Flexibilität verbürgenden Verfahrensweise begründet. Formal lässt sich jedes Handeln zur Norm, jede Norm zum obersten Prinzip und jede Norm auch zu einem ihr vorausgesetzten Prinzip stilisieren12. Jedes aufgrund Ebd., S. 32. Ebd., S. 38. Damit ergibt sich der Vorwurf, dass diese Konstruktion einfach so eingerichtet wird, dass herauskommt, was man gerade wünscht. Prinzipien sind jedenfalls nur die „Konturen der Lösung, nicht die Lösung selbst“, meint J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl., Tübingen 1964, S. 80. Es werden hier außerjuristische (politische, kulturelle, wirtschaftliche usw.) Gesichtspunkte eingeführt, die nach Esser „zu Rechtswertungen transformiert“ werden. Wo die gesellschaftlichen Verhältnisse keine ganz überwiegende und eindeutige Orientierung zeigen, da scheint es nur eine einzige – elementare – Aufgabe des Rechts zu geben, die im Bewahren einer kulturellen Tradition erfüllt wird, die im allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein lebendig ist (Esser, 11 12

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dieses Schemas konzipierte Recht kann über eine ihm voraus liegende höchste Norm schließlich zur Legitimation kommen. Insoweit treffen sich die verschiedensten Positionen in der Einheit ihres Weltbildes: Das Resultat ist, dass Kritik letztlich abgeschnitten wird. Sie kann es gegenüber gültig abgeleiteten Ergebnissen nicht geben. Ebenso ist evident, dass „jede faktische Ordnung sich der Teilhabe an einem für absolut deklarierten Hintergrund versichern und sich so sankrosankt stellen kann“13. Damit erweist sich der Ursprung dieses Weltbildes als ein „logischer“, seine Konsequenzen sind „positivistisch“. Nun führt es wenig weiter, wenn man den Rückgriff auf allgemeine Prinzipien einfach als Abschottungs- oder Verschleierungsstrategie für Interessendurchsetzungen nur ideologiekritisch zu enttarnen sucht. Das Dilemma ist vielmehr im Denkstil des vorherrschenden Weltbildes begründet, der der Mentalität der juristischen Methodologie vorausgeht und diese bestimmt. Die Aufdeckung des Dilemmas hat also nicht erst dort anzusetzen, wo der Denkstil nur übernommen, sondern wo er produziert worden ist. Wenn über die Versicherung des Allgemeinen jedwede Praxis festschreibbar erscheint, dann besteht wohl mehr als nur eben der Verdacht, dass das Grundübel schon im Zugriff auf das Allgemeine liegen könnte. Diese Verfahrensweise scheint indes so lange unausweichlich, als sie an ihrer eigenen Maxime, deren Ausdruck diese Verfahrensweise ist, festhält. Dies heißt aber nichts anderes, als dass sich das juristische Weltbild von seinem Letztbegründungszwang, auf den es sich in seiner Geschichte festgelegt hat, zu befreien hätte. Es müsste sich also letztlich von dem Denkstil der auf das Allgemeine zurückgehenden Logik lösen können und zugleich die Rücksichten auf Weltbilder identischer Begründungslogik aufgeben. Dazu ist die höchst folgenreiche Einsicht zu vollziehen, dass es keine absoluten Begründungen geben kann. Die Begründungsidee, die für den klassischen Rationalismus seit Aristoteles14 maßgebend war und die sich hartnäckig im Weltbild des Juristen zu halten vermochte, muss also aus diesem Weltbild entfernt werden und – weitaus schwieriger – nicht etwa ersatzlos gestrichen, sondern gegen eine andere, möglichst bessere rationale Denkmentalität eingetauscht werden15. Der Ausweg liegt darin, dass das Denken seine Form der Ableitung aus Ableitungskategorien verlässt: „Daß sich entwickeln nur kann, was in nuce im Ursprung schon enthalten ebd., S. 82). In diesem Sinne sind Recht und Justiz „konservative“ Institutionen, die der Neuerung nur so weit folgen, als diese sich gegen die Tradition durchsetzt: Recht und Justiz legitimieren nur das „evolutionäre Minimum“ (Esser). Soweit das Recht darin die Frage nach der Legitimation dessen, was ist, stellen muss, schließt es die Disponibilität der bestehenden Ordnung und der etablierten Verhältnisse nicht aus. 13 Dux, S. 39. 14 Lehre vom Beweis oder zweite Analytik (hrsg. v. O. Höffe), Hamburg 1975, S. 3 ff. 15 Zur Kritik am Begründungsdenken vgl. insbes. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 13 ff.; ders., Kritizismus und Naturalismus. Die Überwindung des klassischen Rationalitätsmodells und das Überbrückungsproblem, in: ders., Konstruktion und Kritik, Hamburg 1975, S. 13 ff.

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ist, ist selbst ein metaphysisches Postulat“16. Damit geht es fortan um eine neue Art der Rationalitätsstruktur, die das Rechtssystem zutiefst selbst betrifft.

2. Bedingungen erfolgreicher Kritik des Begründungsdenkens

Die Kritik des Begründungsdenkens müsste dartun können, weshalb es notwendig ist, diese Denkstruktur und ihre Logik aufzugeben. Wichtig ist, dass sie dabei nicht selbst Zuflucht zu dieser Logik nehmen darf. Wer an der klassischen Begründungsidee festhält, dem wird man zunächst klarmachen, dass seine Einstellung ebenso von einer fundamentalen Entscheidung abhängt, wie dies bei den Kritikern dieser Glaubensweise der Fall ist, ohne dass schon dieser Umstand zum Dezisionismus und damit zum Subjektivismus führen müsste. Dieses Wissen ist jedoch schon allein deshalb nur sehr schwer ans Ziel zu bringen, weil es sich seinerseits nur auf der Grundlage der hergebrachten Denkstruktur einlösen lässt. Wir haben hier das Dilemma, dass man sich aufgrund einer blockierenden Sozialisation einfach gehindert sieht, die Bedingungen des Geltungsanspruchs dieser Begründungslogik zu erkennen und offen zu legen. Will man dieser Behinderung entgehen, bleibt nichts anderes übrig, als die Vorstellung von einem absoluten Ursprung als Begründungsinstanz des Rechts einmal beiseite zu lassen. Damit wird erreicht, dass die auf das Ursprungsdogma gestützte Lehre und damit dieses Dogma selbst wenigstens frei von jener Behinderung betrachtet werden können: der Blick auf den kulturell determinierten mentalen Konstitutionsprozess wird möglich, die Entstehungsbedingungen erschließen sich einer historischen Erklärung. Geht man von der anfänglichen Ungeschiedenheit von Religion und Recht aus, so wird nahe gelegt, dass man bei der Suche nach der Entstehung des Ursprungsdogmas auf die Orientierungsfunktion der Religion verwiesen ist, die das menschliche Verhalten in einer Weise normiert hatte, dass der Mensch in der Welt zu leben vermochte. Das verordnete Verhaltensrepertoire war über das Vehikel der Offenbarung mit dem Absoluten wesentlich so verwoben, dass es als diesem entspringend in der Glaubensanschauung fassbar wurde. Diese Vorstellung setzte sich fort in einem Rechtsglauben, dass es für die Beurteilung dessen, was ist, einen obersten Ordnungswert gibt, der sagt, dass es sein solle bzw. nicht sein solle. Dieser eine übergesetzliche Gerechtigkeit voraussetzende, idealistische Ausgangspunkt ist es, der das Rechtsdenken ständig nötigt, das für Recht Erkannte im Gewand eines deduktivistischen Systems auszugeben. Dabei ist es gleichgültig, ob die Rechtsidee als transzendent, als in der Vernunft begründet oder nur als denknotwendiges Regulativ aufgefasst wird. In allen diesen Fällen bleibt die Rechtsidee notwendig ein und derselben Begründungslogik ver16 G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt am Main 1982, S. 23; vgl. auch J. Piaget, Biologie und Erkenntnis, Frankfurt am Main 1974, S. 16.

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haftet. Dies zeigt sich deutlich auch in der Rechtspraxis. So erkennt etwa das Bundesverfassungsgericht die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechts an und hält sich für zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen17. Es gibt nach Ansicht dieses Gerichts Verfassungssätze, die „so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein können“18. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Verfassungsnorm „grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße missachtet“19. Da auch der Gesetzgeber Unrecht setzen könne, müsse die Möglichkeit gegeben sein, den „Grundsatz der materialen Gerechtigkeit“ höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck komme20. Zwar verbiete es sich, die verfassungsrechtliche Prüfung im Einzelnen an naturrechtlichen Vorstellungen zu orientieren, und zwar schon wegen der Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage trete, sobald der „Bereich der fundamentalen Rechtsgrundsätze“ verlassen werde21; was aber die Einzelausgestaltung der Normen angehe, die die Verfassung positiviert habe und die vielfach als übergesetzlich bezeichnet würden (etwa Art. 1 oder Art. 20 GG), so seien sie zur freien Disposition des Verfassungsgebers nur insoweit gestellt, als jene letzten Grenzen der Gerechtigkeit nicht überschritten würden22. Nur wenn es aber überhaupt gelingen könnte, eine Gerechtigkeitsinstanz als eine Art „archimedischer Punkt“, als echte, irrtumsfreie ultima ratio aufzuzeigen, kann die Stufenleiter der Begründung als finit angesehen werden und der Begründungsprozess richtigerweise abgebrochen werden, weil damit das „Fundament der Erkenntnis“ erreicht und die Verankerung der (Voll-)Begründung in dem fundamentalen Prinzip der Gerechtigkeit gelungen wäre. Weiterzugehen ist dann nicht möglich. Es gehört zu den. Grundpfeilern des juristischen Weltbildes, dass es für den Rechtsfindenden – gleich welcher Ebene – in Anspruch nimmt, Begründungen durch den Rekurs auf eine ultima ratio definitiv abzubrechen. Das Begründungsproblem wird damit zu einem Problem der Reduktion auf eine fundamentale Instanz, also zu einem Problem der Zurückführung aller „nicht-fundamentalen“ Geltungsansprüche auf die Basisinstanz, der aus irgendwelchen Gründen Autorität – im Sinne einer letzten, zu respektierenden Vorgegebenheit, auf die sich alle „abgeleitete“ Rechtsfindung berufen kann – zugeschrieben wird. 17 18 19 20 21 22

BVerfGE 1, 18 (Leitsatz 27). BVerfGE 1, 32. BVerfGE 3, 225 (Leitsatz 2). Vgl. BVerfGE 3, 232. BVerfGE 10, 81. BVerfGE 4, 296.

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Im Rahmen dieser Konzeption wird der Ableitungsprozess – selbst dort, wo er sich als „Kritik“ versteht – zu einem rechtfertigenden Akt, der das Problematische auf das „Unproblematische“, d. h. auf das Nichtproblematisierte, und das Zweifelhafte auf das „Sichere“ zurückzuführen sucht. Dieses Programm zielt also darauf ab, einen „Teil“ der Rechtsfindung zu verabsolutieren, während es damit gleichzeitig diesen Teil zur Legitimationsbasis für die Reststrecke des Rechtsfindungsprozesses macht. Das Fazit ist, dass diese Basis letztlich als Richter über den gesamten Prozess der Rechtsfindung fungiert. Aber gerade diese – wie immer verstandene – Basis ist nicht einfach „gegeben“; sie gerade ist das Problem, sodass jede Rechtsfindung, um ihren Ausgangspunkt zu rechtfertigen, diesen zu einer unabdingbar gültigen Voraussetzung verabsolutieren muss. Diese Letztbegründung – die Inthronisation der Rechtfertigungsinstanz der Rechtsfindung – macht das juristische Weltbild aprioristisch. Seine Philosophie läuft auf einen „Positivismus auf höchster Ebene“ hinaus, nämlich auf ein im weiteren Sinne „positivistisches“ Verfahren der Letztbegründung durch Reduktion auf angeblich Letztgegebenes. Dieses Schema beherrscht auch die juristische Rechtsfindungsarbeit im Alltag der dogmatischen Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis: es macht keinen prinzipiellen Unterschied, ob das Denken ein allgemeines Gerechtigkeitsideal verabsolutiert oder sich die Verabsolutierung nur auf die jeweils jüngste Judikatur des Bundesgerichtshofes bezieht, soweit diese als eine „hinzunehmende Gegebenheit“ und damit als Basisinstanz etwa für die Lösung einer im Schrifttum noch kontroversen Rechtsfrage gewählt wird. Auch wenn man das Problem nicht einfach schon durch „Verabsolutierung“ der Entscheidung eines Höchstgerichts lösen will, aber die regulative Basis doch diesseits der abstrakten Prinzipien ansiedelt, stets bleibt es dabei, dass das Rechtsdenken auf das absolutistische Schema bisher fixiert ist. Von diesem Schema aus gesehen ist jede Rechtsfrage (und natürlich auch der „positive Text“) „nach oben hin“ – wie Josef Esser23 sagt – stets „unvollendet“. Selbst der „normale“ Rechtsfindungsvorgang ist unter diesem Aspekt ohne Benutzung allgemeiner Rechtsprinzipien nicht denkbar24. Ohne den Glauben an jene Prinzipien des Rechts scheint es hiernach nicht möglich zu sein, positive Resultate zu gewinnen: Der Glaube an sie ist nicht dispensierbar, soll etwas anderes gerechtfertigt werden können. Eine „Selbstgarantie“ des juristischen Denkens gibt es nicht.

Esser, S. 259. Ebd., S. 253; vgl. zur Prinzipienproblematik auch A. Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main – Berlin 1965. 23 24

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IV. Juristisches Weltbild und Wirklichkeit Das juristische Weltbild braucht auch eine den Anforderungen des Rechts gemäße Strategie des Umgangs mit den Tatsachen der realen Welt. Mit dem Rechtsbild als Teil des Weltbildes korrespondiert ein juristisches Seinsbild. Recht und Wirklichkeit werden im Weltbild nicht unabhängig voneinander gesehen. Karl Engisch kennzeichnet die Weltsicht des Juristen allgemein als eine „natürlich-soziale“ oder als Weltbild der „alltäglichen Erfahrung“25, der Jurist lasse es sich allerdings nicht nehmen, „jenes natürlich-soziale Weltbild umzuformen, um es den besonderen Aufgaben einer juristischen Behandlung und Betrachtung anzupassen“26. Es ist nach Engisch im Wesentlichen dieselbe Welt, in der sich auch die „Geschichte“ abspielt. Für das Recht kommt daher nur derjenige Wirklichkeitsausschnitt in Betracht, der durch das praktische Dasein und Wirken des Menschen in der Gesellschaft und seine konkreten Wertbeziehungen bestimmt wird27. Dieses Weltbild macht die wissenschaftliche Auflösung durch die modernen Naturwissenschaften nicht mit, was nicht ausschließt, dass Gesetzgebung und juristische Dogmatik zuweilen auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse abstellen. Aber diese Erkenntnisse ordnen sich in das juristische Weltbild lediglich ein, sie bestimmen es nicht, machen das Weltbild nicht zu einem naturwissenschaftlichen Bild von den Dingen. Die „Alltagsbegriffe des natürlichen Weltbildes“, meint Engisch28, und ihr innerer Zusammenhang mit der Welt der Werte seien es, die „jene Begriffe der Rechtswissenschaft als einer Wertungswissenschaft empfehlen“. Dieser Zusammenhang gehe verloren, wenn sich die Rechtswissenschaft der naturwissenschaftlichen Betrachtung zuwenden würde. Man dürfe es dem Juristen, der nicht mit irgendeiner Wissenschaft von der Welt in Konkurrenz treten wolle; nicht zum Vorwurf machen, dass er einem „naiven“ Realismus huldige29. Dabei kann die Betrachtung der rechtlich erheblichen Welt darüber informieren, auf welche „letzten Elemente unsere juristischen Begriffsbestimmungen lossteuern und welche Struktur die Tatbestände aufweisen, denen die Rechtsfolgen zugedacht sind“30. Das Bild Engisch, Weltbild, S. 15. Ebd., S. 15. 27 Ähnlich schon H. Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, Berlin 1935, S. 74. 28 Engisch, Weltbild, S. 21; vgl. demgegenüber zu „Werten in wissenschaftlichen Weltbildern“ M. W. Fischer, Rationalisierung der Gesetzgebung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1985, S. 126 – 132. 29 Engisch, Weltbild, S. 23. Der Begriff des naiven Realismus bleibt bei Engisch unpräzisiert. Ich gehe für die weitere Erörterung im Folgenden davon aus, dass hier diejenige erkenntnistheoretische Haltung gemeint sein soll, „die die sinnliche Stufe der Erkenntnis mit dem ganzen Erkenntnisprozeß gleichsetzt, d. h. die objektive Realität als schon in der Wahrnehmung gegeben (durch die Wahrnehmung erkannt) annimmt“ (G. Klaus / M. Buhr [Hrsg.], Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 13. Aufl., Berlin 1985, S. 1018). Grundlegend im Übrigen A. Troller, Das Bewußtseinsbild im Rechtsdenken, in: ARSP Beiheft 12 (1979), S. 243 ff. 30 Engisch, S. 22. 25 26

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der Welt bleibt für Engisch ein „natürliches“, auch wenn man die Welt über die Rechtsbegriffe erreicht. Es bedeutet „noch keine Verzerrung des Weltbildes selbst“, wenn der Gesetzgeber, Rechtsgelehrte oder Praktiker die Rechtsinhaltsbegriffe „mit eigentümlichem, vom Alltagssprachgebrauch vielfach abweichenden Gehalt“ füllen. Recht und natürliche Welt stehen sich nicht einfach einander gegenüber, die rechtlichen Vorgänge gehören nach Engisch31 selbst zum natürlichen Weltbild. Dem scheint freilich manches von dem, was Engisch selbst an juristischer Eigenart der Weltbetrachtung zusammenträgt, zu widersprechen. Der „Mensch im Recht“ wird zunächst einmal nicht als Mensch, sondern als Person bloßes Rechtssubjekt, also „Berechtigter“ und „Verpflichteter“, findet sich als Träger juristischer Zuordnungen wie Eigentümer, Vertragspartner, schließlich in der rechtsrelevanten Rolle des Ehegatten, Verbrechers usw.32 Engisch findet darin – entgegen seinem Ausgangspunkt und seiner Intention– doch eine „durchaus eigenständige Haltung des Rechts dem Menschen gegenüber“, während er sich zugleich gegen Verfälschungen wehrt, die ein von allen natürlichen Vorstellungen abgesondertes, spezifisch juristisches Weltbild entwickeln. Der Handlungsbegriff im Recht ist bei Engisch ein natürlich-sozialer Begriff des praktischen Lebens33, wobei die Einbeziehung des „Voraussehens“ und „Inkaufnehmens“ eingetretener Handlungsfolgen in den juristischen Vorsatzbegriff „trotz ihrer Eigenwilligkeit“ nicht aus dem „natürlichen Weltbild“ herausführe34. Zweifel melden sich bei Engisch35 beim Zeitbegriff: Gibt es – fragt er im Anschluss an Erik Wolf – „vielleicht eine besondere juristische Zeit?“ Die Zeitrelationsbegriffe scheinen dies nahe zu legen („vor der Fälligkeit der Schuld“, „zur Nachtzeit“, „zur Unzeit“, „lebenslange Freiheitsstrafe“ usw.). Trotz seiner „Eigentümlichkeiten“ stehe der rechtliche Zeitbegriff „dem natürlichen Zeitbegriff noch verhältnismäßig nahe“36. Dies ist zwar nicht durchgängig einzusehen, andererseits geht es zu weit, einen spezifischen Begriff der „Rechtszeit“ zu entwickeln, bevor nicht der „natürliche“ Zeitbegriff präzisiert ist. Ebd., S. 24. Auf diese Beispiele bezieht sich Engisch, S. 28; die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, ohne dass allerdings damit ihre Lozierung auf der Stufe der sinnlichen Wahrnehmung möglich wird. 33 Ebd., S. 38. 34 Ebd., S. 39. 35 Ebd., S. 73. 36 So Engisch, S. 109, der andererseits aber die Zeit, verglichen mit dem Raum, für „unanschaulich“ hält und sie damit – seiner eigenen Intention entgegen – der Ebene des naiven Realismus entzieht. – Die räumlichen Vorstellungen des Rechts sind mit den natürlich-anschaulichen Vorstellungen nicht ohne weiteres zu identifizieren, wie schon der sozialräumlich geprägte Raumbegriff des Raumordnungsrechts zeigt. Anders ebd., S. 62. 31 32

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

Soweit es um den Kausalbegriff geht, der als Element gewisser Tatbestände in allen Teilen der Rechtsordnung vorkommt, vernachlässigt der Jurist „meist die individuelle Eigenart des Falles . . . zu Gunsten seiner allgemeinen Bedeutung: Nur als Körperverletzung, Tötung, Sachbeschädigung usw. ist der Kausalzusammenhang dem Juristen wichtig, nicht als Verletzung gerade dieser Person oder ihrer Sache“37. Engisch genügt der Umstand, dass hier „konkrete Ereignisse“ kausal miteinander verknüpft sind, um eine „Verwandtschaft“ der juristischen Betrachtung mit der Historie anzunehmen und einen spezifisch juristischen Kausalitätsbegriff abzulehnen. Dass zumindest die aus Billigkeitsgründen haftungsrechtlich erfolgende „Einschränkung“ der Kausalität im Gedanken der Adäquanz ausschließlich ins Weltbild juristischer Dogmatik gehört, wird von Engisch ebenso wenig erwähnt wie andere juristische Nuancierungen des Kausalitätsbegriffs. Die von ihm postulierte Substitution des „juristischen“ durch das „natürlich-soziale“ Weltbild erscheint auch in diesem Bereich nicht haltbar. Der Sachbegriff nebst seinen Derivaten (Herstellung, Beschädigung usw.) ist bei Engisch erst gar nicht juristisch zu begreifen, sondern kann nur so gedeutet werden, dass „er in engster Berührung mit der natürlichen Sach- und Dingvorstellung steht“38. Grenzfälle wie der ins Meer geworfene goldene Becher, der in Freiheit gesetzte Kanarienvogel führen über die Berührung der angeblich „natürlichen Sachvorstellung“ doch wieder zu einer wohl juristisch zu nennenden Perspektive: dass nämlich jede durch Einwirkung auf die Sache selbst geschehende dauernde Ausschließung des Menschen vom Gebrauch einer Sache nach Engisch die Sachqualität aufheben kann39. Und selbst eine so genuin juristische Kategorie wie die des subjektiven Rechts – verstanden als die von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht – lässt ihre Einordnung in das „natürlich-soziale Weltbild“ bei Engisch als möglich erscheinen – nur bedürfen die begrifflichen Merkmale eben einiger Umformungen, bis diese Operation gelingt40; Engisch versucht erst gar nicht, sondern sieht davon ab, diese Prozedur – auf die man hätte gespannt sein können – zu beschreiben. Vollends scheitert der naiv-realistische Ansatz bei der Einbringung der „Erfahrung“ in die bei Juristen immer schon „rechtlich“ gesteuerte Perzeption der äußeEbd., S. 140. Ebd., S. 162. Die mit der Innehabung einer Sache sich ergebende Frage, ob der Besitz ein Recht sei, hat in den juristischen Auffassungen im Laufe der Rechtsgeschichte gewechselt. Es war erkenntnistheroretisch höchst schwierig, einen Besitz für möglich zu erklären, der mehr als nur eine äußere Erscheinung darstellt: Verwandlung einer Tatsache in ein Recht. Vgl. dazu instruktiv H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, München 1982, S. 41 – 46. 39 Die Auffassung ist nicht unbestritten; vgl. Engisch, S. 161. 40 Vgl. ebd., S. 142. Zu den von einem naiven Realismus nicht einlösbaren Vollzügen gehören auch die „interpretativ“, insbesondere „teleologisch“ orientierten Akte. Vgl. im Übrigen auch A. Troller, Rekonstruktion und Rechtswirklichkeit, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 137 ff. 37 38

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ren Welt. Soweit Sachverhalte und ihre Bestandteile aufgrund „gesicherten Erfahrungswissens“ festgestellt werden, wird den „Gesetzen der Erfahrung“ rechtliche Normqualität beigelegt41. Einer der heikelsten Punkte, meinte denn schon Alfred Manigk42, läge bei der Beurteilung von Tatsachen nach allgemeiner oder besonderer Lebenserfahrung darin, ihr den „richtigen Ort“ als Tat- oder Rechtsfrage zuzuweisen: Da jede Rechtsnorm bei Gebrauch eines Begriffes, der nicht definiert wird, oder bei Verwendung einer Klausel ohne legale Sinnbestimmung implizit auf Erfahrungsurteile verweist, sind Erfahrungssätze als zum Inhalt der Norm gehörend anzusehen. Sie haben die Eigenschaft von bindenden Auslegungsregeln. So erweist sich denn die Kennzeichnung der juristischen Weltsicht als „naiver Realismus“ in dieser Allgemeinheit als eine ebenso unhaltbare Zuspitzung, wie dies für naturalistische, psychologistische oder ausschließlich normativistisch orientierte Deutungen juristischer Sichtweisen zutrifft. Erst der Reduktionismus Engischs macht die Weltsicht des Juristen zu einer naiv-realistischen und damit letztlich unkritischen Weltauslegung, die sie in dieser Art nicht ist. Der Blick des Juristen durch die hoch differenzierte Struktur der dogmatisch bearbeiteten Normprogramme auf die Normbereiche konstituiert ein interaktionistisches Verhältnis zwischen Normprogramm und Normbereich. Dieser ist ein Konstituens sachbestimmter rechtlicher Normativität und keine Summe von lediglich natürlichsozialen Tatsachen und Sachverhalten der sozialen Welt, sondern ein „als realmöglich formulierter Komplex aus der Realität gewonnener Strukturelemente, die in aller Regel schon traditionell rechtlich geformt oder mitgeformt erscheinen“43. Das im juristischen Weltbild angelegte Wahrnehmungs- und Reflexionspotential bezieht sich in dem hier betrachteten Sinne auf die Strukturen der Wirklichkeit in einer Weise, dass es diese zum Bestandteil rechtlicher Normativität macht. Dieser Prozess ist zweckbestimmt; er enthält kognitive und volitive Elemente und greift vor allem auf „Werte“ im Sinne institutionell wirksamer Wertauffassungen zurück44. Der „Sinn“ eines Lebens- und Sozialverhältnisses wird dabei von einem oft unbewusst bleibenden Vorverständnis geleitet, dessen Wertgesichtspunkte aus der Fülle der empirischen Gegebenheiten erst im Relevanzspektrum des juristischen Weltbildes die profane Sachwelt als eine rechtlich beobachtbare Struktur herstelVgl. nur etwa BGHZ 12, 22 (25). Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. IV, Berlin – Leipzig 1929, S. 94 – 210. 43 F. Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin 1966, S. 187. 44 Zur Wertgebundenheit der Sachverhaltsfeststellung vgl. R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969, S. 72. m. w. N.; ders., Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 158 – 172 (165). 41 42

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4. Teil: Zur Konstruktion der Rechtswirklichkeit

len, die die Beliebigkeit der Anschauungsweisen auf die nun rechtsbezogene Natur der Verhältnisse einschränkt. Was hiernach die Betrachtung von Wirklichkeit durch das Objektiv des juristischen Weltbildes von der naiv-realistischen Perzeption der begegnenden Welt unterscheidet, ist dies: Die Sachverhalte, die ja letztlich Gegenstand eines juristisch-subsumtiven Urteils sein sollen, werden in aller Regel bereits wertbestimmt aufgenommen und sind damit das Ergebnis einer sinnbezogenen Betrachtung; nur ein zumindest potentiell sinnbezogen-relevantes Geschehen erheischt überhaupt die Aufmerksamkeit des Juristen. In diesem Sinne ist auch schon die Perzeption selbst eine “,juristische“. Die quaestio iuris wird zum Maß der quaestio facti, die sich ihrerseits in jene zurückprojiziert.

V. Konstruktion und Kritik In den beiden zentralen Bereichen juristischen Weltbegreifens, der Normgewinnung und der Faktenfeststellung, ist dem überkommenen juristischen Weltbild zufolge der begründungsphilosophische Denkstil manifest. Dieser Denkstil wirkt Problem abschneidend, weil er dogmatisch ist; er entzieht das Dogmatisierte dem Zugriff kritischer Erkenntnis. In diesem Sinne leitet das juristische Weltbild dazu an, als sicheren Hafen auszugeben, was in Wahrheit die offene See ist. In dieser Tradition erweist sich die Rechtswissenschaft als mit ihrem Weltbild vergesellschaftet. In den Selbstzwängen der Weltbildhaftigkeit setzt die Rechtswissenschaft ihrem Erkenntnisfortschritt von vornherein Schranken. Sie steht daher vor der Frage, welche Konsequenz sie aus der – nicht verwerfbaren – Tatsache ziehen will, dass sowohl normative (praktische) wie nicht-normative (empirische) Aussagen prinzipiell fallibel sind und damit die (methodisch) „sichere Basis“ letzter Erkenntnisse und letzter Werte entfallt. Sie kann – wie ich an anderer Stelle45 zu zeigen versucht habe – ihren begründungsphilosophischen Denkstil durch das Verfahren der „kritischen Prüfung“ ersetzen. Dieser Konzeption zufolge müssen sich die jeweils „ersten“ Schritte ebenso wie alle anderen Schritte einer Wissenschaft in kritischer Prüfung bewähren. Die darin gegebene Möglichkeit der Annäherung an eine strengere Rationalität auf dem Wege über eine rechtfertigungsfreie, systematische Kritik ist für die juristische Dogmatik wie für alle Rechtswissenschaft in gleicher Weise relevant. Die Idee der kritischen Prüfung kann als die Grundlage sowohl der theoretischen wie der praktischen Vernunft der Rechtswissenschaft angesehen werden. Die Unterschiede zwischen beiden Aussagearten führen dazu, dass jeweils andere Bezugsgrößen bei der Kritik erheblich werden. Während für Sachaussagen die Frage ihrer Wahrheit gestellt werden kann, sind praktische Aussagen nicht oder nur in einem metaphorischen Sinne auf ihre Wahrheit überprüfbar46. Sie bewähWeimar, Rechtserkenntnis, m. w. N. Im Bereich der Wertungen und Normen kann es zwar eine kritische Diskussion ebenso wie im Bereich der Sachaussagen geben, aber zum objektiven Test der Erfahrung gibt es kein Gegenstück. Dieser Umstand resultiert aus der Sein / Sollen-Unterscheidung. Ebenso wenig 45 46

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ren sich im Hinblick auf metaethische Prinzipien, die als grundsätzlich revidierbare Vorschläge zu betrachten sind, nachdem andere Unternehmen – etwa Naturrecht und Diskurs – die Wahrheit der Prämissen nicht zwingend haben etablieren können. Die Idee der Kritik bestimmt freilich nicht selbst die Inhaltlichkeit der metaethischen Prinzipien, ebenso wenig wie Wahrheitskriterien bereits durch diese Konzeption bestimmt werden. Wenn man also ein metaethisches Kriterium für die Bewährung ethischer Systeme festlegt, handelt es sich – dessen muss man sich bewusst bleiben – lediglich um eine kritisierbare Entscheidung. Eine solche Entscheidung ist modifizierbar. Der Rekurs auf die Prinzipien der „totalen“ Vernunft, um daran die „Vernünftigkeit“ der Entscheidung zu überprüfen, setzt nur ein (neues) Begründungsverfahren in Gang, das selbst das Basisproblem zu lösen hätte, dies objektiv aber nicht zu leisten vermag. Hier bleibt in dieser Welt das Verfahren der kritischen Prüfung. Das „Positive“ scheint dabei in der Durchführung der Kritik jenseits der Methode zu entstehen; es ist vor aller Kritik vorausgesetzt und wird durch sie wieder sichtbar. In diesem Sinne ist Kritik immer mehr, als sie sagt. Die Rechtswissenschaft und ihr inhärentes Weltbild werden sich darauf befragen lassen müssen, ob sie die Konsequenzen werden ignorieren können, die der Strukturwandel des Denkens, wie er in anderen Bereichen des Wissens längst zu registrieren ist, für das Problem des Rechts und seiner Fundierung im Gefolge hat. Ihre Jahrtausende alte Denkstruktur behauptete sich in dem Maße, in dem sie erfolgreich war. Sie wird fragwürdig und ideologisch, wenn sie sich gegenüber einem konsequenten Kritizismus nicht mehr zu behaupten vermag.

gibt es zu der relativen intersubjektiven Einheitlichkeit des für die empirische Erkenntnis relevanten menschlichen Erkenntnisapparats, insbesondere der Perzeptionsorgane, ein Pendant für den Bereich der Wertungen und Normen. „Praktische“ Erkenntnis ist also ausgeschlossen. Hier bleibt die Möglichkeit der kritischen Diskussion. Diese kann freilich ein Explikat des „Inhalts“ der Bewertung oder der Norm nicht erbringen; sie beschränkt sich regelmäßig auf logische Analyse und auf die Untersuchung der Realisierbarkeit. Die Auflösung eines Dissenses zu divergierenden praktischen Fragen kann etwa dadurch versucht werden, dass mehr faktische Information beigebracht wird oder die zugrunde liegenden Wertprämissen analysiert werden. Diese dürfen jedoch nicht im Sinne einer Leerformel abgeschwächt werden, weil auf diese Weise kein echter Konsens zustande kommen kann. Wenn auch bei der kritischen Diskussion von praktischen Fragen die Wissensbestände der Wissenschaft nur indirekt eine Rolle spielen, ist diese Diskussion doch als „rationale“ möglich. In der Diskussion des Wahrheitsproblems empfiehlt es sich, die Frage des Wahrheitsbegriffs von der Frage der Feststellungsmethoden und dem Problem einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Wahrheitsanspruchs klar zu unterscheiden. Konsens kann keine Feststellungsmethode für die Wahrheit einer deskriptiven Aussage oder für die rechtliche Geltung einer Norm sein, weil eine deskriptive Aussage wahr sein kann bzw. eine Norm rechtliche oder moralische Geltung haben kann, ohne dass diese Aussage für wahr gehalten wird bzw. ohne dass diese Norm soziale Geltung hat. Diese Unterscheidung geht bei den Vertretern der Diskurs- bzw. Konsenstheorie verloren. Vgl. zu weiteren Einzelheiten in diesen Fragen O. Weinberger. Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 159 – 232 (188).

Fünfter Teil

Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung: Rechtstheoretische Perspektiven

Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung* I. Die richterliche Entscheidung zwischen Regel und Ungewissheit Rechtsordnungen und ihre Sein sollenden Zuteilungsinhalte repräsentieren menschliche Interessen, sind also Wert bestimmt. Die das Recht anwendenden und es gestaltenden Richter werden durch bestimmte Präferenzen1 in ihren Entscheidungen motiviert. Dabei finden sie sich ständig herausgefordert, die „Richtigkeit“ ihrer Wahl zu begründen, ihre Entscheidungen also zu rechtfertigen2. Weil das Recht eine Ordnung des Handelns darstellt, nimmt es teil auch an den Rechtfertigungsproblemen des Entscheidens; es verlangt nach einer konsensfähigen Legitimation, die die Mitglieder einer Rechtskultur im Wesentlichen zufrieden stellt3. Die Regeln des Rechts lassen sich dabei als praktische Instrumente auffassen, die bestimmte Wirkungen in der sozialen Wirklichkeit herbeiführen und die – andererseits – durch diese Wirklichkeit selbst bestimmt werden. Dieser Funktion des Rechts ist insbesondere hinsichtlich seiner „Folgenbehandlung“ eine Gestaltungsweise angemessen, für die das durch rationale Argumentation hervorgebrachte „Vernünftige“ zentral ist. Dafür reicht das Gesetz selbst jedoch in weiten Teilen nicht aus. Vollständig sind die Prämissen einer Entscheidung nur, wenn weitere Sätze hinzugezogen werden, die das kodifizierte Recht ergänzen. Die Begründung der Entscheidung fügt daher dem Gesetz regelmäßig weitere Sätze hinzu. Damit wird vor allem der Forderung nach Gleichbehandlung entsprochen, die auf andere Weise nicht in nachprüfbarer Form erfüllt werden kann. In der Orientierung am Gesetz, herkömmlicherweise als „Auslegung“ bezeichnet, die das Gesetz im Sinne eines Gemeinten ausschöpfen möchte, verzahnen sich * Erstveröffentlichung in: E. Mock / R. Jakob (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung. 1983. S. 81 – 103. Frankfurt am Main – Bern – New York: Lang. Beiträge zur Allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 2. 1 Benjamin Cardozo, der große amerikanische Richter, hat es aus anderer Sicht sinngemäß einmal so gesagt: In jeder richterlichen Entscheidung, in welcher die Frage irgendwie offen sei, stecke eine Philosophie vom Grund und Ziel des Rechts; diese Philosophie sei der eigentliche Richter, auch wenn sie nur verhüllt in Erscheinung trete; B. Cardozo, The Growth of the Law, New Haven 1924, Abschn. II; zit. nach R. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung, JZ 1976, S. 150. 2 Zippelius, ebd.; ders., Die Verwendung von Typen und Normen, in: Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 1969, S. 224 ff. 3 Ders., Rechtsphilosophische Aspekte, S. 150.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

Legitimationsprobleme zunächst mit semantischen Fragen. Eine vom „Wortsinn“ ausgehende „Gesetzesauslegung“ stößt hier auf die „semantische Unschärfe der Wortbedeutungen“4. Der Text lässt einen Spielraum möglicher Wortbedeutungen offen, gibt grundsätzlich nur „inexakte Information“5. Anhaltspunkte für die zu wählende „Auslegungsalternative“ können – wenn auch nicht in jedem Falle – der Entstehungsgeschichte der Norm entnommen werden. Ein anderes Verfahren versucht, aus dem sprachlichen und gedanklichen Kontext der Norm die einzelne Gesetzesnorm zu konkretisieren. Die Wählbarkeit der Wortbedeutungen hat allerdings gewisse Grenzen und kann insbesondere aufgrund logischer Beziehungen zu höher- oder gleichrangigen Normen eingeschränkt sein. Auch unter dem Gesichtspunkt der voraussichtlichen Entscheidungsfolgen werden Argumente gewonnen6. Hier untersucht man die Auswirkungen, die verschiedene „Interpretationen“ (und die daraus sich ergebende Entscheidung) auf sozial relevante Zwecke haben7. Diese Kriterien bieten indes für sich allein regelmäßig keine eindeutige Abgrenzung der Wortbedeutungen, sondern liefern eine jeweils unbestimmte Menge von Argumenten, die sich möglicherweise ergänzen und verstärken, jedoch auch einander widerstreiten können8. Die hermeneutische Vorgehensweise wägt verschiedene Argumente zwar gegeneinander ab, lässt eine Wahlmöglichkeit aber offen. Das „letzte“ Entscheidungskriterium kann sie nicht liefern. Man steht am Ende vor dem Problem, wie die einzelnen Gesichtspunkte abzugrenzen und zu gewichten sind. Seiner topischen Struktur entsprechend ist dieses Verfahren zetetisch. Juristische Entscheidungsprobleme erhalten eine Richtung durch die Festlegung der Normzielhypothese: Bereits der Ausgangspunkt, ob man anstrebt, den subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers möglichst nahe zu kommen, oder ob man einer der Varianten der objektiven Auslegungstheorie folgt, kann das Ergebnis ausschlaggebend beeinf1ussen. Wählt man eine Vorgehensweise im letzteren Sinne, muss begründet werden, dass diese Wahl einem „objektiv vernünftigen“ Gesetzeszweck gerecht wird9. Legen z. B. die Materialien zu einer gesetzlichen Vorschrift eine bestimmte Normzielhypothese nahe, während der Sprachgebrauch des Gesetzes für eine andere Version spricht, erscheint es legitim, paraduktiv solche Argumente zu verwenden, die ein befriedigendes bzw. vertretbares (brauchbares) Ergebnis im Sinne des angenommenen Normziels ermöglichen. 4 Ebd., S. 151; weiterführend Ch. Weinberger / O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, 1979. 5 R. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte, S. 151; zur „Unbestimmtheit des Sinns“ tiefgründig E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972, S. 481 ff. 6 Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte, S. 151; ders., Der Typenvergleich als Instrument der Gesetzesauslegung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II, 1972, S. 481 ff. 7 Vgl. ders., Rechtsphilosophische Aspekte, S. 150. 8 Vgl. dazu statt vieler ebd., insbes. S. 151. 9 Ähnlich ebd.

Rechtstheoretische Aspekte zur richterlichen Entscheidung

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Es entspricht einer empirisch gehaltvollen Hypothese, davon auszugehen, dass Richter bei ihrer Orientierung am Gesetz nach Auffassungen handeln, die in der Rechtsgemeinschaft als vernünftig und berechtigt anerkannt werden10. Sie haben sich an die „breitestmögliche Konsensbasis“ (Zippelius) der sozialethischen Grundsätze zu halten und sich davon in ihren Entscheidungen leiten zu lassen (ohne schon jede Schwankung der öffentlichen Meinung zu berücksichtigen). In einer repräsentativen Demokratie sind daher richterliche Entscheidungen unter Absage an die Eigenautorität bei möglichen unterschiedlichen Gesetzesbedeutungen an denjenigen Vorstellungen auszurichten, „die den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft am nächsten kommen“11. Da die klassischen Auslegungskriterien eine Wahl offen lassen, läuft die „Auslegung“ – als Verfahren der Hinzufügung von Sätzen zu den Prämissen – auf die eigentliche Aufgabe der Rechtsprechung hinaus, Problemlösungen zu erarbeiten, die möglichst gerecht12 sind. Dabei liegt die Funktion der – nur begrenzt leistungsfähigen – Auslegungskriterien in der methodisch angeleiteten Disziplinierung des richterlichen Wertungsverhaltens. Die juristische Exegese, sagt Luhmann13, habe ihre eigentümliche Rationalität darin, dass sie ihre Unlogik auf kleine, lokalisierbare Sprünge verteile; sie werde also in einzelne gedankliche Elemente zerlegt; die Kritik habe sich dann je einer ganz bestimmten Stelle im Argumentationszusammenhang zuzuwenden. Da man an diesem Punkt – letztlich – ohne Rückgriff auf die beherrschenden rechts- und sozialethischen Grundsätze nicht verzichten kann, stellt sich die Frage, wie die Grundsätze dieser Ethik operationalisiert werden können. Es gilt, meine ich, jeweils Anhaltspunkte für die herrschende Rechts- und Sozialethik empirisch zu eruieren, wie sie im Wesentlichen in der Verfassung, in Normen der überkommenen Rechtsordnung und in den Erkenntnissen der Rechtsprechung feststellbar sind und sich als Wertungen durchsetzen, die in der Gemeinschaft konsensfähig sind14. Ich gehe hier nicht der Frage nach, ob solche herrschenden Vorstellungen „wahrheitsfähig“ sind, ob man sie wahr oder falsch nennen kann. Jedenfalls ist der Rückgriff auf den breitestmöglichen Konsens, für die richterlichen Wertungsprobleme legitim, auch ohne Rücksicht darauf, ob er „Wahrheiten“ erschließt: Schon die praktische Notwendigkeit, menschliches Verhalten friedlich zu koordinieren, erfordert Lösungen gesellschaftlich relevanter Gerechtigkeitsprobleme auf der Basis Dazu ebd. Ebd.; R. Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 3. Aufl., München 1980, S. 113 ff. 12 Zur Begründung der Gerechtigkeitsauffassungen vgl. eingehend I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, Freiburg 1977, S. 99 ff. 13 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 286. 14 Im Ergebnis ebenso Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte, S. 152. Zum Problem der Rechtfertigung und zur Wertungsproblematik weiterführend Tammelo, S. 113; vgl. auch H.-U. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956. 10 11

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

eines empirisch feststellbaren maximalen Konsenses, wie dies vor allem durch das Demokratieprinzip nahe gelegt wird15. Dabei mag hier offen bleiben, welche Regeln dort zu befolgen sind, wo die herrschenden, sozialethischen Vorstellungen Widersprüche aufweisen oder sonst eine hinreichende Orientierung nicht gewährleisten. In solchen Fällen trägt die juristische und insbesondere die richterliche Entscheidung in mancher Hinsicht Züge eines rechtsethischen Wagnisses, sodass richterliche Entscheidungen auf einen „Entwurf künftiger Sozialgestaltung“ (Zippelius) hinauslaufen16 und damit eine Änderung bestehender Zustände einleiten können (sozialer Wandel durch richterliche Innovation). Mit diesem Problem berührt sich eng ein weiterer Aspekt der richterlichen Entscheidung, den ich hier nennen möchte, die immer wieder erörterte Frage der so genannten „unechten Lücken“, ein Begriff freilich, der in als „offen“ bezeichnete Rechtssysteme schwerlich unterzubringen ist, ungeachtet dessen aber jedenfalls nach wie vor in der juristischen Methodenlehre unangefochten verwendet wird. Es handelt sich um ein Feld, auf dem der Richter nicht mehr „aus dem Gesetz“ judiziert, sondern das Gesetz praktisch verändert und „fortschreibt“. Er überschreitet die möglichen Wortbedeutungen, die nach dem Sprachgebrauch der Rechtsgemeinschaft mit den Gesetzesworten überhaupt verbunden werden können17. Es handelt sich um richterliche Eigenschöpfungen, um „praeter legem“ hergestelltes Richterrecht. Zentral in diesem Rahmen ist die Frage, wann und warum Richter ein Gesetz überhaupt für ergänzungsbedürftig halten, sei es, dass sie ihm eine Erweiterung seines Tatbestands oder eine einschränkende Regelung hinzufügen möchten18. Eine solche Ergänzungsbedürftigkeit nehmen sie darin an, wenn die kodifizierte Regelung zu Ergebnissen führt, die den Grundsätzen der herrschenden Rechts- und Sozialethik widersprechen19. An der „kritischen Funktion“ dieser Grundsätze erweist ein als offen verstandenes Rechtssystem das Unvermögendes Gesetzes, ein jedes Rechtsproblem gerecht zu lösen; es geht dann nicht eigentlich um richterliche „Lückenausfüllung“. Vielmehr ist erkennbar, dass der Richter hier in einem arbeitsteiligen Prozess der Rechtsfindung mit dem Gesetzgeber steht: der Richter fungiert – sieht man es auf dem Hintergrund der Gewaltenteilungsdoktrin – als (Ersatz-)Gesetzgeber 20. Zum Ganzen vgl. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte, S. 152. Vgl. ebd. 17 Zutreffend ebd.; weiterführend K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. Stuttgart 1977, S. 138 ff., 281 ff. 18 Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte, S. 152. 19 Ebd. 20 Nichts anderes gilt im Ergebnis für die Analogie. diese setzt „hinter der Auslegung“ (Engisch), auch erst nach der „extensiven Auslegung“ ein. Da nicht mit rein logischen Mitteln entschieden werden kann, ob ein Analogie- oder ein Umkehrschluss in Betracht kommt, avanciert hier der vieldeutige Begriff der Ähnlichkeit zum Angelpunkt des Schließens (vgl. ausführlich Engisch, S. 148 ff.). Die Bestimmung der relevanten Momente der Ähnlichkeit 15 16

Rechtstheoretische Aspekte zur richterlichen Entscheidung

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II. Richterliches Entscheidungsverhalten: Tabu oder Terrain der Rechtstheorie? Das Problem der Wertung und ihrer Entscheidungsbezogenheit ist die grundlegende Naht- und Schaltstelle, an der die Jurisprudenz und insbesondere die richterliche Entscheidungstätigkeit mit der juristischen Methodenlehre-, der Wissenschaftstheorie- und den Verhaltenswissenschaften „verzahnt“ ist. Wertungen scheinen sich von empirischen Feststellungen in manchem zu unterscheiden. Ich lasse hier offen, welche Unterschiede dies sind und welche Konsequenzen sich daraus im Einzelnen ergeben21. Eine explikative, empirisch orientierte Rechtswissenschaft kann jedenfalls ohne Berücksichtigung verhaltenstheoretischer, insbesondere entscheidungs- und wertungstheoretischer Aspekte nicht auskommen, wenn es darum geht, die Problematik des richterlichen Entscheidens überhaupt zu erfassen. Wer mit der modernen Wissenschaftslogik von einer „operativen“ Definition des Begriffs „Realität“ ausgeht – alles, worüber man intersubjektiv überprüfbare Aussagen machen kann, heißt „Realität“ –, dem stellt sich die hier klassischerweise auftauchende Frage nach „dem“ Erkenntnisobjekt der Rechtswissenschaft nicht als ein eindeutig entscheidbares Problem dar, über das man ohnehin im Wesentlichen nur aus Zweckmäßigkeitsgründen je streiten konnte (z. B. PopperArgument der administrativen Zweckmäßigkeit der Disziplinabgrenzung): Die Ziele. die in der Rechtswissenschaft verfolgt werden, ergeben sich aus der semantischen Analyse der unter dem Namen „Rechtswissenschaft“ betriebenen Sprachspiele. Hier zeigt sich, dass neben „praktischer Rechtswissenschaft“ „Rechtstechnologie“, „reiner Rechtslehre“, „psychoanalytischer Rechtswissenschaft“, „Rechtslogik“, „juristischer Entscheidungstheorie“, „Rechtswissenschaft als Handlungswissenschaft“ usw. eine ganze Menge verschiedener Sprachspiele betrieben wird, dass dabei Mischformen auftreten und dass innerhalb dieser vielfältigen Sprachspiele, wenn man sie klassifiziert, wieder Gruppen verschiedenartiger Problemstellungen unterschieden werden können. Man wird keine einheitliche Terminologie vorfinden, sondern im Gegenteil feststellen, dass sich im Laufe der Zeit durch Um- und Neuformulierungen der verschiedenen Sichtweisen bzw. „Theorien“ die Perspektiven ändern, die Anwendungsbereiche der Aussagen über die jeweils „traditionellen“ Grenzen hinausprojektiert werden und dass immer wieder neuartige Probleme aufgegriffen werden, die sich keineswegs zwanglos in ein methodologisch vorgezeichnetes Schema einfügen lassen. Unter diesem Aspekt kann es zumindest dann weniger auf ohnehin nicht klar bestimmte „Fachgrenzen“ ankommen, wenn man von gewissen Überschreitungen der hergebrachten Reviergrenzen eine Verbesserung für die Lösung der anstehenden Probleme erwarten läuft dabei auf eine Wertung hinaus, die der Richter im Einzelfall durch Offenlegung seiner Argumentation zu intersubjektivieren hat. 21 Dazu H. Schreiner, die Intersubjektivität von Wertung. Zur Begründbarkeit von Wertungen im Rechtsdenken durch ethisch verpflichtetes Argumentieren, Berlin 1980; M. Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung, München 1979.

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kann. Der traditionelle Problembestand darf nicht dogmatisiert werden, Grenzziehungen dürfen interdisziplinäre Arbeit heute nicht mehr behindern. Die pointierte Herausstellung eines disziplineigenen Erkenntnisobjekts erscheint wissenschaftlich jedenfalls dann nicht vertretbar, wenn dies dazu führt, dass die in der Disziplin gewonnenen Aussagen prinzipiell nicht mehr reduzierbar, d. h. einer Erklärung durch Hypothesen größerer Universalität, die eine weitere Annäherung an die gesuchte Wahrheit darstellen könnten, nicht zugänglich sind, sondern als, „letzte“, nicht mehr hinterfragbare Erkenntnisse zu gelten haben. – Dies vorausgeschickt, betrachte ich richterliches Entscheiden auch und gerade in verhaltenstheoretischer Sicht. Darin berührt sich mein Anliegen eng mit einer älteren rechtstheoretischen Forderung Hecks22, der früh erkannte, dass man „sich über das Verhalten des Richters bei der Fallentscheidung klar werden müsse“. Diese Fragestellung ist im Übrigen seit Jahren bereits als fester Bestandteil der grundlagenorientierten Rechtstheorie anzusehen23. Es ist jedoch hier nicht meine Absicht, ein umfassendes Modell des richterlichen Entscheidungsverhaltens vorzuführen, dessen theoretische Ausarbeitung in Zukunft erst zu leisten ist. Es kann sich lediglich um einige Ansätze in dieser Richtung handeln, die weiter ausgebaut und präzisiert werden müssen. Man darf also keine Analyse erwarten, die allen Erscheinungsweisen, Beziehungen und Funktionen richterlichen Handelns nachgeht. Zahlreiche zugehörige Probleme kann ich nur am Rande berühren, andere müssen hier ganz beiseite bleiben. Denn das zentrale Anliegen, um das es mir geht, liegt darin, nach den Strukturen und Determinanten richterlichen Entscheidens erst einmal zu fragen. Im Rahmen dieser begrenzten Zielsetzung möchte ich versuchen, den Prozess der richterlichen Entscheidungsfindung in seinen verhaltenstheoretischen Zusammenhängen in knappen Zügen zu skizzieren. Noch eine weitere Klarstellung erscheint mir zuvor notwendig, um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Die Analyse richterlichen Entscheidungsverhaltens, wie sie von der judiziellen Verhaltensforschung betrieben wird, untersucht nur die real geschehende Rechtsfindung. Diese Forschungsrichtung liefert keine Entscheidungslogik für den Richter. Es werden keine Prinzipien postuliert, wie Recht im Einzelfall zu suchen und zu finden ist, damit es „richtig“ praktiziert wird. Anders gesagt: Es geht mir nicht darum zu prüfen und zu zeigen, wie richterlich gedacht werden soll, sondern über mögliche Modellansätze zu reflektieren, die strukturell aufzeigen, wie in der Rechtspraxis tatsächlich judiziert wird. Dies lässt sich, will man einen diesbezüglichen theoretischen Erkenntniszuwachs für die „Rechtstheorie als Grundlagenforschung“ (Krawietz) erzielen, ohne verhaltenstheoretische Analysen nicht erreichen. Blickt man auf die Ph. Heck, Interessenjurisprudenz, Tübingen 1933, S. 15. Hierzu bemerkt I. Tammelo, Was darf und soll man von der Rechtshteorie heute erwarten?, in: A. Peczenik / J. Uusitalo (eds.), Reasoning on Legal Reasoning, Vammala 1979, S. 101: „Heute scheint es undenkbar zu sein, daß die Rechtstheorie . . . etwa von den soziologischen oder psychologischen Methoden absieht“. Vgl. im Übrigen die in Fn. 28 genannten Autoren. 22 23

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herkömmlichen Versuche in den Rechtswissenschaften, vor allem auf das traditionelle Subsumtionsmodell der juristischen Methodenlehre, so fällt auf, dass sich dort durchwegs einseitig gebliebene „normative“ Tendenzen zeigen. Das Subsumtionsmodell beschreibt nicht den juristischen Entscheidungsprozess in seinem tatsächlichen Verlauf. Vor allem versagt es vor dem Phänomen der Gesellschaft gestaltenden richterlichen Innovation. Erst recht ist das Subsumtionsmodell kein zureichendes Erklärungsmodell; sinnvoll lässt es sich lediglich „normativ“ interpretieren. Wollte man dem Modell darüber hinaus eine deskriptiv-analytische Funktion zuschreiben, müsste man unter Ausklammerung des entscheidungsrelevanten Vorverständnisses einen in jeder Hinsicht rational entscheidenden und nur am Bestand der positiven Rechtsnormen (als vollständiger Prämisse) orientierten Rechtsanwender hypostasieren, ein Reduktionismus, der das Modell von vornherein als extrem realitätsfern erscheinen lassen würde. Zur Erklärung von Entscheidungen ist es aber von erheblicher Bedeutung, in welcher Weise kognitive Vorgänge und andere Phänomene im Ablauf der Entscheidung auftreten und wie diese die einzelne Entscheidung in Ablauf und Ergebnis steuern. So möchte ich zur Fortentwicklung der bisherigen Ansätze den Blick ergänzend auf die Art und Weise lenken, in der der richterliche Entscheidungsprozeß in seiner Faktizität verläuft und als Prozessstruktur erfasst werden kann. Nur auf diesen Sektor bezieht sich das Anliegen meiner folgenden Betrachtungen. In diesen Problembereich ist die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung bisher nicht hinreichend eingedrungen. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte schon Rumpf in seiner Schrift „Gesetz und Richter“ (1906) darauf aufmerksam gemacht, dass der Versuch noch ausstehe, über die verschiedenen psychologischen Gesichtspunkte, die für die Rechtsanwendung bedeutsam sind, ins Reine zu kommen. Eine Besserung dieser Situation ist bis heute nur in geringem Maße festzustellen. Es gibt zwar inzwischen Beiträge über Probleme des richterlichen Verhaltens von rechtssoziologischer Seite, die gezeigt haben, dass gesellschaftlich-soziale Einflüsse an der Entscheidungsgestaltung beteiligt sind, die z. B. bestimmte Einstellungen des Richters hervorbringen. So konnte vor allem wahrscheinlich gemacht werden, dass die allgemeine „Zielsetzung“ durch gewisse übergreifende, kulturell bedingte Einflüsse mitbedingt ist, also durch das, was in der soziologischen Theorie als „Ideologie“ der Person bezeichnet wird. Mit der Einsicht in die soziale Abhängigkeit des richterlichen Verhaltens ist das Problem jedoch nicht genügend geklärt. Die Schwierigkeiten beginnen erst hier. Dieser umfassenden Bedeutung entsprechend zeigt sich innerhalb der einschlägigen Disziplinen, insbesondere in der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, immer mehr die Notwendigkeit, wenn auch bisher weniger die Neigung, in eine interdisziplinäre Untersuchung über Entscheidungsverhalten des Richters einzutreten. Dabei entspricht es überkommener wissenschaftlicher Arbeitsteilung, dass die Verhaltenswissenschaften das Entscheidungsgeschehen nur unter den ihr eigenen Erkenntnisprinzipien untersuchen. Sie müssen zur Aufdeckung der speziell juristischen Seiten des Entscheidungsproblems mit den Rechtswissenschaften zusammenarbeiten (und um-

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gekehrt). Das Weitergehende der verhaltenstheoretischen Betrachtung liegt dabei für die Rechtswissenschaften vor allem in der Untersuchung der Entscheidung selbst, ihres Zustandekommens, der Prozessphasen, ihrer Heranreifung unter Kollegialbedingungen usw. Während es nun Untersuchungen über richterliches Entscheidungsverhalten und damit verbundene spezielle Probleme z. B. in der psychologischen Forschung bisher kaum gab, zeigen sich in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre hin und wieder durchaus schon Ansätze zur Betrachtung auch des empirischen Bereichs des richterlichen Verhaltens. Dabei fällt jedoch auf, dass zu keiner Zeit verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse in einer Weise und in einem Umfang rezipiert bzw. integriert worden sind, wie dies in anderen Wissenschaftszweigen – z. B. in der ökonomischen Verhaltensforschung – seit langem bereits geschehen ist. Die juristischen Untersuchungen über richterliches Entscheiden sahen bisher ihren Schwerpunkt mehr oder weniger im Bereich des Normativen, der Rechtslogik, der Methodenfragen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist „Rechtsanwendung“ in der Form des Judizierens noch kaum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung gewesen. Auf zwei dieser Ausnahmen – Viehweg und Esser – möchte ich exemplarisch und kurz eingehen: Viehweg24 vertritt die These, dass in der praktischen Rechtsanwendung vom „logischen Rechtssystem“ nicht viel geblieben sei; wo man hinsehe, treffe man die Topik, und die Kategorie des Deduktivsystems erscheine ziemlich unangemessen, ja fast nur als „Sichtbehinderung“: sie versperre den Blick auf die „tatsächliche Struktur“, d. h. auf die Rechtspraxis, deren Eigenart es sei, dass die juristische Subsumtion zwar eine nicht unbedeutende Rolle spiele, aber als Begründung aus dem Rechtssystem nicht dasjenige Gewicht besitze, das ihr bei Vorliegen eines perfekten Systems unbestreitbar zukäme. Den Schwerpunkt der richterlichen Operationen bildet also nur scheinbar überwiegend die Deduktion aus dem Rechtssystem, er liegt ganz offensichtlich – wie Viehweg es genannt hat – in der Invention und damit mehr oder weniger unausdrücklich in einer vom „Ergebnisdenken“ bestimmten Rechtsfindung. Dies bedeutet, dass die richterliche Praxis nur streckenweise sich in subsumtiv-deduktivistisch programmierten Problemlösungsprozessen vollzieht, dass sie vielmehr wegen der Offenheit des Rechtssystems, d. h. der Informationslücken des Systems und der daraus resultierenden normativen Ungewissheitssituationen, überwiegend echten Entscheidungscharakter hat. Mit dem Urteil greift der Richter, der dessen Folgen antizipiert, Gesellschaft gestaltend vorwärts in die Zeit und trägt ein entsprechendes Ungewissheitsrisiko, was wiederum für die Entscheidung selbst und ihre Begründung einen bestimmten Rückkopplungseffekt hat. Ähnlich liegt – bei allen sonstigen Verschiedenheiten – der Ansatz von Esser25, der lebensnahes Judizieren in Verbindung bringt mit Begriffen wie „praktisches 24 25

Th. Vieweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. München 1974. J. Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, Karlsruhe 1965.

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Bedürfnis“, „lebensnahe Betrachtungsweise“, „anstößiges Ergebnis“. Esser sagt von der neueren Judikatur, der Richter scheue nicht mehr den Durchgriff auf Wertungsfragen, bleibe nicht im System und traditioneller Dogmatik stecken; er bediene sich einer für frühere Generationen „unerhört direkten Ansprache“ bei der Behandlung der aufgeworfenen Rechtsfragen, nehme dabei mehr „Rücksicht auf die Mentalität der Rechtssuchenden“. Esser lenkt den Blick auf die Situation, in der der Richter steht, wenn keine eingeübte Überlegung das gerechte Ergebnis gewährleistet. In solchen Fällen werde die Entscheidung nicht unabhängig von der positiven Möglichkeit und Begründbarkeit gefunden. In der Rechtsepoche der Gegenwart beginnt sich die richterliche Rechtsfindung aus ihren positivistischen Zwängen langsam zu lösen. Im Bereich des Zivilrechts ist dies ebenso feststellbar wie im Verwaltungs- und Verfassungsrecht. Zwar scheint nach wie vor die Menge der möglichen Lösungen in jedem Fall begrenzt zu sein, aber dieses Quantum ist fast nie zu nur einer einzigen Lösung bzw. Lösungsmöglichkeit reduziert. Man stellt fest, dass selbst weitgehend positivistisch gebundene Rechtslagen einen gewissen Lösungsspielraum beinhalten, in welchem der Richter eine der möglichen Lösungen sucht. Immer häufiger hält er es für geboten, die vom Gesetz bereitgehaltene Regelung – um den Preis deutlicherer Rechtssicherheit – im Wege richterlicher Rechtsgestaltung zu modifizieren, zu ersetzen, bei fehlender bzw. unzureichender Normierung überhaupt erst zu schaffen: Die moderne Gesetzgebung rezipiert – umgekehrt – schlechtweg vorhandenes Richterrecht. Aber die am Bindungs-Denken orientierte Fallentscheidung dominiert nach wie vor, die überkommenen Auslegungsideologien der Jahrhundertwende beherrschen auch heute noch weithin das Verhalten der Praxis. An diesem Zustand ist trotz zahlreicher neuerer Ansätze von rechtssoziologischer Seite nicht vorbeizudeuten. Man bedient sich zwar zunehmend mehr der Sprache, nicht aber der Methode des analytischen bzw. kritischen Realismus, sondern stützt die alten konstruktiven Argumente allenfalls durch Billigkeitserwägungen, die das Schulsystem scheinbar nicht erschüttern. Die sozialen und technischen Wandlungen unseres Jahrhunderts haben zusammen mit den Erkenntnissen der Sozialwissenschaften die offizielle Vorstellung eines intakten Gesetzessystems, dem der Richter unterworfen sei, in latente Krisen und Konflikte gebracht, nicht aber zu beseitigen vermocht. Festzustellen ist jedoch, dass eine Art „Regelskeptizismus“ in der westdeutschen Rechtspraxis an Boden zu gewinnen scheint: Das Gesetz ist nur ein Lösungsvorschlag – und oft nicht eben der beste. In diesem Dilemma bewegt sich die moderne „Gesetzesauslegung“, deren neuralgischer Punkt auch heute noch formelhaft dahin umschrieben wird, dass – so die herrschende Methodenlehre – das Gesetz klüger sein kann als die, die es schufen. Der je entscheidende Richter – wenn auch vor ihm andere – ist es hiernach, der den so genannten „objektiven Sinn“ eines Gesetzes jeweils neu integriert zu dem, was über das Wissen und die Ziele des Gesetzgebers hinaus als „immanenter Ordnungsgedanke“ einer Norm aufgefasst wird. Was in diesen – bisher ebenso verfehlten wie oftmals wiederholten – Betrachtungen immer noch weitgehend fehlt, ist

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die Untersuchung des richterlichen Verhaltens unter Gesichtspunkten der zunehmend etablierten Entscheidungsforschung, die m. E. zu einem grundlegenden Einbruch in die Bestände der herkömmlichen Methodenlehre führt, und – vor allem mit Bezug auf die kollegialgerichtliche Arbeit – unter Gesichtspunkten der Kommunikations- und Gruppentheorie, die von der Rechtstheorie bisher gemieden wird. Dieser Mangel erklärt sich allerdings auch aus der deutlichen Lückenhaftigkeit. den die sozial wissenschaftliche Forschung insoweit selbst noch aufweist. Es stehen Untersuchungen noch aus, wie die „verhaltensmäßige“ Seite der richterlichen Entscheidung bei variablen sozialen bzw. sozialpsychologischen Gegebenheiten, d. h. das angepasste Reagieren auf eine sich ständig wandelnde Umwelt beschaffen ist. Fehlt diese Fragestellung noch ganz, so bahnt sich die Analyse der kognitiven und motivationalen Implikationen der Entscheidung wenigstens schrittweise, wenngleich. zögernd, jetzt an. Selbst etwa bei Engisch26 findet man immerhin schon folgende Sätze: „Die Persönlichkeit läßt sich bei einer rechtlichen Entscheidung als mitentscheidende Instanz nie ausschalten. Sie geht in die Entscheidung ein und trägt sie“. Geht man von dieser empirischen Aussage aus, ist es einigermaßen erstaunlich, dass der Einfluss des in der juristischen Entscheidungslehre meist ausgeklammerten anthropologischen Bezugs bisher wissenschaftlich stark vernachlässigt worden ist. Von vornherein ist dabei klarzustellen, dass eine judizielle Verhaltenstheorie als Teil einer explikativ sich verstehenden Rechtstheorie letztlich nicht ohne die Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften auskommen kann. Der Nutzen dieser erweiterten Fragestellung liegt in der Aufgeschlossenheit gerade gegenüber Ergebnissen und Ansätzen anderer Wissenschaftszweige. Grundlage eines solchen weiterführenden Ansatzes ist die Erkenntnis, dass Judizieren zutiefst „menschliches Sozialverhalten“ ist, sodass es nicht sinnvoll erscheint, es auf das engere Revier der klassischen Jurisprudenz zu beschränken und den bedenklich einseitigen Versuch zu unternehmen, es lediglich mit den Kategorien dieser Disziplin „erklären“ zu wollen. Treffend formuliert Suhr27: „Wer richterliche Erneuerungsprozesse in Theorie fassen will, darf den Richter nicht in theoretischer Subjektvergessenheit untergehen lassen. Ein wichtiger Flaschenhals sämtlicher richterlicher Rechtserneuerungsprozesse im großen wie im kleinen ist nun einmal der Richter selbst . . .“. Nach Suhr kommt es auf die Momente und Strukturen an, die den Richter motivieren, die eingefahrenen Gleise der Dogmatik zu verlassen. Diese inneren Strukturen und Antriebe könnten nicht angemessen erfasst werden, wenn man sich auf einen „offenen oder versteckten psychologischen Reduktionismus“ einlasse, wie auch ein soziologischer oder ein „unpsychologischer entscheidungstheoretischer Reduktionismus“ sich einseitig auswirken müsse. K. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, München 1963, S. 22. D. Suhr, Richterliches Selbstverständnis im Hinblick auf Fragen der Rechtserneuerung, in: J. Harenburg / A. Podlech / B. Schlink, Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung. Beiträge zu einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, Darmstadt 1980, S. 255. 26 27

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Geht man an die beiden fundamentalen Bereiche der richterlichen Arbeit heran – ich meine die Tatsachenfeststellung und die konkrete Rechtssatzermittlung –, so findet man als erstes, dass diese beiden Geschehensreihen so aufeinander hingeordnet sind, dass in der richterlichen Sichtweise die eine nicht ohne die andere aktualisiert wird. Das bedeutet: Tatsachen werden im Hinblick auf Rechtssätze ermittelt, Rechtssätze ihrerseits sind nur im Hinblick auf Tatsachen entscheidungsbezogen auffindbar. Man hat diese Wechselwirkung funktionell darin erblickt, dass in diesem „Hin- und Herwandern des Blickes“ (Engisch) der ermittelte Sachverhalt und diejenigen Rechtssätze, die bei erster Hinsicht auch im Blick auf ein eventuell wünschbares Ergebnis möglicherweise anwendbar sind, einander so weit angenähert werden, bis die rechtliche Beurteilung gelingt. Allerdings ist hierbei noch ausgeklammert, was der Richter von sich aus zum Fortgang der Tatsachenermittlung beitragen muss, wenn so etwas wie ein „Sachverhalt“ überhaupt zustande kommen soll. Das, was sich für die Wahrnehmung aus dem Empfindungsfeld heraushebt, ist von der Thematik der Strebungen abhängig, während das, was keine Beziehung zur Thematik der Strebungen hat, mehr oder weniger ungegliederter oder gar nicht bemerkter Hintergrund bleibt. Die richterliche Tatsachenfeststellung ist also nicht nur Wahrnehmung und kategoriale Verarbeitung des Wahrgenommenen: sie ist vielmehr von vornherein Wahrnehmung für bestimmte Zwecke, sie ist zugleich Untersuchung. Untersuchung setzt Fragestellung voraus. Denn das Denken wird immer gesteuert von der Dynamik und der Thematik des dahinter stehenden Fragens und Suchens. Der Richter muss also, mit anderen Worten, wissen, was er wissen will. Die rechtserheblichen Züge eines Sachverhalts können nur erfragt werden, wenn dieser unter dem Blick der rechtlichen Regelungen gesehen wird. Bereits dabei spielen – vor allem unter dem Gesichtspunkt angestrebter „Subsumtionsgeeignetheit“ – Sinn- und Wertgesichtspunkte eine maßgebende Rolle. Dass z. B. zwei Personen einen Vertrag geschlossen haben, wird auch bei genauester Beschreibung ihres Verhaltens und völliger Einsicht in den Vorgang nicht erfasst, solange an ihn nicht der Vertragsbegriff angesetzt wird. Der Zusammenstoß zweier Fahrzeuge kann z. B. durch noch so präzise Messungen beschrieben sein, als „Unfall“ ist damit dieses Ereignis noch nicht erfasst. Es liegt hier somit jeweils ein Geschehen voraus, das nur durch Sinn gebendes und daher nicht wertindifferentes Erfassen als das erkannt werden kann, als was es dann „festgestellt“ wird. Ich möchte nun zu einigen weiteren charakteristischen Phänomenen übergehen, die die Entscheidungsfindung vor allem bei rechtlich schwierigen Prozessstoffen in der Praxis kennzeichnen. Vergegenwärtigt man sich den Richter in einem Prozess, dessen Ergebnis für ihn – wie in der Praxis nicht selten – über längere Zeit hinweg nicht eindeutig, sondern unklar und in der Lösung zwiespältig erscheint, so lässt sich dieser Zustand als eine „Konfliktsituation“ (nicht notwendig freilich in einem rein intrapsychischen Sinne) auffassen, in der für relevant gehaltene Tendenzen (Alternativen) von zunächst meist annähernd gleicher Stärke und entgegen gesetzter Richtung auf den Richter einwirken. In solchen Fällen liegt eine Spannungslage

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vor, in der sich der Richter mehr oder weniger unvereinbaren Bedeutsamkeiten (Wertungen) unter Entscheidungsdruck ausgesetzt sieht. Die Anwendung des Konfliktbegriffs setzt hier voraus, dass mehrere Möglichkeiten des Entscheidens im Spiel sind, für deren jede etwas spricht. Anders formuliert: Der Aufforderungscharakter der Entscheidungssituation, in der der Richter steht, ist mehrdimensional; die Rechtslage ist nicht eindeutig, sondern multivalent. Diese Mehrdeutigkeit der Entscheidungssituation ist für den Richter dann gegeben, wenn mehrere entgegen gesetzt gerichtete Wertsysteme gleichzeitig wirksam sind, die regelmäßig nur durch die Wahl einer bestimmten Entscheidungsalternative ausgeglichen werden. Wir können also sagen, dass sich unter den genannten Annahmen das richterliche Entscheidungsverhalten darstellt als eine Form des Reagierens auf das gleichzeitige Bestehen oder Anlaufen von mindestens zwei Verhaltenstendenzen, die aus einer wenigstens zweidimensionalen Aufforderungsqualität resultieren. Dieser Aufforderungscharakter ist ein grundlegender Faktor für das Ingangkommen und den weiteren Ablauf des Entscheidungsgeschehens. Mit dem Herankommen der eigentlichen Entscheidungssituation geht grundsätzlich eine bestimmte Belastungsprobe größerer oder geringerer Intensität einher (was wohl jeder verantwortungsbewusst arbeitende Richter bestätigen könnte). Die Problemsituation der Entscheidung und ihre rechtliche Mehrdeutigkeit bringen eine für den Entscheidungsablauf „störende“ Wirkung mit sich. Aber dieser Prozess ist eingelagert in eine Geschehenstendenz, die auf Ausgleichung gerichtet ist. Die neuere Entscheidungspsychologie spricht hier von „Umzentrierungen“ und „Umstrukturierungen“. Gemeint sind Bemühungen, die auf die Herstellung einer Entstörung der Entscheidungslage gerichtet sind. Wir sagten bereits, dass die Forderung oder der Appell, der in der Ausgangslage der Entscheidung liegt, ausgeht von der dieser Lage zunächst eigenen Unorientiertheit. Der Inhalt dieser Forderung bezieht sich auf ein Verhalten vom Typus des Suchens, d. h. Klärung im Sinne von Situationsvereindeutigung. Dazu ist erstens Information und zweitens Orientierung erforderlich. Orientierung meint dabei nicht nur einen intellektuellen Vorgang, sondern zugleich „Stimmigkeit“ in den Beziehungen zwischen Verhalten und Situation: Herstellung einer Einheit zwischen Persönlichkeit und Umwelt als konstituierendes Element der Entscheidung, die die grundsätzlich bestehende Richtungsmehrheit der möglichen Situationsbeurteilungen aufhebt und zur Situationseindeutigkeit führt. Was aber spielt sich hier – konkret gesprochen – eigentlich ab? Es handelt sich, in verhaltenstheoretischer Sichtweise, um einen komplexen Regulierungsprozess. Regulierung bedeutet hier eine ganze Skala von Umstrukturierungsvorgängen: Man denke erstens an das dem Juristen geläufige, fast automatisch sich ereignende Vorprellen und Eröffnen einer rechtlichen Einstiegsmöglichkeit, also an den gleichsam ersten Lösungszugang (z. B. Heranziehung einer Anspruchsgrundlage, eines Prüfungsmaßstabs). Man denke zweitens – sehr vereinfacht – an diejenigen – nicht selten über zahlreiche „Umwege“ geführten – Bemühungen, die die Vereindeutigung der rechtlichen Problemsituation schließlich so nahe bringen, dass sich abschließend sagen lässt:

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„. . . nach alledem ergibt sich, dass . . . usw.“ Seinen Ausgang nimmt ein solches Problemlösungsverhalten jedenfalls von der Tatsache, dass die Gegebenheiten der rechtlichen Problemsituation zunächst nicht recht zueinander passen, dass störende Momente den Durchblick auf die Lösung des Entscheidungsproblems verstellen, wodurch die gesamte Situation der Entscheidung den Charakter des typisch Ungeschlossenen und Unausgeglichenen erhalten kann. Der anzustrebende Zustand rechtlich optimaler Problembewältigung wird über zahlreiche Umformungsoperationen bzw. Umstrukturierungen erreicht, bevor die Endstruktur der Entscheidung über Etappen solcher Operationen in zahlreichen Mikroschritten erreicht wird. Es handelt sich dabei um ein typisches Merkmal juristischer Problemlösungsprozesse, bei denen es zu derselben Gegebenheit – möglicherweise – sehr verschiedene Bedeutungsperspektiven gibt (was die hergebrachte juristische Doktrin von der „einzig richtigen“ Entscheidung konsequenterweise nur bestreiten kann). Es lässt sich nun vorläufig festhalten: Mit der Aktivierung des Reaktionspotentials und dessen Zentrierung auf die Deutung der zu entscheidenden Situation und ferner mit der Einregulierung dieser Deutungsvorgänge auf die Ebene eines bestimmten rechtlichen Sinnhintergrundes sind wesentliche Bedingungen der Orientierungsphase erfüllt. Allerdings ist damit das Stadium der Unentschiedenheit grundsätzlich nicht beendet. Was noch fehlt, ist der Eintritt in die Entschlussphase, die die Problemlösung herbeiführt. Die häufigste Form eines derartigen Übergangs ist die Periode einer die relevanten Gesichtspunkte berücksichtigenden, abwägenden Auseinandersetzung, die bis zu einem mehr oder minder abgerundeten Entschluss geführt wird. Die Verteilung der Gewichte tritt hierbei meist durch den Deutungsvorgang selbst ein, wobei sich das Geschehen im Sinne der jeweils für größer (erheblicher) gehaltenen rechtlich konsonanten Informationsgewichtigkeit reguliert. Das sich damit einstellende Lösungsbewusstsein ist selbstverständlich kein geeigneter Prüfstein für die Richtigkeit einer Entscheidung. Es ist lediglich eine Erlebnisqualität, die dort auftaucht, wo kognitive Widerstände gegen das abschließende Urteil nicht mehr bestehen. In analog entgegen gesetzten Fällen handelt es sich um Formen der Unentschlossenheit, des Zweifels, der Nichtevidenz. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Brauchbarkeit und Angemessenheit einer Lösung, ihre Vereinbarkeit mit dem so genannten Rechtsgefühl, sicherlich Merkmale sind, die Bedeutung gewinnen können, wenn ein befriedigendes Ergebnis mit den gebräuchlichen Mitteln der juristischen Problemlösungstechnik nicht oder nicht ohne weiteres erreichbar erscheint. In solchen Fällen spielt der Praktikabilitätseffekt der Entscheidung eine besondere Rolle. Mit ihm verbindet sich oft die Überzeugung, zutreffend entschieden zu haben, auch wenn sich später einmal Zweifel unter der Einwirkung dissonanter Informationen ergeben sollten. Überzeugung und Lösungsbewusstsein können nicht ausschließlich dem rationalen Bereich zugeordnet werden. Wir haben es hier vielmehr mit teilweise oder

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überwiegend gefühlsbedingten Erscheinungen zu tun, mit Erlebnisformen der Widerspruchslosigkeit und Praktikabilität von eminent vitaler Bedeutung. Ein rational gefundener Zusammenhang zwischen dem Moment, das real den Ausschlag gab, und dem Endergebnis muss nicht ohne weiteres gegeben sein. Erinnert sei nur an die gar nicht so seltene Situation, dass man sich bereits einstweilen entscheidet, längst bevor man die erfassbaren Alternativen alle gewürdigt hat. Die im Entscheidungsverlauf gegebene Aktivierung einer Reserve von Erfahrungen und Kenntnissen sowie die Mobilisierung von Forderungen, die für die Deutung und Entscheidung der Fallsituation wesentlich sind, führen dazu, dass der Ablauf und das Finden der Entscheidung auch in einer weitgehenden Konfrontation der früheren und momentanen Persönlichkeit des Richters stattfindet. In dieser Konfrontation ist der Prozess der Entscheidung nicht unabhängig von dem Potential, das sich in Gestalt von Erfahrungen, Bereitschaften, methodischen Praktiken, aber auch in Form von Haltungen, Einstellungen und Erwartungen beim Richter niedergeschlagen hat. Wirkungen eines weiteren bedingenden Faktors sind angesprochen, wenn man an den Einfluss der Präjudizialentscheide denkt. Hier zeigt sich, dass sozusagen die „Argumentationsweise von damals“ einen nicht geringeren Richtung gebenden Einfluss besitzt, als er ansonsten etwa von dem Phänomen der so genannten „herrschenden Meinung“ auszugehen pflegt. Das Nichtzustandekommen, einer eigentlichen „tieferen“ Auseinandersetzung ist nicht selten durch das Festgelegtsein auf das bereits fixierte Präjudiz, das dann nicht mehr weiter hinterfragt wird, oder durch den Rekurs auf die „herrschende Meinung“ bedingt. Die Entscheidung konzentriert sich in solchen Fällen auf die Frage, ob ein Präjudizialfall für die Fallsituation einschlägig ist oder nicht. Damit zeigt sich am Rande zugleich das retardierende Moment, das der Rechtsprechung regelmäßig eigen ist, in seiner System stabilisierenden Funktion. Aber es bleibt – was selten offen eingestanden wird – genügend Unsicherheit, was wiederum vor allem die Prognose juristischer Entscheidung erschwert (bezeichnend das Fehlen einer rechtswissenschaftlichen Theorie der Entscheidungsvorhersage). Denn bei der Entscheidung ist der Richter durch ein eigenes Wertbild, eine Rangordnung von Werten, bestimmt, aus denen sich sein Präferenzsystem ableitet. Da er auch von dort an die Entscheidung herangeht, wird es häufig vorkommen, dass sich mehrere Lösungen ein und desselben Falles im Instanzenzug ergeben. Grund: die rationale Seite der in Betracht kommenden Entscheidungsprinzipien umgreift nicht hinreichend deutlich den offenen und ungelösten Rest der Entscheidung, der sich nicht glatt durch das Gesetz und die juristische Methode dividieren lässt. Gemeint ist jener Bereich, in dem die richterliche Entscheidung nach einer treffenden Formulierung von Konrad Zweigert „existentielle“ Entscheidung ist, die nicht auf dem gesicherten Boden rationaler Regeln, sondern nur „mit Zittern und Zagen“ geleistet werden kann. Von hier aus wird sehr deutlich, dass das Entscheidungsverhalten mehr ist als ein Vorgang bloßer intellektueller Argumentation, dass es sich auch nicht handelt um ein bloßes Vorziehen oder Beiseiteschieben von Aspekten, sondern dass es letztlich um das zentrale personale Geschehen dessen geht, der die Entscheidung verantwortet. Ak-

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tiv und abzielend ist dabei das ganze System „Persönlichkeit“ und nicht ein einzelnes Konstrukt darin, etwa das „Ich“ oder – wie die ältere Psychologie annahm – der „Wille“ im Sinne ausschließlicher Beteiligung. So erscheint die richterliche Entscheidung aus verhaltenstheoretischer Sicht als eine abhängige Variable der vor allem durch den Faktor Entscheidungssubjekt und durch die situativ bedingten Momente definierten Zuordnung von Richterpersönlichkeit, konkreter rechtlichsozialer Situation und gesamtgesellschaftlichem Systemzusammenhang. Alle diese Aspekte, die ich bislang unter der unausdrücklichen Annahme ihrer Geltung speziell für die Einzelrichter-Entscheidung aufgerollt habe, erfahren eine teilweise Modifizierung immer dann, wenn es sich um die Urteilsfindung durch ein Kollegium von Richtern handelt. Damit ist nicht nur eine Organisationsform des Entscheidungsprozesses gemeint, vielmehr ist ein relevanter Ablauf des Entscheidungsgeschehens selbst als eines nunmehr „kollektiv“ gewordenen Prozesses angesprochen. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass Richter in Kollegien sich anders verhalten als Einzelrichter; die situativen Bedingungen sind andere. Die (bloße) Anwesenheit von Mitmenschen hat einen Einfluss auf die Meinungsund Urteilsbildung (Allport u. a.). Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Urteile verschiedener Entscheidungssubjekte sich einander angleichen. In der Gruppe besteht außerdem die Tendenz, extreme Meinungen zu vermeiden und auf mittlere Linien einzuschwenken. Dem Kollegialgedanken liegt die Überlegung zugrunde, dass eine Einzelperson eine Entscheidung zwar vielleicht schnell, sachkundig und auch durchaus zureichend begründet fällen kann, dass einer solchen Entscheidung aber häufig die besondere Ausgewogenheit fehlt, weil die Aktivierung des Informations- und Reaktionspotentials gerade auch durch Diskussion im Sinne einer Maximierung der erheblichen Aspekte eines Rechtsfalles nicht in wünschenswertem Ausmaß gewährleistet ist. Demgegenüber ist mit dem Kollegialprinzip tendenziell eine Steigerung der Arbeitsqualität gegeben, vor allem die Gewähr einer möglichst allseitigen Nachprüfung der abzuklärenden Fragen. Erfahrungsgemäß lassen sich einseitige und „unpraktische“ Auffassungen in einem Kollegialorgan weniger leicht durchsetzen, ganz abgesehen davon, dass mehrköpfige Besetzung die Möglichkeit intersubjektiver Kontrolle allgemein verstärkt, die durch Mitberatung und Mitbeschließung aktiviert werden kann. Kollegialorganisation hat andererseits zur Folge, dass Konflikte vor allem hinsichtlich der Akzeptierbarkeit der vertretenen Meinungen entstehen, was nicht selten zu Kompromissen in widerstreitenden Auffassungen führt. Ein Kollegialorgan besitzt stärker die Neigung, den einmal beschrittenen Weg auch in Zukunft zu gehen. Initiativen zu neuen Lösungen werden weniger häufig ergriffen. Die Grundhaltung zeigt eher bewahrende Tendenz. Die Anonymität, wie sie sich relativ stark mit der Kollegialverfassung verbindet, kann dazu führen, persönliche Verantwortung abzuschwächen. Referent (Berichterstatter) und Vorsitzender haben durchwegs ein starkes Gewicht. Das Verantwortlichkeitsgefühl kann bei den übrigen Beteiligten dann tendenziell abnehmen. Auch ist die Möglichkeit der Koalitionsbildung nicht auszuschließen.28

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III. Entscheidungs- und Wertungsrationalität im richterlichen Entscheidungsprozess Abschließend möchte ich noch kurz die Frage anschneiden, ob es aus den skizzierten Schwierigkeiten, aus der Unsicherheit und der Frage nach der Möglichkeit richtigen Entscheidens, einen befriedigenden Ausweg überhaupt geben kann: Das führt uns wieder zur Methodenfrage zurück. Zunächst: Es war und ist der Irrtum „geschlossener“ Ableitungssysteme, dass sie die Notwendigkeit einer richterlichen Eigenwertung leugnen und rechtliche Normsätze stets als im Luhmannschen Sinne konditional programmiert und damit als unmittelbar anwendungsreife, vollständige Entscheidungskriterien ansehen29. Die Ausklammerung der Wertungsfrage fungiert hier geradezu als Kriterium einer nicht engagierten objektiven Rechtsanwendung30. Die These von der Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich der Wertprämissen bei der richterlichen Entscheidung ist indes schlechthin unhaltbar, da schon das Gesetz selbst den Rückgriff auf, Werte oder auf die nicht im Einzelnen konkretisierte Wertordnung der Verfassung voraussetzt. Richtig ist nur, dass ein solcher Rekurs aus formal-rationaler Sicht oft wenig befriedigen mag, da die im Gesetz angesprochenen Werte selbst interpretationsbedürftig sind, andererseits eine „Ordnung“ der Werte kaum erkennbar ist31. Indes ist auch eine rationale Behandlung der Wertungsvorgänge im Recht durchaus möglich32. Man hat versucht, die formale Struktur des juristischen Wertens strukturell zu erfassen und damit den Anschluss an die formale Präferenztheorie (wie sie zuerst in den Wirtschaftswissenschaften entwickelt wurde) zu erreichen. Die Präferenztheorie ersetzt die apriorisch-emotionale Wertdiskussion durch intersubjektiv nachprüfbare Präferenzen. Als „Wert“ gilt dabei die Vorzugsrelation zwischen zwei Größen A und B. Ein Wert ist danach das Ergebnis eines relativen Ver28 Zum Ganzen vgl. R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck Bern 1996); J. J. Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre, Freiburg 1972; ders., Rationales Entscheiden, München 1974. 29 Siehe dazu und zum Folgenden W. Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt am Main 1974, insbes. S. 105 ff. 30 Ebd. 31 Ebd. Vgl. mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der juristischen Dogmatik W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien – New York 1978, S. 156 f.: „Die kritische Auseinandersetzung mit der konventionellen juristischen Methodik wird vor allem geführt unter Berufung auf die durch empirische Beobachtungen gut bestätigte Annahme, daß im Bereich der Rechtspraxis wie der praktischen Rechtswissenschaft bei allem mehr oder weniger reflektierten Umgang mit den in Rechtstexten enthaltenen Rechtssätzen . . . erfahrungsgemäß die tatsächliche Funktionsweise der dabei angewandten dogmatisch-exegetischen juristischen Methodik im Bewußtsein der an rechtlichen Entscheidungsprozessen beteiligten Juristen bzw. der in der Entscheidungsvorbereitung oder nachträglichen Entscheidungskontrolle tätigen Rechtswissenschaftler enthalten sein kann, aber nicht enthalten sein muß“. 32 A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S. 41.

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gleichs33. Die Operationalisierbarkeit materialer Werte wird erreicht, indem ihnen subjektive Präferenzen zugeordnet und dann nur noch die Zuordnungsergebnisse, nicht mehr die Ausgangswerte selbst, als Werte berücksichtigt werden. Die weitergehende Frage, worauf die Vorzugswürdigkeit beruht, wird von der formalen Präferenztheorie jedoch ausgeklammert und als ein Problem der „Meta-Bewertung gesellschaftlicher Zustände“ angesehen. Dadurch wird das materiale Problem in eine Meta-Wertdiskussion verlagert, für die ebenfalls materiale Werte maßgebend sind (was zu einem unendlichen Regress führt). Das bedeutet, dass es eine Richtigkeit von Präferenzen nicht geben kann, dass es sich allenfalls um einen pragmatischen Konsens hinsichtlich ihrer „Vernünftigkeit“ handeln kann. Man wird daher nicht umhin kommen, Bewertungen als letztlich durch Bezugssysteme kultureller Art und durch in ihnen wurzelnde materiale Wertoptionen determiniert aufzufassen, deren Hinterfragung von einer bestimmten Grenze ab zunehmend schwieriger wird. Was hier aber erreichbar ist, dürfte eine Strukturbeschreibung von Präferenzordnungen sein, die wenigstens das Problem verdeutlicht. Bei einem solchen Verfahren kann zumindest eine Rationalitätsstufe in dem Sinne erreicht werden, dass eine „intersubjektive Diskutierbarkeit“ (Kilian) ermöglicht wird. Dieser Weg erscheint geeignet, wertbezogene Aussagen als relevante Informationen festzustellen und dabei das ebenso viel zitierte wie selten aufgedeckte „Vorverständnis“ zu erfassen. Damit wird zugleich klar, dass jede rationale Entscheidung (die ich prozedural als einen Informationsgewinnungs- und Informationsverarbeitungsprozess kennzeichnen möchte) auf operationalisierten Präferenzen aufzubauen hat, anderenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung nicht rational getroffen ist34. Sehr klar hat Kilian35 formuliert, dass ohne Klärung dieser Vor- und Teilfragen als Informationen eine Endentscheidung rational nicht möglich ist. Daher hat jede Lösung des Hauptentscheidungsproblems im Sinne der Endentscheidung als Ergebnis eine Kette von Vorentscheidungen zu erfassen. Bei diesem Aufbruch ins Vorverständnis kommt es darauf an, die Vorentscheidungskette als solche kontinuierlich zu präzisieren und auf die Endentscheidung hinführend explizit zu machen. Aus der Sicht des Rationalitätspostulats und einer „interdisziplinär orientierten Rechtstheorie gibt es keinen durchgreifenden Grund, an einer Tabuierung auch des Entstehungszusammenhangs richterlicher Entscheidung länger noch festzuhalten. Entdeckungsverfahren werden zwar in der sich als Wissenschaftslogik verstehenden Wissenschaftstheorie als nicht logisch überprüfbar angesehen und deshalb meist ausgeklammert oder vernachlässigt. In neuerer Zeit wird die Zweckmäßigkeit dieser Haltung aber in der Wissenschaftstheorie selbst angezweifelt (z. B. Albert, Staehle) oder sogar als Problemverfehlung (z. B. Spinner) bezeichnet. Kilian, S. 106. Ähnlich ebd., S. 107. Optimistisch hinsichtlich der Frage, ob sich auch die „subjektive Seite“ angemessen in Theorie erfassen lasse, ist Suhr, S. 262 Anm. 7 und 12. 35 Ebd., S. 110. 33 34

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Bei rationaler Entscheidungsverarbeitung hat auch die Festlegung der der richterlichen Entscheidung notwendig vorgelagerten Determinanten rationalen Charakter. Das bedeutet, dass als Entscheidung in diesem Sinne jede bewusste Wahl zwischen Alternativen gelten kann, die ein Gericht in einer Phase des Rechtsstreits durch ziel- und methodenbewusste Informationsverarbeitung vornimmt36. Damit führt die informationstheoretische Perspektive zu einer Erfassung der Vorentscheidungskette und derjenigen Kriterien. die den Vorentscheidungen zugrunde liegen. Dieses Verfahren wird nicht bodenlos, wenn man unterscheidet „zwischen der Vorstellung, daß es keinen unbestreitbaren dogmatischen Satz gibt, und der ganz anderen Feststellung, daß es in jedem dogmatischen Streit einen unbestrittenen dogmatischen Hintergrund geben muß“37. Es ist eine der Zukunftsaufgaben rechtswissenschaftlicher Entscheidungstheorie, diese Problembereiche abzugrenzen und für sie Strukturmodelle zu entwickeln, die eine Auswahl zwischen Informationen ermöglichen und den Informationsverarbeitungsprozess intersubjektiv nachvollziehbar machen. Die (scheinbare) Sicherheit der traditionellen Rechtsanwendungsdoktrin ist damit überwunden. Die Rationalität der richterlichen Rechtsfindung, von jener Lehre mit unzulänglichen Mitteln erstrebt, kann jetzt wenigstens untersucht und weiter problematisiert werden. Eine allein rationale Deduktion der Ergebnisse hat sich als unmöglich erwiesen. Der rational gefundene und nachprüfbare Weg zur Entscheidung auch in seiner Hintergrundstruktur ist es, der dem Richter darzulegen aufgegeben ist. Diese Aufgabe ist trotz zusätzlicher praktischer Schwierigkeiten erfüllbar. Die Stationen der Gesetzesinterpretation, der so genannten Lückenausfüllung, der Rechtsgestaltung usw. verlangen rechtsstaatlicherweise an jeder einzelnen Stelle einen prüfbaren Gedankengang, der nicht nur dem Richter, sondern auch dem Rechtsinteressenten bewusst macht, wie weit in den Problemen seines Falles die Mittel der Ratio und der Erkenntnis reichen und mit welchen Gründen der Richter entscheiden kann. Doktrinarismus und Formalismus weichen so langsam zurück. Die anderen Sozialwissenschaften, die zum Teil das Feld schon erobert haben, das der zumeist nur im Rechtstechnischen versierte Jurist ihnen überlassen hat, haben hier eine spezifische Funktion. Es wäre jedoch zu wünschen, dass sich die rechtswissenschaftlichen Forschungsschritte in Zukunft so spezialisieren, dass die Zusammenarbeit, die für die Problemlösungen erforderlich ist, im Rahmen der Rechtswissenschaften selbst erhalten bleibt38; mag dieser Weg auch nicht eben bequem und noch weniger vielleicht jedermanns Sache sein.

Ebd., S. 112. E. v. Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München 1976, S. 138. 38 Vgl. P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 67. Hier ist u. a. das Problem zu lösen, wie man zwischen alternativen Überzeugungen bzw. inkommensurablen Theorien eine argumentative Verständigung schaffen kann; siehe dazu E. Stüben, Die Struktur und Funktion transzendentaler Argumentationsfiguren. Ein argumentationstheoretischer Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie, Frankfurt am Main – Bern – Las Vegas 1981. 36 37

Wie ist Rechtsprechungslehre als Wissenschaft möglich?* Höchst selten betritt die Rechtswissenschaft in Erweiterung ihrer überkommenen disziplinären Grenzen wissenschaftliches Neuland. Mit einem solchen Ereignis haben wir es zu tun, wenn sie sich nun anschickt, die „metajuristischen Komponenten der Rechtsprechung“ (N. Achterberg) zu thematisieren, um mit diesem – notwendigerweise auch interdisziplinären – Schritt die Rechtsprechung als eines ihrer genuinen Forschungsobjekte umfassender als bisher – insbesondere in ihrem internen und externen komplexen Beziehungsfeld – betrachten zu können. Dieser neue Zweig der Rechtswissenschaft, wie er sich in einer behutsam sich entwickelnden „Rechtsprechungslehre“ 1 inzwischen abzeichnet, fordert eine differenzierte wissenschaftstheoretische Ortsbestimmung. Was benachbarte Teildisziplinen wie die schon „klassisch“ zu nennende Verwaltungslehre2 und die seit langem etablierte Gesetzgebungslehre3 längst hinter sich haben: Untersuchungen zum Objektbereich, zu den Forschungszielen und zur wissenschaftstheoretischen Basis – für den jüngsten Sprössling4, der Rechtswissenschaft, der berufen scheint, die * Erstveröffentlichung in: N. Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium – Münster 1984. 1986, S. 155 – 178. Köln – Berlin – Bonn – München: Heymanns. 1 Vgl. dazu N. Achterberg, Rechtsprechungslehre – Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts. Ausgewählte Abhandlungen 1960 – 1980, Berlin 1980, S. 178 ff.; ders., Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, DVBl. 1984, 1093 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch R. Weimar, Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: E. Mock / R. Jakob (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung, Beiträge zur allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 2 (1983), S. 81 ff.; zur „Theorie der richterlichen Entscheidung“ und zum Ansatz einer „judiziellen Verhaltenslehre“ bereits ders., Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel – Stuttgart 1969 (Neudruck 1996), insbes. S. 16 ff., 150 ff., 203 ff.; ders., Juristische Wahrheit – Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung, in: Memoria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofia del Derecho y Filosofia Social, Mexico 1982, Bd. IX, S. 225 ff.; ders., Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung, in: Richteramt und Rechtsfindung, Bad Boll 1970, S. 23 ff. 2 Statt vieler etwa W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl., Köln 1984, insb. S. 33 ff. 3 Grundlegend P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973; vgl. auch D. Wyduckel, Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik. Aktueller Stand und künftige Entwicklungstendenzen, DVBl. 1982, 1175 ff. 4 Auf längere Sicht könnte ferner an die Etablierung einer nicht auf Kautelarjurisprudenz verkürzten „Rechtsberatungslehre“ gedacht werden, die den von den bisherigen an der Funktionendreiheit – Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung – orientierten Lehren flankierend an die Seite zu stellen wäre, da diese Lehren den wichtigen Rechtspflegebereich der Beratung (z. B. durch Rechtsanwälte) nicht erfassen können.

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Funktionentrias – Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung – hinsichtlich letzterer in einer nicht auf Rechtsdogmatik verengten Weise theoretisch zu fundieren und forschungsstrategisch zu erschließen, stehen solche Analysen noch aus.

I. Rechtsprechungslehre: Begriff, Gegenstand, Funktion Die Bestimmung von Begriff und Gegenstandsbereich einer Rechtsprechungslehre ist keine ganz einfache Aufgabe. Das zeigt die Diskussion um den Rechtsprechungsbegriff und die (auch) davon abhängige Bestimmung des metajuristischen Umfeldes von Rechtsprechung, dessen sich eine Rechtsprechungslehre anzunehmen hat. Die Bemühungen sind von rechtsdogmatischen und von wissenschaftstheoretischen Überlegungen geleitet. Beide Betrachtungsebenen weisen, obwohl verschiedenen Charakters, methodologisch gleich gelagerte Grundbedingungen auf. Keine der bei den Perspektiven kann sich allein der Frage nach dem Begriff und Gegenstand von Rechtsprechungslehre befriedigend annehmen. 1. Einheit oder Konzeptionenpluralismus der Rechtsprechungslehre?

Die Festlegung dessen, was zur Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsbereich gehört, ist – anders als die Feststellung des rechtswissenschaftlich anerkannten Inhalts des Begriffs Rechtsprechung – im Wesentlichen eine Zweckmäßigkeitsfrage: Die. möglichen Antworten lassen sich prinzipiell nicht den Kategorien „wahr – falsch“ zuordnen. Die Festlegung des Gegenstandes von Rechtsprechungslehre ist dabei zunächst einmal eine Frage der Themenwahl; eine solche Entscheidung ist also kritisierbar. Die Gegenstandsbestimmung muss sich als wissenschaftlich ergiebig und als praktisch nutzbringend erweisen. Einen festen Bestand an gesicherten Auffassungen über Inhalt, Umfang und Grenzen einer Rechtsprechungslehre gibt es bisher nicht. Anerkannt ist eigentlich nur, dass in einer Rechtsprechungslehre kein Raum ist für eine Verkürzung auf Rechtsdogmatik. Im Übrigen gibt es Ansätze, die die von einer Rechtsprechungslehre zu bearbeitenden Probleme katalogisieren und für ergänzende und neue Probleme offen halten. Rechtsprechungslehre scheint von der herkömmlichen Systematisierung des Wissensstoffes bislang wie ein „unbewältigter Systemrest“ abgekoppelt. Die Debatte darüber, ob und ggf. wie man Rechtsprechungslehre disziplinär und methodisch bestimmen soll, hat gerade erst begonnen. Es ist zu erwarten, dass sich die Begriffs- und Systembildung kontrovers gestaltet, wobei Schwierigkeiten schon bei der Frage auftauchen können, ob es gelingt, den Gegenstand der Rechtsprechungslehre aus unterschiedlichen Auffassungen etwa nach deren „niedrigstem gemeinsamen Level“ exakt herauszufiltern. Allem Anschein nach wird es kaum „metajuristische Determinanten“ der Recht sprechenden Tätigkeit geben, deren Zugehörigkeit zur Rechtsprechungslehre in der rechtswissenschaftlichen Diskussion von vornherein als gänzlich unkontrovers gelten könnte. Demgemäß lässt sich

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heute noch kaum abschätzen, ob etwa eng spezialisierte Zweige wie Rechtssemiotik, Rechtsinformatik, Rechtspsychologie usw. als Teilgebiete in eine Rechtsprechungslehre rasch Eingang finden werden. Hier kann einführend nur – sehr vereinfacht – skizziert werden, welche Möglichkeiten für eine Gegenstandsbestimmung der Rechtsprechungslehre überhaupt in Betracht gezogen werden können. Solche Bestimmungen legen entweder umrisshaft fest, was innerhalb der neuen Disziplin behandelt werden soll, oder sie sind auf einzelne Problembereiche bezogen und bestehen aus einer empirischen oder logischen Analyse des Gegenstands, auf den sich der jeweilige Problembereich bezieht. Dabei sind immer schon entsprechende disziplinäre Konzepte vorausge-setzt. Bestimmungen des Gegenstands bzw. Problembereichs von Rechtsprechungslehre sind eng mit ihrem Wesen und ihrer Funktion korreliert und sozusagen als Antwort auf die Frage „Was ist und wozu Rechtsprechungslehre?“ gedacht. Die Art und Weise, in der Antworten auf diese Frage versucht werden können, lässt sich regelmäßig zurückführen auf die Ansicht, dass man nur dann sinnvoll über etwas reden kann, wenn man es zuvor definiert habe. Als Beispiele für solche Bestimmungsversuche seien hier genannt: – R. Walter: „Eine Rechtsprechungslehre kann nicht nur eine Art von Rechtsdogmatik sein. Denn eben wo die Dogmatik schweigen muß (und: sollte), dort nämlich, wo eine exakt betriebene Dogmatik nur die Grenzen eines Spielraums aufzeigen kann, beginnt der eigentliche Problembereich einer spezifischen Rechtsprechungslehre.“5 – N. Achterberg: „Zweck einer Rechtsprechungslehre muß es sein, das metajuristische Umfeld der Rechtsprechung zu erforschen, um hierdurch Einsichten in das Wesen der Rechtsprechung zu erhalten – ist es doch bis heute merkwürdigerweise nicht einmal gelungen, einen Konsens über ihren Begriff zu erlangen. . . . Ziel der Rechtsprechungslehre muß es also sein, die bisher noch bestehende Lücke in der Entwicklung einer metajuristischen Funktionenlehre zu schließen. . . . Inhalt der Rechtsprechungslehre muß es sein, die Rechtsprechung zu einem metajuristischen – insbesondere philosophischen und soziologischen – Umfeld in Beziehung zu setzen.“6 – R. De Giorgi: „. . . (der Autor) plädiert . . . für eine Problemsicht, welche die Rechtsprechung in systemtheoretischer Perspektive als Teil des staatlich organisierten Rechtssystems und der Gesellschaft behandelt. . . . Im Vordergrund steht 5 R. Walter, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ – Die Thesen der Referenten, Münster 1984, S. 43 ff.; ders., Rechtsprechung als Rechtsvollzug und als Rechtsschöpfung, in: N. Achterberg (Hrsg.), S. 491. 6 Achterberg, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 3 ff.; ders., Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, in: ders. (Hrsg.), S. 3.

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dabei ein handlungstheoretisches Modell der Rechtsprechung, das sich nicht allein auf Sprechhandlungen beschränkt.“7 – E. Mock: „In der Darstellung der Elemente der Verfahrensgebundenheit, der Intention allgemeiner Geltung und der Sanktion, illustriert durch Beispiele, die die Ethnologie, der Rechtsvergleich und die Rechtsgeschichte beisteuern; soll so ein Ansatz zu einer Theorie der Rechtsprechung versucht werden.“8 – Th. Öhlinger / M. Stelzer: „Wenn es eine eigenständige Funktion einer ,Rechtsprechungslehre‘ gibt, so liegt sie wohl darin, in empirisch-theoretischer Weise Inhalt und Funktion von Dogmatik aufzudecken. . . . Ein erster Schritt muß dabei eine empirisch-kritische Bestandsaufnahme sein. Auf der Basis eines so ermittelten Materials können vielleicht Gesetzmäßigkeiten – nicht normativ-juristischer, sondern theoretischer Art – ermittelt werden.“9

An diese Bestimmungen schließen sich gewöhnlich weitere an, in denen die zur Klärung verwendeten Begriffe selbst präzisiert werden. Obwohl auch dabei wieder auf andere, nicht immer schon für sich verständliche Begriffe Bezug genommen werden muss, enden hier zumeist die Bemühungen um eine begriffliche Klärung. Das Ziel der definitorischen Bemühungen, Rechtsprechungslehre als einen von anderen Wissenschaftsdisziplinen unterscheidbaren Forschungsbereich exakt zu bestimmen, scheint kaum leicht erreichbar. Die dargestellten Bestimmungsversuche entbehren jedenfalls eines klaren gemeinsamen Nenners; was im Einzelnen an dem komplexen Phänomen Rechtsprechung von einer Rechtsprechungslehre zu untersuchen sei, bleibt unbestimmt und offen; ein Konsens ist hierbei nicht deutlich.

2. Was eigentlich ist Rechtsprechung?

Betrachten wir dazu einige Ansätze, die den Rechtsprechungsbegriff selbst bzw. seine Funktion, d. h. diesen Begriff entweder unabhängig von seiner Relevanz für das Erkenntnisinteresse der auf ihn bezogenen spezifischen Rechtsprechungslehre oder doch nur abgeschwächt in Bezug auf eine Rechtsprechungslehre thematisieren: – R. Walter: „Der Begriff ,Rechtsprechung‘ kann in verschiedener Weise gebildet werden. . . . Es wäre nicht zweckmäßig, ,Rechtsprechung‘ im gegebenen Zusammenhang nur als richterliche Tätigkeit zu begreifen. . . . Die . . . ,Streitentscheidungen‘ aufgrund des Zivilrechts zeigen keine anderen Rechtsanwendungsprob7 R. De Giorgi, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 14; ders., Systemtheoretische Überlegungen zur Rechtsprechung, in: Achterberg (Hrsg.), S. 587. 8 E. Mock, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 26 f.; ders., die antropologischen Determinanten der Rechtsprechung, in: Achterberg (Hrsg.), S. 697. 9 Th. Öhlinger / M. Stelzer, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 28 f.; dies., Rechtsprechung aus der Sicht der Gesetzgebungslehre, in: Achterberg (Hrsg.), S. 409.

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leme, wenn zur Entscheidung ein Verwaltungsorgan an Stelle des üblicherweise kompetenten Richters berufen ist. . . . Rechtsprechung im inhaltlichen Sinne . . . erfaßt also auch weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit.“10 – N. Achterberg: „Unter den Begriffsbestimmungen der Rechtsprechung lassen sich formelle und materielle Definitionen unterscheiden. Am sachgerechtesten erscheint eine gemischt formell-materielle Definition dahingehend, daß Rechtsprechung die verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte umschließt und darüber hinaus Streitentscheidung durch einen unbeteiligten Dritten ist.“11 – K. Helberg: „. . . für die Judikative im spezifischen Sinne (ist) die Applikation von Normen auf Sachverhalte charakteristisch und schon dadurch das Erfordernis der Auslegung von Texten primär relevant.“12 – A. Troller: „Die Rechtsprechung wird von Anfang an (Einreichung der Klage) bis zum Fällen des Urteils durch metajuristische und juristische Elemente determiniert . . . (Der Richter) läßt jedoch diese metajuristische Determinante nur so weit sich auswirken, als ihn nicht juristische Determinanten wie das Gesetz, Urteile und anerkannte Lehre daran hindern oder ihm die eigene Wertung ersparen.“13 – J. Ipsen: „Die den Gerichten zugewiesenen Entscheidungskompetenzen bedingen die Befugnis auch zur Rechts-(fort)bildung. Rechtsprechung ist deshalb notwendig Rechtsbildung – Herausbildung von Richterrecht – und überschneidet sich deshalb mit Gesetzgebung.“14 – Th. Raiser: „Insgesamt spielt die richterliche Fortbildung im Zivilrecht heute keine geringere Rolle als die Gesetzesanwendung. Sie beschränkt sich nicht auf die Ausfüllung von Gesetzeslücken, sondern sieht ihre Aufgabe nicht weniger darin, neue Rechtsgedanken und Rechtsinstitute auszubilden und einzuführen. Sie blickt dabei nicht nur auf die Breitenwirkung und die voraussichtlichen Folgen der Entscheidung. Sie scheut auch vor politischer Stellungnahme nicht zurück.“15 10 Walter, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 43 ff.; ders., in: Achterberg (Hrsg.), S. 491. 11 Achterberg, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5); ders., in: ders. (Hrsg.), S. 3. 12 K. Helberg, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 15; ders., Legitimationskriterien der Rechtsprechung, in: Achterberg (Hrsg.), S. 277. 13 A. Troller, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 42; ders., Juristische und metajuristische Determinanten der Rechtsprechung im Zivilprozeß, in: Achterberg (Hrsg.), S. 713. 14 J. Ipsen, in: Internationales Symposium „Rechtsprechungslehre“ (FN 5), S. 18; ders., Rechtsprechung im Grenzbereich zur Gesetzgebung, in: Achterberg (Hrsg.). 15 Th. Raiser, in: Achterberg (Hrsg.), S. 627; dazu auch Weimar, Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung, in: M. W. Fischer / E. Mock / H. Schreiner (Hrsg.), Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, Stuttgart 1984, S. 155; ders., Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie Beiheft 4 (1982), S. 241 ff.

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Der sich hier abzeichnende Pluralismus in der Frage der Bestimmung dessen, was zur Rechtsprechung gehört und für sie kennzeichnend ist, kann nur als Ausdruck der Komplexität der Rechtsprechungsphänomene selbst gedeutet werden, die sich dem beanspruchten methodischen Instrumentarium bisher offensichtlich nicht einheitlich erschließen. Erst recht ergeben sich Unsicherheiten, wenn es darum geht, den Datenkranz metajuristischer Komponenten der Rechtsprechung zu bestimmen bzw. die Grenzen zu markieren, bis zu denen eine Rechtsprechungslehre die Rechtsprechung zu einem metajuristischen Umfeld – über philosophische und soziologische Relevanzfragen hinaus – in Beziehung zu setzen hat.16 3. Wissenschaftstheoretische Anforderungen an die Gegenstandsbestimmung

Die Eigenständigkeit einer Wissenschaftsdisziplin ist durch ihren Gegenstand bestimmt. Der Gegenstand beeinflusst die Methode, die Auszeichnung des Gegenstandes wiederum erfolgt nicht unabhängig von der gewählten Methode. Die Antwort auf die Frage, wie Rechtsprechungslehre wissenschaftlich konstituierbar ist, hängt hiernach auch davon ab, was zum Gegenstand der Rechtsprechungslehre gemacht wird.17 Bei den Bestimmungsversuchen, die oben vorgestellt wurden, handelt es sich nicht etwa um die Definitionsform der Explikation. 18 Denn sie erfüllen nicht das Kriterium der Exaktheit des Explikats. Man kann allenfalls von Quasi-Explikationen19 sprechen. Solche Quasi-Explikationen des Gegenstands bzw. Problembereichs einer Rechtsprechungslehre, die man bisher antrifft, sind lediglich als Vorschläge zu verstehen, die ihre Zweckmäßigkeit erst über die Fruchtbarkeit der durch sie angeregten Systematisierung des Wissens und einer Disziplinbildung noch zu erweisen haben. 16 Zu der Palette der für die metajuristischen Komponenten der Rechtsprechung relevanten Probleme vgl. den – nicht abschließenden – Katalog bei Achterberg, Rechtsprechungslehre – Desiderat der Wissenschaft (FN 1). 17 Antworten auf solche „Was-Fragen“ sind Definitionen, in denen Wesensbestimmungen vorgenommen werden. Vgl. dazu M. Herberger / D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen. Logik – Semiotik – Erfahrungswissenschaften, Frankfurt am Main 1980, S. 311 ff. 18 Unter einer Explikation versteht man die Überführung eines gegebenen, mehr oder weniger inexakten Begriffs, des Explikandums, in ein exaktes Konzept, das Explikat. Ein Begriff muss, um als adäquates Explikat für ein gegebenes Explikandum gelten zu können, folgende Bedingungen erfüllen: Ähnlichkeit mit dem Explikandum, Exaktheit, Fruchtbarkeit und Einfachheit. 19 Explikationen, die nur bestimmte Aspekte des Explikandums hervorheben, enthalten implizit die Aufforderung, diese Aspekte zu thematisieren und andere zu vernachlässigen. Auf diese Weise können bei einer Gegenstandsbestimmung der Rechtsprechungslehre z. B. die Semiotik, die Psychologie usw. einbezogen oder ausgeschlossen werden. Explikationen sind anders als empirische Analysen weder wahr noch falsch, sie können nur mehr oder weniger zweckmäßig sein. Der Grad ihrer Zweckmäßigkeit ergibt sich aus dem Ausmaß, in dem sie die Adäquatheitsbedingungen erfüllen. Für ein und dasselbe Explikandum sind deshalb mehrere Explikate möglich, die in dieser Beziehung miteinander konkurrieren.

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Die Schwierigkeiten einer Gegenstandsbestimmung treten besonders hervor, wenn man berücksichtigt, dass Rechtsprechungslehre in diesem Zusammenhang einen Begriff bezeichnet, der eine inexakte Ähnlichkeitsklasse als Extension besitzt, für die es Standardmitglieder, Standardnichtmitglieder und neutrale Kandidaten, aber keine exakt bestimmbare Intension gibt. Auch der Begriff „metajuristische Determinanten der Rechtsprechung“ wird zu einem inexakten Begriff.20 Neben Gegenständen, die wohl ohne weiteres einer künftigen Rechtsprechungslehre zugerechnet und damit als positive Kandidaten akzeptiert, und Gegenständen, die man für negative Kandidaten halten wird, gibt es neutrale Kandidaten, an denen bisherige Definitionsversuche oder Gegenstandsbestimmungen, die auf klare Abgrenzungen zielen, scheitern. Diese neutralen Kandidaten ähneln den positiven Kandidaten für andere Teile der Rechtswissenschaft, die ihrerseits negative Kandidaten für die Rechtsprechungslehre sind. So gehören etwa Staatsphilosophie, Gesellschaftstheorie, Rechtspolitik zu den neutralen Kandidaten zwischen Rechtsprechungslehre und Allgemeiner Staatslehre; auch sind z. B. Entscheidungs-, Spielund Wahrscheinlichkeitstheorien, die Semiotik, Linguistik, Kommunikationswissenschaft, Motivations- und Sozialpsychologie u. a. neutrale Kandidaten zwischen Rechtsprechungslehre und juristischer Methodenlehre bzw. Allgemeiner Rechtstheorie, die freilich ihrerseits zunehmend großzügiger in der eigenen Kandidatenwahl verfahren. Dominiert die Zahl neutraler Kandidaten, bilden sich neue Ähnlichkeitsklassen. Entsprechende Disziplinbildung, die die ursprünglich neutralen Kandidaten als Standardmitglieder und die ursprünglichen Standardmitglieder als Standardnichtmitglieder enthalten, werden dann eingeleitet. Auf diese Weise haben sich schon immer „neue“ Disziplinen oder Teildisziplinen – so etwa die Rechtssoziologie, die Rechtspsychologie, die Rechtsanthropologie usw. herausgebildet. Die Entscheidung über Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in einer Ähnlichkeitsklasse steht oder fällt mit der Festlegung der Standardmitglieder und Standardnichtmitglieder, ohne dass eine allgemein verbindliche Festlegung möglich ist. Bei einem Verständnis der Rechtsprechungslehre als Bezeichnung für einen Begriff, der als Extension eine inexakte Ähnlichkeitsklasse besitzt, sind also verschiedene Gegenstandsbestimmungen für eine Rechtsprechungslehre möglich. Dass sich für die – wie immer verstandene – Rechtsprechungslehre ein einziger durchgängiger Minimalbegriff finden lässt, der eine eindeutige Abhebung von anderen Rechtsdisziplinen erlaubt, weil er dort nicht auftritt, ist unwahrscheinlich.

20 Dazu näher Herberger / Simon (FN 17), S. 321 ff. Auf das von der neueren Definitionslehre außerdem geforderte Prinzip der Nicht-Kreativität, das eine Einführung von nichtbegründungsbedürftigen Nominaldefinitionen gestattet, gehe ich hier nicht ein; vgl. dazu dies., S. 324 ff.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung 4. Flexible Grenzbereiche durch erkenntnistheoretische Offenheit

Scheidet hiernach ein ausschließlich formalisierender Ansatz aus, so ist die Bestimmung der Rechtsprechungslehre (auch) an pragmatischen Kriterien – z. B. Gegenstandsbezug, Forschungszweck – zu orientieren. Eine in diesem Sinne durch „erkenntnistheoretische Offenheit“ (N. Achterberg) bestimmte Rechtsprechungslehre, in der verschiedene Faktoren System prägend sind, hat den Vorteil einer relativ hohen Flexibilität der Gegenstandsbestimmung. Weitere (Teil-)Gebiete und metajuristische Determinanten der Rechtsprechung, die noch nicht zur Rechtsprechungslehre gerechnet werden, können auf ihre möglicherweise „rechtsprechungsrelevant“ zu nennende Dimension hin überprüft werden. Was hiernach zu dem Bereich einer Rechtsprechungslehre gehört und was als nicht bereichszugehörig anzusehen ist, wird sich erst im weiteren Entwicklungsprozess der Rechtsprechungslehre selbst ergeben und kann an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden.

5. Problemzuordnung qua „Rechtsprechungsspezifität“?

Konfrontiert man die Situation einer künftigen Rechtsprechungslehre mit der allgemeinen Theorie-Diskussion21, so kommt ihr eine Sonderstellung zu. Dies scheint weniger am Begriff der von ihr zu untersuchenden Rechtsprechung selbst und ihres metajuristischen Umfeldes zu liegen, als vielmehr am Begriff des Rechts, dessen Problematik in das Objektfeld der Rechtsprechungslehre ebenfalls eingeht und die Rechtsprechungslehre aus den übrigen sozialen Handlungswissenschaften in bestimmter Weise heraushebt. Weil es in der Rechtsprechungslehre auch und gerade um den Umgang des Richters mit dem Recht geht, ist ohne eine zumindest ungefähre Abklärung auch des Rechtsbegriffs, der das Erkenntnisinteresse einer Rechtsprechungslehre notwendig berührt, nicht auszukommen. Dabei ist nicht auf eine Wesens-, sondern auf eine Problemdefinition abzustellen22. Aber so zahlreich auch die Abgrenzungen dessen sind, was man unter „Recht“ versteht, was als Spezifikum des Rechtsbegriffs angesehen wird, es geht hier nicht darum, den Begriff des Rechts in seinen verschiedenen Schattierungen und Auswirkungen darzulegen und in seiner Leistungsfähigkeit für eine Rechtsprechungslehre zu prüfen; es kommt hier nur darauf an, den Blick auf die für die Entwicklung der Rechtsprechungslehre überhaupt gegebene Rele21 Zur Theoriediskussion in der Rechtswissenschaft vgl. R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: W. Krawietz / Th. Mayer-Maly / O. Weinberger (Hrsg.), Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für IImar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 ff. m. w. N. 22 Einzelheiten bei R. Weimar, Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken, und Positivismus, in: D. Mayer-Maly / P. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, Berlin 1983, S. 473 ff.

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vanz der wie auch immer vorzunehmenden „Rechtsbestimmung“ und damit auf die besondere, dadurch noch erhöhte Komplexität der problematischen Gegenstandsfrage in der Theoriebildung der Rechtsprechungslehre zu lenken. Unter diesem Gesichtspunkt scheidet zwar die Möglichkeit aus, Rechtsprechungslehre mit Hilfe der Bestimmung eines ihr ganz allein zukommenden Gegenstandsbereichs und / oder durch die Bestimmung einer ihr ganz allein zukommenden Methodik so zu bestimmen, dass alle Rechtsprechungstheoretiker und möglichst auch alle Rechtsdogmatiker dieser Bestimmung beipflichten. Indes ist es sicherlich kein entscheidender Nachteil, wenn Rechtsprechungstheoretiker in vorerst „unpräziser“ Weise den Gegenstand ihrer Wissenschaftsdisziplin entwerfen und nur sehr „weich“ beschreiben23. Im Übrigen sprechen definitorische Defizite, denen man sich im Hinblick auf den „Einheitsbegriff“ einer Rechtsprechungslehre gegenübersieht, keineswegs gegen ihre Erfolgsaussichten in einer künftigen Forschungspraxis. Deshalb sollte man die Frage nach einer abschließenden Definition „der“ Rechtsprechungslehre und „ihres“ Objektfeldes auch wissenschaftstheoretisch nicht überbewerten. Es geht für die Rechtsprechungslehre vielmehr primär darum, bald möglich konkrete Theorie fundierende und Theorie überprüfende Forschung zu betreiben. Dass hierbei vielleicht einige unserer wissenschaftlichen Bemühungen und Ergebnisse nicht demjenigen entsprechen, was einzelne Fachvertreter „Rechtsprechungslehre“ bzw. „Theorie der Rechtsprechung“ nennen, lässt sich nicht ausschließen, wäre aber zu ertragen. Im Übrigen erweist es sich bei Themen etwa der juristischen Entscheidungsforschung, der Verfahrens- und Organisationsforschung, der Rechtsgeschichte, der Rechtssoziologie und in vielen anderen rechtsprechungsrelevanten Gebieten, dass Forschung gerade dort besonders fruchtbar ist, wo man darüber streiten kann, ob es sich gerade noch um etwas handelt, was man zur „Rechtsprechungslehre“ zu zählen habe oder nicht. Zuzugeben ist, dass die „institutionelle Identität“ einer Rechtsprechungslehre durch den strikten Aufweis „ihres“ Gegenstands gefördert würde; in diesem Sinne mag man der Auffassung sein, es werde dem institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb zugute kommen, wenn man Rechtsprechungslehre über einen fixen „Einheitsgegenstand“ präzise zu bestimmen vermag. Man kann es aber auch für zweckmäßig und hinreichend halten, Rechtsprechungslehre pauschal etwa als „Erfahrungs- und / oder Normwissenschaft vom richterlichen Handeln“ zu charakterisieren. Diese Kennzeichnung reicht für praktisch-institutionelle Zwecke aus. Soweit es um Grundlagenforschung im Bereich der Rechtsprechungslehre geht, verblasst die Forderung nach eindeutiger gegenstandsbezogener Bereichsabgrenzung. Darüber hinaus stehen den Tendenzen zur gesteigerten Gewinnung einzel23 Vgl. näher R. Weimar, Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt – Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: W. Krawietz / H. Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 5 (1984), S. 409 ff.

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wissenschaftlicher „Identität“, zur „Uniformierung“ der jeweiligen Einzeldisziplin seit längerem deutliche Trends gegenüber, die „Parzellierung“ der Erkenntnis zu überwinden24. Soweit es sich dabei um kommunikations- und kooperationsfördernde Grenzöffnungen bzw. Grenzbeseitigungen, die zu fruchtbarer multilateraler Kritik führen können, handelt, können diese Tendenzen durchaus begrüßt werden. Das Revierverhalten der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen pflegt in dieser Sicht wenig förderlich zu sein. Daher sollte man den Nutzen einer strikten Bestimmung eines Gegenstandes der Rechtsprechungslehre für den Forschungsbetrieb – gerade auch als Festschreibung des metadogmatischen Umfeldes der Rechtsprechung – unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten nicht überschätzen. Doch lasse ich dies im Weiteren dahingestellt; denn es geht hier nicht darum, ob Wissenschaftsdisziplinen überhaupt einen Gegenstand haben oder haben sollten, und ebenso wenig darum, inwieweit das Vorzeigenkönnen eines strikt bestimmten, einheitlichen Gegenstandes Vorteile für eine Rechtsprechungslehre als wissenschaftliche Institution erbringen würde. Vielmehr ist das „Rechtsprechungslehre“ genannte Forschungsgebiet als ein Gefüge von wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen (und der in deren Rahmen zu entwickelnden Theorieansätze) zu betrachten. Dabei interessiert in erster Linie die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Gefüges von Problemlösungsprozessen. In der hier zugrunde gelegten Perspektive hat Rechtsprechungslehre als künftige wissenschaftliche Disziplin keinen strikt zu bestimmenden „Gegenstand“, sondern eher Ziele, Zwecke, Programme. Gleichviel aber, ob man von Zielen oder von Gegenständen der Rechtsprechungslehre spricht: Es zeigt sich, dass über diese Ziele bzw. Gegenstände noch kein hinreichendes Einvernehmen besteht. Wer Rechtsprechungslehre als Menge von rechtsprechungsspezifischen wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen im vorgenannten Sinne betrachtet, kann als Gegenstand solcher Problemlösungsprozesse den jeweiligen als „problematisch“ erkannten Bereich auffassen. Ein solcher Problembereich („domain“) ist nach Shapere „a body of related information about which there is a problem“25. Im Verständnis von Rechtsprechungslehre als einer Menge von rechtsprechungsspezifischen wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen ist ihr Gegenstand dann die Summe der „domains“ aller Problemlösungsprozesse, die Elemente dieser Menge sind. Nimmt man weiter an, Theorien seien mögliche „Antworten“, die zu den Fragen jeweiliger „domains“ entwickelt werden, so könnte man die Rechtsprechungslehre als Menge von rechtsprechungsspezifischen wissenschaftlichen Problemlösungsprozessen, einschließlich der in ihrem Rahmen zu entwickelnden Theorien, kennzeichnen. Über das Bestimmungsproblem selbst ist damit freilich noch nichts ausgesagt.

Ders. (FN 23), S. 415. D. Shapere, Scientific theories and their domains, in: F. Suppe (Hrsg.), The structures of scientific theories, 2. Aufl., Urbana (Ill.) 1977, S. 11. 24 25

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II. Zur Möglichkeit eines „Einheitsgegenstandes“ der Rechtsprechungslehre Unter dem Einheitsgegenstand einer Wissenschaftsdisziplin lässt sich das Merkmal oder die Merkmalsmehrheit verstehen, die alle Theoriegegenstände bzw. „domains“ der Disziplin gemeinsam haben und nach denen sie sich von anderen Theorie-Gegenständen bzw. „domains“ unterscheiden lassen. Der Einheitsgegenstand der Rechtsprechungslehre wäre danach die Invariante oder eine konjunktive (allenfalls auch eine disjunktive) Verknüpfung von Invarianten der Objektbereiche und erklärten Funktionen und Attribute aller Theorien, die zur Klasse rechtsprechungsspezifischer Theorien bzw. der „domains“ aller Forschungsprogramme gehören. Dabei mag die als „Rechtsprechungslehre“ bestimmte Theorieklasse bzw. Klasse von Forschungsprogrammen nicht allein durch diese Gegenstandsinvariante (Einheitsgegenstand) bestimmt sein, sondern etwa auch durch methodologische Invarianten. Dabei ist vorausgesetzt, dass diese Klasse von Theorien bzw. Forschungsprogrammen außerdem die gemeinsame Eigenschaft hat, de facto „rechtsprechungsspezifisch“ genannt, zu werden. Die Theorien bzw. Forschungsprogramme, die als „rechtsprechungsspezifisch“ angesehen werden, lassen sich als „Sachverhaltsfamilie“ nach ihrer „Familienähnlichkeit“ zusammenfassen; diese „Sachverhaltsfamilie“ kann als Rechtsprechungslehre bestimmt werden. Die dabei als „familienähnlich“ unterstellten Theorien, Forschungsprogramme, Objektbereiche, „domains“, Funktionen usw. können etwa durch die Kennzeichnung „erfahrungs- und / oder normwissenschaftliche Erforschung der Rechtsprechung“ charakterisiert werden. Als einheitliches Paradigma kann Rechtsprechungslehre danach nicht betrachtet werden. Dies wäre allenfalls dann möglich, wenn man sie z. B. auf dogmatische Rechtswissenschaft verengt, wie dies für die wohl überholte „Rechtsprechungswissenschaft“ (P. Noll) charakteristisch war, oder sie etwa ausschließlich als empirisch-erfahrungswissenschaftliche Theorie des richterlichen Handelns begreift26. Danach ist die Auffindung eines Einheitsgegenstandes der Rechtsprechungslehre als die strikte Bestimmung einer (merkmalsinvarianten) Klasse der Gegenstände von Theorien bzw. Forschungsprogrammen, die de facto „rechtsprechungsspezifisch“ genannt werden, zurzeit nicht erkennbar. Die Bestimmung einer als „rechtsprechungsspezifisch“ gekennzeichneten „Sachverhaltsfamilie“ von Theorien, Forschungsprogrammen, Objektbereichen usw. im Sinne der „Familienähnlichkeit“ ist dagegen eher in Sicht; eine Bestimmung, die 26 Vgl. zu diesem Problemkreis R. Weimar, Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: I. Tammelo / A. Aarnio (Hrsg.), Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik, Rechtstheorie, Beiheft, 3 (1981), S. 193 H.; ders., Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: W. Krawietz / H. Schelsky / G. Winkler / A. Schramm, Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984, S. 69 ff. (100 f.).

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diesem Konzept entspricht oder doch nahe kommt, ist allerdings – soweit ich sehe – bisher systematisch nur von N. Achterberg unternommen worden. Gegenwärtig lässt sich daher vom Vorliegen eines „Einheitsgegenstandes“ der Rechtsprechungslehre nur insofern sprechen, als man eine – als rechtsprechungsspezifisch ausgezeichnete – „Familie“ von Objektbereichen, Theorien, Forschungsprogrammen usw. als „Rechtsprechungslehre“ bezeichnen könnte und die „Gegenstandsfamilie“ dieses Wissenschaftszweiges im Wege „familienspezifischer“ Ähnlichkeit in Zukunft näher charakterisiert.

III. Überlegungen zum wissenschaftstheoretischen Rahmen einer Rechtsprechungslehre Jede Konzeption der unter dem Namen Rechtsprechungslehre zu versammelnden einzelnen Forschungsrichtungen steht – wie schon ein Blick auf die oben mitgeteilten Leitgesichtspunkte zu der Möglichkeit von Rechtsprechungslehre zeigt – zwischen vielfältigen konkurrierenden Ansätzen, und es kommt in der gegenwärtigen Situation darauf an, sich mit möglichst triftigen Gründen für eine Version zu entscheiden, in deren Richtung eine künftige Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin entwickelt werden kann. Angesichts dieser Situation gibt es gegenwärtig kaum Antworten, nur eine Fülle von Fragen; aus dem breiten Fragenspektrum sollen hier nur zwei, m. E. aber besonders wichtige Probleme vorgestellt werden: (1) Welchen wissenschaftstheoretischen Rahmen wählt eine künftige Rechtsprechungslehre als tentative Basis ihrer wissenschaftlichen Arbeit bzw. welchen wissenschaftstheoretischen Rahmen entwickelt sie selbst neu oder weiter, und wie hängt diese Entscheidung mit der Wahl des Untersuchungsbereichs und mit der Festlegung und Begründung von Forschungszielen zusammen? (2) Welche Methodologie entwickelt bzw. übernimmt eine Rechtsprechungslehre, und wie hängt diese Entscheidung zusammen mit der Wahl und Begründung von Untersuchungsbereich, wissenschaftstheoretischem Rahmen und Forschungsziel? Unser pauschaler Umriss des möglichen Untersuchungsbereichs einer Rechtsprechungslehre kann dann verbunden werden mit dem Forschungsziel, eine empirische und damit empirisch prüfbare Theorie richterlichen Entscheidungsverhaltens zu entwickeln. Die sehr allgemeine Hypothese zur Gegenstandsbestimmung erhält dadurch ihre wissenschaftstheoretische und wissenschaftspolitische Relevanz, dass sie eine Reihe von Annahmen bzw. abgrenzenden Vorentscheidungen für die Konzeption einer künftigen Rechtsprechungslehre impliziert, die aufgezeigt werden müssen:

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– erstens die Tatsache, dass es bis heute keinen durch hinreichend präzise Kriterien abgesicherten Begriff der metajuristischen Determinanten der Rechtsprechung gibt; – zweitens die durch Beobachtung gewonnene Hypothese, dass richterliches Handeln in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht „isoliert“ vorkommt, sondern stets ein in komplexe Handlungssysteme eingebettetes Phänomen ist, das kommunikativ verarbeitet wird; – schließlich die Überzeugung, dass eine Reduktion rechtsprechungstheoretischer Arbeit – sei es auf dogmatische Analyse, sei es auf juristische Methodenlehre – nicht ausreicht, wenn man als Forschungsziel der Rechtsprechungslehre eine – im strengeren Sinne – theoretisch-empirische Erfassung der Rechtsprechung anstrebt27.

Jede explizitere Bestimmung von Rechtsprechung als Untersuchungsbereich, die über die erwähnten Annahmen hinausgeht, kann nur im Prozess der empirischen Analyse des richterlichen Verhaltens, insbesondere der richterlichen Entscheidung selbst und im Rahmen der dabei auftretenden Probleme erfolgen. Erst bei solchen empirischen Analysen der richterlichen Arbeit – verstanden als ein Produkt auch sozio-kommunikativer und psychologischer Prozesse – kann detailliert über zugeordnete methodologische Fragen geredet werden sowie darüber, ob und warum bestimmte Forschungsziele sinnvoll und erreichbar sind. Bestimmt man – wie hier – als Untersuchungsbereich einer Rechtsprechungslehre eine spezielle Sorte staatlichen Entscheidungsverhaltens und betrachtet man dieses Verhalten etwa als historisch lokalisiertes Resultat komplexer Kommunikationsprozesse und nicht isoliert als „objektive Gegebenheit“, so stellt sich fast automatisch die Frage, ob bei dieser Bestimmung des Untersuchungsbereichs bezüglich der Wahl des wissenschaftstheoretischen Rahmens nicht bereits eine Vorentscheidung zugunsten einer „hermeneutischen“ Position gefallen ist. Um diese Frage wenigstens umrisshaft zu klären, müssen zunächst einige allgemeine wissenschaftstheoretische Probleme kurz angesprochen werden.

1. Hermeneutische Wissenschaftsauffassung und Rechtsprechungslehre

Die meisten Rechtswissenschaftler gehen wohl auch heute noch wie selbstverständlich von der klassischen Zweiteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften aus, denen als prinzipiell divergierende Methoden das Erklären bzw. das Verstehen zugeordnet werden28. Ders., Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft (FN 26), S. 74 ff. Zum Verständnis des Wissenschaftsbegriffs vgl. etwa O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften, in: Der Wissenschaftsbegriff in den Natur- und Geisteswissenschaften, Wiesbaden 1975, S. 102 ff. (105). 27 28

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Dieser dichotomen Konzeption steht gegenüber einerseits die Forderung der analytischen Wissenschaftstheorie nach einer einheitlichen Methodologie für alle Wissenschaften (gleich welchen Objektbereich sie behandeln), andererseits der Universalitätsanspruch der Transzendentalhermeneutik bzw. -pragmatik, die das Verstehen als diejenige transzendentale Operation heraushebt, die jeder wissenschaftlichen Operation, jedem einzelnen Akt des Verstehens und Erklärens also vorausgeht und sie fundiert (Motto: Auch Erklärungen müssen verstanden werden)29. Neben diesen Vereinheitlichungsversuchen verdient ein von O. Helmer und N. Rescher konzipierter Ansatz Beachtung, der nicht zwischen Wissenschaftstypen nach deren Objektbereich unterscheidet, sondern zwischen „exakteren“ und „unexakteren“ Bereichen von Wissenschaft, gleichviel, welchen Objektbereich sie behandeln30. Die von den traditionellen Hermeneutikern eingeführte Dichotomie von „Verstehen versus Erklären“ auf der Ebene der Methodologie ist insbesondere von Vertretern der analytischen Wissenschaftstheorie kritisiert worden. Das Ergebnis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Konzeption des Verstehens ist bisher nicht als operationalisierte oder operationalisierbare Methode ausgebildet worden, die zu empirisch überprüfbaren Ergebnissen geführt hätte31. Dies gilt sowohl für die Konzeption des Verstehens als Einfühlung (Schleiermacher), für die Konzeption des Verstehens als hermeneutische Übertragung (Dilthey) wie für das transzendentalhermeneutische Verstehen (Apel) und das explanatorische Verstehen im Sinne von Habermas. Das hermeneutische Verstehen kann also noch nicht als hinreichend leistungsfähige wissenschaftliche Methode (in einem strengeren wissenschaftstheoretischen Sinne) angesehen werden; es kann bestenfalls als ein heuristisches Verfahren gelten. Die Verfahren des Verstehens liefern keine Gewähr dafür, dass die durch Verstehen gewonnenen Hypothesen zu Sätzen führen, die für sich selbst schon eine „Wahrheitschance“ besitzen. Sie stellen kein Überprüfungsverfahren dar; ebenso wenig machen sie ein solches Verfahren überflüssig. Ob die durch die Verstehensmethode gewonnenen Hypothesen richtig sind, kann nur durch unabhängige empirische Überprüfung festgestellt werden. Die These, dass sich in den Geisteswissenschaften keine den Naturwissenschaften vergleichbare Subjekt-Objekt-Erkenntnissituation herstellen lasse, da man es mit vom Menschen konstituierten „Bedeutungen“ als Forschungsgegenständen zu tun habe, übersieht – im Blick auf die Rechtsprechungslehre – die notwendige Trennung zwischen dem Verstehen des richterlichen Entscheidungsverhaltens in individuellen Rezeptionsprozessen und dem Versuch des RechtsprechungsZum Ganzen vgl. G. König, Was heißt Wissenschaftstheorie?, Düsseldorf 1971. O. Helmer / N. Rescher, Exact vs. Inexact Sciences: A more instructive dichotomy?, in: L. J. Krimerman (Hrsg.), The nature and scope of social science, New York 1969, S. 118 ff. 31 Zum Ganzen eingehend W. Stegmüller, Erklärung – Begründung – Kausalität, Berlin – Heidelberg – New York 1983. 29 30

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forschers, zum einen das Entscheidungsverhalten des Richters unter Zuhilfenahme gesetzesartiger Aussagen, insbesondere aus der Psychologie und den anderen sozialen Handlungswissenschaften, systematisch interpretierend zu erfassen und zum anderen den Prozess des Verstehens als Informationsverarbeitungsprozess selbst wiederum zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen32.

2. Wissenschaftstheoretische Anforderungen an eine theoretisch-empirische Rechtsprechungslehre

Geht man davon aus, dass sich auf der Grundlage der hermeneutischen Position ein praktikabler Vorschlag für die Konstitution einer theoretisch-empirischen Rechtsprechungslehre nicht gewinnen lässt, andererseits aber auch kein durchgreifender Einwand gegen den Versuch einer solchen Konzeption zu erkennen ist, bleibt zu prüfen, ob etwa die analytische Wissenschaftstheorie ihrerseits unausräumbare Einwände gegen einen solchen Versuch vorzubringen vermag. Um diese Frage wenigstens umrisshaft zu beantworten, möchte ich nochmals auf O. Helmer und N. Rescher33 hinweisen, die die Probleme, einer „epistemology of the inexact sciences“ ausführlich behandelt haben. Sie erörtern diese Probleme für den Bereich der Sozialwissenschaften; ihre Ergebnisse dürften daher auch für eine empirisch arbeitende Rechtsprechungslehre interpretierbar sein. Helmer und Rescher wenden sich gegen eine Einteilung der Wissenschaften in „exakte“ und „unexakte“ Wissenschaften, wie sie konventionell auch der Einteilung in Natur- und Sozialwissenschaften entspricht. Die vorgeblich so exakten Naturwissenschaften erreichten nämlich tatsächlich nur selten den Exaktheitsgrad, den sie wissenschaftstheoretisch vorgeben, ohne dass sie deshalb schon aufhörten, Wissenschaften zu sein. Die ideale Form der Exaktheit erreichten nur wenige Bereiche im Gesamtrahmen der so genannten Naturwissenschaften34. „Unexakt“ sei demgegenüber ein Wissenschaftsbereich, der seine Argumentationsweise nicht formal darstellen könne, dessen Terminologie eine gewisse (die Kommunikation allerdings kaum behindernde) Vagheit an sich habe und der nicht oder doch nur selten formale Notationen benutze und exakte Messungen kaum durchführen könne. Unzutreffend sei die Vorstellung, die noch nicht „exakten“ Naturwissenschaften strebten dem Ziel der Exaktheit schrittweise zu, während die Sozialwissenschaften (oder allgemein die Geisteswissenschaften) aufgrund ihres Gegenstandsbereichs notwendig unexakt bleiben müssten35. 32 Zur Überwindung der hermeneutischen Enge Weimar, Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft (FN 26), S. 74 ff. 33 Helmer / Rescher (FN 30), S. 125 ff. 34 Dies., ebd. 35 Dies., ebd.

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Daher sind nicht Exaktheit und Unexaktheit die für eine Wissenschaft oder einen Wissenschaftsbereich relevanten Kategorien; entscheidend ist die Kategorie der Objektivität36. Diesem Kriterium müssen alle Wissenschaftsdisziplinen, muss auch die Rechtsprechungslehre genügen. Im Hinblick auf das Kriterium der Objektivität ist eine prinzipielle Trennung von Wissenschaften nicht gerechtfertigt. Methodologisch gesehen gibt es also, jedenfalls nach Meinung der genannten Autoren, denen ich zustimmen möchte, keinen Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. In diesem Sinne muss es auch für die „unexakten“ Wissenschaften und damit für die Rechtsprechungslehre möglich sein, eine entsprechende Methodologie zu entwerfen. Dazu gehört vor allem das Prinzip der Erklärung und der in den Rechtswissenschaften bislang noch nicht entwickelten Prognose, wie hier nur angedeutet sei37. Nach diesen Überlegungen lässt sich die oben aufgeworfene Frage nach dem für eine Rechtsprechungslehre zu wählenden wissenschaftstheoretischen Rahmen beantworten. Worauf es mir hierbei vorwiegend ankommt, ist dies: Ich möchte anregen, einmal zu prüfen, ob nicht bereits diejenigen bisherigen Verfahren in der Rechtswissenschaft, soweit sie Überhaupt Anspruch auf intersubjektive Prüfbarkeit erhoben haben, schon immer nach eben demselben Verfahren angelegt waren, wie sie in anderen empirisch orientierten Wissenschaften verwendet werden, oder ob sie nicht so angelegt werden könnten. Es geht also um die Frage, ob eine theoretisch-empirische Rechtsprechungslehre mit intersubjektiv prüfbaren Ergebnissen konzipierbar ist und wie sie aussehen müsste. Der bei einem solchen Versuch einer – wie man dann wird sagen können – „transhermeneutischen“ Rechtsprechungslehre anzusetzende wissenschaftstheoretische Rahmen lässt sich in seinen Ausgangspunkten an K. R. Poppers Position38anlehnen: – Die Erkenntnis beginnt nicht mit Beobachtungen oder der Sammlung von Daten; sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen. – Die Methode der Rechtsprechungslehre besteht, wie die aller anderen empirischen Wissenschaften, darin, Lösungen für Probleme zu entwerfen, die intersubjektiver Kritik zugänglich und damit „objektiv“ (im Sinne von Helmer und Rescher) sind. Hält ein Lösungsvorschlag eingehender Kritik stand, so wird er vorläufig akzeptiert, zugleich aber weiter diskutiert. Die Methode der Rechtsprechungslehre ist also wie die anderer empirischer Wissenschaften eine kritische Fortbildung der Methode des „Versuchs und Irrtums“. Hierbei handelt es sich um die universale Kategorie aller Wissenschaften. Näher dazu Weimar (FN 21), S. 721. 38 K. R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1962, S. 233 ff. 36 37

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– Wissenschaftlichkeit kann eine theoretisch-empirische Rechtsprechungslehre jedoch nicht durch Übernahme (etwa induktiver) naturwissenschaftlicher Methoden erreichen. Vielmehr besteht die postulierte Objektivität der Rechtsprechungslehre in der Objektivität der kritischen Methode; die deduktive Logik hat dabei die Funktion eines „Organons der Kritik“.

Reine Beobachtung und reine Beschreibung gibt es auch für die Rechtsprechungslehre nicht. Rechtsprechungslehre als Wissenschaft gibt es in dem Maße, in dem sie bewusst und kritisch theoretisiert39.

3. Rechtsprechungslehre aus Sicht des Hempel-Oppenheim-Schemas

Wenn – wie es den Anschein hat – die Formalstruktur des Verstehens und die theoretische Konstruktexplikation weitgehend analog sind, dann ist das methodische Ziel einer empirischen Rechtsprechungslehre als „begriffliches Verstehen“ (im Sinne C. G. Hempels) zu definieren 40. Diese Art des Verstehens folgt damit methodologisch dem in weiten Bereichen bewährten Hempel-Oppenheim-Schema 41 wissenschaftlicher Erklärung. Begriffliches Verstehen operiert dabei keineswegs voraussetzungslos, sondern setzt notwendig etwas voraus, das nicht geklärt wird. Es ist provisorisch. Endgültige Gewissheit ist hier schon deshalb nicht möglich, weil der Gehalt wissenschaftlicher Aussagen in der Regel über den der sie stützenden Daten hinausgeht. Rechtsprechungslehre kann sich nur manifestieren in Form expliziter Argumente, die logisch und empirisch überprüfbar sein müssen. Denn alles explizite Verstehen muss sprachlich explizit gemacht werden, um in wissenschaftlicher Kommunikation eine beurteilbare Rolle spielen zu können. Das allgemeine Schema des wissenschaftlichen Forschungsverfahrens, nämlich die psychologisch-heuristische Stufe der Hypothesenfindung, die logisch-deduktive Stufe der Hypothesensys-

Allgemein orientierend J. D. Bernal, Wissenschaft, 4 Bde., Reinbek 1970. Vgl. C. G. Hempel, Formen und Grenzen des wissenschaftlichen Verstehens, in: conceptus 1972, S. 5 ff. (15): „Mit begrifflichem Verstehen meine ich eine Art der Einsicht, deren Inhalt in objektiv prüfbaren Sätzen ausgedrückt und anderen mitgeteilt werden kann. Wissenschaftliche Erklärungen in der Form von Argumenten, in denen der Explanandum-Satz unter gewisse Explanans-Sätze subsumiert wird, vermitteln offenbar diese begriffliche Art des Verstehens.“ Vgl. auch ders., Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, Berlin – New York 1977. 41 Dazu und zum Folgenden C. G. Hempel / P. Oppenheim, Studies in the logic of explanation, in: Philosophy of Science, Bd. 15 (1948), S. 135 ff. Zu neueren „pragmatisch-epistemischen“ Ansätzen in der Erklärungstheorie vgl. H Lenk, Bemerkungen zur pragmatischepistemischen Wende in der wissenschaftstheoretischen Analyse von Ereigniserklärungen, in: Erkenntnis 22 (1985), S. 461 ff., der m. E. zu Recht vor einer „Pragmatisierung von allem und jedem“ warnt, weil dies wichtige Unterschiede verwische und „letztlich wohl zu einem pragmatischen erkenntnistheoretischen, wenn nicht gar ontologischen Idealismus fuhren könnte“ (S. 472). 39 40

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tematisierung und die induktive Stufe der Hypothesenüberprüfung, sollte auch in der Rechtsprechungslehre erprobt werden42. Eine prinzipielle Unüberprüfbarkeit rechtsprechungstheoretischer Hypothesen – etwa aufgrund eines als „besonders“ oder gar als „irrational“ postulierten Untersuchungsbereichs – darf nicht von vornherein angenommen werden. Auch der Aufbruch ins viel zitierte „Vorverständnis“ und die Rolle des Rechtsgefühls bei der richterlichen Entscheidung sind angesichts der Möglichkeiten der Psychologie keine Tabus einer interdisziplinär orientierten Rechtsprechungslehre. Davon unberührt bleibt natürlich die oft enorme praktische Schwierigkeit einer empirisch arbeitenden Rechtsprechungslehre, bei der Begrenztheit des empirischen Wissens Hypothesen überhaupt aufzustellen und sie zureichend zu überprüfen. Dies ist aber selbstverständlich kein Grund, von der Hypothesenbildung generell abzusehen. Es ist nur unbequem und eben nicht jedermanns Sache. Diese Postulate stützen sich also auf Überlegungen, nach denen das Verfahren der Rechtsprechungslehre als das einer kalkulierbaren Hypothesenbildung und -überprüfung aufgefasst werden kann, die sich auf nomologische Erkenntnisse auch anderer sozialer Handlungswissenschaften zu stützen haben, insoweit also prinzipiell interdisziplinär angelegt sein müssen. Dass ein spezifischer Unterschied zwischen rechtsprechungswissenschaftlicher Methodik und der Methodik anderer empirisch orientierter sozialer Handlungswissenschaften besteht, kann also nicht angenommen werden, soweit Rechtsprechungslehre über bloße Rechtsdogmatik überhaupt hinauskommen will. Akzeptiert man das Hempel-Oppenheim-Schema der Erklärung für die Teile der Rechtsprechungslehre, in denen Erklärung eine Rolle spielt, ergeben sich daraus weit reichende Konsequenzen für die Beurteilung der Konzeption einer Rechtsprechungslehre: – Die feststellbaren Ansätze, die unter dem Namen „Rechtsprechungslehre“ versammelt werden könnten, müssen, was ihre Erklärungskapazität betrifft, unter den hier zugrunde gelegten Prämissen als weitgehend vorwissenschaftlich und vorparadigmatisch bezeichnet werden. – Da sich das Hempel-Oppenheim-Schema ausdrücklich nur auf Sätze bezieht, kann das Prädikat „wissenschaftlich“ lediglich Sätzen der Rechtsprechungslehre (etwa über den Objektbereich „richterliches Entscheidungsverhalten“) zu- oder abgesprochen werden. – Eine Klärung, was gesetzesfähige Sätze bzw. Quasi-Gesetzesaussagen in einer Rechtsprechungslehre als Theorie des richterlichen Entscheidungsverhaltens sein können, wie und woher man sie bekommt sowie eine Antwort auf die Frage,(welche Vorgehensweise man im Rahmen dieses Erklärungsschemas wählt, 42 Allgemein orientierend etwa W. Leinfellner, Die Entstehung der Theorie, Freiburg – München 1966; vgl. im Übrigen Weimar (FN 21, 23, 16).

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kann nur in Zusammenarbeit mit Logik, Soziologie, Psychologie, Linguistik usw. erreicht werden, die dazu beitragen können, gesetzesfähige Aussagen für rechtsprechungstheoretische Argumente zu bilden. Da das Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgeht, dass Beobachtungs- und Beschreibungsaussagen auf eine vorausgesetzte Theorie zu beziehen sind, schließt dies ein, den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen man argumentiert, explizit anzugeben. Eine Rechtsprechungslehre muss daher auch sichtbar machen, welchen wissenschaftstheoretischen Status sie beansprucht. Es wird daher notwendig sein, in einer Art framework wissenschaftstheoretische Minimalanforderungen für eine Rechtsprechungslehre als Forschungsprogramm zu erarbeiten, das die Zuordnung der Teilforschungen zueinander und zum Forschungsziel einer Theorie des richterlichen Entscheidungsverhaltens sowie die Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse der Teilforschungsbereiche untereinander – auch im Hinblick auf die benachbarte Gesetzgebungs- und Verwaltungslehre – erlaubt. Nur wenn die Teiltheorien mit einem einheitlichen Erklärungs- und Theoriebegriff arbeiten und für die Darstellung ihrer Ergebnisse eine wenigstens annähernd gleiche Fachsprache verwenden, kann einer Zersplitterung wissenschaftlicher Forschungstätigkeit und einer Divergenz der Ausdrucksweisen der Einzelforscher vorgebeugt werden43.

IV. Ausblick Die Skizzierung der wissenschaftstheoretischen Prämissen bringt zugleich wichtige Vorentscheidungen hinsichtlich der Kriterien einer Methodologie, für die sich eine Rechtsprechungslehre im Sinne einer empirischen Erforschung des richterlichen Entscheidungsverhaltens zu entscheiden hat. Welche Methoden zur Lösung einzelner Forschungsaufgaben entwickelt werden und wie die Ergebnisse überprüft werden können, ist fallweise auf der Basis der allgemeinen Grundsätze zu entscheiden. Die hier vorgenommene wissenschaftstheoretische Ortsbestimmung kann eine theoretisch-empirische Rechtsprechungslehre als Ausgangsbasis prinzipiell akzeptieren. Allerdings treten dabei auch Probleme auf, die eine Weiterentwicklung der wissenschaftstheoretischen Basis nahe legen. Dazu wäre noch an eine flankierende wissenschaftstheoretische Perspektive zu denken, die auch schon vor und während 43 Nur um einem eventuellen Missverständnis vorzubeugen, sei hier angemerkt, dass die Rechtsprechungslehre, „auch soweit sie sich mit Rechtsdogmatik überschneidet, nicht genötigt ist, ihr Aussagensystem zu normativieren, Ob sie ausschließlich explikativ bzw. technologisch verfährt und sich damit vor allem im Bereich von „Rechtsfragen“ auf neutrale Möglichkeitsanalysen zurückzieht oder darüber hinaus Wertprämissen einführt, ist ein sicherlich Konsequenzen reiches, in erster Linie aber vorwissenschaftliches Problem, das der einzelne Forscher persönlich zu entscheiden hat. Vgl. dazu schon Weimar, Explikative oder normative-Rechtstheorie? (FN 26), S. 207.

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des Prozesses der objekttheoretischen Konstruktion (und nicht nur nachträglich rekonstruktiv) zum Einsatz kommen kann. In diesem Sinne erscheint für die Rechtsprechungslehre eine wissenschaftstheoretische Basis zweckmäßig, die ein analytisch-rekonstruktives Erkenntnisinteresse mit einem Konstruktivitätsanspruch44 verbindet. Da es sich bei der Rechtsprechungslehre um eine grundlageninstabile; nicht abgeschlossene Disziplin handelt, ist sie in der gegenwärtigen „vorparadigmatischen“ Phase der Entwicklung einer Konzeption jedenfalls durch einen Bedarf an wissenschaftstheoretischer Reflexion gekennzeichnet, die zur Konstruktion eines Paradigmas beitragen kann. Die Erforschung der die Entwicklung einer solchen Konzeption steuernden Rahmenbedingungen sollte dabei letztlich nicht aus der Rechtsprechungslehre „ausgelagert“ werden. Dies führt zu einer Wissenschaftstheorie der Rechtsprechungslehre, die auch innerhalb dieser Disziplin zu betreiben und deren Fortentwicklung für eine Rechtsprechungslehre als Wissenschaft notwendig ist.

Thesen 1. Die Frage nach der Möglichkeit von Rechtsprechungslehre als Wissenschaft hat die Probleme offen zu legen, mit denen man es bei der Entwicklung der Rechtsprechungslehre als empirischer Theorie der Rechtsprechung zu tun hat. 2. Die Entwicklung einer solchen Theorie der Rechtsprechung ist nur möglich, wenn ihr eine Wissenschaftstheorie assistiert, die auch schon vor und während des Prozesses der objekttheoretischen Konstruktion zum Einsatz kommen kann. In diesem Sinne benötigt die Rechtsprechungslehre eine wissenschaftstheoretische Konzeption, die ein analytisch-rekonstruktives Erkenntnisinteresse mit einem Konstruktivitätsanspruch verbindet. 3. Nichts spricht dagegen, dass ein solcher Ansatz einen empirischen Gehalt haben, d. h. seine Struktur empirisch interpretiert werden kann. Seine konstruktive Komponente ist genauso hypothetisch, gegenüber neuen Erfahrungen offen und prinzipiell revidierbar wie jede rein-deskriptive Theorie; dieser Ansatz kann der Kritik ausgesetzt werden, die zur Überprüfung seiner empirischen Adäquatheit geeignet ist. 4. Da es sich bei der Rechtsprechungslehre um eine grundlageninstabile, nicht abgeschlossene Disziplin handelt, ist sie durch einen Bedarf an zeitiger, in der gegenwärtigen „vorparadigmatischen“ Phase der Entwicklung einer Konzeption dringend gebrauchter wissenschaftstheoretischer Reflexion gekennzeichnet, die zur Konstruktion eines Paradigmas beitragen kann. 44 Ich verwende diesen Ausdruck anders als die sog. Erlanger Schule, nämlich im Sinne einer Erweiterung des sich rekonstruktiv verstehenden Anspruchs der analytischen Wissenschaftstheorie.

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5. Die Erforschung der die Entwicklung einer Konzeption steuernden Rahmenbedingungen kann dabei jedoch nicht gleichsam aus der Rechtsprechungslehre „ausgelagert“ werden. Dies führt zu einer Wissenschaftstheorie der Rechtsprechungslehre, die innerhalb dieser Disziplin zu betreiben und deren Fortentwicklung für eine Rechtsprechungslehre als Wissenschaft notwendig ist.

Das Rechtsgespräch* I. Einführung Das Rechtsgespräch ist heute als ein wesentlicher Teil des gerichtlichen Verfahrens1 zu begreifen, in dem der Richter die Rechtsuchenden an die zu treffende Entscheidung des Gerichts heranführt2. Das Rechtsgespräch, sein institutioneller Rahmen wie die Führung des Rechtsgesprächs selbst stehen dabei in Abhängigkeit von dem jeweils geltenden Verhaltenskodex, der die Stellung des Richters und sein Handeln im gerichtlichen Verfahren bestimmt. Ein solcher Verhaltenskodex kann die Veranstaltung eines Rechtsgesprächs nahe legen, fördern, zur Pflicht machen, er kann dem Rechtsgespräch aber auch abträglich sein und es verhindern. Die Spielarten waren nicht immer gleich, das Rollenverständnis der Justiz hat gewechselt. Zwei Beispiele: Nach der bayerischen Gerichtsordnung von 17533 soll der Richter auf seinem Stuhl sitzen „wie ein grießgrimmiger Löwe, und soll schlagen seinen rechten Fuß über den linken“. Die Motive zur Zivilprozessordnung sahen es anders: Der Vorsitzende habe den Parteien nicht ruhig und kalt, nicht nur als Hörer gegenüberzusitzen, er leite die Verhandlung, wirke auf dieselbe fördernd ein, sei bei der Gestaltung des Rechtsstreits mittätig und habe für eine erschöpfende Erörterung der Sache zu sorgen4. In Anknüpfung an den berühmten Ausspruch Savignys, das Recht habe kein Dasein für sich, sein Wesen sei vielmehr das – von einer besonderen Seite gesehene – Leben des Menschen selbst, hatte 1958 Werner in einer eindrucksvollen Rede, durch die er sich seinerzeit als Präsident des BVerwG einführte5, darauf aufmerk* Erstveröffentlichung in: W. Hoppe / W. Krawietz / M. Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre – Zweites Internationales Symposium. 1992, S. 283 – 302. Köln – Berlin – Bonn – München: Heymanns. 1 Den folgenden Ausführungen liegt im Wesentlichen das Modell des Zivilprozesses zugrunde. Zur Erörterungspflicht des Gerichts vgl. § 139 ZPO. 2 Ein Anspruch auf ein Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung ist aus Art. 103 I GG nicht herzuleiten; BVerfGE 5, 10, 11; 60, 175, 210 f.; BVerwG, DVBl. 1982, 635, 636; BGH, NJW 1983, 867; Jagusch, NJW 1959, 265 ff.; a. A. Arndt, NJW 1959, 6 ff., 1297 ff.; vgl. auch Doehring, NJW 1983, 851. Ergänzend die sorgfältige Literaturübersicht bei Hahn, Kooperationsmaxime im Zivilprozeßrecht?, 1983, S. 258 – 261. 3 Vgl. Kreitmayrs Anmerkungen zum Codex Juris Bavarici Judicarii vom 14. Dezember 1753, 2. Kap., § 1. 4 Dazu Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozeßordnung, Erste Abtheilung, Berlin 1880, S. 126. 5 Bulletin der Bundesregierung vom 25. 7. 1958, Nr. 133, S. 1412.

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sam gemacht, dass sich Wahrheit, auch das wahre Recht, allein durch Diskussion finden lasse, und in diesem Zusammenhang gesagt: „Vielfach ist die Rechtsfindung zu einem Selbstgespräch des Richters geworden, und die Stunden, in denen in der mündlichen Verhandlung ein echtes Rechtsgespräch stattfindet, sind insbesondere bei den erstinstanzlichen Gerichten selten.“ Zwischen diesen Positionen scheint sich heute das Verhalten des Richters zu bewegen, wenn es darum geht, mit den Parteien bzw. ihren Anwälten ein Rechtsgespräch zu führen, ihnen also die rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses offen zu legen und darüber ggf. mit ihnen zu diskutieren. Das Bild ist uneinheitlich. Einerseits beklagt man die Distanziertheit und mangelnde Gesprächsbereitschaft vieler Richter, die ihr Geschäft in einer Art „Geheimjurisprudenz“ zu betreiben scheinen6. So gibt es immer noch Richter, die in eigenartiger „Zugeknöpftheit“ darüber wachen, dass nicht einmal ein Hauch der rechtlichen Erwägungen die Parteien oder ihre Anwälte in der mündlichen Verhandlung erreicht. Das „Gespräch“ reduziert sich auf die viel gebrauchte Floskel: „Haben Sie noch etwas vorzutragen?“ Wie Berichte anlässlich einer Zivilrichter-Tagung der Deutschen Richterakademie (Trier) ergaben7, hat sich diese Zurückhaltung auch seit Inkrafttreten der Vereinfachungsnovelle 1976 kaum geändert. Andererseits gibt es Richter, die sich in einem fortlaufenden Diskurs mit den Parteien befinden und bereitwillig Hinweise auf die nach ihrer Ansicht entscheidungserheblichen Rechtsfragen während des gesamten Verfahrens geben. Den unterschiedlichen Verhaltensweisen der Richter sucht die Zivilprozessordnung durch Handlungsanweisungen zu begegnen, die das Gericht je nach den Umständen des Falles dazu zwingen, sich zu den rechtlichen Aspekten zu äußern. Das Gericht hat nach § 139 I ZPO auch die rechtliche Seite des Sach- und Streitverhältnisses mit den Parteien zu erörtern, soweit dies erforderlich ist, um die Parteien zur vollständigen Erklärung über alle erheblichen Tatsachen und zur Stellung sachdienlicher Anträge zu veranlassen. Im Haupttermin führt das Gericht in den Sach- und Streitstand ein und hat diesen im Anschluss an die Beweisaufnahme erneut mit den Parteien zu erörtern (§ 279 III ZPO). Außerdem darf das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Bereits die Begründung des Rechtsausschusses zur Vereinfachungsnovelle schrieb ausdrücklich fest, „daß der nach Ansicht des Gerichts maßgebliche Prozeßstoff in der mündlichen Verhandlung zur Sprache kommt, damit die Parteien ihre Auffassung dazu darlegen können und nicht durch die Entscheidung des Gerichts überrascht werden“8.

E. Schneider, MDR 1968, 721. Dazu Laumen, Das Rechtsgespräch im Zivilprozeß, 1984, S. 2; vgl. im Übrigen Hahn (FN 2), S. 299 ff. 8 BT-Drucks. 7 / 5250, S. 9. 6 7

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II. Das Rechtsgespräch als Konfliktregelungsstrategie Die Funktion des Rechtsgesprächs ist bei einer Konfliktregelung im Wege der Vermittlung einer vergleichsweisen Einigung zwischen den Parteien eine andere als bei einer Konfliktregelung im Wege streitiger Entscheidung. Demgemäß sind zweckmäßigerweise beide Bereiche getrennt zu untersuchen. Sowohl für die eine als auch für die andere Art der Konfliktregelung ist die Führung eines Rechtsgesprächs von besonderer Bedeutung.

1. Streitschlichtung durch Rechtsgespräch?

Nur ausnahmsweise gelingt es den Parteien selbst, die rechtlichen Unsicherheiten einer Regulierung ihres Streites einzuschätzen und zu einer gütlichen Beilegung zu kommen. In der Regel sind sie auf die Hilfe des Gerichts angewiesen, das tunlichst eine vergleichsweise Regelung anzuregen hat und den Parteien, soweit sie nicht selbst entsprechende Initiativen entwickeln, einen Vergleichsvorschlag unterbreitet9. Dem Richter kommt dabei zunächst die Aufgabe zu, eine Verhandlungsatmosphäre herzustellen, in der sich ein Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten einerseits und dem Gericht andererseits entwickeln kann. Erkennt eine Partei, dass das Gericht Verständnis für ihre Argumentation zeigt, wird sie erfahrungsgemäß eher in der Lage sein, Verständnis für die Situation des Gegners aufzubringen10. Verständnisbereitschaft für die Belange des anderen Teils ist regelmäßig ein erster und zugleich wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer gütlichen Bereinigung des Rechtsstreits11. Die eigene Mitarbeit der Parteien an der inhaltlichen Gestaltung der vergleichsweisen Regelung kann dazu beitragen, das zwischen ihnen bestehende Spannungsverhältnis, auch über den eigentlichen Rechtskonflikt hinaus, dauerhaft zu beseitigen. Des Weiteren fällt dem Richter die Aufgabe zu, den Parteien die Informationen zu geben, die es ihnen ermöglichen, sich aufgrund eigener Prüfung für oder gegen eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits zu entscheiden12. Der Richter hat den Parteien zu erläutern, welche Vorzüge der Abschluss eines Vergleichs gegenüber einer Fortsetzung des Prozesses hat und welche Erwägungen seinem Vergleichsvorschlag zugrunde liegen; dazu gehört, neben einer Darlegung des Beweis- und Kostenrisikos, vor allem eine angemessene Erörterung der Rechtslage13. Die ParLaumen (FN 7), S. 92. Richtig ders. (FN 7), S. 93. 11 Vgl. etwa Weber DRiZ 1978, 166, 167. 12 Vgl. näher Stürner, DRiZ 1976, 202, 204. Realistischerweise werden die Parteien natürlich nicht „unbeeinflusst“ entscheiden können. 13 So auch Laumen (FN 7), S. 94. Dagegen halte ich die Erörterung der Rechtslage zwischen Anwalt und Mandant – trotz einiger struktureller Affinitäten – für prinzipiell verschieden von der Erörterungssituation zwischen Richter und Parteien in der mündlichen Verhand9

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teien können Chancen und Risiken sowie die Vor- und Nachteile einer vergleichsweisen Regelung nur dann einschätzen und abwägen, wenn sie mit der rechtlichen Beurteilung und ggf. deren Risiken so weit wie möglich bekannt gemacht worden sind. Daraus folgt, dass notwendiger Bestandteil der Vergleichsverhandlungen ein Rechtsgespräch ist. Dass es hierbei nur um die Kundgabe der vorläufigen rechtlichen Beurteilung des Gerichts gehen kann, ist evident. Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von einer in der Rechtspraxis oder in der Rechtslehre kontrovers beurteilten oder schwierig zu beurteilenden „neuen“ Rechtsfrage ab, sollte der Richter die in diesem Punkt bestehende Unsicherheit offen andeuten und nach Erörterung der nicht oder weniger problematischen Fragen das Rechtsgespräch auf die Entscheidungserheblichkeit der wirklich unsicheren Rechtsfrage sowie auf die einzelnen Kriterien und ggf. Folgen der unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten konzentrieren14. Die Parteien sollen dabei den Eindruck gewinnen können, dass das Gericht alle Gesichtspunkte im Sinne eines pro und contra bei seiner zu bildenden Rechtsauffassung berücksichtigt. Dabei sollte das Gericht auch im Rahmen der Vornahme von Einzelwertungen keinen Hehl aus der Art und Weise der Gewichtung. von Argumenten machen. Gerade eine Unsicherheit in der rechtlichen Beurteilung kann dann Grundlage einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits werden. Hat eine Beweisaufnahme stattgefunden, wird regelmäßig die Rechtslage schon vorab geklärt sein, sodass das Rechtsgespräch auch die – voraussichtlich – endgültige rechtliche Einschätzung des Gerichts zum Gegenstand haben kann15. Das Gericht wird die Parteien also zweckmäßigerweise darauf hinweisen, dass bei Scheitern der Vergleichsverhandlungen ein Urteil. in einer bestimmten Richtung mit Wahrscheinlichkeit ergehen wird. Entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofs16 liegt in einem solchen Vorgehen m. E. keine widerrechtliche Drohung, die zur Anfechtbarkeit eines daraufhin abgeschlossenen Prozessvergleichs führen könnte. Ein Gericht, das ankündigt, ein – pflichtgemäß beratenes – Urteil mit einem bestimmten Inhalt zu erlassen, droht nicht, geschweige denn widerrechtlich; das Gericht ist bei Entscheidungsreife verpflichtet, ein Endurteil zu erlassen (§ 300 I ZPO)17. Es fehlt auch ein „Übel“, das angedroht wird: Das Gericht hält der betreffenden Partei lediglich eine Rechtslage vor, die sich aufgrund des anhängigen Verfahrens nach Recht und Gesetz ergibt. Eine widerrechtliche Drohung kann sich allenfalls aus dem zeitlichen Druck ergeben, der entsteht, wenn das Urteil sofort verkündet werden soll und einer Partei gerade dadurch die Möglichkeit genommen wird, sich innerhalb einer angemessenen Überlegungsfrist für oder gegen eine vergleichslung. Einzelheiten zur anwaltlichen Beratungssituation vgl. bei Weimar, Ansätze zu einer Rechtsberatungslehre, in: Voigt (Hrsg.), Neue Zugänge zum Recht, 1986, S. 123 ff. 14 Ähnlich ders. (FN 7), ebd. 15 Zutreffend ders. (FN 7), S. 95. 16 BGH, NJW 1966, 1587. 17 Wie hier Laumen (FN 7), S. 95 m. w. N.

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weise Regelung zu entscheiden. In der Regel aber ist die Mitteilung über den Inhalt des beabsichtigten Urteils ein angemessenes Mittel, das dazu beiträgt, die Vergleichsbereitschaft der Parteien ohne Erzeugung von „Vergleichsdruck“ zu erhöhen. Die Parteien können Zeit, Ärger und Geld sparen und entgehen früher ihrem Rechtsstress, wenn sie auf der Grundlage der beabsichtigten Entscheidung zu einer Einigung finden. Dabei ist nicht nur an den Abschluss eines Prozessvergleichs zu denken. Muss eine Partei sich bereits aufgrund des Rechtsgesprächs darüber im klaren sein, dass sie den Prozess voraussichtlich verlieren wird, ist sie eher geneigt, die Klage oder das Rechtsmittel zurückzunehmen oder den Klageanspruch anzuerkennen18. Insgesamt zeigt sich, dass ein offen geführtes Rechtsgespräch zur Herbeiführung einer erfolgreichen Konfliktregelung durch Streitschlichtung notwendig erscheint. Zum einen wirkt es regelmäßig vertrauensbildend und bereitet den Boden für die Vergleichsbereitschaft der Parteien; andererseits versorgt es die Parteien gerade mit denjenigen Informationen, die sie benötigen, um sich in als „frei“ empfundener Wahlsituation für oder gegen eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits entscheiden zu können19. 2. Rechtsgespräch und Streitentscheidung

Im Falle einer Streitentscheidung hat das Rechtsgespräch seine Bedeutung vor allem darin, dass es die Bereitschaft der Parteien fördert, den Rechtsspruch des Gerichts anzunehmen und als endgültig anzuerkennen. Um eine Konfliktregelung nicht nur formal, sondern in der Sache auf angemessene Weise zu erreichen, muss der Richter bemüht sein, für seine Entscheidung eine möglichst breite Zustimmung zu finden. Diesem Ziel kann ein Rechtsgespräch in zweierlei Weise dienen. Es erfüllt hier zunächst die Aufgabe, den gerichtlichen Erkenntnisbildungs- und Entscheidungsprozess für die Parteien einsehbar zu machen20. Nach einem viel zitierten englischen Urteil aus dem Jahre 192421 genügt es nicht, Gerechtigkeit zu üben; man muss auch deutlich und zweifelsfrei erkennen können, dass dies geschieht. Ebenso Weber, DRiZ 1978, 166, 167; Laumen (FN 7), S. 96. Ähnlich ders. (FN 7), ebd., der allerdings von einer Entscheidung der Parteien „in freier Selbstbestimmung“ ausgeht. Das ist zumindest missverständlich. Da die Parteien im Rechtsgespräch einer Beeinflussung unterliegen und die richterliche Autorität nicht ohne Wirkung bleibt, kann wohl nur gefordert werden, dass die Parteien nicht unter Druck geraten dürfen; sie müssen ihre Entscheidung subjektiv als auf ihrem eigenen Willen beruhend und insoweit als „frei“ erleben. Und diese Einschätzung muss auch ein (objektiver) Betrachter des Geschehens gewinnen; es dürfen sich keine „gegenteiligen“ Momente aus der Situation ergeben. Ansonsten dürfte sich der Richter zu weit „vorgewagt“ haben. Übertriebene Zurückhaltung nimmt dem Richter andererseits im Gespräch die Führungsrolle. Tatsächlich realisiert sich das Befangenheitsrisiko nach aller Erfahrung höchst selten. 20 Baumgärtel, JR 1973, 309, 315. 21 Zit. nach Laumen (FN 7), S. 96; vgl. Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 29. 18 19

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Und ich möchte hinzufügen: Man sollte auch die Schwierigkeiten erkennen können, von deren Überwindung das Finden der gerechten Entscheidung abhängt. Gerade diese Transparenz der Rechtsfindung als kompliziertes Verfahren ist geeignet, die Voreingenommenheit weiter Bevölkerungskreise gegenüber der Justiz abzubauen. Eine Erörterung der Sach- und Rechtslage fördert vor allem die Einsicht der Parteien in die Korrektheit und Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung22. Eine solche Erörterung in der mündlichen Verhandlung ist effizienter als die zumeist recht „trocken“ gehaltenen schriftlichen Entscheidungsgründe, die an den zwischen den Parteien bestehenden Spannungen häufig vorbeigehen. Im Rechtsgespräch besteht hingegen Gelegenheit, die entscheidungserheblichen Rechtsfragen mit den Parteien in einer Weise zu besprechen, dass jeder Beteiligte den Eindruck gewinnt, seine Belange würden gesehen und mit dem „Gegeninteresse“ in einer Weise abgewogen, die vom Bemühen um eine gerechte Entscheidung getragen ist23. Insbesondere bei anwaltlich nicht vertretenen Parteien ist es erforderlich, die bestehenden Lösungsmöglichkeiten des Falles klar aufzuzeigen, damit die Parteien erkennen können, wo die entscheidungserheblichen Punkte liegen und ihren Sachvortrag entsprechend gestalten können. Dies erfordert ein offenes Argumentieren des Richters in einer Sprache, die auch für einen juristischen Laien verständlich ist24. Das Rechtsgespräch wird zur Farce und verliert seinen Sinn dort, wo der Richter es bei der bloßen Angabe der Norm oder der rechtlichen Konstruktion bewenden lässt. Denn meistens reicht das nicht. Ein Rechtsgespräch muss Einblicke geben vor allem auch in die rechtlichen Probleme, die der Richter selbst bei der Fallentscheidung zu lösen hat. Er darf und sollte getrost von den Schwierigkeiten, die es dabei gibt, berichten. Will er von den Parteien verstanden werden, muss er sich so weit wie möglich juristischer Fachausdrücke enthalten, mag das auch nicht immer einfach sein. Einer anwaltlich nicht beratenen Partei nützt es z. B. – wie Laumen25 mit Grund hervorhebt – sehr wenig, wenn der Richter sie darauf hinweist, dass seiner Ansicht nach Sachmängelansprüche nicht gegeben sind, Ansprüche aus culpa in contrahendo oder Vertragsverletzung aber in Betracht kommen können. Der Richter muss angeben, welche tatsächlichen Voraussetzungen zu einem neu eingeführten Gesichtspunkt gehören, von wem hierzu vorzutragen ist und ggf. wer die entsprechenden Tatsachen zu beweisen hat. Der Richter muss den Blick der Parteien auch darauf lenken, welche Konsequenzen seine Ansicht für die Lösung des Falles hat. In diesem Sinne bietet ein Rechtsgespräch den Parteien Gelegenheit, im Rahmen ihrer prozessualen Rolle an der Rechtsfindung als handelnde Subjekte mitzuwirken. Mit der Einbeziehung in den richterlichen Überlegungs- und Entscheidungs22 23 24 25

Dazu Laumen (FN 7), S. 97. Ders. (FN 7), ebd. So sicherlich zu Recht ders. (FN 7), ebd. Ders. (FN 7), ebd.

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prozess wird der einzelne Rechtsuchende als rational ansprechbarer Teilnehmer am Verfahren anerkannt. Die Parteien können auf die Rechtsauffassung des Gerichts nicht nur argumentativ, sondern auch prozessual reagieren, indem sie z. B. ihren Tatsachenvortrag im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts ändern, neue Beweismittel bezeichnen oder Anträge stellen oder zurücknehmen26. Wenn sie dazu auch häufig ohne Unterstützung ihrer Anwälte nicht in der Lage sein werden, es steht ihnen frei, der Rechtsmeinung des Gerichts eigene Überlegungen entgegenzusetzen, um das Gericht ggf. zu einer Meinungsänderung zu bringen. Die Parteien haben aufgrund ihrer Mitwirkung am Verfahren die Möglichkeit, die Rechtsfindung des Gerichts gerade auch im Ergebnis zu beeinflussen. Ein auf diese Weise gemeinsam „erarbeiteter“ Richterspruch wird von den Beteiligten eher akzeptiert, als wenn das Gericht seine Rechtsauffassung erst in der Urteilsbegründung kundgibt27. Die Möglichkeit der Teilhabe am Rechtsfindungsprozess ist geeignet, die Akzeptanz richterlicher Entscheidungen durch verstärkte eigene Überzeugungsbildung der Parteien hinsichtlich der Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidung zu fördern. Manche Partei wird schon aufgrund eines die wesentlichen rechtlichen Gesichtspunkte des Streitfalles umfassenden Rechtsgesprächs (und nicht erst aufgrund des richterlichen Urteils) erkennen, dass der Verlust des Prozesses auf eine gegen sie sprechende Sach- und Rechtslage zurückzuführen ist28 und auf sonst so gut wie gar nichts. Das Rechtsgespräch bringt hier bereits vorab die Rechtseinsicht, manchmal sogar – und zwar über den Mitvollzug der diversen Überlegungen – auch Identifikation oder Empathie mit den richterlichen Entscheidungsabsichten („Das Gericht kann mir doch den Klageanspruch nicht zusprechen. Das ist einfach richtig so.“). Richterspruch und Rechtsmittel erübrigen sich letztendlich. Die Parteien sollen nicht – durch mechanische Einbindung in ein formalisiertes Rollenspiel – zur Hinnahme der Entscheidung veranlasst werden, sie sollen – aufgeklärt durch ein eingehendes Sach- und Rechtsgespräch – die juristische Korrektheit und Gerechtigkeit der Entscheidung selbst mit vollziehen und kontrollieren. Allein dieser Weg ist aussichtsreich, soll bei der Lösung des zwischen den Parteien bestehenden Konflikts auch Akzeptanz der Entscheidung erreicht werden. Eine solche Akzeptanz ist tendenziell in dem Maße gegeben, in dem Prozessparteien bereit sind, auf die Einlegung von Rechtsmitteln oder auch auf die Abfassung von Tatbestand und Entscheidungsgründen (§ 313 a ZPO) zu verzichten29.

26 27 28 29

Dazu und zum Folgenden ders. (FN 7), S. 99. Vgl. ders. (FN 7), ebd. Das entspricht verbreiteter Erfahrung; vgl. ders. (FN 7), S. 99. Vgl. Franski, DRiZ 1977, 161, 167; Laumen (FN 7), S. 100.

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III. Das Rechtsgespräch im Dienst der Wahrheitsund Rechtsfindung Seitdem Rechtsfindung nicht mehr als ein auf logisch-deduktive Subsumtion des zuvor festgestellten Sachverhalts unter eine vorgegebene Rechtsnorm beschränkter Vorgang gedeutet wird, sondern als komplexer Vorgang, verstärkt sich die Bedeutung von Rechtsgesprächen ständig. Die Dialogisierung des Rechtsgangs scheint Orientierung geben zu können, Rechtskommunikation fungiert gleichsam als Instrument gegen die „Unheimlichkeit“ des Rechts.

1. Abhängigkeit von Sachverhaltsermittlung und Rechtsanwendung

Welche Tatsachen von den Parteien vorzutragen sind, bestimmen die anzuwendenden Rechtssätze30. Das klingt banal, ist es aber nicht. Da jeder rechtliche Gesichtspunkt spezifische Sachverhalte intendiert, zeigen allein die rechtlichen Beurteilungsmöglichkeiten, welche Tatsachen erheblich werden können. Das setzt voraus, dass die Parteien die vom Gericht in Erwägung gezogenen Rechtssätze sowie ihre Auslegungs- und richterlichen Fortschreibungsmöglichkeiten 31 kennen, um die jeweils entscheidungserheblichen Tatsachen gezielt und nicht bloß auf Verdacht oder wahllos vortragen zu können. Haben sie ein anderes Rechtswissen und beurteilen sie die Rechtslage anders als das Gericht, laufen sie Gefahr, den Vortrag von relevanten Tatsachen zu unterlassen, die das Gericht für erheblich hält32. Das darin liegende Risiko rechnete die deutsche Prozessrechtslehre lange Zeit zu den nicht abwälzbaren „Kosten“ im Kampf um das Recht. Das änderte sich erst, als man den Richter in die Pflicht nahm, den Parteien seine rechtliche Beurteilung zu offenbaren, damit sie erkennen können, welche Tatsachen vorgetragen werden müssen33. Handelt es sich um schwer verständliche Rechtsnormen oder schwierige rechtliche Konstruktionen, gehört dazu auch der Hinweis, welche tatsächlichen Voraussetzungen beweisdürftig sind und von wem sie bewiesen werden müssen34. Die Parteien erhalten dadurch Gelegenheit, ihre Sachdarstellung im Hinblick auf die in Aussicht genommene Rechtsanwendung ggf. noch zu vervollstän30 Einzelheiten bei Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1969 (Neudruck 1996), S. 69 ff. 31 Ders., Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung, in: ARSP Beih. 20 (1984), S. 155 ff.; ders., Der Bedeutungswandel des Gesetzes, in: Rechtstheorie, Beih. 4 (1982), S. 241 ff.; s. a. Weinberger, Gesetzgebung und Motivation, in: Festschr. f. R. Weimar, 1986, S. 117 ff. 32 Richtig Laumen (FN 7), S. 102. 33 Ders. (FN 7), S. 103; vgl. auch Weimar, Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: Mock / Jakob (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung, 1983, S. 81 ff.; ders., Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung, in: Richteramt und Rechtsfindung, 1970, S. 23 ff. 34 Vgl. statt vieler Laumen (FN 7), ebd.

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digen. Es zeigt sich hiernach, dass das Rechtsgespräch als weitere Dimension einschließt, eine für den Richterspruch möglichst vollständige und richtige Tatsachengrundlage im Sachvortrag der Parteien zu ermöglichen, soweit es im Einzelfall daran fehlt. Diese Funktion kommt dem Rechtsgespräch nicht nur im Parteiprozess, sondern auch im Anwaltsprozess zu35. Anwälte können irren, werden von ihrer Partei unrichtig oder unvollständig informiert. Ständig laufen sie Gefahr, den Vortrag von Tatsachen zu unterlassen, die nach der Auffassung des Gerichts entscheidungsrelevant sind. Auch gute Anwälte sind bisweilen überfordert, wenn es darum geht, die für das Gericht maßgebenden rechtlichen Kriterien alle richtig vorauszusehen und ihr Prozessverhalten entsprechend einzurichten. Hier bedarf es deshalb – fairerweise und auch rechtsstaatlicherweise – ebenfalls der richterlichen Fürsorge durch Kundgabe der vom Gericht in Erwägung gezogenen Rechtssätze und des vom Gericht intendierten Umgangs mit ihnen, damit Spekulation und Rätselraten beendet werden und die für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen vorgetragen werden können. Auch bei rechtskundig vertretenen Parteien bietet somit die Führung eines Rechtsgesprächs die beste Gewähr für eine maximale Aufklärung der tatsächlichen Grundlagen des Rechtsstreits36.

2. Rechtsgespräch und Rechtsschöpfung

Dass es vor allem bei unteren Instanzgerichten immer wieder Fälle gibt, in denen Richter ihre Entscheidungen dem Gesetz problemlos entnehmen können, ist kaum zu bestreiten. Aber nur wenige gesetzliche Bestimmungen sind in ihren Prämissen so klar gefasst, dass ihr Anwendungsbereich von vornherein genau feststeht. In vielen Vorschriften werden unbestimmte Merkmale, ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe oder Leerformeln verwendet, die mehr als nur eine Auslegungsmöglichkeit zulassen und dem Richter einen weiten Beurteilungsspielraum einräumen37. Daneben trifft man auf Generalklauseln, die der Richter in Eigenregie konkretisieren kann und muss. Aber auch im Rahmen der „normalen“ Gesetzesinterpretation wird der Richter Rechts gestaltend tätig. Daneben mehren sich Fälle, in denen das Gesetz dem Gericht nicht Recht anwendende, sondern Recht setzende Funktion offen zuweist. Zu 35 So im Ergebnis ders. (FN. 7), ebd. Allerdings ist die Funktionenidentität nicht schon und nur mit der heutigen Normenflut, der gewachsenen Kompliziertheit des materiellen Rechts und der hohen Komplexität der Lebensverhältnisse zu begründen. Ein ganz entscheidendes Moment ist die freiere Stellung des Richters im Umgang mit dem Gesetz und der damit einhergehende Verlust der Berechenbarkeit der richterlichen Entscheidung. Diese ist kaum noch prognostizierbar. 36 Ebenso Laumen (FN 7), S. 104. 37 Zu dieser Problematik statt vieler Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 132 ff.

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nennen ist etwa der richterlich vermittelte Bestandsschutz im sozialen Mietrecht oder der Schuldnerschutz in der Zwangsvollstreckung. Bei diesen so genannten Regelungsstreitigkeiten kann es nicht um die Erkenntnis gehen, welche Partei das Recht auf ihrer Seite hat; der Richter hat hier in erster Linie eine gestaltende Regelung zu treffen, die die Rechtsbeziehungen der Parteien für die Zukunft auf eine neue dauerhafte Grundlage stellt. In allen diesen Fällen basiert die Entscheidungsfindung nicht oder jedenfalls nicht allein auf einem vorgegebenen Normprogramm, sondern auf der Eigenwertung des Richters selbst38. Unbeschadet ihrer Gesetzesbindung ist die Rechtsfindung, auch außerhalb des eigentlichen Bereichs der Rechtsfortbildung, durch voluntative, wertende Operationen bestimmt und daher – entgegen der Luhmannschen Konditionalprogrammthese – zugleich Rechtsschöpfung. Die Notwendigkeit, außergesetzliche Werturteile in die richterliche Entscheidung einfließen zulassen, bringt Gefahren mit sich. Bei jedem Entscheidungsprozess kommt eine Fülle von außerrechtlichen Einflüssen ins Spiel, die man kurz und knapp als das „Vorverständnis“ bezeichnet und damit methodisch aus der juristischen Analyse ausgeblendet hat. Der Richter aber muss stets versuchen, die sein „Vorverständnis“ konstituierenden Einflüsse, Bindungen und Abhängigkeiten sich bewußt zu machen“39. Das Rechtsgespräch gestaltet sich hierbei zu einem Lern- und Erfahrungsprozess, der in zweierlei Hinsicht aufschlussreich ist. Zunächst kann bereits der situative Zwang, seine rechtlichen Wertungen im Rechtsgespräch formulieren und begründen zu müssen, den Richter dazu bringen, sich darüber klar zu werden, auf welchen Implikationen seine Rechtsauffassung eigentlich beruht. Das Rechtsgespräch ist damit nicht nur Anlass, sondern zugleich Instrument der Selbstkontrolle des Richters. Tradierte Meinungen, die in Frage gestellt werden, können überprüft werden, Vorurteile kommen in den Blick und können revidiert werden. Außerdem ermöglicht das Rechtsgespräch eine Kontrolle des richterlichen „Vorverständnisses“ durch die übrigen Prozessbeteiligten40. Auf diese Weise können, in offener Diskussion aller Beteiligten, auseinander gehende Wertvorstellungen tendenziell einander angeglichen werden41. Gelingt es dem Richter, sich die Einflüsse des „Vorverständnisses“ bewusst zu machen, ist er mit Sicherheit der Realität ein Stück näher. Das zahlt sich aus bei der späteren „geläuterten“ Abfassung des Urteils, die dann den Rückgriff auf Scheinbegründungen, Näher dazu Weimar, Gesetzesanwendung (FN 31), S. 155, 158. Ders., Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: Festschr. f. O. Weinberger, 1984, S. 69 ff., 74. Neben dem „Vorverständnis“ ist das „richterliche Weltbild“ zu analysieren; dazu Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965; Weimar, Rechtswissenschaft als Weltbild, in: Festschr. f. Troller, 1987, S. 351 ff. 40 Treffend Laumen (FN 7), S. 107. Der Richter steht hier also in einer Situation, die für die übrigen Beteiligten psychologisch höchst aufschlussreich sein kann. Das wiederum mag auf Kosten der richterlichen „Gesprächigkeit“ gehen, die der psychologischen Analyse lieber gleich ausweicht. 41 So auch Laumen (FN 7), ebd. Darin liegt eine gesicherte Erkenntnis der Kleingruppenforschung; dazu etwa Weimar (FN 30), S. 193 ff., 203 ff. 38 39

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die die wahren Erwägungen des Richters verschleiern, entbehrlich macht. Sicherlich lassen sich durch ein Rechtsgespräch nicht sämtliche irrationalen Momente der richterlichen Willensbildung ausschließen. Ein Rechtsgespräch trägt jedoch ganz entscheidend dazu bei, solche Einflüsse zu erfassen und auf den Entscheidungs- und Erkenntnisbildungsprozess zu reflektieren. Auf diese Weise gelingt es, diese Einflüsse zu „bearbeiten“ und ihre Wirkung gering zu halten. Rationalität und Objektivität der Entscheidung nehmen dadurch zu.

3. Rechtsfindung als Gemeinschaftswerk der Beteiligten?

Hat die Offenlegung der Rechtsauffassung des Gerichts zur Folge, dass die Parteien oder ihre Prozessbevollmächtigten mit Ausführungen zur rechtlichen Seite des Streitverhältnisses antworten, so ist der Weg zu einer gemeinsamen Rechtsfindung aller Verfahrensbeteiligten offenbar nicht mehr weit. Eine argumentative Auseinandersetzung über die entscheidungserheblichen Rechtsfragen kann die Auffassungen von Gericht und Parteien nicht nur wechselseitig beeinflussen, sondern ggf. ändern. Bei Konstellationen dieser Art geht die Entscheidungsfindung dann durchaus auf eine „Gemeinschaftsleistung von Gericht, Parteien und Anwälten“ zurück42. Vor allem die anwaltliche Mitarbeit ist dabei nicht als gering einzuschätzen. Als gegenüber dem Gericht gleichberechtigtes und unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) mit Befähigung zum Richteramt ist der Anwalt berufen, an der Wahrung und Weiterentwicklung der staatlichen Rechtsordnung und damit an der Rechtsfindung im Einzelfall mitzuwirken. Nicht selten sind es gerade seine Anregungen, Erfahrungen und Hinweise, die das Gericht veranlassen, eine bestimmte Rechtsansicht nochmals zu überprüfen, sich zu einer bislang nicht vertretenen oder skeptisch eingeschätzten Rechtsauffassung durchzuringen oder sich sogar von einer ständigen Rechtsprechung zu distanzieren. Je qualifizierter das anwaltliche Engagement im Gespräch mit Gericht und Gegenseite, desto größer ist die Chance, das Ergebnis des Verfahrens zu beeinflussen43. Vor diesem Hintergrund kann die Mitwirkung der Anwälte – leicht zugespitzt gesagt – gewissermaßen eine „Erweiterung“ des Richterkollegiums bzw. der Institution des Einzelrichters bedeuten: Ergänzender Sachverstand wird inkorporiert. Hinzu kommt, dass sich das aus der richterlichen Amtsautorität und Letztverantwortung des Richters für die Anwendung des Rechts folgende Dogma von der Allwissenheit des Richters im rechtlichen Bereich – iura novit curia – angesichts der Kompliziertheit des modernen materiellen Rechts ebenso wenig aufrechterhalten lässt wie die höchst missverständliche These von der Alleinherrschaft der Parteien 42 So bereits Möhring / Nirk, in: Festschr. 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 305, 312; ihnen folgend Laumen (FN 7), S. 108. 43 Es handelt sich hierbei um eine empirische Hypothese; vgl. ders. (FN 7), ebd.

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– da mihi facta, dabo tibi ius – über die tatsächlichen Grundlagen des Zivilprozesses44. Der Richter ist einer Informationsflut ausgesetzt, die es ihm schwierig macht, sich ständig auf dem neuesten Stand von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Fachschrifttum zu bewegen. Er ist nicht davor gefeit, sich zu irren, die Lektüre der letzten höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung zu versäumen, eine entlegene Vorschrift zu übersehen oder sonst wie die Rechtslage zu verkennen. Kein Berichterstatter kann auf Dauer sicher sein, dass ihm immer nur Zustimmung widerfährt. Ebenso wie Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten bei ihrem Tatsachenvortrag Hilfestellung seitens des Gerichts erfahren, darf auch das Gericht selbst bisweilen der Unterstützung durch die Anwälte bei der rechtlichen Erfassung des Streitfalles im Interesse einer Optimierung der Rechtsfindung nicht entraten. Dass eine „konzertierte“ Rechtsfindung aller Beteiligten nicht oder nicht in jeder Hinsicht der gegenwärtigen gerichtlichen Verfahrenswirklichkeit entspricht, ist klar und wird niemand bezweifeln. Ansätze zu gemeinsamer Rechtsfindung sind aber in der mündlichen Verhandlung vor den Revisionsgerichten bereits die Regel, weil es dort fast ausnahmslos um die Beurteilung von Rechtsfragen geht, deren allseitige Erörterung mit hoher Sachkompetenz von den Revisionsanwälten gefördert zu werden pflegt. In der Praxis der Instanzgerichte bleibt eine Erkenntnisbildung durch Rechtsgespräche in vielen Fällen mehr oder weniger einseitig auf die Darlegung der Rechtsauffassung des Gerichts beschränkt, wenn nicht die Dialogbereitschaft von den Parteien oder den Anwälten aufgegriffen wird. Selbst wenn aber die Streitentscheidung im Ergebnis aus der Mitwirkung aller Beteiligten hervorgeht, das forensische Geschehen und seine Inszenierung sind natürlich weit davon entfernt, eine friedliche Arbeitsgemeinschaft zu sein, in der durch harmonisches Zusammenwirken das richtige Urteil gefunden wird45. Der Rechtsstreit bleibt ein von den gegensätzlichen Interessen der Parteien geprägter Konflikt, dem stets auch ein Kampfelement eigen ist, das diesem Szenario sein Gepräge verleiht. Um die Idee der partizipativen und kooperativen Rechtsfindungsgemeinschaft der Wirklichkeit näher zu rücken und ihr anzupassen, müssen gewisse Rahmenbedingungen erfüllt sein, deren Vorhandensein in praxi nicht immer gesichert erDazu und zum Folgenden die instruktiven Ausführungen bei ders. (FN 7), S. 109. Realistisch wohl ders. (FN 7), S. 110, der im Übrigen darauf hinweist, dass der Begriff Arbeitsgemeinschaft auch in der Bedeutung „Arbeitsteilung zwischen Gericht und Parteien sowohl bei der Stoffsammlung als auch bei der Rechtsfindung“ verstanden wird; dazu etwa E. Schmidt, RuP 1980, 106 f.; Hahn (FN 2), S. 302, spricht von „Arbeitsteilung, bei der sich die Kooperierenden alles andere als lieben“. Wer auf eine Maximenorientierung nicht verzichten wolle, aber den Verhandlungsgrundsatz als nicht mehr norm gerechte Beschreibung der Verantwortung von Parteien und Gericht bei der Tatsachenbeschaffung und Sachverhaltserforschung ansieht, könne heute durchaus von einer „Kooperationsmaxime im Zivilprozess“ sprechen. Im Ergebnis auch Stürner, in: Festschr. f. Baur, 1981, 647, 657; ders., Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, 1982, S. 15. Zur Kritik an der Kooperationsmaxime vgl. die Literaturübersicht bei Hahn (FN 2), S. 302 (Anm. 25). 44 45

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scheint. Dass ein Rechtsgespräch einer gründlichen Vorbereitung auf Seiten aller Beteiligten bedarf, Richter wie Anwälte den Rechtsstreit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht sorgfältig durcharbeiten und – beispielsweise je nach dem Ausgang einer eventuellen Beweisaufnahme – unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten im Auge behalten müssen, ist dabei selbstverständlich. Im Übrigen ist selbstverständlich auch zu fordern, dass der Richter sich nicht vorzeitig auf eine bestimmte Rechtsauffassung festlegt, sondern sich für neue, möglicherweise bessere Argumente der einen oder anderen Seite offen hält46. Soll das Rechtsgespräch zu einer wirklich gemeinsamen Rechtsfindung i. S. einer Kooperationsmaxime führen, müssen Richter und Anwälte die Bereitschaft mitbringen, bestimmte Rechtsansichten in Frage zu stellen, zu überdenken und eventuell zu ändern. Nur so ist es möglich, dass auch gegenteilige Rechtsausführungen bei der Rechtsfindung überhaupt einmal wirksam werden und sich durchsetzen können. Liegen die geschilderten Minimumbedingungen vor, kann es in der mündlichen Verhandlung zu einem fruchtbaren Argumentations- und Erkenntnisprozess im Wege eines gemeinsamen Sach- und Rechtsgesprächs kommen. Der Inhalt der gerichtlichen Entscheidung ist dann weitgehend das Ergebnis einer kommunikativen Auseinandersetzung zwischen Gericht, Parteien und Anwälten. Überraschungsentscheidungen47 sind ausgeschlossen, in den Fällen der Richterrechtsbildung die Legitimationsgrundlage verbessert. Zweifellos kann die richterliche Fürsorge im Rechtsgespräch, hält sie sich nicht in den gebotenen Grenzen, in einen Zielkonflikt mit dem Erfordernis der Unparteilichkeit und Neutralität geraten. Hier gibt es keinerlei Patentrezepte; das berühmte Fingerspitzengefühl, das man hier zu bemühen versucht ist, macht den Richter wohl noch am wenigsten befangen.

IV. Rechtsgespräche: Ein Mittel der Prozessökonomie? Die allseitige Bearbeitung des Prozessstoffes im Rechtsgespräch macht – idealiter – eine erneute Behandlung des Rechtsstreits in der Rechtsmittelinstanz überflüssig. Schon aus diesem Grunde ist zu erwarten, dass sich im Anschluss an Verfahren mit richterlicher Gesprächsbegleitung die Zahl der Einlegung von Rechtsmitteln auch de facto verringert48. Informiert das Gericht die Parteien bereits vor 46 Anderenfalls wird das Rechtsgespräch zu einem unfruchtbaren Ritual. Dazu noch Laumen (FN 7), S. 111 f. 47 Dazu unten gleich mehr. 48 Dies erwartet auch Laumen (FN 7), S. 140. Es fehlt allerdings bislang völlig an Untersuchungen, die den Ursachen im Einzelnen nachgehen, sowie an der Erarbeitung von Techniken, die spezifisch der Führung von Rechtsgesprächen dienen. Hier liegt ein höchst ergiebiges Feld für die anwendungsbezogene Forschung, insbesondere für die Rechtstatsachenforschung. Ich möchte hier nur zwei Aspekte aus dem für die gesamte Rechtsprechung hochbrisanten Problembereich kurz ansprechen: Einmal ist für die Gesprächstechnik die Überlegung

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Schluss der mündlichen Verhandlung in geeigneter Weise über seine beabsichtigte Entscheidung49 und gibt es den Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme, so erhält das Rechtsgespräch damit gleichsam den Charakter eines antizipierten „kleinen Rechtsmittels“, mit dem die Argumente der Parteien und ihrer Anwälte eine „Rechtsmittelbegründung“ vorwegnehmen können: Das Gericht wird hier die Gelegenheit nutzen, seinen Standpunkt ggf. noch einmal zu überprüfen. Setzt sich das Gericht dann noch in der mündlichen Verhandlung in Anwesenheit der Parteien und nicht erst schriftlich in den Entscheidungsgründen mit den Ausführungen der Parteien explizit auseinander, so wird sich häufig eine Anrufung der weiteren Instanz erübrigen50.

V. Chancengleichheit im Rechtsgespräch? Die Zivilprozessordnung war ursprünglich als eine Art Kampfregelung für die vor Gericht streitenden Parteien gedacht51. Es war in diesem vom Liberalismus geprägten Modell der Geschicklichkeit der Parteien überlassen, wie sie ihren Kampf ausfochten. Das Gericht hatte dem Sieger schließlich „sein“ Recht zuzusprechen. Eine solche den Parteien gewährleistete Gleichheit vor Gericht ist allerdings eine formale. Sie hat herkömmlicher Weise nicht zum Inhalt, dass sich Parteien im Verfahren in einer Weise gegenüberstehen, dass sie von ihren prozessualen Möglichkeiten auch gleichermaßen Gebrauch machen können und nicht durch außerfruchtbar zu machen, dass durch das „Hineindenken in die Probleme der anderen Partei“ ein größeres Verständnis für verschiedene Standpunkte, möglicherweise eine stärkere Identifizierungstendenz und eine Verminderung der aus konfliktären Zielen resultierenden Spannungen erreicht werden. Hier wird – aus psychologischer Sicht – durch die Anwendung der viel versprechenden Methode des sog. „fingierten Rollentausches“ zwischen den Parteien als Kommunikationspartnern unter Bedingungen der sog. Triade-Situation beim „Beeinflussten“ eine Reihe von interpersonellen Abwehrmechanismen ausgeschaltet. Die Partei überzeugt sich durch die von ihr gefundenen Argumente selbst. Der zweite – wie mir scheint – ebenfalls besonders praxisbedeutsame Aspekt liegt darin, dass Richtern, die Rechtsgespräche führen, zu empfehlen ist, sich so zu verhalten, dass Parteien und Anwälte einen „Überzeugungsversuch“ nicht als solchen erkennen. Denn eine bloß „zufällig“ aufgenommene Information bzw. Kommunikation ist wirksamer als eine, von welcher der Empfänger glaubt, sie sei speziell dazu bestimmt, ihn zu beeinflussen („overhearing effect“). Vgl. hierzu nur etwa King / Janis, Comparison on the Effectiveness of Improvised versus Non-Improvised Role-Playing in Producing Opinion Changes, Human Relations 1956, S. 177 ff. 49 Eine solche Verfahrensweise liegt im Ermessen des Gerichts, sie kostet natürlich Zeit. Zu bedenken ist aber auch der Gesamtnutzen aus der damit gegebenen verbesserten Qualität des Rechtsgangs. Ein Widerspruch zum Gebot der Verfahrensbeschleunigung ergibt sich hier m. E. nicht. 50 Grund ist die Verringerung des Aggressions- und Frustrationspotentials im Rechtskonflikt. 51 Zu den Zwecken des Zivilprozesses und ihrem Wandel, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können, vgl. Hahn (FN 2), S. 65 ff. m. w. N.

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halb des Prozesses liegende Umstände an der sachgerechten Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert werden52. Die unerwünschte Wirkung der formalen Gleichbehandlung liegt nun darin, dass bei materieller Ungleichheit der Parteien der ohnehin Stärkere privilegiert wird. Unzureichende Rechtskenntnis beeinträchtigt die Dispositionsfreiheit des einzelnen, der bestehende Ansprüche nicht erkennt und deshalb oft nicht verfolgt53. Im Prozess ist fehlende Kenntnis des Rechts vor allem für anwaltlich nicht vertretene Parteien ungünstig. Die sich hieraus ergebende faktische Ungleichheit der Parteien vor und im Prozess wird verstärkt durch die bestehende „Sprachbarriere“. Für weite Teile der Bevölkerung sind die Inhalte des Rechtssystems sprachlich nicht verständlich54. Hinzu kommt die mangelnde Prozessroutine von „Einmalprozessierern“55. Große Firmen, Versicherungsgesellschaften, Banken, aber auch Behörden, die häufig vor Gericht auftreten, haben die größere juristische Erfahrung56. Betriebliche oder behördliche Rechtsabteilungen bringen ihre langjährige Prozesserfahrung ein und sind damit jedem nicht spezialisierten Anwalt oder Richter zunächst überlegen57. In Fällen dieser Art hat das Gericht besonderen Anlass, auf die Herstellung gleicher Chancen der Prozessparteien hinzuwirken. Es muss sich bemühen, den Einfluss des außerprozessualen Ungleichgewichts der Verfahrensbeteiligten so gering wie möglich zu halten58. An die Stelle des Prozessmodells, in dem die Parteien unter richterlicher Aufsicht ihren Streit austragen, tritt der Gedanke der richterlichen Fürsorge und Hilfe: Rechtsschutz soll nicht erst mit dem Urteil, er soll vom ersten Schritt des Verfahrens ab gewährleistet sein59. In diesem Sinne kann der Richter im Rechtsgespräch mit den Parteien einen Weg aufzeigen, damit auch ein benachteiligt-laienhaft erstrebtes Prozessziel juristisch zutreffend erreicht werden kann.

52 Dazu Laumen (FN 7), S. 122; Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, 1966, S. 20. 53 Laumen (FN 7), S. 123. 54 Vgl. Infas-Umfrage, DRiZ 1978, 375: Man wisse häufig gar nicht, was vor sich gehe, meinten 73% der Befragten. Man mag das beklagen. Infolge der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Rechtsmanagements gerade auch im Arbeits- und Dienstleistungsmarkt wird das in den Rechtsjobs monopolisierte juristische Know-how natürlich nicht eben „volksnah“ präsentiert. Im Gegenteil, mit der Heranbildung ganzer Heere von Rechtsingenieuren geht Rechtskultur notwendig in Hightech über. 55 Bender, JZ 1982, 709, 710. 56 Dazu Laumen (FN 7), S. 124. 57 Ders. (FN 7), S. 125. 58 Henckel (FN 52), S. 19 ff.; Laumen (FN 7), S. 128. 59 Laumen (FN 7), ebd.; vgl. auch Franz Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, 1901 (Nachdruck 1958), S. 28.

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Dass die richterliche Fürsorge damit in einen Zielkonflikt mit dem Erfordernis der Unparteilichkeit und Neutralität des Gerichts geraten kann, ist evident. Die Lösung liegt in der schwierigen Aufgabe, den verschiedenen Zielanforderungen gleichermaßen gerecht zu werden. Die Besorgnis der Befangenheit des Richters besteht aber nicht schon dann, wenn er der benachteiligten Partei durch zweckentsprechende Bemühungen lediglich die Gelegenheit bietet, ein materiell richtiges Urteil zu erlangen.

VI. Schutz vor Überraschungsentscheidungen Stützt ein Gericht seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, mit denen alle oder einzelne Beteiligte nicht gerechnet haben und nach dem Verlauf des Verfahrens auch nicht zu rechnen brauchten, und erfahren die Beteiligten die maßgeblichen rechtlichen Erwägungen des Gerichts erst aus den Entscheidungsgründen, so fühlt sich zumindest die unterlegene Partei überfahren, wenn sie in ihrer Prozessführung von anderen rechtlichen Überlegungen ausgegangen ist. Entscheidungen dieses Typs – Überraschungsentscheidungen60 – beruhen in der Regel auf einem verkürzten Parteivorbringen. Die Beteiligten sehen hier von Ausführungen ab, die sie zur tatsächlichen bzw. rechtlichen Seite des Streitverhältnisses bei Kenntnis der abweichenden Rechtsansicht des Gerichts gemacht hätten. Überraschende rechtliche Ansichten des Gerichts nehmen den Parteien die Möglichkeit, aktiv auf das Verfahren und sein Ergebnis Einfluss zu nehmen. Ihr Vorbringen geht hier zwangsläufig ins Leere. Die Zugrundelegung anderer rechtlicher Gesichtspunkte korreliert regelmäßig mit der Notwendigkeit einer Änderung des Tatsachenvortrags und Beweismittelangebots. Daher hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 103 I GG ein Verbot von Überraschungsentscheidungen hergeleitet, soweit der Tatsachenbereich betroffen ist61. Mit § 279 III ZPO bezweckt das Gesetz ebenfalls einen Schutz der Parteien vor Überraschungsentscheidungen. Soweit es um die rechtliche Seite des Streitverhältnisses geht, kann das Bestreben, Überraschungsentscheidungen zu vermeiden, allein durch möglichst frühzeitige und das Verfahren ständig begleitende, im Rechtsgespräch vermittelte Offenlegung der nach Ansicht des Gerichts maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte verwirklicht werden62. Anderenfalls sind die Parteien nicht in der Lage, ihr Prozessverhalten der vom Gericht vertretenen Auffassung anzupassen. Damit dient gerade die Führung eines eingehenden Rechtsgesprächs implizit auch dem Schutz 60 Zu diesem Begriff vgl. BVerwG, DVBl. 1982, 635, 636; vgl. andererseits Kettembeil, Juristische Überraschungsentscheidungen als Problem von Logik und Strukturen im Recht, 1978, S. 19 f., der nur das Prozessergebnis für entscheidend hält. Wie hier Laumen (FN 7), S. 118 m. w. N. 61 BVerfGE 7, 95, 99; 19, 49, 51. 62 Laumen (FN 7), S. 119, dem hier uneingeschränkt zugestimmt werden kann.

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der Parteien vor Überraschungsentscheidungen, die als Prozesssubjekte einen Anspruch darauf haben, auf das Verfahren und sein Ergebnis entsprechend Einfluss nehmen zu können.

VII. Vom Rechtsgespräch zur Rechtsfortbildung? Bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken und der Weiterentwicklung des Rechts (i. S. einer sog. Rechtsfortschreibung)63 ist es mehr noch als sonst bei der Auslegung des Gesetzes unvermeidlich, dass das Gericht eigene rechtliche Wertungen64 in den Rechtsfindungsprozess einfließen lässt. Dabei steht die Bildung von Rechtssicherheit in besonderem Maße unter den Anforderungen von Rationalität und Objektivität. Das bedeutet, dass sich der Richter so weit wie möglich von persönlichen Anschauungen lösen und seine Entscheidung auf Wertungen stützen muss, die zumindest hypothetisch dem Konsens der interessierten Rechtskreise entsprechen65. Soweit sich solche konsensfähigen Wertungen nicht bereits aus allgemein gebilligten Präjudizien und anerkannten sozialethischen Grundsätzen66 63 Dass kein Gesetz die Entwicklung der Rechtsprechung determinieren kann, ist schlicht und unabweisbar ein Faktum: Sobald das Gesetz erlassen ist, stehen seine Anweisungen dem richterlichen Handeln offen. Die Richterbindung wandelt sich zur Herrschaft der Gesetzeshandhabung. Damit ist ein Verständnis des Vollzugsparadigmas ausgeschlossen, das die Fallentscheidung als „schlichtes Implikat des Gesetzeswortlauts“ (C. Hassemer) begreift. Ist aber das Gesetz in der konkreten Fallentscheidung variabel, so wird es auch selber disponibel: als Rechtsform. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bilden die in der Judikatur zunehmend praeter legem inszenierten Fortschreibungen von nicht mehr oder nicht mehr im bisherigen Umfang für anwendbar gehaltenen Rechtsvorschriften. Freilich, die Grenzen zwischen „Auslegung“ als mit dem Vollzugsparadigma noch vereinbarer richterlicher Tätigkeit und der richterlichen Rechtsfortschreibung können fließend sein, wobei die Annahme einer Rechtsfortschreibung – im Gegensatz zu den Auslegungsleistungen – durchweg innovatorische Züge trägt. Während die Auslegung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Menge der in der Norm enthaltenen Informationen verändert, indem sie z. B. der Norm weitere Sätze hinzufügt, dabei aber normbedeutungsorientiert bleibt, geht die Rechtsfortschreibung über die äußerste noch mögliche Bedeutung der Norm hinaus und schafft neues Recht. Damit erweist sich eine interpretationstheoretische Betrachtung richterlicher Rechtsfortschreibung von vornherein als unzureichend; nur im Einzelfall kann beurteilt werden, ob von Auslegung noch die Rede sein kann, ob es sich nicht vielmehr um eine das Gesetz überschreitende richterliche Eigenschöpfung handelt, die mit Auslegung nichts zu tun hat. Zum Ganzen Weimar (FN 31), S. 163. 64 Die Wertungen sind an den Wertvorstellungen zu orientieren, die die verfassungsmäßige Ordnung enthält, vgl. BVerfGE 34, 269, 287. 65 Hierzu insbes. Wank (FN 37), S. 223 ff. 66 Dabei mag hier offen bleiben, welche Regeln dort zu befolgen sind, wo die herrschenden sozialethischen Vorstellungen Widersprüche aufweisen oder sonst eine hinreichende Orientierung nicht gewährleisten. In solchen Fällen laufen Rechtsgespräche auf einen „Entwurf künftiger Sozialgestaltung“ (Zippelius) hinaus, die über die richterliche Entscheidung eine Änderung bestehender Zustände einleiten können (sozialer Wandel durch forensische Innovation). Wenn der Richter insoweit als (Ersatz-)Gesetzgeber fungiert, kann eine (kompetente) Rechtsgesprächsrunde hier eine Art Fachausschussfunktion übernehmen.

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ableiten lassen, hat die Herstellung eines solchen Konsenses vor allem in einer argumentativen Auseinandersetzung mit den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. Da es zumeist um die Durchsetzung und den Schutz subjektiver Rechte der Parteien geht, ist es geboten, sie und ihre Anwälte in den Prozess der Fortbildung des Rechts einzubeziehen und ihre Vorstellungen und Argumente zu diskutieren. Der Richter hat ihnen zu diesem Zweck die nach seiner Ansicht in Betracht kommenden Lösungsmöglichkeiten sowie die von ihm dabei zugrunde gelegten Wertungen darzulegen und Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen67. Insbesondere die Anwälte haben dann die Möglichkeit, auf die Argumentation des Gerichts einzugehen, neue, vom Gericht noch nicht erwogene Aspekte einzubringen oder sonst wie argumentativ auf das Ergebnis der Rechtsfortbildung Einfluss zu nehmen. Die Fortbildung des Rechts kann so zu einer gemeinsamen Leistung, zu einem Werk aller Verfahrensbeteiligten werden. Sie gewinnt dadurch an Rationalität und Objektivität und wird zumindest für die betroffenen Parteien und ihre Anwälte einsichtiger und verständlicher68. Mangels Beteiligung der Rechtsgemeinschaft können wenigstens die betroffenen Parteien an der Rechtsfortbildung teilhaben69.

VIII. Rechtskommunikation und Rechtsbegriff Die gelegentlich zu beobachtende Tendenz zur Meidung des Rechtsgesprächs hat weitgehend psychologische Ursachen70. Richter laufen im Rechtsgespräch Gefahr, auf einen Anwalt zu treffen, der ihnen fachlich ebenbürtig, in der anstehenden Sache vielleicht überlegen ist. Der Richter kommt dadurch in die Situation, seinen eigenen Rechtsstandpunkt verteidigen zu müssen, sich mit der Gegenmeinung des Anwalts auseinandersetzen zu müssen, und wird möglicherweise gezwungen, auch einmal einen Fehler einzugestehen, eine womöglich unzutreffende Ansicht zu einer Rechtsfrage aufzugeben oder sonst wie ,;zurückzustecken“. Der hier befürchtete „Gesichtsverlust“ kann dazu führen, dass der Richter – bewusst oder unbewusst – das öffentliche Gespräch mit den Parteien innerlich ablehnt und sich auf die Position des „über den Parteien thronenden – und schweigenden – Streitentscheiders“ zurückzieht71. Hier eröffnet sich ein weites Feld für eine inter- und multidisziplinär ausgerichtete Rechtsprechungslehre72, die auch der bislang vernachlässigten Frage nach67 Das wird m. E. über BGH, NJW 1978, 695 („ergänzende Vertragsauslegung“) hinaus im Rechtsgespräch generell zu praktizieren sein. 68 Laumen (FN 7), S. 115. 69 Auf die sich ergebenden Legitimationsprobleme kann ich hier nicht besonders eingehen. 70 Laumen (FN 7), S. 8 m. Nachw. berichtet darüber. 71 Zum Ganzen ders. (FN 7), ebd. 72 Näher dazu Weimar, Wie ist Rechsprechungslehre als Wissenschaft möglich?, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986.

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zugehen haben wird, wie sich der dialogisierte Rechtsgang auf die Debatte um den Rechtsbegriff auswirkt. Sieht man die wesentliche Grundlage für die Entstehung des Rechts im kommunikativen Handeln, dann muss die dem Rechtsgespräch als Verfahrenselement eigene kommunikative Prägung auch den Rechtsbegriff selbst erfassen und verändern. Denn das Recht ist nicht trennbar von dem spezifischen Rechtsgang, in dem es gewonnen wird.

Verwaltungsentscheider – die „neuen“ Rechtsmacher: Strukturierung des Normbereichs durch agency-made law Grundlegenden politischen Ordnungsvorstellungen zufolge hat sich die staatlich organisierte Rechtsfindung im bürgerlichen Rechtsstaat in der Anwendung positiver gesetzlicher Regelungen des formellen Rechts zu erschöpfen. Die Bindung an das Gesetz – heißt es – sei „Eckpfeiler“ im Gewaltenteilungssystem.1 Ihr unterliegen Verwaltung und Rechtsprechung gleichermaßen. Beide wenden Gesetze an. Bei identischem Sachverhalt haben beide selbstverständlich dieselben Gesetze anzuwenden, wenn damit die Rechtslage zutreffend erfasst wird. Ursprünglich sollte das Gesetz dabei gesehen werden als perfekte Synthese von Rationalität und Autorität, von Vernunft und Gemeinwillen, als Konsens der Rechtsgemeinschaft über Recht.2 Spätestens seit dem Aufkommen des Richterrechts (judge-made law) scheint diese Ideologie begraben. Weitgehend noch unerörtert ist hingegen der sich nun auftuende Problemkreis des agency-made law: Beschränkt sich die gesetzesanwendende Verwaltung auf den bloßen Vollzug der Gesetze oder gibt es entsprechend der Arbeitsweise der Rechtsprechung auch Verwaltungsentscheidungen mit Rechtsfortbildungscharakter (z. B. fiscal authority-made law)?

I. Gesetzesbindung als Entscheidungsdeterminante Gesetzlichen Regelungen wird in hohem Maße Autorität beigemessen, die aus der allgemeinen politischen Autorität der Gesetzgebung abgeleitet wird. Richterliche wie adminis-trative Akteure sind hiernach gehalten, sich an vorgegebenen Gesetzestexten zu orientieren. Wo Wertungen notwendig werden, gewinnt das Postulat der Orientierung an den Maßstäben der Rechtsordnung3 Bedeutung. Vom Verwaltungsentscheider wird nicht anders als vom Richter verlangt, die im Einzelfall 1 Vgl. Bachof, Der Richter als Gesetzgeber?, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 177; s. a. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989; Christensen / Kromer, Zurück zum Positivismus?, KJ 1983, 41 ff.; s. a. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl., München 2005, passim. 2 Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 1975, S. 145 (151); zur Rationalität der Argumentation aufgrund des Gesetzes vgl. dort eingehend S. 151 ff. 3 Vgl. hierzu Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., Berlin 1991, S. 188 f. Zum Ganzen Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., München 2007, passim.

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relevante Bedeutung der Maßstäbe zu verstehen und seine Meinung im Sinne dieser Maßstäbe anzupassen. Da die Rechtsnormen Grundlage der Entscheidung des Einzelfalls sein sollen, sucht man auf diesem Weg, demokratischen Erfordernissen zu genügen. Denn die normbasierten Festlegungen für juristisch-administratives Entscheiden haben vom parlamentarischen Gesetzgeber auszugehen. Bindung an Normen bedeutet insoweit inhaltliche Bestimmung durch Gesetz; die Interpretation soll sich auf die Ermittlung eines bereits vorgegebenen Normtatbestands beziehen. Grundlage solchen Verständnisses ist das Begreifen des Gesetzes nicht nur als Aufgabe4 der Festlegung von Bedingungen und Inhalt der Tätigkeit staatlicher Organe, sondern vor allem auch als Konkretisierung von Rechten und Pflichten der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft; es soll für Rechtssicherheit und -klarheit sowie für Gleichheit vor dem Gesetz sorgen, wodurch obrigkeitliche Willkür möglichst ausgeschaltet werde.5 Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Gesetze als programmierende Normsätze und – entsprechend – Entscheidungen der (gebundenen) Verwaltung und richterliche Urteile als programmierte Entscheidungen betrachtet werden können. Luhmann geht davon aus, dass die Entscheidungssituation des Juristen gekennzeichnet sei durch eine in typischer Weise konditional programmierte Entscheidungsaufgabe, in der Zwecke kaum eine Rolle spielen. Die juristische Entscheidung entspricht danach der Funktion eines „Wenn-dann-Programms“, wobei nur festzustellen sei, ob die „Wenn“-Bedingungen gegeben seien, die zur Auslösung der entsprechenden Folge führen.6 Zweckerwägungen haben im Rahmen dieser Entscheidungsaufgabe keinen Platz und sollen nur sekundär zur Ausräumung von Auslegungszweifeln angestellt werden. Die Funktion eines Konditionalprogramms 4 Vgl. vertiefend die juristischen und metajuristischen Überlegungen bei Wielinger, Gesetz und Urteil, in: Posch, Wertungen und Interessenausgleich im Recht, Festschrift für Walter Wilburg, Graz 1975, S. 31 ff. 5 Das Problem eines weitgehend kodifizierten Rechts erlangt heute wie schon in den Tagen rationalistischen Denkens Bedeutung; in einer Zeit raschen Wandels wäre die Schaffung neuer und weitgehender Gesetze notwendig zur vollständigen Realisierung des Legalitätsprinzips. Zudem müsste eine (dauernde) Anpassung der Gesetze vollzogen werden, was eine Flut detaillierter und komplizierter Rechtsvorschriften nach sich ziehen würde, da man nur in dieser Weise komplexer werdenden sozialen Beziehungen gerecht werden könnte. Als Ergebnis einer derartigen Gesetzesproduktion ist gerade das Gegenteil des ursprünglich von der Idee des Gesetzes Gewollten zu erwarten. Ein Übermaß an gesetzlichen Regelungen trägt auch zur Einzelfallgerechtigkeit nicht bei, da hier oft die Ursache für die Unmöglichkeit der „Rechtserkenntnis“ zu suchen ist. Gerade dies sollte jedoch nach der Idee des Gesetzes ausgeschlossen sein. Damit wird der Wert des Gesetzlichkeitsprinzips nicht in Frage gestellt. Die Schaffung gesetzlicher Grundlagen hat nicht nur in historischer Sicht zur Eindämmung von Willkür und damit zur Erreichung und Festigung der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen beigetragen. Die erwähnte Problematik sollte jedoch auch deswegen nicht unterschätzt werden, weil ihre Ursachen in einer gerade heute aktuellen Entwicklung sozialer Realitäten, ihrer Verarbeitung im Bereich der Rechtstheorie sowie in einer Überbetonung des Legalitätsprinzips liegen. 6 Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), S. 1 (3 ff.); ähnlich ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1973, S. 68 ff.

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kann in diesem Sinne nur bei voller Entlastung von aller Folgenverantwortung erfüllt werden. Richterliche und juristisch-administrative Entscheidungen haben somit nicht die Wirkungen zu kalkulieren oder zu rechtfertigen, sondern eine Auslegung gesetzter Rechtsnormen vorzunehmen und nur dann, wenn diese Bedingungen nicht eindeutig definiert sind, als zusätzliche Entscheidungshilfe den Zweck oder die Funktion der Norm zu berücksichtigen. Luhmann fasst das juristische Entscheiden – ganz in Übereinstimmung mit der überkommenen Gesetzesanwendungsdoktrin – überwiegend als neutralisierte „Wenn-dann“-Automatik auf. Die Einstufung von Gesetzen als Konditionalprogramme soll gleich Algorithmen unabhängig vom Entscheidungssubjekt mithilfe einer im Grunde gesetzlich vorgegebenen endlichen Zahl von Denkschritten die „richtige“ Entscheidung sicherstellen.7

II. Juristisch-administratives Gestalten versus Gesetzesgehorsam Im Anschluss an Kilian,8 der juristisches Entscheiden eingehend analysiert hat, lassen sich folgende Gesichtspunkte gegen Luhmanns These anführen: Ein Gesetz als „Konditionalprogramm“ müsste alle Bedingungen, Situationen und Ziele seiner Anwendung selbst enthalten oder wenigstens deduzierbar bereithalten; eine solche Normstruktur ist eindeutig nicht gegeben. Ferner setzt die KonditionalprogrammThese voraus, dass Rechtsbegriffe bereits operationalisiert sind. Eine Operationalisierung von im Gesetz verwandten Begriffen erfolgt jedoch nur ausnahmsweise; eine Operationalisierung durch die verwaltungsjuristische Dogmatik wird fast nie erreicht, da diese auch gegensätzliche Operationalisierungen nicht ausschließen kann. Gegen den Ansatz Luhmanns kann auch eingewandt werden, dass die Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen nicht eindeutig festgelegt bzw. bestimmbar ist; es gibt kein Verfahren einer diesbezüglichen sicheren Zuordnung. Wird eine solche vorgenommen, hat sie immer aufgrund einer Wertung zu erfolgen, also auch Zwecke mit einbeziehen. Wo Auslegung erfolgt und erforder7 Wichtig hierzu u. a. Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft. Eine skeptische Widerrede zur Vorstellung des sprechenden Textes, in: Die Leistungsfähigkeit des Rechts, hrsg. von Mellinghoff / Trute, Heidelberg 1988, S. 95 ff.; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes, in: Untersuchungen zur Rechtslinguistik, hrsg. von Friedrich Müller, Berlin 1989, S. 47 ff. Für die Fortbildung des Rechts durch die Verwaltung ist irrelevant, dass es Weisungsfreiheit des Verwaltungsentscheiders – anders als bei Richtern – nicht gibt. Auch die „Bestandskraft“ des Verwaltungsakts und die „Rechtskraft“ des richterlichen Urteils begründen im Kontext der Rechtsfortbildung durch die jeweiligen Akteure sachlich keinen Unterschied. Maßgebend ist, ob die administrative bzw. die richterliche Entscheidung eine Rechtsfortbildung enthält oder nicht. Für die Frage der Rechtsfortbildung kommt es auch nicht darauf an, auf welcher Ebene im Instanzenzug die rechtsfortbildende Entscheidung getroffen wurde. Ebenso wenig ist hier die spezifische Funktion der Staatsgewalten entscheidend (z. B. Kontrollfunktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit). Entscheidend ist die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). 8 Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Frankfurt am Main 1974, S. 68.

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lich ist, kann von einem Konditionalprogramm nicht die Rede sein. Die Auslegungsbedürftigkeit der meisten Gesetze zeigt, dass die Struktur eines Konditionalprogramms nicht den Normaltyp des Gesetzes abbildet. Gerade gesetzesauslegende oder norminterpretierende Verwaltungsvorschriften dienen der Vereinheitlichung der Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen, insbesondere bei unbestimmten Rechtsbegriffen. Sie geben nachgeordneten Behörden entsprechende Interpretationshilfen. 1. Programmierte und / oder programmierende Normsätze – eine Fiktion?

Wie oben angedeutet, führt die Bindung an das Gesetz nicht zur Eindeutigkeit gesetzlicher Regelungsgehalte, juristische Entscheidungen haben vielmehr mit einer „weiten Divergenzspanne subjektiver Mehrdeutigkeit“9 zu kämpfen. Auf der anderen Seite kann sich das Postulat der Bindung an das Gesetz in der Person des Rechtsanwenders durchaus als Steuerungselement erweisen. Dabei stellt die Begründungspflicht bei Entscheidungen gewissermaßen eine Verbindung zwischen Gesetz und Entscheidung her. Mithilfe plausibler Begründungen soll auf diesem Wege ein rationaler Entscheidungsprozess stattfinden. Die sich im Verlauf der Entscheidungsprozesse ergebenden Mehrdeutigkeiten sind auch unter dem Gesichtspunkt eines um Einzelfallgerechtigkeit bemühten Gesetzgebers zu sehen, der abstrakt-generelle Regelungen vorzieht, die Öffnungen und Vorkehrungen enthalten, um einer Anwendung des Regelungsinhalts auf den Einzelfall keine Hindernisse in den Weg zu stellen. Im gewaltengeteilten demokratischen Rechtsstaat kann das Gesetz nach Rupp nicht „den Ehrgeiz haben, einen Kanon antizipierter Einzelfallrezepte zu geben“.10 Rupp sieht demgemäß Exekutive wie Judikative gleichermaßen als Umsatzstellen des Gesetzes, wodurch eine auf den Einzelfall bezogene Gerechtigkeit ermöglicht werden soll. Die insofern auftretenden persönlichkeitsabhängigen Beurteilungen des Entscheiders sind daher systeminhärent und rechtsstaatlich unbedenklich. Die immer noch anzutreffende Unterstellung semantischer und dogmatischer Eindeutigkeit von gesetzlichen Regelungen kann einer Überprüfung an der Wirklichkeit nicht standhalten. Normsätze und ihre Formulierungen sind stets auch durch auslegungsfähige oder auslegungsbedürftige Begriffe gekennzeichnet, was sich zunächst nicht nur bei der Verwendung von Allgemeinbegriffen zeigt, sondern auch schon im Rahmen der im Gesetz nur unzureichend definierten Begriffe wie „öffentliches Interesse“, „Verwaltungsübung“, „polizeilicher Notstand“ usw. Zutreffende Beispiele für angeblich ausschließlich konditional programmierte Normsätze existieren nicht, weil ihre stillschweigend unterstellte rechtssemantische Eindeutigkeit nicht besteht. Kritisch anzumerken gegenüber Auffassungen, die prinzipiell davon ausgehen, dass Gesetze Konditionalstruktur besitzen, ist insbesondere, 9 10

Rupp, Die Bindung des Richters an das Gesetz, NJW 1973, 1769 (1773). Rupp, NJW 1973, 1769 (1774).

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dass in Fällen dieser Art die administrative oder richterliche Folgenverantwortung für eine richtige Entscheidung entfallen müsste. Eine Differenzierung von Konditional- und Zweckprogrammen liefert zudem keine Kriterien dafür, ob und in welchem Ausmaß ein nach Denkschritten strukturiertes und geschlossenes Problemlösungsverfahren gegeben ist. Da hier insbesondere der Grad der Formalisierbarkeit eine Rolle spielt, ist ein solches Lösungsschema ebenso im Zusammenhang mit formal- und wissenschaftssprachlich angelegten Zweckprogrammen – und nicht nur im Rahmen von Konditionalprogrammen – vorstellbar. Geht man von den heutigen verwaltungsjuristischen Entscheidungsmethoden aus, so lassen sich bisher für beide Programmarten keine Lösungsschemata entwickeln. Dies gilt freilich nur dann uneingeschränkt, wenn man einmal von den Ausnahmen für scharf abgrenzbare Teilsysteme, die zudem eher numerisch festgelegte Sachverhalte aufgreifen, absieht. Zu denken wäre hier insbesondere an die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens in einfachen Fällen (z. B. solchen ohne Betriebsausgabenprobleme). Festzustellen bleibt jedenfalls, dass ein Normsatz nur ausnahmsweise die Struktur eines konditionalen hypothetischen Urteils besitzt, während überwiegend semantische Kombinationen von Zwecken und Bedingungen vorliegen und die Formalisierungsmöglichkeiten je nach Rechtsgebiet Unterschiede aufweisen. Als programmierende Normsätze können lediglich solche Regelungen aufgefasst werden, die hinsichtlich künftig auftretender Sachverhalte als Hypothese möglich sind, über eine vorab eindeutige Struktur verfügen und jeweils bestimmte Rechtsfolgen auslösen. Da diese Bedingungen im Wesentlichen nur bei nicht-semantischen Problemen erfüllt sind, bleibt dem Verwaltungsentscheider nicht anders als dem Richter grundsätzlich die Zuordnung eines empirischen Sachverhalts zu den Merkmalen der jeweiligen Norm überlassen. Gleichzeitig damit hat er die – wenn auch nur mittelbare – Entscheidung darüber zu treffen, ob die Kriterien des programmierenden Normsatzes im konkreten Fall angemessen sind. Grundsätzlich existiert nämlich bis heute kein Verfahren, das eine exakte semantische Übertragung von ontologischen in normative Sätze ermöglicht. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber kein Rechtsetzungsmonopol im Sinne absoluter Programmierung juristisch-administativer bzw. richterlicher Entscheidungen besitzt; es kann nur ein faktisch dominanter Vorrang des Gesetzgebers bei der Rechtsetzung angenommen werden. Letztlich sind jedoch weder im Rahmen des positivistischen Gesetzesbegriffes noch im Modell des Konditionalprogramms juristisch-administrative oder richterliche Bewertungsakte im Entscheidungsprozess und damit verdeckte Rechtsfortbildungen zu vermeiden. So gesehen fehlt der „Wenn-dann“-Anwendungsdoktrin eine hinreichende Determination. Die Herbeiführung logisch eindeutiger Entscheidungen kann daher nicht Aufgabe verwaltungsjuristischer Dogmatik sein, realistisch sind allein fachlich akzeptierbare Entscheidungen. Da anhand eindeutiger Kriterien entwickelte Entscheidungsalternativen fehlen, mithilfe derer die von der gesetzespositivistischen Doktrin geforderte „einzig richtige Entscheidung“ herbeizuführen wäre, bedürfen die bestehenden Entscheidungsalternativen, deren Kriterien nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, einer spezifischen Rechtfertigung.

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Überlegungen zur Formalisierung eines Normsatzes müssen davon ausgehen, dass mit zunehmender Ausdehnung des Objektbereichs ein größerer Abstraktionsgrad der semantisch verschlüsselten Zwecke und der Anwendungsbedingungen notwendig ist, eine Formalisierung gerade durch diese Umstände jedoch erschwert wird. Insofern kann die Bindung an das Gesetz im Wesentlichen als Orientierung an der – soweit vorhanden – bisherigen Auslegung verstanden werden, ohne dass diese Ausrichtung durch eine Aufzählung sämtlicher Bedingungen zu erfassen wäre. Erkenntnistheoretisch ist die Aufzählung der Bedingungen nicht schon durch die Tatbestandsmerkmale eines Normsatzes gegeben, vielmehr müssten Metaregeln zur Beurteilung der Tatbestandsmerkmale zu Hilfe genommen werden. Ohne eine derartige Festlegung bleibt die Rechtsanwendung dogmatisch „befangen“, sie kann daher nur als ein auf vordergründige Erkenntnis fixierter Regelungen ausgerichteter Prozess gelten. Im Übrigen zeichnen sich rechtliche Fragestellungen durch die „hinter“ den wirklichen Entscheidungskriterien stehenden, verborgenen rechtssemantischen Operationen aus.11 Solange die Rechtssprache nicht den Status einer „Wissenschaftssprache“ erreicht, sondern als dogmatisierte Umgangssprache zu bezeichnen ist, bleibt ihre Eindeutigkeit vorgetäuscht. Die Annahme von einer strikten konditionalen Programmierung juristisch-administrativer Entscheidungen ist daher, wenngleich bisher ohne anerkanntes Gegenkonzept, als widerlegt anzusehen. Bei der Auslegung der meisten Normsätze existiert eben nicht nur eine allein-richtige Lösung, die lediglich „erkannt“ zu werden braucht.12

11 Hierzu bereits Ramm, Einführung in das Privatrecht, Allgemeiner Teil des BGB, Bd. 1, München 1969, S. 494. 12 Geht man hiervon aus, erscheint es erforderlich, getroffene wie künftige juristischadministrative Entscheidungen besser als bisher kontrollierbar zu machen. Als Mittel hierzu bietet sich die Folgenberücksichtigung an. Die Berücksichtigung von Entscheidungskonsequenzen ist in der Methodenlehre bisher nur wenig thematisiert worden. Solange juristischadministrative Entscheidungen noch als direkter Gesetzesvollzug, der die Entscheidungsfolgen vorfindet, betrachtet werden, ist ein folgenorientierter Entscheidungsansatz überflüssig. Eine Betrachtung der Entscheidungsfolgen ist auch der Dogmatik nicht unbekannt. So lassen sich dogmatische Kategorien, z. B. zumutbar – unzumutbar, billig – unbillig, gerecht – ungerecht, angemessen – unangemessen, im Einzelfall durchaus als möglicherweise entscheidungskonstitutiv auffassen. Auch mit den Mitteln der teleologischen Auslegung können Entscheidungsfolgen als maßgebend für die Gestaltung der Entscheidung angesehen werden. Die genannten dogmatischen Kategorien beeinflussen dabei jedoch eher schon auf der Ebene der Norminterpretation den Inhalt der Entscheidung als bei den pragmatischen Erwägungen der Entscheidungsgründe. Gerade auch die Ausübung von Weisungsrechten innerhalb der Verwaltung kann auf die Vornahme einer bestimmten Norminterpretation gerichtet sein. Der eigene Entscheidungsspielraum der Behörde fehlt aber nicht, wenn die Weisung oder etwa auch eine Norm interpretierende Verwaltungsvorschrift das Gesetz zutreffend auslegt. Denn in Fällen dieser Art wird ohnehin nur bestimmt, was gesetzlich bereits festgelegt ist (so auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., München 2006, § 24 Rdnr. 29); vgl. auch Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts. Bd. I: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, München 2006, passim.

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2. Präjudizienorientierung in der Verwaltungspraxis

In der Verwaltungspraxis entnimmt der Entscheider im Allgemeinen seine Informationen über die Rechtslage nicht allein dem Gesetzestext, er orientiert sich „flankierend“ an Präjudizien (case law) aus Rechtsprechung bzw. Verwaltung. Liegt im Einzelfall keine „Routineentscheidung“ vor, bei der die bisher geübte eigene Entscheidungspraxis hilfreich sein kann, so konsultiert der Entscheider erfahrungsgemäß in aller Regel einschlägige Entscheidungssammlungen. Außer Betracht bleibt die bisherige Rechtsprechung bzw. Verwaltungspraxis naturgemäß dann, wenn ein neues Gesetz Anwendung finden soll. Ansonsten geht die Orientierung an der ständigen Praxis so weit, dass – selbst bei fehlender Vergleichbarkeit des zu entscheidenden Falles mit den Präjudizien – diese zur „entfernteren“ Grundlage der Entscheidung werden, damit das Gesetz nicht ganz ohne Blick auf bereits entschiedene Fälle betrachtet wird. Argumentative Auseinandersetzungen mit getroffenen Entscheidungen sind häufig zu beobachten, ebenso wie Hinweise auf eine „ständige Rechtsprechung“ oder „Verwaltungspraxis“ (established practise). Dabei stützen sich Entscheider zur Begründung meist auf Vorentscheidungen höherer Instanzen oder auf bereits entschiedene Fälle zu einschlägigen Rechtsfragen. Der Grund für eine solche Orientierung liegt in der semantischen Mehrdeutigkeit der Gesetzestexte. Ein „richtiges“ Gesetzesverständnis kann nur bei Kenntnis der in Betracht kommenden Bedeutungskonventionen entwickelt werden. In Ausnahmefällen besteht zwar eine Bedeutungsfestlegung in Gesetzesform (Legaldefinition), im Allgemeinen bleibt diese Bestimmung jedoch dem Rechtsanwender überlassen. Zu den im Einzelfall relevanten Bedeutungskonventionen treten Wertungen hinzu. Um Gleiches gleich bewerten zu können und gleichwertige Rechtsfolgen abzuleiten, wird die Berücksichtigung von Präjudizien wichtig. Eine Orientierung des Entscheiders an der ständigen Rechtsprechung bzw. Verwaltungspraxis ist daher eine rechtsstaatlich nicht zu übersehende Notwendigkeit. Obgleich nicht nur Gerichte sondern häufiger womöglich Verwaltungsbehörden einen nicht unerheblichen Entscheidungsspielraum beanspruchen und ihr Entscheidungsverhalten daher kaum determinierbar bzw. prognostizierbar ist, tendieren sie keineswegs zu exzessiver Ausschöpfung dieses Spielraums; sie neigen dazu, eigene frühere Entscheidungen regelmäßig als Anknüpfungspunkte zu verwenden, weichen also von einer einmal begründeten Rechtsansicht so schnell nicht ab.13 Die postulierte Bindung des Entscheiders an das Gesetz ist faktisch durch das Selbstverständnis – besonders der Höchstgerichte – modifiziert, die ihre Entscheidungen selbst als heteronom bestimmt ansehen und auch entsprechend handeln, aber ihre eigenen Präjudizien – und insoweit nicht etwa primär „das Gesetz“ – als Informationsquelle zu Grunde legen, wo immer dies möglich erscheint. 13 Zudem haben verfahrensrechtlich-institutionelle Vorschriften eine stabilisierende Wirkung und lassen Abweichungen in zahlreichen Rechtsordnungen nur aus besonders schwerwiegenden Gründen zu.

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Verwaltungsinstanzen informieren sich wie Gerichte über Präjudizien, um soweit wie möglich sicherzugehen, dass die zuständige Kontrollinstanz bzw. die Betroffenen die ergangene Entscheidung akzeptieren. Damit soll nichts zur Verbindlichkeit von Prajudizien gesagt sein; es ist nicht mein Bestreben, im Rahmen dieses Beitrags den Schritt von der Gesetzesbindung zum „case law“ zu legitimieren. 3. Finale Vorstellungen im juristisch-administrativen Entscheidungsprozess

Auslegungsentscheidungen sind regelmäßig gekennzeichnet durch eine mögliche oder nicht mögliche Anwendung von Rechtsbegriffen oder Rechtssätzen. Die Wahl der „Ja“- oder „Nein“-Optionen wird dabei wesentlich mitbestimmt durch die Anwendungsbedingungen von Rechtsbegriff oder Rechtssatz. Um Anwendungsbedingungen und ihren Einfluss auf die Alternativenwahl angeben zu können, ist vorab grundsätzlich eine Bewertung notwendig, die – soll sie nicht zufällig bleiben – möglichst in Abhängigkeit von den Entscheidungsfolgen zu treffen ist. Die Bewertung wird davon (mit)bestimmt, ob eine Folge erwünscht ist oder nicht. Die der Entscheidung vorgelagerten Anwendungsbedingungen erlangen aufgrund der gesetzlichen Begründungspflicht besondere Bedeutung, da ihr Einfluss auf die Entscheidungsfindung grundsätzlich ganz erheblich ist. Die Überzeugungskraft einer Entscheidung wird als durch eine Reihe von Einzelfaktoren bestimmt angesehen, nicht jedoch allein durch die Berufung auf Entscheidungsfolgen und das Normsatzziel. Es ist fast schon eine Binsenweisheit, dass Bewertungen14 rollenvermittelt, sozialisationsabhängig und durch subjektive Einschätzungen beeinflusst sind. Entscheidungen ergeben sich nicht einfach aus subsumierender Normanwendung, sie sind als Ergebnis eines Information verarbeitenden, situationsbezogenen und immer auch subjektiv geprägten Handlungsprozesses zu sehen.15 Die Informationsbeschaffung und -verarbeitung sind dabei von besonderer Bedeutung. Der Entscheider tritt einer gesetzlichen Vorschrift oder einem Fall nicht ohne „Voraussetzungen“ gegenüber.16 Damit sind nicht nur die Sprache und ihre Verwendung in Rechtsvorschriften und deren Interpretation gemeint, sondern auch das Erkennen von Daten sowie theoretische, dogmatische, rechts- und verfassungspolitische Positionen, Bestrebungen und Zusammenhänge.17 Ohne Vorverständnis über die 14 Zum Bereich der Wertungen und Werturteile grundlegend Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (195 ff.). 15 Siehe Kilian, Entscheidung, S. 165. 16 Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., Berlin 1997, S. 135. 17 Dazu Podlech, Entwurf einer Rechtstheorie als Strukturtheorie positiver dogmatisch gefaßter Rechtsordnungen, in: Podlech (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden, Berlin 1977, S. 13 (16 f.), der in diesem Zusammenhang auf das Anwachsen des Anteils subjektiver Entscheidungen nach dem Vorverständnis hinweist. Seiner Ansicht nach ist dies darauf zurückzuführen, dass zwar die „Einheit der Rechtsordnung“ argumentativer Bestandteil dogmatischer Arbeit ist, dennoch aber nur wenige dogmatisch verwendbare Prädikate existieren, die für die

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Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit kann die Norm nicht aussagen, was erfragt wird: die sachgerechte Lösung.18 Das Vorverständnis ist abhängig sehr weitgehend vom Rollenbewusstsein des Entscheiders mit allen Hintergründen, die auf den Sozialisationsprozess zurückzuführen sind, und etlichen anderen Faktoren, die auf die Weite oder Enge des individuellen Erfahrungshorizonts einwirken.19 Bewusstsein und implizites Gedächtnis steuern die Wertungen des Entscheiders, bestimmen seine Haltung gegenüber den Anforderungen der zu lösenden Aufgaben; diese sozialpsychologischen Zuständlichkeiten sind zu erklären durch die tatsächliche Lebenssituation des Entscheiders, deren Charakterisierung nicht nur mittels Rollenbewusstseins, sondern auch durch Berücksichtigung von Status, Schichtzugehörigkeit und Lebensgeschichte erfolgen kann.20 Es darf als weitgehend unbestritten gelten, dass Interessen, individuelle Merkmale, ferner berufsbedingte Ordnungsvorstellungen sowie vom Verwaltungsapparat selbst ausgehende Zwänge einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben.21 Eine besondere Problematik liegt hier darin, dass die im impliziten Gedächtnis des Entscheiders wirkenden Bestimmungsmomente eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und der ordnende Einfluss der Regeln der Logik fehlt. Ihre Wirkungsbedingungen sind von besonderer Art, weil sie als solche keine Behinderung durch Willensanstrengungen des Entscheiders erfahren und sich insoweit entsprechend ungestört entwickeln können. Daher wird es um so wichtiger, derartige Bestimmungsmomente aufzuspüren und mit Bedacht ins Auge zu fasgesamte Rechtsordnung oder für einen Teil der Rechtsordnung zutreffen. Dies führe zwangsläufig dazu, dass die dogmatische Arbeit auf immer weniger übergeordnete Regeln zurückgreifen könne, zumal sich die Gesamtrechtsordnung in der Zeit verändert und somit immer unübersehbarer wird. So sei auch neben dem Zuwachs an positiv angeordneten Rechtsregeln eine steigende Anzahl dogmatischer Texte zu verzeichnen. Im Rahmen einer dogmatischen Problemsituation könne selten der Stellenwert eines dogmatischen Arguments nach übergeordneten Regeln angegeben werden, was insbesondere zu Schwierigkeiten bei der Übertragung dieses Arguments auf andere Problemsituationen führe. Die so wichtige Kontrolle solcher analog verfahrender Argumentationen müsse in dem immer größer werdenden Anteil subjektiver Einstellungen verloren gehen. Dies habe die wachsende Unverbindlichkeit dogmatischer Argumente zur Folge. – Zur Forderung nach Überprüfung, Differenzierung und Darlegung der „Voraussetzungen“ vgl. Friedrich Müller, Methodik, S. 135. 18 Siehe Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 137. 19 Esser, ebd., S. 12. 20 Vgl. Müller, Methodik, S. 11. 21 In diesem Sinn äußern sich Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323, die insbesondere der These des Richters als „Automat“ der Gesetzesvollziehung jede Gültigkeit absprechen. Dennoch hat sich diese Vorstellung etwa in Frankreich, Österreich und Deutschland – also in Ländern mit umfassenden Kodifikationen – auch im vorigen Jahrhundert weitgehend halten können. Im Vordergrund stand hier die Annahme einer vom Richter oder Verwaltungsentscheider zweifelsfrei erkennbaren und ohne größere Schwierigkeiten zu verarbeitenden sozialen Wirklichkeit, die unter Normen subsumierbar sein sollte. Was dabei jedoch zu beachten bleibt: In Wirklichkeit ist die Wirklichkeit nicht wirklich.

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sen.22 Von besonderer Bedeutung bei der Interpretation der Rechtsnorm ist auch, dass im Kontext der Lösung von Konflikten bestimmte Erwartungen, bestimmte Ordnungsfragen, an das Problem herangetragen werden, die Interpretationsmöglichkeiten öffnen oder begrenzen. Der Einfluss finaler Entscheidungsvorstellungen manifestiert sich in der Vorwegnahme möglicher Ergebnisse und in einem auch daran ausgerichteten Verständnis des Normtextes, und dies geschieht nicht mit „Methode“, sondern vollzieht sich weitgehend im Vorverständnis, das in der Konfrontierung von Normbedeutung und Fallproblematik die Texte befragt.23 Das Problem des Vorverständnisses lässt sich nicht nur in der Rechtsdogmatik selbst feststellen. Gerade (auch) die juristische Methodik kann Wertungen und subjektiv vermittelte Wertmaßstäbe nicht ausschließen.24 Der Einfluss der vom Entscheider unbewusst an die Probleme herangetragenen Gesichtspunkte lässt sich insbesondere bei der Auswahl und Begrenzung der von ihm für relevant gehaltenen Aspekte kaum abschätzen. Ohne entsprechendes Vorverständnis ist das Erfassen sprachlich formulierter Aussagen unmöglich, was im Einzelfall bedeutet, dass neben der Norm, dem Sachverhalt, den (engeren) Interpretationsproblemen und dem Konkretisierungsproblem ein vorgängiger Sachbezug des Entscheidens gegeben ist.25 In diesem Zusammenhang bedeutet Vorverständnis nicht nur, dass Wissen als Entscheidungsvoraussetzung in mehr oder weniger großem Ausmaß durch das Vorverständnis gegeben ist, sondern auch, dass der Entscheider durch bisherige Erfahrungen ein konkretisiertes juristisches Vorverständnis erworben hat, das er zu dem zu beurteilenden Fall in Beziehung setzt.26 Der Entscheider arbeitet schon bei der Faktenwürdigung und beim Befragen des Vorrats an Regelungsmustern selektiv.27 Dass nicht nur die Wahl und die Vorbereitung der materiellrechtlichen Subsumtionsmöglichkeiten, sondern auch das soziale und aktuelle Vorverständnis die Entscheidung beeinflusst, liegt auf der Hand; dann aber liegt die Annahme nahe, dass „Rechtserkenntnis“ nicht ohne kontrollierte Antizipation möglicher angemessener Lösungsergebnisse denkbar ist.28 Damit hat das Denken in Werten bei der 22 Dazu Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung, Berlin 1977, S. 150 ff. 23 Vgl. Müller, Methodik, S. 139. 24 Müller, ebd., S. 136. 25 Larenz sieht hier richtig, dass der Jurist, der ein Gesetz interpretiert, an seine Aufgabe mit seinem gesamten Wissen um rechtliche Probleme, Problemzusammenhänge, Denkformen und dadurch bedingte Lösungsmöglichkeiten des geltenden Rechts und nicht zuletzt mit der Sprache herantrete, deren sich der Gesetzgeber, aber auch der rechtskundige Bürger zu bedienen pflegt. Sein „Vorverständnis“ sei das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses, in den sowohl mannigfaltige berufliche und außerberufliche Erfahrungen, vor allem solche über soziale Tatsachen und Zusammenhänge eingegangen seien; vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 185. 26 Vgl. Schroth, Probleme und Resultate der Hermeneutikdiskussion, in: Arthur Kaufmann / Hassemer, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg 1994, S. 344 (402). 27 Esser, Vorverständnis, S. 134. 28 Esser, ebd., S. 135.

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Steuerung der dogmatischen Arbeit vom Vorverständnis her seine besondere Bedeutung.29 Das ständig korrekturbereite 30 Vorverständnis ist daher für das Textverstehen und ggf. die Textergänzung besonders wichtig.31 Der Prozess der Entscheidungsfindung zeichnet sich nach Esser gerade dadurch aus, dass kein vom ersten Ansatz her gradlinig verfolgter Weg beschritten wird, sondern ein Prozess in Alternativen und Hypothesen.32 Unausgesprochene Voraussetzungen letztlich metaphysischen Charakters gehen über das Vorverständnis in die Entscheidung mit ein, lassen sich in dieser Weise auch bei wissenschaftlichen, zumal rechtswissenschaftlichen Argumentationen33 nicht vermeiden.34

4. Sozialethische und politische Momente

Der geschichtliche Prozess der Rechtsfortschritte und damit auch die Methode juristischer Interpretation werden bestimmt durch einen fortdauernden Wechsel von Reflexion und Dezision, wobei die Reflexion die Konsequenzen gesetzgeberischer, judizieller und administrativer Normgestaltung unter Anwendung geschichtlicher Erfahrungen und ökonomischer, anthropologischer u. a. Theorien abzuschätzen und unter dem Gesichtspunkt des fundamentaleren Interesses abzuwägen sucht.35 29 Hierzu auch Wielinger, Gesetz und Urteil, S. 36 f., nach dessen Meinung es nicht genügt, wenn der Gesetzestext irgendwie verstanden wird, es gehe vielmehr um das „richtige“ Verständnis, für das die Kenntnis der Bedeutungskonventionen Voraussetzung sei. Wielinger sieht die Gesetzesauslegung letztlich als einen normativen Akt an, auch wenn die Entscheidung als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses zu verstehen sei. 30 „Modernen“ Ansätzen zufolge soll der kognitive Prozess Möglichkeiten zu weiterem Bewusstmachen von Vorentscheidungen eröffnen; jede Vor-Meinung müsse sich in Frage stellen und berichtigen lassen; vgl. Hülsmann, Argumentation, Faktoren der Denksozialität, Düsseldorf 1971, S. 21; s. a. Larenz, Methodenlehre, S. 188. Dieser Prozess kann nicht in Gang kommen, wenn sich die Vor-Meinung bereits zu einer Richtigkeitsüberzeugung verfestigt hat; vgl. Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen, S. 149. Es ist also nach Bewusstmachung und Überprüfbarkeit von Vorurteilen zu streben; richtig Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 43. 31 Vgl. Schroth, Philosophische und juristische Hermeneutik, in: Arthur Kaufmann / Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg 1994, S. 344 ff. 32 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 135. 33 Vgl. Arthur Kaufmann, Über den Zirkelschluss in der Rechtsfindung, in: Lackner / Leferenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Gallas, Berlin 1973, S. 7. 34 Zum Kontext von Vorverständnis und hermeneutischem Zirkel und der damit zusammenhängenden Probleme vgl. Klug, Juristische Logik, 4. Aufl., Berlin 1982, S. 14 f.; Kaufmann, Über den Zirkelschluß, S. 15, 19 f.; Esser, Vorverständnis, S. 135; Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (198 f.); Weinberger, Rechtslogik, Wien 1970, S. 363; Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 1, 7. Aufl., München 1974, S. 33 f.; Albert, Traktat, S. 43. 35 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 192.

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Ferner sind bei diesem Prozess Auswirkungen der einzelnen Norm auf den Kontext der Rechtsordnung und damit u. U. ein Hinterfragen anderer Normen und ihrer Gründe in Rechnung zu stellen; diese zum Teil unerkannten Unsicherheiten36 führen dazu, dass man sich selbst unter den günstigen Bedingungen organisierter Kooperation mit vorläufigen, zwar immer weiter korrigierbaren, aber nie vollständigen und endgültigen Ergebnissen bescheiden muss.37 Die Entscheidung für eine bestimmte Regelung, die Dezision, muss – aus Rechtssicherheitsgründen – die Diskussion schließlich beenden.38 Dabei beinhalten die (notwendigen) juristischen Argumentationen bewusst oder unbewusst letztlich immer auch prinzipielle sozial-ethische und politische Wertungen, die zwar dogmatisch nicht explizit erfasst sind, letztlich aber die Rationalität eben dieser Argumentation über Deutungs- und Steuerungsprozesse bestimmen.39 „Über Sinn und Unsinn dogmatischer Argumentation wird letztlich nicht auf der Ebene der Dogmatik entschieden“,40 sondern auf der Ebene einer Basistheorie des Rechts, die durch bestimmte Weltanschauungen beeinflusst wird und deren argumentative Autorität abgestützt wird durch die gemeinsamen, innerhalb einer Rechtsgemeinschaft vorherrschenden Auffassungen. Entscheidungsfindung und Begründungsprozesse erfahren durch diese Autorität eine Stabilisierung und Steuerung und prägen die Struktur des juristisch-administrativen Denkens typischerweise aufgrund einer Einschränkung der eigenen Überlegungen der Teilnehmer am Rechtsdiskurs. In diesem Zusammenhang beschreibt die argumentative Autorität nicht lediglich die Legitimationstechnik; es ist nämlich zu berücksichtigen, dass Entscheidungssubjekte es auf Dauer nicht hinnehmen würden, wenn ihre Überlegungen lediglich funktionale Bedeutung hätten. Die Steuerung einer Gesellschaft mittels argumentativer Kriele, ebd., S. 192. Kriele, ebd., S. 192. Vgl. dazu auch Troje, Erkenntnistheorie für Juristen, in: Recht und Politik 3 (1976), S. 143 (147), der die psychologische Dimension von Gesetzgebung und Institution als Versuche ansieht, „die aus dem Mißtrauen, ja der Verzweiflung an allem Menschlichen erwachsen und darauf zielen, den unerlässlichen Wächter ,Mensch‘ durch einen übermenschlichen, nicht schlafbedürftigen und auch sonst vollkommenen Ordnungsgeist zu ersetzen: ein Versuch, aus Einsicht in die Unvollkommenheit des Menschen geboren, darauf zielend, diese Unvollkommenheit aller menschlichen Ordnungen wieder verlierend und verratend“. Seiner Meinung nach ist es notwendig, solche Versuche immer wieder zu unternehmen, dabei jedoch auch dann Klarheit über eine Zielformulierung und das Ausmaß einer möglichen Zielerreichung zu gewinnen, wenn neue Probleme entstehen. Neue Probleme könnten – so Troje – insbesondere auftreten, wenn politische Verantwortung abgelehnt oder nicht übernommen wird, was die Gefahr einer anonymen Ordnungsmacht und politischen Missbrauch heraufbeschwöre. 38 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 192. Durch den Wechsel von Reflexion und Dezision bleibt ein Denkverfahren, das durch prinzipiell unbegrenzte Berücksichtigung von Argumenten rationales Verfahren sichern will, noch entscheidungsfähig; es wird die Gefahr eines unendlichen dialektischen Prozesses gebannt; vgl. Horn, Rationalität und Autorität in der Juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 1975, S. 145 (149). 39 Vgl. Horn, ebd., S. 155; zur Überwindung des Gegensatzes von Politik und Recht: Friedrich Müller, Methodik, S. 49 und Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg 1969, S. 221 ff. 40 Horn, Rationalität und Autorität, S. 155. 36 37

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Autorität funktioniert nur, solange diese Autorität auf rationale Argumente zurückgreifen kann.41 Die Aufgaben des Gesetzes42 im sozialen Rechtsstaat sind durch Integration, Repräsentation und soziale Korrektur gekennzeichnet. Die Pluralität der Meinungen wird in einer demokratischen Ordnung durch den Gesetzesbeschluss „zusammengeführt“ und lässt damit einen einheitlichen Staatswillen erkennen, der einmal den Willen der Bürger widerspiegelt, zum anderen über den Rechts- und Machtzweck hinaus Kultur- und Wohlfahrtszwecken dient. Dem Verwaltungsentscheider ist dabei nur insofern eine „politische“ Entscheidung“43 zuzugestehen, als er die Grenzen des demokratischen Rechtsstaates beachtet, der Gesetzgeber also eine Anzahl von formal erlaubten, weil durch Gesetz repräsentierten Alternativen vorgegeben hat. Weitergehende juristisch-administrative Entscheidungsfreiheit wird als kaum oder als nur mit Bedenken in den angedeuteten Tendenzen von Ersatz- bzw. Ergänzungs-Gesetzgebungsfunktionen zu rechtfertigen angesehen. Da nämlich nach dem Rechtsstaatsgebot die Möglichkeiten von Gesetz und seiner Anwendung möglichst übereinstimmen sollten, kann eine Ausdehnung des juristisch-administrativen Interpretationsspielraums grundsätzliche demokratische Prinzipien verletzen und damit den Bestand des Rechtsstaates gefährden. Die Nähe zur Politik sucht der Verwaltungsentscheider indes meist nicht selbst; sie ist ihm durch Verfassung und durch Gesetz vorgegeben. Vor allem aber ist die Rechtsnorm häufig das Ergebnis interessen- oder weltanschaulich bedingter Kontroversen;44 die Verweisung des Rechtsanwenders auf die Wertungen des Gesetzes bedeutet meist nichts anderes als eine positivistische Verschleierung aktueller Wertungen, die im Kon41 Vgl. Horn, ebd., S. 156. – Die völlige Lösung juristischen Denkens von den gegebenen Argumentationsautoritäten erweist sich als fragwürdig, da gleichzeitig Kommunikations- und Konsensmöglichkeiten beseitigt und die damit verbundenen politischen Funktionen des Rechts gefährdet würden. Wie die historische Entwicklung zeigt, wäre damit jedoch kein Endpunkt erreicht, vielmehr würden neue Autoritäten den Platz der alten einnehmen. Im Rechtsdenken bedeutsame Aussageautoritäten können nämlich nicht völlig beseitigt, sondern nur ersetzt werden. Ziel eines entsprechenden Programms kann daher nur ihre rationale Kontrolle sein. Auch an dieser Stelle bleibt zu berücksichtigen, dass das Rechtliche gewissermaßen als Superstruktur des Politischen betrachtet werden kann, als eine in besonderer Weise ausgerichtete Überformung politischer Inhalte und Vorgänge. Wissenschaftlich fassbar bleibt dabei die durch einen generellen Formalitäts- und Geltungsvorsprung bewirkte „graduelle Unterschiedlichkeit des Aggregatzustands politischer Inhalte“, schreibt Müller, Methodik, S. 50. 42 Zum Funktionswandel des Gesetzes vgl. Schambeck, Der Richter und die Politik, in: Deutsche Selektion der internationalen Juristenkommission (Hrsg.), Richter und Politik (Internationale Juristenkonferenz v. 1. – 3. 4. 1977 in Venedig), Heidelberg 1978, S. 55 (59 f.). 43 Ähnlich für richterliches Entscheiden Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung, Helsinki 1949, S. 78, der in diesem Zusammenhang auf den zwangsläufigen Einfluss hinweist, der von der in einer Staatsgemeinschaft herrschenden politisch-weltanschaulichen Ideologie auf die Arbeit des Richters ausgeht. Trotz dieser psychischen Wirkungen wird in fast allen Kulturstaaten die prinzipielle Unabhängigkeit des Richters gegenüber der Exekutive anerkannt. 44 Vgl. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin 1993, S. 293.

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fliktfall vorzunehmen sind.45 Juristisch-administrative Entscheidungen bewirken die Integration von Gesetzen in ein System von Geboten, Verboten und Erlaubnissen und tragen innerhalb des normativen Rahmens zur Berücksichtigung und Beeinflussung der hinter den Gesetzen stehenden politischen Ziele und sozialen Entwicklungen bei.46 5. Abweichen vom Gesetz, Lückenfüllung, Entscheiden praeter legem, Praxisänderung

Mit den hier zu behandelnden Phänomenen ist die Tätigkeit des Verwaltungsentscheiders im Grundsatz gekennzeichnet, der eine Auslegung vornimmt, die über die Regelungen des Gesetzestextes hinausgeht (lawmaking); sie findet – so die herrschende Meinung – ihre Grenze dort, wo die Bindung an Gesetz und Recht im Vordergrund stehen muss. Überschritten ist die Grenze, wenn gegen Anordnungen oder Wertungen geltender Rechtsvorschriften verstoßen wird, also eine Rechtsfortbildung „contra legem“ gegeben ist,47 während ansonsten angenommen wird, der Rechtsanwender bewege sich noch „am Rand“ hinnehmbarer Gesetzesauslegung (permissible interpretation). Einer faktischen Abkehr von der Gesetzesanwendungsdoktrin kommt eine nicht nur richterlich vielfach vorgenommene, sondern auch verfassungsgerichtlich anerkannte „Rechtsfortbildung“ gleich. So kann ausnahmsweise ein Abweichen vom Gesetz im Zuge einer Anpassung an gewandelte Auffassungen in der gesellschaftlichen Realität gerechtfertigt sein.48 Mit dem Altern der Kodifikationen erweitert Kilian, Entscheidung, S. 64 f. Damit wird die immer schon vorhandene soziale Kontrollfunktion und Gestaltungsfunktion rechtlicher Regelungen deutlich; Recht übernimmt auf diese Weise die Funktion eines flexiblen Instruments im sozialen Ordnungsprozess, getragen von den jeweils in der Gesellschaft vorherrschenden politischen Wertvorstellungen. Eine Reaktion auf diese vielleicht folgenreichste „Rechtsfunktion muss unter den Bedingungen der heutigen hoch differenzierten Gesellschaft dazu führen, bestehende Divergenzen zwischen den Gesetzen, den allgemeinen Zielen und der Gesellschaftsentwicklung mit modernen Methoden auszugleichen“. Dieser Ausgleich kann sowohl durch eine bessere Planung der Gesetze als auch durch eine bessere Organisation der Entscheidung herbeigeführt werden; zum Ganzen s. Kilian, Entscheidung, S. 65 f. 47 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 31 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl., Bern – München 2005, S. 158 entwickelt in diesem Zusammenhang instruktiv ein „3-Bereiche-Modell“, das über seine „darstellerisch-strukturierende“ Bedeutung (Kramer) hinaus m. E. für den Verwaltungsentscheider eine kritische Appellfunktion haben dürfte. 48 Für die begrenzte Zulassung der Abweichung aus diesem Grund Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit“ der Entscheidung, Berlin 1974, S. 54 f. Ausdrückliche Entscheidungen des Gesetzgebers darf die Verwaltung mangels demokratischer Legitimation nicht übergehen, sie ist kein Sachwalter direkter Demokratie. Anpassungen an geänderte Anschauungen werden dagegen für zulässig erachtet; dies vertritt auch – über die Formel vom „Bedeutungswandel“ – die h. M. jedenfalls für den Bereich der Rechtsprechung. Diese Ansicht ist gleichermaßen für die Praxis der öffentlichen Verwaltung zur Geltung zu bringen. 45 46

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sich der Spielraum für administrative Rechtsschöpfung, daher ist die Vereinbarkeit der Rechtsfortbildung mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) grundsätzlich nicht zu bezweifeln.49 Die formelle Legitimation des Verwaltungsentscheiders zur Gewinnung von agency-made law wird aus der Pflicht zur Entscheidung, die materielle Legitimation aus der Analyse des Sachverhalts im Hinblick auf seine Beziehungen, die zu den Beteiligten und Betroffenen bestehen, und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Wertung dieser Beziehungen abzuleiten sein.50 Dabei kommt dem gesellschaftlich induzierten Rechtswandel derogierende Kraft gegenüber dem formellen Gesetz zu, sodass die Gesetzeskorrektur das Vorgehen der Verwaltung (nur) als Abrücken von der strengen Bindung an den (konkreten) Gesetzeswortlaut erscheinen lässt.51 Rechtsfortbildende, den Norm- und damit den Anwendungsbereich eines Rechtssatzes erweiternde Wirkung hat auch die „Lückenfüllung“. Das Feststellen einer Lücke innerhalb des positiven Rechts setzt eine planwidrige Unvollständigkeit voraus. Dies ist der Fall – so wird gemeinhin angenommen –, sobald sich weder nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzes noch nach etwaigem Gewohnheitsrecht eine Regelung finden lässt, obwohl sich aus der Rechtsordnung als Gesamtheit eine solche als erforderlich erweist. Maßstab ist insoweit die gesamte geltende Rechtsordnung. Die Annahme einer Rechtslücke ist abhängig von präjudiziellen, ethischen, politischen, subjektiv-persönlichen oder sonstigen Prämissen. Kritisch betrachtet stellt der Vorgang der Lückenfüllung52 im Wesentlichen einen Bewertungsakt dar, den der Entscheider vornimmt. Die Entdeckung einer Lücke wurzelt im „Gefühl eines Mangels“ – verbunden mit dem Ziel ihrer Behebung. Überlegungen, die zur Feststellung einer Lücke führen, sorgen in diesem Sinne tendenziell für ihre Beseitigung. Grundlage der Lückenfeststellung und Lückenfüllung ist eine Wertentscheidung, die – so das insoweit anerkannte allgemeine Postulat – im demokratischen Rechtsstaat – lediglich – auf einen Rechtssatz zurückführbar sein muss. Obwohl hiernach der Kategorisierung als Lücke dogmatisch die Anerkennung als (offene) Wertentscheidung sicher ist, bleibt zu bedenken, wie wenig sie sich letztendlich von der verdeckten Bewertung innerhalb eines Auslegungsprozesses unterscheidet. Jedes Lücken49 Vgl. zu den verfassungsmäßigen Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung BVerfGE 34, 269 ff. Die Überlegungen bei Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, Berlin 1978, S. 82 ff. sind auch für den Bereich von agency-made law fruchtbar zu machen. 50 Für die Rechtsprechung entsprechend bereits G. Müller, Richterliche Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, JuS 1980, 627 (633). 51 Kramer, Methodenlehre, S. 155 spricht für den Bereich der Rechtsprechung von „gebundenem“ Richterrecht. Nichts anderes aber gilt entsprechend auch im Bereich des agency-made-law. 52 Erstaunlich ist übrigens, wie wenig der Lückenbegriff als Instrument der Gesetzeskorrektur im Schrifttum erörtert wird; dazu Kramer, Methodenlehre, S. 155 f.; ferner Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1995, S. 220 f.

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problem lässt sich im Grunde als Auslegungsproblem auffassen, erfolgt daher nicht als Textbearbeitung aufgrund rationaler Strategien und eindeutiger Kriterien, sondern geht im Rahmen hermeneutischer Verfahren auf einen mehr oder minder umfassenden Wertungsprozess zurück. Eine Anwendung formal-rationaler Techniken auf hermeneutische Verfahren muss jedoch erfolglos bleiben, weil die dabei ablaufenden Verstehensprozesse assoziativen Charakter haben und die auszulegende Norm zugleich als Orientierungshilfe bei der Auslegung fungiert. Diese Überlegungen stehen nun deutlich im Widerspruch zur klassisch-liberalen Auffassung, die nur unmittelbar dem Gesetz entnommene Interpretationsergebnisse als dem Gesetz entsprechend respektiert. Voraussetzung einer derartigen, von der Lückenlosigkeit der Gesetze ausgehenden Auffassung ist die Annahme der Vollständigkeit, Allgemeinheit und Richtigkeit des Gesetzes, was implizit eine bestimmte Gesellschafts-, Rechts- und Werttheorie beinhaltet. Während das Gesetz nach klassisch-liberalem Verständnis als auf Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit von Entscheidungen hin angelegt gedacht ist, umfasst es in heutiger Sicht nicht mehr nur allein den geplanten, sondern auch den in es „hineingelegten“ Sinn und Inhalt und stellt daher nicht mehr allein die schlichte Anwendungsproblematik, sondern eher die Rechtfertigungsproblematik in den Mittelpunkt der Überlegungen. Wie angesichts dieser Entwicklung eine Bindung an Gesetz und Recht sichergestellt werden kann, ist nicht eben einfach. Jedenfalls gilt, dass die richtige Anwendung des positiven Rechts dem Verwaltungsentscheider nicht nur gestattet, das Recht im Sinne einer Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sie kann ihn sogar hierzu verpflichten, wenn eine gerechte Entscheidungsfindung dies erfordert. Das schließt eine Rechtsfortbildung auch praeter legem sowie Änderungen der Verwaltungspraxis ein, soweit dies die richtige Anwendung des positiven Rechts erfordert.

III. Metadogmatische Daten als Richtwerte der Verwaltungsentscheidung Es ist ein unschwer zu belegendes Faktum, dass die Verwaltung ihre Entscheidungen in zahlreichen Fällen explizit an soziologisch erfassbaren Lebenswirklichkeiten und ihren Regelungsbedürfnissen orientiert. So wird die Orientierung des Rechtsanwenders53 an Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Empirie, an soziologischen, psychologischen, gerontologischen, ökonomischen, kriminologischen und politologischen Regelungsvorstellungen und 53 Es gehört offenbar zu einer überkommenen und bisher wenig angefochtenen, letztlich im „Geltungsanspruch“ von Verwaltung und Justiz wurzelnden Gepflogenheit, dass Befunde der empirischen Sozialforschung und ihre wissenschaftlichen Methoden weitgehend noch abgelehnt oder übergangen werden. Vgl. zum Problemkreis Weimar, Wie ist Rechtsprechungslehre als Wissenschaft möglich?, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln 1986, S. 155 ff.

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Erkenntnissen gefordert.54 Freilich ist weitgehend ungeklärt, in welchen Bereichen, mit welchem Anspruch und in welchem Umfang den Sozial- und Humanwissenschaften das Eindringen in die vielschichtigen Bereiche juristischer Entscheidungsfindung ermöglicht werden sollte.55 Grundlage der immerhin in Umrissen sichtbaren Tendenz zur Integration etwa der Sozialwissenschaften ist die Überwindung der traditionell einseitigen Trennung der Rechtswissenschaft als normativer Disziplin von den (empirischen) Sozialwissenschaften, die ihre philosophische Fundierung in der These der (formallogischen) Unmöglichkeit der Ableitung von Sollenssätzen aus Seinssätzen fand. Die Grundlage der Scheidung von explikativen und normativen Wissenschaften, die – vermeintliche – Unmöglichkeit der Begründung normativer Urteile aus und mit empirischen Sätzen, wird indessen zu Recht zunehmend in Zweifel gezogen, da die Wirklichkeit stets Resultat einer empirischen Betrachtung sei.56 Die Entscheidungsbegründung – gerade auch soweit sie eine Folgendiskussion umfasst – müsse deshalb wissenschaftliche Ergebnisse auch außerjuristischer Art berücksichtigen; normative Aussagen bedürften der realwissenschaftlichen Überprüfung der Sachbezüge.57 1. Agency-made law und Folgenberücksichtigung

Die Erkenntnis der Rechtsordnung als Friedens- und Freiheitsordnung und die Forderung nach weitgehend rational und somit intersubjektiv vermittelbarer Behandlung der Rechtswertungen setzen eine Metabewertung gesellschaftlicher Zustände voraus.58 Die Annehmbarkeit von Wertungen durch die Gesellschaft wird überhaupt und nur über die Problematisierung der Folgen der Wertungen für diese Gesellschaft als diskutierbar angesehen. Eine Untersuchung der Entscheidungsfolgen geht davon aus, dass nicht nur formallogische Schlüsse aufgrund exakt definierter Normen zu formaler Rationalität bei der Rechtsanwendung führen, sondern dass dies über eine Analyse der Ziele und Folgen der Alternativenwahl auch erreichbar ist. Das Konzept der Folgendiskussion59 zwingt den Entscheider, seine eigenen Einschätzungen und – wie zu wünschen wäre – auch die kompetenter Anderer darzulegen, was zu einer Verlagerung des Ziels seiner Entscheidung führen kann, insbesondere wenn man bedenkt, dass damit nicht mehr so sehr die lediglich „richtige“, als vielmehr auch die überprüfbare Entscheidung verstärkt ins Zentrum 54 Siehe insbes. Opp, Soziologie im Recht, Reinbek 1973, S. 79 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, Frankfurt am Main 1973, S. 14; ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main 1973, S. 261 f. 55 Vgl. Schünemann, Sozialwissenschaft und Jurisprudenz, München 1976, S. 2 u. 6 ff. 56 Dazu Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 248 ff. 57 So Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 118; s. a. die dort zusammengestellten entscheidungstheoretischen Ansätze (S. 119 ff.). 58 Vgl. Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (208). 59 Kritische Darstellung bei Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323 ff.

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der Betrachtung rückt.60 Ansätzen der Entscheidungstheorie zufolge kann eine in dieser Weise systematisch erweiterte Einschätzung von Folgen bei der Alternativenwahl zum zusätzlichen Kriterium der Bewertung werden. Im Rahmen des Entscheidungsprozesses sollen damit Folgenüberlegungen in Beziehungsgefüge von Bewertungskriterien eingearbeitet werden. In diesem Sinne hatte bereits der amerikanische Rechtsphilosoph John Dewey ausgeführt: „It must be a logic relative to consequences rather than to antecedents, a logic of prediction of probabilities rather than one of deduction of certainties.“61 In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass es die durch Folgenberücksichtigung regulierte Erkenntnis ist, die die konkrete Endentscheidung legitimiert. Sinn einer Folgenberücksichtigung kann es dabei nicht sein, subjektive Bewertungsvorgänge des Verwaltungsentscheiders nun völlig auszuschalten. Es sollen vielmehr Voraussetzungen und Konsequenzen des Wertens durch Information über die Folgen transparenter gemacht werden, ein Verfahren, das geeignet erscheint, die Zuverlässigkeit der Normbereichsbestimmung, um die es hier geht, entscheidend zu erhöhen. Die Verwaltungsrechtswissenschaft und ihre methodologischen Ansätze lassen das Problem der Bedeutung von Folgenerwägungen bei strikt gebundenen Entscheidungen außen vor, jedenfalls wird diesem Problem kein einheitlicher Stellenwert zuerkannt. Neben anderen Überlegungen sind die Reaktionen und praktischen Rückwirkungen einer in dieser Weise angelegten Auslegung zu bedenken.62 Der Weg, der zu beschreiten ist, um erst einmal notwendige Informationen zu erhalten, bleibt hier nicht selten im Dunkeln. Coing,63 der eine teleologische Auslegung befürwortet, geht aus von einer Bewertung des Gesetzgebers oder des Gesetzes (was bei ihm anscheinend gleichbedeutend ist), führt jedoch nicht weiter aus, inwieweit diese Bewertung ohne Berücksichtigung der Folgen zuverlässig zu ermitteln ist. Engisch64 hingegen meint, eine teleologische Auslegung könne erst gar nicht ohne reale Folgenberücksichtigung durchgeführt werden, betont aber gleichzeitig, dass diese Erwägung nur ein Gesichtspunkt unter mehreren sei. Nach Larenz65 gewährleistet eine vom Ergebnis her anzustrebende Richtigkeitskontrolle

60 Durch die Formulierung subjektiver Wertvorstellungen besteht womöglich die Chance einer Intensivierung von Reflexionen. Für einen deutlichen Rationalitätsgewinn spricht die Tatsache, dass eine Artikulation eigener Ansichten dem Entscheidenden in sozialer und psychischer Hinsicht Manches abverlangt. Ein bewusst auch Folgen einbeziehendes Entscheidungsverhalten mag auch der gestiegenen Komplexität der Umweltprobleme besser Rechnung tragen und der Erklärung tatsächlich bestehender Zielvorstellungen eher zuträglich sein als eine Verwendung undurchschaubarer Leerformeln. Folgendiskussionen könnten damit die häufig noch verwendeten, wenig konkreten Darstellungskriterien ablösen. 61 Dewey, Logical Method and Law, in: The Cornell Law Quarterly 10 (1924), S. 17 (26). 62 Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methode der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967, insb. S. 615 u. pass. 63 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin 1993, S. 348 f. 64 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., Stuttgart 1997, S. 77 u. 82. 65 Larenz, Methodenlehre, S. 280 f.

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die harmonische Gestaltung des „inneren“ Systems; sie müsse von daher als sinnvoll angesehen werden. Die Notwendigkeit der Folgenermittlung und -bewertung ist auch im positiven Recht selbst angelegt – etwa in unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln. Tatsächlich wird die Folgenberücksichtigung denn auch vielfach praktiziert.66 Der Verwaltungsrechtswissenschaft und ihrer Dogmatik ist nicht hinreichend klar zu entnehmen, ob es im Rahmen der Auslegungsentscheidung und damit bei der Abgrenzung des Normbereichs dem Verwaltungsentscheider überlassen bleibt, ob er – außerhalb von Ermessungsentscheidungen und Fragen des Verhältnismäßigkeitsprinzips – Folgen überhaupt berücksichtigen will oder soll und – wenn ja – ob vom gesetzespositivistischen Standpunkt aus die Folgenberücksichtigung als Element subjektiv-willkürlicher Vorgehensweise erscheint und als Kompetenzüberschreitung des Rechtsanwenders nicht in den Auslegungsprozess gehört.67 Ob Folgenberücksichtigung vor oder nach der eigentlichen Entscheidung stattfindet, wird meist als zufällig betrachtet und infolgedessen nicht als möglicher Steuerungsmechanismus im Prozess der Normbereichsgewinnung gesehen. So wird die Berücksichtigung von Folgen vielfach zwar als Bestandteil praktischer Gesetzesinterpretation bezeichnet, ohne dass aber der Versuch einer genaueren methodischen Untersuchung unternommen wird.68 Hier gewinnen die modernen Erwägungswissenschaften zunehmend Bedeutung. Wälde, Juristische Folgenorientierung, Königstein / Ts. 1979, S. 12 f. mit zahlr. Nachw. Sicherlich ist hierin eine Überschätzung der Tragweite juristischer Interpretationsmittel zu sehen, die glauben zu machen versuchen, ein Einsatz dieser Mittel könne die im Gesetz vorweggenommene, aber noch verborgene Bewertung hinsichtlich des Einzelfalls zum Vorschein bringen. Juristische Informationsmittel sind nämlich ihrem Inhalt, ihren Anwendungsvoraussetzungen und ihrem interdependenten Sinnzusammenhang nach auf der Ebene eines hohen Allgemeinheitsgrades formuliert, lassen damit die genannten Vorstellungen zur Fiktion werden und machen es gleichzeitig unerlässlich, dem Richter ein methodisches Vorgehen abzuverlangen, das sowohl Transparenz als auch intersubjektiv kontrollierbare Entscheidungsschritte ermöglicht. Ein Strukturierungskriterium für den Entscheidungsprozess lässt sich daraus gewinnen, dass man voraussichtliche Folgen der möglichen Gesetzesauslegung im Entscheidungsverlauf ständig vorwegnimmt; dazu Kilian, Entscheidung, S. 212 ff. 68 Richtigerweise darf Folgenberücksichtigung nicht zufällig bleiben; vielmehr ist eine „Isolierung“ der Folgen vorzunehmen, die dann als steuerndes Element in ein methodisch kontrolliertes Entscheidungsverfahren zu integrieren sind. Hier stellt sich auch das Problem der Rückinformation aus dem antizipierten gesetzlichen „Ergebnis“, weil sicherlich der Prozess der Informationsgewinnung fraglicher ist als eine Anwendung diese Rückinformation selbst; vgl. Esser, Vorverständnis, S. 41, der die im Normsatz enthaltene Rechtsfolge nicht als Ergebnis von Subsumtionsvorgängen, sondern als „wegweisendes Indiz für die vom Ordnungszweck her bestimmte ratio legis“ sieht, die erst eine Beurteilung des gesetzlichen Tatbestands erlaube. Eine Summierung und begriffliche Zerlegung von Tatbestandsmerkmalen führe ohne die aus dem vorweggenommenen Ergebnis stammenden Informationen nicht zur Erfassung des Normgehalts. Erst die Folgenberücksichtigung ermögliche ein Verstehen des Tatbestands in hinreichendem Maß. 66 67

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Die Integration von Folgen und Zielaspekten in den juristisch-administrativen Entscheidungsprozess kann eine wesentliche Förderung durch die von Podlech69 entwickelte wissenschafts- und entscheidungstheoretischen Begründung der Folgenberücksichtigung erfahren. In einer kritischen Auseinandersetzung mit der materialen Wertethik kommt er zu dem Ergebnis, dass eine Wertediskussion nur im Zusammenhang mit Folgenerwägungen, die den Bezug zu gesellschaftlichen Gegebenheiten herstellen, vorstellbar und möglich ist. Dieser Ansatz beinhaltet eine formal-rationale Strukturierung des Entscheidungsprozesses, womit eine Möglichkeit aufgezeigt ist, einer unzureichenden, methodische Gesichtspunkte vernachlässigenden Praxis auch beim juristisch-administrativen Entscheidungsprozess entgegenzuwirken. „Gerechtigkeit“ lässt sich nämlich dann als „Folge“ erfassen, wenn ein Zustand oder Verhalten beschrieben wird und anschließend eine Beurteilung an offen zum Ausdruck kommenden, die Gerechtigkeit konkretisierenden Zielen erfolgt. Zwar wird nicht behauptet, dass durch die Berücksichtigung der Entscheidungsfolgen70 subjektive Bewertungen des Entscheiders beseitigt werden könnten, wohl aber werden durch konsequentes Abwägen und Aufrollen der Entscheidungsschritte die Voraussetzungen und Konsequenzen des Bewertungsprozesses mittels empirischer Informationen erhellt. Mit der folgenbasierten Methodologie soll eine deutlich spürbare Lücke vor allem bei der Festlegung des Normbereichs gefüllt werden: Es wird ein definitives Verfahren zur Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung durch die Verwaltung erwartet, von dem bislang kaum die Rede sein kann. Die Diskussionen um Topik und Hermeneutik, um System und Systemtheorie haben die juristischen Entscheidungsspielräume der Verwaltung zwar verdeutlichen können und zur Offenlegung wichtiger Problemkreise beigetragen, allerdings die Formulierung eines Erklärungsmodells zur Bewältigung juristisch-administrativer Konfliktfälle vermissen lassen. In diese Situation fügt sich nun das Konzept der Folgenbewertung ergänzend ein, dessen wesentliches Anliegen in der näheren Aufdeckung von Wertungen liegt. Bei rationalem Vorgehen hat hiernach der Verwaltungsentscheider die verschiedenen gesellschaftlichen Folgen der möglichen Entscheidungsalternativen nebeneinander zu stellen, um mithilfe einer expliziten Regel eine bestimmte (vorzugswürdige) Alternative auszuwählen. Die relevanten Wertvorstellungen des Entscheiders und sein Bild von der Wirklichkeit sollen auf diese Weise offen gelegt und deutlich werden, ein Zurückziehen auf kaum angreifbare Immunisierungsstrategien oder Leerformeln gängiger Dogmatik verhindert werden. Verwaltungsentscheider, die diese Vorgehensweise praktizieren, werden ihre Vorstellungen womöglich einer kritischen Fachöffentlichkeit präsentieren müssen. Dieser HerausPodlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (208). Vgl. hierzu Kilian, Entscheidung, S. 211 ff., der allerdings darauf hinweist, dass je nach Rechtsgebiet eine unterschiedlich große Relevanz derartiger Überlegungen festzustellen sei. Während etwa im öffentlichen Sachenrecht die Folgendiskussion weitgehend ohne Bedeutung ist, gilt im Umweltrecht etwas gänzlich anderes; vgl. auch Wälde, Folgenorientierung, S. 13. 69 70

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forderung ist nicht schon damit genügt, dass ein auch bislang vorhandenes Rechtsempfinden in eine argumentationstheoretisch ansprechendere Form gebracht und das Wissen über gesellschaftliche Entscheidungsfolgen nun verstärkt „systematisch“ parat gehalten wird. So gesehen könnte der Entscheider gezwungen sein, Auseinandersetzungen auch außerhalb des juristisch-administrativen Bereichs zu verfolgen, also etwa politischen Diskussionen und Ergebnissen von Meinungsumfragen einen ganz neuen Stellenwert zuordnen. Seine Aufmerksamkeit müsste sich zudem auf die Beobachtung gerade der „Folgen“ bereits entschiedener Fälle richten, was ihn u. U. allerdings überfordern könnte. Eine institutionalisierte „Rückkopplungsschleife“, die Informationen über die Wirkungen solcher Entscheidungen in der Gesellschaft speziell an den Verwaltungsentscheider zurückgibt und zur Korrektur seines Verhaltens im Hinblick auf zukünftige Entscheidungen beitragen kann, existiert nicht. Wohl gibt es inzwischen die allgemeine Einrichtung von Gesetzesfolgenabschätzung für den politischen Raum (z. B. Böhret),71 wie hier nur angedeutet sei. 2. Diskussion einzelner Bedenken

Ein grundsätzlicher Einwand gegen die Folgenberücksichtigung wird aus der fehlenden Rückkopplung und der damit angeblichen Sinnlosigkeit einer Prognose der Entscheidungsfolgen hergeleitet, da Folgenbewertung nicht auch eine Kontrolle anhand der tatsächlichen Entwicklungen erfahre und keine Rückkopplung in der Weise herbeiführe, dass die Ergebnisse der Kontrolluntersuchungen in einer späteren Entscheidung zum Tragen kommen.72 Zu bedenken ist, dass eine derartige Rückkopplung nicht verfahrensmäßig festgelegt ist und daher nur zufällig stattfindet. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass der Verwaltungsentscheider durch diffuse Kanäle erfährt, inwieweit das, was beabsichtigt war, durch die Entscheidung tatsächlich erreicht wurde. Da dies jedoch verfahrensmäßig zufällig erfolgt, gelten bei juristisch-administrativen Entscheidungen empirisch nicht überprüfbare Vermutungen bzw. Behauptungen und sogar von vornherein nicht überprüfbare Äußerungen selten als Nachteil. Dagegen wird erwartet, dass zusätzliche Informationen auf Erfahrungsbasis wesentlich dazu beitragen können, übernommene rollen- und institutionsabhängige Überlegungen zu Gunsten informationsbezogener Aussagen im Sinne einer transparenten Gestaltung des Entscheidungsprozesses zurückzudrängen. Die bei manchen Verwaltungsentscheidern zumindest latent vorhandene, aber meist unzureichend internalisierte Folgenverantwortung wird damit gefördert. Ein Ignorieren der Entscheidungsfolgen kann lediglich psychologische Vorteile mit sich bringen und – insbesondere bei Außenstehenden – den Eindruck der Unparteilichkeit des Entscheidungssubjekts erwecken.73 Prob71 Böhret / Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, Meckenheim 2000. 72 Vgl. Kilian, Entscheidung, S. 217 ff.; dazu auch Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323 (324).

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lematisch bleibt die Frage, ob die prognostizierten Entscheidungsfolgen sich als tatsächlich richtig erweisen. Zwar kann der Verwaltungsentscheider nur einen Anstoß zu bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen geben, dennoch ist schon für die Einschätzung der Folgen ein umfangreiches Wissen über die soziale Wirklichkeit und ihre Zusammenhänge notwendig.74 Eine Informationsbeschaffung größeren Umfangs dürfte zudem Ressourcen erfordern, die auf Dauer nicht zur Verfügung gestellt werden können. Daneben wird die Gefahr gesehen, dass in der Verwaltungspraxis aus Gründen der Zeitersparnis Folgenkalküle standardisiert und Begründungsaussagen formuliert werden, die anschließend als argumentative Versatzstücke Verwendung finden. Ein Rationalitätsgewinn wäre im Rahmen einer solchen Praxis kaum zu erwarten. Eine an den gesellschaftlichen Entscheidungsfolgen orientierte Praxis hat nach Auffassung Döhrings75 nur Sinn, solange ein solches Vorgehen mit der Gesetzeslage in Einklang zu bringen ist. Meist wird das Gesetz auch nicht jegliche Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen einer Entscheidung verbieten, wenngleich bestimmte Konsequenzen von der Berücksichtigung ausgenommen sein sollten. Gemeint sind die vom Gesetz bereits aufgegriffenen, aber als unbeachtlich angesehenen Gesichtspunkte. Eine Einbeziehung von sozialen Folgen könnte demnach nur in gewissen Grenzen erfolgen. Besonders kritisch gestalten sich nach Meinung Böhlks und Untersehers76 die Wirkungen der Folgendiskussion auf das Verhältnis von Entscheider und Betrof73 Zur weiteren Kritik und Modifikation des Folgenberücksichtigungsmodells Böhlk / Unterseher, JuS 1980, 325 ff.; eine umfassende Behandlung der Streitpunkte (Stichworte: „fehlende Legitimation“, „Dysfunktionalität“) findet sich bei Wälde, Folgenorientierung, S. 96 ff., 105 ff. 74 Das Manko der Verwaltung (auch) in der Gegenwart liegt darin, dass der Entscheider zwar im öffentlich-rechtlichen Bereich über sein konkretes Arbeitsfeld etwas hinausschaut, nicht aber den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund in angemessenem Umfang zur Kenntnis nimmt. Die von Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323, (325) katalogisierten Voraussetzungen „seriöser“ Folgendiskussion enthalten die Forderung nach größerer Informationssammlungsfreiheit für den Entscheider, nach mehr Zeit zum Erwerb von Sachkunde, nach mehr Mitteln (etwa für Gutachten), nach besserer personeller Ausstattung und fundierter Ausbildung, die gestattet, Naturwissenschaftler zu verstehen, die gleichzeitig Zugang zu sozialwissenschaftlichen Handlungsmodellen verschafft und die verdeutlicht, dass außerjuristische Befunde und Argumente (Gutachten) mehr sein können als „auswechselbare Versatzstücke juristischer Begründungen“. Auch Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen, S. 185 ff., 191 f. betont die Bedeutung einer genauen Analyse der Entscheidungsfolgen; dabei seien insbesondere die Konsequenzen einer mangelhaften Untersuchung in Erwägung zu ziehen: Bei gehörigem Zusehen könne sich ein vielleicht gut gemeintes, aber unbedachtes Eingreifen des Rechtsanwenders als einseitig bezüglich der Rechtsinteressen erweisen. Es seien zudem höchst unsoziale Auswirkungen auf andere Personengruppen oder die Allgemeinheit und sogar auf denjenigen, der nach der Absicht des Bearbeiters rechtlichen Schutz erfahren sollte, vorstellbar und möglich. 75 Die gesellschaftlichen Grundlagen, S. 186. 76 So Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323 (325), die zudem die Gefahr der Politisierung der Entscheidungsbegründung heraufbeschworen sehen.

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fenem bzw. seinem Publikum. Die Vorstellung von (angeblich) zwingenden Entscheidungen im Sinne eines gesetzlichen „Wenn-dann“-Programms hätte zumindest breite „public relations“-Wirkungen, die für ein Abschneiden der Diskussion mit Betroffenen sorgten. Den Betroffenen wird ja bekanntlich in Form der Entscheidung ein Ergebnis mitgeteilt, von dem nicht wenige annehmen, es sei trotz ggf. erneuter Überprüfung endgültig. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel werden denn auch aufgrund dieses Eindrucks nicht in jedem Fall eingelegt, ganz gleich, ob der Betroffene das Gefühl hat, der Verwaltungsentscheider habe nur das Gesetz angewendet oder doch recht subjektiv geurteilt. Bei einer betont umgangssprachlichen Begründung der Entscheidung im Rahmen der Folgendiskussion muss sich der Betroffene, dem erklärt wird, sein Anliegen bleibe nach Abwägung aller relevanten Umstände ohne Erfolg, gewissermaßen aufgefordert fühlen, in der nächsten Instanz einen „verständnisvolleren“ Entscheider zu suchen. Darin mag man in der Tat eine gewisse Gefahr möglicher „Politisierung“ von Entscheidungsbegründungen sehen können und letztlich auch eine zunehmende Belastung der Verwaltung. Weiterhin ergibt sich das Problem, dass dann, wenn die Folgendiskussion im Fachjargon geführt wird, ein ausgiebiger Expertendisput einsetzen kann, den der Verwaltungsentscheider jedoch aufgrund des bestehenden Entscheidungszwanges und Zeitdrucks schließlich abbrechen müsste. Eine von Zwängen befreite Diskussion könnten – so Böhlk und Unterseher – Entscheider unter sich führen, wobei die Ergebnisse als plausible, für die Zukunft korrigierend wirkende Argumente an die Entscheidungspraxis herangetragen werden sollten. Dass auch dieser Vorschlag die anstehenden Probleme nicht lösen kann, liegt nicht nur an einer fehlenden Beteiligung der Betroffenen, sondern auch an der Bearbeitung der empirischen Eingangsdaten durch Verwaltungsentscheider, die grundsätzlich nur mit einer gewissen „Alltagsmethodik“ an komplexe Probleme der sozialen Realität herangehen, „und zwar auf eine nicht diskursive, nicht überprüfbare, recht autoritative Weise“.77 Dabei spielt auch die Verfahrensherrschaft des Verwaltungsentscheiders eine nicht unerhebliche Rolle.

IV. Orientierung an der Wünschbarkeit sozialer Zustände Bei der Ausrichtung juristisch-administrativer Entscheidungen auf die Entscheidungsfolgen ist weiterhin die Wünschbarkeit als Einstellung gegenüber Aussagen, die Entscheidungsfolgen betreffen, von Bedeutung. Theoretisch bleibt der Spielraum für die Wünschbarkeit einer bestimmten Entscheidungsfolge unbegrenzt, was in der ausschließlichen Abhängigkeit dieses Spielraums von den persönlichen Zielen des Entscheidungssubjekts begründet liegt. Dabei ist eine teilweise Überschneidung der Begriffe „Wünschbarkeit“ und „Wertung“ im Rahmen juristischkognitiver Zusammenhänge feststellbar. 77

So Böhlk / Unterseher, Die Folgen der Folgenorientierung, JuS 1980, 323 (325).

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung 1. Werten und Wünschbarkeit

Juristisch-administratives Werten wählt aus einer Menge von im konkreten Fall zur Verfügung stehenden Werten, die sich regelmäßig nicht in einer bestimmten Weise schon geordnet und exakt sortiert vorfinden und nur ausnahmsweise in Form von Werthierarchien vorliegen, eine Wertversion aus. Zwar entsteht durch Formulierungen in den Begründungen von Verwaltungsentscheidungen oft der Eindruck einer gesetzlichen Determiniertheit der Werte und ihrer Rangordnung, also ihrer von der Person unabhängigen Einschätzung, doch zeigt das Ergebnis der Entscheidung, welcher Wert das größere Gewicht erfuhr. Entscheidungstheoretische Wünschbarkeiten ermöglichen allenfalls ein mittelbares Schließen auf angestrebte Werte, da ihnen kein von vornherein festgelegter Wertevorrat zugrunde liegt, vielmehr subjektive Beurteilungen ohne exakte Bedingungen die Szene beherrschen. Zwar sind bei beiden Verfahrensmodalitäten subjektive Wertungen notwendig. Grenzen ergeben sich jedoch aus der Bewertungsgrundlage. Der Spielraum für Wünschbarkeiten stößt daher dort an seine Grenze, wo der Normbereich eines Rechtssatzes endet. Eine gewisse Eingrenzung ist zudem durch die Existenz anderer Rechtssätze und den mehr oder weniger hohen Vagheitsgrad des Gesetzestextes selbst gegeben. Da auch im Bereich der Verwaltungsjurisprudenz die Gerechtigkeit einer Entscheidung ausschlaggebend ist,78 entstehen erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich kardinaler oder ordinaler Information über Wünschbarkeiten. So bleibt insbesondere im Dunkeln, warum der Verwaltungsentscheider mögliche, aber für andere Wünschbarkeiten sprechende Argumente durchweg unberücksichtigt lässt. Eine entscheidungstheoretisch orientierte Vorgehensweise müsste im Gegensatz dazu als Information über die Bewertung Rahmenbedingungen aufzeigen, was zu einer Aufschlüsselung des Vorverständnisses und damit zur Kritik- und Kontrollfähigkeit des Ergebnisses beitragen kann. Dabei treten in dem Maße, in welchem juristisch-administrative Entscheidungen als Ergebnis rationaler Informationsbeschaffungen und Informationsverarbeitungsprozesse betrachtet werden, die mehr oder weniger bewusst und gewohnheitsmäßig verlaufenden Entscheidungsvorgänge als solche zurück: In den Mittelpunkt der Betrachtung rückt die Erfassung von Informationen.79 Sieht man von einigen Ansätzen außerhalb der Rechtstheorie ab, so ist eine brauchbare Festlegung eines pragmatischen Informationsbegriffs 78 Döhring weist auf den Gedanken der „Gerechtigkeit“ hin, deren Definition zwar unzulänglich bleibe und auch durch eine Umschreibung keine zufrieden stellende Ergänzung erfahre, jedoch als Idee von Bedeutung sei. Nach Ansicht Döhrings erhebt die juristische Entscheidung den Anspruch, nicht nur der Gesetzeslage zu entsprechen, vielmehr auch maßgebenden Gerechtigkeitsauffassungen Rechnung zu tragen, insbesondere dort, wo argumentiert werde, eine bestimmte Regelung sei „angemessen“, „vernünftig“, „sachgemäß“, „gegenwartsbezogen“ etc. „Gerechtigkeit“ solle nicht als auf das sozial Wünschenswerte beschränkt gesehen werden. Zwischenmenschlich Wünschenswertes habe keineswegs Vorrang vor anderen im Gerechtigkeitsprinzip enthaltenen Gesichtspunkten; dem Entscheider bleibe eine gewisse Entschlussfreiheit für Überlegungen staatspolitischer, wirtschaftlicher, kultureller oder auch psychologischer Art. Vgl. zum Ganzen Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen, S. 69 f. 79 Zum entscheidungstheoretisch orientierten Modell Kilian, Entscheidung, S. 99 ff.

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bisher nicht erfolgt. Es kommt daher darauf an, für den Bereich der juristischadministrativen Entscheidung einen Informationsbegriff zu entwickeln, der für die Bedürfnisse der Rechtsanwendung und namentlich der Normbereichsermittlung durch die Verwaltung geeignet ist. Dabei können zwei Informationsklassen unterschieden werden, nämlich normsatz- und sachverhaltsbezogene Informationen.80 Darauf soll nachfolgend eingegangen werden. 2. Normsatz, Normzielhypothese, empirische Information

Normsätze fungieren im Entscheidungsprozess als Maßstäbe zur Ermittlung des Normbereichs, den sich die betreffende Norm als relevantes Regelungssegment der Realität „ausgesucht“ hat. Auszugehen ist dabei grundsätzlich davon, dass der Verwaltungsentscheider bei der Wirklichkeitserfassung und den im Entscheidungsprozess notwendigen Bewertungen seinen Erkenntnis leitenden Informationen folgt, die ihrerseits durch allgemeine, wertende Aussagen der Normsätze begrenzt sind. Offene Frage bleibt, im welcher Weise Erkenntnis leitende Interessen des Entscheiders durch die Normsatzaussagen tatsächlich eine Eingrenzung erfahren. Eine objektivierende Bestimmung der Grenzziehung wird vor allem dadurch erschwert, dass jedes Erkennen, Einordnen und Verarbeiten von Aussagen seinerseits Bewertungen voraussetzt, die sich wiederum an weiteren Informationen orientieren. Während widersprüchliche oder sich überschneidende Normaussagen offensichtlich eine wertende Beurteilung erfordern, besteht dazu immer dann, wenn ein Normsatz „direkt“ Anwendung finden kann – scheinbar –, keine Notwendigkeit. In den Fällen – vermeintlich – „direkter“ Anwendbarkeit eines Normsatzes steht der Entscheider jedoch in einer Situation, die von ihm verlangt, zu entscheiden, ob der entsprechende Normsatz im Blick auf sein Ziel (Normsatzziel) eine Bewertung notwendig macht oder nicht. Als Grundsatzproblem ist hier zunächst zu klären, wie eine Begrenzung der Menge der – zulässigen – Bewertungen durch das Normsatzziel zu erreichen ist. Die ursprüngliche Frage der Feststellung von Normsatzinformationen wird damit auf die Ebene der Ermittlung des Normsatzziels verlagert. Auszugehen ist davon, dass das Normsatzziel keine Eigenschaft der Norm selbst bezeichnet, sondern eine Aussage über die Norm beinhaltet. Bei der Auslegung geht es daher nicht um die Feststellung des Bedeutungsinhalts, die ein Normsatz bereits hat; es handelt sich hier vielmehr um eine Bedeutungsfestlegung durch die entscheidende Instanz.81 80 Siehe Kilian, ebd., S. 102. Podlech, Datenschutz im Bereich der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1973, S. 11 u. 55 unterscheidet richtig zwischen Informationen, die für die Bewertung unmittelbar notwendig sind (Primärinformationen), und solchen, die zur Beurteilung der Primärinformationen herangezogen werden (Sekundärinformationen). – Zur Bedeutung des Tatbestands als Information bei der Rechtsanwendung vgl. Hassemer, Tatbestand und Typus, Köln 1968, S. 150 ff. 81 Auslegung ist nicht Bedeutungsfeststellung, sondern Verleihung eines Bedeutungsinhalts, vgl. Makkonen, Zur Problematik der juridischen Entscheidung, Turku 1965, S. 104 ff.

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Die Entscheidung hängt damit von Faktoren ab, von denen sich vorerst nur sagen lässt, dass sie einerseits nicht willkürlich und andererseits nicht (ausschließlich) objektiv angesetzt werden können, da das Einfließen subjektiver Elemente zwar verborgen bleiben, nicht aber verhindert werden kann. Daher lassen sich diejenigen Aussagen, die für den Verwaltungsentscheider bei der Erarbeitung eines objektiv und subjektiv determinierten Normsatzziels Bedeutung erlangen, als Normsatzinformationen bezeichnen. Diese Informationen werden dabei ähnlich wie empirische Informationen nicht unmittelbar, sondern erst nach einer Bewertung im Blick auf das Normsatzziel bedeutsam. Der erste Entscheidungsschritt hat also in Gestalt der Bewertung einer Normzielhypothese zu erfolgen, da eine Ermittlung empirischer Informationen nur mithilfe entsprechender Zielvorgaben möglich ist. Geschlossene Ableitungssysteme scheinen es zwar nahe zu legen, die Notwendigkeit von Bewertungen leugnen zu müssen, den rechtlichen Normsatz demgemäß als konditional programmiert und damit als „direkt“ anwendbar zu begreifen. Von dort her scheint eine primär an der Wertungsfrage orientierte Entscheidungsfindung82 kaum als Kriterium einer nicht engagierten, „objektiven“ Rechtsanwendung fungieren zu können. Die These von der Voraussetzungslosigkeit der Wertungsprämissen bei der Rechtsanwendung ist indes schon deshalb nicht haltbar, weil das Gesetz selbst den Rückgriff auf gesetzlich verankerte Werte oder auf die Wertordnung der Verfassung voraussetzt. Richtig ist nur, dass ein solcher Rekurs aus formalrationaler Sicht wenig befriedigen kann, da die im Gesetz angesprochenen Werte selbst interpretationsfähig und interpretationsbedürftig sind, andererseits jedoch eine Rangordnung in Bezug auf Werte nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres zu erkennen ist. 3. Werte abwägen als Metabewertung gesellschaftlicher Zustände

Ein „Wert“ ist als das Ergebnis eines relativen Vergleichs anzusehen, der Ausdruck bezeichnet die Vorzugsrelation zwischen mehreren Größen. Die Operationalisierung materieller Werte wird dadurch erreicht, dass ihnen subjektive Präferenzen zugeordnet und dann nur noch die Zuordnungsergebnisse berücksichtigt werden, während die Ausgangswerte unbeachtet bleiben. Eine Begründung dieser Vorzugswürdigkeit stellt die formale Präferenztheorie nicht bereit, sie geht hier von einem Problem der Metabewertung gesellschaftlicher Gegebenheiten aus.83 Dazu Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., Bern 1967, S. 374. Nach Ansicht von Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S. 167 u. 41 Fn 37, sollte diese Metabewertung auf die Diskussion bereits getroffener Bewertungen zurückgehen, wodurch ein materiales Problem in eine Metadiskussion verlagert werde, die wiederum auf materiale Werte Bezug nehmen müsse. Damit ist darauf hingewiesen, dass der Wertungsvorgang einer rationalen Behandlung nicht unbedingt verschlossen sei; durch systematische Untersuchung der formalen Strukturen juristischer Bewertungsprozesse kann es gelingen, in Anlehnung an die formale Präferenztheorie die apriorisch emotional ausgerichteten Wertdiskussionen durch Einführung intersubjektiv nachprüfbarer Präferenzen zu ersetzen. Die Vorgehensweise steht allerdings in der Gefahr eines unendlichen Regresses; eine Richtigkeit von Präferenzen kann es nicht geben, 82 83

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Soweit es in juristisch-administrativen Entscheidungen um die Wünschbarkeit sozialer Zustände geht, können deutliche Parallelen zu dem aufgezeigt werden, was von wirtschaftswissenschaftlicher Seite als „Wohlfahrtsfunktion“ bezeichnet wird. So hat namentlich Streißler Zusammenhänge dargestellt, die zwischen einer ökonomischen Wohlfahrtsfunktion und juristischen Gemeinwohlvorstellungen bestehen. Seiner Ansicht nach können Gemeinwohlentscheidungen nur dann auf Präferenzrelationen zurückgreifen, wenn als Grundlage zumindest weitgehend homogene Gemeinwohlvorstellungen vorhanden sind oder die soziale Wertung nur einen begrenzten Bezug zu Teilrechtsgebieten oder Gruppenansprüchen aufweist.84 Zu berücksichtigen bleibt hier ebenfalls, dass sich höhere oder geringere Sozialgerechtigkeit relativieren lässt, und zwar geschieht das um so eher, je mehr Gerechtigkeit auf politische Theorien und damit soziale Präferenzen und genaue Zielvorstellungen innerhalb der Normen zurückgeht und je weniger von Rechtssätzen losgelöste, beziehungslos nebeneinander gültige Rechtsprinzipien in Anspruch genommen werden müssen. Es dürfte keine Schwierigkeit darin zu sehen sein, Gründe für entscheidungstheoretische Wünschbarkeiten verbal und im traditionellen Sprachgebrauch anzugeben.85 Infolge der Vielfalt juristisch-administrativer Argumentationsmöglichkeiten lässt sich fast jede Wünschbarkeit rechtfertigen. Im Blick auf eine rationale Entscheidung ist daher fraglich, ob der Verweis auf eine passende fachliche Argumentfigur, wie etwa der Hinweis auf „Billigkeit“, „Sachzusammenhang“ oder „Natur der Sache“, zur Präzisierung ausreicht, da die die Vorauswahl bestimmenden (Beweg-)Gründe in der Verwaltungsentscheidung nicht genannt werden und im konkreten Fall auch kaum eruierbar sein dürften.

V. Agency-made law-adäquater Normbegriff Nach allem orientiert sich der Verwaltungsentscheider am „Gesetz“ als semantischem Substrat, wo ihm dies hinreichend erscheint. Häufig rekurriert er auf vorpositive Wertungen, Ordnungsvorstellungen und namentlich auf soziale Gegebenheiten. Die „Norm“ ist also textlich offenbar nicht oder jedenfalls nicht stets identisch mit dem, was legistisch verordnet ist. Die Entscheidungspraxis weist vielmehr auf eine postmoderne Ablösung vom (strengen) Gesetzespositivismus. allenfalls einen pragmatischen Konsens hinsichtlich ihrer Vernünftigkeit. Bewertungen sind durch Bezugssysteme kultureller Art und die in ihnen wurzelnden materialen Wertoperationen determiniert, deren weitere Hinterfragung von einer bestimmten Grenze an nicht mehr sinnvoll erscheint. Möglich ist allerdings eine Strukturbeschreibung von Präferenzordnungen, mit der eine Rationalitätsstufe erreichbar ist in dem Sinne, dass intersubjektive Diskussionen (wenn auch ohne Anerkennungsverpflichtung) verstärkt einsetzen können. 84 Streißler, Zur Anerkennung von Gemeinwohlvorstellungen in richterlichen Entscheidungen, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Ringvorlesung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg / Br., Wintersemester 1966 / 67, Karlsruhe 1967, S. 1 (9 ff.). 85 Kilian, Entscheidung, S. 229 f.

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Gemeint ist nichts anderes als die vorsichtige Überwindung der vom Neukantianismus verselbständigten Norm in ihrer Abstraktion von der Wirklichkeit durch eine postulierte Dichotomie von Sein und Sollen. In „reinster“ Form ist der von dieser Richtung vertretene Normbegriff bei Kelsen86 ausgeprägt. Mit der Erfassung des Rechts als ausschließlichem Sollen bleibt die Frage nach dem Geltungsgrund offen.87 „Recht“ lediglich als Zusammenstellung „reiner“ Imperative zu begreifen,88 ist ein problematisches Unterfangen.89 Der Anspruch der Reinen Rechtslehre auf formale Reinheit und Modellgeschlossenheit war in erster Linie denkästhetischer Natur, die Praxis juristisch-administrativer Entscheidungsfindung ist damit nicht erfasst.90 So viel aber scheint feststellbar: Der „geltende“ – von der Praxis akzeptierte und angewendete – Normbegriff ist nicht der des Positivismus oder Neukantianismus, dessen Konzeption Kriterien materiell-inhaltlicher Art nicht ausweist und die Maßstäbe für eine Deutung des Gesetzes und seines Kontexts ins Metajuristische verweist.91 Das Normverständnis der Verwaltungspraxis ist kein der Optik der Wirklichkeit enthobenes formal-konstruktives Konzept;92 das ist schon am Beispiel der inhaltlichen Ausfüllung „vager“ verwaltungsrechtlicher Gesetzesbegriffe deutlich. Aber auch ein soziologischer Normbegriff,93 soweit er herkömmlicherweise eine Eigenständigkeit der staatlichen Rechtsnorm in dem Sinne verneint, dass er sie – in extremer Ausprägung dieser Lehre – zur bloßen Empfehlung degenerieren lässt,94 scheint das Praxisverständnis der Verwaltung nicht zu treffen. Der soziologische Ansatz ist allein deshalb nicht haltbar, weil die „normative Kraft des Faktischen“ nicht so weit reicht, dass der Verwaltungsentscheider ihr – ohne weiteres – Folge zu leisten hätte und ihr Rechtsgeltung stets zusprechen dürfte oder gar müsste.95 86 Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960. Kritisch zu Kelsens Rechtslehre u. a. namentlich Moore, Legal Norms and Legal Science, Honolulu 1978. 87 Das hat bereits den Vorwurf der „Heiligsprechung des Gesetzes“ provoziert, vgl. Klenner, Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre, Berlin 1972, insbes. S. 11 ff. 88 Dazu Schild, Reine und politische Rechtslehre, Der Staat 1975, S. 69 ff. (72 f.). 89 Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 25 sieht „isolierten Befehlen ohne Sachbezug“ die „Normativität“ verwehrt; auf Müllers spezifisches Konzept der Erfassung dessen, was Normativität ausmacht, wird unten einzugehen sein. 90 So Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: Arthur Kaufmann / Hassemer (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 1 ff. (18). 91 Zur Positivismuskritik allgemein statt vieler Draht, Der Gesetzesbegriff in den Rechtswissenschaften in: ders., Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft, Gesammelte Schriften über eine soziokulturelle Theorie des Staats und Rechts, Berlin 1977, S. 47 ff. (52 ff.). 92 Vgl. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., Neuwied 1987, S. 19 ff. 93 Es ist natürlich nicht ungefährlich, von „dem“ soziologischen Rechtsbegriff zu sprechen, da es zahlreiche divergierende Ansätze gibt, vgl. dazu Bechtler, Der soziologische Rechtsbegriff, Berlin 1977, S. 7 ff. 94 Dazu Müller, Normstruktur, S. 30 f. m. w. N.

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Gleichermaßen unergiebig – als besondere Spielart des soziologischen Ansatzes – ist der Normbegriff der Luhmannschen Systemtheorie. Für Luhmann sind Normen Verhaltensnormen, die Erwartungssicherheit verschaffen, indem sie ihrerseits erwartet werden (Erwartungserwartungen);96 aus der Vielzahl der im sozialen Zusammenleben erzeugten Normen wähle dann das „Recht“ aus.97 „Recht“ ist bei Luhmann nicht durch inhaltliche, sondern durch formale Kriterien geprägt: durch Verfahren, Entscheidungsprogramme und durch – an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte – Gewalt.98 Die Norm selbst sieht Luhmann zweigeteilt in Konditional- und Zweckprogramm. Der Rechtsanwender sei auf die Anwendung von Konditionalprogrammen verwiesen, er habe im Wege des „Wenn-dann-Automatismus“ die Entscheidung dem geschriebenen Recht zu entnehmen.99 Das Entscheidungsprogramm sieht Luhmann allein auf „Systemrationalität“ ausgerichtet. Es wird also jede „Norm“ und jede aus ihr „hergeleitete“ Entscheidung als „richtig“ qualifiziert, solange das „System“ keinen Schaden nimmt. Damit wird indes weder erfasst, dass der Normtext Wertvorstellungen verbalisiert, noch die Tatsache berücksichtigt, dass im juristisch-administrativen Entscheidungsprozess außerrechtliche Wertvorstellungen und soziale Wirklichkeit verarbeitet werden. Luhmanns System ist geschlossen und damit unrealistisch, während richtigerweise das Rechtssystem als informationell offenes System zu qualifizieren ist, das nur strukturell geschlossen ist.

VI. Agency-made law als „sachbestimmtes“ Ordnungsmodell Die in dem aufgezeigten Sinne bis heute wohl am wenigsten kritikanfällige Untersuchung zu „Norm“, „Normativität“, „Normbereich“ und „Normstruktur“ stammt von Friedrich Müller,100 dessen Analyse mit dem hier als „faktisch geltend“ herausgestellten Normbegriff weitgehend übereinstimmt. Müllers Anliegen ist es, die dem reinen Normpositivismus wie dem Normsoziologismus101 voraus liegenden Abstraktionen, die das Recht „ohne Abstimmung mit dem konzipieren wollen, um dessentwillen das Recht da ist“, zu vermeiden und die Wirklichkeit als immer 95 Siehe Müller, ebd., S. 33 u. 188. Freilich hat auch die soziologische Rechtstheorie niemals jede Seinsregel zur Sollensregel erhoben; vgl. dazu die bei Bechtler, Der soziologische Rechtsbegriff, S. 72 f. dargestellte Kontroverse zwischen Kelsen und Ehrlich. 96 Luhmann, Rechtssoziologie II, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 33. 97 Luhmann, ebd., S. 64. 98 Luhmann, ebd., S. 101 f., 107. 99 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl., Frankfurt am Main, S. 64. Die Praxis akzeptiert jedoch nicht, dass der Regelungszweck nur den Gesetzgeber etwas angehen soll; das sieht auch Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, insbes. S. 49 ff., der die Realität juristischen Entscheidens aber scharf kritisiert. 100 Normstruktur und Normativität, passim. 101 Beide Richtungen vermögen die Komplexität juristischen Entscheidens nicht zu erfassen.

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neu zu ordnendes und in Ordnung zu haltendes geschichtliches Zusammenleben der Menschen nicht als Objekt, sondern als Grundlage und als Bestandteil normativer Struktur zu begreifen.102 Er versteht – im Konkretisierungsverfahren103 – die Norm als nach Normbereich und normativen Leitgedanken des Normprogramms differenziert.104 Der Normbereich, der im Verfahren topischer Textinterpretation nicht isoliert, sondern nach Müller mit der Hinwendung vom semantischen Substrat gerade zum Sachverhalt ermittelt wird, sei nicht von der Norm oder vom Normtext erfasstes Tatsachenmaterial („Stoff liefernder Sektor der Wirklichkeit“), sondern „Bestandteil“ der zu konkretisierenden Rechtsnorm.105 Als solcher sei der Normbereich realer Entwurf dessen, was im Einzelfall geregelt werden soll.106 Norm und Normtext will Friedrich Müller streng auseinander halten, um der Gefahr der Verwechslung, der die positivistische Gleichsetzung von Norm und „fertigem Befehl“ ausgesetzt war, zu entgehen.107 Die „generelle“ Norm wird verstanden als gesolltes Ordnungsmodell; es nehme den Normbereich vorweg und gestalte ihn gleichzeitig aus, sei also schon von daher mehr als bloßer „Text“.108 Das Verhältnis von Norm und Normtext wird daher von Müller verstanden als Verhältnis von Normbereich, normativen Leitgedanken und ihrem sprachlichen Ausdruck.109 Der normative Leitgedanke wird dabei nicht als Leitmotiv der Auslegung, sondern als „hermeneutischer Hilfsgesichtspunkt“ aufgefasst.110 Müllers Ausgangspunkt ist – mit Grund – die Verwerfung des positivistischen Ansatzes, der mit seiner – irrealen – Trennung von Lebenswirklichkeit und Recht eine Minderung oder gar den Verlust rechtlicher Normativität in Kauf genommen habe.111 Die Entgegensetzung von Erkenntnissubjekt und -objekt sei methodisch naiv, gelte in den naturwissenschaftlichen Disziplinen als überholt und sei für die Rechtswissenschaft, die auf eine imaginäre Logik als Kriterium normativ inhaltlicher Richtigkeit verpflichtet werde, geradezu irrational.112 Ernster nimmt Müller den So Müller, Normstruktur, S. 194. Zum Teil kritisch zum Konkretisierungsverfahren als juristischer Methode Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, Berlin 1977, S. 139 ff. 104 Müller, Normstruktur, S. 150. 105 In der „Hereinnahme“ des Normbereichs in den Normbegriff sieht Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken, S. 140 m. E. zu Recht das bedeutsamste Moment im Ansatz Friedrich Müllers. Die zunächst einmal nur behauptete Bestandteilseigenschaft des Normbereichs gilt es aber auch wissenschaftlich zu erklären, was der dazu hier bemühte system- und regelungstheoretische Ansatz prinzipiell zu leisten vermag. 106 Siehe Müller, Normstruktur, S. 152. 107 Müller, ebd., S. 147. 108 Dazu Müller, ebd., S. 152. 109 Dem kann m. E. im Ergebnis zugestimmt werden. 110 Siehe Müller, Normstruktur, S. 184. 111 Dem dürfte in der Optik des oben entwickelten Konzepts zuzustimmen sein. 112 Müller, Normstruktur, S. 25 f. (zur Lage der Naturwissenschaften). 102 103

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„gemäßigten“ soziologischen Rechtsbegriff (Ehrlich),113 wenngleich er insoweit einen Ausschließlichkeitsanspruch ausdrücklich ablehnt.114 Auch die normlogistische Auffassung, die die Rechtsvorschrift als logifiziertes und logifizierbares Begriffsgebilde sieht, findet – zu Recht – nicht seine Gefolgschaft.115 Aus der Ablehnung der die Wirklichkeit absolut setzenden oder nicht beachtenden Theorien resultiert Müllers wesentliche Erkenntnis: die Einbeziehung der Normbereiche in den realen Gang hermeneutisch-topischer Interpretation, wobei die auftretenden Probleme niemals von der Wirklichkeit losgelöst und unvermittelt erscheinen. „Sollen“ und „Sache“ avancieren zu den Hauptaspekten der Normativität – zu Normbereich und Normprogramm. „Wirklichkeit“ begreift Müller als konstituiert durch Normbereich (Bereich des Realmöglichen) und Norm widerstreitende Fakten innerhalb des Normbereichs, durch rechtlich indifferente Faktoren und nicht erfasste oder unerfassbare Sachverhalte.116 Für das Verständnis der Rechtsnorm folgt daraus, dass diese weder nur als im Gesetzgebungsverfahren faktisch hervorgebracht noch als (allein) in der Gesellschaft faktisch wirkend gesehen wird, sondern als Teilentwurf einer Ordnung. Die Rechtsnorm stellt sich dar als ein verbindlich statuiertes, nähere Konkretisierung voraussetzendes Modell einer realmöglichen Teilordnung für bestimmte Sachverhalte, Sachstrukturen, Sachbereiche der sozialen Welt.117 Aus dem „Befehl“ wird ein Entwurf einer „realmöglichen, weil aus der Analyse der Realität gewonnenen und als einer solchen die normative Aussage der Normvorschrift mitprägenden Struktur“, als der der Normbereich bei der Rechtsanwendung mitwirkt. Die der Norm zugehörige Teilwirklichkeit ist (Bestand-)Teil der Norm.118 Die normative Kraft des Faktischen wird damit zweitrangig; soweit die Faktizität normativ wirksam ist, geschieht dies legitim nur unter der Voraussetzung, dass sie in der Normkonkretisierung Bestandteil rechtlicher Normativität ist. Soweit die Norm als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung verstanden wird, ist sie (umgekehrt) mit Faktizitätsgesichtspunkten durchsetzt. Der Normbereich ist Hauptgesichtspunkt der Konkretisierung: die Wirklichkeit wird also ein Bestandteil der Norm.119

113 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München – Leipzig 1913 (Neudruck 1929; Nachdruck 1967), S. 138 ff. 114 Müller, Normstruktur, S. 30 ff. 115 Müller, ebd., S. 169. 116 Dazu Müller, ebd., S. 163. 117 Müller, ebd., S. 170 ff. 118 Zum Problem Müller, ebd., S. 173. 119 Müller, ebd., S. 188 u. 198.

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VII. Das Agency-made law zwischen Normbereich und Wirklichkeit Die Bedeutung des Normtextes für die Normkonkretisierung durch den Verwaltungsentscheider erweist sich als begrenzt: je genauer und vollständiger Normprogramm und -bereich im Text sprachlich erfasst sind, desto mehr kann der Text Stütze der Entscheidung sein.120 Andererseits kann ohne Wortlautänderung (und auch ohne formelle Aufhebung der „Norm“) der Normbereich „abhanden kommen“, sodass von der „Norm“ nurmehr der Text, der das Normprogramm enthält, übrig bleibt; es fehlt dann – mangels gesellschaftlicher Vermittlung – an jeder Möglichkeit der Konkretisierung.121 Normtext ohne Verbindung zu Normbereich und Normprogramm bleibt normativ ein „nullum“. Der Normtext ist zwar nicht belanglos (insoweit sich Verwaltungsentscheider wie Richter daran – wie wir sahen – zumindest zunächst orientieren); die Positivität des Rechts ist jedoch nicht identisch mit jener der Normtexte.122 Der Wortlaut hat seine bedeutsamste Funktion darin, tendenziell äußerste Grenze der Auslegung zu sein.123 Der Normbegriff Friedrich Müllers, der sowohl herkömmliches soziologisches wie juristisches Rechtsnormverständnis entscheidend relativiert, scheint mir dem zu entsprechen, was heute in der Verwaltungspraxis de facto längst akzeptiert ist: Die Norm wird im Konkretisierungsverfahren hervorgebracht und ausgebildet, sie gestaltet die Wirklichkeit (Sachstruktur), wird gleichzeitig aber auch von der Sachstruktur geprägt. Paradebeispiel ist das Steuerrecht, das heute sehr weitgehend durch fiscal authority-made law bestimmt ist. Das kann so weit gehen, dass sogar unverständliche, nicht bestimmbare und daher als verfassungswidrig zu qualifizierende Steuerrechtsnormen qua fiscal authority-made law dennoch irgendwie zur Anwendung kommen.124 Die „Anwendungs“-Ideologie des Positivismus hatte diese Gesichtspunkte nicht beachtet. Die wesentlich durch das moderne agency-made law geprägte öffentlich-rechtliche Norm ist nunmehr nicht allein „Ergebnis“, sondern fungiert 120 Insofern können Topik und Axiomatik in ein Ergänzungsverhältnis treten; zutreffend Müller, Normstruktur, S. 153 u. 162. 121 Müller, ebd., verdeutlicht dies an der „Norm“ Hammurabis, S. 165. 122 Richtig Müller, ebd., S. 158 f. 123 Dieser Befund entspricht der ganz h. L. 124 Natürlich gibt es auch den Bereich privater Rechtsetzung und Rechtsfortbildung (der hier freilich nicht näher zu behandeln ist). Nur exemplarisch sei dazu erwähnt, dass es etwa im Rahmen komplexer Vermögensverwaltung professionelle private Rechtsgestaltung unter Berücksichtigung z. B. kapitalmarkt- und steuerrechtlicher Normen gibt (wealth-management-made law), dessen Tragweite freilich nur oder doch in erster Linie für die Vertragsbeteiligten verbindlich ist (inter partes-Wirkung). Aber auch Gerichtsurteile und Verwaltungsentscheidungen wirken unmittelbar ja nur „inter partes“; ihnen kann – bedeutungsabhängig – allerdings durchaus Rechtsquellencharakter zukommen, was bekanntlich auch für das lawyermade law – nicht nur in USA – längst nicht mehr ausgeschlossen erscheint. Auf die Rechtsquellenproblematik ist hier nicht weiter einzugehen.

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postmodern auch als „Hebel“ gesellschaftlicher Entwicklung. Das also ist die Eigenart der dem agency-made law angemessenen Rechtsnorm: dass sie in der Dynamik zwischen Normbereich und Wirklichkeit existiert – dort sich verändernd ihr Dasein hat.

VIII. Verwaltungsjurisprudenz – unpolitisch oder neodogmatisch? Es scheint unter Rechtswissenschaftlern zumindest im deutschsprachigen Raum weitgehend unkontrovers zu sein, dass an die Stelle der positivistisch-begriffsjuristischen Auslegung- und Entscheidungsmethode im Umgang mit dem kodifizierten Recht heute andere Bearbeitungsweisen des Rechts getreten sind. Diese Bearbeitungsweisen sehen es als notwendig an, auf den im Gesetzgebungsverfahren erzeugten politischen Konsens über zu verwirklichende Zwecke zu rekurrieren und die Folgen der zu treffenden Entscheidungen zu berücksichtigen. Sind die Folgen nicht hinnehmbar, kann dies zu einer die Prämissen der Entscheidung verändernden Anpassung der gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen führen. Interventionen dieser Art sind politisch (legal innovation). Das begriffsjuristische Argumentieren – oft nur Fassade oder mehr oder minder geschickte Kaschierung der eigentlichen Beweggründe des Entscheidens – war kaum länger haltbar. Damit notwendig einher ging und geht eine Relativierung des auf einem positivistischen Rechtsverständnis beruhenden Ableitungsaxioms, das als erkenntnistheoretische Basis galt und die angebliche Selbstständigkeit des Rechts gegenüber der Politik zu garantieren schien. Mit der zunehmenden Sozialgestaltung durch planende Gesetzgebung und Verwaltung erreichen die normierten politischen Zwecke auch das Erkenntnisinteresse der Rechtstheorie. Das politische Verständnis des Rechts als Versuch, soziale Abläufe zu steuern, bleibt dabei nicht auf den Bereich des Gesetzes als Kodifikation beschränkt; es ergreift auch die Anschauungen über die Funktion der untergesetzlichen Rechtspraxis und radikalisiert die juristische Dogmatik auch im Bereich der Verwaltung. Eine am politischen Zweck der Norm orientierte Anschauung, erhebt sich zum Widersacher der auf bloß immanente Sinnentfaltung des Rechtssatzes gerichteten begriffsjuristischen Anschauung. War die Auslegung des Rechtssatzes nach grammatischen, logischen, historischen und systematischen Kriterien ein Verfahren, das auf ein statisches Verständnis der in sich ruhenden Rechtsregel ausgerichtet war, so wird mit der teleologisch-politischen Wende der Handhabung der Norm die Frage nach ihrem Zweck zur Kernfrage der Bereitstellung der Norm und ihrer Verfügbarkeit. Konventionellerweise stehen sich das Juristische und das Politische einander gegenüber. Diese Begriffe zeigen – wenn auch nicht notwendig einen Widerspruch – so doch traditionell einen Gegensatz an. Was damit jedoch verdeckt bleibt, ist die allenthalben zu registrierende postmoderne Auflösung des Rechts in Politik, die weitgehend mit einem Absterben, mindestens aber mit einer Zurückdrängung spe-

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zifisch „juristisch“ zu nennender Rationalität einherzugehen scheint. Wird der Verwaltungsentscheider zum integralen Sozialgestalter, zum planenden Sozialmanager, führt dies nicht nur zu einer in den politischen Raum erstreckten Ausweitung des Handlungsbereichs, auf den (auch) juristisch-administratives Entscheiden hergebrachtermaßen beschränkt war; die Vergrößerung der Handlungsmöglichkeiten verändert auch das juristisch-administrative Handeln selbst. Im postmodernen Rechtssystem ist nicht mehr die Konstanz allein gesetzlich vorgegebener Entscheidungsprämissen herrschend, sondern die im Grunde politisch gewordene Verfügung über das Recht, wie sie sich mit nahezu unbegrenzter Reichweite nachpositivistisch seit langem in der richterlichen Rechtsfortschreibung zeigt. Zumindest unbestimmt bleibt dann die Rolle des Eigenwerts des Rechts, an den die Rechtsprofessionellen noch des vergangenen Jahrhunderts zu glauben gelernt hatten. Einem postmodernen Rationalitätsmodell des Juristischen muss Recht wohl eher als ein institutioneller Transformator politisch sich fortsetzender Regelungsgehalte gelten: Die hier vorfindliche Rationalität ist ein formalinstitutionell ritualisierter, juristisch genannter, materiell-inhaltlich weitgehend aber fortgesetzter politisch-neodogmatischer Diskurs.

Juristische Rationalität als politischer Diskurs?* Dies ist keine zusätzliche Rede über „Recht und Politik“, es geht mir nicht um diesen alten Zopf. Wer politisch handelt, schafft nicht notwendig Recht. Wer aber Recht hervorbringt, handelt politisch. Politik kann in diesem Sinne mehr sein als nur sie selbst: sie kann zu „Recht“ spezifiziert und verfasst sein. Recht selbst ist materiell aber nicht mehr, natürlich auch nicht weniger in seiner Inhaltlichkeit als Politik. Recht ist so zwar Politik, aber Politik doch mit einer Geltungsprärogative vor anderen Inhalten des politischen Prozesses. I. Rechtserzeugung ist immer Sozialgestaltung durch politischen Prozess. Nur liegt die Schwierigkeit eben darin, das Recht gerade als „Recht“ auszumachen, es zu kennzeichnen und vor anderen relevanten Phänomenen der Sozialsteuerung auszuzeichnen. Kurz, wir haben keinen einheitlichen und allseits anerkannten Rechtsbegriff, der die erforderliche Abgrenzung zu leisten vermag. Wer Recht sagt, kann Politik meinen, und umgekehrt. Schon die Politik, nicht erst das Recht sind der Gerechtigkeit verpflichtet. Ungerechte Politik macht auch ungerechtes Recht. Das Problem, um das es in diesen Zusammenhängen geht, ist die Arbeit des Juristen am Recht, mit dem Recht und für das Recht.1 Ist diese Rechtsarbeit, die trotz mancher wissenschaftstheoretischer Aufklärung heute noch sehr unterschiedlich teils als „Technik“, teils mehr als „Kunst“, häufig unausgesprochen und lautlos als „Wissenschaft“ den Rechtsjüngern im öffentlichen Lehrbetrieb der Hochschulen vermittelt wird, politisch oder juristisch? Liegt darin überhaupt ein irgendwie aufregender Unterschied? Das Juristische nicht * Erstveröffentlichung in: H. J. M. Boukema / H. W. West (Hrsg.), Soziale Aspekte der Europäischen Raumordnung. 1989, S. 225 – 243. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris: Lang. Forschungen der Europäischen Fakultät für Bodenordnung, Bd. 9. 1 Friedrich Müller, Juristische Methodik und politisches System, 1975, S. 9 kennzeichnet die Rechtsarbeit zum einen als Entscheidungsarbeit im funktionellen Sinne als politisch; zum anderen sei sie arbeitsmethodisch „unmittelbar mit gesellschaftlicher Wirklichkeit befaßt“. Bei den Arbeitsweisen der Rechtsfunktionäre schlagen spezifische Merkmale wie z. B. Status, Rolle, allgemeine Ideologien usw. durch, ohne deren Berücksichtigung keine Rechtstheorie realistisch sein kann. In diesem Sinne – stellt Müller, S. 12, fest – verkenne „der Gesetzespositivismus mit seiner großen Klientel den Charakter juristischer Tätigkeit als Arbeit“, bei der es um unmittelbares Handeln bestimmter Menschen gehe.

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mehr das Unpolitische? Das könnte und müsste wohl auf ein „Ende des Rechts“ auf die Auflösung des Rechts in Politik hinauslaufen. Unter Juristen im deutschsprachigen Raum darf es als heute weitgehend unkontrovers angesehen werden, dass an die Stelle der positivistisch-begriffsjuristischen Auslegungs- und Entscheidungsmethode im Umgang mit dem kodifizierten Recht die unter der Bezeichnung „teleologische Methode“ praktizierten Bearbeitungsweisen des Rechts getreten sind; diese Bearbeitungsweisen sehen es als notwendig an, auf den im Gesetzgebungsverfahren erzeugten politischen Konsens über zu verwirklichende Zwecke zu rekurrieren und auch die Folgen der zu treffenden Entscheidungen zu berücksichtigen. Sind Folgen nicht hinnehmbar, führt dies zu einer die Prämissen der Entscheidung verändernden Anpassung der gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen. Interventionen dieser Art sind politisch.

II. Das begriffsjuristische Argumentieren – oft nur eine Fassade oder mehr oder minder geschickte Kaschierung der eigentlichen Beweggründe der Entscheidung – schien kaum länger haltbar. Dem Zauber sollte Einhalt geboten werden. Voraussetzung war aber eine Relativierung des auf dem positivistischen Rechtsfindungsverständnis beruhenden Ableitungsaxioms, weil dieses als erkenntnistheoretische Basis galt und die angebliche Selbständigkeit des Rechts gegenüber der Politik zu garantieren schien. Mit der zunehmenden Sozialgestaltung durch planende Gesetzgebung und planende Verwaltung, ja sogar schon durch eine planende Rechtsprechung erreichten die in diesen Prozessen normierten politischen Zwecke, ihre Überbringung, Verstärkung und Abschwächung, endlich auch das Erkenntnisinteresse der kontinentalen Rechtstheorie. Das politische Verständnis des Rechts als Versuch, soziale Abläufe zu steuern, blieb dabei nicht auf den Bereich des Gesetzes als Kodifikation beschränkt; es ergriff auch die Anschauungen über die Funktion der untergesetzlichen Rechtspraxis und radikalisierte die juristische Dogmatik. Im Hin und Her von bloßer „Feststellung“, was rechtens ist, einerseits und intendierter „Festlegung“, was rechtens sei, andererseits schien ein engagierter Rechtsfinalismus gegenüber einem verzweifelt um seine Fortexistenz ringenden Rechtskognitivismus die Oberhand zu gewinnen. Die am politischen Zweck der Norm orientierte Anschauung über die Verwirklichung der Norm erhob sich zum Gegenspieler der auf bloß immanente Sinnentfaltung des politischen Kodifikats gerichteten begriffsjuristischen Anschauung. War die Auslegung des Kodifikats nach grammatischen, logischen, historischen und systematischen Kriterien ein notwendig unzulängliches Verfahren, das auf ein statisches Verständnis des in sich ruhenden Kodifikats tendierte, so avancierte mit der teleologisch-politischen Wende der Handhabung der Norm die Frage nach ihrem Zweck (Telos) zur Kernfrage der Bereitstellung der Norm. Allerdings ist der Telos-Begriff, der schon früh zum Bestand juristischer Normauslegung gehörte, höchst verschieden verstanden worden.

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Telos umfasste zunächst nur den „inneren Vernunftgrund“ einer Rechtsnorm, den es bei der Auslegung zu ermitteln galt; auf einen sich in der Normsetzung äußernden politischen Gestaltungswillen kam es nicht an; dieser war nur äußerer Anlass der Entstehung der Norm. Ganz anders der Telos-Begriff, der sich mit einem relativierten positivistischen Rechtsverständnis verband und sich in der eigentlich schon nachpositivistisch zu nennenden teleologisch-politischen Methode ausprägte: Durch den „Zweck des Gesetzes“ wirken die mit dem Kodifikat verbundenen politischen Zielvorstellungen auch in die Auslegung und bis in die Endstruktur der Rechtserzeugung hinein, die erst in der Einzelentscheidung ihren Abschluss erreicht. Damit kann der juristische Umgang mit dem Gesetz nicht mehr als ein unpolitischer angesehen werden. Die Gesetzesauslegung entpuppt sich nicht selten sogar als politische Fortschreibung des Gesetzes. Eine anerkannte, streng formierte Anleitung, eine Meta-Perspektive, wie bei der Rechtsarbeit vorzugehen sei, wie insbesondere ein Rechtssatz seiner Geltung und seinem Inhalt nach zu identifizieren, wie er auszulegen, anzuwenden oder fortzubilden sei, existiert nicht. Eine solche Anleitung ist auch der gegenwärtigen Praxis nicht zu entnehmen; ihr liegt eben keine Einheitsmethode zu Grunde. Die mit dem Kodifikat verfolgten Ziele werden heute in einem sehr freizügigen Umgang mit diesem für die Gestaltung von Praxis verwendet und damit politischsozial dienstbar gemacht. Diese Prozedur ist inhaltlich meist nur schwach determiniert, folgt längst nicht mehr der einst viel beschworenen Konditionalprogrammthese. Der Rechtssatz als politisches Kodifikat fungiert in der Hand des Juristen, der ein solcher konventionellen Zuschnitts längst nicht mehr ist, nur mehr als flexibles Sozialprogramm. Nicht nur an einem solchen Programm, schon an der Flut zur politischen Weiterbearbeitung anstehender Generalklauseln muss juristische Arbeit als unpolitische Technik scheitern. Hier werden politische Inhalte nicht einfach übersetzt und überbracht, sie werden auf einer anderen Ebene nachparlamentarisch selbständig gestaltet und zur Geltung gebracht. Wo von Auslegung nicht mehr gesprochen werden kann, wo sie Norm verändernd überschritten wird, trifft man auf die strategische Normfortschreibung, in der die juristische nachvollziehende Rationalität leer läuft und mit der politischen materiell identisch wird. Das Gesetz ist dann nur noch ein Lösungsvorschlag, ein politischer Entwurf – womöglich nicht einmal der beste. Die Bindung des Richters an das Gesetz, wenn es sie faktisch je gab, ist damit fragwürdig. Im Richterrecht ist sie der Sache nach überwunden. Damit entfällt auch die aus der Gewaltenteilungslehre überkommene These, nach der der Gesetzgeber und nicht der das Gesetz angeblich nur nachvollziehende Richter die Verantwortung für die Einzelfall-Entscheidung trage. Dies aber bedeutet, dass der Umgang mit dem Gesetz sich von nun an nicht nur an solchen Maßstäben messen lassen muss und tatsächlich durch solche Maßstäbe bestimmt wird, die in der Sicht der überkommenen juristischen Methodenlehre „außerjuristische“ Maßstäbe sind (humanitäre, technische, ökonomische, ökologische oder aufgrund sonstigen, meist fachwissenschaftlichen Sachverstandes gebildete Maßstäbe), Maßstäbe also, die sich für den fachjuristischen Bereich nicht monopolisie-

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ren lassen. Wenn die unter solchen „Fremdbestimmungen“ zustande kommenden Entscheidungen dennoch so gut wie unangefochten nach wie vor „juristische“ genannt werden, scheint mir das Merkmal „juristisch“ den Wandel, der sich nachpositivistisch im Umgang mit dem Gesetz als Sozialprogramm und als vor seinem „Vollzug“ erst einmal näher, d. h. zweckhaft zu bearbeitendes, herzurichtendes Programm ereignet hat und ständig weiter ereignet, nur noch höchst unvollständig zu beschreiben, es sei denn, man nimmt einen- die tatsächliche Veränderung aber überdeckenden Bedeutungswandel des „Juristischen“ schon selbst an. Dies scheint nun unmittelbar zu der für den Juristenstand traditionell unbequemen Frage zu führen, ob die juristische Praxis auch unterhalb der Gesetzgebung eine politische ist. Konventionellerweise stehen sich das Juristische und das politische einander gegenüber; diese Begriffe zeigen – wenn auch nicht notwendig einen Widerspruch – so doch traditionell einen Gegensatz an. Was damit jedoch verdeckt bleibt, ist die allenthalben zu registrierende Auflösung des Rechts in Politik, die sehr weitgehend mit einem Absterben, mindestens aber mit einer Zurückdrängung spezifisch „juristisch“ zu nennender Rationalität einherzugehen scheint. Diese Rationalität basierte auf einem spezifischen Rechtsglauben, dem Glauben an die angebliche Erkennbarkeit des Rechts, seine Richtigkeit als vorgegebene und vorfindliche „Rechtswahrheit“ und schließlich auch – um einiges säkularer – auf der Annahme der Möglichkeit von Vollzugsrichtigkeit im Sinne der Glaubensthese von der Ausschließlichkeit des „einzig-richtigen“ Rechtsanwendungsergebnisses. Die Machbarkeit des Rechts im politischen Erzeugungsprozess setzt an die Stelle der als kognitiv („feststellend“) verfahrend angesehenen juristischen Rationalität die politische Rationalität. Der Versuch, die juristische Rationalität nun mit „volitiven Elementen“ auszustatten und sie auf diese Weise – wenn auch verändert – jedenfalls zu erhalten, erweist eben nur ihren politischen Grundzug selbst und natürlich ihre politische Funktion. Von wesensmäßiger Differenz zwischen juristischer und politischer Rationalität kann keine Rede sein, nur von graduellen Nuancierungen in der Entscheidungs-, Rechtfertigungs- und Kontrolltypik.2 Wird der Jurist zum integralen Sozialgestalter, zum planenden. Sozialingenieur, führt dies nicht nur zu einer in den politischen Raum erstreckten Ausweitung seines Handlungsbereichs, in dem juristisches Entscheiden hergebrachtermaßen nichts zu suchen hatte. Die Vergrößerung der Handlungsmöglichkeiten verändert jetzt das Juristische Handeln selbst. Der neue Spielraum erfasst vor allem den rechtspolitischen Bereich und dessen einzelne Politikfelder. Die Folge ist, dass die nachpositivistische Ära des Rechtsbetriebs mit einer weitgehenden Substitution und einer sich damit ergebenden Abhängigkeit des Juristischen einhergeht; das Juristische wird nun weitgehend durch vormals außerjuristische Momente als dessen jetzt neue – freilich nach wie vor und paradoxerweise „juristisch“ genannte – Bestandteile gebildet; es gerät – soweit ihm ein eigener, nicht leicht zu bestimmender Restraum überhaupt verbleibt – auch in eine zunehmende Substitutionsbedürftigkeit, die es ideologisch bestimmt. 2 Müller, S. 16, der diesen Gedanken auf die Wesenseinheit von Recht und Politik hin generalisiert.

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III. Neue faktische Regelmäßigkeiten vor allem in den technisierten Bereichen der Gesellschaft werden Quelle der Entstehung von Regeln für Verhalten und damit für das Recht. Tradiertes Recht gerät auf diese Weise in Gefahr, zu einem Reservat anachronistischer Irrationalität zu werden, es scheint mehr und mehr durch die Leistungsfähigkeit längst rationalisierter Gesellschaftsbereiche eingeengt und überwuchert zu werden. Die seither überwiegend als selbständig verstandene Rationalität des Juristischen gerät damit unter Veränderungsdruck und Anpassungszwang. Auf diese Entwicklung scheint es zwei völlig verschiedene Antworten zu geben: Auf der einen Seite konzentriert man sich auf einen im wie immer verstandenen Recht mitgedachten Begriff des Politischen, der wohl eigens dazu geschaffen wurde, das Eigenständige und Besondere des politisch-rechtlichen Handelns gegenüber den rationalisierten Handlungsvollzügen zu erarbeiten. Schon bei Max Weber wird erkennbar, wie sich aus der gesellschaftlichen Praxis ein Verständnis von Recht zu entwickeln beginnt, dessen Wesen hauptsächlich im Zwang zur Entscheidung liegt. Die Frage, die hier auftaucht, wie weit sich dies in Form der Entscheidung in der gesellschaftlichen Praxis gegenüber dem verstärkten Druck der Rationalisierung gehalten hat, beantwortet sich aus der Beurteilung der Gegenposition. Die andere Seite behauptet nämlich das allmähliche Verschwinden des Politischen, das mit einer Verkürzung des Rechtsbegriffs notwendig einhergeht, durch die Versachlichung auch dieses Bereichs. So vertritt bekanntlich Schelsky3 die utopistische These, die politische Herrschaft werde abgelöst und überflüssig durch die Verwaltung rationalisierter Handlungsvollzüge, deren Orientierung an politischen Entscheidungen durch vorweg bestimmte, wissenschaftlich geprüfte Zwecksetzungen sozusagen „weggeregelt“ werde.4 Die Tatsache, dass heute das Verständnis des Menschen zu seiner Umwelt durch eine universell gewordene Wissenschaft und Technik geprägt ist, führt dazu, dass die Probleme der technischen Welt nur wiederum durch systematisch geplante und zweckmäßig ausgeführte Maßnahmen gelöst werden. Planendes Handeln ist durch wissenschaftlich-technische Sachzwänge bestimmt, die den ursprünglichen Naturzwang ersetzen. Das Handeln scheint die Möglichkeit zu verlieren, von sich aus Ziele zu setzen, die über die technischen Gegebenheiten hinaus reichen. Diese Vereinigung von Technik und Staat zum „technischen Staat“ und seinem darin unpolitisch-technisch werdenden Norm- und Verwaltungsapparat kennt als einziges Ziel die Perfektionierung der Mittel. 3 4

Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961. Dazu auch Ellul, La Technique ou l’enjeu du siècle, 1954.

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Die technischen Gegebenheiten sind es nun, von denen „Herrschaft“ ausgeht und denen auch die institutionellen Rechtsstäbe konsequenterweise zu folgen und zu gehorchen haben. Das Ergebnis dieser „Revolution“ ist eine fundamentale Veränderung im Bereich des Rechtssystems, das sich nicht länger als ein autonomes System verstehen und etablieren kann. Für eine Eigenständigkeit in der Sache beanspruchende Rationalität des Rechts und des professionalisierten Umgangs mit ihm (als einer Verbindlichkeitsmaterie neben anderen Spezifikationen des Sollens) scheint hier kein Raum zu sein. Dabei ist, es nicht die heute wohl in manchem unverzichtbare Angewiesenheit dieser Rationalität auf sachverständige Entscheidungshilfen von Experten, die die Rationalität des Rechts schon absterben ließe; doch ist nicht zu verkennen, dass jede Form von sachverständiger Intervention die Entscheidungsbasis der verantwortlichen Staatsorgane irgendwie verändert. Ich glaube aber, hier kann die notwendige Entscheidungsrationalität der Rechtsstäbe die beratende Hilfe des technischen Sachverstandes durchaus noch integrieren und sie in ihren die Entscheidungen durchformenden Kriterien von Objektivität, Gleichheit, Abwägung usw. zur Geltung bringen – Kriterien, die natürlich nicht genuin juristisch sind, von Juristen nur ebenso bemüht und verwendet werden wie von anderen durch Sachlichkeit ausgezeichneten Entscheidungsträgern. Das ist in Schelskys Modell anders: Angesichts der nur mehr wissenschaftlich möglichen Problemlösung und Systemoptimierung ist die juristisch-politische Entscheidung und ihre demokratische Kontrolle im idealisierten technischen Staat Schelskys abgeschafft. Nur die Herrschaft der Sachen selbst garantiert das Funktionieren des Apparates, der durch die unausweichlichen Bahnen wissenschaftlich begründeter Optimierung bestimmt ist. Die Folgen liegen auf der Hand: Krise bzw. Ablösung der Wert- und Rechtssysteme, Ausschaltung argumentativer Zieldiskussionen, Wegfall von Planung und Entscheidung – typische Kennzeichen der von Herbert Marcuse als „Eindimensionalität“ beschriebenen Situation postindustrieller Gesellschaften, die einem „technologischen Imperativ“ unterstehen: Die technische Machbarkeit bestimmt, was gemacht werden soll, alles, was hergestellt werden kann, soll auch gemacht werden. Machbarkeit wird identisch mit Normativität. Politik und damit ihre „Recht“ genannte Selbsternennungs- und Auszeichnungsform sind aufgehoben und überflüssig. Selbstverständlich ist damit die „Autonomie“ des juristischen Denkens in einer Weise negiert, dass die Möglichkeit gerechter und vernünftiger Rechtsverwirklichung durch eine eigenverantwortliche juristische Problembearbeitung als tradierte Voraussetzung einer objektiven, wertungsrationalen und wiederum rechtlich nachprüfbaren Handhabung des Rechts entfällt. Wer aber das politisch erzeugte Recht zu einer beliebig einsetzbaren, konstruktiv fungiblen, szientistisch-technokratischen Anweisung relativiert, an deren Stelle man ohne weiteres auch eine andere setzen könnte, gibt den politischen Wert des Rechts als Institution zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten preis. Damit erscheint die Tätigkeit des Juristen, insbesondere des Richters, entbehrlich, dessen

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bei der Konfliktlösung seither gefragte Neutralität im Umgang mit dem Gesetz und gegenüber widerstreitenden Interessen dem substitutiven Sachzwang zu weichen hat. IV. Grundlage aller Verteidigungsanstrengungen der Rechtsstäbe gegenüber der aus den Substitutionsmechanismen resultierenden Bedrohung ist bisher die „juristische Rationalität“, in der der juristische Autonomieanspruch seinen Halt zu finden sucht und durch die eine Art Monopolstellung bei der „fachlichen Behandlung“ des Rechts hergestellt wird.5 Diese in ihrem Bereich bisher strikte Exklusivität beanspruchende juristische Rationalität avanciert häufig geradezu zum Maßstab richtiger Entscheidung, indem die methodengerecht begründete Entscheidung und nur diese mit der richtigen Entscheidung identifiziert wird. Und die juristische Rationialität und ihre Methode fungieren dann als Kontrapunkt der Substituierungstendenzen, denen das Recht in der Tat ausgesetzt zu sein scheint. Die juristische Rationalität beansprucht, die Rechtsfindung zu determinieren; sie wird dabei als von. ihrem – situationell variablen – Gegenstand unabhängig gedacht. Mit ihr ist traditionell sogar impliziert, dass man – ohne Eingehen auf die Sachfragen – über die Richtigkeit von Rechtsbildungen und juristischen Entscheidungen Aussagen machen könne. Jede Kritik setzte sich hier nur dem Vorwurf unzulässiger Simplifikation oder naiven Dilettantismus aus. Wer kritisiert, offenbart nur ein eigenes Problem: er hat eben nicht alles verstanden. Durch die im Sinne einer Immunisierungsstrategie als „Rechtsanwendung ex cathedra“ dargestellte professionelle Rechtsfindung, bei der die Entscheidungen zwingend „aus dem Gesetz“ kommen, wurde der Jurist der Kritik entzogen. Dass auf der anderen Seite die Mittel der „Auslegung“ des Gesetzes auch mögliche Mittel einer skeptistischen Emanzipation des Entscheiders vom Gesetz und seinem Sinn sein können, muss dabei als eine nachpositivistische Möglichkeit erscheinen, die – weil eben neu – auch noch ganz und gar unbewältigt ist. Freilich lässt sich nicht jedes beliebige Ergebnis auch mit guten Gründen verteidigen; oder etwa doch? Irgendwie scheint es manchmal eine Grenze juristischen Entscheidens zu geben, aber die formalen Methodenregeln hindern eine Beliebigkeit der Entscheidung nicht schon per se; erst recht sind sie kein Mittel gegen Infragestellung tradierter Ordnungen und stabiler Verhältnisse. In einer extremen Sicht der positivistischen Ideologiekritik ist andererseits Recht nur ein Inbegriff von irrationalen, nicht begründungsfähigen Wertsetzungen. Wenn Erkenntnisse nur durch beobachtbare („positive“) Fakten gewonnen werden können, reichen praktische Sätze (Sollenssätze) nicht in den Bereich von Erkenntnis hinein. Eine Jurisprudenz, die Vernunft im Recht erkennen und entwickeln will, hängt einem metaphysischen Rechtsverständnis an und verfällt dem Naturrecht. 5 Zum Folgenden Weimar, Technokratie und Rechtssystem, in: Festschrift für Josef Kühne, 1984, S. 70 ff.

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In einem weiteren Stadium ist es dann schließlich die Einsicht in die ausschließlich technisch verstandenen oder substitutiv eingreifenden Sachzwänge, deren angebliche Dominanz sowohl den metaphysischen Naturrechtsglauben als auch die Rechtsnorm als politisches Lenkungsinstrument der gesellschaftlichen Verhältnisse überflüssig werden lassen. Mit dem Recht werden dann auch Herrschaft und Standesideologie der Juristen verschwinden – und wohl angesichts der Totalität der Sachzwänge die Rechtsstäbe überhaupt. Von hier gehen daher notwendig diejenigen Ansätze aus, die die Adäquanz des Rechts gegenüber der „positiv“ interpretierten technischen Entwicklung kritisieren und seine Ablösung durch den Sachzwang als perfektionistische Steuerung aller Bereiche bereits zu erkennen glauben. Substitutionell inspirierte Deutungen rechtlich-politischer Systeme unterstellen die geschichtliche Relativität aller Werte, die hergebrachterweise als unabänderbar geltend angesehen werden. Damit steht auch die These von der wie immer verstandenen Substitution des Rechts im Konflikt mit einer Jurisprudenz, die sich als Sachwalterin der Ordnungsaufgabe des Rechts und seines Gerechtigkeitswertes versteht. Substitutionsmodelle müssen nämlich letztendlich den Richtigkeitsanspruch des Rechts problematisieren, und zwar den Richtigkeitsanspruch sowohl der Rechtssetzung – Recht wird „machbar“ – als auch den Richtigkeitsanspruch der Rechtsanwendung, die ebenfalls „perfektionierbar“ wird. Trifft die Erfahrung der unpolitischen Machbarkeit des Rechts zu, ist also Recht nichts anderes als qua Sachzwang sich durchsetzendes Herrschaftswissen, dann kann sich eine fachjuristische Bearbeitung des Rechts nicht mehr legitimieren; denn dann erscheinen die hergebrachten Rechtsregeln in ihrer Setzung und Anwendung durch Interessen, Gruppenzugehörigkeit usw. bestimmt und können folglich nicht mehr sachlich zwingend sein, büßen damit ihre Verbindlichkeit ein. Das politisch verstandene Rechtssystem löst sich hier also auf in ein unpolitisch verfasstes, als solches wertindifferentes Regelsystem. Es liegt in der Utopie solcher Modelle, dass die Realität natürlich anders aussieht. Jedenfalls hat bislang auch die Zunahme an Sachzwängen nicht zu einer Ersetzung des politischen und des Rechtssystems durch ein System „autonom“ funktionierender Sachzwänge als politik- und rechtsindifferentes Entscheidungszentrum geführt. Eine solche sich selbst und die Gesellschaft steuernde Kommandozentrale existiert in am Menschen orientierten Gemeinwesen nicht; richtig ist wohl nur, dass Sachzwänge das politische und das Rechtssystem, vor allem z. B. in den Bereichen der Planung, mehr oder minder beeinflussen können. Meine Ideologiekritik einer bis in die neueste Zeit „juristisch“ genannten Rationalität im Sinne einer unpolitisch eigenständigen Weise des Argumentierens und Entscheidens von Juristen impliziert aber – insoweit im Kern nicht verschieden von mancher anderen Ideologiekritik des Rechts – eine bisher in ihr noch wenig thematisierte Fragestellung. Ich meine die unbequeme Gestalt der Frage, was denn der triftig zu nennende Grund für die seitherige Bejahung und offenbare Anerkennung der angeblich politikfernen und politikfremden „Eigenständigkeit“ des Rechts und des Juristischen im Bereich gesellschaftlicher Konflikte eigentlich ist.

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Zu diskutieren wäre hier die Frage eines dem Recht zugeschriebenen Eigenwertes, der in dieser Art für andere Institutionen nicht angenommen wird, der mehr darstellt als eine bloße Ausdrucksform und der wesensmäßig etwas anderes ist als die Idee rationaler politischer Entscheidung. War Ziel der Ideologiekritik des Rechts nicht erst heute der Versuch, den „Schein der Selbständigkeit“ des Rechts zu durchstoßen und das Recht als gesellschaftliches Phänomen, als Sublimat des materiellen Lebensprozesses zu begreifen, so scheint ein uneingeschränktes Festhalten am juristischen Rationalitätsmodell letztlich auf eine neue Rechtsmetaphysik hinauszulaufen. Denn dieses Modell müsste eigentlich das System Recht – entgegen seiner nunmehr im Sinne offener politisch-sozialer Programmierung begriffenen Struktur – als absolut gegen geschichtlichen Wandel setzen, es gegen eine Relativierung seines eigenen Anspruchs schützen. Im nachpositivistischen Recht ist aber – so muss man wohl konsequenterweise annehmen – nicht mehr die Konstanz allein gesetzlich vorgegebener Entscheidungsprämissen, sondern die politisch gewordene Verfügung über das Recht auch außerhalb des Gesetzes herrschend, wie sie sich mit nahezu unbegrenzter Reichweite heute in der richterlichen Fortschreibung und damit der außergesetzlichen politischen Behandlung der Gesetzgebungsbemühungen zeigt. Zumindest unbestimmt bleibt dann die Funktionsthese von Autonomie und Eigenwert des Rechts, an die die Rechtsprofessionellen in ihrer Mehrheit in den kontinentalen Rechtsfakultäten zu glauben immerhin gelernt hatten. Einem nachpositivistischen Modell des Rechts und des Juristischen muss dieser in der Wirklichkeit nicht mehr zu bestätigende Mechanismus wohl eher als ein institutioneller Transformator politisch sich fortsetzender Regelungsgehalte gelten: So sehr ich der überwundenen gesetzespositivistischen Doktrin mit ihrem Rechtserkenntnis- und Rechtsfeststellungsanspruch so etwas wie eine genuin juristische, weil „begriffsjuristische“ Rationalität noch zu entnehmen vermag, so wenig erkenne ich eine solche Rationalität in der nachpositivistisch auftretenden und sich etablierenden Behandlung des Rechts: Die hier vorfindliche Rationalität ist ein formal-institutionell ritualisierter, „juristisch“ genannter, materiell-inhaltlich aber fortgesetzter politischer Diskurs über Fragen gesellschaftlicher Steuerung und ihrer Ziele. Das Problem des Rechts und seiner Behandlung stellt sich dieser Sichtweise nicht mehr als immanente Sinnentfaltung, als materiale Identifikation legislativ vorgegebener Normativität, sondern als Problem vernünftigen praktisch-politischen Argumentierens, wie dies auch in anderen Bereichen der Gesellschaft anzutreffen ist, wo es um rationale Entscheidung geht. Dem nachpositivistischen Modell zufolge entwickelt sich das Recht nicht notwendig mit Rücksicht auf die konventionell rechts setzenden parlamentarischen Autoritäten. Im Richterrecht befinden wir uns jenseits der legislativ verordneten Determiniertheit des Rechts; Richterrecht verlässt die politische Ebene nicht, es beansprucht sie.6 Nichts anderes gilt im Bereich des nicht-staatlichen Rechts, das 6 Zu dieser Problematik vgl. Weimar, Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung, in: Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, ARSP (Beiheft 20), 1984, S. 155 ff.

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in der Sache ebenfalls die verbindliche Gestaltung individueller oder kollektiver Verhältnisse betrifft. V. Wenn nun ein Kennzeichen der Auswirkung des Rechts und seiner rationalen Behandlung in der Anmaßung liegt, in allen Dingen in einer Weise mitzureden, dass typischerweise Juristen es sind, die soziale Konflikte mit ihren Mitteln regeln, so ist dieses Handeln, seine Art und seine Mittelverwendung eben damit noch längst nicht in der Sache selbst – falls das überhaupt möglich ist – präzise von politischer Bewertung, Entscheidung und Normierung abgegrenzt. Und wenn Werte wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Objektivität, Gleichheit usw. sich nicht als juristisch monopolisierbar erweisen, wird eine materielle Spezifikation einer auch nachpositivistisch noch „juristisch“ zu nennenden Entscheidungsrationalität sehr problematisch. Eine Merkmalsinvariante, die nur der Rechtsarbeit allein und ihrem Gegenstand zukommt und diese Arbeit vor der Arbeit in Bezug auf Normierungen sonstiger Art auszeichnet und von ihr abhebt, gibt es nicht, wenn diese Eigenschaft nicht nur für einen bestimmten (engen) und dazu womöglich wieder gesetzespositivistisch oder naturrechtlich-ontologisch eingefärbten Rechtsbegriff, sondern eben für alle entwickelten Rechtsbegriffe gleichermaßen zutreffen soll. Mir scheint – und dies nur als Hypothese: Man hat das Recht und die zweifelhafte Idee seiner gegenüber Politik eigenständigen und angeblich unpolitischen Rationalität gewissermaßen still und verschwiegen konzipiert, um dieses Recht als etwas scheinbar Selbständiges und Vorgefundenes dann entdecken und als solches methodisch behandeln zu können. Aber man hatte dies ersonnen, lange bevor man an einen Nachpositivismus zu denken vermochte und besorgte Überlegungen zur Gesetzesbindung oder ein Ruf wie „Zurück zum Gesetz!“ noch keine Nahrung hatten. Einen Rest jenes gegenüber der Politik Spezifischen am Recht sehe auch ich – wohl aufgrund meiner alteuropäischen Genesis – im Recht, aber im Recht nur als Signal und Form („Hier musst Du von Rechts wegen“), im Recht als zugeschriebener Kompetenz („Diese Instanz kann es Dir aufgeben“). Alles dies ist mit dem Stoff und Ursprung des Rechts materiell nicht identisch, bleibt aber nicht ohne bemerkenswerte Wechselwirkung mit jener Formgebung und nährt sich darüber hinaus aus anderen Normensystemen (z. B. Moralsystemen). Wenn das Recht in seiner Inhaltlichkeit im Wesentlichen jedenfalls politische Gestaltung ist und mit dieser nicht nur konvergiert, sondern identisch wird, wenn Recht – wie man gesagt hat – „geronnene Politik“ ist, dann muss die herkömmliche, rein juristische Behandlung des Rechts durch die Rechtsstäbe als Anachronismus erscheinen. Dem im Nachpositivismus politisch fungierenden Richter, dem Manager in Regierung und Verwaltung, den Akteuren der Rechtsgeschäftsplanung in der Wirtschaft kann man meines Erachtens nicht eine Rationalität von der Art unterstellen, die einer Juristerei als bloßer Rechtsförmelei noch zukam, als sie und insbesondere der Richter als der „Mund des Gesetzes“ galt. Man muss also hier

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erstens den Wandel dieser Rationalität sehen und man sollte zweitens die eigenartige und quälende Verlegenheit um die Rationalität des Rechtsdenkens und des Juristischen als Kategorie durch eine offene Neubestimmung der Grenzen für den zeitgemäßen Modus der Behandlung des Rechts zu beenden suchen.

VI. Die These vom Wandel der juristischen Rationalität möchte ich noch durch einen kurzen Blick, auf das Beispiel Raumplanung illustrieren: Jede sozialräumliche Planung besitzt Normqualität. Was dabei bisher nur wenig betont wird, ist die Tatsache, dass der Bereich der Planung als Normbereich eine entscheidende Rolle für die Erweiterung der herkömmlichen juristischen Rationalität spielt. Die Einbeziehung der Normbereiche in den realen Gang der Plankonkretisierung führt dazu, dass die auftretenden Probleme niemals von der Wirklichkeit losgelöst und unvermittelt erscheinen; „Sollen“ und „Sache“ avancieren auch hier zu den Hauptaspekten der Normativität. Für das Verständnis der Planungsnorm folgt daraus, dass diese weder nur als im Gesetzgebungs- oder Verwaltungsverfahren faktisch hervorgebracht noch als (allein) in der Gesellschaft faktisch wirkend anzusehen ist; vielmehr ist sie Teilentwurf einer Ordnung, d. h. ein nähere Konkretisierung voraussetzendes Modell für bestimmte Sachbereiche der sozialräumlichen Welt. Aus dem einstigen „Befehl“ wird hier also der Entwurf einer „realmöglichen Struktur“. Die der Norm zugehörige Teilwirklichkeit wirkt damit als Teil der Norm. Der Normbereich ist tragender Gesichtspunkt der Konkretisierung: die Wirklichkeit wird Bestandteil der Norm. Wenn hiernach das Planungsrecht – wie alles andere Recht auch – in einer Relation zu der sachbestimmten Welt der gesellschaftlichen Verhältnisse steht, so erweist sich diese dann nicht nur als Gegenstand normativer Antizipation, sondern auch als die die Normierung tragende Struktur, die nur insoweit antizipieren und politisch sinnvoll ordnen kann, als sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unberücksichtigt lässt. Und so, wie der juristische Diskurs über die Norm letztlich notwendig ein Diskurs auch über den Gesellschaftstyp ist, so wird gleichzeitig der Diskurs über den Gesellschaftstyp zu einem politischen Diskurs des heute hierzu als berufen angesehenen Juristen über die Norm. Rechtserzeugung gerade als Planung ist damit ein im Ursprung bis hin zu ihrer Endstruktur politischer Prozess.

VII. Wo etwa Kelsen noch nach der Transzendierung des präjuristischen Faktums dieses als Basis seiner Grundnorm leugnen musste, sodass man darauf im Folgenden mit dem Ausschluss des Apriorismus der Rechtskategorie reagierte, da

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muss man jetzt allerdings ausschließen, dass das gesellschaftliche Faktum selbst in einen Wert umschlägt und in ein Sein-Sollen sich auflösen lässt: dass es allein auf „Verhalten in Gesellschaft“ reduziert wird. Auf der einen Seite zeigt das auf sozialen Wandel mit Neuerungsfindung reagierende Richterrecht und das Anwachsen des nicht-staatlichen Rechts und verschiedener, vor allem internationaler Bereiche des Soft-Law, dass die Norm eben nicht mehr ausschließlich durch ihre Imperativität und Erzwingbarkeit wie im herkömmlichen juristischen Positivismus gekennzeichnet ist. Auf der anderen Seite erweist das erwachte Innovationsinteresse des Richters ebenso wie die dynamischen Rechtsverhältnisschöpfungen der Vertrags- und Wirtschaftsjuristen, dass in Wirklichkeit das bestimmende Moment des Rechts nicht allein den konservierenden Merkmalen entspringt, die dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, vor allem dem Gesetz und seiner überkommenen Ideengeschichte eigen sind, sondern eben aus der Eigenart der modernen offenen Rechtsnorm und ihrer Zweckzusammenhänge, deren Grundlage und Bestandteil die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem fortwährenden Wandel selbst sind. Gerade die Rechtsnorm dieses Typus wirkt als ein nicht zu unterschätzender Stabilisierungsfaktor nicht zuletzt wegen ihrer besonderen Anpassungsfähigkeit in Bezug auf die raschem Wandel unterliegenden nachindustriellen Gesellschaften und die daraus resultierenden Entwicklungsgefahren.

Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozess* Die Vermeidung von Umweltbeeinträchtigungen geht zunehmend in das wirtschaftliche Interesse und die normativen Implikationen seiner gesetzlichen Gestaltung ein. Überlegungen, dass man bei hohen Wachstumsraten negative soziale und umweltrelevante Auswirkungen von Investitionen und Produktion rechtzeitig zu berücksichtigen habe, bilden den rechtstheoretischen Ansatzpunkt für eine dem weiten Bereich des Wirtschaftsrechts zuzuordnende Umweltgesetzgebung in den hoch industrialisierten Ländern.

I. Umweltgestaltung als Anforderung und Zielorientierung legislativen Handelns Negative Beeinträchtigungen der Umwelt sind durchweg Folgen des ökonomisch-technischen Prozesses der Vergesellschaftung von Natur. Sie umfassen einerseits die Probleme der Verschmutzung oder Pollution, zum anderen die der längerfristigen Sicherung materieller und energetischer Ressourcen. Die insbesondere aus dem industriellen Wachstumsprozess und seiner Technostruktur resultierenden Umweltprobleme begegnen uns primär als sozioökonomische Probleme im Umgang mit natürlichen Ressourcen: Sie lassen sich auffassen als Wachstumsprobleme in einer endlichen Welt.1 „Für den seiner natürlichen Umwelt entfremdeten Menschen ist ihre Kapazität in jeder Beziehung unerschöpflich, und so befindet sich . . . die Menschheit von heute mitten in einer unkontrollierten Wachstumsphase, in welche die Menschen . . . die Erde ausbeuten, sich und ihre sie tragende Umwelt dabei selbst zerstörend“.2 Diese bereits von Mesarovic´ und Pestel im * Erstveröffentlichung in: Bodo B. Gemper (Hrsg.), Stabilität im Wandel. Wirtschaft und Politik unter dem evolutionsbedingten Diktat. Festschrift für Bruno Gleitze zum 75. Geburtstag. 1978, S. 511 – 526. Berlin: Duncker & Humblot. 1 K. M. Meyer-Abich, Die ökologische Grenze des herkömmlichen Wirtschaftswachstums, in: H. Nussbaum, Die Zukunft des Wachstums, Bielefeld 1973, S. 163. Zu den wissenschaftstheoretischen Implikationen ökologischer Modellvorstellungen vgl. H. Sprout / M. Sprout, The Ecological Perspective on Human Affairs, Princeton 1965 (dtsch.: Ökologie – Mensch – Umwelt, München 1971), wo die Vielfalt der theoretischen Ansätze über die Beziehung des Menschen zur Umwelt dargestellt ist (z. B. Environmentalismus, Umweltpossibilismus, wahrscheinlichkeitstheoretische Kalküle bis zu entscheidungs- und informationstheoretischen Konzepten ökologischer Modelle). 2 M. Mesarovic´/ E. Pestel, Menschheit am Wendepunkt; 2. Bericht an den Club of Rome zur Weltlage, Stuttgart 1974, S. 21.

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zweiten Bericht an den Club of Rome zur Weltlage formulierte Umweltprognose stellte zwar keine bestimmte ökonomische Aussage dar, ließ politische Entscheidungen, den Technologiewandel und Substitutionsmöglichkeiten unberücksichtigt, sie kennzeichnete aber ein ernstes Problem für die Erd-Population, das in der Gegenwart zu besonderer Aktualität gelangt ist. In diesem Zusammenhang gewinnt ein klassisches Instrument politischen Handelns besondere Bedeutung: Gemeint ist die Gesetzgebung, die als „Umweltgesetzgebung“ die von der Technik produzierten Sachzwänge zunehmend unter human-ökologischen Aspekten zu normieren versucht. Noll3 hat diesen Problemzusammenhang wie folgt beschrieben: „Der Mensch steht kraft seiner Intelligenz außerhalb des Gleichgewichts der Natur, erweist sich damit – wegen seiner Intelligenz – als stärkster Störfaktor im auf Dauer angelegten System dieses Planeten, infolgedessen kollektiv als ein unvernünftiges Wesen. Kollektive Vernunft kann nur durch Normen hergestellt werden. Dies gilt auch für begrenztere, überblickbarere und lösbarere Probleme als das Generalproblem des Überlebens der Menschheit unter lebenswerten Bedingungen. Die moderne Gesellschaft ist in allen Teilbereichen instabil geworden, und es gibt keine freien Räume mehr, in die sich der Druck entladen kann. Steuerndes soziales Handeln ist überall unvermeidlich geworden. Reflektiertes Handeln aber ist stets normiert.“

Als Ursache der fortschreitenden Umweltbeeinträchtigungen gilt allgemein das Bevölkerungswachstum, insbesondere die global zunehmende industrielle Produktion, dabei an erster Stelle die Energieumwandlungsprozesse, die Siedlungsdichte, das Verkehrsaufkommen, das Konsumverhalten, der autonom gewordene Wachstumsprozess schlechthin. Die Interdependenz von Wachstumsprozess und Umwelt lässt sich dabei als ein System auffassen, das (idealtypisch) als feed-back-System beschreibbar ist.4 Der Prozess des industriellen Wachstums entwickelt und verändert Technologien, deren Anwendung mannigfaltig die Umwelt belastet und damit auch den Wirtschaftsprozess und die ihn tragenden Menschen selbst beeinflusst5. Dabei können solche Technologien deutliche Verbesserungen innerhalb eines Teilsbereichs herbeiführen – dies ist in der Tat die Regel –, außerhalb gerade dieser Bereiche können sie jedoch erhebliche Beeinträchtigungen der Umwelt bewirken. Dieser Prozess lässt seine Folgen häufig gerade auch bei den an dem Prozess Beteiligten selbst eintreten. Dabei ist es nicht mehr so sehr das „Verhalten des Einzelnen“, sondern eine sich emanzipierende „statistische Gefährlichkeit“, die zum rechtlichen Anknüpfungspunkt geworden ist: „Die Umweltbedrohung als Ergebnis kompakter Geschehen kann nur mehr über das gemeinsame technische Medium erfaßt werden . . . Die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten erscheinen zunehmend als Reflexwirkungen der rechtlich legitimierten technischen und wirtschaftlichen Sachzwänge“.6 P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 9. K.-H. Hansmeyer, Volkswirtschaftliche Kosten des Umweltschutzes, in: H. Giersch (Hrsg.), Das Umweltproblem in ökonomischer Sicht, Symposium 1973, Tübingen 1974, S. 99. 5 Hansmeyer, Volkswirtschaftliche Kosten des Umweltschutzes, a. a. O. 3 4

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Innerhalb der Nutzung unserer Umwelt ist es vor allem die industrielle Nutzung der Umwelt, die in die Umweltdiskussion – insbesondere hinsichtlich der Erkenntnis von Belastungsursachen – verstärkt einbezogen worden ist. Nach heute einhelliger Auffassung muss dabei auf die „vorsorgende Verhinderung von Umweltschäden“ das Hauptgewicht gelegt werden.7 In der Tat ist kennzeichnend für die neuere Umweltgesetzgebung, dass sie neben ihrem klassischen Schwerpunkt im Gewerbeund Immissionsschutzrecht sich verstärkt im Planungsrecht etabliert, ein Trend, der zu begrüßen ist, da das herkömmliche überwachungsorientierte (repressive) Umweltrecht mit seinen Wirksamkeitsgrenzen das Bedürfnis auch nach vorausschauender, planender Umweltgestaltung deutlich macht.8 Die Zielformel der Sicherung einer „optimalen Umwelt“ markiert dabei einen Trend, den Wimmer9 zutreffend als den Weg vom Leistungsstaat zum Umweltgestaltungsstaat beschrieben hat. Die Zielvorstellung des Leistungsstaates könne nicht mehr linear allein im Verteilen und Entsorgen verwirklicht werden, vielmehr müsse der Staat zunächst gewisse Umweltbedingungen schaffen, damit die gebotenen Leistungen auch tatsächlich genossen werden könnten: „War es das Ziel des Leistungsstaates, daß Leistungen erbracht wurden, ist es die Sorge des Umweltgestaltungsstaates, daß die Leistungen auch weiterhin sinnvoll erbracht werden können.“ Dabei liegt die Annahme nahe, dass bei der vorherrschenden Wachstumsmentalität das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie, das den industriellen Wachstumsprozess kennzeichnet, durch eine immanente ökonomische Ausrichtung unlösbar ist. Um dem zu begegnen, ist es erforderlich, ökologische und ökonomische Ziele als relativ gleichwertig zu behandeln. Bei dieser Sachlage dürfte eine „objektivierende Bewertung“, d. h. eine von einseitigen und vagen ökologisierenden Wertvorstellungen und Bewertungen gelöste, kriteriale Einschätzung der von dem die Natur beherrschenden Industrialisierungsprozess ausgehenden Umwelt beeinflussenden Wirkungen dringend geboten sein (Verwissenschaftlichung der Bewertungsproblematik). Grundsätzlich werden unter dem Begriff Umweltgesetzgebung entsprechend dem angelsächsischen Begriff „environmental protection“ alle gesetzlich verordneten Maßnahmen verstanden, die zur Erhaltung und Schaffung lebensgerechter Umweltbedingungen für Lebewesen beitragen.10 Für unsere Problemstellung ist es 6 N. Wimmer, System des österreichischen Umweltschutzes – Der Umweltgestaltungsstaat in rechtsdogmatischer und verwaltungswissenschaftlicher Sicht, Innsbruck 1974, S. 85. 7 J. Henneke, Raumplanerische Verfahren und Umweltschutz unter besonderer Berücksichtigung der planerischen Umweltverträglichkeitsprüfung. Beiträge zum Siedlungs- und Wohnungswesen und zur Raumplanung, Münster / Westf. 1977, Bd. 40, S. 1. 8 Henneke, Raumplanerische Verfahren und Umweltschutz, a. a. O.; R. Weimar, Landwirtschaft als Umweltgestaltung – Ökologisch-ökonomische Implikationen des Agrarumweltrechts, in: R. Weimar (Hrsg.), Festschrift für Franz Schad zum 70. Geburtstag, Düsseldorf 1978, S. 473 ff. 9 A. a. O., S. 131. 10 Zu den Gegenständen und Bereichen der Umweltgesetzgebung vgl. schon O. Kimminich, Das Recht des Umweltschutzes, 2. Aufl. München 1972, S. 47 ff. und 215 ff.

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zweckmäßig, diese Fassung in bestimmten Richtungen zu erweitern. Hiernach umfasst der Bereich Umweltgesetzgebung alle Mittel und Methoden, die den Menschen eine für die Gesundheit und ein menschenwürdiges Dasein erforderliche Umwelt sichern, die darüber hinaus Umweltbereiche wie Wasser, Boden, Luft, Klima, Flora und Fauna sowie Erholungslandschaften vor Zerstörung schützen und entstandene Schäden beseitigen sollen. Auch die Sicherung der Nahrungsmittelqualität ist als Schutzziel anzusehen.

II. Instrumente in der Theorie der Umweltgesetzgebung Instrumente der Umweltgesetzgebung müssen im Blick auf die angestrebten Ziele bewertet werden. Erst eine genaue Festlegung und Bewertung der Ziele ermöglicht die Ausarbeitung einer optimalen Politik.11 Umweltrechtliche Maßnahmen müssen vor allem daraufhin untersucht werden, inwieweit durch ihren Einsatz externe Effekte und damit die wesentliche Ursache unerwünschter Umweltschäden überwunden werden. Umweltgesetzgebung muss also Vor- und Nachteile jeder Maßnahme gegeneinander abwägen, um die optimale „Umweltbeeinträchtigung“ ermitteln und erreichen zu können.12 Im Anschluss an Frey lassen sich generell vier Gruppen von Umweltinstrumenten unterscheiden:13 – Freiwilligkeit, – Quantitativer staatlicher Eingriff, – Besteuerung, – Lösung über einen Markt.

Diese Instrumente können in vielerlei Weise miteinander verknüpft werden, was bestimmte Wirkungsveränderungen ermöglicht. Sie lassen sich insbesondere daraufhin untersuchen, welche der verschiedenen Gruppen in Staat und Gesellschaft an der Anwendung oder Ablehnung der Instrumente ein besonderes Interesse hat. So wenden sich Regierungen und Verwaltungen gegen die Anwendung jener B. S. Frey, Umweltökonomie, Göttingen 1972, S. 105. Frey, a. a. O., S. 104. Bei aller ansatzweise vorhandenen Effektivität des umweltrechtlichen Instrumentariums darf nicht vergessen werden, dass im Vergleich zu anderen Wissenschaften der Beitrag der Jurisprudenz zur Umweltschutz-Diskussion gering ist; vgl. etwa R.-E. Groiss / M. Welan, Recht und Umweltschutz in Österreich – Eine Lage- und Problemskizze, in: H. Franz (Hrsg.), Umweltprobleme aus der Sicht der Bodenkultur – Vorlesungen gehalten an der Universität für Bodenkultur in Wien im Studienjahr 1974 bis 1975, Wien 1976, S. 163. 13 Frey, a. a. O., S. 109; zur weiteren Differenzierung des rechtlichen Instrumentariums für eine Harmonisierung der Umweltnutzung vgl. H. Ebersbach, Rechtliche und organisatorische Instrumente für eine Steuerung der Landschaftsnutzung. Beiträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover 1978, Bd. 20, S. 252 ff. 11 12

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Instrumente, die eine Imitation des Preissystems anstreben; d. h. gegen direkte Verhandlungen zwischen Schädigern und Geschädigten, Internalisierung der Umweltschäden durch Zusammenfassung von Eigentumsrechten und Umweltzertifikate, die auf dem offenen Markt gehandelt werden. Regierungen lehnen diese Instrumente ab, weil sich deren Anwendung nicht in Form von Stimmengewinnen bei Wahlen niederschlägt; die Umweltbürokratie verwirft sie, weil ihr Budget nicht vergrößert und ihr jede Eingriffsmöglichkeit genommen wird. Beide neigen deshalb eher zur Anwendung von „klassischen“ Instrumenten wie nachträglicher Beseitigung der Umweltschäden, Subventionen an Verschmutzer und Verboten von Umweltschädigungen. Verbote, Auflagen und Lizenzen, die hier in erster Linie in Betracht kommen, dienen der präventiven Einschränkung von Umweltschäden. Sie zwingen die Unternehmer unmittelbar, Umweltschäden zu reduzieren. Freilich werden sie von ökonomischer Seite nur bedingt empfohlen, weil sie die marktwirtschaftlichen Maximen tangieren14 und durchweg ein umständliches und uneffizientes Regulierungsinstrument darstellen.15 Diese Instrumente beziehen sich auf einzelne Verfahren, Technologien, Kuppelprodukte und fordern die Einhaltung bestimmter Normen. Sie schöpfen das innovative Potential der Unternehmen wenig aus; es besteht kein Anreiz, über die gesetzlichen Forderungen hinaus tätig zu werden. Verbote und Auflagen müssen häufig auch unter erheblichem Kosten- und Zeitaufwand dem technischen Fortschritt angepasst werden. Steuern, Abgaben und Gebühren dienen ebenfalls der präventiven Reduktion von Umweltschäden und werden als marktkonformes, effizientes Steuerungsmittel angesehen,16 das den technischen Fortschritt im Bereich des Umweltschutzes anregt und die Dynamik und Funktionsfähigkeit des Marktsystems erhält. Ein integriertes Abgabensystem, das die Belastung der Verursacher an das Ausmaß der von ihnen verursachten Umweltschäden bindet, löst über den Umweg der Profitgefährdung einen Anreiz aus, die Umweltschädigung zu reduzieren (z. B. umweltfreundliche Technologien zu entwickeln). Dieser Anreiz nimmt jedoch zunehmend mit der Möglichkeit ab, die Kosten auf die Verbraucher zu überwälzen. Eine vollständige Überwälzung der sozialen Kosten ist dabei durch den nationalen und internationalen Wettbewerb erschwert.17

14 H. Jürgensen, Private und soziale Kosten, in: E. v. Beckerath u. a. (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963, S. 259. 15 E. Mills, Wirtschaftliche Anreizfaktoren bei der Bekämpfung der Luftverschmutzung, in: M. Glagow, Umweltgefährdung und Gesellschaftssystem, München 1972, S. 166. 16 Vgl. J. H. Dales, Umweltschutz als ökonomisches Problem, in: M. Glagow, a. a. O., S. 177 f. 17 V. Ronge, Die Umwelt im kapitalistischen System, in: M. Glagow, a. a. O., S. 119.

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III. Umweltpolitische Zielvorstellungen und problemorientierte Zielbildungsprozesse Zielfindungsprozesse des Gesetzgebers werden in vielen Bereichen dadurch erleichtert, dass bestimmte Oberziele und zugeordnete Teilziele von anderen politischen Entscheidungsträgern vorgegeben werden. Die Umweltpolitik der meisten Industriestaaten lässt als Oberziel die Erhaltung einer menschenwürdigen Umwelt erkennen. Die daraus abgeleiteten Hauptziele mit instrumentalem Charakter sind: – langfristige Umweltplanung, – Anwendung des Verursacherprinzips, – Förderung einer umweltfreundlichen Technik, – Interessenweckung für Umweltschutz bei der Bevölkerung, – Förderung der internationalen Zusammenarbeit.

Die Zielformulierung schließt ein die Umweltbereiche Natur, Landschaft, Abfallbeseitigung, Umweltchemikalien und Biozide Wasser, Hohe See, Küstengewässer und schließlich Luft und Lärm, denen jeweils Teilziele zugeordnet werden. So wird z. B. dem Umweltbereich Wasser als Teilziel einmal die Sicherung der Qualität und zum anderen die Sicherung der Quantität zugeordnet. Oberziel ist die Erhaltung und Verbesserung der Umweltqualität. Es geht dabei um die Festlegung von Standards für Mindestqualitäten, abgeleitet aus toxikologischen Grenzwerten, die den Umweltbereichen Luft und Wasser, der Verringerung der Lärmimmissionen, der Abfallbeseitigung und dem Schutz vor Umweltchemikalien zuzuordnen sind. Hier entsteht das Dilemma, dass in einigen typischen Belastungsbereichen (z. B. Wasser, Luft) objektive Grenzwerte bestimmbar sind, während eine solche Bestimmung in komplexen Bereichen wie dem des Naturschutzes, des biologischen Umweltschutzes und der Landschaftspflege nur sehr eingeschränkt möglich ist. Hier kann nur mithilfe mehr oder weniger grob formulierter Zielvorstellungen operiert werden. Die von politischen Willensträgern formulierten Zielvorstellungen können nicht ohne weiteres als optimale Qualitätsziele übernommen werden. Dies ist schon deshalb fraglich und schwerlich möglich, weil nicht gewährleistet ist, dass der Gesetzgeber sich mit allen wichtigen oder auch nur mit den wichtigsten Problemen von Umwelt und Gesellschaft hinreichen befasst.18 Daher ist es erforderlich, im Einzelnen zu überprüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit sie der ökologischen Problematik gerecht werden. Das gilt gerade angesichts der Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man eine „optimale Beschaffenheit“ der Umwelt als bekannt anneh18 Vgl. dazu Noll, a. a O., S. 56. Als Ziele und Grundsätze einer Umweltpolitik in Europa sind vor allem der Schutz und die rationelle Nutzung des Raumes, der Umweltmedien und der natürlichen Ressourcen hervorzuheben.

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men will. Vor allem kommt es darauf an, Zielgewichtungen wissenschaftlich abzusichern und zu kontrollieren. Dabei geht es in erster Linie um problemorientierte Zielbildungen im Rahmen umweltrelevanter industrieller Prozesse. Unter dem Oberbegriff Umweltschutz wird dabei die Sicherung und Erhaltung der Umweltqualität verstanden. Als abgeleitete Teilziele sind die Sicherung und Erhaltung der Teilbereiche Wasser, Boden, Klima, Flora und Fauna, Erholungslandschaft sowie die Sicherung der Nahrungsmittelqualität zu nennen.19 Das oberste Ziel jeder Umweltgesetzgebung, die Sicherung des Umweltsystems, darf nicht durch partielle Überstabilisierung den Zusammenbruch anderer Systeme provozieren.20 Soweit neue umweltrechtliche Regelungen erforderlich werden, sollten dem Gesetzgeber, wenn möglich, verschiedene Problemlösungsvorschläge gemacht werden.21 Dabei sollte auch das Prinzip, dass Umweltgefahren grundsätzlich an ihrer „Quelle“ zu bekämpfen seien,22 jeweils darauf überprüft werden, ob seine Anwendung für die konkrete Regelungsmaterie die zweckmäßigere und effizientere Lösung bringt. Wie Noll23 m. E. richtig sieht, kann die Gesetzgebung allerdings bisweilen nicht abwarten, „bis beispielsweise die gegenwärtig diskutierten Planspielmodelle methodisch gesichert sind und ihre Verwertung für die Praxis von den Modelltheoretikern für die Praxis gewissermaßen freigegeben wird, sondern sie befindet sich heute schon in der Zwangslage, mit vorläufigen Wahrheiten und Annäherungsgewißheiten arbeiten zu müssen“. Entscheidungen des Gesetzgebers gerade im Umweltbereich haben mehr oder weniger experimentellen Charakter: „Selbst wenn prognostische Techniken besser entwickelt wären, als sie es sind, würden dauernd neue Kausalfaktoren einfließen, deren künftiges Zusammenspiel nie auf Dauer absehbar ist“.24 Darum ist es wichtig, die Auswirkungen der bestehenden Gesetze ständig zu beobachten und gleichzeitig das Verfahren offen zuhalten für Korrekturen, die auf neuen Erfahrungen beruhen. Wenn Gesetzgebung und Umweltwissenschaften zu störungsfreier, produktiver Kooperation gelangen wollen, müssen sie sich einig sein über Verhaltensmodelle menschlicher Tätigkeiten.25 Einheitliche, in diesem Sinne kongruente Verhaltensmodelle wären als Basis fruchtbarer Gemeinschaftsarbeit zu fordern, zumindest als ein Resultat von Vorarbeiten, die in die Kooperationsbeziehung eingehen.26 Aller Vgl. dazu Kimminich, a. a. O. Vgl. Hansmeyer, Volkswirtschaftliche Kosten des Umweltschutzes, a. a. O., S. 100. 21 Noll, a. a. O., S. 107; vgl. auch R. Weimar, La Propiedad del Suelo, la Explotación Agricola y Forestal y la Protección del Medio Ambiente, in: Diritto-Exonomia, Camerino 1977, Heft 3, S. 27 ff. 22 Vgl. E. Rehbinder, Grundlagen des Umweltrechts, in: ZRP 1970, S. 254. 23 A. a. O., S. 96. 24 Noll, a. a. O. 25 F. Schad / R. Weimar, Umwelt und Recht, in: H. Schaefer (Hrsg.), Folgen der Zivilisation, Bericht der Studiengruppe „Zivilisationsfolgen“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, Frankfurt am Main 1974, S. 262. 26 Schad / Weimar, a. a. O. 19 20

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gesetzgeberischen Aktivität hat eine wissenschaftliche Diagnose der Schädigungstatbestände und darüber hinaus eine Prognose hinsichtlich künftiger Schaden- und Gefahrenentwicklungen voranzugehen.27 Noll28 fordert mit Grund, dass „die Rechtswissenschaft selbst sich wissenschaftstheoretisch, institutionell und methodisch diejenigen Gebiete angliedern muß, die sie zur Beantwortung ihrer am häufigsten gestellten Fragen braucht, also die Tatsachenwissenschaften, die zu den Hauptgebieten der Rechtswissenschaft gehören. . .“. Es gebe dauernd Entscheidungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung, die alle möglichen Gebiete des Wissens beträfen, sodass Rechtstheorie und Rechtspraxis auch für jede andere Wissenschaft offen bleiben und zugleich eine Theorie und Praxis der interdisziplinären Zusammenarbeit konzipieren müssten, die es ermögliche, die Erkenntnisse aus den verschiedenen Gebieten zur Erzielung eines optimalen Ergebnisses zu kombinieren. Dies gilt im besonderen Maße für den Bereich der Umweltrechtswissenschaft, die ohne kooperative Öffnung gegenüber ihren Nachbarwissenschaften nicht nur ein Torso bleibt, sondern auch ihrem Objektivitätsanspruch nicht zu genügen vermag.29 Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Juristen und Experten der einschlägigen Sachgebiete erscheint unabweisbar. Das gilt nicht nur für die Rechtswissenschaft selbst, sondern auch für Rechtsprechung und besonders für die Gesetzgebung und Verwaltung. Für diese Bereiche determiniert der Sachverstand die Grenzen auch der Zuständigkeit. Insoweit bemerkt Noll30 m. E. richtig: „Sachverständig ist er (der Jurist) in Gesetzgebung und Rechtsprechung für die Entscheidung, d. h. für die sachgerechte Normierung, für die Lösung von Konflikten, für die Bewertung widerstreitender Interessen.“

IV. Verursacherprinzip und Umweltgesetzgebung Das Verursacherprinzip (VUP)31 ist das tragende Prinzip zur Verwirklichung jeder Umweltpolitik. In der Handlungskette des Wirtschaftsablaufs soll damit grundsätzlich derjenige die Kosten einer Umweltbelastung zu tragen haben, der ihre Entstehung veranlasst. Es geht hierbei nicht um die Suche nach einem Verantwortlichen, sondern um die Frage, wem und in welcher Höhe die Kosten der Umweltbelastung (social costs) anzulasten sind. Verursacher ist, wer durch sein Handeln in Produktion, Dienstleistung oder Konsum eine Umweltbelastung herSchad / Weimar, a. a. O. Noll, a. a. O., S. 67 f. 29 Vgl. R. Weimar, Überwindung der fachlichen Enge, in: FAZ vom 5. 6. 1976: „Diesem Anspruch kann nur eine Rechtswissenschaft genügen, die die Entscheidungsrationalität mit allen ihr zugeordneten Wissenschaftszweigen bei ihren Forschungsbemühungen umfassend zu integrieren versteht.“ 30 A. a. O., S. 70. 31 Dazu Kimminich, a. a. O., S. 134 f.; G. Hartkopf, Wirtschaftliche Aspekte der Umweltpolitik, in: H. Schulze (Hrsg.), Umweltreport, Frankfurt am Main, 1972, S. 17. 27 28

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vorruft oder die Grundlage für eine spätere Umweltbelastung schafft.32 Die Vermeidungs- oder Beseitigungskosten für Umweltbelastungen sind auch dann auf den Verursacher abzuwälzen, wenn ein anderer als der Verursacher für die Vermeidung oder Beseitigung von Umweltschäden sorgt. Thoss33 hat zutreffend das VUP in einem engeren und in einem weiteren Sinne unterschieden. Der Begriff im engeren Sinn meint eine Regelung, dass jeder, der einen Umweltschaden verursacht hat, nachträglich für die Deckung dieses Schadens herangezogen wird. Es handelt sich dabei um die Androhung von nachträglichen Kompensationszahlungen für etwa verursachte Umweltschäden. Im weiteren Sinne ist das VUP auf „verhinderte Verursacher“ ausgedehnt. Es lässt sich daher auch dann von einer Anwendung des VUP sprechen, wenn die Entstehung von Umweltschäden verhindert wird. Voraussetzung ist, dass der potenzielle Verbraucher und nicht der Staat die Vermeidungskosten übernimmt. Wo selbst gewichtige Plausibilitätskriterien eine Zurechnung der sozialen Kosten nicht mehr zulassen, kann das Gemeinlastprinzip substitutiv an die Stelle des Verursacherprinzips treten. Die Alternative besteht darin, dass Kosten für die Vermeidung, Beseitigung und den Ausgleich von Umweltbelastungen der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Eine Variante dieses generellen Gemeinlastprinzips stellt ein von Mills entwickeltes Modell dar, das die Zurechnung der volkswirtschaftlichen Kosten über die Besteuerung von bestimmten Rohstoffen ermöglicht. Die Steuerlast soll danach so bemessen sein, dass die Kosten der schädlichsten Verwendung des Materials gedeckt sind. Jeder Produzent kann Steuern zurückerstattet bekommen, wenn er nachweist, dass seine Verwendung des Stoffes zu geringeren Umweltbelastungen führt.34 Die Anwendung des Gemeinlastprinzips würde sich in geringeren Preisbelastungen für Produkte, und Leistungen auswirken, die frei von Umweltschutzkosten sind, als dies bei Zurechnung mit allen durch sie verursachten Kosten der Fall wäre. Da dies zu einer erhöhten Nachfrage nach solchen Produkten führen kann, sind damit Kapitalfehlleitungen und häufig volkswirtschaftliche Leistungsminderungen einerseits sowie erhöhte Umweltbelastungen andererseits verbunden. Das VUP ist demgegenüber ein reines Kostenzurechnungsprinzip. Das Gemeinlastprinzip sollte nur dann angewandt werden, wenn der Verursacher nicht festgestellt werden kann oder akute Notstände beseitigt werden müssen, die mit den dargestellten Instrumenten nicht schnell genug erreicht werden können. Ziel sollte es sein, international zu einer Durchsetzung des VUP zu gelangen, um Behinderungen des internationalen Handels zu vermeiden. Wenn in allen Staaten die Kosten für Maßnahmen durch die Verursacher von Umweltbelastungen getragen werden, würde insoweit der Anlass für Behinderungen des zwischenstaatlichen Handels Hartkopf, Wirtschaftliche Aspekte der Umweltpolitik, a. a. O., S. 17. R. Thoss, Verursacherprinzip – Kompensation oder Verminderung von Umweltschäden, in: Schulze (Hrsg.), Umweltreport, a. a. O., S. 21. 34 Vgl. dazu Schad / Weimar, a. a. O., S. 269. 32 33

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entfallen. Das setzt voraus, dass ein Produzent auch dann für die durch ihn entstehenden Umweltschäden herangezogen werden könnte, wenn die produzierte Ware exportiert wird.

V. Wertsetzung bei kollidierenden Politikzielen Die Komplexität staatlicher Gestaltungsaufgaben, wie sie beim Umweltschutz zusammentreffen, relativiert den Kanon eingefahrener Wert- und Ordnungsvorstellungen, insbesondere den Inhalt des „Sozialen“. Wimmer35 macht darauf aufmerksam, dass der Umweltgestaltungsstaat den „Prozess der Wertpartikularisierung“ beschleunige. Es fragt sich, ob die Entscheidungsinhalte auch und gerade in ihrer wertenden, abwägenden Komponente im vollen Umfang beim politischen Entscheidungsträger ihren Platz haben können.36 Hier zeigt sich die „unscharfe Grenze zwischen der wissenschaftlichen und der politischen Kompetenz“, eine Erscheinung, auf die Noll37 zutreffend hingewiesen hat. Nach Noll ist für den Gesetzgeber nicht viel gewonnen, wenn die beratende Wissenschaft sich aller wertenden Schlüsse enthält und ihre Ausführungen auf eine Aneinanderreihung von Fakten beschränkt. „Die Kehrseite dieser Auffassung wäre ein Wertungsmonopol der Politik und des Parlaments“.38 Aber auch wenn man die Setzung umweltpolitischer Ziele für Sache der Gesetzgebung hält, bleibt nach meiner Einschätzung die Möglichkeit wissenschaftlicher Behandlung dieser Ziele. Steinmüller39 nennt beispielsweise in diesem Zusammenhang die Ableitung von Oberzielen oder Annahme von Unterzielen, die Bestimmung von Präferenzen zwischen Zielen mittels rationaler Folgendiskussion, die Untersuchung auf Widersprüche, den Aufweis von Zufallsmechanismen und Irrationalitäten in den Entscheidungs- und Ableitungsprozessen, schließlich die Formulierung von konkurrierenden Handlungsweisen als Mittel zur Erreichung dieser Ziele, aber auch die Optimierung dieser Mittel sowie die rationale Diskussion und den Vergleich ihrer jeweiligen Folgen.40 Neben den Problemen der Aufstellung von Gewichtungsregeln, die nicht nur im Umweltbereich ein politisches Werturteil des Gesetzgebers implizieren, gibt es ein weiteres Dilemma: das Problem, die Zielformel „menschenwürdiges Dasein“ hinreichend zu bestimmen; sie löst fast ausschließlich subjektive Vorstellungen und Bewertungen aus und kann eine allgemein akzeptierte Feststellung wohl kaum erfahren. Im gegenwärtigen Stadium wird man vor allem eine zu der Zielformel mehr Wimmer, a. a. O., S. 132. Diesen Gedanken greift Henneke, a. a. O., S. 47 für Planungsträger in umweltrechtlich bedeutsamen Raumplanungsverfahren auf. 37 A. a. O., S. 59. 38 Noll, a. a. O., S. 60. 39 Rechtstheorie, Rechtsinformatik und Rechtspolitik, in: Jahrbuch II, S. 373, insbes. S. 387. 40 Vgl. kritisch auch N. Achterberg, Rechtstheoretische Grundlagen einer Kontrolle der Gesetzgebung durch die Wissenschaft, JZ 1968, S. 449 ff. 35 36

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und mehr hinführende Beschreibung der Funktionen der Umweltgesetzgebung erreichen müssen. Hier lässt sich von einer dreifachen Funktion sprechen, wie sie E. Rehbinder41 herausgearbeitet hat: – von der existenziellen, d. h. der biologisch-physischen Funktion, – von der sozialen Funktion, – von einer ästhetischen Funktion.

Hiernach ergibt sich als Funktionsbereich der Umweltgesetzgebung die Sicherung einer optimalen Qualität der menschlichen Lebensbedingungen. Optimale Qualität42 meint dreierlei: – Verhinderung oder Einschränkung umweltgefährdender Produktionsformen und gesundheitsschädlichen Konsums bestimmter Massenprodukte, – Sicherung des sozialen und ökopsychologischen Anspruchs des Menschen an seine Umwelt, – vorbeugender Schutz der Ökosysteme als solcher.

Von ihrer Gesamtfunktion her gesehen normiert Umweltgesetzgebung politische Wertsetzungen bei beschränkter Ressourcenverfügbarkeit. Der Umweltgesetzgebung kommt daher eine ökologisch-ökonomische Steuerungs- und Integrationsfunktion im wirtschaftlichen Wachstumsprozess zu. Diese systemtheoretische Regelungsfunktion wird in der rechtspolitischen Diskussion der letzten Jahre herausgestellt. So weist etwa Wälde43 auf das steuernde Potenzial des Rechts hin, das es auszuschöpfen gelte. Statt einer zeitlich nachhinkenden und Symptom kurierenden Reaktion gehe es darum, mit rechtlichen Mitteln Entwicklungen von vornherein zu untersuchen, zu prognostizieren und aktiv ihren Gang zu steuern. Bei dieser Art funktionalen Verständnisses der Umweltgesetzgebung ist nach Mitteln der Rechtsetzung zu suchen, die Regelungen hervorbringen, die nicht nur rechtlich tragbar und zulässig, sondern auch im Sinne der Ziele der Umweltpolitik wirksam sind.44 Die Kollision mit anderen Politikzielen ist dabei das Hauptproblem. Soweit Umweltschutzbelange in der Planung zu berücksichtigen sind, bedeutet dies rechtlich

41 E. Rehbinder, Umweltschutz – aber wie? Rechtliche Hindernisse – Rechtliche Möglichkeiten, Frankfurt am Main 1972, S. 21. 42 Zum Folgenden Schad / Weimar, a. a. O., S. 261. 43 Rechtliche Aspekte von Technology Assessment, in: Verwaltungsarchiv 1976, S. 2; vgl. auch Noll, a. a. O., S. 31, der ein „funktionales“ Recht als „Gestaltung der Wirklichkeit“ begreift. Andererseits R. Wiethölter, Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main und Hamburg 1968, S. 27, für den Recht heute „als Leistung der politischen Gesellschaft und für die politische Gesellschaft funktional leer läuft, als Kulturphänomen nicht ernst genommen wird“. 44 Henneke, Raumplanerische Verfahren und Umweltschutz, a. a. O., S. 4; zum Begriff der „Funktionalität“ leistender Systeme vgl. D. Bökemann / E. Matzner, Harmonisierung von Investitionsvorhaben der Gebietskörperschaften unter besonderer Berücksichtigung der regionalen Entwicklungs- und Konjunkturpolitik, Wien 1976, S. 24 f.

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nur, dass der Umweltschutz in die planerische Abwägung mit einzustellen ist.45 Absoluten Vorrang räumt also der Gesetzgeber dem Umweltschutz nicht ein; die sachlichen Implikationen der industriellen Gesellschaft gestatten nur eine relative Priorität. Umweltschutzbelange können und müssen im Einzelfall hinter anderen Belangen gegebenenfalls zurücktreten. Im Übrigen lässt sich feststellen, dass das Umweltplanungsrecht wenig operationalisiert ist. Diese für die Planung kennzeichnende mangelnde rechtliche Determiniertheit ist durch eine besondere verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Planungsverfahren (z. B. Feststellung der Umweltadäquanz als Verfahrenskomponente; Partizipationen) zu kompensieren. Je weniger nämlich die Planung selbst ,an Gesetze gebunden, also konditional programmiert ist, desto wichtiger wird die Bindung der Planungsträger an rechtliche Regeln prozeduraler Disziplinierung im Verfahren selbst.46 Die materiell-gesetzliche Bindung weicht hier der „Legitimation durch Verfahren“ (N. Luhmann). In diesem Sinne obliegt den Planungsträgern eine entsprechende Sammlung umweltbezogener Informationen sowie deren Verarbeitung im planerischen Entscheidungsprozess,47 anderenfalls die Planung rechtswidrig ist.48 Zutreffend weist Wimmer49 darauf hin, dass „über den gegenwärtigen Stand der Rechtstechnik hinaus qualitativ neue rechtlich-administrative Strategien zu entwickeln sind, die den durchaus neuen Problemen des Umweltschutzes auch adäquat sind“. In erster Linie kommt hier neben dem System der staatlichen Förderung die weitere verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Planungstechnik in Betracht, die für die staatliche Umweltgestaltung im Sinne eines präventiven Umweltschutzes eine zunehmend größere Rolle spielt. Die umweltrechtlichen Formelkompromisse des Gesetzgebers verlagern dabei die rechtsinhaltlichen, materiellen Regelungen mehr und mehr auf die Gestaltungsebene der Verwaltung. Die Erfüllung der mehrdimensionalen staatlichen Ordnungsaufgaben ist im Hinblick auf die ihnen immanenten verstärkten Spannungsinterdependenzen nicht mehr über das einfache Schema des Leistungsstaates allein zu leisten. Der „Gestaltungsfall“ mit seiner hochgradigen Konfliktträchtigkeit wird der Regelung durch die Verwaltung überantwortet. Es gilt jedoch für Gesetzgebung und Planung zu beachten, dass die Aktivitäten zur Erhaltung und Gestaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, so wünschenswert sie sein mögen, nicht unverhältnismäßig sein dürfen: Umweltgestaltung darf nicht zu einer defekten Wirtschaft führen. Daher geht es eher um eine Beschrän45 Zur Problematik der Planung vgl. H. P. Rill / H. Schäffer, Die Rechtsnormen für die Planungskoordinierung seitens der öffentlichen Hand auf dem Gebiet der Raumplanung – Stand und Entwicklungsmöglichkeiten –, Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK); Schriftenreihe Nr. 6, Wien 1975, S. 26 ff. 46 Henneke, Raumplanerische Verfahren und Umweltschutz, a. a. O., S. 10. 47 Henneke, ebd., S. 36. 48 Henneke, ebd. 49 Wimmer, a. a. O., S. 83.

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kung von Umwelteinwirkungen auf ein vernünftiges und erträgliches Maß als um die Schaffung „idealer“ Umweltverhältnisse.50 Die Umweltgesetzgebung wie die an ihr orientierten Planungen können nicht am „Punkt Null“ beginnen; die vorhandenen Umweltbelastungen und die gegebene Flächenstruktur können sogar dazu führen, dass in manchen Ballungsräumen eine zu einer nachhaltigen Verbesserung der Umweltbelastung führende Planung kurzfristig überhaupt ausgeschlossen erscheint.51 Im internationalen Bereich machen das Wohlstandsgefälle und die daraus entstandenen Ungleichheiten zwischen den Industrieländern und den Ländern der Dritten Welt deutlich, welcher Widerspruch zwischen den Umweltsorgen der Entwickelten und dem Nachholbedarf der Unterentwickelten besteht, denen der Kampf gegen Noxen und Lärm als Luxus erscheint. Hatte noch – wie eingangs erwähnt – der zweite Bericht an den Club of Rome das Wirtschaftswachstum als etwas hingestellt, was die Menschheit an das Ende ihrer Existenz bringe, schon im dritten Bericht wird die Endfrage unter anderem Aspekt gesehen: Ohne Wirtschaftswachstum erreiche die Menschheit schnell ein Ende, weil sie dann die entstehenden sozialen Spannungen nicht ertragen könne.52 Wie dem letztlich auch sei: Die partikularen und nationalstaatlichen Ansätze auf dem Gebiet des Umweltrechts werden sich jedenfalls als wenig nachhaltig erweisen, wenn nicht die Probleme einer transnationalen Regelung zugänglich gemacht werden. Denn die Umweltbelastung ist eine weltweite Erscheinung, die nicht an irgendwelchen Landesgrenzen halt macht.53 Im Hinblick auf eine umfassende inter / supranationalrechtliche Umweltplanung sind die Nationalstaaten vorläufig aber politisch noch nicht imstande, aus der „Raumschiffnatur“ der Erde und ihrer mangelnden Risikofähigkeit die nötigen Folgerungen zu ziehen.54

VI. Gesetzliche Umweltstandards Ausgangspunkt war, dass die Umweltgesetzgebung und die ihr zugrunde liegende Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in den Industriestaaten die Auswirkungen der von der Technik produzierten Sachzwänge auf die Umwelt nicht hinreichend antizipiert haben. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wurde das Problem der Umweltgefährdung jahrzehntelang höchstens am Rande behandelt. 50 K. Gelzer, die Industrieansiedlung unter Berücksichtigung des Planungsrechts und des Immissionsschutzes, in: Baurecht 1975, S. 146. 51 G. Kuhl, Umweltschutz im materiellen Raumordnungsrecht, Beiträge zum Siedlungsund Wohnungswesen und zur Raumplanung, Münster / Westf. 1977, Bd. 39, S. 35. 52 Schad / Weimar, a. a. O., S. 270. 53 Schad / Weimar, a. a. O.; vgl. auch H. Miehsler, Grundsätze und Ziele der internationalen Raumordnung, Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK), Schriftenreihe Nr. 10, Wien 1977, S. 38. 54 Vgl. Schad / Weimar, a. a. O.

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Diese Vernachlässigung, die teilweise mit einer Verharmlosung der Umweltfragen einherging, liegt in der Tendenz, „Wirtschaft“ als geschlossenes System von Zusammenhängen zu erfassen und dabei Probleme und Phänomene, die die gesuchten Zusammenhänge innerhalb des Systems stören könnten, auszuklammern. Diese Vorstellung ist im Zeitalter der zunehmenden Umweltkrise nicht mehr haltbar. Der Gesetzgeber darf sich dieser Systemzusammenhänge und zirkulären Interdependenzen nicht entziehen. Damit steht aber die Gesetzgebung vor grundlegend neuen Aufgaben. Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme müssen als offene Systeme gesehen werden, die grundsätzlich labil sind, jedoch gewisse Selbststeuerungs- und Gleichgewichtstendenzen aufweisen. Dabei zwingt die Berücksichtigung der ökologischen Fragen, der Toleranzgrenzen der Umwelt, zu interdisziplinärer Kooperation.55 VII. Ausblick Bei einer in dieser Weise arbeitenden Umweltgesetzgebung geht es nicht nur um die rechtsnormative und rechtstechnische ökologisch-ökonomische Ausrichtung von Problemstrategien hinsichtlich der Ökosysteme und ihrer Bedrohung. Bei der Suche nach solchen Möglichkeiten geht es entscheidend auch um das politisch geleitete Interesse, Lösungen zu finden, in denen die Sicherung der materiellen Reproduktionsgrundlagen der Gesellschaft das verfassungsrechtlich determinierte Ziel demokratischer Selbstbestimmung und der daran orientierten Eigentums-56 und Wirtschaftsverfassung57 nicht ausschließt.58 Die zunehmende gesetzliche Normierung der Umweltbedingungen in den Industrieländern wird gewiss zu wachsender Industrialisierung des Umweltschutzes führen, zu einem „Zyklus von industrieller Problemproduktion und industrialisierter Problemlösung“.59 Ihre verfassungsrechtlichen Grenzen60 wird die gesetzlich verordnete 55 Die sich darin abzeichnende veränderte Aufgabenstellung des Rechts hat bereits eine Veränderung der Methoden der Rechtswissenschaft eingeleitet; zutreffend Wimmer, a. a. O., S. 132. 56 Vgl. dazu K. Korinek, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Raumplanung, Veröffentlichungen des Österreichischen Wirtschaftsinstituts für Strukturforschung und Strukturpolitik, „Vorträge und Aufsätze“, Linz 1977, Bd. 5, S. 29 ff. 57 Vgl. R. Weimar, Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem, in: G. Frohberg / O. Kimminich / R. Weimar (Hrsg.), Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag, Berlin 1979. 58 Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft, Energie (A.U.G.E.) im Forschungsentwicklungsbereich der Universität Essen, Bedingungen der Reorientierung des herkömmlichen Wirtschaftswachstums, Arbeitsplan 1975 – 1977, S. 8. 59 M. Jänicke, Umweltpolitik in Osteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Zeitschrift Das Parlament, B 23 / 77, S. 7. 60 Zu den verfassungsrechtlichen Determinanten der Umweltgesetzgebung vgl. im Einzelnen R. Weimar, Umweltplanung im sozialen Rechtsstaat, Festvortrag Universität Hohenheim anlässlich der Emeritierung von F. Schad am 31. 1. 1975, vervielf. Manuskript, Karlsruhe 1975; ferner R. Weimar, Bodeneigentum, land- und forstwirtschaftliche Bewirtschaftung und Umweltschutz, IX. Europäischer Agrarrechtskongress Generalreferat, Kommission II (engl.,

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Produktion von Umweltqualität noch lange nicht erreichen: Umweltgesetzgebung hat Zukunft – ein Weltumweltrecht zieht nach.

franz., span., ital.), Valencia 1977; N. Wimmer: Raumordnung und Umweltschutz – Der Umweltgestaltungsstaat – Systematische Bezüge und praktische Probleme, Gutachten, Verhandlungen des sechsten Österreichischen Juristentages, Bd. I, 1. Teil A, Wien 1976, S. 8 ff.; B. Gutknecht / K. Korinek, Umweltschutz durch Raumplanung, in: Wohnbauforschung in Österreich, 1974, S. 81 ff.; L. Fröhler / P. Oberndorfer, Österreichisches Raumordnungsrecht, Linz 1975, S. 30 ff.

Überregulierung in der Gesetzgebung* Während sich die Klagen über mangelhafte, schlechte Gesetze seit Jahren häufen, werden immer mehr Gesetze erlassen. Unternehmen und Bürger beklagen zunehmend, dass es zu viele Gesetze gebe und diese schwer zu verstehen seien. Juristen wie Laien leiden unter der Mangelhaftigkeit von Gesetzen und immer öfter auch unter der Vielzahl neuer Gesetze. Allein in der 14. Legislaturperiode (1998 – 2002) hatte der Bund 85976 Bestimmungen produziert; ein Durchschnittsbürger muss 2152 Bundesgesetze und 3132 Verordnungen – insgesamt 88076 Bestimmungen – beachten.1 Bei dieser Sachlage scheint es an der Zeit, den Ursachen dieser Entwicklung aus übergreifender Sicht nachzugehen und zu fragen, wie der Umfang der Gesetzesproduktion reduziert und die Qualität der Gesetze verbessert werden kann.2 I. Allgemeine Orientierung Um möglichst vielen Sachverhalten gerecht zu werden und Konflikte besser lösen zu können, versucht die Politik, ständig neue Gesetze zu schaffen. Wegen der dauernden Veränderung der tatsächlichen Umstände entstehen dabei jedoch permanent neue Regelungslücken. Die gelegentlich erhobene Forderung, ein Ge* Erstveröffentlichung in: W. Schreckenberger (Hrsg.), Recht, Staat und kulturelle Entwicklung. 2007, S. 59 – 78. Speyer: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften. Speyerer Arbeitsheft Nr. 191. 1 Nachweise bei W. Kurzka, Im Paragrafenrausch. Überregulierung in Deutschland – Fakten, Ursachen, Auswirkungen, Gräfelfing 2005, S. 11 u. 291. 2 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass H.-J. Papier die Politik vor einer Überforderung des Staates gewarnt hat. Es gebe in der Politik eine Tendenz zur Überreglementierung, nach der bei neuen Problemen in der Gesellschaft sofort die Gesetzesmaschine angeworfen werde, sagte Papier am 17. 12. 2006 im Deutschlandfunk. Gesetzgebung werde so oft zu symbolischer Politik. „Man darf nicht von der politischen Seite her den Bürgern vorgaukeln, der Staat könne, wenn er nur wolle, alles regeln, alles in den Griff bekommen“, sagte Papier und fügte hinzu: „Wenn das dem Bürger vorgegaukelt wird, dann sehe ich eine gewisse Gefahr, die zu mehr Politikverdrossenheit führen kann.“ In Deutschland gebe es kein Gesetzesdefizit, sondern allenfalls ein Vollzugsdefizit. Darüber hinaus gehe es darum, das parlamentarische System in Deutschland zu stärken. Papier beklagte „eine Art Exekutivföderalismus in Deutschland“, bei der etwa die Regierungen der Bundesländer das Sagen hätten. Diese Entwicklung sei „zu Lasten der Parlamente“ gegangen. Die großen Vorhaben würden in jüngster Zeit außerhalb des parlamentarischen Diskurses – etwa in Elefantenrunden oder nachts im Vermittlungsausschuss – beschlossen. Das Parlament, der Bundestag, war vielfach dann nur noch in der Lage, dem zuzustimmen, „dies gewissermaßen abzunicken.“ Der Parlamentarismus müsse daher revitalisiert werden. Quelle: Reuters.de (Abruf unter http: // de.today.reuters.com / news / news).

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setz müsse so speziell gestaltet sein, dass die rechtliche Lösung des Einzelfalls nahezu mit Sicherheit vorausgesehen werden könne, ist ebenso illusorisch wie unerfüllbar. Die Berechenbarkeit der Lösung ist bei der Vollziehung von spezielleren Regelungen zwar höher als bei der Anwendung von Blankettbegriffen, Generalklauseln und allgemeinen Rechtsregeln. Mit Grund verwendet der moderne Gesetzgeber vielerorts unbestimmte Rechtsbegriffe und allgemeine Regeln, da es unmöglich ist, mit Spezialnormen die Vielfalt der Lebensverhältnisse in den Griff zu bekommen und zugleich einen Weg zu rechtlichen Differenzierungen zu eröffnen, die im Einzelfall eine gerechte Entscheidung oft erst ermöglichen.3 Im Übrigen ist es sehr weitgehend das verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip, das die staatlichen Aufgaben und die Normenflut zunehmen lässt. Der soziale Leistungsstaat der Gegenwart fordert mehr staatliche Aktivitäten als der liberale Staat der Vergangenheit. Der Gesetzgeber muss die ständig wechselnden öffentlichen und privaten Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllen und die begrenzten Güter unter den verschiedenen Interessengruppen verteilen, damit er dem Verfassungsauftrag der Wahrung und des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gerecht wird4 – gerade auch durch eine „menschenwürdige Ausgestaltung“ der Rechtsordnung. „Aber der Sozialstaat muss auch seine Grenzen kennen. Staatliche Überregulierung kann auch im Bereich des Sozialen lähmend, erstickend oder bevormundend wirken.“5

II. Motor des Regulierungsanstiegs: Dynaxität Die komplexer werdenden Verhältnisse in nahezu allen Lebensbereichen der modernen Wissens- und Risikogesellschaft verlangen einerseits neue Regelungen, zum anderen nimmt der Staat immer wieder neue legislatorische Aufgaben bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien wahr.6 Dabei ist es nicht nur der Wandel der Verhältnisse selbst, sondern vor allem die Schnelligkeit dieses Wandels, die zu vermehrtem legislativen Änderungsbedarf führt.7 Vgl. BVerfGE 3, 225 (242 ff.). Vgl. BVerfGE 87, 209 (228); siehe auch P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 164 f. 5 H.-J. Papier, Eigentum, Wettbewerb, Sozialstaat. Vortrag bei der Jahresversammlung 2006 der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e. V. (ASU) am 28. April 2006 in Berlin, S. 18 (Abruf unter http: // www.asu.de / www / doc). 6 Die EU-Mitgliedstaaten sind kaum in der Lage, die Masse der Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. So waren bis Ende 2003 88 Umweltrichtlinien nicht fristgerecht in nationales Recht umgesetzt worden; in weiteren 118 Fällen war die Umsetzung fehlerhaft (Süddeutsche Zeitung vom 21. 8. 2004). In fast jeder Ausgabe des BGBl. findet sich eine zweiseitige Übersicht der jeweils jüngsten von der EU erlassenen Rechtsverordnungen, soweit sie Rechtswirkung für die BRD haben (Auswahl lesenswerter Beispiele bei Kurzka, Paragrafenrausch, S. 17). 7 A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, Berlin 1996, S. 30. 3 4

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

Aktionismus, Individualismus und naturwissenschaftlich-technologisches Denken, diese drei Erscheinungsformen eines sich seit dem Mittelalter verstärkenden Rationalismus sind auch verantwortlich für die wachsende Bedeutung des positiven Gesetzes.8 Das positive Gesetz ist die tragende Säule unserer Rechtskultur. Allerdings läuft dabei gesetzgeberischer Aktionismus, der gefährdet, was Gesetzgebung eigentlich schützen will, selbst Gefahr, sich durch legislatorische Überproduktion zu blockieren.9 Gesetzesoutput allein ist dabei noch kein „Leistungsnachweis“ für Abgeordnete oder motivierender Faktor für Überregulierung. Um den Zustand der modernen Lebenswelt und die funktionell korrespondierende gesetzliche Regulierungsweise zu beschreiben, ist der Begriff „Dynaxität“ hilfreich. Was bedeutet dieses Kunstwort? Dynaxität kennzeichnet die Wechselwirkung von gleichzeitig zunehmender Dynamik (dynamics) und steigender Komplexität (complexity) bei wachsendem Risiko von Fehlentscheidungen (miscarriage of the law). Hohe Geschwindigkeit und enorme Vielschichtigkeit prägen zahlreiche Bereiche unserer Lebenswelt. Dies bedeutet auch, dass der Gesetzgeber viele und oft sehr unterschiedliche Möglichkeiten hat, etwas zu tun – und diese Lage verändert sich ständig. Komplexe und dynamische Verhältnisse erfordern neue Rechtsnormen auch in immer kürzeren Abständen (dynaxity of legislation), während im Übrigen die Dynaxität eine Akzeleration der Überalterung des geltenden Rechts und damit eine signifikante Reduzierung der beabsichtigten Effizienz und Effektivität von Gesetzen bewirkt.10 Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um Rechtsmaterien handelt, die durch Polytelie gekennzeichnet sind, es also darum geht, verschiedene Ziele – etwa ökologische und ökonomische – auszugleichen.11 Die im vorliegenden Kontext relevanten zentralen Ursachen der Überregulierung in der Gesetzgebung sind in der nachstehenden Übersicht zusammengefasst (s. Tabelle 1). Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union – der Europäische Rat – haben im März 2000 auf einer Sondertagung den sog. Lissabon-Prozess eingeleitet. Sein Ziel ist es, die Europäische Union bis 2010 durch zahlreiche gezielte Maßnahmen zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist ein klares, effektives und funktionierendes Regelungsumfeld. Zur Vorbereitung entsprechender Empfehlungen wurde von den europäischen Ministern für die öffentliche Verwaltung eine Expertengruppe aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission unter Vorsitz von Dieudonné Mandelkern berufen. Der von der Mandelkern-Gruppe erstattete und im November Kurzka, Paragrafenrausch, S. 172 f. Vgl. Kurzka, Paragrafenrausch, S. 27. 10 Vgl. G. Leidig, Umweltrechtstheorie im Spannungsfeld von Zeitstruktur und Dynaxität. Gesetzescontrolling als Instrument zur nachhaltigen ökologischen Rechtsentwicklung, in: Seminarbericht 49, hrsg. von der Gesellschaft für Regionalforschung, Heidelberg 2007. 11 Leidig, ebd. 8 9

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2001 vorgelegte Bericht12 enthält ein Bündel von Empfehlungen für qualitativ bessere und einfachere Gesetze sowie für Maßnahmen zur nachhaltigen Rechtsbereinigung (better regulation), die sich an die Europäische Union wie an die Mitgliedstaaten richten. Tabelle 1 Dynaxität und zunehmende Legifizierungstendenz Hauptursachen gesetzlicher Überregulierung  Spannungsfelder von Dynamik und Komplexität Dynaxität – vormals Linearität  Naturwissenschaften  Technik / Risiken  Wirtschaft  Gesellschaft / Kultur  Wachsende Eigendynamik der Gesetzgebung durch positivistisch geprägtes Denken  Gesetzesoutput – ein Leistungsnachweis / Erfolgsfaktor für Abgeordnete?

Der Mandelkern-Bericht, auf den sich weitgehend der vorliegende Beitrag stützt, will die Gesetzeslandschaft durchsichtiger gestalten,13 um so auch Tendenzen zur Staats- und Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Weiteres Ziel ist es, Kosten zu vermeiden, die durch Fehler in der Gesetzgebung entstehen können. Im Folgenden werden wichtige Instrumente dargestellt, die dazu dienen, die gesetzten Ziele zu erreichen. Diese Werkzeuge kommen bisher systematisch und technisch nur unzureichend zum Einsatz.

III. Zentrale Grundsätze für die Gesetzgebung Der Mandelkern-Bericht schlägt einen mit Fristen versehenen Aktionsplan vor, dessen Umsetzung einen entscheidenden Beitrag zur notwendigen Verbesserung der Gesetzgebung leisten kann. Der Plan entwickelt einen umfassenden Gesamtansatz auf der Basis von sieben Kernprinzipien: Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit, Subsidiarität, Transparenz, Zurechenbarkeit, Zugangsmöglichkeiten, Einfach12 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Der Mandelkern-Bericht. Auf dem Weg zu besseren Gesetzen, Berlin 2002 (im Folgenden als Mandelkern-Bericht bezeichnet und zitiert). Die Publikation ist auch abrufbar unter www. staat-modern.de. 13 Dazu und zu weiteren Zielen des Berichts im Folgenden siehe Mandelkern-Bericht, S. 3.

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heit und – wie ich hier noch hinzufügen möchte – Effizienz. Es wird – im Rahmen bestimmter Themenfelder – jeweils eine Praxis empfohlen, die sowohl im Bereich der nationalen Regierungen wie auch in dem der Europäischen Kommission grundsätzlich anwendbar ist. Der Grundsatz der Notwendigkeit verlangt, dass die staatlichen Stellen vor der Verwirklichung neuer sachpolitischer Absichten eine Bewertung der Frage vornehmen, ob es dafür neuer Rechtsetzungsakte bedarf oder aber nicht.14 Jeder Rechtsetzungsakt muss zudem ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den mit ihm verbundenen Vorteilen und den entstehenden Zwängen erreichen (Verhältnismäßigkeit).15 Die verschiedenen Instrumente der Rechtsetzung (Rechtsetzung auf der Ebene des Primärrechts und des Sekundärrechts, Rahmenregelungen, Koregulierung usw.) gestatten dabei den öffentlichen Stellen, auf unterschiedliche Weise tätig zu werden, je nachdem, welche Ziele sie vor Augen haben.16 Im Rahmen der Europäischen Union und ihrer Verträge soll das Subsidiaritätsprinzip gewährleisten, dass alle Entscheidungen auf einer möglichst bürgernahen Ebene getroffen werden.17 Dabei muss jeweils gewährleistet sein, dass die auf europäischer Ebene getroffenen Maßnahmen – gemessen an den auf nationaler Ebene verfügbaren Optionen – gerechtfertigt sind. Um effektiver sonst unvorhergesehene Auswirkungen einer Maßnahme erkennen sowie die Berücksichtigung der Standpunkte aller direkt beteiligten Parteien in Betracht ziehen zu können, sollte – so der Mandelkern-Bericht weiter – die Einbeziehung und Konsultation aller betroffenen oder interessierten Parteien bereits vor der Entwurfsphase erfolgen (Transparenzprinzip). Auch sollten alle Betroffenen die Möglichkeit haben, die zuständigen öffentlichen Stellen über Schwierigkeiten bei der Anwendung der betreffenden Rechtsvorschriften (Zurechenbarkeit) zu informieren, damit ggf. Abhilfe geschaffen werden kann.18 Der vielschichtige Grundsatz der Zugänglichkeit, den der Bericht ebenfalls explizit anführt, kann besondere Kommunikationsanstrengungen vonseiten der betroffenen öffentlichen Stellen erfordern, beispielsweise mit Zielrichtung solcher Personen, die aufgrund ihrer Lage Schwierigkeiten bei der Geltendmachung ihrer Rechte haben. Beim Grundsatz der Einfachheit geht es darum, dass jede Vorschrift „einfach“ – was immer dies im Einzelfall bedeuten kann – zu verstehen und anzuwenden sein soll. Rechtsetzung sollte (nur) so detailliert wie nötig und zugleich so einfach wie möglich gehalten sein. Das Prinzip der Einfachheit erfordert – so der Mandelkern-Bericht ausdrücklich – aktive Anstrengungen zur Vermeidung übermäßiger 14 15 16 17 18

Mandelkern-Bericht, S. 18. Vgl. Mandelkern-Bericht, ebd. Mandelkern-Bericht, ebd. Mandelkern-Bericht, ebd. Dazu Mandelkern-Bericht, S. 19.

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Details bereits ab der allerersten Phase des Rechtsetzungsprozesses und auch bei der Überarbeitung bereits vorhandener Rechtstexte.19 Diese Grundsätze für die Gesetzgebung sind insbesondere um das Prinzip der Effizienz20 der Gesetze zu ergänzen, das der Mandelkern-Bericht zumindest nicht explizit hervorhebt. Hiernach kommen für die Gesetzgebung zunächst spezifische Grundsätze allgemeiner Art in Betracht, wie sie Tabelle 2 exemplarisch aufzeigt. Tabelle 2 Prinzipien zur Optimierung der Gesetzgebung Allgemeine Grundsätze für die Gesetzgebung (good practice)  Notwendigkeit  Verhältnismäßigkeit  Subsidiarität  Transparenz  Zurechenbarkeit  Zugänglichkeit  Einfachheit  Effizienz

IV. OECD Referenz-Checkliste für die Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der Rechtsetzung Im Folgenden werden die wesentlichen Punkte dargestellt, die von der OECD für die Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der Rechtsetzung in einer ReferenzCheckliste 1995 ermittelt und zusammengestellt worden sind.21 Dazu im Einzelnen:22 Das jeweils anstehende Problem sollte – so die OECD Referenz-Checkliste – unter klarer Angabe seiner Beschaffenheit und seines Umfangs und mit einer ErMandelkern-Bericht, ebd. Dazu etwa G. Leidig, Gesetzgebung und Effizienz. Zugleich ein Beitrag zur ökonomischökologischen Steuerungsfunktion von Rechtssystemen, in: I. Tammelo / E. Mock (Hrsg.), Rechtstheorie und Gesetzgebung. Festschrift für Robert Weimar, Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 231 – 257. 21 OECD Referenz-Checkliste für die Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der Rechtsetzung 1995, in: Mandelkern-Bericht – Anhang, S. 85 f. 22 Zur folgenden Darstellung der OECD-Checkliste siehe Mandelkern-Bericht – Anhang, ebd. 19 20

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klärung seines Ursprungs genau definiert werden. In diesem Zusammenhang sollten auch die mit der Lösung des Problems verbundenen Anreize für die betroffenen Stellen angegeben werden. Auf Regierungsebene sollte nur dann eingegriffen werden, wenn dies nachweislich gerechtfertigt sei. Dabei seien die Beschaffenheit des Problems, die voraussichtlichen Vorteile und Kosten des geplanten Eingriffs (auf der Grundlage einer realistischen Bewertung der Wirksamkeit staatlichen Handelns) und alternative Möglichkeiten zur Behebung des Problems anzugeben. Weiter geht es im Rahmen der Checkliste dann um die stets zu beachtende Frage, ob Rechtsetzung die beste Form staatlichen Handelns ist. Die rechtsetzenden Instanzen sollten daher möglichst in einer frühen Phase des Rechtsetzungsprozesses einen fundierten Vergleich einer Vielzahl von Instrumenten der Rechtsetzungspolitik und anderer Regulierungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung relevanter Aspekte wie Kosten, Vorteile, Verteilungswirkung und Verwaltungsaufwand vornehmen. Alle Rechtsetzungsakte müssen nach höherrangigem Recht zulässig sein und darüber hinaus einschlägigen Rechtsgrundsätzen wie Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die rechtsetzenden Instanzen sollten – den Empfehlungen der Checkliste zufolge – die am meisten geeignete staatliche Ebene für ihre Maßnahmen wählen oder – sofern mehrere Regierungsebenen betroffen seien – wirksame Systeme der Koordinierung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen schaffen. Ferner sollten die rechtsetzenden Instanzen eine Schätzung der voraussichtlichen Gesamtkosten und Vorteile eines jeden Rechtsetzungsvorschlags und seiner in Betracht kommenden Alternativen vornehmen. Die Kosten staatlicher Rechtsetzungsmaßnahmen sollten mit ihren Vorteilen gerechtfertigt werden können, bevor sie ergriffen werden. Soweit bei staatlichen Eingriffen Verteilungs- und Gerechtigkeitsaspekte berührt werden, wird empfohlen, die rechtsetzenden Instanzen sollten Transparenz hinsichtlich der Verteilung der Kosten und des Nutzens der Rechtsetzung auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen schaffen. Ähnlich wie der Mandelkern-Bericht empfiehlt auch die Checkliste der OECD, dass die Rechtsetzung klar, kohärent, verständlich und für die Betroffenen auch zugänglich sein sollte. In diese Sinne obliege es den rechtsetzenden Instanzen zu beurteilen, ob die geplanten Maßnahmen für die voraussichtlichen Anwender verständlich seien. Dementsprechend sei sicherzustellen, dass Text und Struktur der Vorschriften so klar wie möglich gestaltet würden. Wichtig erscheint nach der OECD-Checkliste auch, dass alle betroffenen Parteien Gelegenheit hatten, sich zu geplanten Maßnahmen zu äußern. Die Einhaltung der Bestimmungen schließlich sei dadurch zu gewährleisten, dass die rechtsetzenden Instanzen die Anreize und die Institutionen bewerten, durch die die Rechtsetzungsmaßnahmen ihre Wirkung entfalten sollen, und eine entsprechende Umsetzungsstrategie konzipieren, die davon den bestmöglichen Gebrauch macht.

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Tabelle 3 zeigt den OECD-Katalog in seiner Prüffunktion, die zentrale Fragestellungen für die legislative Entscheidungsfindung – hier in Auswahl – berücksichtigt. Tabelle 3 Wichtige Kriterien für legislative Entscheidungsfindung Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der Rechtsetzung  Ist das zu regelnde Problem richtig erfasst?  Ist ein Eingreifen auf Regierungsebene gerechtfertigt?  Ist Rechtsetzung für die geplante Regelung die beste Form staatlichen Handelns?  Besteht eine rechtliche Grundlage für die geplante Rechtsetzung?  Welche staatliche Ebene ist für das Rechtsetzungsvorhaben am besten geeignet?  Rechtfertigen die Vorteile der Rechtsetzung ihre Kosten?  Existiert Transparenz, wie sich die Wirkung der geplanten Regelung auf die Gesellschaft verteilt?

V. Optionen für die Umsetzung politischer Absichten Bei der Suche nach dem besten Weg zur Erreichung eines politischen Ziels gilt es, wie der Mandelkern-Bericht23 zutreffend hervorhebt, das gesamte Spektrum der Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. In aller Regel handelt es sich hier um die Frage: Ist traditionelle Rechtsetzung die beste Methode oder lassen sich die gewünschten Ergebnisse mit einer Alternative ebenso gut oder gar besser erzielen? Sofern die Rechtsetzung als der beste Weg erachtet wird, muss über die Form und Struktur dieses Instruments entschieden werden. In diesem Abschnitt geht es zunächst um Alternativen zur Rechtsetzung, die den politischen Entscheidungsträgern auf nationaler und europäischer Ebene zur Verfügung stehen. Erörtert werden anschließend Argumente für und gegen die Rechtsetzung sowie Fragen um die Folgenabschätzung und die Verantwortung der Anwender. Weiter geht es um Phänomene wie öffentliches Meinungsklima und Akzeptanz.24 Abschließend werden Fragen der Koregulierung, die Funktion von Sunsetting- und Überprüfungsklauseln, „experimentelle“ Gesetzgebung sowie die Obsoletheitsprüfung angesprochen. Rechtsetzung ist nicht zwangsläufig der beste Weg zur Lösung eines bestimmten Problems, und keinesfalls ist sie (regelmäßig) der einzige Weg zur Umsetzung Mandelkern-Bericht, S. 22. Eingehend hierzu W. Schreckenberger, Krise der Gesetzgebung, in: ders. (Hrsg.), Gesetzgebungslehre. Grundlagen – Zugänge – Anwendungen, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1986, S. 21 – 41. 23 24

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politischer Entscheidungen.25 In vielen Fällen können, sofern klar festgelegte Voraussetzungen erfüllt sind, Lösungen ins Auge gefasst werden, die verstärkt aus einer Kombination von Rechtsetzung einerseits und Hinzuziehung zwischengeschalteter Stellen andererseits bestehen.26 Daher geht es zunächst um die Frage des Einsatzes des Instruments der Rechtsetzung im Vergleich oder als Ergänzung zu anderen politischen Mitteln und Methoden. Rechtsvorschriften sind, sofern von demokratisch legitimierten Stellen erlassen, in ihrem Anspruch unbestritten Ausdruck und Verkörperung des Gemeininteresses. Ihre Autoritätsbasis ist ungleich überzeugender als die von wirtschaftlichen Akteuren und Gruppen ausgehende Selbstregulierung. Auch die Gleichbehandlung aller Betroffenen mittels einheitlicher Anwendung ein und derselben Maßstäbe ist durchweg nur durch staatliche Rechtsetzung gewährleistet.27 Ein Nachteil ist die häufig übermäßig lange Dauer von Rechtsetzungsverfahren, was in bestimmten Bereichen mit dem Tempo der technologischen Entwicklung unvereinbar sein kann. Dadurch wird nicht nur die Wirksamkeit der betreffenden Rechtsvorschrift beeinträchtigt, sondern – als indirekte Folge – auch die Glaubwürdigkeit des Rechtssystems selbst.28 Eine Rechtsnorm muss innerhalb angemessener Zeit angewendet werden können. Als mögliche Alternativen gegenüber der Gesetzgebung kommen entsprechend dem Mandelkern-Bericht folgende Instrumente / Reaktionsweisen in Betracht:29 – Untätigkeit, – Anreize, – Selbstregulierung, – Vereinbarungen vertraglicher Art, – Mechanismen zur Gewährleistung von Verantwortung, – Anerkennung auf Gegenseitigkeitsbasis, – Verbesserung der gegenwärtigen Rechtsetzung.

Die Folgenabschätzung kann in Fällen dieser Art bei der Verbesserung des ordnungspolitischen Regelwerks eine entscheidende Rolle spielen. Sie stellt prinzipiell ein wirksames Instrument für eine moderne, evidenzbasierte Politik dar und bietet einen nachvollziehbaren Rahmen für die Prüfung des gesamten Spektrums der politischen Handlungsmöglichkeiten.30 25 26 27 28 29 30

Richtig Mandelkern-Bericht, ebd. So Mandelkern-Bericht, S. 23. Ebenso Mandelkern-Bericht, ebd. Ähnlich Mandelkern-Bericht, S. 24. Einzelheiten siehe Mandelkern-Bericht, S. 25 f. Vgl. Mandelkern-Bericht, S. 28.

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Was die Verantwortung der Anwender angeht, so ist Folgendes zu bedenken: Sie alle – Gerichte, Verwaltung, Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege – tragen auf ihre spezifische Weise zur „vollständigen“ Rechtsetzung bei, vermehren aber im Grunde die Gesamtmenge des rechtlichen Potenzials – zuweilen gesetzgebergleich – ständig. Und das Vertrauen der Gesetze auf die praktische Vernunft seiner Anwender schafft keine klaren Grenzen für die Gesetzesanwendung selbst. Für das öffentliche Meinungsklima und letztlich auch im Rahmen der Akzeptanz von Gesetzen sind die Auswirkungen der modernen Medienlandschaft von besonderer Bedeutung. Es wird nicht nur eine Scheinwelt, sondern auch eine Basis für einen Meinungspluralismus geschaffen.31 Partizipation sei nur möglich durch eine Vervielfältigung des Einzelwillens, die dieser durch die Medien erfahre. Koregulierung als ein weiteres Umsetzungsinstrument politischer Absichten bedeutet nicht – wie man auf den ersten Blick annehmen könnte – geteilte Verantwortung für die Rechtsnormen und ihre Umsetzung. Der Primat der öffentlichen Hand bleibt vielmehr unangetastet.32 Ggf. kann die Koregulierung in der Form erfolgen, dass eine zwischen privaten Partnern aufgestellte Regelung (ohne Zwangscharakter) von staatlichen Stellen in eine imperative Norm umgewandelt wird. So kann z. B. eine öffentliche Stelle die Nichteinhaltung von Verpflichtungen eines Unternehmens ahnden, ohne dass diese Verpflichtungen selbst normativen Charakter hätten.33 Koregulierung bedeutet auch nicht, dass die staatliche Regelungsstelle nicht mehr für die effektive Anwendung der Norm zuständig wäre. Im Gegenteil – es müssen jeweils einschlägige Überwachungsinstrumentarien vorgesehen und „erfunden“ werden.34 Was schließlich den Einsatz von Wegfall- und Überprüfungsklauseln und ihre Verwendung auf bestimmten Gebieten angeht, so ist ihr Einsatz – etwa im Bereich der Grundrechte – generell nicht angemessen. Immerhin kann man eine Reihe von Feldern identifizieren, wo es eine Vermutung geben kann, dass solche Klauseln – vorbehaltlich einer Widerlegung im Einzelfall – angebracht sein könnten.35 Zur „experimentellen“ Gesetzgebung sei bemerkt, dass sie eine Form der Gesetzgebung darstellt, bei der wegen der Unsicherheit über die Wirkungen eines erlassenen Gesetzes durch befristete Inkraftsetzung und durch methodisch abgesichertes Controlling sowie durch Evaluationen geeignetere Grundlagen zum Erlassen dieses Gesetzes ermittelt werden. Die „experimentelle“ Gesetzgebung steht 31 W. Schreckenberger, Diskussionsbemerkung zu dem Referat von W. Zeh, Kodifikation oder Kommunikation – Rechtsetzung in der Mediendemokratie, in: D. Merten / W. Schreckenberger (Hrsg.), Kodifikation gestern und heute, Berlin 1994, S. 146. 32 So auch Mandelkern-Bericht, S. 26. 33 Mandelkern-Bericht, ebd. 34 Richtig Mandelkern-Bericht, S. 27. 35 Ebenso Mandelkern-Bericht, S. 28.

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in engem Zusammenhang mit der prospektiven und der begleitenden Gesetzesevaluation und ist in eng begrenzten Bereichen durchaus geeignet, eine unnötige Reglementierung einzudämmen. Die damit verbundenen Fragen können hier nicht vertieft werden.36 Was schließlich das Obsoletwerden von Gesetzen angeht, so hat sich eine spezifische Obsoletheitsprüfung bislang nicht etabliert. Eine solche wäre sicherlich geeignet, die Gesetzesbereinigung zu fördern. Als eine spezifische Art der Obsoletheit kann der Bedeutungswandel von Rechtsnormen angesehen werden. Während der Mandelkern-Bericht im hier interessierenden Kontext wichtige alternative und flankierende Instrumente im Rahmen der Rechtsetzung klassifiziert, enthält Tabelle 4 insbesondere durch Einbeziehung eines detaillierten Spektrums der Verantwortungsträger der Normanwendung sowie durch Berücksichtigung der öffentlichen Meinung und Normenakzeptanz einzelne gegenüber dem Mandelkern-Bericht teilweise notwendige ergänzende Aspekte. Tabelle 4 Alternative und unterstützende Instrumente im Rahmen der Rechtsetzung (modifiziert nach Mandelkern-Bericht 2001) Optionen für die Umsetzung politischer Absichten  Alternativen zur Rechtsetzung?  Argumente für die Rechtsetzung  Argumente gegen die Rechtsetzung  Alternativen und Folgenabschätzung  Verantwortung der Anwender (law enforcement)  Rechtsauslegung / Rechtsschöpfung  Judge-made law  Agency-made law  Lawyer-made law  Öffentliches Meinungsklima und Akzeptanz  Koregulierung  Sunsetting- und Überprüfungsklauseln  „Experimentelle“ Gesetzgebung  Obsoletheitsprüfung

36 Weiterführend H. D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, Berlin 1989.

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VI. Flankierende Instrumente 1. Folgenabschätzung

Bei der Folgenabschätzung handelt es sich um einen fortlaufenden, sich ständig weiterentwickelnden Informationsprozess zur Unterstützung politischer Entscheidungen – nicht bloß um die einmalige Abfassung eines „Routinepapiers“.37 Eine Folgenabschätzung soll daher auf konsequenten Leitlinien (guidelines) beruhen, die querschnitthaft für alle Bereiche der Verwaltung gelten. Sie soll sich nach Ansicht der Mandelkern-Gruppe am Muster der OECD-Checkliste orientieren. Die vorgenommene Bewertung soll an geeigneten Punkten im Verlauf des politischen Ausgestaltungsprozesses jeweils einer Überprüfung unterzogen werden, um neuen Erkenntnissen und den Ergebnissen der erfolgten Konsultationen (dazu unten 2.) Rechnung zu tragen.38 2. Konsultationen

Konsultationen sind ein wichtiges Instrument, das auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Phasen des Erlasses von Regelungen zum Zuge kommen kann. – – – –

Zentrale Ziele von Konsultationen sind:39 Verbesserung der vorgeschlagenen Texte, Untersuchung der Sachdienlichkeit vorgesehener neuer Regelungen (aus technischer Sicht), Überprüfung der wahrscheinlichen Funktionsfähigkeit in der Praxis, Prüfung, ob die neue Vorschrift mit den geltenden Vorschriften in Einklang steht, und ob das Endergebnis als effektiv (im weitesten Sinne) zu bezeichnen ist. 3. Vereinfachung

Zu den größten Herausforderungen gehört es, eine Modernisierung und Vereinfachung der Masse an Regeln in den jeweiligen Rechtssystemen europaweit herbeizuführen. Angesichts der raschen Veränderung – durch Globalisierung, technologischen Wandel und kulturell bedingten Pluralismus – sind die bestehenden Rechtssysteme zunehmend veraltet und schwerfällig geworden.40 Nach dem Mandelkern-Bericht41 soll das entsprechende Vereinfachungsprogramm insbesondere folgende Merkmale aufweisen: 37 Mandelkern-Bericht, S. 36; vgl. auch bereits S. 28; grundlegend C. Böhret / G. Konzendorf, Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung, Meckenheim 2000. 38 Vgl. Mandelkern-Bericht, ebd.; zu Einzelheiten der Folgenabschätzung siehe auch Mandelkern-Bericht, S. 31 – 33. 39 Dazu Mandelkern-Bericht, S. 37. 40 Vgl. Mandelkern-Bericht, S. 42, siehe auch S. 43 – 49.

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– Es soll sich um ein gleitendes und langfristig angelegtes Programm handeln, das sich aus jährlichen Schritten zusammensetzt, die im jeweils nachfolgenden Jahr überprüft und neu bewertet werden. – Es sollten für eine Überprüfung Bereiche der Rechtsetzung nach einer Prioritätenliste festgelegt werden. – Das Programm sollte klare, vorrangige Ziele und die anzuwendenden Methoden vorgeben.

Tabelle 5 fasst die im vorstehenden Kontext relevanten Konzepte und Rezepturen (oben 1. – 3.) sowie ihre Hauptproblempunkte – auch soweit nicht ausdrücklich zuvor angesprochen – auf einen Blick zusammen: Tabelle 5 Konzepte und Strategien zur Verbesserung der Rechtsetzung (Auswahl nach Mandelkern-Bericht 2001) Flankierende Instrumente I.

Folgenabschätzung  Inhalt einer Folgenabschätzung  Bewertung der Folgen  Das Folgenabschätzungs-Verfahren  Praktische Schwierigkeiten  Kulturelle Widerstände  Politischer Druck

II. Konsultation: Beteiligungen – Anhörungen  Konsultationsverfahren  Verwendung der Konsultationsunterlagen durch den Gesetzgeber  Probleme auf der konsultierenden Seite  Probleme der konsultierten Parteien III. Vereinfachung – aber wie?  Das Konzept der Vereinfachung  „Vereinfachung heißt nicht, die Komplexität der Realität zu ignorieren“  „Vereinfachung heißt nicht Deregulierung“  Aufstellen eines Vereinfachungsprogramms  Eine Vereinfachungskultur  Kohärenz mit anderen Instrumenten  Messbare Ergebnisse  Überwachen der Vereinfachung  Einsetzen eines spartenübergreifenden Rechtsetzungs-Managements  Informationsbeschaffung

41

Mandelkern-Bericht S. 50.

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VII. Zugänglichkeit der Rechtsvorschriften Auch hier stehen verschiedene zweckentsprechende Instrumente zur Verfügung. Zunächst sei die Konsolidierung kurz angesprochen, die im allgemeinen Sinne als „rechtswirksame Konsolidierung“ bezeichnet wird. Unter diesem Begriff ist die Erstellung eines konsolidierenden Textes mit Rechtswirkung im Wege der Kodifizierung oder Neufassung zu verstehen.42 Die im Mandelkern-Bericht angesprochene Ergänzung zur Kodifizierung auf der Grundlage eines Aktualisierungsmechanismus im „Loseblatt-Verfahren“ zeigt deutlich den (oft übertriebenen) Umfang der Rechtsvorschriften in einem bestimmten Kapitel und somit die Notwendigkeit zur Reduzierung oder Kodifizierung.43 Wegen der weiteren Instrumente, die der Erleichterung der Zugänglichkeit dienen, sei hier aus Raumgründen auf die Auflistung in Tabelle 6 verwiesen, die die entsprechenden Empfehlungen der Mandelkern-Gruppe auf den Punkt bringt. Mit Blick auf die Frage der Zugänglichkeit der Rechtsvorschriften lassen sich dementsprechend stichwortartig folgende Vorschläge formulieren (s. Tabelle 6).44 Tabelle 6 Empfehlungen für besseren Zugang zu Rechtsvorschriften Zugänglichkeit der Rechtsvorschriften  Konsolidierung durch „Loseblatt-Verfahren“  Bewährte Rechtscodes erhalten  Langwierigkeit des Prozesses vermeiden  Unklare Texte vermeiden  Umfang der Rechtsnormen reduzieren  Verständlichkeit der Rechtsnormen verbessern  Verständlichkeit der Rechtssprache verbessern  Verständnis des rechtlichen Kontexts verbessern

42 43 44

Mandelkern-Bericht, S. 51. Vgl. Mandelkern-Bericht, S. 53. Vgl. Mandelkern-Bericht, S. 51 –58.

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VIII. Schlussbetrachtung Gesetzgebung und Gesetzgebungswissenschaft sind noch zu einseitig disziplinär geprägt. Sie sind eine Domäne der Rechtswissenschaft und der Politik. Das hat teilweise negative Qualitätswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung des gesetzten Rechts. Es fließen bei weitem nicht alle einschlägigen und notwendigen Kenntnisse ein. Lediglich Politik-, Sozial- und Verwaltungswissenschaften zeigen wachsende Aufmerksamkeit nicht nur für die Erzeugung, sondern auch für den Vollzug, die Akzeptanz und die Wirkung von Rechtsnormen.45 Trotz dieses ermutigenden Ansatzes gibt es bisher noch keine zielführenden Rezepte für eine interdisziplinär umfassend gestützte Gesetzgebung.46 Wohl gibt es Tagungen, an denen Vertreterinnen und Vertreter einzelner Disziplinen auftreten und ihre disziplinäre Sicht präsentieren, aber es fehlt weitgehend an der notwendigen Integrationsarbeit.47 Ein weiterführender, interdisziplinär inspirierter Ansatz, wie ihn Paul Richli vorgelegt hat, dient die Ermittlung und Darstellung von Forschungsergebnissen, Theorien und Erkenntnissen einschlägiger Disziplinen zu einer Reihe von grundlegenden Kriterien für inhaltlich gute Gesetzgebung. Es geht vor allem um Fragen der Gerechtigkeit, der Subsidiarität und der Optimalität der Gesetzgebung. Zu Worte kommen namentlich Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtspsychologie, Rechtsanthropologie, Rechtssoziologie, Rechtsethologie, Rechtsbiologie und nicht zuletzt Rechtsökonomie.48 Eine auf dieser Grundlage konzeptionell erweiterte Gesetzgebungswissenschaft ist imstande, mindestens teilweise für jede Rechtsetzungsaufgabe ihren Beitrag zu leisten. Je nach Regelungsmaterie sind weitere Disziplinen heranzuziehen. Damit dies in konsequenter und konsistenter Weise geschehen kann, ist der Gesetzgeber gehalten, entsprechende institutionelle Vorkehrungen zu treffen. Es geht darum, eine Art „Disziplinenfilter“ (Richli) zu schaffen, der in einer möglichst frühen Phase die relevanten Disziplinen ins Bewusstsein der vorbereitenden Instanzen rückt.49 Schreckenberger, in: ders. (Hrsg,), Gesetzgebungslehre, S. 5. P. Richli, Interdisziplinäre Daumenregeln für eine faire Rechtsetzung. Ein Beitrag zur Rechtsetzungslehre im liberalen, sozialen und ökologisch orientierten Rechtsstaat, Basel – Genf – München 2000, S. 441. 47 Vgl. Richli, Daumenregeln, ebd. 48 Richli, Daumenregeln, ebd. Einbezogen werden sollte m. E. auch die neuerdings aufkommende Neurojurisprudenz. 49 In Frage kommen namentlich – so Richli für den schweizerischen Rechtskreis – die Erweiterung der bestehenden Gesetzgebungsdienste um Fachkundige aus den einschlägigen Disziplinen und die Einrichtung von Disziplinräten aus Expertinnen und Experten. So oder anders sei darauf zu achten, dass die Gremien, die Entwürfe für rechtsetzende Erlasse erarbeiteten, Sachkundige aus den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen umfassten; Richli, Daumenregeln, S. 442. 45 46

Überregulierung in der Gesetzgebung

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Qualitativ hochstehendes Recht kann heute nur noch im Rahmen interdisziplinärer Bemühungen erzeugt werden. Dies macht legistische Richtlinien für eine formal und methodisch korrekte Gesetzgebung selbstverständlich nicht entbehrlich. Solcher bedarf es weiterhin. Sie reichen aber nicht (mehr) aus. Das angestrebte Ziel ist die Verbesserung der inhaltlichen Qualität. Nur integrationsorientierte Interdisziplinarität vermag zu gewährleisten, dass das relevante Wissen für die Gesetzgebung genutzt und damit die bestmögliche Lösung generiert wird. Die Verbesserung der inhaltlichen Qualität der Gesetzgebung kann zur Akzeptanz der erlassenen Normen einen wesentlichen Beitrag leisten; die empirisch fundierte Literatur stützt diese Hypothese,50 Stützt sich in der heutigen Zeit besonders das Recht weniger als früher auf andere Normensysteme, wie namentlich religiöse, wird es mindestens teilweise als unverbundener Normenbestand wahrgenommen.51 Es muss nicht nur bestimmte Gerechtigkeitserwartungen erfüllen, sondern auch berücksichtigen, dass reziproke Verhaltensweisen weit verbreitet sind.52 Diesem Aspekt tragen mit Grund neuere vertragstheoretische Begründungen des Staates und staatlicher Aktivitäten Rechnung.53 Insgesamt stellt sich hiernach die Gesetzgebung – und damit auch ihre Qualität und Quantität – als ein übergreifender „Prozess von Öffentlichkeit“ im Sinne einer „Gesamtveranstaltung der Gesellschaft“ (Schreckenberger) dar.54 Wenn es dabei gerade die Rechtsvereinfachung als eine ständige Aufgabe des laufenden Gesetzgebungsprozesses ist, die über weite Strecken verfehlt wird, so liegt dies nicht zuletzt und weitgehend an einer „überdifferenzierten Rechtsdogmatik und Rechtssprache“, die die notwendige Verbindung zur allgemeinen Öffentlichkeit und zum Rechtsadressaten erschweren.55

50 J. W. Pichler / K. J. Giese, Rechtsakzeptanz. Eine empirische Untersuchung zur Rechtskultur aus dem Blickwinkel der Idee, Werte und Gesinnungen. Dargestellt am Beispiel einer Österreichischen Demoskopie, Wien – Köln – Weimar 1993, S. 259 ff. u. 411 ff. 51 Vgl. Pichler / Giese, Rechtsakzeptanz, S. 260 ff. 52 Dazu M. Gruter, Rechtsverhalten. Biologische Grundlagen mit Beispielen aus dem Familien- und Umweltrecht, Köln 1993, S. 260 ff. 53 O. Höffe, Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt am Main 1987, S. 382 ff.; vgl. auch J. Rawls, A theory of justice, Cambridge (Mass.) 1971, S. 14 u. 102 f. 54 W. Schreckenberger, Gesetzgebung als Prozeß von Öffentlichkeit, in: Staat und Verwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrsg. von K. Lüder, Berlin 1997, S. 181 – 207 (205). 55 Schreckenberger, Gesetzgebung, S. 205, der mit Grund hier eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Juristen und Linguisten fordert, um das Spannungsverhältnis von Gemeinsprache und Fachsprache zu mindern. Vgl. auch W. Schreckenberger / D. Merten (Hrsg.), Grundfragen der Gesetzgebungslehre. Aktualisierte Vorträge eines Seminars zur Gesetzgebungslehre (1996) an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1996.

Rechtsberatungslehre – ein neuer Zweig der Wissenschaft* Die weitaus meisten Rechtskonflikte finden bekanntlich keine gerichtliche, sondern eine vor- bzw. außergerichtliche Erledigung. Der sein Recht suchende Bürger ruft nur in der äußersten Zuspitzung seines „Falles“ den Richter an; ungleich häufiger sucht er einen juristischen Berater, meist einen Anwalt oder Notar, an den er sich vertrauensvoll wenden kann, der sich seines Problems anzunehmen vermag und der ihm durch den Vorschlag eines zweckentsprechenden Vorgehens eine Lösung des Problems ermöglicht. Ausbildungsbedingt hat der Jurist lediglich gelernt, Fälle nach der Art vorwiegend richterlicher Überlegung zu lösen. nicht jedoch, dem Rechtsuchenden eine Lösung seines Problems im Weg der Beratung zu erschließen. Darum seien – resümiert Peter Noll1 „gute Anwälte noch seltener als gute Richter“. Brauchen wir jetzt – nach der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre – auch eine Rechtsberatungslehre?

I. Notwendigkeit einer Rechtsberatungslehre Einem juristischen Denken, das im Wesentlichen richterliches Denken ist, entziehen sich weite Dimensionen des juristischen Beratungsprozesses und der auf ihm basierenden Formen der Rechtsentstehung und Rechtsverwirklichung. Einer solchen Reduktion muss nämlich nicht nur entgehen, dass eine Fülle von Rechtsgestaltungen gerade auch ohne richterliche Intervention effektiv ist und bei weitem nicht alles, was Gerichte in ihren Entscheidungen fixieren, im Rechtsleben auch wirksam wird. Was vor allem nicht in den Blick kommt, ist der Prozess der juristischen Beratung selbst, die die Ratsuchenden bei der Gestaltung ihrer Verhältnisse erfahren. Und so gehört es bereits zu den „Gemeinplätzen der heutigen Kritik an der Jurisprudenz“, dass diese die Sicht des Anwalts gegenüber jener des Richters vernachlässige und es noch zu keinem festen System der privaten Planung und Gestaltung von Rechtsverhältnissen gebracht habe.2 Die Kautelarjurisprudenz sei zu weitgehend ihren „Schimmeln“ und Formularbüchern überlassen * Erstveröffentlichung in: S. Panou / G. Bozonis / D. Georgas / P. Trappe (Hrsg.), Theory and Systems of Legal Philosophy. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Supplementum III (1988), S. 197 – 204. Stuttgart: Steiner. 1 Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 13. 2 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien – New York 1982, S. 609.

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worden. Die beratende juristische Tätigkeit und ihre metajuristischen Komponenten – im Sinne einer Rechtsberatungslehre – werden dagegen bisher systematisch noch kaum diskutiert. Lediglich die Rolle des Anwalts selbst und Probleme des Anwalt-Klienten-Verhältnisses sind – überwiegend von soziologischer Seite – ansatzweise untersucht worden.3

II. Charakteristika der Beratung „Beratung ist Hilfe des Kundigen dem Unkundigen gegenüber, damit dieser mit sachlicher Einsicht sein Leben besser einrichten lernt“.4 Sie ist eine Hilfe sozialer Art, die versucht, dem Ratsuchenden die Einsicht in die Voraussetzungen der für die Problemlösung erforderlichen Entscheidung in Gestalt einer Empfehlung oder eines Vorschlags zu vermitteln, ohne ihm dabei die Entscheidung abzunehmen. Beratung ist stets auf eine durch den Ratsuchenden zu treffende Entscheidung gerichtet. In diesem Sinne ist Beratung als ein methodisch strukturierter Prozess der Hilfeleistung unter Beachtung der „Entscheidungsfreiheit“ des Ratsuchenden zu begreifen.

1. Zum Wesen des Beratungsverhältnisses

Das Beratungsverhältnis ist ein Vertrauensverhältnis; der Ratsuchende setzt auf die Sachkenntnis, Erfahrung und Integrität des Beraters. Während des gesamten Beratungsprozesses werden Aufgeschlossenheit und Beteiligung des Ratsuchenden gefordert, was die Fähigkeit zu Stellungnahme und Beurteilung beim Ratsuchenden voraussetzt. Die Beratungssituation ist damit als eine komplexe interaktionistische Beziehung zwischen Berater und Ratsuchendem zu sehen. In der juristischen Beratungspraxis besteht die ständige Notwendigkeit, Jurisprudenz lebenspraktisch einzusetzen. Jeder Anwalt muss sich mit seinen Klienten, meist Laien, auseinandersetzen. Diese Interaktionsbeziehung ist besonders dadurch erschwert, dass Laien und Juristen für die gleiche Konfliktsituation häufig unterschiedliche Namen haben und andererseits den formal identischen Worten in ihrem unterschiedlichen Sozialdialekt eine je verschiedene Bedeutung zukommen kann.

3 Vgl. dazu die Nachweise bei J. Harenburg / G. Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis. Eine Untersuchung von Rechtsanwalt / Klienten-Gesprächen, in: G. Böhme / M. v. Engelhardt (Hrsg.), Entfremdete Wissenschaft, Frankfurt am Main 1979, S. 56 – 84. 4 F. Pöggeler, Beratung in einer ratbedürftigen Massengesellschaft, in: Beruf und Leben, 9. Jg., Heft 1 (1964), S. 5.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung 2. Ziele der Rechtsberatung

Rechtsberatung ist auf Unterrichtung des Ratsuchenden über die Rechtslage des Einzelfalls und die zu ergreifenden Maßnahmen gerichtet.5 Sie kann dem Einzelnen in seiner Rechtsnot zur Lebenshilfe (Th. Rasehorn) werden und ist damit zugleich „Sozialarbeit“, beansprucht aber als solche stets eine professionelle Exklusivität, die sie von anderen Formen der Beratung abhebt. Aber die wirklichen Schattierungen sind mannigfaltig. So wird eine Rechtsberatungslehre auch die Versuche analysieren können, politische Gruppenprozesse mit juristischen Strategien zu kombinieren: Beratungsintentionen – verstanden als politische Veränderung und kollektive Interessendurchsetzung. In das Aufgabengebiet einer Rechtsberatungslehre fällt es nicht weniger zu untersuchen, ob die – fast schon bis zum Überdruss diskutierte – „Rechtsberatung für Minderbemittelte“ durch staatliche Institutionen in einer Weise geleistet werden kann, dass deren Funktionen denen des Anwalts entsprechen. Rechtsberatungslehre darf ferner die Tätigkeitsfelder der Unternehmensjustiziare und beratenden Wirtschaftsjuristen nicht vernachlässigen, die in volks- und betriebswirtschaftlich weittragende Entscheidungen beratend eingeschaltet sind. Da die Entscheidung dem Klienten nicht abgenommen werden kann und er auch selbst weniger bereit ist, sich traditionellen Führungsvorstellungen unterzuordnen, geht es der Rechtsprechungslehre auch um das Problem, wie die Einsicht in die Voraussetzungen der zu treffenden Entscheidung vermittelt und von der sozialen Schichtenzugehörigkeit abhängige Wahrnehmungsbarrieren abgebaut werden können. Anders als in der Arbeit des Richters und Verwaltungsbeamten tritt in der beratenden Tätigkeit des Anwalts und Notars der vorbeugende Aspekt der vermittelten Information hervor, bei der die zu lösenden Rechtsfragen nicht in erster Linie oder gar nur als Streitprobleme gesehen werden, die „gerichtsreif“ sind, bei denen es dann allenfalls noch um die Schlüssigkeit des Parteivorbringens und um die Beweismittel geht. Dies ist die Perspektive des justizorientierten Modells herkömmlichen juristischen Denkens. die für eine Fundierung der Informations- und Vermittlungsprozesse schon und gerade bei der Begründung von Rechtsverhältnissen nicht geeignet ist. Den Nutzen der vorbeugenden Beratung brachte schon Gustav Radbruch auf die prägnante Formel: „Rechtshygiene ist besser als Rechtschirurgie.“6 In diesem Sinne gehören zur vor- und außergerichtlichen Rechtsberatung nicht nur die einem gerichtlichen Verfahren voraus liegenden Schritte, bei denen die Partei der Beratung bedarf, sondern auch die juristischen „Präventivmaßnahmen“, die dem Klienten empfohlen werden. Dabei können Interessenkonflikte auf 5 Das Rechtsgespräch des Richters mit den Parteien bzw. ihren Anwälten stellt keine „Rechtsberatung“ im hier gemeinten Sinne dar. Der Richter steht letztlich unter Entscheidungszwang, dem sich die Beratungselemente unterordnen. 6 Zitat nach Gustav-Radbruch-Forum für Rechtspolitik am 26. und 27. 9. 1981, Dokumentation der SPD, S. 3.

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einer den „Kampf ums Recht“ gewissermaßen übergreifenden Ebene gesteuert und versorgt werden. In einer weiteren Dimension kann Rechtsberatungslehre „Theorie der Nachfrage nach Rechtshilfe“7 sein, die vor allem Kosten-Nutzen-Analysen bei Inanspruchnahme von Rechtsberatung erlaubt, was schließlich einen Zusammenhang auch mit der Investitionstheorie herstellt (Stichwort: „Beratung ist Investition“). Eine besondere Version der Rechtsberatungslehre erschließt sich ferner dann, wenn sie sich als „Ressourcentheorie“ versteht, die von einer Korrelation zwischen Einkommen und Rechtsberatung ausgeht.8 Rechtsberatung erscheint in dieser Perspektive als ein Dienstleistungsangebot, Rechte besser wahrzunehmen und durchsetzen zu können. Zum Bereich einer Rechtsberatungslehre gehören nicht zuletzt die Verfahrenstheorien, die Rechtsberatung als Arbeit sozialer Institutionen verstehen, deren Basis immer eine Vielzahl einander überlagernder Interaktionsprozesse darstellt. Auch hier gilt wie sonst: Ist das Problem als „juristisches“ erkannt, wird das zunächst (nur) soziale Problem verrechtlicht mit der Folge, dass der Konflikt nun einer professionellen Behandlung zugänglich wird.

III. Die Rolle des Anwalts im Beratungsprozess Anwälte sind neben den Notaren die berufenen Rechtsberater. Der Anwalt ist „Diener am Recht“.9 Seine Tätigkeit wird beherrscht von der Aufgabe, dem Klienten zu helfen, seine Interessen wahrzunehmen und – begrenzt durch die Stellung des Anwalts im Rechtsleben – durch seine Verpflichtung, nur dem Recht zu dienen und es zur Verwirklichung zu bringen.10 Im deutschen Rechtskreis ist der Anwalt – darin unterscheidet er sich vor allem von Verwaltungsjuristen – ein unabhängiges Organ der Rechtspflege; seine Tätigkeit ist jedoch – und darin unterscheidet er sich vom Richter – auf die Wahrnehmung der Individualinteressen seines Mandanten ausgerichtet.11 Der Mandant erwartet vom Anwalt eine möglichst erschöpfende Beratung und zugleich Belehrung über die sachliche Durchführung des Rates, über Gefahren, die das beabsichtigte Geschäft in sich birgt, und über die zur Abwendung von Nachteilen zu treffenden möglichen Maßnahmen. Eine umfassende Beratung setzt auch voraus, dass der Anwalt zunächst durch Befragung seines Mandanten die Punkte klärt, auf die es für die rechtliche Beurteilung ankommen kann, deren Zweifel bedenkt und mit dem Mandanten erörtert. Er muss sich durch entsprechende Fragen maximale relevante Information verschaffen. Bei alle dem nimmt der An7 Vgl. dazu H. Scherl, Verbilligte außergerichtliche Rechtshilfe für sozial Schwache. Problem einer neuen Sozialleistung, Frankfurt am Main 1977. 8 Vgl. die Nachweise bei E. Blankenburg / W. Kaupen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 5, S. 111. 9 W. Kalsbach, Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, § 1, Rdnr. 1. 10 Kalsbach, ebd. 11 G. Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, Köln 1976, S. 79.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

walt – nicht anders als der Notar – eine öffentliche Aufgabe wahr, bei der sich eine staatliche Einflussnahme auf bloße Überwachungsmaßnahmen zu beschränken hat.

IV. Perspektive und Funktion der Rechtsberatungslehre Die fallweise Rechtsgewinnung aus der geltenden Rechtsordnung ist eine genuine Aufgabe sicherlich eines jeden Juristen, der als solcher „juristisch“ tätig ist. Was er aber als Berater „Spezifisches“ zur Ausformung des Rechts beiträgt, wie er dies macht und welchen metajuristischen, insbesondere metadogmatischen Einflussgrößen und ihren möglichen Konsequenzen der das Recht betreffende und es hervorbringende Prozess der Beratung unterliegt, ist bereits die eigentliche Frage und das zentrale Problem einer zu konzipierenden Rechtsberatungslehre. Der Prozess der Beratung wird nicht nur bestimmt durch die Fallproblematik mit ihren rechtlichen Gegebenheiten und durch die Kompetenz des Rechtsberaters. Eine Rechtsberatungslehre kann hier nicht die Art und Weise ausklammern, in der der Berater und sein Klient miteinander interagieren.12 Sie hat über die Analyse von Strukturmerkmalen des Beratungsprozesses hinaus entscheidendes Gewicht auch auf die Einbeziehung der Situations- und Kontextvariablen zu legen, die das Zustandekommen vor- und außergerichtlicher (anwaltlicher, notarieller usw.) Rechtsfindung und im forensischen Streitfall das Prozessresultat betreffen. Das beratende Handeln manifestiert sich in der Interaktionssituation mit dem Klienten gerade in Abhängigkeit von professionellen Standards, ökonomischen Zwängen, allgemeinen und beruflichen Überzeugungen, Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten des Beraters.13 Andererseits haben beim Klienten im Vordergrund zu stehen dessen Pläne und die Fähigkeit, diese Pläne in der ungleichgewichtigen Situation des Beratungsgesprächs möglichst auch durchzusetzen. Wenn und soweit Beratung hiernach zwar „Sache des Juristen“ ist, zu der er im Umgang mit dem Recht berufen ist, sich diese Tätigkeit aber nicht in der bloßen Orientierung am Modell der richterlichen Entscheidungsfindung oder dogmatischen Rechtsgewinnung erschöpft, juristische Beratung also eine spezifische, nicht mit der sonstigen professionalisierten Arbeit am Recht identische Tätigkeit mit eigenen Abhängigkeiten ist, dann erscheint die hier skizzierte Perspektive einer Rechtsberatungslehre wissenschaftlich geboten und praktisch sinnvoll. Wenn Rechtsberatungslehre in diesem Sinne über Rechtsdogmatik hinauskommen und sich andererseits nicht auf Kautelarjurisprudenz beschränken will, hat sie auch das metajuristische Umfeld der Rechtsberatung zu erforschen, um auf diese Weise den Beratungsprozess in seiner das „juristisch“ Belangvolle dieses Prozesses mitprägenden sozialen, kulturellen, ökonomischen, linguistischen und psychischen Verfasstheit möglichst umfassend zu erschließen. 12 C. Schumann, Anwälte und ihre Klienten im Prozeß der juristischen Transformation privater Konflikte, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie Bd. 4 (1982), S. 272. 13 Schumann, ebd.

Rechtsberatungslehre – ein neuer Zweig der Wissenschaft

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Damit hat eine künftige Rechtsberatungslehre auch die „Methode“ des beratenden Juristen zu erforschen, also danach zu fragen, ob und ggf. wann und inwieweit seine Überlegungen auch schlicht zu „hypothetischer Rechtsanwendung auf provisorisch konzipierte Lösungsvarianten“ (E. Höhn) gerinnen können, die sich – möglicherweise in bestimmten Fällen – nicht oder nicht wesentlich von der „Rechtsanwendung“ genannten allgemeinen Arbeitsweise des Juristen unterscheiden. So viel scheint in dieser Sicht festzustehen: Je größer die wirkliche oder mögliche „Gerichtsnähe“ ist, in die ein Rechtsfall rückt, desto mehr scheint der Anwalt die Fallbehandlung an einer Einschätzung des Grades der allgemeinen Akzeptanz der zugrunde zu legenden Rechtsauffassung, d. h. am „Zertizitiätswert“ (K. Adomeit) der dogmatisch relevanten Aussage, auszurichten. Wer etwa als Unternehmer seinen Hausjuristen nach der kartellrechtlichen Unbedenklichkeit einer brisanten Transaktion fragt, wird eine Antwort darauf vermutlich nach Maßgabe des Zertizitätsmodells bekommen; anders scheint die juristische Beratungspraxis, will sie zureichend und verlässlich informieren, kaum verfahren zu können.14 Dies gilt freilich nur, soweit es sich um den Bereich „zwingenden Rechts“ handelt und selbst dort nur dann, wenn man eine aus den Klienteninteressen fallweise vertretbar begründete, von einer „herrschenden“ oder „überwiegenden“ Meinung abweichende Eigenwertung des Beraters außer Betracht lässt. Und wo es – wie nicht selten – keine „Meinungsvorläufer“ gibt, scheint es eben – besonders in der Praxis der Vertragsgestaltung, der Erfüllungs- und Risikoplanung – durchaus Raum für eine schöpferische „anwaltliche Rechtsfindung“ zu geben. Zu Recht wird daher eine gegenüber der gerichtlichen oder dogmatischen Rechtsbehandlungsmentalität „völlig andere Denkweise“ des Vertragsjuristen an-erkannt.15 V. Blickpunkt lawyer-made law: Schlagwort oder Realität? Gesetzesnormen fungieren im Verständnis der Rechtsberatungslehre letztendlich als Modelle für einen anwaltlich, notariell usw. zu bildenden Gebotsinhalt, der an normativ Zwingendem und an richterlich bereits entschiedenen Fragen zwar regelmäßig eine Grenze findet, diesseits jener Grenze aber rechtsschöpferische Tätigkeit eigener Art darstellt, die der übrigen juristischen Arbeit in dieser Form nicht eigen ist. Es geht hier um eine naturgegebene Manifestation des Rechts vor allem in der Form der vorbeugenden und vorsorgenden Rechtspflege. 14 K. Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: Juristenzeitung 1980, S. 343 – 347 (345). 15 E. Rehbinder, Die Rolle der Vertragsgestaltung im zivilrechtlichen Lehrsystem, in: Archiv für civilistische Praxis, Bd. 174 (1974), S. 290 ff. (285). Auch P. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 11 unterscheidet zutreffend die Struktur „richterlicher Erwägung“ von dem „gedanklichen Vorgehen“ bei der „argumentatorischen Aufbereitung des Rechtsstoffes“ durch den Anwalt.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

In der Sicht der Rechtsberatungslehre heißt Umgang mit dem Gesetz daher nicht nur, einen Willen des Gesetzes zu suchen und zu entdecken oder ein lückenhaftes Gesetz „freirechtlich“ zu innovieren, sondern es geht – ohne Gesetzesverletzung – um die Verwirklichung der das Gesetz belebenden Kräfte aus der Einsicht des Beraters in die Interessen des Klienten, „mag es auch nicht immer mit den Lenkungsvorstellungen übereinstimmen, die der Gesetzgeber generell für den Regelfall entwickelt hat“.16 Dabei ist der Berater sehr häufig mit Verhältnissen konfrontiert, die der Gesetzgeber nicht bedacht hatte, ohne dass die infolgedessen zutage tretenden Zweifelsfragen notwendig je richterlich entschieden werden oder von der Rechtsdogmatik immer schon erkannt und behandelt wären. In Erkenntnis der für sich schon normierenden Effekte der Rechtsberatung ist hiernach längst zuzugeben, dass es eine mit Rechtsberatung identisch werdende „Rechtsanwendung“, wie sie im herkömmlichen Sinne dem Richter und dem Rechtsdogmatiker immer noch unterstellt wird, beim Anwalt prinzipiell nicht gibt. Die Funktionen der Rechtsberatung werden vom Modell herkömmlicher Rechtsanwendung nicht oder doch nur höchst verkürzt erfasst, und zwar meist schon deshalb nicht, weil der Wert der normativen Prämissen vom Rechtsberater tendenziell anders als vom Richter akzentuiert wird und wegen der funktionellen Perspektivenverschiedenheit dieser Rechtspflegeorgane auch nicht ohne Grund verschieden einzustufen sein kann. Vor allem geht in dieses Modell nicht ein, dass die Verwirklichung eigener Klientenziele zugleich immer als Restriktion des Gegeninteresses fungiert, wobei jeweils auch die Voraussicht in die mögliche Kompromissbereitschaft, die latenten Bedürfnisse und die Einschätzung von Werthaltungen der Gegenpartei eine Rolle spielen, Faktoren also, die dem herkömmlichen Rechtsanwendungsmodell fremd bleiben müssen. Richtpunkt und Orientierung für die beratende Tätigkeit sind – auch dies in Abweichung vom Modell bloßer Rechtsanwendung – stets die Vermeidung oder das In-Grenzen-Halten des Sachrisikos (z. B. bei Gesellschaftsverträgen, Sanierungen usw.), mithin Anforderungen, die eine juristische Tätigkeit in anderen Bereichen in dieser Weise nicht belasten. Insbesondere die Strukturierung von Vertragskonzeptionen ist ein Vorgang, bei dem es meist nicht um eine bestimmte Lösung geht, bei dem es vielmehr um eine Bewertung von Gestaltungsmöglichkeiten und damit auf ein „Denken in Alternativen“ ankommt, das in Verhandlungen zur Geltung zu bringen ist. Ein rechtlicher Konflikt ist hier – anders als im richterlichen Modell der Entscheidung – real nicht oder noch nicht vorhanden, er ist nur möglich. Nicht selten trifft man hier auch auf eine Abkehr von bisher praktizierten Gestaltungsmöglichkeiten und auf eine Abkehr vom angewendeten Recht, auf einen Selektionsprozess also, der richterlichem Handeln schon deshalb fremd ist, weil Richter eine „Steuerung“ von Fakten, d. h. eine finale Sachverhaltsgestaltung, nicht vornehmen können. Sie finden diese vor

16 A. Pikalo, Die Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeit in der Kautelarjurisprudenz, in: W. Krawietz / Th. Mayer-Maly / O. Weinberger (Hrsg.), Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 155 – 175 (170).

Rechtsberatungslehre – ein neuer Zweig der Wissenschaft

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und haben sie ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. In diesem Sinne fragt die beratende Jurisprudenz – insoweit nicht anders übrigens als die international längst etablierte Disziplin des Wealth-Management – auch nach Mitteln und Wegen, „ungünstiges Recht“ im Einzelfall zu vermeiden. Erinnert sei hier nur an die häufig komplizierte Gestaltung gesellschaftsrechtlicher und damit steuerlicher Verhältnisse, für welche Rechtsformen empfohlen werden, die dem Klienten die Zahlung von Steuern ersparen, an die Gestaltung allgemeiner Geschäftsbedingungen, Härteregelungen, salvatorische Klauseln usw. Gemeint sind also Strategien verstärkter Durchsetzung „individueller Gerechtigkeit“ gegenüber politisch-genereller Gesetzgebung, die man im Beratungsprozess immer wieder vorfindet. Hier vermag sich eine künftige Rechtsberatungslehre der Verhandlungs-, Machtund Anpassungstheorien zu bedienen, die sich u. a. mit den Voraussetzungen für eine „ideale Kompromisssituation“ befassen. Ferner kann das Repertoire der psychologisch orientierten Beratungstheorien sowie der auf Rechtskonflikte anwendbaren Spieltheorie ergiebig sein. Die Parallelen, die – zumindest teilweise – zwischen dem Prozess der Beratung und dem der Entscheidung bestehen, kann eine künftige Rechtsberatungslehre interdisziplinär aufarbeiten. Sie darf dabei m. E. voraussetzen, dass das Beratungsgespräch zwischen Anwalt und Klient ein zentraler Ort der Rechtsfindung ist. So gesehen schafft die rechtliche Gestaltung und Beurteilung durch den Anwalt, wenn er ein spezifisches Klientenproblem einer rechtlichen Lösung zuführt, eine bestimmte Art von Recht: lawyer-made law.

VI. Wissenschaftstheoretischer Status der Rechtsberatungslehre Wird die Rechtsberatungslehre über Rechtsdogmatik und Kautelarjurisprudenz hinaus zu einer Wissenschaftsdisziplin entwickelt, die die Erforschung der metajuristischen Determinanten des rechtsberatenden Handelns zum Gegenstand hat, so ist damit zugleich für eine empirisch orientierte Ausrichtung der Rechtsberatungslehre optiert. Dies bedeutet, dass das wissenschaftliche Programm und Verfahren der Rechtsberatungslehre als das einer kalkulierbaren Hypothesenbildung und -überprüfung aufgefasst werden kann, die sich auf nomologische Erkenntnisse auch anderer sozialer Handlungswissenschaften zu stützen haben; insoweit ist die Rechtsberatungslehre prinzipiell interdisziplinär angelegt. Die Gewinnung von Aussagen mit Erklärungsgehalt für die Teile der Rechtsberatungslehre, in denen Erklärung eine Rolle spielt, steht im Vordergrund. Ein erster Schritt muss dabei eine umfassende Bestandsaufnahme des empirischen Materials sein; auf dieser Grundlage können Regelhaftigkeiten empirisch-theoretischer Art ermittelt werden. In diesem Sinne versteht sich Rechtsberatungslehre auch als ein interfunktionelles Korrelat zu den übrigen sozialen Handlungsdisziplinen der Rechtswissenschaft, also zur Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre.

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5. Teil: Rechtsprechung – Verwaltung – Politik – Beratung

VII. Ausblick Die Entwicklung eines empirischen Paradigmas der Rechtsberatungslehre kann allerdings nicht allein auf der metatheoretischen Basis der herkömmlichen analytischen Wissenschaftstheorie erfolgen. Denn diese berücksichtigt nicht hinreichend den Bedarf, der in einer nicht abgeschlossenen Wissenschaftsdisziplin wie der Rechtsberatungslehre an grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Überlegungen besteht. Die analytische Wissenschaftstheorie ist – ihrer herkömmlichen Konzeption entsprechend – auf die Analyse „abgeschlossener“ Wissenschaften, jedenfalls ausgebildeter, „fertiger“ Paradigmata, zugeschnitten. Demgegenüber besteht der wissenschaftstheoretische Bedarf in der Rechtsberatungslehre und speziell in deren vorparadigmatischer Phase in der Notwendigkeit, im instabilen Grundlagenbereich der Rechtsberatungslehre Entscheidungen zwischen Alternativen zu treffen. Damit gelangt man neben der rekonstruktiven Ausrichtung zu einer damit durchaus kompatiblen konstruktiven Komponente der Wissenschaftstheorie der Rechtsberatungslehre, die sich objekttheoretisch etablieren muss und daher durch einen nicht eliminierbaren Bedarf an Konstruktivität gekennzeichnet ist. Die Rechtsberatungslehre selbst braucht ihr Aussagesystem – wissenschaftstheoretisch gesehen – nicht zu normativieren. Den Erwartungen der Praxis kann die Rechtsberatungslehre mit „technologisch“ sich verstehenden Vorschlägen zur Rechtsberatung hinreichend entsprechen.

Sechster Teil

Rechtspsychologie als Rechtstheorie

Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis* Die Frage, ob Rechtsentscheidungen nicht aus Rechtssätzen abgeleitet, sondern „instinktiv“, „irrational“, „gefühlsmäßig“ gefunden werden, scheint in der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung nicht zur Ruhe zu kommen. Wird die Ordnung des zu entscheidenden Falles durch Wertfühlen „erschaut“? Bedeutet die „Ableitung“ der Entscheidung aus der Norm nur ihre nachträgliche Legitimierung? Wie verhält sich der Richter gegenüber der seinem Rechtsgefühl entgegenstehenden Norm? Von diesen und verschiedenen anderen hiermit zusammenhängenden Fragen sollen einige Grundlagenaspekte angeschnitten werden.

I. Das Verhältnis von Denken und Gefühl: Trennbarkeitsproblem Gefühle sind nicht nur von zugehörigen Wahrnehmungen und Vorstellungen abhängig, sondern auch umgekehrt Vorstellungen (in geringerem Grade auch Wahrnehmungen) abhängig von Gefühlen.1 Der Wunsch, dass irgend etwas sich in bestimmter Art und Weise verhalten möge, lässt entsprechende Vorstellungen ins Bewusstsein treten. Dabei kann praktisch jede Art von Gefühl beteiligt sein. A. Strindberg2 drückte das unumwunden so aus: „Du denkst mit deinem Bauch, deiner Gurgel, deinem Geschlechtstrieb, mit deinen Leidenschaften und Interessen, deinem Hass und deinen Sympathien. Wenn du wünschest, glaubst du, du. denkst.“ Die hier gemeinte Gefühlspriorität ist insbesondere von W. Ehrenstein3 herausgestellt worden. Er sieht in Abläufen der vorgenannten Art Beweise für eine „Pionierschaft der Gefühle vor dem Denken“ („wishful thinking“). Dabei handelt es sich um einen Faktor, dessen Einfluss sich in feineren und feinsten, gröberen und gröbsten Formen im Leben geltend macht und von dem das Denken selten ganz frei ist.4 * Erstveröffentlichung in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 158 – 172. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1 W. Ehrenstein, Probleme des höheren Seelenlebens, München – Basel 1965, S. 277 f. 2 Strindbergs Werke (dtsch.), VI. Abt.: Wissenschaft, Ein Blaubuch, München 1920 / 21, S. 240. 3 Probleme des höheren Seelenlebens (FN 1), S. 277 f. 4 Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 277 f.

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6. Teil: Rechtspsychologie als Rechtstheorie

Diese „Gefühlshörigkeit“ des Intellekts ist auch phylogenetisch durch starke Interessen der Entwicklung in ihrem Fortbestand gesichert. Gefühle sind geeignet, dem Handeln als „Motor“ zu dienen; ein Individuum, das infolge unverhältnismäßiger Dominanz des Verstandes über das Gefühl nicht mehr wollen kann, ist in seiner Vitalität auf das äußerste gefährdet. Einseitiges Übergewicht des Intellekts über die Emotionalität bzw. eine völlige Emanzipation des Denkens von seiner Dienstbarkeit für Lust und Unlust schaltet sich, weil lebensfeindlich, auf die Dauer von selbst aus.5 Ist aber die enge Verbindung und wechselseitige Abhängigkeit von Verstand und Gefühl in diesem Sinne biologischen Notwendigkeiten verhaftet, liegt es nahe, auch im Rechtsdenken nach solcher Gefühlsabhängigkeit zu forschen, soweit sie sich in dem niederschlägt, was man im weiteren Sinne als „Rechtsgefühl“ zu bezeichnen pflegt („präreflexives Gewahrwerden“ einer Rechtslage im Sinne C. F. Graumanns).

II. Zur Entstehung des Rechtsgefühls: Angeborenes oder erworbenes Gefühl? Es kennzeichnet die Vagheit der an das „Rechtsgefühl“ geknüpften Begriffe, dass es in einem ganz besonders labilen und diffusen Verhältnis zu Termini verwandter Färbung steht, teilweise sogar synonym mit ihnen gebraucht wird: Rechtsgewissen, Rechtsbewusstsein, Rechtssinn, Rechtsempfinden, Rechtsvorstellungen, Rechtsanschauung. Schon die semantische Bandbreite der Worte weckt Zweifel an der Eindeutigkeit dieser Begriffe und ihrer Verwendungsweise. Dies lässt sich hier nicht im Einzelnen klären. Was wir skizzieren wollen, kann nur dasjenige sein, was sich in Erlebnisakten auf Rechtliches im weitesten Sinne bezieht. Eine solche Betrachtung ist genetischer Art, indem sie Gefühle, Vorstellungen usw., in denen Rechtliches erlebt und zu Bewusstsein gebracht wird, in ihrem Entstehen untersucht.6 Eine neurophysiologische Betrachtungsweise7, an die man hier zunächst durchaus denken könnte, liefert keinen befriedigenden Befund: denn sie gibt nicht die Möglichkeit, das Rechtsgefühl von anderen geistigen Gefühlen, wie z. B. vom „moralischen Bewusstsein“, zu unterscheiden.8 Soweit ich sehe, ist es bisher nicht Ebd., S. 278 f. „Rechtsgefühl“ wird oft als Bestandteil des positiven Rechts angesehen; diese Auswirkung meine ich hier nicht. Es tritt in jener Rolle als „natürliches Rechtsgefühl“ oder als „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ auf; hierbei handelt es sich entweder bereits um Wirkungen positiven Rechts (zumindest um Erscheinungen, die ohne dieses positive Recht nicht zu denken sind) oder um Rechtsbegriffe, in denen Psychisches unter teleologischer Begriffsbildung ins positiv Rechtliche transformiert wird; dazu C. A. Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main – Wien 1955, S. 399. 7 Zu den neurophysiologischen Zusammenhängen vgl. eingehend W. Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten, Berlin 1983, S. 69 ff. m. w. N. 5 6

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gelungen, ein „physisches Maß“ gerade für „Rechtsgefühl“ zu finden: das liegt an der komplizierten Natur dieser Regungen, in welchen sich intellektuelle Vorstellungen mit emotionalen Elementen verschiedener Art mischen.9 Ein Zusammenhang des Gefühlslebens wie aller Bewusstseinserscheinungen mit physischen Realitäten, insbesondere mit dem Gehirn- und Nervensystem, ist zwar nachgewiesen, über Art und Umfang dieses Zusammenhangs sind wir aber noch vielfach im Dunkeln: Die Entstehung des Rechtsgefühls ist nicht zu trennen von der Frage der Entstehung psychischer Vorgänge überhaupt. Man kann nach dem heutigen Stand der Physiologie für verschiedene Anlagen und Fähigkeiten ihren Ort im Gehirn näher bestimmen; so kennt man z. B. das Sprachzentrum, den Sitz des Gedächtnisses, der musikalischen Anlage. Wer indessen die Verschiedenartigkeit der Elemente, aus denen Rechtsgefühl zusammenfließt, und seine Eigenart als eines Komplexes aus Fühlen und Denken sich vergegenwärtigt, wird es begreiflich finden, dass eine „Lokalisation des Rechtsgefühls“ nicht gelungen ist,10 falls sie jemals gelingen kann.11 Eine andere Frage ist es, ob das (dispositionelle) Rechtsgefühl, wenn es beim einzelnen Menschen auftritt, zu dessen ererbten Eigenschaften gehört bzw. eine allen Menschen angeborene Eigenschaft ist. Die Fragen werden von denjenigen bejaht, die ohne genauere Unterscheidung zwischen Recht und Moral im Rechtsgefühl (nur) eine Funktion des moralischen Bewusstseins oder des Gewissens sehen, dieses aber als etwas Angeborenes, allen Menschen durch eine höhere Macht oder durch die Natur Eingepflanztes betrachten; auch wer im Rechtsgefühl nicht eine Teilerscheinung des moralischen Bewusstseins oder Gewissens, sondern ein Korrelat dazu erblickt, wird, sofern er die Erscheinung auf moralischem Gebiet nicht empirisch, sondern nativistisch erklärt, geneigt sein, diese Auffassung auf das Rechtsgefühl als Parallelerscheinung zu übertragen.12 Die Bejahung der Frage findet sich insbesondere im Ideenkreis der naturrechtlichen Theorien. So erachtete etwa A. v. Feuerbach13 das Recht als das Produkt eines besonderen, im Wesen der praktischen Vernunft gegründeten juristischen Vermögens. F. C. v. Savigny14 sprach von der naturalis ratio als „dem der mensch8 Vgl. eingehend E. Riezler, Das Rechtsgefühl. Rechtspsychologische Betrachtungen, 3. Aufl. München 1969, S. 26 ff. 9 Ebd., S. 29. 10 Ebd. 11 Einzelheiten bei R. Sinz, Lernen und Gedächtnis, Stuttgart 1976, insbes. S. 225 ff. 12 Riezler, Das Rechtsgefühl (FN 8), S. 30. 13 Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte, Altona 1796, S. 230 ff.; ähnlich L. A. Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts, Bonn 1839, S. 202. 14 System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 110.

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lichen Natur eingepflanzten gemeinsamen Rechtsbewußtsein“. Auch etwa O. v. Gierke redete von der „inneren Erfahrung, daß die lebendige Kraft des Rechts aus der mit dem Menschen geborenen Rechtsidee stammt“15. Der Ursprung des Rechts falle mit dem Ursprung des Menschen zusammen: „Der Mensch konnte nicht Mensch sein, ohne daß sich in ihm der Rechtstrieb regte“. Aus ganz anderen Gesichtspunkten hatte A. Sturm einen ererbten, auf biologischer Grundlage ruhenden, in seinen Ansätzen schon bei Tieren wahrnehmbaren Rechtsinstinkt behauptet.16 Nach ihm ist der Rechtsinstinkt „allein das arterhaltende Menschheitsprinzip“. Demgegenüber hat R. v. Ihering17 die Meinung, dass von Natur ein sittlicher oder rechtlicher Trieb im Menschen liege, eindringlich bekämpft. Die so genannte historisch-empirische Anschauung über den Ursprung des Rechtsgefühls darf wohl bei Juristen als die überwiegende bezeichnet werden, der sich seit Ihering zahlreiche Rechtswissenschaftler und Psychologen angeschlossen haben. So meint etwa H. Maier18, ein ursprünglicher Rechtstrieb existiere ebenso wenig wie ein ursprüngliches Rechtsbewusstsein und ursprüngliche Rechtsüberzeugung. Und J. Binder19 hat nicht weniger deutlich dargelegt, es sei schlechterdings nicht zu begreifen, wie man. die transzendentale Rechtsidee mit einem psychologischempirischen Moment, wie es das Rechtsgefühl sei, verwechseln könne: „Wenn wir von einer ursprünglichen Bewußtseinsfunktion reden, so darf dies nicht so verstanden werden, als ob wir irgendein angeborenes Rechtsbewußtsein besäßen, das sich auf irgendwelche ideale Rechtsinhalte beziehen würde“20. E. Riezler21, der sich um eine Analyse des „Rechtsgefühls“ besonders. bemüht hatte, geht zunächst davon aus, dass die Frage nach der Entstehung des Rechtsgefühls mit der nach der Entstehung des Gewissens nicht identifiziert werden dürfe: Gewissen und Rechtsgefühl seien trotz starker Berührungspunkte wesensverschieden. Das Gewissen urteilt nämlich über eigenes Verhalten, Rechtsgefühl hingegen regt sich nicht nur gegenüber eigenem, sondern auch (und noch viel mehr) gegenüber fremdem Verhalten. Auch in ihrem Einfluss auf die psychische Stimmung sind Riezler zufolge Gewissen und Rechtsgefühl nicht gleich; ein 15 Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 3. Ausg. Breslau 1929, S. 366. 16 Die psychologische Grundlage des Rechts, Hannover 1910, S. 189. Gegen ihn F. Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Berlin 1912, S. 17 ff. 17 Allgem. JurZ. 7 (1884), S. 121 ff. 18 Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908, S. 731. 19 Rechtsbegriff und Rechtsidee. Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers, Leipzig 1915, S. 211. 20 Ebd., S. 228. 21 Das Rechtsgefühl (FN 8), S. 40 ff.

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überempfindliches Gewissen führe leicht zu Minderwertigkeitsgefühlen, überempfindliches Rechtsgefühl dagegen eher zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins. Nicht zum Gewissen dürfe das Rechtsgefühl als Korrelat angesehen werden, sondern nur zum „sittlichen Bewußtsein“. Mit diesem stehe wenigstens das „primitive Rechtsgefühl“ in nächstem Zusammenhang. Wenn auch Recht und Moral verschieden seien, träten die Verschiedenheiten da, wo rechtliches und moralisches Bewusstsein in der Gefühlssphäre blieben, in der Regel nicht deutlich hervor. Aber es sei geraten, die Entstehungsursache des Rechtsgefühls selbständig zu prüfen und nicht einfach mit dem Hinweis auf die an sich schon unsichere Genealogie des moralischen Gefühls oder gar des Gewissens abzutun. Die Lehre vom angeborenen Rechtsgefühl wird nach Riezler noch nicht widerlegt durch die Tatsache, dass das neugeborene Kind noch keinen Rechtstrieb und kein Rechtsgefühl zeige, da es auch angeborene Triebe gebe, die sich erst in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Organismus und erst dann äußerten, wenn Zweck und Gelegenheit es erforderten. Ebenso wenig lasse sich aus dem Rechtsgefühl der Kinder ein Argument für einen angeborenen Rechtsinstinkt entnehmen. Die Tatsache, dass sich schon beim Kind Regungen eines Rechtsempfindens und Äußerungen der Gerechtigkeit (namentlich der in ihr steckenden Gleichheitsidee) finden, beweise nur, dass bereits im Kindesalter die empirischen Bedingungen (deren Zusammentreffen für die Entstehung des Rechtsgefühls Voraussetzung ist) bis zu einem gewissen Grade entwickelt sein könnten. Aber auch R. v. Iherings Ausspruch: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl“22, also Zuspitzung des Dilemmas auf die leidige Prioritätsfrage, vermag den Entstehungsprozess kaum zu erhellen. Richtig ist, meint Riezler, dass das Recht und damit das Vorkommen seiner Verletzung „Rechtsgefühl“ hervorrufe und stets neu erzeuge und dass das Rechtsgefühl sich dem geltenden Recht anpasse, sofern dieses mit seinen Interessen nicht in Widerspruch stehe. Aber es sei nicht richtig, dass das Rechtsgefühl kein Recht erzeuge. Beide, Recht und Rechtsgefühl, stehen nach Riezler in Wechselwirkung. Wesentlich sei, dass die als Entstehungsfaktoren des Rechtsgefühls wirksamen Vorstellungen, wie überhaupt Vorstellungen von Begriffen und Ideen, nichts dem Menschen Angeborenes, sondern etwas unter dem Einfluss der historischen Entwicklung und Lebenserfahrung Erworbenes seien.23 Kommt aber Rechtsgefühl unter wesentlicher Mitwirkung kognitiver Vorstellungen zustande, die ihrerseits historisch und empirisch bedingt sind, schließt dies die Annahme eines angeborenen Rechtssinns aus. Das erworbene Rechtsgefühl ist R. v. Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 4. Aufl. Leipzig 1904, S. XIV. Schon bei I. Kant findet sich die Auffassung, dass Begriffe nicht angeboren, sondern nur erworben werden; Kant lässt dies sogar für die Begriffe des Raumes und der Zeit gelten. In seiner 1770 erschienenen Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (§ 15 am Schluss) lehnt er die gegenteilige Auffassung ab, „quia viam sternit philosophiae pigrorum“. 22 23

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selbstverständlich von den natürlichen Anlagen des Menschen abhängig. Es besteht ein interaktionistisches Verhältnis zwischen diesen Anlagen und dem Erwerb von Rechtsgefühl. Rechtsgefühl ist „nicht nur Strebungsgefühl, sondern stets auch Wertungsgefühl, die diesem zugrunde liegenden Vorstellungen setzen den Besitz eines objektiv gegebenen oder subjektiv für richtig gehaltenen Wertungsmaßstabes und eine auf Überlegung beruhende Anwendung dieses Maßstabes auf bestimmte Verhältnisse . . . voraus“24. Damit will Riezler das emotionale Element, das gefühlsmäßige Ich-Erlebnis, in seiner Bedeutung für das Rechtsgefühl nicht ausschalten, er betont nur, dass das zuständliche Wertungsgefühl selbst nicht ohne gegenständliche intellektuelle Wertvorstellungen zustande kommt, das Wertgefühl hier also auf einem Werturteil beruht. Die Entstehung eines Rechtsgefühls ist somit nicht erklärbar ohne den Begriff des Wertes. Wertbegriffe aber sind nicht angeboren, sondern historisch bedingt und empirisch erworben.25 Demgegenüber nimmt B. Bihler26 eine Trennung von Gefühl und Recht in einer Weise vor, dass er das Gefühl nicht auf das Recht bezogen sein lässt, sondern es als „Identifikation“ mit der einen oder anderen Partei eines Rechtskonflikts deutet. Damit muss Bihler beim Rechtsgefühl die bisher allgemein angenommene stark rationale – neben der emotionalen – Komponente verneinen; er gelangt zu einem „Rechtsgefühl ohne Recht“ (M. Rebbinder). Rechtsgefühl wird als „Empathie“ wahrgenommen und kann nicht länger ein „intellektuelles Gefühl“ sein.

III. Das Rechtsgefühl als „Judiz“? Es liegt: nahe, das Rechtsgefühl als einen mit bestimmenden „Entscheidungsfaktor“ bei der Behandlung von Rechtsfragen anzusehen, der wohl kaum ausgeschaltet werden kann. Dass man im Allgemeinen wenig geneigt ist, dem Rechtsgefühl einen bestimmenden Einfluss einzuräumen oder seinen real vorhandenen Einfluss anzuerkennen, erklärt sich aus dem Bestreben der Rechtspflege, die nach Klarheit, Bestimmtheit, Berechenbarkeit tendiert, während dem Rechtsgefühl jedenfalls auch das Unklare, Unbestimmte, etwas Verschwommene eigen ist, das die Rechtssicherheit gefährden kann. Dass das Rechtsgefühl – jedenfalls im Verständnis der Juristen – neben den emotionalen auch intellektuelle Entstehungsmomente in sich trägt, wird dabei gern übersehen.27 So wundert es nicht, dass die RechtSo zutreffend Riezler, Rechtsgefühl (FN 8), S. 44. Ebd.; vgl. auch R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Stuttgart – Basel 1969 (Neudruck 1996), S. 93 ff. m. w. N. 26 Rechtsgefühl, System und Wertung, München 1979, insbes. S. 35 ff.; dazu M. Rehbinder, Fragen des Rechtswissenschaftlers an die Nachbarwissenschaften zum sog. Rechtsgefühl, in: M. Gruter / M. Rehbinder, Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, Berlin 1983, S. 261 ff. (267). 27 Daraus weist Riezler, Rechtsgefühl (FN 8), S. 182, mit Recht hin. 24 25

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sprechung in zahlreichen Fällen auf das Phänomen des Rechtsgefühls ausdrücklich rekurrierte, um dem „allgemeinen Rechtsempfinden“ entsprechende rechtliche Ergebnisse zu erzielen.28 Typisch sind dagegen die Fälle, in denen die juristische Entscheidung in Wirklichkeit aus dem Rechtsgefühl fließt, dies nur nicht ausdrücklich gesagt wird.29 Rechtsvorstellungen, die beim Juristen aktuelles Rechtsbewusstsein hervorbringen, kreisen weitgehend um das positive Recht; dagegen ist das Rechtsbewusstsein im dispositionellen Sinne, wie es bei allen hinreichend entwickelten Menschen anzutreffen ist, eher das „Ergebnis einer juristischen Erziehung, wie das Leben sie an den Gliedern eines geordneten Gemeinwesens durchführt“30. Durch mannigfache Kanäle erreicht das Individuum schon von Jugend auf zahlreiche Rechtskenntnisse, insbesondere rechtliche Gebotsvorstellungen. Indem diese sich im Bewusstsein niederschlagen und ineinander verflechten, bildet sich zugleich eine Art „allgemeines Rechtsempfinden“ aus, das man als „Rechtsinstinkt“ des Laien, beim Richter als „Judiz“ bezeichnen kann.31 Das „Judiz“ ist dadurch charakterisiert, dass es ein unterschwelliges „Wissen“, weniger Ausfluss primären, aufgrund fundamentaler Bestände mit Sicherheit leitenden Gefühls ist. Es vollzieht sich in meist kognitiven Akten, wenngleich es seiner Struktur und Bewusstseinsrepräsentanz nach Züge emotionalen Denkens, unmittelbaren Gefühlsentscheids trägt. Das „Judiz“ verfügt über materielle Bestände, die mit gewissen empirischen Determinationen im Rechtsgefühl zur Auswirkung kommen. Die gelegentlich anzutreffende, wenn nicht sogar verbreitete Meinung, in bestimmten Fällen entscheide das „Judiz“ sicherer als verstandesmäßiges Rechtsdenken, neigt dazu, das „Judiz“ als selbständige Funktion zu fassen. Solchen Ansichten dürfte entgegenzuhalten sein, dass „Judiz“ keinen Gegensatz zu Entscheidungsabläufen kognitiver Art, jedenfalls keine metarationale Fähigkeit darstellt. Dass dabei oft unvollständige Urteilsfundamente hinreichen, erklärt sich aus den Gestaltgesetzen. Erfassen komplexer Sinngestalten ist häufig schon aufgrund Innewerdens minimaler Diakritika möglich; sofern diesen integrative Auszeichnung zukommt, vermögen sie weitgehend Entscheidungen zu tragen. Das „gefühlsmäßige“ Bescheidwissen um Rechtslagen aufgrund des so genannten sensus juridicus, über die man sich (noch) keine „rechtslogische“ Rechenschaft abzulegen vermag, ist ein intuitiver Erkenntnisakt erster Näherung, der trotz fehlender Explizität das Urteil wesentlich erfasst hat. Damit ist der manchmal etwas verschwommen angegebene Vorstufencharakter des Rechtsgefühls angesprochen. 28 Vgl. aus der deutschen Rechtsprechung schon RGZ 78, 239; 142, 40; 150, 69; für den österreichischen Rechtskreis z. B. OHG GerZ. 1928, S. 289; für das schweizerische Recht grundlegend H. Dubs, Praxisänderungen, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, H. 27, Basel 1949, S. 155 ff. 29 So richtig Riezler, Rechtsgefühl, S. 185 (FN 8). Empirische Arbeiten in dieser Richtung fehlen bisher. 30 F. Kainz, Psychologie der Sprache, Bd. 4, Stuttgart 1956, S. 317. 31 Vgl. ebd.

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Nach A. Wreschner32 gründet sich jede Erkenntnis auf ein Gefühl. Gefühle eilen ihrem „Inhalt“ voran und treiben ihr Spiel vor allem in den Bereichen des nur schwach Bewussten. Wie sie ihrem Inhalt vorauseilen, so auch der juristischen Rationalisierung des Entscheidungsergebnisses. Solche intuitiv antizipierte Einsichten sind gleichsam die Pioniere des Rechtsfindungsbemühens.33

IV. Gefühlskontrolle durch das Rechtsgewissen? Das Rechtsgewissen lässt sich als eine Art „Kontrollinstanz“ des Rechtsgefühls begreifen; es meldet sich vorzugsweise als „Stimme“. Rechtsgewissen „spricht“ zu uns, seine Äußerungen haben redeähnlichen Charakter.34 Rechtsgewissen wird vernommen: Dieser Vorgang ist unabhängig vom Willen, setzt sich oft sogar gegen diesen durch. Das Rechtsgewissen meldet sich auch dann, wenn man sich geradezu bemüht, es zu überhören.35 Dieses Verdrängen ist nur begrenzt wirksam; der „grundsätzliche Anspruch auf Gehör“ (H. R. Lückert), der Durchbruch des Gewissens, wird dadurch nicht beeinträchtigt; es bleibt stets das Bewusstsein, dass dieser Stimme Gehör gebührt.36 Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang erhebt, ist die nach einer letztappellablen Instanz: Mit ihr ist das Problem des „Dignitätsanspruchs“ (Lückert) des Rechtsgewissens gestellt. Das Gewissen macht sich bei der Rechtsfindung mit dem Anspruch auf höchste Autorität geltend: seine Mahnungen sind verpflichtend, seine Verurteilung erscheint inappellabel.37 Im Grunde ist es die Stimme einiger Menschen im Menschen: „Der Inhalt unseres Gewissens ist alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen wird also jenes Gefühl des Müssens erregt (,dieses muß ich tun, dieses lassen!‘), welches nicht fragt: warum muß ich? – In allen Fällen, wo eine Sache mit ,weil‘ und ,warum‘ getan wird, handelt der Mensch ohne Gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe“.38 E. E. Hirsch39 bezeichnet das Gewissen als ein Organ im Menschen, das automatisch-instinktiv das Verhalten steuere; es arbeite ähnlich einem Computer und besitze wie dieser einen „selbständigen Regelmechanismus“. Das Gefühl, Wien 1931, S. 124 f. Je mehr sich in Rechtserwägungen auch ethische Fragen zu Wort melden, um so stärker dürfte sich der Gefühlsentscheid an dunklen Erfahrungsniederschlägen ausrichten. 34 Vgl. H. R. Lückert, Konfliktpsychologie, München 1957, S. 360. 35 Zum Gewissen als Normbewusstsein vgl. E. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, Berlin 1983, S. 67 f. m. w. N. Zur Lehre vom „biologischen Gewissen“ (C. v. Monakow) kritisch Schurig, Überlegungen (FN 7), S. 64 f. 36 Lückert, Konfliktpsychologie (FN 34), S. 360. 37 Ebd., S. 432. 38 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. K. Schlechte, I. Bd., München 1966, S. 902. 39 Die Steuerung des menschlichen Verhaltens, JZ 1982, S. 41 ff. 32 33

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Das Gewissen ist der intraindividuelle Regulator und Koordinator interindividueller Beziehungen; es fungiert als Agent der Gruppe, als Stabilisator der jeweiligen Gruppenordnung und wird vom Individuum trotzdem als das nur ihm Eigentümliche aufgefasst.40

V. Rationalität und Rechtsgefühl: „Reinheit“ des Gefühls? An den Eigentümlichkeiten der juristischen Entscheidung wird deutlich, dass sich das Entscheidungssubjekt (auch) von seinem Rechtsgefühl41 leiten lässt. Ausdruck findet dies in einer „Gerechtigkeitsaussage“, die sich auf den jeweils zu entscheidenden juristischen Konflikt bezieht. Die Struktur dieser Aussage ist gekennzeichnet durch die Kategorien „gerecht“ und „ungerecht“. Von einem rationalen Urteil wird erwartet, dass die Vorstellungen von dem, was gerecht ist und was nicht, eine Begründung durch materiale Inhalte erfahren. Für denjenigen, der die Gerechtigkeitsaussage verwendet, sind die Begründung und deren Inhalte evident. Die Aussage beruht aber zunächst nicht auf den zur Begründung angeführten materialen Gehalten, sondern auf einer emotional-subjektiven Haltung dem Fall gegenüber. Es ist eine andere und weitergehende Aufgabe, auch für die Einsicht und das Verständnis des Zuhörers zu sorgen. Lassen die materialen Begründungsinhalte als gemeinsamen Nenner die getroffene Gerechtigkeitsaussage zu, so ist der Bezug hergestellt zwischen gefühlsmäßiger Ansicht und materialen Gehalten. M. Bihler sieht diesen Bezug darin, dass „in der Gerechtigkeitsaussage Einzelfallentscheidung und subjektive Richtigkeitsvorstellung durch das Prädikat ,gerecht‘ verbunden werden“.42 Dies bringt M. Rehbinder auf die prägnante Formel: „Rechtsgefühl ist . . . in seiner Genese subjektiv und emotional, in seinem Anspruch objektiv und rational.“43 Dabei trifft die phänomendeskriptive Erfassung des Gefühls allerdings auf Schwierigkeiten. Entsprechende Untersuchungen stellen im Wesentlichen fest, dass das Rechtsgefühl als spontane Stellungnahme juristischen Konflikten gegenüber anzusehen ist und auf einer durch Parteinahme begründeten Identifizierung beruht. Das Gefühl der Empathie lässt hiernach ein die Grenzen zwischen Ich und Du verwischendes Mit- und Einfühlen in den anderen erkennen. Aus diesem Blickwinkel ist es für den Entscheidenden unerheblich, ob sich sein Engagement auf eine auch von anderen für gerecht angesehene Sache bezieht. Von Bedeutung ist insoweit nur die Identifikation aufgrund einer nicht weiter begründeten Parteinahme.44 Ich halte die Identifikationsthese zumindest in der richterlichen Praxis, 40 41 42 43 44

G. Deimling, Recht und Moral, Neuwied – Berlin 1972, S. 40. Zum Rechts- und Gerechtigkeitsgefühl vgl. Bihler, Rechtsgefühl (FN 26), S. 48 ff. Ebd., S. 53. Rehbinder, Fragen des Rechtswissenschaftlers (FN 26), S. 268. Vgl. Bihler, Rechtsgefühl (FN 26), S. 48.

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wo wir ein eher intellektuelles Rechtsempfinden, ja geradezu distanzierte Skepsis und umsichernde Vorsicht des Urteils antreffen, für einigermaßen unrealistisch; im Laienbereich mag sie für einzelne Spontanreaktionen als Folge der Wahrnehmung von Unrecht zutreffen. Eine Identifizierung kann erfolgen, sie muss aber nicht eintreten. Die Gerechtigkeitsaussage verbindet sich dagegen mit Hinweisen auf materiale Gehalte des Rechts. Die Beziehung auf das Recht wird zur Begründung für das Gefühl herangezogen. In einem rationalen Denkprozess werden Gefühle in Verbindung gebracht mit Normen und Rechtsprinzipien, mit materialen Gehalten der Gerechtigkeit. Die Gefühlszuständlichkeit wird gerechtfertigt. Dabei wird der materiale Inhalt der Begründung als Anlass des Gefühls ausgegeben. Scheinbar ruft hier nicht der durch seinen Aufforderungscharakter gekennzeichnete juristische Konflikt subjektive Beurteilungen hervor, sondern die Gerechtigkeitsvorstellungen des Entscheiders, die sich aus unbestimmbaren Quellen als ihm selbstverständliche Gerechtigkeitsgehalte ergeben. Bei sich selbst wahrgenommene subjektive Wertungen erscheinen so dem Entscheidungssubjekt als Folge eigenen Gerechtigkeitsempfindens, wodurch gewissermaßen emotionale Zuständlichkeiten eine Legitimierung insoweit erfahren, als die Inhalte dieses Empfindens für den Entscheider selbst evident sind.45 Die Parteinahme in einem juristischen Konflikt wird nach der im abendländischen Rechtskreis herrschenden Auffassung regelmäßig nicht ohne Hinterfragung hingenommen, sobald das ihr zugrunde liegende Gefühl ins Bewusstsein dringt. Dabei wird nach Gründen für die getroffene Wertung gesucht und dieser Prozess erst dann abgebrochen, wenn die Begründung den Rationalitätsanforderungen des Entscheidungssubjektes genügt. Stellungnahmen, die in diesem Sinne ohne Rechtfertigung bleiben, werden als unbefriedigend abgelehnt. Nur rational nachvollziehbare Begründungen rechtlicher Entscheidungen haben eine Aussicht auf Anerkennung.

VI. Ein kognitives Modell: Rechtsgefühl und richterliches Ordnungsbedürfnis unter Entscheidungsbedingungen Analysiert man nun in der richterlichen Arbeit deren beide wichtigsten Bereiche – die Tatsachenfeststellung und die konkrete Rechtssatzermittlung –, findet man, dass sie so aufeinander hingeordnet sind, dass in der richterlichen Sichtweise die eine nicht ohne die andere aktualisiert wird. Schon die Tatsachen werden also im Hinblick auf Rechtssätze ermittelt, Rechtssätze ihrerseits sind nur im Hinblick auf Tatsachen entscheidungsbezogen auffindbar. In diesem „Hin- und Herwandern des Blickes“ werden – interpretiert man die herkömmliche juristi45

Ebd., S. 52 ff.

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sche Methodenlehre einmal deskriptiv – der ermittelte Sachverhalt und diejenigen Rechtssätze, die bei erster Betrachtung hinsichtlich eines wünschbaren Ergebnisses möglicherweise anwendbar sind, einander so weit angenähert, bis die rechtliche Beurteilung gelingt. Hierbei bleibt jedoch ausgeklammert, was der Richter von sich aus zum Fortgang der Tatsachenermittlung beitragen muss, wenn so etwas wie ein „Sachverhalt“ überhaupt zustande kommen soll. Das, was sich für die Wahrnehmung aus dem Empfindungsfeld heraushebt; ist von der Thematik der Strebungen abhängig, während das, was keine Beziehung zur Thematik der Strebungen hat, mehr oder weniger ungegliederter oder unbemerkter Hintergrund bleibt. Die richterliche Tatsachenfeststellung ist nicht nur Wahrnehmung und kategoriale Verarbeitung des Wahrgenommenen; sie ist von vornherein Wahrnehmung für bestimmte rechtliche Ordnungszwecke.46 Sie ist dabei gesteuert von der Dynamik und der Thematik des dahinter stehenden Fragens und Suchens. Der Richter muss, anders gesagt, wissen, was er wissen will. Die rechterheblichen Züge eines Sachverhalts werden erfragt, indem dieser Unter dem Blick der rechtlichen Regelungen gesehen wird. Bereits dabei spielen – vor allem unter dem Gesichtspunkt angestrebter „Subsumtionsgeeignetheit“ – Sinn- und Wertgesichtspunkte und damit Ordnungsaspekte eine maßgebende Rolle. Dass z. B. zwei Personen einen Vertrag geschlossen haben, wird auch bei genauester Beschreibung ihres Verhaltens und völliger Einsicht in den Vorgang nicht erfasst, solange an ihn nicht der Vertragsbegriff angesetzt wird. Der Zusammenstoß zweier Fahrzeuge kann z. B. durch noch so präzise Messungen beschrieben sein, als Rechtstatsache „Unfall“ ist damit dieses Ereignis noch nicht erfasst. Es liegt hier jeweils ein Geschehen voraus, das nur durch Sinn gebendes und daher nicht wertindifferentes Erfassen als das erkannt werden kann, als was es dann „festgestellt“ wird: Vergegenwärtigt man sich nun den Richter in einem Prozess, dessen Ergebnis für ihn über längere Zeit nicht eindeutig, sondern unklar und in der Lösung zwiespältig erscheint, so lässt sich dieser Zustand als eine „Konfliktsituation“ auffassen, in der für relevant gehaltene Tendenzen (Alternativen) von zunächst meist annähernd gleicher Stärke und entgegen gesetzter Richtung auf den Richter einwirken. In solchen Fällen liegt eine Spannungslage vor, in der sich der Richter mehr oder weniger unvereinbaren Bedeutsamkeiten (Wertungen) unter Entscheidungsdruck ausgesetzt sieht. Die Anwendung des Konfliktbegriffs setzt hier voraus, dass mehrere Möglichkeiten des Entscheidens im Spiel sind, für deren jede etwas spricht. Der Aufforderungscharakter der Entscheidungssituation, in der der Richter steht, ist hier also mehrdimensional; die Rechtslage ist nicht eindeutig, sondern multivalent. Diese Mehrdeutigkeit der Entscheidungssituation ist für den Richter dann gegeben, wenn mehrere entgegengesetzt gerichtete Wertsysteme gleichzeitig 46 Vgl. etwa C. F. Graumann, Die Dynamik von Interessen, Wertungen und Einstellungen, in: Handbuch der Psychologie, 2. Bd., Allgemeine Psychologie, II. Motivation, Göttingen 1965, S. 272 ff.

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wirksam sind, die durch die Wahl einer bestimmten Entscheidungsalternative ausgeglichen werden.47 Wir können hier sagen, dass sich unter den genannten Annahmen das richterliche Entscheidungsverhalten darstellt als eine Form des Reagierens auf das gleichzeitige Bestehen oder Anlaufen von mindestens zwei Verhaltenstendenzen, die aus einer wenigstens zweidimensionalen Aufforderungsqualität resultieren. Dieser Aufforderungscharakter ist ein grundlegender Faktor für das Ingangkommen und den weiteren Entscheidungsablauf. Mit dem Herankommen der eigentlichen Entscheidungssituation geht – wie der Insider weiß – regelmäßig eine Belastungsprobe größerer oder geringerer Intensität einher. Die Problemsituation der Entscheidung und ihre rechtliche Mehrdeutigkeit bringen eine für den Entscheidungsablauf „störende“ Wirkung mit sich. Für diesen Prozess ist kennzeichnend, dass er eingelagert ist in eine Geschehenstendenz, die auf Ausgleichung gerichtet ist. Man kann hier von „Umzentrierungen“ und „Umstrukturierungen“ (H. Thomae) sprechen, die auf eine „Entstörung“ der Entscheidungslage und damit auf (Wieder-)Herstellung der intendierten Ordnung gerichtet sind. Diese Tendenz, also das „In-Ordnung-Bringen“ impliziert einen Bedürfnischarakter. Der Aufforderungscharakter, der in der Ausgangslage der Entscheidung liegt, geht von der diese Lage zunächst kennzeichnenden Unorientiertheit aus. Der Inhalt dieser Forderung bezieht sich auf ein Verhalten vom Typus des Suchens, d. h. Klärung im Sinne von Situationsvereindeutigung. Damit ist nicht nur ein intellektueller Vorgang gemeint, sondern zugleich „Stimmigkeit“ in den Beziehungen zwischen Verhalten und Situation: (Wieder-)Herstellung einer Ordnung zwischen Persönlichkeit und Umwelt. Das hierbei zugrunde liegende Ordnungsbedürfnis lässt sich als konstituierendes Element der Entscheidung interpretieren, das die Tendenz hat, die grundsätzlich bestehende Richtungsmehrheit der möglichen Situationsbeurteilungen aufzuheben und zur Situationseindeutigkeit zu führen. Was sich hier abspielt, muss als ein komplexer Regulierungsprozess aufgefasst werden: als eine ganze Skala von Umstrukturierungsvorgängen. Man denke etwa an das dem Juristen geläufige, fast automatisch sich ereignende Vorprellen und Eröffnen einer rechtlichen Einstiegsmöglichkeit, also an den gleichsam ersten Lösungszugang (z. B. Heranziehung einer Anspruchsgrundlage. eines Prüfungsmaßstabs). Oder man vergegenwärtige sich – sehr vereinfacht – diejenigen nicht selten über zahlreiche „Umwege“ geführten Bemühungen, die die Vereindeutigung der rechtlichen Problemsituation schließlich so nahe bringen, dass sich abschließend sagen lässt: „nach allem ergibt sich, daß usw.“ Seinen Ausgang nimmt ein solches Verhalten jedenfalls von der Erlebnisqualität, dass die Gegebenheiten der rechtlichen Problemsituation zunächst nicht recht zueinander passen, dass störende Momente den Durchblick auf die Lösung des Entscheidungsproblems verstellen, wodurch die gesamte Situation der Entscheidung den Charakter des typisch Ungeschlossenen und Unausgeglichenen erhalten kann.48 47

Dazu näher Weimar, Psychologische Strukturen (FN 25), S. 122 ff.

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Der anzustrebende Zustand der (Wieder-)Herstellung der gestörten Ordnung wird über zahlreiche Umformungsoperationen bzw. Umstrukturierungen erreicht, bevor die Endstruktur der Entscheidung über Etappen solcher Operationen in zahlreichen Mikroschritten erreicht wird. Es handelt sich dabei um ein typisches Merkmal juristischer Problemlösungsprozesse, bei denen es zu derselben Gegebenheit – möglicherweise – sehr verschiedene Bedeutungsperspektiven gibt. Es lässt sich daher vorläufig festhalten: Mit der Aktivierung des Reaktionspotenzials und dessen Zentrierung auf die Deutung der zu entscheidenden Situation und ferner mit der Einregulierung dieser Deutungsvorgänge auf der Ebene eines bestimmten rechtlichen Sinnhintergrundes sind wesentliche Bedingungen der Orientierungsphase erfüllt. Allerdings ist damit das Stadium der Unentschiedenheit grundsätzlich nicht beendet. Was noch fehlt, ist der Eintritt in die Entschlussphase, die die Problemlösung herbeiführt („intendierte Ordnungsstruktur“). Man findet hier eine Periode einer die relevanten Gesichtspunkte berücksichtigenden, abwägenden Auseinandersetzung, die bis zu einem mehr oder minder abgerundeten Entschluss geführt wird. Die Verteilung der Gewichte tritt hierbei meist durch den Deutungsvorgang selbst ein, wobei sich das Geschehen im Sinne der jeweils als größer (erheblicher) empfundenen rechtlich konsonanten lnformationsgewichtigkeit reguliert. Das sich damit einstellende Lösungsbewusstsein – selbstverständlich kein geeigneter Prüfstein für die „Richtigkeit“ einer Entscheidung – ist eine – heuristisch bedeutsame – Erlebnisqualität, die dort auftaucht, wo geistige Widerstände gegen das abschließende Urteil nicht mehr bestehen.49 In analog entgegen gesetzten Fällen handelt es sich um Formen der Unentschlossenheit, des Zweifels, der Nichtevidenz. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Brauchbarkeit und Angemessenheit einer Lösung, ihre Vereinbarkeit mit dem Rechtsgefühl50, sicherlich Merkmale sind, die Bedeutung gewinnen, wenn ein befriedigendes Ergebnis mit den gebräuchlichen Mitteln der juristischen Problemlösungstechnik nicht oder nicht ohne weiteres erreichbar erscheint. In solchen Fällen spielt der Praktikabilitätseffekt der Entscheidung eine besondere Rolle. Mit ihm verbindet sich oft das Gefühl und die Überzeugung, gerecht entschieden zu haben, auch wenn sich später einmal Zweifel unter der Einwirkung dissonanter Informationen ergeben sollten. In diesen Bereich einzuordnen sind auch die Fälle, in denen das Rechtsempfinden die kodifizierte gesetzliche Regelung trotz Aus48 Ebd., S. 126 f.; vgl. auch R. Weimar, Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung, in: Richteramt und Rechtsfindung, Bad Boll 1970, S. 23 ff. 49 Vgl. dazu R. Jakob, Das Evidenzerlebnis in der Arbeit des Juristen, in: E. Mock / E. Jakob (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung, Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 55 f. 50 Vgl. zum Rechtsgefühl eingehend H. Dettenborn, Zur Bedeutung einzelner Strukturbestandteile des Rechtsbewußtseins der Persönlichkeit im rechtlichen Wirkungsprozeß, in: K. A. Mollnau (Leitung und Gesamtbearbeitung), Objektive Gesetze – Recht – Handeln, Hrsg.: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR, (Ost-)Berlin 1979, S. 239 ff. (258 f.).

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legung für nicht erträglich hält und als „Rechtfertigung“ für die zu treffende Entscheidung nicht zu akzeptieren vermag. Der Richter weicht hier in eine praeteroder contra-legem-Entscheidung aus. Die richterliche Innovation51 entspringt dabei einem zum Gerechtigkeitsmotiv spezifizierten Ordnungsbedürfnis, nach welchem alles seinen „richtigen Platz“ haben muss. Dazu kann eine Umorientierung im Wertbereich gehören, wenn die Herstellung von Ordnung (im Sinne von Neuordnung) dies erfordert. Überzeugung und Lösungsbewusstsein können nicht ausschließlich dem rationalen Bereich zugeordnet werden. Wir haben es hier vielmehr mit teilweise oder überwiegend gefühlsbedingten Erscheinungen zu tun, mit Erlebnisformen der Widerspruchslosigkeit und Praktikabilität von eminent vitaler Bedeutung. Ein rational gefundener Zusammenhang zwischen dem Moment, das real den Ausschlag gibt, und dem Endergebnis kann, aber muss nicht ohne weiteres gegeben sein. Erinnert sei nur an die geradezu typische Situation, dass man sich bereits einstweilen entscheidet, längst bevor man die erfassbaren Alternativen alle gewürdigt hat. Im Übrigen umgreift die rationale Seite der in Betracht kommenden Entscheidungsprinzipien oft nicht hinreichend den offenen und ungelösten Rest der Entscheidung, der sich nicht glatt durch das Gesetz und die juristische Methode dividieren lässt. Gemeint sind die Fälle, in denen die richterliche Entscheidung nicht eine bloß periphere, sondern „existentielle“ Entscheidung (K. Zweigert) ist, die nicht auf dem gesicherten Boden rationaler Regeln, sondern nur „mit Zittern und Zagen“ geleistet werden kann. Hier wird sehr deutlich, dass solches Entscheidungsverhalten mehr ist als ein Vorgang bloßer intellektueller Argumentation, dass es sich auch nicht handelt um ein bloßes Vorziehen oder Beiseiteschieben von Aspekten, sondern dass es letztlich um das zentrale personale Geschehen dessen geht, der die Entscheidung verantwortet.

VII. Der regeltheoretische Ansatz: Erklärung Ordnung stiftenden Rechtsgefühls? Der regeltheoretische (kybernetische) Ansatz strebt an, Wirkungszusammenhänge im physikalisch-technischen, im biologischen, im sozialen, im psychologischen Bereich und auf anderen Gebieten aus einem gemeinsamen theoretischen Konzept, dem Regelkreismodell, zu erklären. Da er mit seinem fast universellen Geltungsanspruch rechtspsychologische Vorgänge in die Erklärungsbemühungen einbezieht, liegt es nahe, im Regelkreismodell eine wichtige Grundlage für ein übergreifendes Verständnis auch des Rechtsgefühls und des von ihm bestimmten Entscheidungsverhaltens zu suchen. 51 Vgl. allgemein R. Svensson, Konkretisierung von Rechtsnormen, (Ost-)Berlin 1982, insbes. S. 48 ff.; R. Weimar, Der Bedeutungswandel des Gesetzes, Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 241 ff.

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Ein Ansatzpunkt zur Anwendung kybernetischer Vorstellungen auf das entscheidungsgerichtete Rechtsgefühl ergibt sich aus der vereinfachenden Annahme, dieses Rechtsgefühl entspreche weitgehend der Wirkungsweise eines Regelsystems. Am Ausgang steht nach dieser Betrachtungsweise eine Störung des Systems, die als Abweichung von einem vorgegebenen Sollzustand (Entspannung, Gleichgewicht) zu verstehen ist. In der Ausgleichsphase setzen antagonistische Tendenzen ein, die auf die Beseitigung der Störung abzielen. Es soll dadurch die Störgröße eliminiert und der Istwert (Regelgröße) an den Sollwert (Führungsgröße) angeglichen werden. Der abschließenden Entscheidung kommt damit eine homöostatische Funktion zu. Ihre Ordnungs- und Restabilisierungstendenz hat die relative Konstanz der Funktionen des Rechtsgefühls auf dem gleichen oder einem anderen Niveau zu sichern bzw. wiederherzustellen. Ein anderes Grundmerkmal des Regelgeschehens ist die Selbsttätigkeit. Die Störung der Ausgangslage ruft Tendenzen zur Restitution des beeinträchtigten Zukunftsbezugs durch Rückmeldung des Störeffekts an den Messfühler und durch die Auslösung der antagonistischen Impulse im Stellwerk hervor. Die Selbsttätigkeit besteht darin, dass die vom System abhängige Größe durch das kontrollierende Messinstrument die Energiezufuhr regulieren kann. Es sind also keine systemfremden Einflüsse, keine Fremdregulierungen oder Steuerungen im Sinne der Regeltechnik erforderlich, um die Störung zu beseitigen. In einem Regelkreissystem werden durch einen Regler Steuerungsimpulse ausgelöst, die zu ausgleichenden Aktionen und letztlich zur Aufhebung der Regelabweichung führen. Bei der durch das Rechtsgefühl hergestellten Entscheidung geschieht das durch den Einsatz des Informations- und Reaktionspotentials; es stellen sich Erlebnis- und Verhaltensimpulse ein, die auf Beseitigung der Unorientiertheit in der multivalenten Situation, auf Normalisierung des gestörten Zukunftsbezugs und damit auf ein relatives Gleichgewicht im System hinstreben. Die kybernetische Auffassung des Entscheidungsgeschehens scheint den psychologischen Fakten im Grundprinzip zu entsprechen. Das Modell ist jedoch in mancher Hinsicht auf ungeklärte Hypothesen aufgebaut. Außerdem bleibt die allgemeine regeltheoretische Interpretation an wichtigen Stellen noch ziemlich unbestimmt. Das gilt vor allem für so zentrale Systemglieder wie den Messfühler und den Regler. Die wesentlichen Merkmale und Bedingungen des erkannten psychologischen Sachverhalts müssen aber hinreichend erfasst werden, soll nicht das Modell nur eine vage Analogie bleiben, die den tatsächlichen Erscheinungen nicht genügend gerecht wird. Für die Fruchtbarkeit des kybernetischen Erklärungsansatzes ist letztlich entscheidend, ob mit seiner Hilfe die psychologischen Eigentümlichkeiten hinreichend und angemessen dargestellt werden. Es steht zunächst fest, dass der phänomenale Eigengehalt des Rechtsgefühls und der Herbeiführung der Entscheidung im Regelkreismodell nicht „abbildbar“ ist. Es werden lediglich gewisse formalisierbare Seiten sichtbar gemacht. Die grundsätzliche Erlebnisweise der im Rechtsgefühl und bei der Entscheidung auftretenden

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psychischen Erscheinungen ist regeltheoretisch nicht zu erfassen. So müsste das Phänomen der Unorientiertheit als Systemstörung beschrieben werden; damit ist nur ein formeller Aspekt der Funktionswirkung, nicht aber das qualitative Sosein erfasst. Entsprechend geht die Aktivierung des Informationspotentials und das Streben nach einem befriedigenden Abschluss nur in ziemlich denaturierter Form in das Regelkreismodell ein. Die Erhaltung der Ordnung in der Umwelt, auf deren Störung das Rechtsgefühl reagiert und um die es in der Entscheidung geht, ist nicht identisch mit der Erhaltung eines Systemgleichgewichts. Außerdem sind dynamisch-energetische Zusammenhänge kybernetisch von relativ untergeordneter Bedeutung. Die spezifische Erlebnisweise des Zukunftsbezugs in der Form einer wieder erreichten Ordnung ist nicht gleichbedeutend mit einem indifferenten Systemgleichgewicht, in dem Soll- und Istwerte sich decken. Damit, ist zugleich schon mitgegeben, dass die individuelle Erfahrungsweise mit den Mitteln der Regeltheorie nicht dargestellt wird. Ebenso muss die spezifische Qualität, welche die Ausgangs- und Ausgleichsphase für das Individuum bedeutungsmäßig haben kann, durch den Raster der Systemstruktur hindurch fallen. Gewiss ist bei jedem formalisierten Erklärungsmodell zu konzedieren, dass es von den konkreten Gegebenheiten abstrahieren muss. Es kann aber nicht übersehen werden, dass die kybernetische Perspektive selbst zentrale phänomenale Merkmale nicht erfassen kann. Insbesondere. kann nichts darüber ausgesagt werden, wie lange das System im einzelnen Fall benötigen wird, um zur Stabilität zu finden.52 Hierin liegt ein wichtiger Unterschied gegenüber biologischen Vorgängen, der auch auf die psychologischen Prozesse des Rechtsgefühls und des Entscheidungsverhaltens zutreffen dürfte. Will ein regeltheoretisches Modell tatsächlich innere Erfahrung beim Menschen berücksichtigen, darf es auch die Tatsache der Verschiebbarkeit der Grenzen im Verhältnis „Mensch – Außenwelt“ nicht ausklammern. Es müsste so konstruiert sein, dass es kein festes Gegenüber von Subjekt und Welt gäbe, sondern das je nach Blickrichtung das Subjekt auch auf der Objektseite und Teile der Objektseite auch auf der Subjektseite erscheinen könnten.53 Eine gewisse methodische und eine begrenzte materiale Fruchtbarkeit der kybernetischen Richtung ist jedoch unbestreitbar. Der unaufhebbare, auf diese Weise nicht lösbare Rest ist aber so umfangreich, dass diese Konzeption allein nicht zur 52 Dazu näher W. Wieser, Organismen, Strukturen, Maschinen, Frankfurt am Main 1959, S. 82. 53 So E. Oldemeyer, Überlegungen zum phänomenologisch-philosophischen und kybernetischen Bewußtseinsbegriff, in: K. Steinbuch / S. Moser (Hrsg.), Philosophie und Kybernetik, München 1970, S. 79 ff. (88).

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Erkenntnis des totalen Entscheidungsvorgangs unter Rechtsgefühl ausreicht. Sie fordert umfangreichere Ergänzungen durch Arbeitsweisen, die phänomenale Gesichtspunkte des Prozesses ausreichend berücksichtigen.54

54 Zu phänomenalen Gesichtspunkten des Entscheidungsprozesses vgl. etwa R. Weimar, Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung, in: Mock / Jakob (Hrsg.), Auslegung (FN 49), S. 81 ff.; vgl. auch R. Jakob, Über Rechtspsychologie. Marginalien zu einer empirisch orientierten Strömung im Bereich des Gerechtigkeitsdenkens, in: I. Tammelo / A. Aarnio (Hrsg.), Zum Fortschrift von Theorie und Technik in Recht und Ethik. Rechtstheorie, Beiheft 3, Berlin 1981, S. 271 ff. (277 f.).

Psychologische Dimensionen juristischen Subsumierens* Im Ausgang des 20. Jahrhunderts stehen der Funktionswandel des Gesetzes und die Kritik der formalen Rationalität des Gesetzes im Zentrum der Diskussion um die juristische Entscheidung. Die Krise der gesetzespositivistischen Doktrin, nach der sich die Funktion der Rechtspflege in der Anwendung des Gesetzes und damit in seiner subsumtiven „Vollziehung“ erschöpft, ist jedoch keineswegs neu. Zu offenkundig sind seit langem die Phänomene innovativer richterlicher, anwaltlicher und akademischer Rechtsschöpfungen, die sich nicht als kognitive Subsumtionen von Sachverhalten unter gesetzlich normierte Tatbestände erfassen lassen. Wenn – wie es den Anschein hat – das Gesetz in seiner abstrakt-generellen Ausprägung gar nicht als „echter Rechtssatz“ fungiert, weil es seinen Operateuren einen – mit der Anwendungsdoktrin nicht verträglichen, durch sie auch nicht eliminierbaren – eigenen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum gibt, wird der Umgang mit dem Gesetz kreativ. – Selbst ein durch großzügige Zulassung von volitiv gesteuerten Auslegungsleistungen bereits „verflüssigtes“ Anwendungsmodell scheint dann weiter in Bewegung zu geraten und durch einen set final verschiebbarer „Bedarfsgesichtspunkte“ zum RechtsfortschreibungsModell umgestaltet zu werden. Diesem Modell entspricht keine kodifizierte Programmstruktur „von obern“ mehr, ihm ist ein „Anschlusszwang“ im Sinne eines Gebots zur Internalisierung der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschrieben, die sich in einer Renaissance freirechtlichen Rechtsverständnisses zu spezifizieren scheint.

I. Gesetzesanwendung als Subsumtion Legislative Kodifikationen schreiben mehr oder weniger exakt vor, nach welchen Normen Fälle juristisch erfasst werden und zu entscheiden sind. Die Gesetze „binden“ nach diesem Verständnis den Anwender. In welcher Weise sich jedoch die Bindung verstehen lässt, ist ein ungelöstes Problem. Der Streit geht darum, ob die Rechtsnorm eine Determination des juristischen Subsumierens zu leisten vermag. Angesprochen ist damit vor allem die Funktion, die Kodifikationen insbesondere für richterliches und anwaltliches Handeln generell haben. * Erstveröffentlichung in: R. Jakob / M. Usteri / R. Weimar (Hrsg.), Psyche – Recht – Gesellschaft. Widmungsschrift für Manfred Rehbinder. 1995, S. 169 –183. Bern: Stämpfli – München: C. H. Beck. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 1.

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Nur wer der – naiven – Vorstellung noch folgt, Juristen leiteten ihre Entscheidungen oder ihr beratendes Handeln „aus dem Gesetz“ ab, sie „subsumierten“ den Fall unter die lex scripta, kann in der Kodifikation die alleinige Quelle der Entscheidung und Rechtsberatung sehen: Juristische Befunde sind „richtig“ dann und nur dann, wenn der Jurist den Inhalt der Norm ohne Weglassen und Hinzufügen inhaltlicher Komponenten exakt auf den zu beurteilenden Fall transferiert. Allein die Kodifikation verbürgt hiernach die Richtigkeit der Falllösung. Sie fordert nichts anderes, als den Inhalt des Gesetzes auf den zu beurteilenden Fall hin zu konkretisieren – Deduktion und juristischer Syllogismus haben dann nur die Funktion, die Regeln des Transfers zu gewährleisten. Das Ideal der Rechtssicherheit scheint hier erreicht: Die allgemeine Norm verbindet die Lösung einer Vielzahl von Fällen zu einer gleichmäßigen und einheitlichen Rechtspraxis. Die einzelnen Falllösungen gelten als prognostizierbar, weil sie ja aus der vorab formulierten Rechtsnorm kommen. Sie sind im Gesetz gleichsam „ablesbar“ gegeben oder vorgegeben. Die Bindung an das Gesetz ist damit vorausgesetzt und zwingend. Dass die Falllösung eindeutig aus der kodifizierten Norm folgt, ist eine inzwischen jedoch weitgehend überwundene Vorstellung. Sie ist der Erkenntnis gewichen, dass der Richter, auch die Verwaltungsbehörde, auch der Anwalt das Recht – selbständig – fortschreiben. Die Funktion der Kodifikation rückt damit in ein neues Licht; sie ist komplexer geworden. Gerade wenn man die Aufgabe der Rechtspflege nicht in der bloßen, wenn auch durch Auslegungsleistungen flankierten Gesetzesanwendung sieht, kann das gewandelte Verständnis der Funktion von Kodifikationen nicht beiseite gelassen werden. Es ist neu zu klären und zu erklären. Das Spektrum von der – hoffnungslos – optimistischen Einschätzung, der Richter oder Anwalt finde die Beurteilungsprämissen für den konkreten Fall im Gesetz vollständig und eindeutig geregelt, bis hin zu der provokanten These, der Entscheider oder Berater solle das Gesetz hinter sich lassen und nach seinem Rechtsgefühl oder nach den Interessen der Betroffenen so vorgehen, wie er sie sieht, ist vielfältig. Allen diesen Auffassungen aber ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis von Gesetz und juristischer Falllösung thematisieren; alle haben es irgendwie mit der Rettung dieser beiden Kategorien und – letztlich – mit der Relativität ihrer Autonomie zu tun. Die Erkenntnis, dass das Gesetz das Fall lösende Verhalten nicht vollständig determinieren kann, belässt es bei der Dominanz der Kodifikation. Während hier zugestanden wird, dass Gesetzesworte nicht immer eindeutige Anweisungen geben, dass sie „porös“ oder „vage“ sind, werden aber zugleich neue Verteidigungslinien markiert: „Grenze der Auslegung“ sei etwa der „Wortlaut“ oder die „natürliche Wortbedeutung“ der Gesetzesbegriffe. Auch wird zwischen einem (harten, eindeutigen) „Begriffskern“ und einem (vagen, auslegungsbedürftigen) „Begriffshof“ unterschieden; bei ersterem könne man jedenfalls auf die determinierende Kraft der Kodifikation bauen (Heck, Larenz). Den nicht klaren Wortlaut des Gesetzes habe der Jurist in einer Weise zu vervollständigen, wie es der Gesetzgeber bei Kenntnis des Falles vermutlich selbst getan hätte.

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II. Zweifel an der legislativen Determination Gesetze werden oft nur scheinbar als programmierende Faktoren, richterliche Urteile immer weniger als gesetzlich programmierte Entscheidungen betrachtet. Die Situation des Juristen allgemein ist nicht durch eine in typischer Weise konditionalprogrammierte Entscheidungsaufgabe gekennzeichnet, in der Zwecke keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil, der juristischen Entscheidung liegt faktisch nur selten noch die Form eines „Wenn-dann“-Programms zugrunde, bei dem es festzustellen gilt, ob die „Wenn“-Bedingungen gegeben sind, die zur Auslösung der „Dann“-Folge führen. Ein Konditionalprogramm soll eine Entlastung von der Folgenverantwortung bewirken: die erwarteten Ergebnisse müssen sich dann aber einigermaßen zuverlässig einstellen. Die Rechtsprechung kalkuliert jedoch zunehmend die Wirkung ihres Handelns auch dann, wenn die Bedingungen ihres Handelns definiert sind. Sie berücksichtigt den Zweck und die Funktion der Norm. Entgegen der verbreiteten juristischen Gesetzesanwendungsdoktrin ist die Einstufung von Gesetzen als „Konditionalprogramme“, die ohne genau beschriebene Zahl von Denkschritten die „richtige“ Entscheidung angeblich immer schon sicherstellen, rechtspsychologisch nicht realistisch (dazu unten VI.). Die Konditionalprogrammthese setzt nämlich voraus, dass Rechtsbegriffe bereits operationalisiert sind. Im Gesetz erfolgt eine Operationalisierung jedoch nur ausnahmsweise; eine solche wird fast nie durch die juristische Dogmatik erreicht, die auch gegensätzliche Operationalisierungen nicht ausschließen kann. Ein Gesetz als „Konditionalprogramm“ müsste alle Bedingungen, Situationen und Ziele seiner Anwendung selbst enthalten oder wenigstens deduzierbar bereithalten; dies ist nicht der Fall. Die Auslegungsbedürftigkeit der Gesetze zeigt, dass die Struktur eines Konditionalprogramms nicht den Normaltyp des Gesetzes abbildet. Wo Auslegung stattfindet, kann von einem Konditionalprogramm nicht die Rede sein. Das Bindungspostulat garantiert nicht die objektive Eindeutigkeit gesetzlicher Regelungsgehalte, die Operateure haben vielmehr mit einer „weiten Divergenzspanne subjektiver Mehrdeutigkeit“ (Rupp, 1973, 1773) zu kämpfen. Auf der anderen Seite kann sich die Bindung an das Gesetz in der Person des Entscheiders oder Beraters natürlich als Steuerungselement erweisen. Dabei stellt das Begründungspotential eine Verbindung zwischen Entscheidung / Beratung und Gesetz her. Mit Hilfe plausibler Argumente kann auf diesem Wege eine rationale Zuordnung zwischen Norm und Situation stattfinden. Die sich im Verlauf der subsumtiven Zuordnungsschritte ergebenden möglichen Mehrdeutigkeiten sind auch im Blickfeld eines um Einzelfallgerechtigkeit bemühten Gesetzgebers zu sehen. Der hat mit Grund abstrakt-generelle Regelungen geschaffen, die Öffnungen enthalten, um der Lösung des Einzelfalls möglichst keine Hindernisse in den Weg zu stellen. Im gewaltengeteilten demokratischen Rechtsstaat kann das Gesetz selbst nicht „den Ehrgeiz haben, einen Kanon antizipierter Einzelfallrezepte zu geben“ (Rupp, 1973, 1774). Der Jurist handelt hier als Umschaltstelle des Gesetzes, die es ermöglichen soll, eine auf den Einzelfall bezogene Lösung herbeizuführen.

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Die Formulierungen von Normsätzen sind dabei durch auslegungsfähige oder auslegungsbedürftige Begriffe gekennzeichnet, was sich nicht nur bei Allgemeinbegriffen ohne Legaldefinition wie „öffentliche Ordnung“, „ruhestörender Lärm“ usw. zeigt, sondern auch schon im Rahmen der im Gesetz an- aber nicht ausdefinierten Begriffe wie „Sache“, „Irrtum“, „Fahrlässigkeit“ usw. Beispiele für angeblich ausschließlich konditionalprogrammierte Normsätze existieren nicht, weil ihre unterstellte rechtssemantische Eindeutigkeit nicht besteht. Da diese Bedingungen im Wesentlichen nur bei nichtsemantischen Problemen erfüllt sind, ordnet der Richter wie auch der Anwalt grundsätzlich den empirischen Sachverhalt den jeweiligen Kriterien einer Norm zu, die die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale darstellen. Als programmierende Normsätze können dabei lediglich solche Regelungen aufgefasst werden, die hinsichtlich künftig auftretender Sachverhalte über eine vorab eindeutige Struktur verfügen und jeweils bestimmte Rechtsfolgen auslösen. Der Richter trifft in der Praxis die endgültige Entscheidung darüber, ob die Kriterien des Normsatzes im jeweiligen Fall angemessen sind. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber faktisch kein Rechtssetzungsmonopol im Sinne absoluter Programmierung juristischer Entscheidungen besitzt. Ihm bleibt nur ein dominanter allgemeiner Vorrang bei der Rechtssetzung. Daher sind letztlich weder im Rahmen des positivistischen Gesetzesbegriffs noch im Rahmen des Konditionalprogramms Anwender-Bewertungsakte und damit rechtsfortbildende Momente im Subsumtionsprozess zu vermeiden. Die Herbeiführung logisch eindeutig gewonnener Subsumtionsergebnisse kann nicht gewährleistet werden. Herstellbar sind allein fachlich akzeptier- bare Problemlösungen. Im Übrigen ist die juristische Subsumtionsarbeit weitgehend durch die „hinter“ den Entscheidungskriterien stehenden verborgenen rechtssemantischen Operationen bestimmt. Solange die Rechtssprache nicht zu einer „Wissenschaftssprache“ ausgebildet, sondern dogmatisierte Umgangssprache ist, bleibt ihre Eindeutigkeit nur vorgetäuscht. Die angeblich „einzig richtige“ Entscheidung, die nur „erkannt“ und „festgestellt“ zu werden braucht, gibt es bei der Auslegung von Normsätzen nicht. Die These von einer strikten konditionalen Programmierung juristischen Subsumierens und damit der juristischen Entscheidungen selbst geht daher an der realen Anwendersituation vorbei.

III. Unbegrenztheit des Anwendersyllogismus? Die Schwierigkeiten, mit denen es die als programmiert gedachte Gesetzesanwendung zu tun hat, verstärken sich noch bei der die subsumtive „Anwendung“ des Gesetzes abschließenden Folgerung. Problematisch ist hier das Verhältnis der Herstellung des Obersatzes zur Herstellung des Untersatzes, wobei der Verdacht, dass dabei eine Technik zur Verschleierung der eigentlichen Schwierigkeiten praktiziert wird, oft nahe liegt. Es ist höchst fraglich, ob der Anwendersyllogismus ein Modell darstellt, das den real verlaufenden juristischen Schluss hinreichend abbil-

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det. Hier wird genügender Aufschluss weder über eine Zerlegung des jeweiligen juristischen Problems in logisch aufeinander folgende Denkschritte noch über die zweckgerichtete Umsetzung vorhandener Informationen gegeben. Denn dies würde ein Lösungsschema voraussetzen, das ein Vorgehen im Sinne des axiomatischen Lösungskalküls vorsieht. Das juristische Subsumtionsmodell basiert zumindest auf der unausdrücklichen Annahme eines axiomatischen Systems und unterstellt damit, dass Aussagen mit Hilfe tautologischer Umformungen der Axiome möglich sind. Daraus resultiert aber praktisch eine nahezu unbegrenzte semantische Fungibilität und damit eine Vorstrukturierung, die das spätere Entscheidungsoder Beratungsergebnis determiniert. Das juristische Subsumtionsmodell schließt eine Zieldiskussion aus, die Ziele werden als festliegend unterstellt. Die im Subsumtionsmodell fehlende Operationalisierung der Zielfestlegung wird der Normanwender womöglich ausgleichen durch Offenlegen von Strukturen, Kriterien und Argumentationsweisen, die er verwendet. Die im Anwendersyllogismus liegende Gefahr der kaum begrenzten Bewertungsfähigkeit der Prämissen ist damit evident. Der Obersatz als Rechtssatz und der Sachverhalt, der Untersatz, können durch semantische Umformungen so lange verändert werden, bis beide einander „angeglichen“ sind. Im Zuge der dadurch erreichten „Identitätsherstellung“ drängen sich wünschbare Schlüsse gewissermaßen auf. Eine Vorgehensweise dieser Art ist kein analytischer Denk-, Beratungs- oder Entscheidungsprozess, sie kann allenfalls im Sinne hermeneutischer Verstehensprozesse erfasst werden. Man muss sich daher wundern, wie bei diesem Aktionsspektrum der Anwendersyllogismus das rechtsstaatliche System soll garantieren können. Wenn auch einige Kriterien für die Normtextbearbeitung existieren, jedenfalls sind sie uneindeutig und nicht kontrollfähig. Die juristische Textbehandlung behält damit über weite Strecken ihren black-box-Charakter. Im Anwendersyllogismus ist damit ein faktischer Beurteilungsspielraum nicht nur nicht auszuschließen, er ist auch vorhanden und wird genutzt. Auch der hier zu erwähnende Ansatz von Koch und Rossmann (1982), die ein nicht-axiomatisches Deduktionsmodell juristischer Entscheidungsbegründung vorgestellt haben, vermag die „Kluft“ zwischen abstraktem Tatbestand und konkretem Sachverhalt im Deduktionsmodell nicht zu überwinden. Die traditionelle Syllogistik wird hier mit den Mitteln der Junktoren-, Quantoren- und deontischen Logik erweitert, jedoch geht dies nur um den Preis einer „Rückübersetzung“ der Formalisierung in die Juristensprache. Und Schapp (1983) schließlich ersetzt das Subsumtionsmodell schlechtweg durch das „Gespräch“ zwischen dem Richter und dem Gesetzgeber als „stillem“ Partner. Die Unterhaltung soll darüber geführt werden, ob die richterliche „Einreihung“ des Falles durch die gesetzgeberische Entscheidung überzeugend begründbar ist. Rechtsfindung im Dialogmodell führt jedoch über das Subsumtionsmodell nicht entscheidend hinaus. Das dialogische Konzept erscheint auch wegen seines fiktiven Charakters nicht praktikabel.

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IV. Überwindung des herkömmlichen juristischen Subsumtionsmodells Das Subsumtionsmodell beschreibt nicht den juristischen Entscheidungsprozess in seinem tatsächlichen Verlauf. Vor allem versagt es vor dem Phänomen der Gesellschaft gestaltenden richterlichen Innovation. Erst recht ist das Subsumtionsmodell kein psychologisches Erklärungsmodell. Sinnvoll lässt es sich allein „Dormativ“ interpretieren. Wollte man dem Modell darüber hinaus eine deskriptivanalytische Funktion zuschreiben, müsste man unter Ausklammerung des entscheidungs- und beratungsrelevanten Vorverständnisses einen in jeder Hinsicht rational entscheidenden / beratenden und nur am Bestand der positiven Rechtsnormen (als vollständiger Prämisse) orientierten Rechtsanwender hypostasieren. Das liefe auf einen Reduktionismus hinaus, der das Modell von vornherein als extrem realitätsfern erscheinen lassen würde. Zur Erklärung von Subsumtionsprozessen ist es aber von erheblicher Bedeutung, in welcher Weise kognitive Vorgänge und andere Phänomene im Ablauf des Prozesses auftreten und wie diese die einzelnen Phasen der Subsumtion bis zum Ergebnis steuern. Viehweg (1974) hat überzeugend aufgezeigt, dass in der praktischen Rechtsanwendung vom „logischen Rechtssystem“ nicht viel geblieben sei; wo man hinsehe, treffe man die Topik, das Problemdenken, die Kategorie des Deduktivsystems erscheine ziemlich unangemessen, ja fast nur als „Sichtbehinderung“: sie versperre den Blick auf die „tatsächliche Struktur“, d. h. auf die Rechtspraxis, deren Eigenart es sei, dass die juristische Subsumtion zwar eine nicht unbedeutende Rolle spiele, aber als Begründung aus dem Rechtssystem nicht dasjenige Gewicht besitze, das ihr bei Vorliegen eines perfekten Systems unbestreitbar zukäme. Den Schwerpunkt der richterlichen und ebenso der anwaltlichen Operationen bildet also nur scheinbar überwiegend die Deduktion aus dem Rechtssystem, er liegt ganz offensichtlich – wie Viehweg genannt hat – in der Invention und damit mehr oder weniger unausdrücklich in einer vom praktischen „Ergebnisdenken“ bestimmten Rechtsfindung. Dies bedeutet, dass die richterliche und anwaltliche Praxis nur streckenweise sich in subsumtiv-deduktivistischen Problemlösungsprozessen vollzieht, dass sie vielmehr wegen der Offenheit des Rechtssystems und der daraus resultierenden Ungewissheitssituationen überwiegend echten, materialen Entscheidungs- bzw. Beratungscharakter und nicht bloßen Feststellungscharakter hat. In der Gegenwart hat sich die richterliche Rechtsfindung aus ihren positivistischen Zwängen teilweise schon gelöst. Im Bereich des Zivilrechts ist dies ebenso feststellbar wie im Verwaltungs- und Verfassungsrecht. Zwar scheint nach wie vor die Menge der möglichen Lösungen in jedem Fall begrenzt zu sein, aber dieses Quantum ist fast nie nur zu einer einzigen Lösung oder Lösungsmöglichkeit reduziert. Man stellt fest, dass selbst weitgehend positivistisch gebundene Rechtslagen einen gewissen Lösungsspielraum beinhalten, in welchem Richter und Anwälte eine der möglichen Lösungen suchen. Immer häufiger hält man es für geboten, die vom Gesetz bereitgehaltene Regelung – auch um den Preis maximaler Rechts-

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sicherheit – im Wege richterlicher und anwaltlicher Rechtsgestaltung zu modifizieren, bei fehlender oder unzureichender Normierung überhaupt erst zu schaffen. Aber die am Bindungsdenken orientierte Fallentscheidung dominiert nach wie vor, die überkommenen Auslegungsideologien der Jahrhundertwende sind noch keineswegs überwunden. Andererseits ist festzustellen, dass eine Art „Regelskeptizismus“ in der deutschen Rechtspraxis an Boden zu gewinnen scheint: Das Gesetz ist nur ein Lösungsvorschlag – und oft nicht eben der beste. Selbst etwa bei Engisch (1963, 22) findet man schon folgende, für manche Juristen anscheinend noch untriviale Sätze: „Die Persönlichkeit läßt sich bei einer rechtlichen Entscheidung als mitentscheidende Instanz nie ausschalten. Sie geht in die Entscheidung ein und trägt sie“. Ähnlich formuliert Suhr (1980, 255): „Wer richterliche Erneuerungsprozesse in Theorie fassen will, darf den Richter nicht in theoretischer Subjektvergessenheit untergehen lassen. Ein wichtiger Flaschenhals sämtlicher richterlicher Rechtserneuerungsprozesse im großen wie im kleinen ist nun einmal der Richter selbst“. Nach Suhr kommt es auf die Momente und Strukturen an, die den Richter motivieren, die eingefahrenen Gleise der Dogmatik zu verlassen. Diese inneren Strukturen und Antriebe könnten nicht angemessen erfasst werden, wenn man sich auf einen „offenen oder versteckten psychologischen Reduktionismus“ einlasse, wie auch ein soziologischer oder ein „unpsychologischer entscheidungstheoretischer Reduktionismus“ sich einseitig auswirken müsse.

V. Normsuche und Sachverhaltsermittlung: Wechselwirkungen Betrachtet man in der richterlichen und anwaltlichen Arbeit die Tatsachenfeststellung einerseits und die konkrete Rechtssatzermittlung andererseits, so findet man, dass diese beiden Geschehensreihen so aufeinander hingeordnet sind, dass in der richterlichen / anwaltlichen Sichtweise die eine nicht ohne die andere aktualisiert wird. Das bedeutet: Tatsachen werden im Hinblick auf Rechtssätze ermittelt, Rechtssätze ihrerseits sind nur im Hinblick auf Tatsachen entscheidungs- und beratungsbezogen auffindbar. Man hat diese Wechselwirkung funktionell darin erblickt, dass in diesem „Hin- und Herwandern des Blickes“ (Engisch) der ermittelte Sachverhalt und diejenigen Rechtssätze, die bei erster Betrachtung, auch im Blick auf ein eventuell wünschbares Ergebnis, möglicherweise anwendbar sind, einander so weit angenähert werden, bis die rechtliche Beurteilung gelingt. Allerdings ist dabei noch ausgeklammert, was der Richter oder Anwalt von sich aus zum Fortgang der Tatsachenermittlung beitragen muss, wenn so etwas wie ein „Sachverhalt“ überhaupt zustande kommen soll. Die Tatsachenfeststellung ist nämlich nicht nur Wahrnehmung und kategoriale Verarbeitung des Wahrgenommenen. Sie ist von vornherein Wahrnehmung für bestimmte Zwecke, sie ist zugleich Untersuchung. Untersuchung setzt Fragestellung voraus. Denn das Denken wird ge-

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steuert von der Thematik und der Dynamik des dahinter stehenden Fragens und Suchens. Der Richter oder Anwalt muss also, mit anderen Worten, immer schon wissen, was er wissen will. Die rechterheblichen Züge eines Sachverhalts können nur erfragt werden, wenn diese unter dem Blickpunkt der rechtlichen Regelungen gesehen werden. Bereits dabei spielen – vor allem unter dem Gesichtspunkt angestrebter „Subsumtionsgeeignetheit“ – Sinn- und Wertgesichtspunkte eine maßgebende Rolle. Dass z. B. zwei Personen einen Vertrag geschlossen haben, wird auch bei genauester Beschreibung ihres Verhaltens und völliger Einsicht in den Vorgang nicht erfasst, solange an ihn nicht der Vertragsbegriff angesetzt wird. Das Zusammenstoßen von Fahrzeugen kann durch noch so präzise Messungen beschrieben sein, als „Unfall“ ist damit dieses Ereignis noch nicht erfasst. Es liegt hier jeweils ein Geschehen voraus, das nur durch Sinn gebendes und daher nicht wertindifferentes Erfassen als das erkannt werden kann, als was es dann „festgestellt“ wird.

VI. Subsumtionsdruck als Konflikt- und Entscheidungssituation Vergegenwärtigt man sich den Richter oder Anwalt im Zusammenhang mit einem Prozess, dessen Ergebnis – wie in der Praxis nicht selten – über längere Zeit hinweg nicht eindeutig, sondern unklar und in der Lösung zwiespältig erscheint, so lässt sich dieser Zustand als eine „Konfliktsituation“ (nicht notwendig freilich in einem intrapsychischen Sinne) auffassen, in der für relevant gehaltene Tendenzen (Alternativen) von zunächst meist annähernd gleicher Stärke und entgegen gesetzter Richtung auf den Richter / Anwalt einwirken. In solchen Fällen liegt eine Spannungslage vor, in der sich der Richter / Anwalt mehr oder weniger unvereinbaren Bedeutsamkeiten (Wertungen) – der Richter zusätzlich unter spezifischem Entscheidungsdruck – ausgesetzt sieht. Die Anwendung des Konfliktbegriffs setzt hier voraus, dass mehrere Möglichkeiten des Beurteilens im Spiel sind, für deren jede etwas spricht. Der Aufforderungscharakter der Situation, in der Richter und Anwalt im „Subsumtionsprozess“ stehen, ist mehrdimensional; die Rechtslage ist nicht eindeutig, sondern multivalent. Eine solche Mehrdeutigkeit ist gegeben, wenn mehrere entgegengesetzt gerichtete Wertsysteme gleichzeitig wirksam sind, die regelmäßig nur durch die Wahl einer bestimmten Alternative ausgeglichen werden. Man kann hier also sagen, dass sich unter den genannten Annahmen das richterliche / anwaltliche Subsumtionsverhalten in uneindeutigen Fällen darstellt als eine Form des Reagierens auf das gleichzeitige Bestehen oder Anlaufen von mindestens zwei Verhaltenstendenzen, die aus einer wenigstens zweidimensionalen Aufforderungsqualität resultieren. Dieser Aufforderungscharakter ist ein grundlegender Faktor für das Ingangkommen und den weiteren Ablauf der Problemlösung. Mit dem Herankommen der eigentlichen Beurteilungs- und Entscheidungssituation geht grundsätzlich eine bestimmte Belastungsprobe größerer oder geringerer Intensität einher (was wohl jeder verantwortungsbewusst arbeitende Richter / Anwalt

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kennt und bestätigt). Die Problemsituation und ihre rechtliche Mehrdeutigkeit bringen eine für den Subsumtions- und Entscheidungsablauf „störende“ Wirkung mit sich. Aber dieser Prozess ist eingelagert in eine Geschehenstendenz, die auf Ausgleichung gerichtet ist. „Umzentrierungen“ und „Umstrukturierungen“ sind hier anzutreffende Bemühungen, die auf die Herstellung einer „Entstörung“ der Problemlage gerichtet sind (Weimar, 1969). Die Forderung oder der Appell, der in der Ausgangslage entscheidungsgerichteten Subsumierens liegt, geht aus von der dieser Lage zunächst eigenen Unorientiertheit. Der Inhalt dieser Forderung bezieht sich in psychologischer Sicht auf ein Verhalten vom Typus des Suchens, d. h. Klärung im Sinne von Situationsvereindeutigung. Dazu sind Information und Orientierung erforderlich (Sanders, 1971). Orientierung meint dabei nicht nur einen intellektuellen Vorgang, sondern zugleich „Stimmigkeit“ in den Beziehungen zwischen Verhalten und Situation: Herstellung einer Einheit zwischen Persönlichkeit und Umwelt als konstituierendes Element der Rechtsfindung, die die grundsätzlich bestehende Richtungsmehrheit der möglichen Situationsbeurteilungen aufhebt und zur Situationseindeutigkeit führt. Dabei handelt es sich um einen komplexen Regulierungsprozess. Regulierung bedeutet hier eine ganze Skala von Umstrukturierungsvorgängen: Man denke an das dem Juristen geläufige, fast automatisch sich ereignende Vorprellen und Eröffnen einer rechtlichen Einstiegsmöglichkeit, also an den gleichsam ersten Lösungszugang (z. B. Heranziehung einer Anspruchsgrundlage, eines Prüfungsmaßstabs). Man denke auch – sehr vereinfacht – an diejenigen nicht selten über zahlreiche „Umwege“ geführten – subsumtiven Bemühungen, die die Vereindeutigung der rechtlichen Problemsituation schließlich so nahe bringen, dass sich abschließend sagen lässt: „. . . nach alledem ergibt sich, dass . . .usw.“ Seinen Ausgang nimmt ein solches Problemlösungsverhalten jedenfalls von der Tatsache, dass die Gegebenheiten der rechtlichen Problemsituation zunächst nicht recht zueinander passen, dass störende Momente den Durchblick auf die Lösung verstellen, wodurch konfliktpsychologisch die gesamte Situation den Charakter des typisch Ungeschlossenen und Unausgeglichenen erhalten kann (Weimar, 1969). Der anzustrebende Zustand rechtlich optimaler Problembewältigung wird über zahlreiche Umformungsoperationen bzw. Umstrukturierungen erreicht, bevor die Endstruktur im Subsumtionsprozess über Etappen solcher Operationen in zahlreichen Mikroschritten erreicht wird. Es handelt sich dabei um ein typisches Merkmal juristischer Problemlösungsprozesse, bei denen es zu derselben Gegebenheit – womöglich – sehr verschiedene Bedeutungsperspektiven gibt (was die hergebrachte juristische Doktrin von der „einzig richtigen“ Falllösung konsequenterweise nur bestreiten kann).

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VII. Ermitteln von Lücken im Gesetz: Bruch mit der Subsumtionsideologie? Die Feststellung einer Lücke innerhalb des positiven Rechts setzt das Erkennen einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ im Gesetz voraus. Voraussetzung ist, dass sich weder nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzes noch nach Gewohnheitsrecht eine Regelung finden lässt, obwohl sich aus der Rechtsordnung als Gesamtheit eine Regelung als erforderlich erweist. Die Lückenfüllung stellt einen Bewertungsvorgang dar, der mit der Subsumtionsideologie in Sinne der Anwendungsdoktrin nicht vereinbar ist. Jedes Lückenproblem lässt sich nämlich auch als Fortschreibungsproblem der legislativen Programmgestaltung auffassen. Die Lösung erfolgt nicht als Normtextbearbeitung aufgrund eindeutiger Kriterien, sondern geht auf einen mehr oder minder umfassenden Wertungsprozess zurück. Hier zeigt sich die Fehleinschätzung der klassisch-liberalen Auffassung der Gesetzesanwendung, die nur unmittelbar dem Gesetz entnommene Problemlösungen als dem Gesetz entsprechend respektiert und deshalb das Lückenproblem nicht bruchfrei lösen kann. VIII. „Fortsetzung der Auslegung“ als Rechtsfortbildung Zu der Frage der richterlichen Fortbildung des Rechts findet sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes schon früh der bemerkenswerte Hinweis: „Die richtige, d. h. dem Rechte gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert“ (BGHZ 3, 308, 315 f.). Zu Recht zweifeln neuere rechtstheoretische Ansätze zunehmend an dem bindungsorientierten Vollzugsparadigma des Gesetzes, das taugliche Kriterien, die eine Überschreitung konventioneller richterlicher Entscheidungsbefugnisse zweifelsfrei markieren könnten, nicht liefert. Die formale Rationalität des Gesetzes erscheint hier durchbrochen. Der Richter wendet in der Tat das Gesetz nicht einfach an, ebenso wenig der Anwalt. Nach allem, was wir über juristisches Arbeiten, seine Implikationen und Voraussetzungen wissen, ist dies wegen der strukturellen Eigenart des Gesetzes auch gar nicht möglich. Tatsache ist allerdings, dass die Rechtsprechung, auch wo sie sich nach eigener Einschätzung nicht exakt an das Gesetz zu halten vermag, vorgibt, sie folge (nur) dem Gesetz. Um dem Bindungspostulat zu genügen, versteckt sie die Abweichung ihres Handelns hinter einer Demonstration von Geschlossenheit und Übereinstimmung mit dem Bindungspostulat. Und Anwälte tun das kaum weniger. Der postulierten Bindung an das Gesetz scheint in der Rechtswirklichkeit eher eine weitgehend „gehorsamsfreie“ Gesetzeshandhabung zu entsprechen. Die Grenzen zwischen „Auslegung“ als mit dem Vollzugsparadigma traditionell verein-

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barer, typischer richterlicher Aufgabenerfüllung und der weitergehenden Rechtsfortschreibung sind fließend. Eine Rechtsfortschreibung trägt – im Gegensatz zu den Auslegungsleistungen – durchweg innovatorische Züge. Die Auslegung verändert die Menge der in der Rechtsnorm enthaltenen Informationen, indem sie z. B. der Norm weitere Sätze hinzufügt und dabei aber an der Normbedeutung orientiert bleibt. Die Rechtsfortschreibung geht über die äußerste noch mögliche Bedeutung der Norm hinaus und schafft neues Recht. Nur im Einzelfall kann beurteilt werden, ob von Auslegen noch die Rede sein kann, ob es sich nicht vielmehr um eine das Gesetz überschreitende richterliche / anwaltliche Eigenschöpfung handelt, die mit Auslegen nichts zu tun hat. Unentbehrlich ist jedenfalls ein selbständig wertendes Stellungnehmen des Rechtsgestalters, wenn er eine eigene Rechtsschöpfung im Sinne einer Fortschreibung des bisherigen Rechts vornimmt. Rechtsfortschreibung beruht weder ausschließlich noch überwiegend auf logischer Deduktion. Die vom Gesetz fixierten Prämissen der Entscheidung werden hier nicht mehr als gegenständliche Begrenzung der juristischen Überlegungen behandelt. Die Rechtsfortschreibung orientiert sich verstärkt an den Bedürfnissen der Rechtswirklichkeit. Die Fortschreibung lässt sich nicht als „Fortsetzung der Auslegung“ adäquat beschreiben. Dass es nicht um Auslegung geht, wird freilich selten offen zugegeben. Man kaschiert die Problemsicht, um das, was wirklich geschieht, zu verbergen oder zu verharmlosen. Bei Rechtssätzen aber, über die der Richter längst „hinausjudiziert“ hat, vollzieht er im Grunde eine erwartete Wirklichkeitsanpassung. Hier geht es also nicht um Rechtsfindung im Zusammenhang mit einem als vorgegeben begriffenen Konditionalprogramm und der Feststellung seines genauen „Sinngehalts“. Die juristische Methodenlehre versagt bislang vor dem Phänomen der Rechtsfortschreibung. Müsste sie – konsequent – dieses Phänomen eigentlich ausklammern, vermag sie es wegen der von der Rechtspraxis ständig „praeter legem“ vollzogenen Innovationen zwar nicht ganz beiseite zu lassen, kann es aber nur – und dies unzutreffend – auf Auslegungsleistungen reduzieren oder notgedrungen damit in Zusammenhang bringen. Die kreative Dimension der juristischen Eigenschöpfungen, um die es bei der Rechtsfortbildung geht, kommt ihr dabei erst gar nicht in den Blick. Dass es unter den Bedingungen der Rechtsfortschreibung noch darum geht, das gegebene Recht nur „anzuwenden“, dass also Richter und Anwälte das vom Gesetzgeber Gewollte angeblich nur „vollziehen“, kann aber unter keinem Gesichtspunkt angenommen werden. Immer dann, wenn aus einem Problem der Lösungsweg ablesbar ist und dieser im Wesentlichen zu einer sicher auffindbaren Lösung führt, kann das Problemlösungsverhalten als konvergentes Denken beschrieben werden (Ulmann, 1968). Ein solches Vorgehen kennzeichnet das Deduzieren in entsprechenden Konstellationen des juristischen Subsumierens. Einen kreativen Prozess kann man demgegenüber in den Rechtsfortschreibungsfällen erkennen, für die Merkmale wie ungewöhnlich, brauchbar, neu, originell kennzeichnend sind. Durch den kreativen Prozess können Schuldgefühle entstehen, weil in ihm allgemein anerkannte Verhaltensweisen – hier etwa Verhalten entsprechend dem klassischen Subsumtions-

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kanon – verneint werden (dazu Wiebe, 1962). In anderer Richtung ist Kreativität als Befriedigung aggressiver Bedürfnisse verstanden worden (McClelland, 1956).

IX. Ausblick Eine Mäßigung aller Rechtspflegeorgane bei der Rechtsfortschreibung erscheint unverzichtbar. Zwar gibt es außer verfassungsrechtlichen Schranken keine anerkannten Regeln für die Rechtsfortschreibung. Die Praxis darf aber ihre Fälle keineswegs nach bloßen ad-hoc-Regeln diskontinuierlich entscheiden. Sie tut das nach aller Erfahrung in dieser Weise auch nicht. Daher liegt die Vermutung nahe, wirksame Bindungselemente seien zwar nicht so sehr im Gesetz, wohl aber im Handeln der Richter und Anwälte selbst enthalten. Richter scheinen sich an ihre Präjudizien zu binden, und Anwälte berücksichtigen Präjudizien bei ihrer Tätigkeit ebenfalls. Der durch die Organe der Rechtspflege bestimmte Charakter der Rechtsentscheidung verdrängt die Diskontinuität, die in jeder Ungebundenheit liegt, indem er die Entscheidungsrealität und die Rationalität des juristischen Handelns auf ein verantwortliches Subjekt der Rechtspflege zurückführt. Nur ist Bindung dann nicht mehr Gesetzesgehorsam, Bindung ist hier Entscheidungsverantwortung. Darin muss kein Nachteil für das Rechtssystem liegen. Denn gerade eine kodifizierte Rechtsordnung, die die richterliche Rechtsfortschreibung – was immer dies nun heißen mag und was als Rechtsänderung oder -erneuerung qua richterliche Entscheidung bezeichnet werden kann – beiseite lässt, läuft Gefahr, ihre soziale Lernfähigkeit zu vermindern oder sogar zu verlieren.

Literatur Engisch, K. (1963): Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken. München: C. H. Beck. Koch, H.-J. / Rüssmann, H. (1982): Juristische Begründungslehre. München: C. H. Beck. McClelland, D. C. (1963): On the psychodynamics of creative physical scientists. In: H. E. Gruber, Contemporary approaches to creative thinking (1963), 141 – 174. Rupp, H. H. (1973): Die Bindung des Richters an das Gesetz. In: Neue Juristische Wochenschrift 1973, 1769 – 1775. Sanders, A. F. (1971): Psychologie der Informationsverarbeitung. Bern: Huber. Schapp, J. (1983): Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre. Tübingen: Mohr. Suhr, D. (1980): Richterliches Selbstverständnis im Hinblick auf Fragen der Rechtserneuerung. In: J. Harenburg / A. Podlech / B. Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung. Darmstadt: Buchgesellschaft. Ulmann, G. (1968): Kreativität. 2. Aufl. Weinheim: Beltz. Vieweg, Th. (1974): Topik und Jurisprudenz. 5. Aufl. München: C. H. Beck.

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Weimar, R. (1969): Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Basel: Helbing & Lichtenhahn. Wiebe, G. (1962): An exploration into the nature of creativity. In: Public Opinion Quarterly 26 (1962), 389 – 397.

Predominant Ecological Conditions as the Basis of Human Happiness* The international community has committed itself to the ideal of sustainable economizing, to an ecologically sound perpetual further development of the economy and of society. Today, environmental protection is a constant factor of governmental policy in virtually the entire world. It is precisely environmental policymaking and environmental regulation that aspire to make a contribution to human well-being, to human happiness. Nonetheless, the relationship between politics, ecology, and happiness in this respect has as yet hardly been the subject of scientific research (cf. Bellebaum et al. 1999). Indeed, there is even a general reluctance to “promote the insight that a sense of right and wrong is strongly connected to our innermost feeling of happiness” (Linke 2000, p. 127).

1. Preliminary Considerations

In nearly all of the highly industrialized nations, environmental management on the part of enterprises has led economical consumption of energy and resources to become taken for granted within the enterprise’s profile. The ecological turn, the pioneer era of environmental protection, is now behind us – at the latest since the United Nations Conference on Environment and Development in Rio de Janeiro in 1992. That conference in Rio was a definite departure from policy-making related to specific, isolated fields and concentrated on the core of the environmental dilemma: on the excessive exploitation of natural resources for the survival of, at present, nearly 6 billion people on this planet who all require for survival food, a roof over their heads, and work – fundamental conditions for being able to live at least somewhat happily. 2. Environmental Policy as Legal Policy: Securing Conditions for Happiness

Environmental protection is a human right, a quintessential right of existence. It is a “constant obligation of the most fundamental importance” (Kloepfer 1999, p. 13). Protecting the natural prerequisites for life is done for the sake of human * Erstveröffentlichung in: M. Rehbinder / M. Usteri (Hrsg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik. 2002, S. 49 – 61. Bern: Stämpfli. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 6.

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beings; ecological efficiency is not an end in itself. Thus, the goal of “sustainable development” alters the familiar paradigms of environmental policy in the direction of peace and development policies, global social policies, and according to guidelines of global ecological standards (climate change, etc.). If, for example, all of the inhabitants of Africa and India were to consume energy and resources at the same level as we do, then 2 or 3 additional planets like our Earth would be required to meet this demand. But we have got only this one Earth for our survival. Particularly with regard to ecological considerations on a global scale, the increasing globalization of economic decision-making processes has led to an increasingly uniform economic world system and value-system, in which there are no longer any national boundaries, overwhelming distances, or protectionist zones of prosperity. Anxieties about the present and future implementation of large-scale technologies, especially concerning the risks involved in the peaceful exploitation of nuclear energy, have spread among large parts of the population. Not only have dissatisfaction and uneasiness increased, but, even more so, a fundamental concern for the future and the impression of living in a world no longer comprehensible, since no longer oriented to human standards. The rapidly merging global community will be concerned with securing an equilibrium between man, technology, economy, and nature. This topic can also, and perhaps at the foremost, be examined with reference to the context expressed in the slogan: “man, environment, human happiness”. Subsumed under the principle of risk reduction, prevention and cooperation, policy-making in environmental rights is a special field of politics based on economic facts and derived from various material constraints (cf. Brandt 2000). Juridical psychology and the methodological study of conditions for human happiness now being developed (Bellebaum 1994, Bellebaum et al. 1999) have, as yet, hardly contributed to the debate on ecological theory, which itself has become more and more extensive in the last 25 years. This situation calls for a change, and this essay would like to mark a starting point. It is evident that the goals of environmental protection must be determined in such a way that the area covered by protective regulations transcends individual environmental media and pertains not only to legal emissions from plants operating normally and in accordance with the regulations, but also to illegal pollution produced in disregard of restrictions. Today, in our decade, a quantum leap in environmental consciousness can be noted: everyone is conscious of the impending, longlasting changes in the world’s climate. The Rio conventions on climate and biodiversity, as well as the Agenda 21 or the Rio Declaration include obligatory global ecological standards or policy guidelines for every government, for the global economy, foreign affairs, and development. In Buenos Aires, the reduction in CO2 emissions expected from each country were precisely established. The goal of protecting the climate as formulated in Kyoto is to be reached, although this has been called into question by the U.S.A.

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The innovative attempts to realize the goals of the Rio conference and the Agenda 21 are characterized by a type of planning under pressure such as otherwise only known in wartime and, indeed, this time oriented to the goal of a survival policy literally for all of humanity. This goal can only be achieved by an international and national concerted action amassing all of the forces available in society (cf. Zedalis 2000). Sustainability has long become an ecological catchword: No more than can be re-grown can be harvested. In all global economy and world trade organizations, the insight has gained general acceptance that the productivity of natural resources cannot be improved at will. For this reason, the ecological efficiency of all products and services must be increased. The pollution of the oceans, the continuous reduction of the ozone layer, creeping, long-term climate change and erosion are all far-reaching experiences transmitted by the media on a worldwide basis and only comprehensible with access to a great deal of information. Long periods of time occur between the appearance of gases detrimental to the ozone layer (such as chlorofluorocarbons (CFCs)) and measurable dangerous environmental effects. The use of fossil fuels also results in CO2 emissions which could precipitate, only after decades, but then irreversibly, a worldwide climate catastrophe if the present exploitation of these energy sources continues (cf. Zedalis 2000). For these reasons, a politics of environmental rights concerned with securing the conditions of human existence involves – today even more so than in the past1 – an obligation to inform and engage in discussion on problems related to ecology, “human happiness”, and the new field of study dealing with the conditions thereof.

3. Happiness and Way of Life: The Ecologically Oriented Individual of the Future

An ecological way of life is not so much that “life in harmony with nature” which has so often been invoked in the history of philosophizing on the art of living and happiness. Rather, in accordance with transformed ecological condi1 Those pressures on the environment and conglomerates of environmental problems relevant today and in the future are of a totally different character than those of the past. Formerly, environmental pollution took on almost exclusively concrete forms pertinent to the immediate experience of virtually every resident: water pollution, illegal trash dumps, air contaminated with sulfur or lead, acute health hazards such as allergies, asthma, blood poisoning, etc. According to information supplied by the Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), there are over 500,000 tons of unnecessary pesticides in the developing countries and in many countries of the former Eastern bloc which threaten the environment and the health of millions of people. This can be inferred from a report published by the FAO on May 9, 2001. The substances involved are some of the most dangerous insecticides known: aldrin, chlordane, DDT, dieldrin, endrin, heptachlor, and organophosphates (Neue Zürcher Zeitung, May 10, 2001, p. 64).

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tions, it is a life which provides the individual as far as possible with the opportunity to take the entire ecological situation into account in an optimal way and to integrate himself / herself into this framework. Concentrating on life-style and, particularly, on happiness encourages the tendency to facilitate the transition from theory to living practice. Yet, a certain individual seems to have this transition less and less at his or her own disposal. For an essential element involved in the choice of a way of life is the individual’s increasing concern about being able to effectively come to terms with the larger circumstances surrounding his or her own life. In due time, perhaps what appears simply as a life-style into which one is normally “socialized” will develop itself into an ecological way of life and be maintained as such. Various aspects can characterize a specifically ecological way of life: – A distinctive trait of an ecologically oriented individual is the ability to look far beyond one’s immediate environmental surroundings and to perceive one’s own existence in an all-embracing context. The “abandonment” and openness expressed therein prevents the individual from becoming enclosed in his or her inner world. The individual is also able to perceive himself / herself from the outside. The continual shift between inner and outer perspective establishes a connection between the individual and far-removed living creatures and ecological structures, even future generations and their living conditions as far as these can already be perceptible within the horizon of the ecologically oriented individual. In this way, the piecemeal concept of environmental protection expands to a comprehensive concern for posterity (Steinberg 1998, pp. 81, 94). – Within this frame of reference, to live ecologically means to determine that amount of exploitation of resources which is ecologically tolerable for the sake of man. Furthermore, to live ecologically means to intervene in given circumstances only to the extent that such interference can be coped with in an anthropocentrically directed, ecologically sound way. Here, the category of “deliberation” advances to a central concept of “ecological legal policy” (Steinberg 1998, p. 148). – In this way, the ecologically oriented individual is granted an – admittedly limited – sort of “self-protection” against those forces which find expression in unforseeable technological encroachments on ecological systems. Without this self-protection, the individual would simply be powerlessly subjected to those forces. Of course, the ecologically oriented individual is not necessarily guided by the maxim of total abstinence from the use of technology. As with all other humans, he or she is also situated within our technology-dominated risk society.

Thus, it is necessary to examine even the most inconspicuous everyday actions with reference to their possible ecological consequences. Naturally, this also involves banalities of everyday life which are often falsely dismissed as trivial. The mere knowledge of the necessity for change is not sufficient for the development of an ecological way of life. On the contrary, this requires the regular and persistent practice of altered habits and trained behavior.

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The individual who initiates ecological changes is no longer only an economically calculating human subject, but also an ecologically calculating one (cf. Weimar 1986) who completes the transition from consumptive behavior to a consciously selected ecological way of life. What is meant here is the transition from consumption to use. Recycling is an essential contribution to a life-style of sustainability, which term has been mentioned again and again in the debate on ecology (cf. Steinberg 1998). Within this context, what might a “nice” life, a “happy” life, happiness mean? As with the concept of the art of living, a “happy life” is a somewhat forgotten concept of the ethics of antiquity (cf. Bellebaum 1994) which has been reintroduced into the debate in order to go beyond the less critical ideas of a “good” or “successful” life. In the history of philosophy, for the Stoics as well as for Diogenes or Epicurus, leading “a pleasant life” was a familiar concept. According to a wellknown anecdote, someone who claimed not to be fit for philosophizing received this answer from Diogenes: “Why, then, do you stay alive if you are not concerned with trying to live a pleasant life?” Striving to lead a pleasant, good, and happy life means not simply living on a day-to-day basis, but to intervene in one’s own existence in a regulatory way and thus consciously make it the object of self-realization. As is well known, the idea of a good life in an ethical sense, of happiness, played a particularly outstanding role in the tradition of humanism. What is meant here is the philosophically reflected art of living, i.e., an existential art of living for which any ecological ethics begins with the preservation of ecological conditions for existence and with the individual’s behavior itself and is directed toward participation in one’s own life and, in conjunction with others, in communal social life (cf. Haerlin 1987). Thus, in much the same way as the predominate social conditions, the ecological ones also become an indispensable basis for making happiness as a “pleasant life” possible. Yet, precisely some of these predominate ecological conditions are questionable to a large degree: How should the legal system deal with risks the existence and extent of which remain, in the final analysis – even taking the results of scientific research into account – unknown? That in such cases the legislature should have the power to decide whether measures are to be taken or not, is, in my view, incompatible with the prevention principle of ecological rights (on this issue, see Steinberg 1998, pp. 97 – 8). And legal principles, like laws, can be treated judicially and administratively in various ways (instructive in this respect: Berns 1999, Amsterdam / Bruner 2000).

4. How Happiness Originates in the Brain

At this point, I would like to digress somewhat and consider how a feeling of happiness actually comes into being. As early as antiquity, scholars were aware of a close connection between happiness and the brain. But if one takes a sober and

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critical look at the history of research on the brain, one will have to admit that even until far into the 19th century hardly any progress was made in scientific findings on the structure and function of the human brain. This was primarily due to the fact that no methods were available to examine the intricate structure of the brain. However, after powerful microscopes and other refined biological methods became available, a revolution in brain research began and reached a first peak with the “neuron doctrine” at the end of the 19th century. This doctrine maintained that the brain, like any sort of bodily tissue, was made up of cells called neurons. But this insight into the cellular structure of the brain explained little about the mechanisms of processing stimuli (cf. Hagner 1997). Only during the 1930s did the insight gain general acceptance that brains are not only electrophysical, but, so to speak, also chemical “machines” (“Darwin machines”). Neuroelectrical and neurochemical processing of stimuli are closely interconnected in the brain (Rauland 2001, pp. 148-). This is the case regardless of whether the reaction has to do with perception or consciousness. A feeling of happiness is also to be considered in this context. Now, what does neuroscience assume to be fairly reliable insights about the relationship between happiness and the brain at the beginning of our century – which will surely become the century of the brain? One thing seems clear in any case: perception, attention span, thinking, planning activity, but also emotions and volition are inseparably connected to processes of the brain (cf. Rauland 2001). It is now a well-known fact that, with the use of neuroimaging, from the activity of certain cerebral centers one can infer simultaneous neuronal (“mental”) processes and vice versa. Every aspect of conscious or unconscious perception, every thought and every memory, every emotion seems to exactly correspond to certain neuroelectrical and neurochemical events of particular cerebral centers (cf. Rauland 2001). Nonetheless, it will never be possible to detect this in every case, but where this does succeed, one observes a close interconnection, if not even an identity in a naturalistic sense, between mental performance or mental processes and processes of the brain, whereby in the wake of the “naturalistic turn”, the concept of mental is no longer to be understood as referring to something spiritual in the sense of the “functioning” of some immaterial, i.e., non-organic processes, but, rather, can grasp perceptional, thought, and emotional events only in relation to their semantic content (cf. Goodman 1991).2 More2 In this sense, the concept of mental is not immediately unambiguous. For therapeutical practice, mental means “not quite in order mentally” (Olbricht 1993). But someone who wishes to use the concept scientifically must explain what the concept means. It is certainly possible to comprehend this concept in a natural science-oriented way, in particular, (neuro-) biologically / medically, for use in general and theoretical psychology. But this should at least be explicitly stated. Is it possible to study human organs without utilizing the concept of the mental? What purpose does the concept actually serve? In the final analysis, this is a question of what psychology’s subject matter might be today, and psychology is peculiarly at something of a loss for explicitly formulating an answer to this question. If psychology is satisfied to be (only) a behavioral science, it will have to effectively distinguish itself from other social sciences dealing with human activity. If it wants to be a specific science dealing with mean-

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over, in a clinical psychological sense, the concept of mental has long become “naturalized” and is to be understood in a “neuronal” sense. Does this, then, fully explain the relationship between happiness and the brain? Of course not, but, in any case, the problem is now demystified to a large extent. Any philosopher who regards the mind, consciousness, or, specifically, happiness as being fundamentally different from the “material” brain and its processes and is thus a dualist will not be disturbed by such findings, should they prove to be valid. The dualist will maintain that none of this contradicts the idea of an autonomous mind which makes use of the brain as an instrument of its realization in much the same way as a pianist uses a grand piano to perform his interpretation of a Beethoven sonata. This sort of dualism can only be refuted or, at least, be shown to be implausible if one succeeds in proving that the mind or consciousness – thus, also the experience, feelings, and consciousness of happiness – do not occur prior to or simultaneously with neuronal events, but, rather, that the neuronal processes relevant to the origin of “mental” states (as they are still called) occur at a measurably earlier point in time and that certain states of consciousness can be produced and altered in the brain in predictable ways (on these issues in detail: Walter 1999). Today, both situations can be tested employing the usual methods of brain research (cf. Weimar 2000a). Results of such tests demonstrate conclusively that the occurrence of states of consciousness such as experiencing an object of perception proceeds at a comparatively slow pace. After the complex image of some object ing, then it will have to differentiate itself from other disciplines (simply) dealing with contents of thought. If it wants to go beyond this, then it could comprehend itself as a neuroscience founded in social science and as a branch of medicine (as occurs to some extent in medical psychology, clinical psychology, neuropsychology, gerontological psychology, forensic psychology – although in such cases, ever more persistently, the question arises of what actually the human mind is capable of representing in its “existence”, its constructedness, its possible plausibility and scientific utility for psychology). Or has this issue long ceased to be a problem or has it simply resolved itself since the designations of psychological termini have gradually become “naturalized” in the process of overcoming the “dualistic legend”? In this sense, medicine is also not exempt from issues related to designations and subjects of study (e.g., “mental illnesses” without a corresponding mind, illnesses of the “psyche” without a corresponding psyche, or “psychosomatic” illnesses, which are now called “somatoform disorders”). Is psychology in the process of becoming a neuronal science dealing with somatoform disorders? Apparently, this is the case, even though we are not yet accustomed to using such designations, which is perhaps simply due to a reluctance to abandon familiar ways. The towering superiority of the brain as a central executive power (along with other important organs) is accompanied by the enhancement of the competence and authority of the scientifically trained psychologist. This will inevitably result in an increasing marginalization of philosophy and other humanities including traditional dogmatic jurisprudence if these disciplines continue along the lines they have been developing (How much are such disciplines allowed to know, what are they not allowed to know?). Academic disciplines possess the quality of a long-term autonomy. Among other reasons, this is also due to the fact that the necessary weighty decisions to pause at certain demarcation lines can only be made with some difficulty since these markings can only be recognized after the fact and are then attributed to past events as the apparent direction of activity.

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has appeared on our retina, it can take up to half a second before we become conscious of the object. During this time, hundreds of millions of nerve cells are activated in a number of centers of our visual system until we finally receive the impression: This is Beat Huber’s face. By stimulating various parts of the limbic system, feelings of anxiety or of happiness can be provoked. Voluntary movement (e.g., raising the right or left arm) can be brought about by stimulating certain areas of the motor cortex; similarly, dispositions can be chemically altered “by force” using psychotropic drugs. Methods of neuroimaging (cf. Rauland 2001), especially positron emission tomography (PET) and functional nuclear spin tomography, have irrefutably demonstrated that the mind-brain dualism is not tenable (“dualistic legend”). These methods are based upon the observation that conscious thought is accompanied by a high level of neuronal activity that requires a great deal of oxygen and glucose which, in turn, must be supplied from neighboring areas by means of increased blood circulation. The occurrence of “consciousness” and thus of sensations of happiness is dependent on measurable physico-chemical conditions: There is no experience of happiness without sufficient oxygen and glucose. In that case, the question of whether or not circumstances promoting happiness, as well as mental states are part of the rest of the physical world can only be answered by asking: What else could they possibly be? The resulting message is that happiness is something that occurs within the bounds of known laws of nature and not beyond them. Accordingly, happiness is dependent upon a certain neuronal status. Thus, it is to be understood neither as some form of supervention nor as mere coincidence. It is to be identified with the relevant neuronal constellation itself (in the sense of a token identity), that is, it is to be comprehended in a monistic, naturalistic way – which, admittedly, has hardly been considered a cultivatable insight, or, much less, a matter of general agreement within the humanities, particularly within the “philosophy of mind” or cultural studies-oriented psychology or traditional jurisprudence, and thus has been widely rejected (cf. Weimar 2000a). 5. Does this clarify everything?

Of course not: In particular, it is not sufficiently clear why happiness is the way it is. How do physiological processes attain a subjective quality and a meaning that can be experienced? Research on the brain has also made noteworthy advances in this respect in the last few years. Especially where new and complex matters are involved, perception, imagination, and voluntary control of actions are all based upon the interchange between neuronal networks in the cerebral cortex or, more precisely, on the alteration of the transmitting properties of the synapses between the nerve cells involved (Rauland 2001, pp. 61, 63). With reference to the metabolism, these alterations of transmitting properties are “costly”, i.e., they require much oxygen and glucose in order to boost local circulation in the brain. In this way, experience continually refines its physiological expression, and the physiolo-

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gical control organizes and expresses increasingly complex interactive emotional experiences. Even though brain researchers are, in principle, able to comprehend the origin of sensations of happiness and unhappiness from neuronal processes, this does not already explain why we are the way we are – with this “ego”, these emotions, and this experience of happiness or unhappiness. In any case, brain research, together with cognitive and developmental psychology, has demonstrated that this “ego” – like the “mind” – is also a construct of the brain. The limbic unconscious preestablishes the will for the “ego”. Consciousness as the sphere of the linguistically reportable, as some brain researchers understand it, is the “great interpreter” of phenomena that to a great extent actually remain impervious to it, namely, of the real motivations behind our actions (cf. Calvin 1996). What do we really want? And how can we know what we should want? Somehow, we must always already know what we want to know. Essentially, this means that we do not know who we are, who governs us. Accordingly, consciousness and “ego”, so it seems, are not really in charge themselves, but, rather, useful constructs that the brain brings into play whenever it is confronted with coming to terms with new complex problems stemming from its natural and social surroundings (complex problem solving – CPS; for experimental research on CPS, see Funke 1995). Does a change in the traditional image of man result from the insights discovered by brain research in conjunction with modern biology? The change could hardly be of a more radical nature. First, evolutionary theory deprives man of his status as the “pride of creation”, then, soul and mind are reduced from a “divine spark” to something natural and earthly in much the same way as this happens to consciousness and sensations and experiences of happiness; finally, the ego and mental states are revealed to be simply useful constructs (cf. Weimar 2000a). They serve the purpose of organizing and classifying experience, of recognizing internalized patterns and predicting behavior, although they are not real, do not really exist (Walter 1999, p. 129). Their reference to really existing entities renders their own entity, beyond their pragmatic purpose, problematical: As constructs, they are not real themselves. We must come to terms with the fact that science, too, essentially only expresses itself in images and signs, i.e., can only construct reality and, then, operates with constructs which, of course, are by no means unchangeable (cf. Lenk 1993, 2001). Nevertheless, those images and constructs put forth by science, particularly by neuroscience and the study of conditions for human happiness, must be more plausible with regard to their theoretical status than such conceptions of the world as maintained by popular philosophy or religion.3 In this context, one should take into 3 To illustrate this, one impressive example of a danger to the “soul”: Mohammed al-Musayyar, professor at Azhar University in Cairo, argued against surrogate motherhood by contending that the sensations of the unborn must be taken into consideration for a full assessment of any modern methods of reproduction. In his view, one section in Hadith exactly de-

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account that our knowledge of the world has a two-fold origin, i.e., it springs from two sources. On the one hand, there is knowledge that manifests itself in the innate transmitting patterns of our brain and predetermines our basic behavior. In the course of evolution, this knowledge has been amassed on the basis of trial and error and is stored in our genes. The other type of knowledge is also stored in the transmitting patterns of our brains, except that these patterns have not been adapted genetically, but, rather, by means of experience. Modern research on the conditions of human happiness, which is inevitably concerned with the problem of distinguishing between mind and brain, cannot sidestep this theoretical foundation. Thus, at the present time, research on the conditions of human happiness is unthinkable and impossible without a neuroscience oriented to interdisciplinary work. In this respect, in the final analysis and despite all “productive” detours, this research remains informed – as demonstrated above – by an ontological monism or physicalism.

6. Happiness as the Positive Experience of Personal Wholeness: Flow Experiences and Predominate Ecological Conditions

If the main concern of our symposium is to consider striving for happiness as a political right, and thus, as an ecological right, then, our model could be the American Declaration of Independence (from July 4, 1776), which is known to explicitly formulate this goal: striving for happiness as a human right. Happiness has something like constitutional status only in the U.S.A., but it is not a subjective right; one is only allowed to engage in the pursuit of happiness. But what is happiness as the state of being happy, how is it experienced? This returns us to the ecological and neuropsychological context in which the individual is to be regarded as a potentially happy person. Experiences corresponding to those of happiness are flow experiences such as have been examined in detail by the Hungarian psychologist Mihaly Csikszentmihalyi (1990), who lives in the U.S.A. Flow sometimes occurs by chance, as the result of favorable circumstances with regard to external or internal conditions. But there are also flow activities which, in a very limited sense, we can voluntarily bring about and which also result in positive experiences (“order in consciousness”). Flow is the process of becoming completely absorbed in life, of becoming one with an activity in comparison to which any other possible activity becomes meaningless.4 scribes when and how the “soul is breathed into” the embryo: Four months after conception, an angel descends from heaven and whispers to this small, fragile human being some words by means of which certain aspects of earthly life are predetermined: duration, prosperity or poverty, achievement or failure, happiness or unhappiness. According to Mohammed al-Musayyar, this fateful event could have no favorable outcome if the child is not “at its own home”, that is, within its own mother’s womb (Neue Zürcher Zeitung, May 10, 2001, p. 64). 4 Anyone who experiences flow engages in the same activity again and again simply for it’s own sake (e.g., sports, creative work in science or in the arts).

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This feeling of having oneself at one’s disposal, of being in harmony with oneself and the world, of taking one’s fate into one’s own hands – this constitutes the feeling of happiness (cf. Bradburn 1969, Argyle 1987). Thus, happiness is flow. On such relatively rare occasions, one experiences a festive mood characterized by great joy – a feeling that can last for a shorter or longer period of time and becomes the criterion for judging how life in an “optimal world” should be (cf. Veenhoven 1984). It is certainly not very easy to attain this festive mood. Flow cannot be initialized by pressing a button. This sort of fulfillment in happiness requires one’s own initiative; simple consumption is much easier. Nonetheless, the more highly motivated one is, the better one can master the tasks ahead, and the more appropriate the ecological preconditions are, the more likely it is that flow will occur. There is, indeed, no ideal way to achieve flow, just as there is no singular way to attain happiness. The uniqueness of every individual also demands an individual approach (cf. Mayring 1991). But that person who understands what flow is will be able to change his or her own life in a positive manner. Such changes are just as dependent upon external, eco-sociological circumstances as they are on the way the individual interprets them. Thus, happiness is a state for which one must be prepared, which every individual must cultivate. Those persons who learn to control their inner experiences and the eco-sociological circumstances can determine their quality of life and their health to a certain extent. And this seems to be the closest thing to what we call happiness, presuming that efficient legal ecological policy is able to lastingly provide the necessary existential ecological conditions as prerequisites of happiness. In this sense, high quality legal work is, at the present time, only possible within the framework of interdisciplinary efforts (Richli 2000, p. 442). 7. Epilog

The fact that man, as can be most conspicuously observed from the effects of his actions, is himself part of nature and thus part of the “environment” can produce considerable possibilities for conflict which can also play a role in therapy. Unfortunately, our potential for resolving conflicts is becoming increasingly diminished because more and more unresolvable conflicts occur which endanger us immediately or on a medium-term or long-term basis. Ecological problems are practically insoluble for the individual in risk society (Weimar 2000b). This means that feelings of powerlessness and anxiety can arise to which we succumb more and more and which make a positive attitude toward life or the experience of happiness more difficult or even impossible. Latent ecological hazards or latent catastrophe can hardly be treated by therapy. What can we do? It would be illusory to want to rid ourselves of technology and turn the clock back. Going “back to nature” is also impossible. We can carry on or give up and drop out – or we can take up the challenge in the fight for the future of

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our planet and, thus, the survival of man and the safeguarding of his opportunity for happiness. For now is the time when we can still act. But in order to reduce the chaos we experience in the world we must learn, above all, to master our own consciousness. Whether or not we are happy depends just as much on inner harmony as on the control we should attempt to exert on the hazards to our existence in this world.5 Put briefly, the experience of happiness is a state of the brain which is also and in a specific way dependent on ecological preconditions and their fulfillment. Thus, the determining ecological factors are just as fundamentally constitutive of well-being and experiencing happiness as are biological-social influences, even though the extent to which this is true varies individually (cf. Abele / Becker 1991). Although it is not necessary to regard happiness as everyone’s sole aim in life, striving for happiness certainly does characterize healthy human beings.

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Reziprozität im Umweltrecht als rechtspsychologisches Phänomen* I. Einleitung Reziprokes, wechselseitiges Verhalten stellt eine primär sozialpsychologische Erscheinung dar, die zwischenmenschliche Beziehungen maßgeblich prägt. Dass „der Mensch des Menschen sehr zu seinem großen Ziele“ bedarf, diese Erkenntnis Friedrich Schillers ist längst in einer Weise zu modifizieren, dass dem Einzelnen seine wie immer gearteten Lebensziele ohne den Schutz und die Hilfe des Staates nicht mehr erreichbar sind. Reziprozität ist dabei zunächst und im weitesten Sinne jeder „Tauschbeziehung“ immanent, bildet aber auch den verhaltenstheoretischen Hintergrund der kommutativen Gerechtigkeit in den unterschiedlichen Lebensund Wissenschaftsbereichen, wie zum Beispiel in der Psychologie. Das Umweltrecht bildet heute eines der attraktivsten Anwendungsgebiete der Reziprozität in den modernen Gesellschaften – auch wegen der global wirksamen potenziellen Folgen der Risikotechniken. Wenn ökonomisch, technisch, sozial oder ökologisch schädliche Auswirkungen privater Tätigkeiten mit deren günstigen Auswirkungen nicht vereinbar erscheinen und rechtlich zu missbilligen sind, erweist sich Reziprozität als ein das Rechtssystem steuerndes universales Prinzip. Wird Reziprozität im Umweltrecht als verhaltens- und Recht steuernder Grundsatz negiert, werden derartige Tatbestände normativ als Unrechtsmaterien erfasst, die entsprechend sanktioniert sind.

II. Sicherheit – ein rechtspsychologisches Paradigma? Vor dem Hintergrund wachsenden Bewusstseins für neuartige Gefahrenlagen in den industriell-technischen Gesellschaften ist das Umweltrecht mit der rechtspsychologischen Bedeutung der „Sicherheit“ als Staatsfunktion konfrontiert, die ihre Grundlage und ihren Anlass in entsprechenden „Realängsten“ der Bevölkerung und bei dem einzelnen Bürger hat. Sicherheit und Unsicherheit wirken sich dabei als allgemeine Einstellungen der Bürger aus. Sie stellen die dauernde Bereitschaft dar, sich im Hinblick auf das eigene Selbst motivieren zu lassen. Im Falle der Unsicherheit handelt es sich darum, sich zur Verteidigung gegen eine Bedrohung motivieren zu lassen: Die wahrgenommene Beziehung zwischen dem Selbst und * Erstveröffentlichung in: R. Jakob / W. Fikentscher (Hrsg.), Korruption, Reziprozität und Recht. 2000, S. 99 – 109. Bern: Stämpfli. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 4.

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den anderen ist gestört. In der Sicherheit zeigt sich dagegen Vertrauen in das eigene Selbst. Sicherheit führt zu zielorientiertem, Unsicherheit zu bedrohungsorientiertem Verhalten (T. M. Newcomb 1950). Im Zusammenhang mit der Kernenergie hat Alexander Rossnagel in Anknüpfung an die Diskussion über Leistungsansprüche gegen den Staat von der „Freiheit von Angst“ ganz nach der Art eines individuellen Freiheitsrechts gesprochen (A. Rossnagel 1979, S. 44 ff.). Der Staat müsse nicht nur dem einzelnen Bürger die Furcht vor materieller Not, morgen verhungern oder erfrieren zu müssen, nehmen; auch andere fundamentale Bedrohungen der Selbstbestimmung forderten staatliche Hilfe heraus. Den Gefahren einer unbekannten und unerprobten Technologie hilflos ausgeliefert zu sein, könne eine ebenso große Bedrohung der Menschenwürde (des Menschen? R W.) darstellen. Der Staat müsse dem Einzelnen daher auch die Angst vor den vom Menschen geschaffenen, unüberschaubaren und unbeherrschbaren technischen Gefahren nehmen (A. Rossnagel, S. 45). Nun hat der Staat sicherlich nicht die therapeutische Aufgabe, dem Einzelnen die Angst vor möglichen Gefährdungen seiner Existenz zu nehmen. Wohl muss er die reale Möglichkeit der Existenzgefährdung erkennen und verhindern (U. Di Fabio 1994, S. 42). Dennoch kann die Angst Ausgangspunkt für Überlegungen zu staatlichen Schutzpflichten sein. Insoweit kann ein verfassungs- bzw. gesetzwidriges Unterlassen anzunehmen sein, wenn der Staat gefährliches Handeln Privater nicht unterbindet. So ist auch das traditionelle Grundrechtsverständnis und seine Idee der bloßen Abwehrfunktion der Grundrechte seit langem keine unangefochtene Position mehr gegen die Annahme von grundrechtlichen Leistungs- und Schutzansprüchen. Denn die gestiegene Sensibilität gegenüber Risiken, die von der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, nicht zuletzt von den Bürgern selbst ausgehen, avanciert zu einem rechtspsychologischen Agens, für das die Vorstellung der herkömmlichen Polarität von der Freiheit des Bürgers und der Einschränkung dieser Freiheit durch den Staat nicht mehr hinreichend ist. Die rechtsökologische Regelung in Art. 20 a des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist da wohl eher rückschrittlich, weil sie dem Einzelnen (noch) keine subjektive Berechtigung verleiht.

III. Die „Do ut des“-Beziehung in rechtspsychologischer Perspektive Geht man davon aus, dass der Staat eine Institution darstellt, die von dem Einzelnen den Verzicht auf private Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen verlangt, so entspricht diesem Ansatz auf der anderen Seite, dass der Staat den Bürger nicht schutzlos lassen darf, wenn seine Rechte durch private Dritte gefährdet oder verletzt werden (U. Di Fabio 1994, S. 43). Der Gewaltverzicht des Bürgers und die staatliche Gewährleistung von Sicherheit stehen im Wesentlichen in einem psychologisch basierten Gegenseitigkeitsverhältnis. Der den Bürgern auferlegte Gehorsam gegenüber der staatlichen Rechtsordnung erklärt sich nur daraus, dass der

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Staat dem Bürger gegenüber gewaltsamen Eingriffen anderer entsprechenden Schutz bietet (D. Murswiek 1985, S. 102). Von diesem rechtspsychologisch orientierten Ansatz, der von einem Interdependenzverhältnis der Treuepflicht der Bürger und der Schutzpflicht des Staates ausgeht, ist der entsprechende rechtsdogmatische Ansatz zu unterscheiden, der darauf gerichtet ist, staatliche Schutzpflichten aus den Grundrechten abzuleiten und ggf. fortzuschreiben. Auch insoweit bleibt aber festzuhalten, dass für die Grundrechtsdogmatik der rechtspsychologisch einleuchtende Gedanke eines „do ut des“ zwischen Staat und Bürger letztlich ausschlaggebend ist. Der Versuch, Schutzpflichten den Grundrechten zu entnehmen und sie dann als subjektive Berechtigungen des Einzelnen aufzufassen, basiert auf einem unausdrücklichen Rückgriff auf die psychologisch unabweisbare, kompensatorische Funktion der staatlichen Sicherheitsgewährleistung, die im „do ut des“ bindungstheoretisch-kommunikativer Vorstellungen wurzelt und ihre dogmatische Begründung im Grunde an das klassische vertragstheoretische Staatsmodell anlehnt. Der tiefere Grund für die Annahme staatlicher Schutzpflichten entspringt indes der Besinnung auf die rechtspsychologische Fundamentalfunktion der staatlichen Sicherheitsgewährleistung, die auch als „Aggressionsbremse“ dienen kann. Diese Dimension der Sicherheit – genauer: des Bedürfnisses nach Sicherheit – ist es, die die Schutzpflicht des Staates auf den Plan ruft. Die rechtspsychologische Perspektive ist insbesondere auch für die nähere Bestimmung der ökologischen Schutzpflichten des Staates wichtig. Und nicht zuletzt ist die Diskussion um die Schutzpflichten auch selbst Ausdruck der rechtspsychologisch induzierten Vorrangstellung der Gefahrenabwehr als rechtsökologischer Staatszweck. Dabei ist dem Staat bei Vorliegen einer Umweltgefahr nicht nur die Möglichkeit des Handelns, sondern eine Handlungspflicht – auch unter Berücksichtigung der Belange der Nachweltvorsorge (dazu H. Lenk, S. 382 und pass.) zugeordnet. Ein Beispiel für den Versuch, auf der Ebene des einfachen Rechts dieser Schutzpflicht Rechnung zu tragen, ist in Deutschland der Entwurf zu einem Umweltgesetzbuch des Bundesministeriums für Umwelt und Reaktorsicherheit aus dem Jahre 1999. Dass nicht in jedem Fall einer Umweltgefahr Leben und Gesundheit als Schutzgüter mit betroffen sind, ändert nichts an der fundamentalen Tragweite, die dem Spektrum der Schutzpflichten des Staates hier zukommt. Nur das anthropologische Phänomen der Sicherheit kann in der Konkurrenz der Bedürfnisse rechtspsychologisch den Vorrang vor Freiheit beanspruchen. Die veränderte Wahrnehmung technischer Risiken durch den Einzelnen spezifiziert sich in der Thematisierung von Sicherheitsanliegen, die zu einer immer breiteren Palette von Schutzansprüchen und staatlicher Sicherheitsvorsorge unter Einschluss von Kontrolle, Information und Partizipation führt. Immer mehr risikobelastete Dritte verlangen unter Berufung auf ihre subjektiven Rechte die Einschränkung subjektiver Rechte der Risikoerzeuger (U. Di Fabio 1994, S. 51). Abwehrmechanismen als Verdrängungsstrategien, von denen nicht nur der Neurotiker, sondern auch der im klinischen Sinne normale „Alltagsmensch“ bis zu einem gewissen Grade Gebrauch macht: Verdrängung, das Nichtwahrhabenwollen einer Situation

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oder eines Erlebnisses, reichen nicht mehr. Wo, wie im Bereich des Umweltrechts, privates Handeln den Staat veranlasst, eine Garantenstellung zu übernehmen, passt auch die herkömmliche Bipolarität des status negativus als Recht-Pflicht-Relation von Bürger und Staatsgewalt nicht mehr (U. Di Fabio 1994, S. 51). In der Erkenntnis der Notwendigkeit, dass die Freiheit weniger der Sicherheit vieler zu weichen hat, erfüllt das Sicherheitsgebot das menschliche Grundbedürfnis der Angstreduktion: in dubio pro securitate. Der darin liegende Veränderungsdruck zeigt sich in verschiedenen spezialgesetzlichen Bereichen wie dem Immissionsschutzrecht, dem Atomrecht, dem Chemikalienrecht oder dem Gentechnikrecht (U. Di Fabio 1994). Weitgehend eine terra incognita bilden die Gesundheitsrisiken nieder- und hochfrequenter, insbesondere pulsmodulierter elektromagnetischer Felder (A. Bobis-Seidenschwanz / P. Wiedemann 1993). Die Schutz gewährenden Funktionen des Staates in allen diesen Bereichen sind dabei als politische Reaktion auf entsprechende individual- und rechtspsychologische Ablaufweisen, insbesondere auf die veränderte Wahrnehmung gesellschaftlich erzeugter, den Einzelnen bedrohender oder von ihm als bedrohend empfundener Risikozusammenhänge erklärbar.

IV. Umweltrechtliche Normen als Elemente sozialer Austauschbeziehungen Das materielle Hauptziel des Umweltrechts besteht darin, gefährdete Rechtswerte, allen voran Leben und Gesundheit des Menschen, zu schützen und zu erhalten. Für das Verständnis dieses Rechtsgebiets ist von grundlegender Bedeutung, welche Beziehungen der einzelne Bürger zu den Rechtswerten unterhält und warum gerade auch er als Normadressat, insbesondere als Nutzer der Umwelt oder aber womöglich als Opfer der Umweltnutzung an der Aufgabe des Rechtsgüterschuttes beteiligt wird. Bei einer nur positivistisch orientierten Betrachtungsweise liegt es nahe, diese Fragen mit dem Hinweis auf das „Vorgegebensein“ dieses Rechtsziels zu beantworten. Eine solche Erklärung wäre jedoch aus verschiedenen Gründen unzureichend oder jedenfalls unbefriedigend. In dem hier interessierenden Zusammenhang wäre ihr vor allem entgegenzuhalten, dass Umweltgesetze mehr sind als ein Vorgang einseitiger Unterwerfung und Zwangsanpassung. Das Umweltrecht ist nicht in erster Linie um des Staates oder des Sozialsystems willen geschaffen worden, sein oberstes Ziel ist vielmehr der Schutz des einzelnen Menschen und seiner Grundrechte in den Grenzen des an der Verfassung ausgerichteten sozialen Rechtsstaats (vgl. R. Weimar 1986a, 1986b). Wenn vom Nutzer als Normadressaten eine Anpassung an die Ziele des Umweltrechts verlangt wird, geht es dabei mehr oder weniger unmittelbar um die Erreichung des genannten Hauptziels. Die von dem einzelnen Bürger geforderte Anpassung ist Teil einer „Austauschbeziehung“ des Menschen mit der Umwelt, mit deren verbindlicher Kodifizierung sich die Betroffenen nach der Intention der Umweltgesetze wechselseitig Rechtswerte zuerkennen. Mit der Pflicht, die entsprechenden

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Rechte der anderen zu achten, erlangt jeder Bürger zugleich das Recht auf Gewährleistung eines Zustands, der den gemeinsamen Schutz und die rechtlichen Interessen aller sicherstellt und jeden Bürger in gleichem Maße bindet. Diese „Austauschbeziehung“, die das Verhalten der Nutzer einheitlich auf bestimmte Ziele festlegt, beruht auf dem Grundsatz der Reziprozität (Gegenseitigkeit) des Verhaltens. Als fundamentales Strukturprinzip der zwischenmenschlichen Beziehungen liegt der Gegenseitigkeitsgrundsatz auch den Normen des Umweltrechts als materielles Gestaltungsprinzip zugrunde. Die damit sich abzeichnende Bindung bedeutet, dass die Handelnden ihre eigenen Handlungsziele so verändern (müssen), dass die gemeinsamen Werte erhalten bleiben. Auf diese Weise verwandelt sich bei Beachtung der entsprechenden Normen ein ursprünglich noch nicht oder unzureichend geregelter Zustand, der von diffusen Angstsituationen bis zu existenzieller Verunsicherung reichen kann, in einen solchen geordneter Wechselbeziehungen, auf deren Einhaltung sich jeder verlassen kann. Durch die umweltrechtliche Festlegung der Handlungsbereiche auf einen gemeinsamen Gleichgewichtszustand entsteht ein System von interindividuellen Handlungen. Als Basis einer „Austauschbeziehung“, die für alle Beteiligten Rechte und Pflichten begründet, repräsentiert dieses System eine Struktur, die – zumindest bei dem überwiegenden Teil der umweltrechtlichen Normen – in ihrer Grundbeziehung den Gesetzen der Äquivalenz-, Symmetrie- und Komplementaritätsrelationen entspricht. Wer z. B. auf Grund und Boden oder die Luft in immissionsrechtlich unerlaubter Weise einwirkt, verstößt damit gegen ein Verbot, dass nur ein Element einer „Austauschbeziehung“ unter mehreren ist, die in einem System von reziproken Relationen und Äquivalenzbeziehungen untrennbar miteinander verknüpft sind und sich wechselseitig bedingen. Die rechtspsychologische Basis dieser „Tauschbeziehung“ besteht nicht zuletzt auch darin, dass sich die Bürger durch Vermittlung des Gesetzgebers gegenseitig das Recht zugestehen, mit den Rechtsgütern im Rahmen der umweltrechtlichen Vorgaben nach Belieben zu verfahren. Zur Gewährleistung der ihnen damit eingeräumten Handlungsautonomie ist der umweltrechtliche Schutzanspruch absolut gesetzt. Diese Art der Zuordnung macht den Einzelnen von umweltrechtlich unerlaubten Eingriffen anderer weitgehend unabhängig und sichert ihm die Möglichkeit, insoweit seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Das Umweltrecht ist demnach Element eines Gleichgewichtszustandes in den Beziehungen zwischen den einzelnen Normberechtigten. Durch den Verstoß gegen ein umweltrechtliches Gebot oder Verbot hebt der Handelnde dieses Gleichgewicht einseitig zu seinen Gunsten auf und beeinträchtigt damit die gemeinsame Handlungsbasis, die Anlass für die anderen ist, ihrerseits ihre möglichen Zielsetzungen zugunsten des Handelnden zu begrenzen. Unter dieser Voraussetzung lassen sich bei der überwiegenden Zahl von umweltrechtlichen Tatbeständen in dem genannten Sinne Gegenseitigkeitsbeziehungen feststellen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die wechselseitigen Wirkungsbeziehungen u. U. erst nach Überschreitung

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eines gewissen Schwellenwertes zur Wirkung kommen, d. h. nur unter bestimmten Bedingungen bestehen. Das Individuum hat sein Verhalten so einzurichten und zu begrenzen, dass die Lebens- und sonstigen umweltrechtlich relevanten Interessen aller Mitmenschen in einer jeweils näher zu bestimmenden Form erhalten bzw. gesichert werden. Dem gleichen Ziel sind die Rechtsschutzorgane des Staates verpflichtet. V. Gleichgewichtsbeziehungen der umweltrechtlichen Handlungsorganisation Um die Strukturprinzipien des Umweltrechts genauer zu erfassen, müssen die Bedingungen jenes Zustands ermittelt werden, in dem sich die Elemente des Umweltrechtssystems als dynamische Teilsysteme im Gleichgewicht befinden und die verfassungsrechtlich und im einfachen Recht verankerten ökologischen Schutzziele optimal verwirklicht werden. Die Austauschbeziehungen bleiben in der modernen Massengesellschaft nicht im Sinne eines Laissez-faire sich selbst überlassen; In vielen Lebensbereichen lässt sich der Schutz der Umwelt nur dadurch verwirklichen, dass der Staat entsprechend den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats als planende, lenkende und verteilende Einrichtung interveniert. Auch hier trifft die Glieder der Gesellschaft untereinander sowie in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit in Form von Schutz-, Beistands- und Vorsorgepflichten in bestimmten Grenzen eine Pflicht zur ökologischen Mitverantwortung und sozialen Normanpassung. Auf der Grundlage dieser Prinzipien hat der Gesetzgeber zum Zwecke der optimalen Zielverwirklichung eine ökologisch orientierte, soziale Handlungsorganisation geschaffen, die sich in ihrem Aufbau und Ablauf u. a. an bestimmten Leitprinzipien orientiert. So wird jedem Bürger – oft bereits im Vorfeld des Umweltrechts – zur Sicherung seines freiheitlichen Rechtsstatus ein autonomer Bereich mit entsprechenden subjektiven Rechten zuerkannt, der gegen Eingriffe von außen mehr oder weniger abgeschirmt ist. Ausübung und Gestaltung dieser Rechte unterliegen grundsätzlich seiner alleinigen Entscheidungskompetenz (Autonomieprinzip). Oberstes Gebot des Umweltrechts ist es dabei, die autonomen Rechtspositionen der Bürger vor Beeinträchtigungen zu schützen. Da dies nur auf dem Wege über eine mehr oder weniger große Zahl von Zwischenzielen erreichbar ist, ist der Schutzbereich des Umweltrechts auf jene Rechtsgüter zu erstrecken, von deren Schutz bzw. Verwirklichung die Realisierung des genannten Endziels zumindest mittelbar abhängt. Bei den Normmaterien des Umweltrechts ist zunächst und grundsätzlich der potenzielle Schädiger – z. B. Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage – für die Gefahrenabwehr zuständig. Ein Mitverschulden oder eine Mitverursachung des Opfers an der Entstehung der ihm drohenden Gefahr ist – von umwelthaftungsrechtlichen Ausnahmen abgesehen – unbeachtlich. Die darin liegende Aufgabenverteilung rechtfertigt sich aus dem Autonomie- und Gegenseitigkeitsprinzip. Eine Regelung, die den ökologisch Betroffenen als Opfer etwa nur unter der Bedingung

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schützt, dass er zum Selbstschutz nicht in der Lage ist oder war, würde den Betroffenen zu einer aktiven Mitwirkung an der Verhinderung drohender Gefahren zwingen, was jedoch eine höchst unausgewogene Umverteilung umweltrechtlicher Aufgaben und Lasten mit sich bringen würde. Da im heutigen Zusammenleben risikobzw. gefahrgeneigte Handlungen eher die Regel als die Ausnahme bilden, würde schnell jener Punkt erreicht, an dem durch Freiheitsbeschränkungen die Handlungsautonomie des pflichtbewussten Bürgers insgesamt in Frage gestellt würde. Eine Inanspruchnahme des der Gefahr nicht weichenden Opfers hätte letztlich eine ungerechtfertigte Verschiebung des Gleichgewichts in den Rechtsbeziehungen zu Gunsten umweltrechtlicher Rechtsverstöße zur Folge. Während der umweltrechtstreue Bürger. eine Rechtsposition nach der anderen räumen müsste, könnte der potenzielle umweltrechtliche Rechtsbrecher seinen Autonomiebereich entsprechend ausbauen. Hier wird deutlich, dass sich hinter dem Grundsatz, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, ein fundamentales Gleichgewichtsprinzip menschlichen Zusammenlebens verbirgt. Seine Realisierung in den Umweltgesetzen und ihrer Umsetzung bildet die Grundlage für zwei wesentliche Verstärkungen der Autonomie umweltrechtstreuer Nutzer. Dass sie sich um die von Umweltverstößen Dritter ausgehenden Gefahren grundsätzlich nicht zu sorgen brauchen (Vertrauensgrundsatz), bringt eine erhebliche Entlastung und mehr Freiraum für sozial anerkannte Handlungen mit sich. Die mit der Verteilung und Spezialisierung von Aufgaben der Rechtsgutserhaltung erzielten „Ersparnisse“ an Zeit- und Sachaufwand kann der insoweit von Pflichten entlastete Beteiligte für andere Zwecke einsetzen, an deren Realisierung ebenfalls ein schutzwürdiges Interesse besteht. Aufgaben, Befugnisse und Lasten der umweltrechtlichen Gefahrenabwehr sind auf Bürger und staatliche Institutionen recht unterschiedlich verteilt. Neben Handlungsbereichen, in denen die Hauptlast der Verantwortung beim potenziellen Schädiger liegt, gibt es solche, in denen der Gesetzgeber alle wesentlichen Aufgaben und Kompetenzen an sich zieht bzw. entsprechenden Behörden zur Erfüllung überträgt. Da von der Wahl der angemessenen Organisationsform der Bestand von Rechtsgütern abhängen kann, gehört diese mit zu den Grundbedingungen einer optimalen Gestaltung des Umweltrechts. Dem potenziellen Schädiger ist zur Aufgabe gemacht, sein Verhalten so einzurichten, dass andere hierdurch nicht geschädigt bzw. gefährdet werden. Eine Abwälzung des Risikos auf unbeteiligte Mitbürger hingegen widerspräche dem Autonomieprinzip und würde das Gleichgewicht in den entsprechenden Rechtsbeziehungen stören.

VI. Systemelemente umweltrechtlicher Handlungsorganisation Das in den umweltrechtlichen Tatbeständen ge- oder verbotene Verhalten ist Element eines Schutzsystems, das jeweils nicht nur bereichsspezifisch, sondern tendenziell auch medienübergreifend zu strukturieren ist. Dieses System sucht

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seine Ziele mit den Mitteln der sozialen Organisation zu verwirklichen. Der potenzielle Schädiger nimmt in diesem System neben anderen Stellen nur gewisse Teilfunktionen wahr. Welches Fehlverhalten ihm objektiv zuzurechnen ist, kann nur festgestellt werden, wenn geklärt wird, welche speziellen Aufgaben, Verantwortlichkeit und Kompetenzen ihm im Rahmen dieser Handlungsorganisation zugeordnet sind. In diesem Sinne knüpft eine Struktur- und Funktionsanalyse der Handlungsorganisation „Umweltrecht“ an die Frage an, welcher organisatorischen Mittel sich das Umweltrecht bedient, um seine Ziele zu erreichen. Gegenstand organisatorischer Einflussnahmen sind in erster Linie jene Verhaltensweisen, die der Verhinderung wahrscheinlich oder doch möglicherweise drohender Rechtsgutsverletzungen dienen. An diesen Maßnahmen der Gefahrenab-wehr und Risikoprognose sind mehr oder weniger alle Systemelemente (Normsetzer, Richter, Behörden, Anwälte, Sachverständige, potenzielle Schädiger, Opfer u. a.) mitbeteiligt. In welcher Weise Umweltgesetze auf Vorgänge der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge Einfluss nehmen, ist jeweils bereichsspezifisch geregelt und kann hier nicht im Einzelnen untersucht werden. Dabei unterliegt der Umgang mit den umweltgesetzlichen Regelungen auch den persönlichen Neigungen der Anwender. So kann die anwaltliche Beratung eines Klienten diesen zur Vorsicht oder zum Wagnis veranlassen und dessen Handlungsweisen beeinflussen, doch ist der Klient kaum in der Lage zu beurteilen, wie weit sein Anwalt dabei unbewussten psychischen Bedürfnissen und Veranlagungen unterliegt (R. Jakob 1986, S. 264). Die Differenzierung zwischen einzelnen umweltrechtlichen Grundfunktionen der Norm (z. B. der Bewertungs-, Bestimmungs- und Schurzfunktion) trägt entscheidend dazu bei, die Umweltrechtsnormen von ihren Wirkungen her zu verstehen und als Mittel der „Verhaltenssteuerung“ (M. Kloepfer 1999) beherrschbar zu machen. Um zu erfahren, wie das Umweltrechtssystem in dieser Hinsicht strukturiert ist, müsste in Bezug auf jede „Stelle“ (Gesetzgeber, Richter, Behörde, potenzieller Schädiger usw.) geprüft werden, nach welchen Prinzipien ihr spezielle Aufgaben des Güterschurzes zugeordnet sind. Die Frage wirft vielschichtige Probleme der Verantwortungsteilung auf, was hier nur angedeutet werden kann. Auch nach der Hinwendung des Umweltrechts zum präventiven Schurzdenken verbietet sich eine Problemsicht, die sich allein an Effizienzgesichtspunkten orientiert. Die Erhaltung von gefährdeten Rechtsgütern ist im Umweltrecht meist mit erheblichen „Kosten“ verbunden. Eine Inanspruchnahme des Bürgers nach reinen Effizienzgesichtspunkten würde letztlich zu einer Kosten- und Risikoabwälzung auf unbeteiligte Dritte führen, die dem Autonomieprinzip widerspricht. Wegen dieser und ähnlicher Konsequenzen kann die Frage der Aufgabenverteilung im Umweltrecht nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Normwirksamkeit betrachtet werden. Es handelt sich zumindest auch um ein allgemeines Wertungsproblem, das sich wesentlich an den genannten Wertprinzipien (Autonomie-, Gegenseitigkeitsprinzip u. a.) auszurichten hat. Darüber hinaus spielt das Rechtsgefühl als Identifikation mit dem einen oder anderen Interessenstandpunkt eine Rolle; es handelt sich dabei primär um eine spontane Bewertung, deren Bestim-

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6. Teil: Rechtspsychologie als Rechtstheorie

mungsgrund das Gemeinschaftsgefühl ist, das nach Alfred Adler die mehr oder weniger geglückte Kompensation des auf Grund biologischer Schwäche des Menschen bestehenden Minderwertigkeitsgefühls darstellt und aus Gründen der Existenzsicherung entwickelt wird (M. Rehbinder 1985, S. 181 f.).

VII. Verursacherprinzip und Reziprozität: Rechtspsychologisch inspirierter Zurechnungsgrund? Die Bedeutung des Verursacherprinzips liegt rechtssystematisch in einer Haftungszurechnung, zugleich aber in einer Haftungsbegrenzung, deren Notwendigkeit aus den Zielen des Umweltrechts abgeleitet wird. Mit dieser Funktionsbestimmung ist zweifellos ein zentraler, aber nur einer von mehreren Teilaspekten des erwähnten Grundsatzes beschrieben. Die Aufgaben, die dieser Grundsatz als Wert-, Aufgabenund Risikoverteilungsgrundsatz zu erfüllen hat, dürften rechtspsychologisch kaum weniger wichtig sein. In diesem Sinne bürdet das Verursacherprinzip demjenigen die Wertverluste, Kosten und Unsicherheiten der Gefahrenabwehr auf, der die Gefahrensituation verursacht hat. Wer durch sein Verhalten einen umweltrechtlich missbilligten Zustand schafft, hat – als Folge des Reziprozitätsprinzips – alle Anstrengungen zu unternehmen oder jedenfalls die Lasten und Kosten zu tragen, die zur Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts in den Beziehungen zwischen den Bürgern und der Erhaltung des bedrohten Rechtsguts erforderlich sind. In diesem Sinne hat für das Verursacherprinzip der Verteilungsgrundsatz, wie er auch konfliktpsychologisch einsichtig ist, grundlegende Bedeutung für den Gesamtbereich des Umweltrechts. Aus Billigkeitsgründen können sich Begrenzungen ergeben, die durch das Gemeinlastprinzip aufgefangen werden (dazu näher R. Steinberg 1998, S. 126 ff.). VIII. Ausblick Wie jedes Rechtssystem beinhaltet das Umweltrechtssystem ein Ordnungsprinzip, das menschlichen Gesellschaften und Institutionen die Möglichkeit zur Entwicklung bietet und damit technologischen Fortschritt unter steigender Risikovermehrung voraussetzt und ermöglicht. Das Umweltrecht schafft dafür einerseits die erforderlichen Strukturen, erfüllt andererseits aber auch das „Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit der Bürger“ (R. Jakob 1986, S. 264 f.) durch entsprechende institutionelle Entlastungsfunktionen (vgl. A. Gehlen 1967, S. 17 ff.). Dieses Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit entspricht einem Verhaltenstypus, der sich unter dem Begriff der Abhängigkeit und des Abhängigkeitsverhaltens (dependency) zusammenfassen lässt. Höhere Anforderungen als bisher wird dabei zukünftig die Bekämpfung der Umweltkriminalität stellen, durch die in der komplex abgesicherten Kulturgesellschaft aggressive Wünsche ausgelebt werden können. Der lauter werdende Ruf nach drastischen Strafen für Umweltstraftäter ermöglicht psychologisch schuldfreie Aggressionsabfuhr gegenüber denen, die jene Kulturleistung

Reziprozität im Umweltrecht als rechtspsychologisches Phänomen

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nicht vollbringen, durch Identifizierung mit der vollstreckenden Gewalt (Lustgewinn, Sündenbockmotiv). Doch auch bereits die schlichte Notwendigkeit, Gesetze auszulegen und anzuwenden, kann bekanntlich dazu dienen, „Strafwünsche oder das Verlangen nach Ordnung und Sicherheit auszuleben“ (R. Jakob 1986, S. 264). Insgesamt ist festzustellen, dass die erörterten Aspekte der Reziprozität die Annahme rechtfertigen, dass die aggressive Komponente umweltrechtlicher Kodifikationen, sollen sie als effiziente Regler der Verhaltenssteuerung wirken, in einem angemessenen Verhältnis zur Aggressivität der Individuen und der Gesellschaft stehen muss, deren Schutz die entsprechenden Gesetze dienen sollen.

Literatur Bobis-Seidenschwanz, A. / Wiedemann, P. (1993): Gesundheitsrisiken nieder- und hochfrequenter elektromagnetischer Felder. Arbeiten zur Risiko-Kommunikation, Heft 39. Forschungszentrum Jülich. Di Fabio, U. (1994): Risikoentscheidungen im Rechtsstaat. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Gehlen, A. (1967): Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt. Jakob, R. (1986): Zur psychologischen Dimension der Gesetze. In: I. Tammelo / E. Mock (Hrsg.), Rechtstheorie und Gesetzgebung. Festschrift für Robert Weimar, S. 259 – 267. Frankfurt am Main – Bern – New York: Lang. Kloepfer, M. (1999): Umweltrecht. 2. Aufl. München: C. H. Beck. Lenk, H. (1998): Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Murswiek, D. (1985): Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformung. Berlin: Duncker & Humblot. Newcomb, T. M. (1950): Social Psychology. New York: The Dryden Press, Inc. Rehbinder, M. (1985): Rechtsgefühl als Gemeinschaftsgefühl. In: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, S. 174 – 183. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 10. Opladen: Westdeutscher Verlag. Rossnagel, A. (1979): Grundrechte und Kernkraftwerke. Steinberg, R. (1998): Der ökologische Verfassungsstaat. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weimar, R. (1986a): Ecology versus Economy in Law. Study of a Basic Problem. In: R. Eckhoff / L. Friedmann / J. Uusitalo (Hrsg.), Vernunft und Erfahrung im Rechtsdenken der Gegenwart, S. 415 – 421. Berlin: Duncker & Humblot. – (1986b): Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomisch-ökologischen Zeitalter. In: W. Krawietz / R. Weimar (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften, S. 147 – 162. Frankfurt am Main – Bern – New York: Lang.

Kreativität: Psychischer Prozess und Merkmal geistigen Schaffens* I. Einführung In den bisherigen Referaten sind bereits Ansätze formuliert worden, die teils einzelnen Aspekten der Kreativität, teils ihrer Ganzheit gelten. Die neuere Kreativitätsforschung bezieht diese Vorstellungen insbesondere auf Ereignisse, die die neurophysiologischen Grundlagen betreffen; traditionelle Arbeitsrichtungen bleiben demgegenüber deskriptiv und sind „handlungsnah“ orientiert. Bei einem Teil dieser Konzepte handelt es sich um originär psychologische Entwicklungen, im Übrigen um interdisziplinäre Importe aus anderen Wissenschaftsdisziplinen. Hier kann nur ein enger Ausschnitt aus der einschlägigen Forschungsliteratur vorgestellt und in einzelnen Punkten kritisch beleuchtet werden. Die getroffene Auswahl zielt in erster Linie auf Prozesse, in denen kreatives Denken sich konstituiert.

II. Definitorische Orientierungen Der amerikanische Kreativitätsforscher Barron1 definiert Kreativität – ganz einfach – als „die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen“. Dieser Begriff des Neuen ist das am häufigsten angeführte Kriterium für Kreativität. Der Begriff des Neuen wird dabei meist als Synonym mit „originell“ gebraucht. Wer über Originalität entscheidet und was deren Merkmale sind, bleibt offen. Auch ob statistische Seltenheit – als Abweichung von irgendwelchen Normen – für sich selbst als notwendige und zugleich hinreichende Bedingung für kreative Objekte angesehen werden kann, ist in der Psychologie so gut wie ungeklärt. Stein2 hat diese Frage immerhin berücksichtigt und kennzeichnet ein kreatives Produkt als ein neues Produkt, das von einer Gruppe zu irgendeinem Zeitpunkt als brauchbar oder befriedigend angesehen werden kann. Nicht Neuigkeit allein, erst * Erstveröffentlichung in M. Rehbinder (Hrsg.), Die psychologische Dimension des Urheberrechts. 2003, S 63 – 76. Baden-Baden: Nomos 2003. UFITA-Schriftenreihe, Bd. 211. Zugleich in: M. Rehbinder (Hrsg.), Die psychologische Dimension des Urheberrechts. Bern: Stämpfli 2003. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 7. 1 1965, S. 3.; zu einer vertiefteren, allerdings teilweise zweifelhaften Problematisierung des „Neuen“ siehe etwa Groys (1999), S. 29: „Das Neue ist nicht bloß das Andere“; S. 42: „Das Neue als das wertvolle Andere“; S. 50: „Das Neue ist kein Produkt der menschlichen Freiheit“. 2 1953, S. 311 ff.

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der daraus resultierende Nutzen wird hier zur entscheidenden Größe. Eine solche wesentlich psychoökonomisch orientierte Sichtweise ist meines Erachtens nicht ganz unproblematisch. Sie erweitert zwar richtigerweise die Perspektive von Kreativität übergreifend von der individuellen auf die gesellschaftliche Ebene. Tatsache bleibt jedoch, dass sie dabei ohne die implizite, in ihrer Allgemeinheit zweifelhafte Annahme eines utilitaristischen Welt- und Menschenbildes nicht auskommt. M. E. muss das Produkt, um im psychologischen Sinne kreativ genannt werden zu können, nicht unmittelbar praktisch verwendbar oder ausgereift sein – zumal in seiner künstlerischen oder literarischen Gestalt. MacKinnon3 bezeichnet Kreativität, um auch die immateriellen Produkte einzubeziehen, als „eine Antwort oder Idee, die neu ist oder im statistischen Sinne selten . . . , die sich ganz oder teilweise verwirklichen lässt. Sie muss dazu dienen, ein Problem zu lösen, einen Zustand zu verbessern oder ein vorhandenes Ziel zu vollenden.“ Johnson4 zählt als Dimensionen kreativer Tätigkeit im Einzelnen auf: Originalität, Ungewöhnlichkeit und Nützlichkeit, ferner Sensitivität gegenüber Problemen (also die Fähigkeit, Fragen zu identifizieren und zu formulieren), intellektuelle Führerschaft (also Einfluss auf die Forschungsinhalte nachfolgender Wissenschaftler), Scharfsinn und Erfindergeist, Angemessenheit und Breite der Verwendbarkeit bzw. des Einflusses.5 Hinzufügen lassen sich sicherlich weitere Merkmale, insbesondere Flexibilität und Nonkonformismus. Interessant ist der geradezu selbstverständliche Definitionsprozess bei Laien, auf den Drevdahl6 hinweist. Er selbst hat unter Berücksichtigung entsprechender Ergebnisse folgende Definition zusammengestellt: „Kreativität ist die Fähigkeit des Menschen, Denkergebnisse beliebiger Art hervorzubringen, die im Wesentlichen neu sind und demjenigen, der sie hervorgebracht hat, vorher unbekannt waren“. Es könne sich dabei um Imagination oder um eine Gedankensynthese handeln, nur müsse es mehr sein als eine „bloße Zusammenfassung“. Das kreative Ergebnis müsse nützlich und zielgerichtet sein und dürfe nicht in reiner Phantasie bestehen – obwohl es nicht unbedingt so angewendet zu werden brauche oder perfekt und vollständig sein müsse. Wie verhalten sich nun die psychologisch-definitorischen Orientierungen zu den begrifflichen Merkmalen geistigen Schaffens im Rechtssinne, speziell im urheberrechtlichen Sinne? Wir finden hier – wie mir scheint – vordergründig weitgehende Kongruenz, die Psychologie scheint jedoch das „Neue“ wesentlich stärker zu betonen. Unter geistiger Schöpfung, wie § 2 Abs. 2 UrhG den Gegenstand des Urheberrechtsschutzes bezeichnet, sind zu verstehen: 3 4 5 6

1962, S. 485. 1972, S. 276 f. Vgl. auch Amelang / Bartussek (2001), S. 267. 1956, S. 22.

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 nur Erzeugnisse von einer gewissen gestalterischen Qualität. Gestalterische Qualität ist synonym mit schöpferischer, also kreativer Qualität. Kreativ zu sein bedeutet nicht schon, nur etwas aus sich heraus zu schaffen; es bedeutet mehr, nämlich – so M. Rehbinder7 –  „etwas fantasievoll Besonderes zu schaffen“. Die psychologischen Kreativitätsdefinitionen greifen den Fantasiebegriff nicht auf.8 Sie enthalten ihn aber implizit oder legen ihn als selbstverständlich zu Grunde. Denn Fantasie meint nichts anderes als eine Form schöpferischer Vorstellungstätigkeit, deren Inhalte und Richtung durch momentane Einfälle oder Inspirationen bestimmt sind. In Fantasievorstellungen ist das aus der Erfahrung stammende Material zu Kombinationen zusammengefasst, die selbst nicht aus der Erfahrung stammen.

Das Ergebnis dieser Tätigkeit ist hiernach nicht dann schon eine „Schöpfung“, wenn sie, verglichen mit dem Üblichen, nur etwas Besonderes ist. Eine Schöpfung ist eben qualitativ mehr als etwas nur Besonderes; sie ist etwas „phantasievoll“ (Rehbinder) geschaffenes Besonderes. Neben dem Produkt bleibt hier also auch der Entstehungsprozess als fantasievolles Schaffen definitorisch nicht oder doch nicht völlig ausgeklammert.  Es wird ein neuer geistiger Gegenstand in der Außenwelt geschaffen.9 Das fantasievoll geschaffene Besondere muss also auch neu sein. Durch Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit ist dagegen eine schöpferische Leistung noch nicht ausreichend bestimmt.10  Das Ergebnis schöpferischer Tätigkeit muss nicht „genial“ sein. Denn dem Streben des Genius eignet ja so etwas wie ein Erweiterungswille aus der Begrenzung des Seins, der für geistiges Schaffen jedoch keine notwendige Bedingung ist. Das Wirken des (schlicht) kreativ Handelnden ist selbst dort, wo sein Tatendrang in unbekannte Räume greift, immer nur Ausdruck eines immanenten „Bereicherungswillens“ besonders hinsichtlich Wissenschaft und Kunst; und ein solcher Wille ist für eine „geistige Schöpfung“ ausreichend.  Eine geistige Schöpfung ist mehr als das, was bei der – wie Rehbinder11 formuliert – „üblichen geistigen Tätigkeit auf dem jeweiligen Gebiet einer Werkkategorie bei jedem zu erwarten ist“. Kreativität ist daher ein notwendiges Merkmal geistigen Schaffens und seines Ergebnisses, der Schöpfung.  Eine Schöpfung ist, verglichen mit dem Üblichen, auch etwas je Individuelles. Und dieses Individuelle, das urheberrechtlich eine Gestaltungshöhe verlangt, be2003, S. 9 – 24. Vgl. jedoch Kunz (1946), der das „schöpferische“ Moment in der Fantasie diskutiert (S. 64). 9 Dazu Rehbinder (2002), § 6 I. 10 Kunz (1946), S. 65 f. 11 Oben Fn. 7. 7 8

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darf auch in psychologischer Sicht eines entsprechenden qualitativ zu substantiierenden Kriteriums.  Nur geringfügige Leistungen sind keine Schöpfungen gerade auch im Sinne der Kreativitätspsychologie, sondern kleine Münzen, die psychologisch unterhalb kreativer Hervorbringungen anzusiedeln sind und die zu den geistigen Tätigkeiten einfacher Art gehören.

III. Prozessorientierte Modelle Wie nun lassen sich schöpferische Abläufe modellhaft erfassen? An erster Stelle dürfte hier Wallas12 zu nennen sein, der schon 1926 ein instruktives VierPhasen-Schema propagiert, das für alle kreativen Abläufe kennzeichnend sein soll: Er unterscheidet die Phase der Vorbereitung, der Inkubation, der Inspiration oder Erleuchtung und die Phase der Verifikation. Inkubation meint die Phase, in der auf Seiten der Person eine spezifische Aktivität im Hinblick auf eine Lösung des Problems nicht erkennbar ist, wobei am Ende dieser Phase oder schon vorher gewisse Anzeichen weiterer Bemühungen zu beobachten sind, manchmal verbunden mit Fortschritten im Lösungsprozess.13 Wird eine solche Phase beeinträchtigt, führt dies zu Leistungsminderungen. Umgekehrt führt die Sicherung oder Begünstigung eines solchen Stadiums zu einem erhöhten kreativen Output. Die Inkubationsphase kann zwischen einigen Minuten und mehreren Jahren andauern.14 Wichtig ist, dass zwei überkommene Annahmen der älteren Kreativitätsforschung sich nicht mehr halten lassen,15 nämlich einmal die Annahme, dass – die Phasen der Inkubation und Inspiration oder Erleuchtung unbewusst und nach ganz anderen Regeln ablaufen als den Regeln logischen Denkens und die weitere Annahme, dass – die in diesen Phasen ablaufenden Prozesse für die Bereiche oder Inhalte des Denkens unspezifisch sind.

Entscheidend für diesen Wandel der Kreativitätsforschung sind die weithin bekannten gewordenen kritischen Analysen von Weisberg.16 Danach stellen retrospektive Berichte herausragender Persönlichkeiten über die Entstehung ihrer kreativen Produkte keine wissenschaftlich verlässlichen Quellen dar. Die häufig anzutreffende Meinung, die kreative oder gar geniale Idee sei nachgerade „aus dem Nichts“ gekommen, ganz plötzlich und ohne nennenswertes eigenes Zutun, per12 13 14 15 16

1926, S. 13 ff. Dazu Guilford (1979), S. 1. Amelang / Bartussek (2001), S. 286. Ebd., S. 287. 1986, S. 43 ff.

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petuiert nach Weisberg17 nur einen Mythos. Sorgfältige Analysen zu kreativen Prozessen würden nach seiner Ansicht insbesondere zweierlei ergeben: dass nämlich kreative Leistungen meist das Ergebnis harter Arbeit seien und kreatives Denken im Wesentlichen nur eine Intensivierung der üblichen Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Problemlöseprozesse sei, also ein Denken auf anspruchsvollem Niveau, nicht aber eine spezifisch und qualitativ andere Art des Denkens. Lediglich die Originalität und Bedeutsamkeit der Konsequenzen dieser Prozesse – nämlich die Schöpfung als Handlungsergebnis – begründeten die Sonderstellung. Insofern weisen analytisch-logisches Denken einerseits und kreatives Denken andererseits hiernach eine spezifische Ähnlichkeit auf.18 Richtigerweise wird hier jedoch anders anzusetzen und genauer zu differenzieren sein: Wie wir über eine logische Intelligenz (IQ) und eine emotionale Intelligenz (EQ) verfügen, so besitzt der Mensch auch eine kreative Intelligenz (CQ), die im Wesentlichen angeboren ist. Erst diese dritte, fundamentale Intelligenz ist es, die uns befähigt, komplexe Zusammenhänge zu erkunden und zu erkennen, Muster und Regeln nicht nur zu durchschauen, sondern von ihnen auch abzuweichen, sie umzugestalten, Werte und Normen zu setzen, Sinn zu stiften, alles dies um Kreativität und Visionen, d. h. neue Möglichkeiten des Denkens und Seins zu entwickeln.19 Anhand einiger herausragender wissenschaftlicher und künstlerischer Leistungen aus der Vergangenheit zeigt Weisberg20, dass neuartige Erkenntnisse und bedeutsame Einsichten ohne aufgabenrelevantes Vorwissen nicht möglich seien. Kreatives Problemlösen bedarf hiernach der Verfügbarkeit über einen umfassenden und flexibel nutzbaren Wissensbestand. Ungesichert21 ist jedoch die daraus abgeleitete Folgerung, dass inhaltsspezifische Expertise nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung für herausragende Leistungen sei. Ist wirklich jeder, der über eine exzellente Wissensbasis verfügt, zu kreativem Denken auf dem gleichen hohen Niveau fähig? Was unterscheidet z. B. den Autor eines in der Fachwelt anerkannten sehr guten Lehrbuches von einem punktuell oder global Erkenntnis maximierenden Forscher? Nur das Wissen? Gewiss nicht! Weisberg hat hier sicherlich einen Mythos zerstört, er hat ihn aber leider durch einen anderen Mythos ersetzt.22 Ebd. Es ist charakteristisch für die Prozessmodelle, dass sie im kreativen Denken lediglich eine Intensivierung des üblichen Problemlöseverhaltens sehen. Zur abweichenden Position der Komponentenmodelle siehe unten VI. – Die Annahme, dass für überdurchschnittliche Kreativität hohe Intelligenz Voraussetzung sei, erscheint empirisch gehaltvoll, ist jedoch nicht bestätigt. Zur Problematik s. a. Amelang / Bartussek (2001), S. 682: „Einfluss von Intelligenz nicht herauspartialisiert“. 19 Vgl. auch unten Fn. 41. 20 1986, S. 56 ff. 21 Dazu und zum Folgenden Weinert (1991), S. 35 ff. 22 Ebd. 17 18

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Andere Ansätze stellen vor allem der Prozess der Aufmerksamkeit und ihre Funktion bei der Kreativität in den Mittelpunkt: So vertritt etwa Mendelsohn23 die Auffassung, dass eine der Voraussetzungen für Kreativität die Defokussierung der Aufmerksamkeit sei. Gemeint ist die Verteilung oder Streuung der Aufmerksamkeit auf einen weiten Bereich verschiedener Bewusstseinsinhalte und / oder auf die peripheren Merkmale der zu erfüllenden Aufgaben. So unverzichtbar eine Fokussierung der Aufmerksamkeit24 für hohe Effizienz etwa bei der Lösung von juristischen Auslegungs- und Subsumtionsproblemen ist, die vorgegebene Strukturen und Randbedingungen aufweisen, so günstig scheint umgekehrt die Verteilung oder Streuung der Aufmerksamkeit bei der Hervorbringung kreativer Ideen und Produkte zu sein. Denn dabei kommt es häufig auf die Auflösung und Veränderung bestehender Vorstellungen und Strukturen an, zunächst aber auch darauf, anfänglich vielleicht noch schwachen Eingebungen zum Durchbruch zu verhelfen und herkömmliche Bedenken zu überwinden.25 Ganz in dieser Weise wurde – psychologisch gesehen – der Gesetzespositivismus letztendlich überwunden, wir gewöhnten uns an judge-made law und sogar an public agency-made law26 und blicken inzwischen erstaunt auf Neuerungspotential beim lawyer-made law,27 auch wenn es bei Larenz oder Canaris methodologisch noch nicht erfasst und kategorisiert ist. Nicht prinzipiell anders verhält es sich, wenn es etwa um die Entstehung neuer (Teil-)Disziplinen oder Domänen innerhalb einer sich erweiternden Wissenschaft geht. So wird in der Rechtswissenschaft klassisches „Revierverhalten“ verlassen mit dem Einzug der Rechtsinformatik, der Rechtspsychologie, der Neurojurisprudenz,28 um nur einige Beispiele innovativer „Entgrenzung“ zu nennen. Jedenfalls sprechen dabei verschiedene psychologische Befunde aus anderen Bereichen für eine positive Korrelation zwischen Aufmerksamkeitsumfang und Kreativität.29 Andere Autoren30 haben den Akzent nicht auf das defokussierte Vigilanzspektrum, sondern gerade auf das Changieren zwischen fokussierter und defokussierter Aufmerksamkeit im Sinne einer Alteration als Voraussetzung und Kennzeichen kreativen Denkens gelegt. Herausragende Leistungen beruhen hiernach darauf, einerseits das spezifische Wissen zu fokussieren, es also in angestrengtem Denken gezielt einzusetzen, andererseits während bestimmter oder auch völlig offener Phasen von Problemlöseprozessen sich von Problemen wieder zu distanzieren und abzuschalten. 23 24 25 26 27 28 29 30

1976, S. 341 ff., 353 ff. Dazu Amelang / Bartussek (2001), S. 287 u. 682. Ähnlich dies., ebd. Vgl. Weimar / Leidig (2002), S. 12, 17, 27 f., 31 f. und 51. Dies., ebd., S. 12 u. 51. Weimar (2000), S. 39 ff. Amelang / Bartussek (2001), S. 287. Vgl. nur Lesgold (1989), S. 188 ff.

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Aus ganz anderer Sicht hat Kris31 für die künstlerische Inspiration einen harmonischen Wechsel zwischen primären und sekundären Kognitionsprozessen angenommen. Primäre Kognitionsprozesse treten in Träumen und Tagträumen auf, auch in Hypnosen und Psychosen; sie sind autonom-autochthon, frei-assoziativ und bedienen sich konkreter Vorstellungsbilder.32 Demgegenüber kennzeichnen sekundäre Kognitionsprozesse das abstrakte, logische und realitätsbezogene Denken.33 Verschiedene Befunde – so der leichtere Zugang kreativer Personen zu den Primärkognitionen, ihre stärkere Phantasietätigkeit und das bessere Erinnern nächtlicher Träume34 – scheinen die These von Kris zu stützen.35 Es ist das Verdienst von Martindale36, sich nachhaltig darum bemüht zu haben, diese einander sehr ähnlichen Konzepte auf neurophysiologischem Niveau zu integrieren. Kreativität ist hiernach gebunden an die gleichzeitige Aktivierung möglichst vieler neuronaler Verschaltungen im Neocortex, dem stammesgeschichtlich jüngsten Teil der Großhirnrinde. Ein solcher Zustand stellt sich indes eher bei niedriger kortikaler Erregung (low arousal) als bei hoher Erregung ein; denn dann sind sehr viele Knotensysteme in annähernd gleichem Ausmaß aktiviert, während eine starke kortikale Erregung einzelner Zellverbände zu einer Hemmung der weniger aktivierten Systeme führt.37 Nach Martindale gehen Primärkognitionen, defokussierte Aufmerksamkeit und flache Assoziationshierarchien mit niedriger kortikaler Erregung einher. Damit ist selbstverständlich nur – wie Amelang und Bartussek38 hervorheben – der momentane Zustand bei der Inspiration oder Erleuchtung, nicht ein habituelles Charakteristikum kreativer Personen beschrieben. Die neurophysiologische Verankerung kreativen Denkens in der je spezifischen Aktivität neuronaler Netzwerke ist in der Psychologie sehr umstritten.39 Dieser Ansatz kann nach Amelang und Bartussek40 nur überzeugen, wenn es gelingt, etwa über Ableitungen im EEG, das Ausmaß sowie die Konzentration bzw. Diversifikation von Arousal nachzuweisen.41 1952, S. 50 ff. Amelang / Bartussek (2001), S. 288. 33 Dies., ebd. 34 Zu diesen Resultaten Urban (1993), S. 133 ff. 35 Ebenso Amelang / Bartussek (2001), S. 288. 36 1989, S. 211 ff. 37 Ebd. 38 2001, S. 288. 39 Nichts anderes gilt für einzelne psychiatrische Phänomene; dazu ausf. Hell (2003), insb. S. 249 ff. m. w .N.; instruktiv aus neurophilosophischer Sicht Lenk (2001), insbes. S. 108 ff. m. w. N. 40 Amelang / Bartussek (2001), S. 288. 41 Die EEG-basierte Methode dient der Registrierung von Potenzialschwankungen von Neuronenverbänden im Gehirn, die in der neurologischen bzw. neuropsychologischen Praxis bekanntlich von auf der Kopfhaut angebrachten Elektroden erfasst, verstärkt und kontinuierlich aufgezeichnet werden. Ergänzend ist heute die Magneto-Enzephalographie (MEG) ein31 32

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IV. Der chaostheoretische Ansatz Da die Implikationen für originär psychologische Untersuchungen zur Kreativität durchaus begrenzt zu sein scheinen, soll im Rahmen des noch ungelösten Problems der Anwendung außerpsychologischer Theorien auf kreatives Denken hier wenigstens auf die sog. Chaostheorie42 in aller Kürze eingegangen werden. Sie – die ihren Ursprung in der Meteorologie hat – wird heute von allen Sozialwissenschaften43 bemüht und kann auch für die künftige Kreativitätsforschung attraktiv sein. Die Chaostheorie fragt u. a.: Wie entsteht das „Neue“? An dieser Fragestellung marschiert die Kreativitätsforschung gegenwärtig noch ohne prüfbare Ergebnisse vorbei, obwohl das Neue ein Konstituens des kreativen Handelns und seines Ergebnisses ist. Man wird es kaum glauben: Die Wissenschaft ist erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in der Lage, die Frage nach der Entstehung des „Neuen“ auf Hypothesenebene empirisch gehaltvoll zu erörtern.44 Neues entsteht durch Chaos und Evolution im weitesten Sinne. Evolution entfaltet sich, verfeinert, verzweigt sich zu unvorstellbarer Komplexität. Evolution fördert diese Komplexität. Sie treibt jedes System, insbesondere auch das kreative Subjekt, in die Komplexität. Auf der anderen Seite ist ein allzu komplexes, überzüchtetes und dadurch kompliziertes System wiederum weniger leistungsfähig und kann gerade infolge dieser Komplexität besonders störanfällig sein. Zu Lasten der Kreativität. Vielleicht lässt sich sagen: Je komplexer ein System, desto mehr bedarf es der Koordination, die – in Grenzen – als Basisfolie auch der Kreativität fungiert. – So weit hier zum Konzept der Entstehung des Neuen aus chaostheoretischer Perspektive.

V. Sozioökologische Sichtweise Von einigen Forschern wird explizit die Bedeutung von Umweltfaktoren für die Kreativität unterstrichen. Ihrer Konzeption zufolge stellt Kreativität daher nicht zusetzen, die viele neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns ermöglicht. Für die künftige Suche nach der mit dem Bewusstsein und dem von uns postulierten Creative Quotient (CQ) verbundenen neuronalen Aktivität sind – wie hier nur angedeutet werden kann – vor allem Informationen von Belang, die von den 40-Hz-Oszillationen hervorgebracht werden. Neurologie und Quantenphysik schweigen hierzu noch. Es gibt bisher keine einschlägige Literatur, die die Hypothese stützt, dass der CQ existiert. Kreative Intelligenz ist für die Psychologie schwer zu handhaben, weil sie nicht hinreichend dafür gerüstet ist, Dinge zu untersuchen, die nicht objektiv messbar sind. „Qualitative“ Forschung und ihre Methoden werden vernachlässigt. – Zum „Ort der Kreativität“ siehe Lenk (2000), S. 83 ff. 42 Zu den Grundlagen etwa Böhret / Konzendorf (1997). 43 Weimar / Leidig (2002), S. 34 ff. 44 Ebd., S. 56.

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nur ein individuelles, sondern in gewissem Umfang auch ein gesellschaftliches Phänomen dar.45 Damit wird die traditionelle Perspektive, wonach die Kreativität der einzelnen Person immer schon auch eingebettet ist in verschiedene Umweltfaktoren im engeren Sinne, ergänzt durch die Betrachtung eines größeren sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmens, durch eine Perspektive also, die den unmittelbaren Handlungsraum des Einzelnen regelmäßig übersteigt. Ein Beispiel: Denkt man zurück an die Mobilisierung und Bündelung von Kräften in den USA Ende der fünfziger Jahre, wodurch der Technologievorsprung der damaligen UdSSR in der Raumfahrt aufgeholt werden sollte, so liefert uns diese Situation ein historisches Beispiel für kreative Prozesse auf dem Aggregat-Niveau einer ganzen Gesellschaft.46

VI. Investmenttheorie und Komponentenmodelle Einige Kreativitätstheorien stellen stärker auf sich mischende „Investitionen“ als Voraussetzungen für Kreativität ab. Dazu zählt die von Sternberg und Lubart47 vorgestellte „Investmenttheorie“, die auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse diese gleichsam retrospektiv bündelt.48 Der Name „Investmenttheorie“ ist wohl zu Recht deshalb gewählt, weil es die eigenen Fähigkeiten und Anstrengungen sind, die es in Ideen einzubringen gilt, wenn diese als neu und qualitativ hochwertig einzustufen sein sollen.49 Solche Ideen sind, falls sie asynchron zu Zeitgeist und Modetrends sind, gegenwärtig vielleicht weniger geschätzt oder werden nicht selten gar als abwegig bezeichnet.50 Daher gilt das Investment eher auf längere Sicht. Wenn die innovativen Ideen und daraus resultierende kreative Produkte schließlich allgemein akzeptiert sind, wendet sich – so Sternberg und Lubart51 – die kreative Person erfahrungsgemäß einem anderen Gebiet mit momentan „unter Wert gehandelten“ Ideen zu. Das gilt aber nur für den Typ des „kreativen Neuerers“, den es schwerlich „bei seinen Leisten“ hält, nicht für den Typ „Meister“, der nicht zwischen unterschiedlichen Welten wandelt, seine Domäne also nicht verlässt, sie aber permanent optimiert. Auch er und seine Leistungen sind natürlich im besten Sinne kreativ.52 Grundlegend hierzu Rubenson / Runco (1992), S. 131 ff. Amelang / Bartussek (2001), S. 288 f.; zu Umweltfaktoren (z. B. situativer Druck) s. a. dies., S. 682. 47 1991, S. 1 ff. 48 Die Investmenttheorie weist darüber hinaus auch Implikationen für Überprüfungen in künftigen Studien aus; darauf weisen Amelang / Bartussek (2001), S. 290 ausdrücklich hin. 49 Vgl. ebd., S. 290. 50 Ebd. 51 1991, S. 29 ff. 52 Siehe dazu oben das Beispiel „Lehrbuchautor“. 45 46

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Was die Frage nach den intellektuellen Ressourcen betrifft, so denken Sternberg und Lubert53 zu Recht vor allem an die Komponenten von Planung und Überwachung, von Problemlösen und Wissenserwerb: In diesem Sinne beinhalte Kreativität die Anwendung dieser Prozesskomponenten auf neuartige Aufgaben und Situationen oder den Einsatz dieser Komponenten bei vertrauten Aufgaben und Situationen in der Absicht, die Umgebung auszuwählen oder umzugestalten. Die besondere Bedeutung der Komponente Wissenserwerb bzw. Wissen ergibt sich nach Sternberg und Lubert54 immer schon daraus, dass man nur dann in einem Bereich kreativ sein kann, wenn man darüber und über anstehende einschlägige Probleme maximal informiert ist, sich jedoch darüber hinaus von den Einengungen, die solche Kenntnisse mit sich bringen, nach Möglichkeit frei macht. Bloßes Revierverhalten und schlichtes Verwalten von Wissensbeständen führen nicht zur Kreativität.

VII. Kreativität, Persönlichkeit und Umweltfaktoren Unter den kreativitätskorrelierten Persönlichkeitsfaktoren kommt neben einem nachhaltigen Willen insbesondere der Bereitschaft zur Überwindung von Widerständen, ferner der Spontaneität und Risikofreude, der Individualität und der Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen ein vorrangiger Stellenwert zu.55 Was den intellektuellen Stil bei kreativem Verhalten angeht, nehmen Sternberg und Lubart56 zutreffend an, dass für Kreativität ein mehr globaler und progressiver Stil von Vorteil sei. In Anlehnung an Kirton57 unterscheiden sie zwischen sog. „Adaptoren“ und „Innovatoren“. Personen des ersteren Typs tendieren dazu, Probleme durch Adjustierung58 und in schrittweiser Modifikation unter Beibehaltung der grundlegenden Strukturen zu lösen. Sie bewegen sich innerhalb bestehender Paradigmen. Demgegenüber bemühen sich Innovatoren um eine Umstrukturierung fundamentaler Elemente, also – zumindest implizit – um eine Veränderung der Paradigmen selbst.59 Dass sich dabei das bestehende Milieu auf die Aktivierung oder Unterdrückung des Kreativitätspotentials auswirkt, ist ein durchgängiger und zentraler Befund, 1991, S. 14 ff. Ebd. 55 Sternberg / Lubert (1991), S. 29. 56 1991, S. 28. 57 1976, S. 622 ff. 58 So ist das Präjudizialprofil einer „ständigen Rechtsprechung“ durch den Rekurs auf die „Argumentationsweise von damals“ bestimmt. Kritische Äußerungen „von außen“ wie „von innen“ zeigen, dass Ansprüche an die Institutionen gestellt werden. Das Kreativitätsverlangen des Einzelnen stößt dabei milieubedingt allerdings rasch an durchweg unüberwindbare Grenzen. 59 Amelang / Bartussek (2001), S. 291. 53 54

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den die Kreativitätsforschung mit Grund immer wieder betont. Und zwar wirkt die Umgebung in dreierlei Weise; auch insoweit kann Sternberg und Lubert60 zugestimmt werden: Zum einen stellen die Stimuli aus der Umwelt häufig die Bausteine für kreative Produkte zur Verfügung. So ergab sich, dass Kinder in einem Zimmer mit vielen verschiedenen Gegenständen ein erheblich höheres Maß an gedanklicher Flüssigkeit zeigten als eine Vergleichsgruppe in einem leeren Raum. Zum anderen beeinflusst die Umgebung das allgemeine „Klima“ für die Hervorbringung und Umsetzung bzw. Unterdrückung kreativer Gedanken.61 Schließlich ist der „Kontext maßgeblich für die Evaluation der Ideen und Produkte“.62 Bereits Teresa M. Amabile63 führt in diesem Sinne einzelne Faktoren als spezifisch kreativitätsfördernd auf, die sie wie folgt umschreibt: Entscheidungsfreiheit, ein positives Innovationsklima, unerwartete Bekräftigungen, ein stimulierendes physikalisches Milieu, „scope for playfulness“ und – auch hier wie bei einzelnen anderen Autoren – Sicherheit der beruflichen Anstellung.64 Allerdings fragt sich, ob man nicht noch sehr viel weiter gehen muss und bestimmte Gefühle und Erfahrungen wie etwa außerordentliches Wohlbefinden, Euphorie, flow, tiefe Einsicht, mit einer größeren Fähigkeit zu Kreativität in Verbindung zu bringen hat. Es handelt sich insoweit um neurophysiologisch bekannte Begleiterscheinungen einer – zumindest mäßig – gesteigerten Aktivität in den Temporallappen psychisch Gesunder. Dagegen mindern oder verhindern die Kreativität – weil tendenziell unerwünscht – Stressoren wie beispielsweise Druck von Seiten Gleichrangiger,65 eine Supervision66 und erwartete Evaluationen,67 im Allgemeinen auch, aber nicht notwendigerweise persönliche emotionale Instabilität; sie kann fallabhängig Kreativität auch fördern. Hiernach darf ein bedeutsamer Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltfaktoren neben neurophysiologischen Elementen im Rahmen der Kreativitätsthematik als gesichert gelten, mag auch der „große Wurf“ einer umfassenden integrationsorientierten Kreativitätstheorie in der Psychologie noch ausstehen.

VIII. Ausblick Ich möchte abschließend noch einen kurzen Blick werfen auf das – urheberrechtlich relevante – psychologische Problem der Beurteilung, das subjektive für 60 61 62 63 64 65 66 67

1991, S. 14 ff. Zutreffend Amelang / Bartussek (2001), S. 291. Ebd. 1983, S. 357 ff. Vgl. Amelang / Bartussek (2001), S. 292. Amabile (1983), S. 369. Ebd. Ebd.

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Richtighalten, wie es ja bei der praktischen Einschätzung vor allem der Gestaltungshöhe im Urheberrecht auftritt. Wird die Beurteilung der Gestaltungshöhe etwa zum Einfallstor für richterliche Beliebigkeit? Die Fragestellung ließe sich auf andere mit Bewertungsproblemen zusammenhängende Bereiche – beispielsweise auf Zuordnungsprobleme, Probleme des Schutzumfangs usw. – ausdehnen. Auch wenn es an objektiven Wertmaßstäben fehlt, weil Werte anders als Tatsachen keiner letzten kognitiven Erfassung zugänglich und daher nicht wahrheitsfähig sind, so ist ein Diskurs über die Angemessenheit von Maßstäben dennoch möglich und nicht sinnlos. Die Einzelwissenschaften, insbesondere auch die Psychologie, können nicht die Maßstäbe verbindlich vorgeben. Wohl kann die Psychologie hier zeigen, dass der Mensch das normative Wesen ist, dass ein Bedürfnis nach Bewertung in allen Lebensbereichen permanent besteht und dass der Entschluss, nicht zu werten oder zu bewerten, sich letztendlich als undurchführbar erweist. Nicht nur der volitive Akt der Entscheidung, auch das Denken selbst bleibt wertgebunden und vollzieht sich nicht ohne Emotion. Die Sprache vermag es in Grenzen wertneutral allenfalls zu gestalten. Indes besitzen subjektive Attributionen, etwa dergestalt, ein Gegenstand sei schön oder kulturell wertvoll, stets auch ein fundamentum in re, das empirisch prüfbar ist und im Rahmen kritisch-rationaler Prüfung von Normen, Werten und Wertungen intersubjektiv herangezogen werden kann. Die Wissenschaftstheorie, und nur sie, ist in der Lage, die metatheoretischen Rahmenbedingungen für Möglichkeiten, Implikationen und Grenzen der evaluativen Bestimmung von Kreativität und der ihr zugeordneten Phänomene geistigen Schaffens aufzuzeigen. Und das ist ja auch schon etwas.

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Psychology meets Legal Theory Aspekte wechselseitiger Neuorientierungschancen Die Psychologie klammert das individuelle Entscheidungsverhalten des Richters und des Verwaltungsentscheiders aus ihrem Gegenstandsbereich weit gehend aus. Sie betreibt bei Untersuchungen von Rechtsfindungs- und Rechtsanwendungsprozessen durchweg eine auf die soziale Interaktion des Richters bezogene Forschung, ohne das Entscheidungsverhalten des Richters / Verwaltungsentscheiders als das eines in seiner beruflichen Tätigkeit (auch) selbst bestimmten Individuums intradisziplinär zu berücksichtigen. Die bisherige einseitige Blickrichtung sollte sich meiner Einschätzung nach entsprechend ändern (vgl. bereits Weimar, 1996). Wenn sich hierbei bestimmte Teildisziplinen oder Teilgebiete der Psychologie nicht mit letzter Schärfe voneinander abgrenzen lassen, so liegt dieser Umstand durchaus im Interesse der postulierten Erweiterung des komplizierten Forschungsgegenstands, um den es hier geht.

I. Erweiterung der Rechtspsychologie durch Analyse juristischen Entscheidungsverhaltens Die Rechtspsychologie ist ein Teilbereich der Psychologie, in dessen Rahmen psychologisches Wissen und psychologisch-diagnostische Verfahren auf Fragen der Rechtspflege, des Gerichtswesens, der Verwaltung, der Kriminologie und des Strafvollzugs angewendet werden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt traditionell in der Tätigkeit von psychologischen Sachverständigen, in der Beurteilung der Zeugen bzw. Zeugenaussagen, der Zuverlässigkeit von Wiedererkennungsleistungen, in Fragen der Delikts- und Schuldfähigkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie in der Beratung von Gerichten in familienrechtlichen Angelegenheiten. Soweit sich Rechtspsychologie als Teil der Sozialpsychologie versteht, werden Erkenntnisse der Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Motivationsforschung mit psychologisch-wissenschaftlichen Methoden auf die soziale Interaktion bzw. die umgebende Kultur des Individuums bezogen. Allgemein untersucht die Rechtspsychologie als Teil der Sozialpsychologie, wie sich individuelles Verhalten durch soziale Interaktion entwickelt und modifiziert wird und welche Rückwirkungen dies innerhalb und außerhalb des sozialen Feldes hat. Das richterliche und administrative Individualverhalten als Entscheidungsverhalten kommt hierbei jedoch in dem Sinn zu kurz, dass seine Strukturen nicht oder nicht hinreichend etwa unter

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Aspekten der Wahrnehmungsforschung, der Denk- und Sprachpsychologie sowie der Emotionsforschung thematisiert werden (z. B. Wertungsverhalten, Rechtsgefühl, Subsumtionsverhalten, Überzeugungsbildung). Es gibt genügend Grundstrukturen der eigenen Denk- und Handlungsweisen, die unabhängig nicht nur von wechselnden Bewusstseinsinhalten sind, sondern auch von Situationsbezügen. Es handelt sich um relativ überdauernde Grundmuster individueller Erfahrungen über die Beziehungen des Individuums zu seiner wechselnden sozialen Umwelt. Es gibt eben – auch und gerade im Feld der sozialen Interaktion und bei der kollektiven Entscheidungsfindung (dazu Beck, 2001) – ein individuelles Autonomiestreben des einzelnen Richters und Verwaltungsentscheiders, das durch die Tendenz zur bestmöglichen Umsetzung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Entscheidungsverhalten gekennzeichnet ist. Insgesamt geht es hier um einen besonders komplexen Gegenstand (vgl. Memon / Vrij / Bull, 1998). Nur allzu verständlich erscheint es daher, dass in der Rechtspsychologie eine einheitliche Theorie der richterlichen und administrativen Entscheidung (judicial decision making, administrative decision making) bislang nicht formuliert worden ist.

II. Denken und Emotion? Ungeachtet der traditionellen Unterscheidung zwischen Denken und Emotion und der Hierarchisierung des Denkens gegenüber Emotionen ist Denken in das emotionale System in einer Weise eingebunden, dass Denken ohne Emotion nicht möglich ist. Von der Rechtstheorie wird diese Tatsache bisher durchweg gemieden. Über die Gründe braucht an dieser Stelle wohl nichts gesagt zu werden. Dass Emotionen Denkprozesse beeinflussen, ist bereits vielfach nachgewiesen worden (vgl. Fiedler, 2000; Funke, 2003). Sind aber Emotionen eine notwendige Bedingung des Denkens? In Situationen, für deren Bewältigung wir weder ererbte Instinkthandlungen noch erlernte Verhaltensweisen bereithalten, pflegen wir unser Tun für eine Weile zu unterbrechen, um das weitere Vorgehen zu überlegen. Was in dieser „Pause“ geschieht, bezeichnet man als Denkprozess. Emotionen sind demgegenüber die umfassende Bezeichnung für psychophysiologische Zustandsveränderungen, ausgelöst durch äußere Reize (Sinnesempfindungen), innere Reize (Körperempfindungen) und / oder kognitive Prozesse im Situationsbezug (z. B. Erwartungen). Emotionale Reaktionen gehen mit zentralnervösen und neuromuskulären Veränderungen einher, die als reiz- bzw. situationsspezifische Erregung (emotional arousal) bezeichnet werden. Es sind Emotionen, die die Art des Denkens als Informationsverarbeitung leiten (gut gelaunt – eher oberflächlich, schlecht gelaunt – eher sorgfältig). Der kognitive Aspekt fehlt bei der Emotion so gut wie nie. Emotion bedeutet – so gesehen – immer auch eine Art (Vor-)Verständnis. Ruft ein Reiz emotionale Reaktionen hervor, bevor er erkannt wird, ist das wahrgenommene Objekt bereits „vorbewusst“ emotional bewertet. Diese Bewertung geschieht aufgrund angeborener wie auch durch die individuelle Erfahrung erworbe-

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ner Kriterien. Erstere sind im System der primären Emotionen angelegt, letztere in dem der sekundären Emotionen. Ihre Aktivität äußert sich in bestimmten charakteristischen Körperzuständen, die die jeweilige Wahrnehmung begleiten. Objektiv nachweisbar ist oft eine Veränderung der elektrischen Hautleitfähigkeit. Gleichzeitig wird jeder Denkprozess von einer emotionalen Bewertung begleitet, die ihn motiviert und zum Teil lenkt. Damit ist die vielfach vorgenommene hierarchische Ordnung „Kognition – Perzeption – Emotion“ zumindest problematisch. Versteht man Kognition als Sammelbegriff für alle diejenigen Funktionen, die zur Orientierung des Organismus in seiner Umgebung als der hauptsächlichen Grundlage für angepasstes Verhalten beitragen, dann umfasst dieser Begriff den gesamten Komplex aus Wahrnehmung, Emotion und Denken. Den Emotionen kommt dabei die Aufgabe zu, die Steuerung des Aufmerksamkeitsfokus zu motivieren und sensorischen Input und Vorstellungen noch vorbewusst hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Organismus zu bewerten. Nur so ist in komplexen sozialen Zusammenhängen sinnvolles Denken, Planen und Entscheiden mit hinreichender Geschwindigkeit möglich. Vor allem stellen die Emotionen einen gewichtigen Motivationsfaktor dar, insbesondere wenn es darum geht, in komplexen Situationen trotz zahlreicher Ablenkungen und bei vielen strategisch notwendigen Einzelschritten ein übergeordnetes Ziel im Bewusstsein zu behalten. Geht man davon aus, dass das Gehirn ein dynamisches System ist, so scheinen darüber hinaus neben dem sinnlichen Input die Emotionen wesentliche Parameter für die Stabilisierung, Kontrolle und Steuerung der Denkprozesse zu sein, die dem fokalen Aufmerksamkeitsbewusstsein zugrunde liegen. Der evolutionäre Sinn dieses komplexen neuronalen Apparats besteht darin, dass er eine äußerst feine Adaption des Denkens und Verhaltens an die individuellen Lebensumstände erlaubt. Überlegungen von Damasio zielen sogar dahin, dass es ohne Emotionen kein Bewusstsein und damit folglich auch kein Denken gäbe (vgl. Damasio, 1998). Damit aber sollen nun keineswegs die Leistungen rationalen Denkens in Frage gestellt oder gar dafür plädiert werden, sich nur noch von seinen Emotionen steuern zu lassen. Ebenso wenig soll für eine wie auch immer geartete Überlegenheit „emotionaler Vernunft“ gegenüber den kognitiven Strategien des Alltags oder gar des wissenschaftlichen Arbeitens plädiert werden. Von einer „emotionalen Wende“ kann in der heutigen Psychologie nicht die Rede sein. Rationales Denken ist mit Sicherheit weniger fehleranfällig als lediglich auf somatischen Markern beruhendes intuitives Reagieren – allerdings muss hinreichend Zeit für den Prozess bewussten Abwägens gegeben sein. In jedem Fall ist aber der Motivationsfaktor der Emotionen ein notwendiges Element unserer geistigen Aktivitäten. Freilich – gerade hier ist weitere Forschung nötig. Erst wenn in einer gegenstandsangemessenenka; Rechtstheorie bzw. Rechtsmethodologie Emotion einen zentralen Platz erhält, wird die steuerungsfunktionale Relevanz emotionaler Einflüsse auf den Prozess richterlichen bzw. administrativen Entscheidens erkennbar. Dafür war in der bisherigen, einseitig „geisteswissenschaftlich“ ausgerichteten Rechtstheorie und

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Methodologie juristischen Entscheidens mit ihrem inhaltlichen Reduktionismus und dem vorherrschenden entsprechenden Theorieansatz noch kein Platz.

III. Beendigungs-Mechanismen bei juristischen Problemlöseprozessen Psychologische Forschungen mit Bezug zur Analyse von Informationsnutzung haben bisher fast ausnahmslos die Frage ausgeblendet, wann bzw. unter welchen Bedingungen bei juristischen Problemlöseprozessen neben der Informationssuche und -beschaffung die Informationsverarbeitung beendet wird. Die hierfür verantwortlichen Regulatoren wurden bisher ansatzweise als „Entscheidungsregeln“ im Kontext von (normativen) Entscheidungstheorien von ökonomischer Seite formuliert (maximizing), nicht aber im Kontext der Handlungsregulation als – darauf beschränke ich mich hier – Beendigung der Informationsverarbeitung. Um zu einem besseren Verständnis und zur Erklärung der hier relevanten Stopp-Phänomene zu kommen, sind vor allem zwei Regulatoren (Stopp-Mechanismen) zu betrachten: Satisficing und Urteilssicherheit. Ein Vergleich beider Regulatoren lässt erwarten, dass die Urteilssicherheit – wie zukünftig empirisch zu untersuchen wäre – sich gegenüber dem Satisficing als der überlegenere und wohl auch praktisch häufigere Mechanismus erweist. Da juristische Problemlöseprozesse zeitlich begrenzt verlaufen, stellt sich die Frage, welche Variablen es sind, die dazu führen, dass Problemlöser die Informationsverarbeitung beim Problem lösenden Verhalten beenden. Man kann hier synonym von Mechanismen des Abbruchs oder auch des Aufgebens (weiterer) Informationsverarbeitung bei gesättigtem Informationsbedürfnis sprechen. Während diese Mechanismen in der Literatur immerhin ansatzweise aber nur recht bescheiden behandelt sind (vgl. Gigerenzer / Todd, 1999), fehlt bislang eine Untersuchung über ein mögliches Zusammenwirken beider Mechanismen und die möglichen Zusammenhänge der Variablen. Als erster Beendigungs-Mechanismus ist das Satisficing zu skizzieren. Hier ist die Vorstellung zentral, dass Problemlöser Informationsverarbeitungsprozesse dann beenden, wenn sie eine Lösung gefunden haben, die brauchbar im Sinn von „gut genug“ ist (Simon, 1956); sie suchen also nicht die beste Lösung (wie die Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens annimmt; vgl. Edwards, 1954). Wie bei anderen Problemlöse-Systemen nutzt das individuelle Verarbeitungssystem auch hier Informationen, die Person entwickelt Problemlösungen, bis die bestehende Brauchbarkeits-Lücke eliminiert ist. Mit Satisficing steht daher ein Modell zur Verfügung, das dem im Folgenden skizzierten Stopp-Mechanismus Urteilssicherheit gegenübergestellt werden kann, um auf diese Weise den Erklärungseffekt beider Regulationsmechanismen, die als Regelkreis funktionieren, miteinander vergleichen zu können. Mit dem Stopp-Mechanismus Urteilssicherheit steht ein weiterer Ansatz zur Verfügung, der die Informationsverarbeitung eines Problemlösers in der Endphase

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gerade auch an deren Schlusspunkt beschreibt. Hiernach verarbeitet ein Problemlöser so lange und nur so lange Informationen, bis die aktuelle Urteilssicherheit der gewünschten Urteilssicherheit entspricht. Dabei scheint die Höhe der gewünschten Sicherheit durch situative und individuelle Faktoren bestimmt zu sein (z. B. Problemkomplexität einerseits, Anspruchsniveau andererseits). Daher lässt sich zu der Frage, wann das Bearbeitungsende erreicht ist, hypostasieren: Es sind eher die erfahrenen Problemlöser, die dann genug wissen, wenn sie „sicher genug“ sind. Allerdings scheint der Stopp-Mechanismus Urteilssicherheit nur dann zu funktionieren, wenn sich die Urteilssicherheit schon und noch während der Informationsverarbeitung bildet. Mögliche Zusammenhänge zwischen den Variablen beider Verarbeitungs-Beendiger lassen sich wie folgt interpretieren: Urteilssicherheit verlangt ein bestimmtes Verständnis von Zukunft, da der Grad des Vertrauens eingeschätzt wird, mit dem ein Ereignis eintreffen wird. Satisficing bewertet Objekte im Blick auf Kriterien. Mögliche Korrelationen zwischen den Größen beider Mechanismen sind deshalb am ehesten als ein Effekt des Anspruchsniveaus auf die gewünschte Urteilssicherheit bzw. der Brauchbarkeitseinschätzung auf die aktuelle Urteilssicherheit zu interpretieren. Dass die Stopp-Mechanismen Satisficing und Urteilssicherheit nicht nur für das Ende der Informationsverarbeitung relevant sind, sondern darüber hinaus auch für das Ende von Abwägungsprozessen beim Lösen juristischer Probleme im Kontext der Wahl möglicher Alternativen eine spezifische Bedeutung haben können, dies sei an dieser Stelle nur angedeutet und kann hier nicht vertieft werden. Nicht zu wechseln mit den skizzierten Stopp-Mechanismen ist das bloße Unterbrechen von Überlegungsphasen oder das Innehalten im Informationsverarbeitungsprozess (stopover). Da man sich mit der theoretischen Skizzierung der behandelten Phänomene in psychologisches Neuland begibt, ist weitere Forschung hierzu unentbehrlich.

IV. „Models of the Mind“ und „Models in the Mind“ – Zusammenarbeit von Neuroethnologie, Psychologie und Rechtstheorie Die Modelle der Neuroethnologie umfassen kognitive und kulturelle Muster; dabei ist die Neuroethnologie auf eine Kooperation mit der Kognitiven Psychologie angewiesen. Zunächst: Die Entwicklung der Ethnologie als Wissenschaft ist durch einen grundlegenden Wandel („Kognitive Wende“ – Mitte 20. Jahrhundert) gekennzeichnet, der sich mit der Formel von den models of the mind zu den models in the mind zumindest im Kern treffend beschreiben lässt. Während sich die Ethnologie nämlich längst nicht mehr idealtypisch dem ganzen kollektiven Wissenssystem einer Kultur widmet, sich vielmehr durch die Hinwendung zum Individuum auszeichnet, begreift sie Wissen nicht mehr als isoliertes System, sondern als etwas, das im all-

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6. Teil: Rechtspsychologie als Rechtstheorie

täglichen Gebrauch durch Individuen erfassbar wird (vgl. Bloch, 1991; Wassmann, 1993). Grund ist, dass man nicht von kulturellen Phänomenen („Oberfläche“) auf kognitive Prozesse oder Repräsentationen schlussfolgern kann. Die Ethnologie folgt dabei im Ausgangspunkt der Kognitionswissenschaft (Cognitive Science) in der Annahme, dass zwischen Ethnologie und Neurologie gleichsam eine dritte Ebene möglicher Analyse angesiedelt ist (Gardner, 1985), nämlich die der mentalen Repräsentation (die von kulturell bedingten Unterschieden absieht). Zentral ist der Begriff der Kognition, bei der es sich um die mentale Repräsentation von Wissen, seinem Erwerb und seiner Verwendung handelt. In diesem Sinn versteht sich die Kognitive Neuroethnologie heute als Teil der Kognitionswissenschaft. Sie fragt also (auch) nach der prinzipiellen Natur des Wissens einschließlich des Rechtswissens und nicht mehr nur nach den kulturellen Phänomenen selbst. Die frühere Gleichsetzung der kulturellen Inhalte und der kognitiven Struktur der jeweils erforschten Kultur (dargestellt in Taxonomie / Paradigma) ist überwunden. Die Alltagswissen darstellenden modernen Modelle der Ethnologie bilden nicht mehr emische „surfaces“ ab, vielmehr geht es um die „underlying categories and processes“ (Keesing, 1972), die dem, was im Kopf des Handelnden – also gerade auch des Richters und Verwaltungsentscheiders – vor sich geht, möglichst nahe kommen. Kognitive Neuroethnologie hat mithin einen mentalistischen Kulturbegriff: Kulturelle Phänomene sind hiernach die Oberfläche, Kognition in der Tiefe liegender Untergrund, nicht identisch mit bestimmten Inhalten, sondern ein mentales Instrument, das individuell zur Verfügung steht und mit dem wahrgenommen, gedacht und memoriert wird. Kognition ist das den unterschiedlichen kulturellen Ausformungen „Zugrundeliegende“. Kernfrage ist: Wie tief gehen die Modelle „kognitiv“ unter die Oberfläche der Kultur. Anders formuliert: Wo liegen die Modelle auf der von Gardner postulierten Ebene zwischen Kultur (surface) und Gehirn? Da einerseits die Beschäftigung nur mit der „Oberfläche“ nicht der erforderlichen „Tiefe“ der Kognition entspricht und andererseits die spezifischen kulturellen Inhalte immer dann unberücksichtigt bleiben, wenn man sich modellhaft nur auf den „Kopf“ konzentriert, müssen die Modelle der Kognitiven Neuroethnologie sowohl kognitive als auch kulturelle Muster enthalten. Will also die Kognitive Neuroethnologie mit ihren Modellen nicht einfach nur beschreiben und verstehen, dann muss sie auf der mentalen Ebene einen Kontext zwischen den kognitiven Modellen und den sog. „harten Fakten“ (im Gehirn) herstellen. Das bedeutet: Ihr Ziel ist nicht allein die Erfassung der „models of the mind“, sondern auch die Erfassung von deren Bezug zu den „models in the mind“ und darüber hinaus – je nach Situation – die Erfassung auch der „cognition between the minds“. Die Kognitive Neuroethnologie hebt hierbei – wie erwähnt – weitgehend auf die „underlying processes“ ab (mag die Erreichung dieses Ziels auch äußerst schwierig sein). Hier nun ergibt sich für die Kognitive Ethnologie als Neuroethnologie die Notwendigkeit zur Kooperation mit der Kognitiven und der Neuropsychologie, die auf diesem Weg nicht zuletzt auch wegen ihrer andersartigen Forschungstraditionen (Ethnologie inhaltsbezogen, Psychologie prozessbezogen) und divergenten Auffas-

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sungen von „Kultur“ und „Kognition“ wechselseitig profitieren könnten. So kann die Ethnologie ihre traditionelle (naive) Auffassung von einer im Grund noch nachwirkenden „kollektiven Kognition“ ebenso revidieren wie die Psychologie ihre bisher weit gehende Ausklammerung der Kultur einschließlich der Rechtskultur aus ihrem Bereich überdenken könnte. Entscheidend für eine interdisziplinäre Kooperation dieser Art ist, dass für den „kognitiven“ Teil der Ethnologie spezifische fachwissenschaftliche Informationen der Psychologie über die „mentalen Prozesse“ nicht entbehrlich sind, ohne deren Berücksichtigung auch Rechtspsychologie und Rechtstheorie heute nicht auskommen. Andererseits spricht Manches dafür, dass ein beträchtlicher Teil der mentalen Prozesse gerade im Bereich der Rechtsanwendung nachhaltiger als bisher angenommen von der Kultur beeinflusst ist. Literatur Beck, D. (2001): Sozialpsychologie kollektiver Entscheidungen. Ein interaktionsanalytischer Zugang. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Bloch, M. (1991): Language, Anthropology and Cognitive Science. Man, 26, 183 – 198. Damasio, A. R. (1998): Descartes’ Error. Emotion and the Human Brain. New York: Avon. Edwards, W. (1954): The theory of decision making. Psychological Bulletin, 51, 380 – 417. Fiedler, K. (2000): Toward an integrative account of affect and cognitive phenomena using the BIAS computer algorithm. In: J. P. Forgas (Ed.), Feeling and thinking: The role of affect in social cognition (pp. 223 – 252). Cambridge: Cambridge University Press. Funke, J. (2003): Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer. Gardner, H. (1985): The mind’s new science. A history of the cognitive revolution. New York: Basic Books. Gigerenzer, G. / Todd, P. M. (1999): Fast and frugal heuristics: The adaptive toolbox. In: G. Gigerenzer / P. M. Todd (Eds.), Simple heuristics that make us smart (pp. 3 – 34). New York: Oxford University Press. Keesing, R. (1972): Paradigms lost. The new ethnography and the new linguistics. Southwestern Journal of Anthropology, 28 (4), 299 – 332. Memon, A. / Vrij, A. / Bull, R. (1998): Psychology and Law. London: McGraw-Hill. Simon, H. A. (1956): Rational choice and the structure of the environment. Psychological Review, 63, 129 – 138. Wassmann, J. (1993): Das Ideal des leicht gebeugten Menschen. Eine ethno-kognitive Analyse der Yupno von Papua Neuguinea. Berlin: Reimer. Weimar, R. (1996): Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Bern: Stämpfli.

Siebter Teil

Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

Technokratie und Rechtssystem Zur Frage nach der Zukunft des Rechts* I. Vorbemerkung In seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ bezeichnete Karl Jaspers 1949 die Technik als das „Hauptthema für die Auffassung unserer Lage“. Man könne – meinte Jaspers – „wegen der Größe der Frage, was damit aus dem Menschen werden“ könne, den „Einbruch der modernen Technik und ihrer Folgen für schlechthin alle Lebensfragen gar nicht überschätzen“1. Seit mindestens einem Jahrhundert prägen Wissenschaft und Technik2 die Entwicklung der abendländischen Gesellschaft in einer Weise, dass man von einem immer mächtiger werdenden und daher staatlicherseits regelungsbedürftigen „systemtechnologischen Komplex“ (H. Lenk) sprechen kann. Gleichwohl hat sich die Rechtswissenschaft – sieht man von der eher am Rande dieser Disziplin geführten politikwissenschaftlichen „Technokratiedebatte“ 3 einmal ab – noch kaum mit diesem für das Rechtssystem und seine Entwicklung so zentralen Bereich wie dem der Technik und ihrer sozialen Verflechtung befasst. Die folgenden Überlegungen wollen einige der Grundlinien der Technokratiediskussion nachzeichnen und speziell darauf überprüfen, ob technokratische Systementwicklungen in ihrer – wie es scheint: rigorosen – Konsequenz des „technischen Staates“ (H. Schelsky) für das politische und das Rechtssystem und damit für die Zukunft des Rechts überhaupt zu tendenziell fundamentalen Wandlungen der traditionellen Formen der Rechtsgewinnung und -findung führen können.

* Erstveröffentlichung in: M. Straube / R. Weimar (Hrsg.), Jurist und Technik zwischen Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Josef Kühne zum 60. Geburtstag. 1984, S. 65 – 78. Wien: Orac. 1 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949; Hamburg 1955), S. 85 ff. 2 Zum Verhältnis von Wissenschaft und Technik vgl. etwa H. Lenk, Pragmatische Vernunft (1979), S. 135 ff. Trotz der Verflechtung und partiellen Überlappung der Bereiche, trotz oft gleicher fundierender Grundlagentheorien bleibe es, meint Lenk S. 140, analytisch sinnvoll, zwischen Technik und Naturwissenschaften – auch methodologisch – zu unterscheiden. Die Aufgabenstellungen und Mentalität des praktischen Ingenieurs seien von denen des theoretischen Naturforschers wenigstens idealtypisch deutlich zu trennen. 3 Zur Technokratiedebatte vgl. vor allem C. Koch / D. Senghaas, Texte zur Technokratiediskussion (1970) mit weiteren Nachweisen; G. Rickert, Technokratie und Demokratie (1983).

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

II. Rationalität des Rechts in der technisierten Welt Es ist das Kennzeichen des Rechts, dass es unterschiedliche soziale Gruppen und Institutionen einer staatlich geregelten Ordnung unterwirft. Es bezieht sich immer auf einen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang. Es wird sich also gewöhnlich im Rahmen seiner – wie immer verstandenen – „eigenen“ Rationalität halten. Dem Recht liegt dabei ein bewusstes und planvolles Handeln zugrunde, das dieses Recht erst zu etwas macht, das die Regeln und Werte des jeweiligen politischen Ordnungsgefüges repräsentiert. Ein zweckrationales Handeln wird erst in einer Gesellschaft möglich, die in einer Weise auf „Leistung“ hin orientiert ist, dass jede Form der Rationalisierung schließlich einen Eigenwert erhält. Das – historisch gesehen – Normale ist eher ein Zustand, in dem das tradierte Recht so weit unbefragte Selbstverständlichkeit besitzt, dass seine Relativierung zugunsten bestimmter Handlungszwecke nicht zum Problem wird. Erst die abendländische Geschichte entwickelte eine Form des Rechts, in der die zu Erfolgswerten erhobenen Handlungszwecke über die stabilisierende Funktion des Rechts zu dominieren begannen. Max Weber hat diesen Prozess der „Versachlichung“ der gesellschaftlichen und rechtlichen Funktionszusammenhänge eindrucksvoll beschrieben. Für ihn war die fortschreitende Versachlichung zunächst der Wirtschaft, dann der Technik und Verwaltung und schließlich aller Lebensbereiche das Grundthema der Entwicklung der Neuzeit. Dabei sah er deutlich den Anteil, den Wissenschaft und Technik an diesem Prozess tragen. Damit war von vornherein auch klar, dass das Recht zu einer „Gegenfunktion“ von Technik werden kann, weil der Zwang zur Wert gebenden Entscheidung der Technisierung irgendwo eine Grenze setzt. Ob umgekehrt die Technisierung dem Recht Grenzen aufzwingt, war zunächst gänzlich unthematisch. Der unleugbare Fortschritt der Technisierung und Rationalisierung zeigt sich in der wachsenden Regelhaftigkeit allen öffentlich relevanten Verhaltens, in der zunehmenden Schematisierung durch organisierte Verwaltung fast aller Lebensbereiche, in der Mechanisierung immer längerer Wirtschaftsketten usw. Diese Entwicklung erreicht den Bereich des Rechts in dem Maße, in dem die vergrößerten Funktionszusammenhänge den Bereich staatlicher Aktivität erweitert haben. Das Recht gerät zunehmend unter den Druck der größeren Effizienz formal durchrationalisierter Handlungsvollzüge in Wissenschaft und Technik, in Industrie, Wirtschaft und Verwaltung. Neue faktische Regelmäßigkeiten in den technisierten Bereichen werden Quelle der Entstehung von Regeln für Verhalten und damit für das Recht (und natürlich nach wie vor auch umgekehrt). Tradiertes Recht gerät auf diese Weise in die Gefahr, zu einem Reservat anachronistischer Irrationalität zu werden; es scheint mehr und mehr durch die Leistungsfähigkeit längst rationalisierter Gesellschaftsbereiche eingeengt und überwuchert zu werden. Die seither überwiegend als selbständig verstandene Rationalität des Rechts gerät damit unter Veränderungsdruck und Anpassungszwang.

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Rechtstheorie und Rechtssoziologie reagierten auf diese Entwicklung mit zwei völlig verschiedenen Antworten: Die eine Seite konzentrierte sich, offensichtlich unter dem Eindruck teils neukantianischer, teils existentialistischer Philosophie, auf einen im wie immer sonst verstandenen Recht mitgedachten Begriff des Politischen, der eigens dazu geschaffen wurde, das Eigenständige und Besondere des politischen Handelns gegenüber den rationalisierten Handlungsvollzügen zu erarbeiten. Schon bei Max Weber wird erkennbar, wie sich aus der gesellschaftlichen Praxis ein Verständnis von Recht zu entwickeln beginnt, dessen Wesen hauptsächlich im Zwang zur Entscheidung liegt. Dieser Ansatz fand Fortsetzung und radikale Vollendung aber erst im Dezisionismus der 20er Jahre, der in seinem Rekurs auf die bloße Entscheidung die Wertbindung und Verantwortlichkeit gegenüber der res publica, die noch Max Weber immer wieder betont hatte, über Bord warf. Gegen die Rationalisierung gesellschaftlicher Handlungsvollzüge behauptete und analysierte der Dezisionismus von Carl Schmitt und seinen Schülern eine Politisierung der Gesellschaft, in der der Begriff der Machtchancen zum schlichten FreundFeind-Verhältnis spezifiziert ist. Die Frage, die hier auftaucht, wie weit sich dieses Politische in Form der Entscheidung in der gesellschaftlichen Praxis gegenüber dem verstärkten Druck der Rationalisierung gehalten hat, beantwortet sich aus der Beurteilung der Gegenposition. Die andere Seite behauptet nämlich das allmähliche Verschwinden des Politischen, das mit einer Verkürzung des Rechtsbegriffs notwendig einhergeht, durch die Versachlichung auch dieses Bereichs. Jacques Ellul4 in Frankreich und Helmut Schelsky5 in der Bundesrepublik Deutschland haben die These vertreten, die politische Herrschaft werde abgelöst und überflüssig durch die Verwaltung rationalisierter Handlungsvollzüge, deren Orientierung an politischen Entscheidungen durch vorweg bestimmte, wissenschaftlich geprüfte Zwecksetzungen „weggeregelt“ werde.

III. Ein Technokratie-Modell: Utopie des Sachzwanges? In Anknüpfung an die tiefgründige Untersuchung von J. Ellul6 entwickelte H. Schelsky7 die Idee des „technischen Staates“ mit aller Konsequenz: Die Tatsache, dass heute das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt durch die universell gewordene Technik geprägt ist, führt dazu, dass die Probleme der technischen Welt nur wiederum durch systematisch geplante und zweckmäßig ausgeführte Maßnahmen gelöst werden. Dabei ist der Mensch zwangsläufig den technischen Sachgesetzlichkeiten unterworfen. Politisches und damit auch rechtliches Handeln ist durch wissenschaftlich-technische Sachzwänge bestimmt, die den ursprünglichen Naturzwang ersetzen. Das Handeln scheint die Möglichkeit zu verlieren, 4 5 6 7

J. Ellul, La Technique ou l’enjeu du siècle (1954). H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961). Ellul, ebd. Schelsky, ebd.

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von sich aus Ziele zu setzen, die über die technischen Gegebenheiten hinausreichen. Diese Vereinigung von Technik und Staat zum „technischen Staat“ und seinem „technisch“ gewordenen Rechtsapparat kennt als einziges Ziel die Perfektionierung der Mittel. Nicht mehr die Experten und Techniker, allein die technischen Gegebenheiten selbst sind es nun, von denen „Herrschaft“ ausgeht und denen Fachleute und Politiker in gleicher Weise zu gehorchen haben. Das Ergebnis dieser „Revolution“ ist eine fundamentale Veränderung auch im Bereich des Rechtssystems, das sich nicht länger mehr als ein methodisch autonomes System verstehen und etablieren kann. Für eine Eigenständigkeit beanspruchende Rationalität des Rechts scheint hier kein Raum zu sein. Dabei ist es nicht die heute wohl in manchem unverzichtbare Angewiesenheit dieser Rationalität auf sachverständige Entscheidungshilfe von Experten („Expertokratie“), die die Rationalität des Rechts schon absterben lässt, wenn auch nicht zu verkennen ist, dass jede Form von expertokratischer Intervention die Entscheidungsbasis der verantwortlichen Staatsorgane irgendwie verändert. Aber hier kann die juristische Entscheidungsrationalität die beratende Hilfe des technischen Sachverstandes im Grunde mühelos integrieren und sie in ihren formalen und materialen Kriterien von Objektivität, Gleichheit, Abwägung usw. zur rechtlichen Geltung bringen. Das ist in Schelskys Modell anders: Angesichts der nur mehr wissenschaftlich möglichen Problemlösungen und Systemoptimierungen, die nach dem „scientifically best one way“ erreicht werden, ist die politische Entscheidung und ihre demokratische Kontrolle im idealisierten technischen Staat Schelskys abgeschafft. Nur die Herrschaft der Sachen selbst garantiert das Funktionieren des Apparates, der durch die unausweichlichen Bahnen wissenschaftlich begründeter Optimierung bestimmt ist. Die Folgen liegen auf der Hand: Krise bzw. Ablösung der Wert- und Rechtssysteme, Ausschaltung argumentativer Zieldiskussionen, Wegfall von Planung und Entscheidung – typische Kennzeichen der von H Marcuse als „Eindimensionalität“ beschriebenen Situation hoch industrialisierter Gesellschaften, die einem „technologischen Imperativ“ unterstehen: Die technische Machbarkeit bestimmt, was gemacht werden soll, alles, was hergestellt werden kann, soll auch gemacht werden8.

IV. Technokratie des Rechts – ein neues Paradigma? Wer nun in diesem Sinne eine technokratisch geprägte Struktur des Rechts annimmt, hat es in erster Linie mit dem „Angriffsziel“ der technokratischen Version des Rechts zu tun: Es bekämpft die „Autonomie“ des juristischen Denkens in einer Weise, dass es die Möglichkeit gerechter und vernünftiger Rechtsverwirklichung durch eine eigenverantwortliche juristische Problembearbeitung als tradierte Voraussetzung einer objektiven, wertungsrationalen und wiederum rechtlich nach8 Zum Ganzen vgl. auch F. Rapp, Analytische Technikphilosophie (1978), S. 21 f., 85, 137, 160, 181 f.; sowie H. Lenk, Zur Sozialphilosophie der Technik (1982), insbesondere S. 34 ff. und passim.

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prüfbaren Handhabung des Rechts bestreitet. Indem Technokratie im Verständnis ihrer Verfechter zu einer Mediatisierung des Rechts führt, wird damit dessen Ordnungswert abgebaut. Technokratie bewirkt eine technizistische Aufladung des Rechts, die dessen Handhabung nun nicht mehr in seinem „Wahrheits- und Gerechtigkeitswert“ sieht, sondern Recht nur noch als beliebig einsetzbares Instrument eines technisch motivierten Gestaltungs- und Veränderungswillens begreifen kann. Gewiss mag das Recht – weil insoweit durchaus noch ohne Schaden für die in ihm repräsentierten Ordnungswerte – auch technokratisch betrachtet werden; es darf aber nicht „technokratisiert“ werden. Wer das geltende Recht zu einer beliebig einsetzbaren, konstruktiv-fungiblen, szientistisch-technokratischen Anweisung relativiert, an deren Stelle man ohne weiteres auch eine andere setzen könnte, gibt den Eigenwert des Rechts als neutraler Instanz zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten preis. Damit erscheint die Tätigkeit des Juristen entbehrlich, dessen bei der Konfliktlösung seither gefragte Neutralität dem technischen Sachzwang nun zu weichen hat. Die Bedrohung des Rechts durch technokratische Formen der Steuerung in Gesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung, ja in nahezu allen Lebensbereichen, ist nun keineswegs die einzige Art und Weise, in der das Recht und seine Autonomie zum Ziel eines Angriffs werden können. Solche Angriffe gehen nicht nur vom Technokratismus moderner Prägung aus, sondern ganz allgemein von Theorien des Endstadiums, von eschatologisch-utopischen Bewegungen, die alle das Gesetz als Inbegriff der (noch bestehenden) gesellschaftlichen Ordnung hassen, sei es etwa das Modell der klassenlosen Gesellschaft (K. Marx) oder das szientistisch-technokratische Modell eines Endstadiums positiver Wissenschaftlichkeit (A. Comte). Dabei ist jedes wie immer präsentierte Endzeitkonzept in einem Sinne anarchisch, dass es eines Gesetzes überhaupt nicht mehr bedarf. Der Kampf gegen das Gesetz wird hier notwendig ein Kampf auch gegen die das Gesetz verwaltenden Juristen, die jedem endzeitlichen Utopismus nach Art eines „Gegenprinzips“ unliebsam im Wege zu stehen scheinen. Grundlage aller Verteidigungsanstrengungen der Rechtsstäbe gegenüber der technokratischen Bedrohung ist bisher die „juristische Methode“9, in der der juristische Autonomieanspruch seinen Halt zu finden sucht und durch die eine Art Monopolstellung bei der fachlichen Behandlung des Rechts hergestellt wird. Die juristische Methode avanciert geradezu zum Maßstab richtiger Entscheidung, indem die methodengerecht begründete Entscheidung mit der richtigen Entscheidung identifiziert wird. Und die juristische Methode fungiert dann als Kontrapunkt der Technokratisierung, der das Recht in der Tat zunehmend ausgesetzt zu sein scheint, als Schranke, die das Rechtssystem schützend umgibt. Die Methode beansprucht, die Rechtsfindung zu determinieren; sie wird dabei als von ihrem – situationell variablen – Gegenstand unabhängig gedacht. Mit ihr ist traditionell impliziert, dass 9 Zu diesem Problemkreis grundlegend W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (1978), insbesondere S. 66 ff. und 193 ff.

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man – ohne Eingehen auf die Sachfragen – über die Richtigkeit von Rechtsbildungen Aussagen machen könne. Jede Kritik setzt sich hier nur dem Vorwurf unzulässiger Simplifikation aus (der Kritiker hat eben nicht alles verstanden). Durch die im Sinne einer Immunisierungsstrategie als Rechtsanwendung dargestellte Rechtsfindung, bei der die Entscheidungen zwingend „aus dem Gesetz“ kommen, wird der Jurist der Kritik entzogen. Dass die Mittel der „Auslegung“ des Gesetzes auch mögliche Mittel der Emanzipation des Entscheiders vom Gesetz und seinem Sinn sind, scheint nicht bewältigt. Freilich lässt sich nicht jedes beliebige Ergebnis auch mit guten Gründen verteidigen; darin scheint irgend wie doch eine Grenze juristischen Entscheidens zu liegen, aber die formalen Methodenregeln hindern eine Beliebigkeit der Entscheidung nicht schon per se. Es sei hier nur andeutungsweise festgehalten, dass sich von diesen Überlegungen des Autonomie-Modells aus ein breiter Strom von Ideologiekritik des Rechts entwickelt hat. So wurde auch die Idee einer objektiven und unparteiischen Rechtsprechung nicht verschont und als bloße Ideologie angesehen, die die tatsächliche gesellschaftliche Funktion der juristischen Bearbeitung des Rechts verschleiert (Exponent: Karl Marx). In der Sicht der positivistischen Ideologiekritik ist andererseits „Recht“ nur ein Inbegriff von irrationalen, nicht begründungsfähigen Wertsetzungen. Wenn Erkenntnisse nur durch beobachtbare („positive“) Fakten (Tatsachenfeststellung) gewonnen werden können, reichen praktische Sätze (Sollenssätze, Rechtssätze) nicht in den Bereich von Erkenntnis hinein. Eine Jurisprudenz, die Vernunft im Recht erkennen und entwickeln will, hängt einem metaphysischen Rechtsverständnis an und verfällt dem Naturrecht. In einem weiteren Stadium ist es dann schließlich die Einsicht in die ausschließlich technisch verstandenen Sachzwänge, deren angebliche Dominanz sowohl den metaphysischen Naturrechtsglauben als auch die Rechtsnorm als eigenständiges Lenkungsinstrument der gesellschaftlichen Verhältnisse überflüssig werden lässt. Mit dem Recht werden dann auch Herrschaft und Standesideologie der Juristen verschwinden – und im „technischen Staat“ die Rechtsstäbe wohl überhaupt. Von hier gehen daher notwendig diejenigen Ansätze aus, die die Adäquanz des Rechts gegenüber der „positiv“ interpretierten technischen Entwicklung kritisieren und seine Ablösung durch den technischen Sachzwang als perfektionistische Steuerung aller Bereiche zu erkennen glauben.

V. Technokratie als Ideologiekritik des Rechts Technokratisch inspirierte Deutungen gesellschaftlicher Systeme unterstellen die geschichtliche Relativität aller Werte, die vordem als absolut galten. Damit steht auch das um Ideologiekritik10 bemühte Technokratiekonzept Schelskys in 10 Zur Ideologiekritik im Blickfeld der Rechtstheorie vgl. etwa R. Dreier, Recht – Moral – Ideologie (1981), insbesondere S. 123 ff., 158 ff., 204 ff.

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Konflikt mit einer Jurisprudenz, die sich als Sachwalterin der Ordnungsaufgabe des Rechts und seines Wahrheits- und Gerechtigkeitswertes versteht. Das Technokratiemodell muss nämlich letztendlich den Richtigkeitsanspruch des Rechts problematisieren, und zwar den Richtigkeitsanspruch sowohl der Rechtssetzung (Recht wird „machbar“) als auch den Richtigkeitsanspruch der Rechtsanwendung (diese wird ebenfalls „perfektioniert“). Trifft die Erfahrung der Machbarkeit, der unpolitischen Technizität des Rechts zu, ist also Recht nichts anderes als qua Sachzwang sich durchsetzendes technokratisches Herrschaftswissen, dann kann sich eine fachjuristische Bearbeitung des Rechts nicht mehr legitimieren; denn dann erscheinen die hergebrachten Rechtsregeln in ihrer Setzung und Anwendung von Interessen, Gruppenzugehörigkeit und ähnlichem bestimmt und können folglich nicht mehr sachlich zwingend sein. Könnte das Technokratiekonzept das Recht eigentlich als gesellschaftliches Phänomen begreifen, weil Technik in Bezug auf das Rechtssystem ebenso wie dieses selbst auch als ein soziales System erscheint, mit der Folge, dass schon damit der Anspruch auf Eigenständigkeit der juristischen Problembehandlung unterlaufen wird, so weist es den sozialen Ursprung und die soziale Struktur dieses Rechts deshalb ab, weil ein so gedeutetes Recht im technischen Staat nicht mehr funktionsfähig wäre und durch einen am Perfektionismus der Sachzwänge orientierten Mechanismus profaner Sachverhältnisse abzulösen ist. Das Rechtssystem wird hier also in ein unpolitisch verfasstes, als solches wertindifferentes Techniksystem übergeführt. Die wissenschaftliche und technologische Evolution, die zu einer weitgehenden Veränderung und Erweiterung der menschlichen Macht über Naturprozesse geführt hat, ergreift das Rechtssystem und zerstört dessen Werte. Wenn dies die Vision des technokratischen Staates ist, wird damit jedoch eine höchst unrealistische und daher unzutreffende Einschätzung des Verhältnisses von Technik und Rechtssystem vermittelt: Die technische Entwicklung führt nicht zu einer zwangsläufigen Ersetzung des Rechtssystems durch das Techniksystem als scheinbar „autonom“ funktionierendes „Entscheidungszentrum“. Eine solche sich selbst und die Gesellschaft steuernde Kommandozentrale existiert im am Menschen orientierten Gemeinwesen nicht. Auch „Technik“ ist als ein System menschlicher Interaktionen zu behandeln. Diese Dimension geht in das Technokratie-Modell erst gar nicht ein, weil ihre Ausblendung Bedingung des Modells ist. Daher bleibt unbeachtet oder wird ignoriert, dass die technische Systemumwelt in die Betrachtung des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Systems in einer Weise einzubeziehen ist, dass die Systeme als abhängig von und in Kommunikation mit jener technischen Umwelt stehend begriffen werden können. Als „Reduktionen der Komplexität der Welt“ (N. Luhmann) unterhalten Systeme stets problematische Beziehungen zu einer (nicht entsprechend reduzierten) Umwelt. Auch das System Technik gewinnt zwar seine „Identität“ nur durch die besondere Weise seiner Reduktion, ist aber realistisch nur in der gegebenen sozialen, rechtlichen usw. Umwelt vorhanden, weil es nur dort und nicht „an sich“ funktioniert. Die damit gegebene soziale, politische, institutionelle und sonstige Abhängigkeit des Techniksystems lässt es nur zu,

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dass dieses System das Rechtssystem beeinflusst; doch dass hier eine Systemablösung stattfindet, die das Rechtssystem als Wertsystem angesichts eines Systems totaler funktionaler technischer Normung verdrängen könnte, ist nicht in Sicht. Ist also der Rechtsapparat nicht als durch ein „blindes Diktat“ technischer Zwänge substituiert zu begreifen, dann stellt sich auch das ansonsten sicherlich auftauchende Problem, warum man nicht auch die Arbeit an diesem Recht als eine bloß „technische Leistung“ begreift und dementsprechend auf sie anstelle des juristischen Entscheidungspotenzials technisch indizierte Mechanismen anwendet, hier zumindest nicht grundsätzlich. Ich glaube also nicht, dass der fachjuristische Arbeitsbedarf und die juristischen Entscheidungsprobleme als solche sich bei fortschreitender Technisierung und Rationalisierung der Handlungsvollzüge verringern werden. Angesichts zunehmender kontrafaktischer Verrechtlichung scheint mir die Sachzwangsthese zumindest in ihrer Allgemeinheit und Rigorosität nicht haltbar. Die technokratische Ideologiekritik des Rechts impliziert aber – insoweit im Kern nicht verschieden von mancher anderen Ideologiekritik des Rechts – eine bisher in ihr noch wenig thematisierte Fragestellung. Gemeint ist die unbequeme Gestalt der Frage, was denn der triftig zu nennende Grund für die seitherige historische „Eigenständigkeit“ der juristischen Konfliktlösung im Bereich gesellschaftlicher Konflikte ist. War schon Ziel der erwähnten Marxschen Ideologiekritik des Rechts der Versuch, den „Schein von Selbständigkeit“ des Rechts zu durchstoßen und das Recht als gesellschaftliches Phänomen, als Sublimat des materiellen Lebensprozesses zu begreifen, so scheint das Technokratie-Modell des Rechts letztlich auf eine neue Rechtsmetaphysik hinauszulaufen. Denn dieses Modell muss konsequenterweise das auf „technische Normung“ reduzierte System Recht als absolut gegen geschichtlichen Wandel setzen, es gegen eine Relativierung seines eigenen Anspruchs schützen. Im technokratischen Recht ist – so muss man wohl konsequenterweise annehmen – nicht mehr der „Zufall“ politischer Verfügung über das Recht herrschend bzw. die mit nahezu unbegrenzter Reichweite heute ausgestattete teleologische Methode der Rechtsfortschreibung, sondern die naturwissenschaftlichen und die damit identisch werdenden technischen Sachzwänge. Zumindest die Leugnung des Eigenwertes des Rechts zeigt sich hier im Ergebnis kaum anders als bei der Marxschen Ideologiekritik. Auch dem Technokratie-Modell des Rechts muss Recht nur als bloße Ausdrucksform gelten: Der „Überbau“ der Produktivkräfte wandelt sich zum „Überbau“ des technischen Sachzwanges. Das Problem des Rechts stellt sich diesen beiden gleichermaßen deterministischen Sichtweisen nicht als Problem moralischer Reflexion und ebenso wenig als Problem vernünftigen Argumentierens. Daraus folgt ein weiterer eigentümlicher Punkt der Übereinstimmung: Dem Technokratie-Modell zufolge entwickeln sich der technische Staat und sein Recht aus der Technik, sozusagen von innen ohne Rücksicht auf die konventionellen rechts setzenden Autoritäten. Bei Marx treten an die Stelle der technischen Sachbestimmtheiten des Rechts die ökonomischen Determinanten der

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gesellschaftlichen Entwicklung. Die politische Ebene des Rechts ist hier wie dort glatt übersprungen: argumentative, um rationale Rechtsfindung bemühte Auseinandersetzung findet einfach nicht statt.

VI. Technische Herrschaft und Planung Die prinzipielle Unhaltbarkeit der These vom Absterben der Politik im „technischen Staat“ Schelskys lenkt den Blick auf ein Phänomen, das im „technisch“ sich etablierenden Staat ebenfalls der Kassation anheim fällt: die öffentliche Planung. Obwohl einzelne Trends, die in Schelskys Modell eingehen, manche und gerade auch juristisch relevante Züge durchaus zutreffend beschreiben mögen11, muss besonders dem Technik- und Planungswissenschaften gegenüber aufgeschlossenen Betrachter die Eliminierung des für die modernen Lebensverhältnisse unverzichtbaren Planungsphänomens – trotz der modellhaft immerhin folgerichtigen „Auskehrung“ dieses Phänomens – zumindest vor dem Hintergrund des „technischen Staates“ als eines diagnostischen Totalmodells als äußerst bedenklich erscheinen. Planung – man denke etwa nur an die ökonomisch-ökologische Ressourcenplanung – intendiert generell die Minderung von Risiken sozial relevanter Einzelfallentscheidungen. Die Tatsache, dass das – in Konsequenz des „technischen Staates“ entbehrlich erscheinende – Rechtssystem eben diese Risikominderung leistet, indem es bestimmte Alternativen von vornherein ausschließt und damit bestimmte „Alternativen“ vorentscheidet, Konflikte also von vornherein in allgemeinen, rationalen Regeln löst, Konkurrenzen auf bestimmte Handlungsweisen festlegt usw., kommt in Schelskys Modell nicht zu Wort. Das politisch fungierende Rechts- und Planungssystem wird – implizit – als veraltete Rationalität gesehen und verkannt. Was Schelsky übersieht, ist einfach dies: Die Juristen, die sich lange Zeit damit begnügen konnten, neuartige Rechtsprobleme post factum zu diskutieren und vielleicht zu kodifizieren, sehen sich in der „Planungssituation zum Vorgriff in die Zeit gedrängt. Die Tatsache, dass Gesetzgebung das hervorragende Mittel zu nationalen Gestaltung der Zukunft gewesen ist, ist der Vorstellung des „technischen Staates“ ebenso entgangen wie der andere Umstand, dass nicht allzu unrationale Denker die planmäßige Gestaltung der Zukunft als einen „Kampf ums Recht“ begriffen haben. Dass die modernen Planungsmethoden einer distanzierten und reflektierten und damit unideologischen Deutung ihrer Rationalität etwa entbehren, dafür liefert Schelskys „Technostaat“ keinen Beweis.

11 Zur Kritik an Schelskys Technokratie-Modell vgl. auch Lenk, Sozialphilosophie, insbesondere S. 36 f.

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VII. Plädoyer für ein technikbezogenes Recht – am Beispiel umweltpolitischer Planung Nachdem klargestellt ist, dass Planung im modernen Verfassungsstaat alles andere als obsolet geworden und letztlich als „Rechtsfrage“ zu begreifen ist, sollen zum Schluss dieser Skizze die Aufgaben umweltpolitischer Planung im Industriestaat der Gegenwart kurz umrissen werden. Für ein im Gegensatz zum technokratischen Staatsmodell am Menschen orientiertes Staatswesen ist umweltpolitische Planung heute zu einer nicht mehr eliminierbaren Komponente staatlicher Wirksamkeit avanciert12. Im Industriestaat entspricht es einer weit verbreiteten Bewusstseinslage und einem nicht von der Hand zu weisenden Bedürfnis des Menschen, vom Staat planende Fürsorge und Vorsorge als Äquivalent für die zunehmende technische Inanspruchnahme der Umwelt und der damit verbundenen Beeinträchtigung des ökologischen Gleichgewichtszustandes zu fordern. Technisierung und Industrialisierung entziehen dem Individuum viel von seinem ehemals ökologisch intakten Raum; gemeint ist jener Raum, in dem sich der Einzelne früher in der Entfaltung seiner Existenz von industriell induzierten Risiken unbedroht fühlen konnte (dafür allerdings anderen – sozialen – Risiken stärker ausgesetzt war). In der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts scheint der Einzelne unfähig zu werden, für jene existentiellen Bedürfnisse selbständig zu sorgen. Dieser Schrumpfung des individuellen Lebensraumes entspricht auf der anderen Seite eine durch die moderne Technik ermöglichte enorme Ausweitung des effektiven Lebensraumes. In großem Ausmaß ist der Einzelne in weiten Bereichen des täglichen Lebens auf organisierte technische Sicherheitsvorkehrungen gegenüber den Umweltgefahren angewiesen. Zur Befriedigung seiner „ökologischen Grundbedürfnisse“ muss er an lebenswichtigen Gütern der Natur teilhaben können, die in quantitativ und qualitativ ausreichendem Maße nur durch vorausschauende Planung erbracht werden können. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse, die heute keineswegs mehr selbstverständlich ist, muss man nicht zuletzt auch deshalb staatlicher Planung anvertrauen, weil die Sicherung der Lebensgrundlagen nicht dem „gesellschaftlichen Kräftespiel“ allein mehr überlassen werden kann: die gesellschaftlichen Mechanismen sind hier für die Verteilung der ehemals freien Güter (z. B. Luft, Wasser und andere) nicht mehr ausreichend. Damit erlangt das Phänomen der Umweltplanung im gegenwärtigen Bewusstsein eine wichtige Rangstelle und erhebt sich zu einer zentralen Kategorie. Planvolle Umweltvorsorge des Staates durch Mittel der Technik kann den Einzelnen zwar nicht von existentieller Lebens- und Zukunftsangst befreien, ihn aber 12 Dazu bereits J. Kühne, Bericht über Rechtsfragen des Umweltschutzes – erstattet an den interfakultären Ausschuss für Umweltschutz der Technischen Hochschule Wien (Institut für Rechtswissenschaften an der Technischen Hochschule Wien), vervielfältigtes Manuskript, Wien 1975, insbesondere S. 3 ff.; ferner K. Korinek, Verfassungsrechtliche Probleme des Umweltschutzes, Wirtschaftspolitische Blätter 1971, S. 72 ff.; H. Klages, Planungspolitik. Probleme und Perspektiven einer umfassenden Zukunftsgestaltung (1971), insbesondere S. 58 ff.

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doch zu einem gewissen Teil von dieser Sorge entlasten. Umweltplanung vermag dies in gewisser Weise dadurch zu leisten, dass sie über die angestrebten Projekte informiert, die der Sicherung künftiger Lebensbedingungen dienen. Durch Umweltplanung gewinnt so die vor dem Einzelnen liegende ökologisch unsichere Zukunft festere Konturen. Die alte Hoffnung auf Sekurität im Sinne gesicherter Lebensbedingungen scheint heute auch an der staatlichen Vorsorge im Umweltbereich festgemacht. Nicht mehr durch ein Festhalten am status quo oder durch Beschwörung des Herkömmlichen kann der Mensch im Industriezeitalter die geschwundene sozioökologische Sicherheit (wieder)finden. Es gibt eine neue Form des Sicherheitsstrebens, die „ihren Ansatzpunkt darin suchen muß, den gesellschaftlichen Veränderungen und der Wandlung der Lebensverhältnisse auf die Spur zu kommen und die Politik darauf einzurichten“ 13. Das Bedürfnis nach Planung der Umwelt entspringt damit einem anthropologischen Grundanliegen, dem der Staat bei seiner Politik Rechnung tragen muss; es akzentuiert sich umso stärker, je mehr der Mensch den negativen Folgen des industriellen Wachstumsprozesses ausgesetzt ist. In diesem Sinne scheint Umweltplanung mehr und mehr zu einem Symbol für eine durch technische Mittel gesicherte, ökologisch bessere oder doch wenigstens nicht schlechtere Zukunft zu werden. Dieses für den Menschen im technologischen Zeitalter 14 gewissermaßen neu definierte Bedürfnis nach Sicherheit ist die Grundlage dafür, dass Umweltplanung zu einem zentralen Instrument der Konsensgewinnung für den regelungsintensiv gewordenen Bereich der natürlichen Umwelt ausgeformt werden kann. Eine transparente, konsensfähige Umweltplanung verdeutlicht die Rationalität umweltpolitischer Programme, weist die Grenzen staatlicher Handlungsmöglichkeiten auf, verhindert zu hoch gesteckte Erwartungen und vermag auch eher Zustimmung zu unbequemen Maßnahmen der Planungsrealisierung hervorzubringen. Sozioökologische Problemlösungen in Form transparenter Planungsverfahren können damit in gewisser Weise zu einem Element der Legitimation des industriestaatlichen politischen Systems werden. Eng verknüpft mit dem anthropologischen Bedürfnis nach Existenz sichernder Umweltvorsorge ist das Phänomen, dass Planung sich zu einem Teilaspekt moderner Heilsgläubigkeit zu entwickeln scheint. „Immer mehr Aufklärung durch Information, immer mehr Einsicht durch Belehrung, immer mehr soziale Gerechtigkeit durch Betreuung, immer mehr Zukunftssicherheit durch Planung, das ist das illusionäre Syndrom des sozialen Heilsglaubens, das Zusammenschließen von Belehrung, Betreuung und Beplanung zur Herrschaftsform über die neugläubigen Massen der modernen Gesellschaft“15. Dass Planung auf diese Weise zu einem H. Rohde, Gesellschaftspolitische Planung und Praxis (1974), S. 12. Dazu weiterführend etwa H. Lenk, Philosophie im technologischen Zeitalter (1971), S. 108 ff. 15 H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen (1975), S. 374 ff. 13 14

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allzu leichtfertig akzeptierten Herrschaftsinstrument avancieren kann, liegt auf der Hand. Demgegenüber gilt es, bei allem Bedürfnis des Menschen nach sozioökologischer Sicherheit Umweltplanung nicht zu einem beliebig handhabbaren, „zügellosen“ Instrument von Herrschaft werden zu lassen, sondern die gebotene Freiheits- und Existenzsicherung in das System der Planungs- und Demokratietheorie einzubeziehen. Zu eruieren ist hierbei das facettenreiche Problem der Legitimität konkreter staatlich-politischer Planung überhaupt16, mag sie auf den Konsens erzeugenden demokratischen Verfahren, auf der Autorität des Sachverstandes oder in einer Einbindung in die Verfassungsordnung beruhen. Ist Umweltplanung das geeignete Instrumentarium staatlichen Handelns, das dem sozioökologischen Sicherheitsbedürfnis des Menschen im technologischen Zeitalter entgegenzukommen vermag, so wird deutlich, dass die Funktion dieser Planung nur ein Teilaspekt der umfassenden sozialen Existenzsicherung sein kann. Der Zweck dieser Existenzsicherung weist der Planung einen zentralen Rang im politischen System des Industriestaates zu. Der Industriestaat als eine „tendenziell allgegenwärtige und in unbeschränkt vielen Lebensgebieten tätige Staatsorganisation von perfekter Produktivität und hohem Wirkungsgrad“17 ist auf Planung angewiesen. Mit bloßem „Krisenmanagement“ können die ökonomisch-ökologischen Probleme, die die Lebensqualität und Existenz des Einzelnen bedrohen, nicht bewältigt werden. Zwangsläufig verlegt sich daher der moderne Staat auf neuartige Aktivitäten, deren gemeinsamer Level soziale Vorsorge ist und die im Umweltbereich nur durch Planung zu bewältigen sind. Diese Planung setzt im Umweltbereich dort ein, wo die gesellschaftlichen Selbstregulierungsmechanismen versagen, wo sozioökologische Krisen drohen und wo die Lebensqualität verbessert werden kann. Es dürfte aber nicht allein das Bedürfnis nach Sicherung der menschlichen Existenz sein, das die Legitimation zu umfassender Planung gerade im Umweltbereich abgibt. In den Demokratien westlicher Prägung scheint eine Tendenz zur Eskalation der Ansprüche auf staatliche Leistungen nunmehr einschließlich des Umweltschutzes zu bestehen, der das bisherige staatliche Leistungspotential um eine im Prinzip sicherlich neuartige Variante (mit Gestaltungsfunktion) erweitert. Abgesehen von den anthropologischen Funktionen umweltpolitischer Planung scheint der Industriestaat vor allem durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung zu ökologisch wirksamer Planung geradezu gezwungen, will er seiner Ordnung stiftenden Funktion hinreichend nachkommen. Unter den verschiedenen Herausforderungen, denen der Staat der Gegenwart mittels politischer Planung zu antworten hat, fallen insbesondere der knapper werdende Ressourcenrahmen und damit die Verflechtung von Technik, Umwelt und Recht auf. Die Akzeleration dieser Entwicklung macht technisch-ökonomisch-ökologische Planungen in immer grö16 Dazu statt vieler etwa M. Rein, Sozialplanung: Auf der Suche nach Legitimität, in: F. Naschold / W. Vöth (Hrsg.), Politische Planungssysteme (1973), S. 203 ff. m. w. N. 17 K. Eichenberger, Leistungsstaat und Demokratie (1969), S. 11.

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ßerem Ausmaß erforderlich. Die zu erwartenden negativen Effekte müssen im Wege einer umweltbezogenen Planung abgefangen werden, will der Staat selbst nicht letztendlich an die Grenze seiner Funktionsfähigkeit gelangen18. Technischer Fortschritt kann etwa die tatsächlichen Voraussetzungen grundrechtlich geschützter Lebensbereiche vernichten oder die reale Machtverteilung zwischen staatlichen Institutionen verändern. Der Staat wird die ihm hierbei zufallende Aufgabe nur durch Planung von langer Hand bewältigen können19. Ohne Umwelt(schutz)planung kann technischer Fortschritt geradezu selbst zerstörerisch wirken. Selbst so elementare Lebensgüter wie Wasser, Boden und Luft verlangen heute nach Einbeziehung in die Ressourcenplanungen20. Der Staat der Industriegesellschaft hat hier einem früher kaum in dieser Art hervorgetretenen Anspruchsniveau zu genügen, soll seine Legitimität anerkannt bleiben21.

18 Weiterführend zu dieser Problematik etwa F. Moser (Hrsg), Neue Funktionen von Wissenschaft und Technik in den 80er Jahren (1981). 19 Symptomatisch ist hier etwa die Planung des Strahlen- und Immissionsschutzes. 20 Damit ist zugleich der Bereich der Raumplanung angesprochen; vgl. dazu insbesondere J. Kühne, Zu Stand und Entwicklung der Raumordnungsgesetzgebung in Österreich, Wirtschaftspolitische Blätter 1972, S. 165 ff.; ders., Raumordnung – Umweltschutz und föderative Staatsordnung, Wirtschaftspolitische Blätter 1974, S. 111 ff.; ders., Agrarstruktur – Raumordnung. Agrarstrukturelle Rahmenplanung durch Bodenreformaktionen (1975); ders., Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Bodenfrage, Universitas 1975, S. 271 ff.; ders., Bodenreform im Zivilrecht. Franz Klein – das Baurecht 1912 als Ansatz zur Rechtsentwicklung (1978) S. 31 ff. und passim. 21 Dazu näher etwa H. Sachsse, Technik und Gesellschaft (1976) mit weiteren Nachweisen; R. Weimar, Raumordnung und Umweltvorsorge, in: R. Weimar (GesRed), Die Ordnung des Bodens – heute und morgen (1983), S. 72 ff.; ders., Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie?, in: B. B. Gemper (Hrsg), FS Karl Klein (1982), S. 664 ff.; ders., Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem, in: G. Frohberg / O. Kimminich / R. Weimar (Hrsg), FS Alfred Pikalo (1979), S. 311 ff.; ders., Standortplanung bei Kernkraftwerken. Planungsrechtliche Aspekte, in: B. B. Gemper (Hrsg), Energieversorgung. Expertenmeinungen zu einer Schicksalsfrage (1981), S. 137 ff.

Ansatzpunkte einer Theorie der Sozialresonanz* Rechts- und Gesellschaftssysteme können als schwingende Systeme unter geeigneten Bedingungen miteinander in Resonanz treten. Jeder kennt das: Wenn man am Klavier bei getretenem Pedal einen einzelnen Ton anschlägt, summt bald die Oktave mit, dann die Quint, die Terz usw., und schließlich klingt das ganze Klavier. Resonanz ermöglicht Ganzheit. Dieser Befund ist kein Spezialfall der Musik oder Akustik, er gilt für alle schwingenden Systeme: für geregeltes organisches Wachstum, für die Evolution, für die Wechselwirkung zwischen Personen und Gesellschaften. Auf diese Weise lassen sich Gesellschaft und Recht als soziales Zusammenspiel ihrer schwingenden Teile beschreiben: als ein Zusammenhang von Sozialresonanz. Resonanz ist das, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Alles, von den kleinsten Bausteinen der Materie bis zu den Weiten des Universums – und damit auch die Gesellschaft und die rechtlichen Beziehungen der Menschen untereinander und zum Staat – steht in Wechselwirkung, die sich als Resonanz im Sinne von aufeinander abgestimmten Schwingungen auffassen und beschreiben lässt.

I. Rechtssysteme als Zeitkreise Die gesamte uns bekannte Realität ist das Ergebnis evolutiver Prozesse. Eine letzte, unwandelbare Realität, sozusagen das „Sein des Seienden“, ist nur vorstellbar als Grenzwert der Prozesse in unendlicher Zeit. Die Ontologie sucht diese letzte „unwandelbare“ Realität zu erkennen. Ist aber Ontologie in einer evolutiven Welt überhaupt möglich? Gibt es das Absolute? Mit dem Eintritt in das biologische Zeitalter verabschiedet sich die Wissenschaft vom Absoluten. Wir leben in einer Welt des fortdauernden Werdens und Vergehens von Strukturen. Friedrich Cramer hat diese Weltsicht im „Zeitbaum“ ausführlich dargestellt.1 Stabile Strukturen sind immer Zeitkreise, Kreisläufe, Wellenpakete, sie sind zyklisch repetitiv. Auch Kulturen und Rechtssysteme bestehen aus Zeitkreisen. Strukturbildende Zeitkreise, Wellenpakete, reversible Vorgänge sind System erhaltend. Aber sie sind in Wahrheit nur Warteschleifen, in denen das System kreist, bis es einen Chaos-OrdnungsÜbergang erreicht. Dann erfolgt ein Zeitsprung (Zeitvektor) und es entsteht (wie* Erstveröffentlichung in: R. Weimar / G. Leidig, Evolution, Kultur und Rechtssystem. Beiträge zur New Political Ecology. 2002, S. 53 – 57. Frankfurt am Main – Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Oxford – Wien: Lang. Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd. 82. 1 F. Cramer, Der Zeitbaum – Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, 1993, S. 99 – 122.

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der) etwas Neues. Mit den beiden hier auftretenden Zeitmodi – Zeitkreis / Zeitvektor – kann man die Stabilität von Strukturen einerseits und das Entstehen des Neuen andererseits beschreiben. Man kann mit Hilfe der Chaostheorie die Übergänge dieser beiden Zeitformen verstehen, mit deren Hilfe sich der „Weltprozess“ in einen Zeitbaum (Zeitspirale) einordnen lässt. Warum überhaupt etwas ist und nicht Nichts ist, bleibt chaostheoretisch freilich unzugänglich. II. Soziale Schwingungen und Sozialresonanz Im Grunde kann man zwar nicht diese, aber eine andere hier einschlägige Problematik schon bei den Vorsokratikern finden, die ja im Wesentlichen Naturphilosophen waren und sich über die Grundtatsache der Natur klar werden wollten. Heraklit sagte: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Nichts also bleibt gleich, alles verändert sich. Der Fluss fließt und ist im „nächsten“ Moment schon nicht mehr er selbst. Man kann – genau genommen – schon nicht nur „einmal“ in denselben Fluss steigen. Die Zeit schreitet Zug um Zug voran, steht nicht still, die Züge sind ungewiss, sie gehen durch Chaoszonen und je nach dem, welche Züge die einzelnen Akteure machen, verläuft das Spiel in diese oder jene Richtung. Genauso verhält es sich mit der „rechtssystemischen Zeit“. Sie läuft durch chaotische Zonen und dabei entsteht im Rechtssystem normativ Neues. Die neuen Spielkonfigurationen und ihre Vorhersehbarkeit lassen sich mit dem Würfeln vergleichen. Prognosen in Bezug auf legislative, administrative und richterliche Entscheidungen sind grundsätzlich nicht möglich. Kann man dann würfeln? Nein, man kann nicht einmal würfeln, lässt sich pointiert vielleicht zuspitzen. Im klassischen Weltbild der Physik sprach man noch von deterministischem Chaos. Diese Physik bestand darin, dass man Bewegungsbahnen (Trajektorien) beschreibt oder errechnet. Trajektorien verlaufen aber nur in solchen Systemen deterministisch, die mit Hilfe von Differentialgleichungen vorausgesagt werden können. In nichtlinearen Systemen und damit in Gesellschafts- wie in Rechtssystemen können Trajektorien über einen oder mehrere Bifurkationspunkte indeterministisch verlaufen. Systeme lassen sich als Überlagerungen von Schwingungen auffassen, die in Resonanz stehen. Solche sich überlagernden Schwingungen oder Zyklen können eine sehr komplexe, nicht ohne weiteres durchschaubare Schwingungsform oder Struktur haben. Der aus der Wellenmechanik, also aus der Quantentheorie stammende Begriff der Resonanz lässt sich vorsichtig auch in den Rechts- und Sozialwissenschaften etablieren. Denn alle höheren Strukturen sind „zusammengesetzt“. Zusammengesetzt – so hätte man früher gesagt – aus Elementen, aus Substrukturen. Mit Cramer lässt sich formulieren: Zusammengesetzt aus Zeitkreisen, aus Schwingungen. Die Elemente, die Subsysteme sind ihrerseits schwingende Systeme mit Eigenzeiten, und das Ganze hält zusammen durch Resonanz, die den „Zusammenhalt“ ermöglicht. Die Resonanz kann aber auf verschiedene Weise gestört sein oder gestört werden. Einmal kann sie vielfach unterbrochen werden, indem die Schwingung gebremst, gestoppt, gedämpft wird bis zum vollständigen

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Stillstand, zum anderen dadurch, dass von außen eine störende Frequenz mit einer neuen Resonanz eingreift: Es funkt gewissermaßen etwas dazwischen. Und schließlich ist es möglich, dass Schwingungen innerhalb eines Systems sich so sehr synchronisieren, so stark in Gleichakt kommen, dass ihre Amplituden sich gegenseitig hochschaukeln und so stark werden, dass sie das ganze System zum Bersten und Zerplatzen bringen.2 Eine solche Resonanzkatastrophe kann durch einen äußeren Anlass ausgelöst werden und katastrophale Folgen haben. Vorstellungen über Ablaufsweisen dieser Art lassen sich auch auf soziale Systeme beziehen und damit auf Rechtssysteme anwenden. III. Wie entsteht das „Neue“? „Wir ändern uns ständig, ersetzen unsere Moleküle durch neue, wechseln Freunde und Beruf und wären erschrocken, wenn wir uns nicht weiterentwickeln würden.“3 Der Zeitpfeil werde umgelenkt in die vielen möglichen Welten, die Parallelwelten, die immer wirklicher würden.4 Man wird es kaum glauben: Die Wissenschaft ist erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in der Lage, die Frage nach der Entstehung des „Neuen“ zu stellen. Wenn man diese Frage für den Bereich der Rechts- und Sozialwissenschaften formuliert, bemerkt man, dass eine solche Frage nicht behandelt werden kann, ohne eine bestimmte (neue) Auffassung – der Zeit zu konzipieren. So entstand das – (auch) in den Rechts- und Sozialwissenschaften zu etablierende – Konzept der evolutiven Struktur des Zeitbaums, der das Sein und seine Evolution beschreiben kann. Man darf erwarten, dass der Begriff des Zeitbaums, den Cramer exemplarisch auf einige biologische Systeme angewendet hat, sich in zahlreiche andere Systeme hinein. erweitern lässt und dass eben dieser Begriff des Zeitbaums es erlaubt, das Entstehen des Neuen auch in der Welt des Rechts zu beschreiben. Was eigentlich hat dies nun mit Sozialresonanz zu tun? Neues entsteht durch Evolution im weitesten Sinne. Evolution entfaltet sich, verfeinert, verzweigt sich zu unvorstellbarer Komplexität. Evolution fördert diese Komplexität. Sie treibt jedes System, insbesondere auch das Rechtssystem, in die Komplexität. Auf der anderen Seite ist ein allzu komplexes, überzüchtetes und kompliziertes System wiederum weniger leistungsfähig und kann gerade infolge dieser Komplexität besonders störanfällig sein. Vielleicht lässt sich sagen: Je komplexer ein System, desto mehr bedarf es der Koordination. Dabei ist es die Resonanz, durch die komplexe Systeme zusammengehalten werden. 2 Beispiel: Wird eine Brücke durch eine im Gleichschritt marschierende Kolonne von Soldaten – vielleicht gibt es so etwas heute nicht mehr – in Schwingungen versetzt, die der Eigenfrequenz der Brücke entsprechen, können sich diese Schwingungen in einer Weise aufschaukeln, dass die Brücke zusammenbricht. 3 D. Linke, Einsteins Doppelgänger – Das Gehirn und sein Ich, 2000, S. 30. 4 Ders., S. 93.

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IV. Chaos-Vermeidungsstrategie versus aufgeschobenes Ende Das Zeitalter der traditionellen Jurisprudenz ist insofern am Ende, als die wesentlichen, heute auch umweltpolitischen und bioethisch relevanten Konzepte nicht (mehr) von den Rechtswissenschaften beigesteuert werden können, wie dies rechtsphilosophisch Jahrhunderte lang der Fall war, sondern zunehmend von den biologisch-medizinischen Wissenschaften bereitgestellt werden, insbesondere den Neurowissenschaften.5 Konzepte wie Ganzheit, Komplementarität, Komplexität können in der klassischen Jurisprudenz nicht behandelt werden. Die Jurisprudenz wird sich auf absehbare Zeit wohl kaum zu einer Wissenschaft erweitern, die Fragen der Ganzheit, der Komplementarität oder Synchronizität ins Auge zu fassen vermag, sie hat diese Probleme den Sozialwissenschaften überlassen. Welche Resonanzen in diesem unüberschaubaren Geflecht auftreten können, ist noch gar nicht abzuschätzen. Rechtssysteme beruhen auf dem Zusammenschwingen6 in einem unglaublich komplexen Netzwerk von sozialen Resonanzen. Bis zu einer meist ungewissen Grenze können beim Ausfall eines Schwingkreises andere Schwingkreise „helfend“ zugeschaltet werden. Das System kann sich bis zu einem gewissen Grade selbst reparieren. So gesehen entwickelt auch das Rechtssystem eine Chaos-Vermeidungsstrategie, wie sie für Individuen, aber auch für ganze Ökosysteme jeweils entsprechend gilt.7 In einer evolutiven Welt, in der nichts wieder exakt zum Ausgangspunkt zurückkehren kann, muss das System irgendwann an einen Schwellenwert seiner Existenz gelangen, an dem sich alle Schwingungen entkoppeln. Auch das Rechtssystem ist – so gesehen – immer schon sein eigenes aufgeschobenes Ende.

5 Einführend in die Neurojurisprudenz R. Weimar, Neuroscience Before the Gates of Jurisprudence, 2000, S. 39 ff. m. w. N. 6 Die Parallele zu dem erörterten Böhretschen Phänomen der ko-evolutiven „Aneinanderentwicklung“ von (Sub-)Systemen ist offensichtlich. 7 Paradebeispiele sind etwa die Ordnung und Planung von Raum und Boden. Vgl. R. Weimar, Europäische Raumordnungscharta – Anspruch und Resonanz, 1991, S. 488 ff.; ferner ders., Ansätze zu einem Bodenschutzrecht, 1984, S. 101 ff.

Neuroscience Before the Gates of Jurisprudence* I. Introduction Research on juridical decision-making has long ceased to be a purely jurisprudential discipline within the scope of the traditional canon of the humanities and social sciences. For we are now living in the age of neuroscience, in the century of the brain. Modern methods from neuroscience, especially from neurobiology, can (with the use of neural imaging procedures, for instance) allow provocative insights into cerebral activities which take place during conscious experience of certain incidents, particularly of social situations. But, then, can the jurist’s activities, e. g., his establishment of the facts involved in a certain case, and, most particularly, his evaluating, arguing, and decision-making operations be ascertained solely with regard to neural correlates or to biochemical and physical processes? Even though most jurists are certainly convinced that evaluation, argumentation, and decision-making are outstanding characteristics of the mind, there is still no generally accepted definition of or – even less so –, the explanation for the consciousness behind all of these activities. There are only more or less intuitive descriptions related to subjectivity or to the processing of ongoing experience within imagination. Reasons for this include the complex nature of conscious phenomena which are not immediately accessible even when examined more closely. But, despite these difficulties, issues concerning consciousness have become a major topic of current research. Concepts of consciousness were considered to be a matter of philosophical speculation up to the latter half of the previous century. By contrast, those who, in collaboration with philosophers, are currently concerned with explaining the mechanisms that produce consciousness are neuroscientists, in particular, neurobiologists and neurophysiologists. Without a doubt, the dialog between scientists and philosophers is a further step towards determining and differentiating the relevance of biological results for research on consciousness. If one ignores the increasing activities of more current work in the psychology of law in this connection, jurisprudence – traditionally considered a sort of applied philosophy – has an extremely large deficit to make up for in this respect. For any approach in the direction of a neurojurisprudence (Weimar 2000) has been lacking in the entire body of international academic research. Jurists have not paid sufficient attention to biological and other scientific insights, particularly to those of neuroscience and the cognitive sciences, which pro* Erstveröffentlichung in: M. Usteri / W. Fikentscher / W. Wickler (Hrsg.), Gene, Kultur und Recht. 2000, S. 39 – 52. Bern: Stämpfli. Schriften zur Rechtspsychologie Bd. 5.

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vide knowledge and information about the brain (Gold / Engel 1998). Jurists do, indeed, deal with the phenomenal, with thinking, evaluation, and decision-making, but, on a scientific level, they have not devoted enough time and interest to the biological basis of these processes, even though they, too, are concerned with the connections between the material and the mental, that is, with the relationship between the brain and the mind. They have neglected the issue of the existence or non-existence of the mind as a separate entity or have relegated this debate to peripheral areas. Yet, insights into the neuroscientific “basis” can certainly provide relevant information about such eminently mental phenomena as evaluating, arguing, and decision-making. Should the starting-point for such considerations be a monistic view, that is, a view that perceives mind and matter in an ultimately unified state of being? In this respect, most more recent researchers concur with a certain materialism, although not with a reductionist, physicalist materialism in the sense that mind is derived from matter with recourse to physicalist theories. On the contrary, the position is explicitly that of a non-reductionist physicalism or materialism. No secret is made of the concession that a complete theoretically physicalist explanation of mental processes by means of a reduction to physicalist theory cannot be achieved. Rather, from the starting-point of a unified physical state of the ontic world, one attempts, as far as possible, to describe and explain the functioning of the dynamic system of the brain on a physicalist, biological, or functionalist basis. In doing so, one assumes that the brain is the sole basis of mental processes and events. It is evident that, in this view, such processes or events are actually facts of the physical world. But these are problems which are by no means already solved. They are just as controversial among scientific experts as among neurophilosophers, but, among jurists, they are practically ignored. Nonetheless, it can hardly be disputed that this is an especially provocative, in a certain sense perhaps even revolutionary line of inquiry for jurisprudence. For this involves the basic principles of jurisprudence – areas where the discipline touches upon major issues of neurophilosophy, psychology of law, and neuroscience. It is surely of some significance to consider how, for instance, judges think about, present, and represent something with the use of description, abbreviated references, symbols, or mental events. Thus, the issue of representation in juridical thought would be a major topic of a neurojurisprudence still to be established as a discipline. This topic, which is directly related to the issue of mind and brain, would involve such exceptionally difficult problems as how, in the brain, something is considered legally significant or insignificant, how it is represented in legal terms. How can cerebral processes “have”, reproduce, or transform norms, social and legal regulations? In light of the results of neuroscience, it certainly does also make sense for jurisprudence, particularly for neurojurisprudence, to confront such issues despite all the difficulties involved. Indeed, to further scientific inquiry, it is absolutely necessary for the discipline to do so.

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II. The Neurobiological Approach: Consciousness and the Brain In order to sketch a preliminary outline of our basic knowledge of the brain, it would seem to be appropriate to begin with a descriptive perspective from which the neuroscientific approaches to research on the brain can be presented. To this end, it will be necessary to disregard the assumption that neuroscientific theories and models are themselves projections of the human mind and thus can lead to certain problems involving circular reasoning. There are various approaches within the current debate on the brain and consciousness which – in a somewhat simplified way – can be called monistic and dualistic positions. The monistic view does not consider consciousness to be an independent phenomenon, but, rather, merely a construct of linguistic descriptions of certain forms of behavior. Dualism perceives consciousness as a spiritual substance that is, in principle, separated from the material world and thus not explicable by means of material conditions. One further approach is the neurobiological position. This view accepts the existence of consciousness, but differs from the dualistic view with regard to its specific type of explanation: for the neurobiological approach, consciousness is a physical phenomenon. Consciousness is a product of the brain. Although the other approaches are still present in the debate, this more discriminating materialistic orientation is currently preferred by most scholars. One distinctive feature of the neurobiological approach is that it does not necessarily involve the assumption that the relationship between the brain and consciousness must be completely explained. Thus, one encounters the view that, for example, human intelligence is not fundamentally capable of judging the suitability of the existing neurobiological approaches. According to this view, consciousness is, indeed, a physically extant phenomenon, but one which surpasses individual human existence. At present, of greater import for the empirically oriented neurosciences than this theoretical debate is the consideration of the numerous unresolved issues related to the conceptualization and the epistemological conditions of consciousness. In particular, it is necessary to investigate to what extent concrete neurobiological insights can contribute to an understanding of consciousness. The focus is on the issue of whether or not neural correlates of consciousness can be successfully identified. One such approach examines the possibility that alterations of localized cerebral structures and functions (e.g., after a stroke) correspond to alterations in conscious experience and the ways in which this might occur. Another approach deals with the continuous registration of neurobiological parameters in studies in which conscious experience is varied as an experimental parameter. In the case of humans, this registration is possible by means of non-invasive methods of monitoring the brain on various levels of neural organization. On the basis of these approaches, neurobiologists are now concerned with resolving the following issues:

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– Are there neural correlates of consciousness? – Are mental phenomena associated with individual neurons or with sub-neuronic elements, with groups of neurons and / or with the brain as a whole? – Do certain neural processes correspond unambiguously to conscious experience or can various patterns of neural stimulation accompany the same subjective experience? – What do we mean when we say: “think”? – How reliable is our cognition, that is, how real is our reality?

III. Consciousness and the Limitations of Cognition The concept of consciousness is used in two somewhat different senses. In medicine, the concept refers to states of consciousness or degrees of alertness. We speak of reduced forms of consciousness with regard to the transition between sleep and wakefulness; similarly, drugs can influence our consciousness in various ways. The concept of consciousness is accented somewhat differently if by consciousness we mean attention aimed at some particular phenomenon, e.g., the categorization of some social, economic, or technical circumstances according to a certain legal norm. With the following remarks, this aspect of consciousness is to be examined in more detail using the example of visual perception. To do so, we presume that visual characteristics are processed through various channels. Such qualities of visual impressions as brightness, wavelength, and location are processed parallel to one another at first. The participating neurons become connected to one another with increasing complexity. More and more specific characteristics are apprehended by hypercomplex groups of cells as information travels from the retina via the primary areas of the cerebral cortex to the secondary and tertiary areas of the cortex. Thus, contrast, for example, is registered at the surface of the retina, while the primary areas of the cortex “recognize” edges and outlines are perceived in the secondary areas of the cortex. If color is registered at the level of the primary cortex, then consistency of colors is established in the secondary areas. The visual channel, concerned with movements, can recognize three-dimensional movements at the level of the secondary areas of the cortex. A further connection to increasingly complex groups of neurons allows us to apprehend shapes, scenes, and orientation in space.

We perceive, e.g., colorful, moving, scenically arranged shapes within a spatial orientation and compare this to memories. Thus, I can recognize my red ball that is being thrown towards me for what it is. An intermodal connection to auditory and tactile information allows me to touch or hear the object I have seen, and, finally, I “grasp” that the various sensory impressions and memories are concerned with the same object, that is, my ball. In this way, the brain carries out an integrative perfor-

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mance by associating various properties of the world to one another and forming them into a unified shape (sensory integration). Thus, we are confronted with the fact that there are many diverse interconnections, but no “superior control center” within the brain that recognizes the world. In other words: There is no place or point within the brain where our subjectivity could be localized. The so-called localization theorists are correct insofar as there are highly specialized centers within the cortex that are primarily concerned with visual perception, understanding speech, etc. On the other hand, the “generalizers” are also correct in assuming that conscious perception and cognition always require the interplay of millions, perhaps billions of nerve cells. Below the gray matter of the cerebral cortex there are fibers which run parallel to the surface of the brain and can connect millions of brain cells with one another and activate these temporarily and at short notice so that they form functional units (complexity of assemblies of neurons). But the interesting question concerns how the participating neurons “know” when they should react with each other, for example, in order to constitute a “legal case” and the “solution” to such a case. The various characteristics of the world we experience are linked to a temporal and spatial “fate”. To a certain extent, already determined by the neuronal structure, we have “pre-expectations” as to which objects of perception must be processed in combination. We can perceive and understand the world around us only in certain categories. But to some extent, in the course of our lives we have learned that some features of the world around us belong together, i.e., they have a common temporal and spatial situation. Thus, we can maintain that the integrative link our brain puts into effect results, on the one hand, from innate patterns of neuronal structures and, on the other, from epigenetic knowledge from ongoing experience.

IV. Decision-making as a Plan for Action Sense impressions, which are, at first, perceived in a pre-conscious state, are evaluated by memory and the limbic lobe and, if applicable, are classified as interesting, attractive, of no interest, unattractive, etc., i. e., in the broadest sense, some affective (emotional) component is attributed to them. This process leads to conscious alertness in the sense of attentive perception as well as to devising a scheme for action in the sense of a decision resulting in corresponding behavior where the result of the action as feedback is also evaluated. Thus, for conscious experience and attentiveness in the context of juridical decision-making, the links between perception, memories, and emotions are of considerable significance. However, conscious processes involve only a small portion of the brain, namely, that part which is particularly concerned with the object of our attention. Dealing with controversial legal issues and legal matters unknown or strange to a particular jurist require his or her increased attention. The more familiar a situation is and the more

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confidently one fulfills some function, the more automatic perception and action can become (routine behavior). Thus, the processes integrated in consciousness are a phenomenon that occurs temporarily and selectively and is of considerable importance for perceiving the world as well as for learning. This is certainly not some pure epiphenomenon or unnecessary supplement to neuronal processes. On the contrary, cognition is an active achievement of the brain. While pure sensation allows us to see the color of red or feel the texture of a chair, cognitive perception already involves an interpretation of sensations. In such instances, we regularly interpret sensory perception in light of structural pre-expectations. The same holds true for perception of shapes, which is also based on the tendency of our brain to interpret perception according to preconceived criteria. Only a few structural features suffice to recognize a face “as a face” or as Cathy’s face, or to notice an approaching motor vehicle as such (social perception). By comparison, simple absorption or acceptance of that which we encounter is a rarity.

V. Juridical Problem-solving It is impossible to solve juridical or any other sort of problems without mobilizing thought processes. Here, thought itself can be understood as internal problemsolving. Questions such as “quae sit actio?” or “quid iuris?” belong to the realm of contemplation (theoretical consideration), whereas the question “what should be done?” involves deliberation (practical assessment). Both procedures have to do with formulating hypotheses and weighing advantages and disadvantages. In this sense, juridical thought can be neuroscientifically understood as being engaged in legally relevant imaginational processes, as a process in which aspects of reality surrounding the jurist are reconstructed in the neural network of his or her brain (s. below IX). Within the scope of this process, thinking can become conscious of itself, i.e., can lead to reflective thought and to self-criticism. This aspect of selfconsciousness is expressed in the famous formula “cogito, ergo sum”, while a decision not to think proves to be impracticable, at least for any longer period of time. It is still a matter of debate if, for example, juridical categorization and decisionmaking as a particular form of conscious thinking are associated with processes in the neurons themselves. Penrose (1994) has put forth the provocative argument that substructures within the neurons, so-called microtubuli, have something to do with consciousness. He assumes that certain types of conscious thinking (such as recognizing mathematical truths) are not organized as logical sequences of calculations and decisions and thus not conceivable as results of a conventional neural network. Penrose attributes such non-algorithmic operations to processes of quantum mechanics which, as he maintains, can be realized in the microtubuli. In any case, for attempts to explain such unresolved issues as the na-

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ture of juridical thinking and decision-making, such ideas as these stemming from quantum mechanics should certainly be considered and carefully examined. VI. Reduction of Complexity As we are not able to recognize the objective world as such, but, rather, only that which our cognitive structures permit, we are dependent upon perception of the world by means of pre-determined categories of thought. In this respect, space and time are necessary conditions of our thought. We can only think in terms of space and time. Moreover, our brain is structured in such a way that we constantly attempt to establish a relationship of causality between events we have perceived, which can easily lead to misconceptions. It seems to be a specific attribute of the structure of human thought to want to get to the bottom of things and detect causal relationships. If, however, structurally pre-determined patterns of cognition in our neuronal networks result in the ability to experience the complexity of the world only with reference to certain properties and categories, i.e., reductively, then the question of how real “our reality” is arises. The cognitive abilities of our sensory organs and the structures for processing perception have developed in an evolutionary manner, and, more precisely, in the sense that they are adapted to the world around us (cf. Wickler 1991). Thus, a sensorium for recognizing three-dimensional space apparently promoted and continues to promote the chances of survival, whereas a possible fourth spatial / temporal dimension of space is insignificant for our evolutionary survival and would probably remain incomprehensible to us. Our cognitive structures are oriented towards a human mesocosm, i.e., a “middle world” between the microcosm of atomic structures and the macrocosm of the universe. Much the same holds true for our comprehension of social complexity. Thus, in fields such as politics, legislation, administration, and the legal system, there are limits to how complex thought can become. For perception of time, our cognitive niche extends from fractions of a second up to several decades, which makes planning politics for a period of generations difficult or even impossible. Interconnected systems, circular or complex phenomena involving links in various directions also usually demand too much of us. Nevertheless, we are aware of the relativity of cognition and of the fact that the world we experience is not the world “in and of itself ”. From various spheres in government and society it has become obvious that the complexity of the civilized world for which we ourselves are responsible now demands too much of us. In particular, with regard to policy on environmental law, systems are dealt with which, due to the limited capacity of human cognition, remain incomprehensible since they simply cannot be comprehended. Politics and legislative bodies, public administration, and the legal system all operate according to a premise they take for granted, namely, that they are constantly confronted only with problems that allow complete solutions, not with those that simply do not allow one to come to grips with them.

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Now that we have clarified some of the neurophysiological bases of cognitive processes – without, however, having been able to deal with the widely diverse and common forms of disorders (cf. Kolb / Whishaw 1996) – the following remarks will treat on the question already raised above: Are cognitive phenomena and thus instances of juridical thought and decision-making solely the results of material processes, e.g., of bioelectrical functions, or do mental phenomena transcend the material world? VII. Monism versus Dualism: Effects on Jurisprudence and its Self-Conception? The discussion above should have clarified the observation that the cognitive phenomena mentioned are closely linked to the neural structures of our brain. Today, we are quite well-informed about which structures, e.g., become agitated in stressful situations and which areas of the cortex are activated for encoding language. Certain phenomena of consciousness can be specifically influenced by, for example, pharmacological or orthomolecular treatment. In this way, the monistic view that mental processes are exclusively the result of biochemical, i.e., material processes seems appropriate. Once a neuronal network has reached an adequate degree of complexity, it develops systemic properties which necessarily produce cognitive processes (e.g., searching, evaluating, decision-making – this is what Konrad Lorenz calls Fulgeration). The perhaps somewhat modified, basically materialistic-monistic view prevalent in neuroscience today, does not appear to be logically compelling, but is, nonetheless, plausible. The fact that two phenomena are closely associated with each other does not necessarily mean that one follows from the other. It is just as possible that the “spiritual world” on the one hand and the functions of the brain on the other are two aspects of reality that lie “beyond” it and that we cannot recognize because they remain obscure to the categories of our perceptive grasp. In any case, this certainly applies if the human brain and the human mind are, in the last instance, incapable of comprehending one another as phenomena. The dualistic argument involves the difficulty that, in principle, the existence of a purely mental world cannot be proven. There can be no answer to the question of an “extra-cerebral” mind in accordance with scientific criteria. The only stipulation that can reasonably be made is that the mind can, indeed, also be found – but by no means solely and exclusively – in human brains. But is it not an untenable reductionism to draw analogies between biochemical processes in the brain and the subjective quality of experience? To cast some light on this problem, Deneke (1999) dealt most recently with the “brain-mind problem”, especially with those attempts at a solution currently popular in philosophy of mind: emergence theory and identity theory. Using these theoretical concepts as a starting-point, Deneke developed a pragmatic operational model that we wish to deal with briefly here.

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VIII. Deneke’s Structural Model of the Human Mind: A Basis for the Establishment of Neurojurisprudence? According to Deneke (1999), from the beginning of his or her life, a geneticdynamic structure develops episodically from the experiences a person encounters. This structure becomes generalized to more abstract patterns and serves as an everpresent film that provides a basis for the construction of new experiences. At the same time, this activity of creating a personal model of the world is a constructive achievement of the brain. In order to limit the abundance of experience, certain ordering principles (as referred to briefly above) are required, as, e.g., temporal segmentation, generalization, or categorization. In addition to those conscious and unconscious experiences, thoughts, wishes, decision-related and action-related activities stored in memory, Deneke describes functions that are also of structural significance. Such functions are abilities or skills we have developed to alter the external world by our actions or, by activating our memory, to conceive of our internal world and / or to decide between certain alternatives. Although Deneke’s scheme is primarily based upon the findings of modern research on familial relationships, he did succeed in establishing a convincing concept that makes his work on structures from a neuroscientific and psychoanalytical orientation applicable to neighboring disciplines and even to neurojurisprudence without relinquishing the major aspects of psychodynamic thought. Thus, Deneke rejects Freudian drive theory because of its fundamental biophysical assumptions and its dualism of libido and aggression, but he conceives a motivation theory of interest to neuroscience and with a novel psychoanalytical orientation and examines this theory by analyzing its factors. Certainly, Freudian ideas on the structural concept of id, ego, and superego have long been tacitly abandoned, but up to now there has been no consistent theoretical alternative.

All of the assumptions neurojurisprudence would be inclined to make about mental structures must be compatible with the present body of neurophysiological knowledge. This discipline has made astounding progress in the last 10 years. The size of the brain – with its approximately 100 billion nerve cells, estimated 100 trillion synapses, and innumerable possibilities of connections – and the insight that this extremely complex phenomenon organizes itself as a system suffice to make traditional psychoanalytical assumptions about the structure of mental organization appear obsolete. And Freud, who began his career as a neurologist, would most probably be totally familiar with all the provocative findings of neurobiology and neurophysiology, even of neurogerontology, were he alive today. In this sense, a metatheory is necessary for neurojurisprudence if the discipline is to have a stimulating effect on discussions with other fields, in particular with traditional jurisprudence and its methodology. Regarding the fundamental functional principles of the brain, its mode of operation as a diversified parallel processing of information must be presented in detail. Another important issue will be to clarify how the areas of the brain with specific functions are able to convey integrated experience of reality in the absence of a central processor as stipulated by classical structural theory with the hypostasis of pure ego.

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IX. The Brain as an Interpreting System The brain carries out activities of constantly searching, evaluating, choosing, etc. Taking these patterns of behavior into consideration, the brain is extraordinarily significant for a jurist’s activities and for understanding this activity. This is, of course, plausible without any further argument. Juridical programs for action are developed in adaptation and reaction to corresponding perceptions or stimuli – whether these originate externally or internally – and are activated selectively. “Axioms” are prompted under which certain facts can be subsumed. In this sense, in addition to its fundamental function as a general vital organ, the brain can also be understood as the definitive center of juridical processes of orientation and decision-making and must be comprehended as such regardless of any not yet foreseeable resulting consequences with regard to conventional jurisprudence (cf. Weimar 1996). Just as visual perception is an active, shaping and forming function of the brain, the brain is thus – as we have demonstrated – also “responsible” for cognition of a higher order. In much the same way as sensory perception, juridical systems of thought and argumentation also have forming functions that are related to certain situations, stimuli, or patterns that originate in the brain. Where it encounters information, the brain is primarily an activity-oriented, life and survival supporting organ that acts in coherence with goal-oriented behavior influenced by values and norms, i.e., with decision-making and judgmental action. And this is no less true in regard to texts such as the codification of laws, the reasoning provided for judicial and administrative decisions, written statements formulated by lawyers, etc. These are all worked out or processed in the brain with its highly complex functional and procedural techniques. Of course, this is also true for mental representation in the sense of recognizing juridical issues and problems. All cognition is closely related to behavior and action, and all coherent thought is connected to planning action, evaluating, and the accompanying feelings. Neuroscientifically speaking, there is no strict division between cognition and thought on the one hand and action on the other. Such differentiations can only be made in an analytical sense for the construction of a model. These are theoretical differentiations which, at the most, can serve as instruments of epistemological description. In comparison to one another, action, thought and cognition are ideal types, located opposite each other at two extreme ends of a scale. They do not exist within the complexity of reality. Correspondingly, much the same is true for the differentiation of juridical thought involving the processing of orientations towards goals and evaluations on the one hand and decision-making with its productive planning for action on the other. Thus, differentiating between realms of res cogitans and observable behavior and physical events in the world is certainly not in accordance with reality (Lenk 2000). This also applies to mental representations in the brain, to mental processes embedded in inner activity which motivates a constant search for conditions pro-

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moting survival or other (often socially differentiated) possibilities and the implementation of schemes of action directed by certain interests so that the needs of the organism can be satisfied (cf. Lenk 2000). All of this suggests that abilities involved in juridical thought and decision-making are not objects with a specific ontic structure, but, rather – dependent upon the functions of the corresponding diversified areas of the brain –, manifest a dynamic cerebral realization. In this sense, “consciousness” is nothing more than an aspect of the specific way the brain functions and not something objective that can exist outside the brain itself. That is, consciousness is dependent upon the brain and thus a dynamic property of cerebral functions that accompanies certain activations of corresponding programs in the brain. The corresponding activation patterns are to be understood as functions of the appropriate areas of the brain (e. g., of the visual centers and tracts for visual perception). Dispositions and activation patterns manifest themselves in the form of programs or constructs of the brain (cf. Singer 1990; Lenk 1993, 1995). The brain stores, in this sense, capacities for action and information, programmed information (Young 1987). When one speaks of interpretation by means of the brain (Young 1987) or of the brain as an interpreting system (Roth 1997), it is apparent that these expressions are used in a somewhat broader sense than usual. In any case, one cannot maintain that the brain exhibits a constructive or interpreting “activity” in the sense that the processing of information within the brain would take place in adherence to an interconnected metaprogram. There is a widely branching network of neuronal group activation, particularly of incessantly active parts of the ascending reticular activation system that keeps the other parts of the brain going by constantly “firing” them (cf. Young 1987, 72). The brain is active at all times (Young 1987, 17). But this does not infer that there is a program structure stored in data files in the brain. It is much more a matter of patterns of reaction in neural networks, the elementary predisposition for which is genetically pre-determined (cf. Lenk 2000). Dynamic patterns that become habitual are learned and, then, developed within the context of the pre-determined genetic disposition in a way dependent on interaction in and with the world. Characteristic of this function is that a synapse is activated by some connection, “fired”, to use Young’s term, and that the synaptic junction is ultimately fixed or stabilized by the repeated simultaneous activation of the neurons next to the synapses. According to Lenk (2000), this is significant for the transitions between synapses and the expanding interconnections to the corresponding networks or assemblies of neurons. In this view, there is no actual program-related distinction between software and hardware or, for instance, between corresponding data files and central processing units or certain operating systems. Rather, there are complexly interconnected dynamic combinations which, to a great extent, are equipped with parallel processing potentials. Within the context of massive parallel activations, everything “fires”, so to speak, without pause, and yet, by means of the corresponding structural arrangement, a structured result does eventually materialize (cf. Lenk 2000).

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There is a great similarity between neural information and its further transmission. In agreement with Lenk (2000), this can be described as follows: The transmissions of clusters of information, that is, the impulses to alter capacities for action proceed in the individual nerve cells along the axons from the inner axon accumulations to the outer ends in the direction of the synapses, and are very similar in almost all neurons. Differences only become noticeable by the assignment to specific localities. This helps to explain how interconnections which override differences in modalities such as vision or hearing are possible. Thus, a “unified code” for supramodal interconnections seems plausible. For in the last analysis, it is the impulse and frequency encoding of the corresponding electrical transmissions in the nerve cells that is similar for all areas of the brain (on this topic and for more detail cf. Lenk 2000). X. Concluding Remarks Can the “neuroscientific turn” now in progress in the humanities and social sciences lead to a paradigm shift in jurisprudence? Significant consequences of neurobiological research for juridical praxis are already observable. The view that conscious experience does not solely result from individual, isolated cognitive processes is gradually gaining prominence. On the contrary, one must assume that bodily mediated feelings such as pleasure, displeasure, and pain play an essential role in forming particular perspectives of evaluation, argumentation, and decisionmaking. These activations result from the continuous interaction of neural representations of somatic and cerebral processes. Accordingly, even abstractly conscious experiences are accompanied by surrounding, bodily mediated emotion that influences subjective perception (Damasio 1994). Jurisprudence cannot afford to and must not ignore these insights. Neuroscientific findings will contribute to an increasingly differentiated understanding of the conditions under which juridical decision-making takes place and of the particular role the corresponding procedures play for the juridical actor, even if an explanation along the lines of a reduction to neural structures and processes will ultimately only be possible in a very restricted sense. References Damasio, A. R. (1994): Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: G.P. Putnam. Deneke, F.-W. (1999): Psychische Struktur und Gehirn. Die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Stuttgart / New York: Schattauer. Gold, P. / Engel, A. K. (Hrsg.) (1998): Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kolb, B. / Whishaw, I. Q. (1996): Fundamentals of Human Neuropsychology. 4th ed. New York: Freeman.

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Lenk, H. (1993): Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1995): Schemaspiele. Über Schemainterpretation und Interpretationskonstrukte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2000): Kleine Philosophie des Gehirns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Penrose, R. (1994): Shadows of the Mind. A Search for the Missing Science of Consciousness. Oxford / New York: Oxford University Press. Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Singer, W. (Hrsg.) (1990): Gehirn und Kognition. Heidelberg: Spektrum. Weimar, R. (1996): Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Bern: Stämpfli. Wickler, W. (1991): Die Biologie der Zehn Gebote. 7. Aufl. München / Zürich: Piper. Young, J. Z. (1987): Philosophy and the Brain. Oxford / New York: Oxford University Press.

Zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft – Aspekte einer Wende?* Falls es jemals eine Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft gegeben hat oder gibt – der Rechtswissenschaft wird jedenfalls immer schon die Rolle zugeschrieben, zur Lösung von Problemen beizutragen, die sich bei der Interpretation, Anwendung und Kritik von vorfindlichen Rechtsnormen im Zusammenhang mit der Entscheidung von „Rechtsfällen“ ergeben. Dabei geht es selbstverständlich und in erster Linie um „Rechtserkenntnis“. So gut wie unerörtert ist hierbei die wissenschaftstheoretisch einzuführende Problemstellung, ob und gegebenenfalls inwieweit die rechtswissenschaftliche Methodenlehre durch neuere Forschungen zur „Willensfreiheit“ tangiert ist und verändert wird.

I. Einführung Fasst man Rechtserkenntnis als einen gegenstands-, bewusstseins- und methodenabhängigen Prozess auf, der primär auf Aufnahme praktischer (handlungsbezogener) Information und reproduktiv auf die Ermittlung normativer Sinngehalte („Normgewinnung“) gerichtet ist, so wird man in einem Rechtssystem mit kodifiziertem Recht den Umgang mit dem Gesetz als den zentralen Bereich rechtswissenschaftlicher Arbeit ansehen (Weimar, 1984, S. 69). Dass dabei die Interpretation der Gesetze und die Verwendung praktischer Sätze nicht zuletzt im Zusammenhang mit juristischen Begründungen traditionell im Vordergrund stehen, ist unkontrovers. Für diese Gebiete möchte ich hier nicht die herkömmliche theoretische Perspektive nachzeichnen, ich möchte vielmehr für eine empirisch-realistisch zu gestaltende Rechtswissenschaft einige theoretische Überlegungen beisteuern, die den Kanon der Rechtswissenschaft, insbesondere ihre Methodenlehre, so gut wie noch nicht erreicht haben. Gemeint sind Erkenntnisse und Hypothesen, die mit dem Bereich der Neurojurisprudenz zu tun haben und deren Einzug in eine moderne Rechtswissenschaft wissenschafts- sowie grundlagentheoretisch geboten erscheint (Weimar, 2000). „Rechtswissenschaftstheoretisch“ betreten wir insoweit über einige Strecken oder sogar weitgehend so etwas, das man für den Bereich der Rechtswissenschaft durchaus Neuland nennen könnte und müsste; jedenfalls hat man es mit einer neuen Umsicht, zumindest mit einer Herausforderung zu tun. * Erstveröffentlichung in: R. Dürr, G. Gebauer, M. Maring, H.-P. Schütt (Hrsg.), Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk zum 70. Geburtstag. 2005, S. 171 – 181. Münster – London: Lit-Verlag.

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II. Wege zur Neurojurisprudenz Neurojurisprudenz – nie zuvor kam ihr – noch ganz erst in ihrer Etablierungsphase (vgl. Weimar, 2000, S. 3 ff.) – eine so faszinierende und zugleich brisante Rolle zu wie heute. Der umsichtige Rat von Rechtsanwälten, überzeugende Gutachten von Rechtsprofessoren, Entscheidungen von Richtern, Parlamenten und der öffentlichen Verwaltung zählen etwas. Reichen die traditionellen rechtswissenschaftlichen Perspektiven aus? Rechtswissenschaft auch ein nach wie vor begehrtes, weil klassisches Studienfach. Und doch – ihre Eigenständigkeit muss zunehmend bezweifelt werden. Aus heutiger Sicht ist die juristische Dogmatik samt ihrer Methodologie eine „Übergangswissenschaft“, die ihren Zenit überschritten hat. Ihre Erkenntnislücken, in denen sie sich einnisten konnte, werden mehr und mehr mit erklärungsmächtigeren Wissenschaftskonzepten, allen voran denen der Biologie, gefüllt. Das mag zunächst nicht weniger als aufhorchen lassen. Sollte die Entscheidung des Richters / Verwaltungsentscheiders oder die fachliche Stellungnahme des Rechtsdogmatikers solider wissenschaftlicher Absicherung entbehren? Ganz so ist es nicht. Nicht grundsätzlich zu bezweifeln ist die Wissenschaftlichkeit dessen, was Rechtsexperten tun. Fest steht nur, dass das weitere Fortschreiten der Disziplin nicht daran vorbeikommt, dass mit der Biologie eine neue Leitwissenschaft entstanden ist, die die klassische juristische Methodologie und ihre bislang beanspruchten Grundlagen erschüttert, und dass inzwischen eine immer größer werdende Schnittmenge von biologischen und traditionellen psychologischen Erklärungsmodellen zum menschlichen Erleben und Verhalten entsteht, die zwangsläufig für Modelle gerade auch des juristischen Interpretierens, Erwägens und Entscheidens relevant ist. Wer die Ansätze der juristischen Methodologie seit den Anfängen der Rechtswissenschaft als selbständiger Disziplin betrachtet, hat es schwer, angesichts der Vielfalt der Methoden eine einheitliche Disziplin mit klarem wissenschaftlichen Fortgang zu erkennen. Möglicherweise gereichte ihr auch die zweitausendjährige Einbettung in die Philosophie nicht zum Vorteil, weil sie – teilweise bedingt auch durch religiöse Sichtweisen – zumeist (nur) geisteswissenschaftlich verortet wurde und nolens volens an den großen philosophischen Systemideen „partizipierte“. Jurisprudenz galt und gilt weitestgehend als praktische oder angewandte Philosophie. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts scheinen sich zwar naturwissenschaftliche Methoden in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften durchzusetzen, aber sie haben bislang eine einschneidende „Doppeldeutigkeit“ ihrer Gegenstände kaum überbrücken können: die naturwissenschaftlich fassbaren Prozesse des Verhaltens und der Physis einschließlich der Gene und der Physiologie des Gehirns einerseits und die „Dimension“ des subjektiven Erlebens, Fühlens und Denkens andererseits – und damit natürlich auch des juristischen Denkens mit seinen zugehörigen Prozessen. Ein Ansatz, wie ihn vielleicht die Neurobiologie heute bietet, auf Basis

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aktueller Methoden den scheinbaren Dualismus jener „Doppeldeutigkeit“ in eine monistische Theorie zu überführen, erscheint daher nicht nur wissenschaftlich reizvoll, sondern ebenso praktisch bedeutsam. Immer mehr Psychologen tun sich – bei allen Vorbehalten im Detail – schwer mit einem uneingeschränkten Dualismus, wie es insbesondere seit Descartes derjenige von „Körper und Seele“ war. Das zeigt sich an ihrer Einstellung zur „Willensfreiheit“, die sich bei uneingeschränkter Abhängigkeit des Bewusstseins von der Physis kaum vertreten ließe. In der Tat hatte schon Wilhelm Wundt (1911) die Willensfreiheit eher ausgeschlossen. Bekanntlich unterschied er drei Handlungstypen: Trieb-, Willkür- und Wahlhandlungen. Erstere stehen in festem Zusammenhang mit einem einzigen Handlungsmotiv. Gibt es Alternativen, sucht das Gehirn in einem kognitiven Prozess nach der „Hierarchie“ der Motive. Die Willkürhandlung hängt deshalb von jeweils dominierenden Motiven ab. Nur wenn sich mehrere Motive nicht hierarchisch ordnen lassen, im Fall der Wahlhandlung also, ist mit Wundt indirekt so etwas wie Verantwortung zu retten. Ausschlaggebend ist hier der „Charakter“ des Einzelnen. Was eine Willenshandlung determiniert, ist nach Wundt eben dieser Charakter. Der Charakter berge aber eine Summe psychologischer Momente in sich, über die weder wir noch der Handelnde selbst Rechenschaft geben könnten. Heutige Rechtswissenschaftler stehen in der Tradition des geltenden „Willensstrafrechts“, das von der grundsätzlichen Möglichkeit des „Anderskönnens“ des Täters ausgeht. Und die mögliche emotionale Determiniertheit juristischen Entscheidens – man gestatte diesen „Sprung“ – scheint in der Methodenlehre der Rechtswissenschaft ein nicht existentes Phänomen zu sein. Nicht einmal als eventuell abzulehnende Möglichkeit eines Einflusses auf die Entscheidung wird die Problematik von Emotion und Problemlösung diskutiert. Nach allem, was man heute über die Funktionsweisen des Gehirns weiß, steht fest, dass das Bewusstsein nur sehr beschränkten Zugang zu den Vorgängen im Gehirn hat. Wegen des bruchstückhaften Wissens des Subjekts um seine inneren Vorgänge kann es nicht voll ermessen, welche Faktoren sich alle auf seine Handlungen auswirken. Fest steht aber auch, dass Hirnforscher, Verhaltenspsychologen etc. noch viel zu wenig wissen, um wissenschaftlich all das aufhellen zu können, was sich dem „Subjekt“ verschließt. Elektro-Encephalogramm (EEG), Positronen-EmissionsTomografie (PET) und weitere Verfahren erlauben freilich schon wichtige Einblicke in die Hirnströme und den Stoffwechsel des Gehirns, wenngleich Gedanken in ihrer Inhaltlichkeit bisher nicht per Neuroimaging abbildbar sind. Diese Verfahren haben u. a. gezeigt, dass bei Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen in der Großhirnrinde (Kortex) die Gefühle, die vom tiefer liegenden Limbischen System als dem zentralen Bewertungssystem ausgehen, eine konstitutive Rolle spielen. Dass es daher fraglich ist, ob so etwas wie künstliche Intelligenz jemals möglich ist (dazu Funke, 2003), sei hier nur am Rande vermerkt.

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Doch so viel hier auch noch unerforscht ist, der Trend dieser Forschung lässt erkennen, dass die gewonnenen bzw. absehbaren Einsichten in die Verhalten regulierenden molekularen und neuronalen Prozesse die alten Kenntnislücken schließen und damit auch leitend für die Rechtswissenschaft und ihre Methodologie, insbesondere für die Grundlagen juristischer Interpretation und Entscheidungsfindung und für diese Vorgänge selbst werden. Konsequenz dieser Entwicklung und Sichtweise ist, dass die Überzeugung von der eigenen Entscheidungsfreiheit, die die allermeisten Menschen teilen, in neurobiologischer Sicht eher als ein verständlicher Irrtum zu werten ist. In diesem Kontext sind Experimente von Benjamin Libet (1985) zu erwähnen. Libet hatte Versuchspersonen zu einfachen Wahlhandlungen veranlasst. Sie mussten nur entweder die rechte oder die linke Hand heben. Mithilfe von PET ließ sich nachweisen, dass die für die Bewegung erforderliche neuronale Erregung bereits Sekundenbruchteile vor der vom Subjekt bewusst wahrgenommenen Entscheidung stattfand. Dazu gleich mehr (unten III.). Auf der anderen Seite ist auf zwei Besonderheiten des Gehirns hinzuweisen, die unser bewusstseinsmäßiges Verhältnis zu diesem Organ bestimmen. Das Gehirn ist zum einen unglaublich leistungsfähig bei der Konstruktion bzw. Rekonstruktion von Gesamteindrücken aus wenigen Elementen, unfertigen Mustern usw. Und es ist zum anderen außerordentlich autonom, weil die Verknüpfungen innerhalb des Kortex die Zahl der Bahnen, die heraus- oder hereinführen, um das bis zu 107-Fache übersteigen. Das Gehirn beschäftigt sich also weit überwiegend mit sich selbst. Dieser Aspekt veranlasst aber bisher – soweit ersichtlich – weder die juristische Methodenlehre noch die Allgemeine Rechtstheorie noch die Rechtspsychologie etwa zu einer Erörterung, das Gehirn könnte deshalb vielleicht als weitgehend autonome Instanz – also mit der Fähigkeit freier Willentlichkeit – in womöglich teilweisem Gegensatz zu den physischen Gegebenheiten stehen. Und dies obwohl das Gehirn letztlich in den natürlichen Kausalkonnex eingebunden bleibt. Hier unterbleibt bislang jegliche wissenschaftliche Diskussion in einer so zentralen und bedeutsamen Interpretations- und Entscheidungswissenschaft, wie sie die Rechtswissenschaft darstellt. Bestätigt sich die deterministische Sichtweise, zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass weite Bereiche der heutigen Rechtswissenschaft, insbesondere auch die eigentliche Rechtsdogmatik, nicht mehr von einem entsprechenden Wissenschaftsparadigma abgedeckt werden. Frage ist, ob die verbleibende „Restmenge“ an originär-juristischen Fragestellungen weiterhin eine eigenständige Rechtswissenschaft rechtfertigt. Eher schon ist da anzunehmen, dass die Rechtswissenschaft zumindest in ihren Grundlagendisziplinen, die traditionell ebenfalls zu den Geisteswissenschaften zählen, heute im weiteren Sinne als biologisch und neurowissenschaftlich zu inspirierende Wissenschaft zu gelten hat.

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III. Diskussion der Experimente von Libet Keller und Heckhausen (1990) kritisieren auf Basis einer Reihe von Experimenten die bei Libet verwendete Versuchsprozedur und insbesondere die Anweisung an die Versuchspersonen. Ihrer Auffassung nach war nicht der im Augenblick vor der Handbewegung verspürte Wunsch Grund für deren Ausführung, sondern die im Vorfeld gegebene Instruktion. Dadurch wurden die Versuchspersonen nach Ansicht dieser Autoren in einen Zustand versetzt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Bewegung auszuführen. Auch dieser Zustand findet aber diesen Autoren zufolge seinen Niederschlag in einem allgemeinen Aktivitätsniveau des Gehirns. Wenn dies zutrifft, ist nicht mehr gesichert, dass die Versuchspersonen tatsächlich die Intention zum Handeln, sondern möglicherweise eher den Beginn der Ausführung einer zuvor vom Versuchsleiter gegebenen Anweisung verspürten. Des Weiteren unternahmen Haggard und Eimer (1999) den Versuch, die Experimente von Libet zu replizieren. Ohne hier in die Details ihrer Versuchsanordnung zu gehen, sei jedenfalls erwähnt, dass sie neben den Bereitschaftspotenzialen eine weitere, später auftretende elektrische Aktivität gemessen haben: das so genannte „lateralisierte Bereitschaftspotenzial“. Ihre Studie lässt den Schluss zu, dass es dieses Potenzial ist, das die Grundlage für das bewusste Urteil der Versuchspersonen war, eine Handlungsintention zu verspüren. Haggard und Eimer folgern daraus, dass die zeitliche Diskrepanz von einer halben Sekunde, die Libet zwischen den Bereitschaftspotenzialen und dem Urteil der Versuchspersonen gemessen hatte, letztlich für die Frage der Freiheit des Willens nicht von Relevanz sei. Erklärungsbedürftig ist ihrer Auffassung nach lediglich die wesentlich kleinere zeitliche Differenz zwischen dem Auftreten des lateralisierten Bereitschaftspotenzials und dem bewussten Urteil der Handlungsintention (vgl. Haggard / Eimer, 1999, S. 132). Darüber hinaus könnten ihrer Ansicht nach generell Schlüsse, die auf Basis von zeitlichen Daten sowohl der Initiierung von Aktivität in den für die Bewegungsausführung verantwortlichen Hirnarealen als auch aufgrund des subjektiven Empfindens der Versuchspersonen gezogen werden, zu vereinfachend sein: „We suggest that inferring the direction of mind-body causation on the basis of temporal discrepancy alone is complicated by the difficulty of precisely timing both neural onsets and subjective experiences“ (Haggard / Eimer, 1999, S. 132). Mit anderen Worten: Es sollten nach Auffassung dieser Autoren aus den vorgestellten Experimenten keine allzu weit reichenden Konsequenzen für die Probleme der Willensfreiheit abgeleitet werden. Die erörterten neurowissenschaftlichen Experimente haben bisher kaum tiefere Risse im etablierten Selbstverständnis der Rechtswissenschaft auftreten lassen, führen doch die Befunde keineswegs zu zwingenden Konklusionen. Doch könnte ein Ausweiten der Perspektive möglicherweise aufzeigen, dass die Auswertung jener Befunde nur bedingt zur „Beruhigung der Gemüter“ beitragen mag, wenn die Ergebnisse der Hirnforschung stärker in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.

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IV. Restzweifel – überwindbar? Mit dem Fortschreiten der Biologie und zugehöriger Disziplinen wie Biochemie, Hirnphysiologie etc. ist die Rechtswissenschaft nicht anders als etwa die Denkund Entscheidungspsychologie einem aktuellen naturwissenschaftlichen „Strudel“ ausgesetzt. Die Gewissheit einiger Naturwissenschaftler wie etwa Singer (2003), die Dimension der Subjektivität auf naturwissenschaftliche Tatbestände und damit auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung reduzieren zu können, bedarf einer Antwort auch und vor allem durch die psychologischen Grundlagendisziplinen der Rechtswissenschaft. Wahrnehmung, Emotion, Erwägen und Entscheiden – sind diese Funktionen nur Sache von Neuronen und Genen? Die Folgerung, die daraus eine deterministisch orientierte Neurojurisprudenz ziehen kann, ist – bei aller Vorläufigkeit – zunächst jedenfalls eine konsequente Antwort. Nur gilt dann eben auch, dass sich der Mensch hinsichtlich seiner Freiheit etwas vormacht. Freilich: Die Folgerung ist leichter gesagt, als auf alle Konsequenzen hin durchdacht. Wo nämlich ist die Grenze zu ziehen? Da stellt sich natürlich die Frage: Macht sich hier nicht auch der Wissenschaftler etwas vor, der dies oder jenes erkannt oder bewiesen haben will? Fest steht: Der Forscher, der so etwas wie Freiheit rundum bestreitet, auch er hat sein Erkennen einem Kausalprozess zu verdanken. Das aber bedeutet, dass alle wahren und alle falschen Aussagen gleichermaßen verursacht sind. Nur ist dann nicht ohne weiteres klar, wer das Kriterium für die Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ liefert. Was hebt denn in einem Kausalprozess die wahre Aussage über die falsche hinaus? Diese Überlegung mag Anlass genug sein, das Freiheitsproblem nicht zu schnell als gelöst zu betrachten (vgl. Lenk, 2004). Noch hat niemand verständlich machen können, warum ein Subjekt beim Feuern dieser oder jener Neuronen in seinem Gehirn dies und das wahrnimmt oder denkt. Und schon gar nicht ist dargetan worden, wie sich die logische Schlüssigkeit einer Argumentation aus neuronalen Vorgängen ergibt. Es muss daher als offenes Problem angesehen werden, ob die als eigenständig geltende Gesetzlichkeit etwa von Logik und Mathematik dem Kausalkonnex unterworfen ist oder eben nicht. Wenn Ursache und Wirkung sich ohne einen unabhängigen Horizont nicht denken lassen, kann dann logisches Denken schlechthin verursacht sein? Und wenn ein solches Denken unverursacht möglich ist, muss das dann auch für vernünftiges oder unvernünftiges Entscheiden der juristischen Akteure gelten?

V. Die „stille“ Revolution – wo stehen wir? Für Rechtswissenschaft und Neurojurisprudenz von besonderem Interesse sind die Motivationen und ihre Entstehung, die Entscheidungsfindung sowie die Triebkontrolle. Diese „höheren Funktionen“ sind für die Affektsteuerung, das Denken und das Entscheidungsverhalten von grundlegender Bedeutung. Sie setzen be-

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stimmte Leistungen des Stirnhirns und benachbarter Areale voraus. Aufgrund solcher Zusammenhänge versucht die moderne Neurowissenschaft mithilfe Bild gebender und neuropsychologischer Verfahren eine immer detailliertere Vorstellung der Hirnfunktionen zu entwickeln. Damit will man nicht zuletzt dem Zusammenwirken von Hirn und Geist, von Brain und Mind auch unter Berücksichtigung von Umwelteinflüssen auf die Spur kommen. Gewichtiger als die Ausweitung der Neurowissenschaft auf Umwelteinflüsse ist die Erkenntnis, dass subjektives Erleben nicht allein auf neurophysiologische Prozesse reduziert werden kann. Subjektivem Erleben kommt eine zusätzliche Bedeutung zu, die nur auf einem kulturellen Hintergrund verstanden werden kann und die besonders in der Sprache als Medium der Begegnung von Menschen und ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt liegt, also jedenfalls nicht allein im Kopf. Juristische Entscheidungsprozesse haben die Eigenart, hauptsächlich oder ausschließlich durch das subjektive Erleben und die Bedeutung, die ihm (auch) im Kontext der spezifischen Berufswelt gegeben wird, gekennzeichnet zu sein (vgl. Weimar, 1996). Erkenntnismäßig zeichnen sich Prozesse dieser Art dadurch aus, dass sie auf das Selbst bezogene Probleme darstellen. Im Unterschied zu somatischen Problemstellungen ist primär das Selbsterleben betroffen. Diesen selbstbezogenen und intentionalen Aspekt, der juristischen Entscheidungsprozessen eigen ist, hat die juristische Methodenlehre so gut wie völlig vernachlässigt. Wenigstens ist ein solcher Aspekt aber zu erörtern. Die Frage des Selbstbezugs und der Intentionalität konnten zwar auch die Neurowissenschaften bisher nicht schlüssig beantworten. Dass bestimmte Leistungen des Gehirns für Selbstbezug und Internationalität unabdingbare Voraussetzungen sind, ist klar. Dennoch stellen Fühlen, Denken und Entscheiden nicht nur Hirnfunktionen dar. Manches spricht dafür, dass unser Hintergrundempfinden – und damit unser Selbstempfinden – ohne peripheres Nervensystem und andere somatische Funktionen nicht möglich wäre und dass unsere Sprache – gerade auch Mittel und Ausdruck von Gerechtigkeitsempfinden – und damit das Denken als Reden mit uns selbst ohne kulturelle Voraussetzungen nicht möglich ist. Das Empfinden von Angst beispielsweise setzt einen intakten Mandelkern (Amygdala) und weitere Hirnstrukturen voraus. Aber auch vegetative Veränderungen der übrigen Körperorgane – z. B. Herz oder Haut – und in komplexeren Fällen etwa die Beurteilung einer Lebenssituation als gefährlich spielen eine Rolle. Das haben Forschungen von Damasio (1994), LeDoux (1989) u. a. deutlich gemacht. So kann beispielsweise das Gehirn eines Wissenschaftlers nicht isoliert an einer Herz-Lungenmaschine kommunizieren, da ein isoliertes Gehirn nicht mehr in gleicher Weise zu Empfindungen, Gefühlen und Gedanken fähig ist wie eine lebende Person im Austausch mit Mitmenschen und Umwelt. Die Neurojurisprudenz hat es in besonderer Weise mit einer komplexen Verbindung von innerem Erleben und Außenschau zu tun. Ihr methodisches Problem ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Innenschau (Erstperson-Perspektive) und

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Außenschau (Drittperson-Perspektive) nur schwer miteinander verbinden lassen. Während von außen die objektive Sichtweise bei der Interpretation und Entscheidungsfindung im Vordergrund steht, droht die Innenseite der psychologischen Problematik der genannten Vorgänge vernachlässigt zu werden (vgl. auch Lenk, 1991). VI. Wollen, Nichtwollen, Anderswollen – ein Freiraum? Ist die Person also doch nicht nur ein Maskenträger, die nach vorgegebenen Gesetzen handelt, verfügt sie über eigenen Spielraum, sich so oder anders zu entscheiden? In der Möglichkeit zu wollen, ist – wenn auch nicht immer aber doch regelmäßig – die Möglichkeit enthalten, nicht zu wollen. Die Person ist hier der Erfahrung einer „inneren Differenz“ ausgesetzt. Menschen können in der bewussten Erfahrung dieser inneren Differenz z. B. bedauern, so zu sein, wie sie sind. Sie können sich auch selber ändern wollen. Sie können Wunschvorstellungen entwickeln und davon abweichende Zustände ablehnen. Unabhängig von ihrer Entscheidung machen sie die Erfahrung, dass sie zu einer Sache oder einer Empfindung Stellung beziehen können und in der Lage sind, etwas als gewollt oder als ungewollt einzuschätzen. Die Bedeutung solcher Erfahrungen kann für Interpretation und Entscheidung kaum überschätzt werden. Wer etwas will, schließt immer auch ein, etwas anderes nicht zu wollen. Es eröffnet sich ihm, falls die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen erfüllt sind, eine Welt der Gegensätze. Die Person kann sich, gewollt oder ungewollt, in einer bestimmten sozialen Lage, in einem bestimmten Gefühl, in einer bestimmten Empfindung befinden. Dabei ist nicht die Frage entscheidend, ob der Wille wirklich frei ist, sondern der Umstand, dass die Person nach ihren eigenen gegebenen Bedingungen ihr Wollen oder Nichtwollen als innere Differenz erfahren kann. Diese Erfahrung macht einen inneren Diskurs möglich: zwischen Wollen und Nichtwollen. In letzter Konsequenz kann es – insbesondere mithilfe der Sprache – zur Selbstdistanzierung und Selbstreflexion kommen. Diese intrapsychische Dynamik ist freilich nur aus der Erstperson-Perspektive wahrnehmbar; sie ist nicht objektivierbar. Deshalb benötigt der personale Ansatz eine besondere Methode zum Verständnis und Nachvollzug des individuellen Erlebens. Die auf der Erstperson-Perspektive basierende Methode des Verstehens unterscheidet sich von objektgerichteten Methoden der Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die die Drittperson-Perspektive als Sicht von außen zur Voraussetzung haben. Nun wäre es aber kurzschlüssig, die verschiedenartigen Ansätze gegeneinander auszuspielen, denn sie können sich im Sinne verschiedener perspektivischer Sichtweisen ergänzen. Das zeigt sich gerade am Prozess des juristischen Interpretierens und Entscheidens (vgl. Weimar, 1996, 2000).

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VII. Mehrdimensionalität Interpretatives Erfassen und Entscheiden betreffen das ganze System Mensch. Diese Vorgänge gehen mit biologischen, psychologischen und soziokommunikativen Prozessen einher. Am Beginn steht meist eine mehr oder weniger belastende Erfahrung, eine Unorientiertheit, eine multivalente Situation. Biologisch sind im Zustand jener Prozesse viele Körperfunktionen auf typische Weise beteiligt. So finden sich Veränderungen der Hirnaktivität – besonders des Stirnhirns und des Limbischen Systems –, des vegetativen Nervensystems, des Hormonhaushalts (insbesondere Kortisolanstieg) und der Psychomotorik. Insgesamt scheint der Körper durch diese Veränderungen in seiner Aktivität auf eine vermehrte Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit gerichtet. Die biosozialen Veränderungen reichen allerdings nicht aus, um eine interpretative oder dezisionale Phase zu erklären. Es müssen psychologische Veränderungen des Erlebens und Verhaltens hinzukommen. Das hat damit zu tun, dass biologische und soziale Beeinträchtigungen zwar in der Mehrzahl der Fälle zu beobachten sind, aber manchmal auch fehlen. Zudem können sie bei anderen Störungen auftreten, die nicht mit einer Entscheidungslage einhergehen. Konsequenterweise basiert die Diagnose eines interpretativen oder dezisionalen Prozesses nach wie vor auch und hauptsächlich auf psychologischen Kriterien, mithin auf dem subjektiven Erleben einer Stimmung (z. B. Antrieb, Interesse). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es bis heute nicht gelungen ist, einen biologischen Marker für interpretierendes und dezisionales Verhalten zu finden. Die möglichen biologischen Veränderungen sind nicht einfach die materielle Kehrseite des subjektiven Empfindens. Mit anderen Worten: Der Begriff „Interpretation“ und „Entscheidung“ umfasst keine wohldefinierte biologische Funktionseinheit. Der entsprechende Vorgang basiert praktisch auf einer Erlebensdimension, die bisher nicht in ein organisches Funktionsmodell übersetzt werden konnte. Interpretation / Entscheidung werden nach wie vor mehr oder weniger in einer Weise und danach definiert, wie in entsprechenden Situationen Menschen sich selber erleben. Diese Definitionsweise entspricht aber dem Erleben aus der Erstperson-Perspektive. Sollte sich in Zukunft ein ausschließlich biologisch orientiertes Modell durchsetzen, würde das Erleben diagnostisch keine bedeutsame Rolle mehr spielen. Stattdessen wären Funktionsabläufe des Gehirns ausschlaggebend.

VIII. Ausblick Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Erleben aus der Erstperson-Perspektive lässt sich nicht einfach in eine Beobachtung aus der Drittperson-Perspektive überführen. Nicht nur verunmöglicht der Komplexitätsgrad des Fühlens, Denkens und Wollens eine computerisierte Berechnung der einzelnen Daten zu einem stimmigen Abbild; die Überführung der Erstperson-Perspektive in eine objektivier-

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bare Darstellung von außen wird auch durch das Erleben eines inneren Freiheitsgrades begrenzt. Dieser objektive Blick in das Innere des Erlebens und Entscheidens, das Unsichtbare also sichtbar zu machen, ist ein Anspruch und Ziel auch der Neuro- und Nanowissenschaften des 21. Jahrhunderts. Interpretative / dezisionale Phänomene sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht nur Hirnfunktionen darstellen, sondern mit einer Stellungnahme zu der vorhandenen oder vorgestellten Situation, aber auch mit dem subjektiven Leistungserleben der Person einhergehen. Sie sind Ausdruck auch einer Selbstbeurteilung. Interpretative / dezisionale Prozesse gehen zwar mit veränderten Hirnfunktionen einher, das persönliche Erleben ist damit aber nicht hinreichend erklärt. Interpretierend / entscheidend ist nicht ein menschliches Gehirn allein, sondern eine Person. In der Sprache der Neurowissenschaft wird der Personbegriff zwar häufig durch Hirn oder Gehirn ersetzt. Es ist aber nicht das in sich isolierte Hirn, das sich mit der Umwelt in Beziehung setzt, sondern die Person. Die Bedeutung interpretierender / dezisionaler Prozesse liegt daher nicht allein im Gehirn, sondern in der bewertenden Stellungnahme der Person zu ihrem Erleben auch aufgrund situativer Momente und im sprachlichen Austausch zwischen Menschen und ihrer Kultur – und damit freilich immer auch in Abhängigkeit von der je konkreten Hirnphysiologie des Individuums. Eine Wissenschaftstheorie oder Methodologie der Rechtswissenschaft ohne explizite und kritische Erörterung der hier vorgestellten interpretations- und entscheidungsrelevanten Befunde mit ihren handlungsspezifischen Implikationen und Konsequenzen wird ihrer Funktion als Wissenschaftsdisziplin nach heutigen Maßstäben nicht gerecht.

Literatur Damasio, A. R. (1994): Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Funke, J. (2003): Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer. Haggard, P. / Eimer, M. (1999): On the relation between brain potentials and the awareness of voluntary movements. Experimental Brain Research, 126 (1), 128 – 133. Keller, J. / Heckhausen, H. (1990): Readiness potentials preceding spontaneous motor acts: voluntary versus involuntary control. Electroencephalography and Clinical Neurophysiology, 76, 351 – 361. LeDoux, J. E. (1989): Cognitive-emotional interactions in the brain. Cognition and Emotion, 3, 267 – 289. Lenk, H. (1991): Zu einem methodologischen Interpretationskonstruktivismus. Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 22, 283 – 302. – (2004): Bewusstsein als Schemainterpretation. Ein methodologischer Interpretationsansatz. Paderborn: mentis.

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Determinismusstreit heute und die Methodologie der juristischen Entscheidung* Der Problembereich „Determinismus versus Willensfreiheit“ besteht im Wesentlichen in der Fragestellung, ob die bewussten Denkprozesse im Gehirn, also die Prozesse, die die subjektive Erfahrung der Willensfreiheit ausmachen (ErstpersonPerspektive), in einem neurobiologischen System realisiert sind, das determiniert ist. Die neurowissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass Hirnfunktionen eine entscheidende Grundlage psychischen Erlebens und Verhaltens sind. Jedoch sind Problemstellungen der aufkommenden Kognitiven Neurojurisprudenz (Neurojurisprudence) in besonderer Weise auch mit kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen verknüpft. Die Forschung ist dabei arbeitsteilig organisiert: Die Rechtswissenschaft liefert das theoretische Problem, Neurowissenschaftler entwickeln den empirischen Lösungsansatz. Aussagen von Neurobiologen, die Geheimnisse des menschlichen Gehirns lüften zu können, werden zunehmend selbstsicherer. Allerdings gibt es auch Neurowissenschaftler, die betonen, die Neurowissenschaften stünden keineswegs kurz davor, dem Gehirn seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Den Rechtswissenschaftlern, die auf den schöpferischen Geist setzen und sich und den Gegenstand der Jurisprudenz und ihrer Methodologie nicht auf bloße Naturprozesse reduziert sehen möchten, bleibt zumindest eine Galgenfrist.

I. Determinismus vor den Toren der Jurisprudenz Der Versuch, alles Bewusstsein und Denken auf Materie zurückzuführen, geht bis in die Philosophie der Antike zurück. In der Gegenwart dürfte jene Form des Determinismus die naturwissenschaftlich anspruchvollste sein, die aus den biologischen Zusammenhängen der Gene, des Gehirns und seiner neuronalen Verknüpfungen alles Psychische und Geistige ableiten möchte. In Deutschland vertritt insbesondere der Hirnforscher Wolf Singer (2002, 2003) diesen Ansatz. Auch dieser Ansatz selbst müsste sich dann – so sollte man meinen – konsequenterweise als Ergebnis neuronaler Prozesse darstellen. Er wäre also nicht „frei“ gewählt, konzipiert und vollzogen, sondern durch physische Faktoren bestimmt, die sich in dem * Erstveröffentlichung in: R. Jakob, M. Usteri, R. Weimar (Hrsg.), Recht & Psychologie. Gelebtes Recht als Objekt qualitativer und quantitativer Betrachtung. 2006, S. 277 – 296. Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt am Main – New York – Oxford – Wien: Lang. Beitrag geringf. überarb.

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Forscher zur Erkenntnis bringen. Aber auch die entsprechende „äußere“ oder Dritterkenntnis erscheint dann wiederum als determiniert und so weiter. Der deterministische Regress wäre unendlich. In dieser Sicht scheint mehr für Konzepte zu sprechen, welche Psyche und Geist nicht allein auf neuronale Prozesse reduzieren, sondern auch anderen Einflüssen Raum geben, ohne indes den Kontext der Neurobiologie zu durchbrechen. Unter den deutschen Forschern hat insoweit insbesondere der Neurobiologe Gerhard Roth (1997, 2003) einen beachtlichen Ansatz entwickelt. Roth bietet eingehende Analysen zu den Prozessen im Gehirn und zu den jeweils beteiligten Großhirnregionen. Alle Vorgänge im Gehirn, die Bewusstsein auftreten lassen bzw. im Bewusstsein Veränderungen bewirken, finden zumindest unter Beteiligung von Regionen der Hirnrinde, also des Kortexes und des tiefer gelegenen Limbischen Systems statt. Die Region, der die Rationalität zugeschrieben wird, ist der präfrontale Kortex. Roth betont, dass bei aller Bedeutung der verschiedenen Kortex-Regionen das Limbische System es ist, das die Entscheidungen trifft, und von freiem Willen im präfrontalen Kortex nicht die Rede sein kann. Dass diese Aussage gerade auch für juristisches Entscheiden von höchster Relevanz ist, erscheint evident und bedarf keiner weiteren Begründung. Jeder Entscheidung – und mag man sie auch noch so sehr als Ergebnis unseres freien Willens ansehen – gehen Vorentscheidungen voraus und zwar unbewusst. Warum ein Richter so und nicht anders entscheidet, ist selten Schritt für Schritt nachvollziehbar. Da gibt es zunächst das Gesetz, in dem aber die Entscheidung nicht ablesbar gegeben ist; da gibt es vielleicht einschlägige Präjudizien, meinungsmachende Kollegen, Karrieredeterminanten, politische Rücksichten u. a. Vor allem aber sind da die Gene, die das Temperament eines Menschen weitgehend festlegen. Auch frühere Einflüsse prägen spätere Entscheidungsmuster bis hin zu bilanzierenden Erfahrungen aller Lebensjahre. In einer juristischen Entscheidungssituation spiegelt sich kein Wille, der bedingungslos frei wäre. Gerade wenn die konkrete Hirnphysiologie des Individuums auch von sozialen, kulturellen und anderen ökologischen Faktoren abhängig ist, dann ist auch deswegen der „Wille“ beim Abwägen der Argumente im Prozess der Entscheidung nicht wirklich frei. Wer in einem Richterkollegium sich aus welchen Gründen für oder gegen etwas entscheidet, bleibt weit gehend unprognostizierbar. Wenn es nach neueren Berechnungen zutrifft, dass rund 14 Millionen Neuronen im Gehirn tatsächlich arbeiten und diese über eine Trillion Synapsen miteinander verbunden sind, dann ist es nicht möglich vorherzusagen, wie es in einem solchen Netzwerk zu welcher Entscheidung in einer rechtlich komplexen Situation kommt. Doch im Nachhinein können wir den Bewusstwerdungsvorgang mit entsprechendem Aufwand rekonstruieren (vgl. Roth, 2004). In Experimenten lässt sich zeigen, in welchem Verhältnis diese physiologischen Prozesse mit bewusstem Erleben zusammenhängen (Roth, 2004). Dem bewussten Fällen einer Entscheidung geht immer ein unbewusster Prozess voraus. Im Gehirn

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lassen sich Erregungszustände nachweisen, die eine Entscheidung ankündigen – bevor der Entscheider sich dessen bewusst ist, dass er überhaupt eine Wahl treffen will (vgl. Roth, 2004). Wie steht es nun aber mit der Fähigkeit des Menschen, sein Handeln an Gründen zu orientieren und Alternativen abzuwägen? Sind es die Gründe, die den Menschen bewegen? Erinnert sei hier an eine Geschichte, die von Plato überliefert ist: Sein Lehrer Sokrates, der im Gefängnis sitzt, hätte die Chance zu fliehen. Er entscheidet sich aber dafür, hinter Gittern zu bleiben. Man könnte nach den Ursachen fragen, eine solche womöglich darin sehen, dass sich seine Knochen und Sehnen nicht bewegen, auch ohne dass ein bestimmter hirnphysiologischer Erregungszustand vorlag (vgl. Schockenhoff, 2004). Ein anderer Ansatz, der sein Handeln nicht als physikalisches Geschehen beschreibt, ließe sich darin sehen, dass Sokrates seinem Gewissen folgen und die Gesetze des Staates achten möchte (Schockenhoff, 2004). Hier fragt man nach Gründen für sein Handeln. Das Sokrates-Beispiel beweist indes nicht, dass die Weigerung des Sokrates zu fliehen, einer freien Entscheidung entspringt. Die Ursache für das Nichtfliehen des Sokrates liegt letztlich in seinen Genen, die sich dem Grund seines Nichtfliehens nicht widersetzten, ihn als Grund für ihn überhaupt erst ermöglichten. Eine andere genetische Verfassung oder eine gegenteilige Sozialisation hätte womöglich eine Flucht und einen Grund hierfür induziert. In entsprechenden Versuchen können wir sehen, dass Bewusstsein und Psyche – also „Geist“ – unter bestimmten physikalischen Bedingungen im Gehirn gebildet werden (Roth, 2004). Das Gehirn konstruiert, so drückt es der Neurobiologe Roth aus, Ichzustände. Das Gehirn konstruiert also auch die Wahrnehmung und Wirkung von Gründen. Gründe werden hiernach durch die Großhirnrinde festgelegt. Der Mensch empfindet dies in diesem Moment als Bewusstseinszustand (Roth, 2004). Im Nachhinein redet er sich Gründe ein, warum er so und nicht anders gehandelt hat. Die unbewussten Vorgänge legen nicht bis ins Detail fest, wie in den „bewussten Hirnschichten“ entschieden wird (vgl. Roth, 2004). Bestimmte Probleme, die „unbewusste Hirnregionen“ nicht sofort lösen können, hebt das Gehirn – so Roth – in die Sphäre des Bewusstseins. Schwierige Entscheidungen werden der Großhirnrinde als einem „Abwägegremium“ vorgelegt, einer „Art Jury“ (Roth, 2004). Sie ist nach Roth gewissermaßen der Chef, der bestimmt, wo es langgeht.

II. Das „Wie“ von Informationsverarbeitung: Emotionen und das Limbische System Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Emotion und Kognition stellt sich die Frage, was Emotionen von Kognitionen unterscheidet. Dabei ist es jedenfalls kaum möglich, Emotionen und Kognitionen voneinander klar abzugrenzen.

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Statt Emotionen als eigenständige mentale Zustände anzusehen, können sie auch als die Art und Weise verstanden werden, in der Informationsverarbeitung stattfindet. In diese Richtung geht Klaus Fiedler (1988, 1991) mit seinem „dual force-approach“: Kognitive Prozesse lassen sich hiernach als eine Transformation von Input zu Output verstehen. Dabei kann Information entweder weit gehend erhalten bleiben (bewahrende Verarbeitung) oder im Prozess der Transformation neu generiert werden (produktive Verarbeitung). Fiedler nimmt nun an, dass die Stimmung es ist, die je nach Valenz bestimmte Verarbeitungsstile unterstützt. Positive Stimmung geht dabei mit einem produktiven Verarbeitungsstil einher, negative Stimmung mit einem bewahrenden Verarbeitungsstil. Diese Annahme führt zu einer Reihe testbarer Hypothesen, z. B. zu der Hypothese, dass Aufgaben, bei denen neue Informationen produziert werden, besser in positiver Stimmung gelöst werden, während reproduktive Aufgaben erfolgreicher unter negativer Stimmung bearbeitet werden (Erk / Walter, 2000). Die Ergebnisse einer ganzen Reihe experimentalpsychologischer Studien bestätigen diese Hypothesen (vgl. Fiedler, 1991). Das Limbische System hat bei der Entscheidungs- und Handlungssteuerung das erste und letzte Wort. Es steuert die menschliche Gefühlswelt und ist für die Bewertungen zuständig. Zwischendurch kommt der große Auftritt von Verstand und Vernunft. Doch die haben nur beratende Funktion. Ausschlaggebend für Entscheidungen sind nach Roth (2004) die Erfahrungen, die Gefühle, Hoffnungen, Ängste, die einen Menschen im Lauf seines Lebens geprägt haben und im Rahmen seiner aktuellen Hirnphysiologie sein Verhalten bestimmen. Das Gehirn trixt also das Ich gewissermaßen aus. Soweit es Aufgabe der juristischen Methodenlehre ist, Anleitung zu geben, die es ermöglicht, rationale Gründe zu erkennen, objektiv abzuwägen und Entscheiden danach auszurichten, ist herkömmlicherweise der freie Wille Voraussetzung hierfür. Die rechtsmethodologischen Aussagen setzen die menschliche Freiheit also voraus. Doch sind methodologische Aussagen, jedenfalls soweit es um ihren normativ-praktischen und postulativen Gehalt geht, nicht wahrheitsfähig und daher nicht beweisbar; sie stehen jenseits der empirisch arbeitenden Wissenschaft. Das Limbische System ist die Grundlage unserer Empfindungen, insbesondere unserer Gefühle. Nun stehen Gefühle in der juristischen Methodenlehre offensichtlich nicht hoch im Kurs. Als etwas eher Niedriges bleiben sie denn auch außen vor. Sie sind zugunsten der rationalen Kontrolle implizit zurückgedrängt. Das gefühlsfeindliche Klima der juristischen Methodenlehre – auch und gerade gegenüber dem allgegenwärtigen Rechtsgefühl – lässt leicht übersehen, dass Gefühle nichts Zufälliges oder gar Unvernünftiges sind. Was bliebe vom Menschen, wäre er ohne Gefühle? Er könnte kaum überleben, weil er sein Erleben und Verhalten nicht mehr sinnvoll einzuordnen imstande wäre. Er wäre einem sinnlosen Durcheinander von Reizen ausgeliefert, die für ihn keine Bedeutung hätten und auch nicht gedanklich weiterverarbeitet werden könnten.

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Gefühle können – in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Verhaltensforschung – als erlebte Zustände, die das Verhalten zweckvoll organisieren, verstanden werden. Sie sind eine Art Bewertungssystem, auf das wir uns stützen können und das uns erlaubt, nicht jeden Reiz einzeln beantworten zu müssen. Freilich schaut man in dieser Optik dem Hirn nur von außen bei seiner Aktivität zu und versucht so, die Entstehung der inneren Welt zu beobachten. Insoweit handelt es sich um zwei divergente Erkenntnisquellen: um Selbsterfahrung einerseits und um neurobiologische Forschungszugänge und -ergebnisse andererseits. Klar ist dabei, dass die psychische Dimension nicht von den Neurowissenschaften allein erklärt werden kann. Dafür, dass Entscheidungen „subkortikal“ getroffen werden, stützt sich Roth (1997) auf Versuche von Benjamin Libet (1985), die zeigen konnten, dass das neuronale „Bereitschaftspotenzial“ für simple Wahlhandlungen, die eine Versuchsperson ausführen sollte, stets dem gemeldeten Willensakt um Sekundenbruchteile voraus lief. Der Willensakt gehe also dem neuronalen Prozess nicht voraus, sondern ergebe sich aus ihm, folgert Roth. Komponenten durch den präfrontalen Kortex gingen zwar in unser Verhalten mit ein. Ausschlaggebend sei aber das unbewusst arbeitende Limbische System als zentrales Bewertungssystem. Die Autonomie des Menschen liege daher nicht im subjektiv empfundenen Willensakt. Das Gehirn oder besser: der ganze Mensch sei das autonome System, nicht das empfindende Ich. Auch sehr „willensstarke“ Menschen seien nicht frei, sondern von ihren Zielsetzungen getrieben, mit deren Erreichen sie sich belohnen wollten. Wie Roth in anderen Zusammenhängen darlegt, wird von früher Kindheit an ein großes Repertoire von Handlungen eingeübt, das künftig ohne explizierte Willensakte abgerufen werden kann. Der Beweis, dass Handlungen eigentlich nicht rational gesteuert werden, müsste also konsequenterweise an „neuartigen“, noch nicht eingeübten Handlungen erbracht werden. Roth hingegen begnügt sich mit dem Libet-Argument und weist deshalb dem Ich enge Schranken zu: Das Ich sei lediglich ein „Konstrukt“ des Gehirns, das sich selber „Absichten und Handlungsfähigkeit“ zuschreiben müsse. Es diene der Interpretation und Legitimation seiner Handlungen. Seine Eigentümlichkeit liege darin, dass es die Existenz seines Produzenten, des Gehirns, hartnäckig leugne. Doch dieses „Zuschreibungs-Ich“ sei nicht „der große Steuermann, für den es sich hält“ (Roth, 2003, S. 395 f.). Dieses Ich bezeichnet Roth als „Bündel ganz unterschiedlicher Funktionen und Erlebniszustände“ (2003, S. 551). „Dass das Ich in der Tat nicht ein einheitliches Wesen, sondern ein komplex zusammengesetztes Phänomen ist, welches die unterschiedlichsten ,Dissonanzen‘ aufweisen kann, ist aus der Psychiatrie und Neuropsychologie seit langem bekannt“, schreibt er (2003, S. 329) und nutzt so invalide Ich-Formen, um der validen die Einheit abzusprechen. Einzelne Aspekte des Ichs, die Roth für erwähnenswert hält, fügen sich seinem Gesamtkonzept dahingehend ein, dass „erst das Ich den Menschen zu einem hochflexiblen Akteur“ macht (2003, S. 398).

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Gehirn und Geist werden beide der Physik zugeordnet: Der Dualismus von Gehirn und Geist, so Roth, sei mit dem modernen naturwissenschaftlichen Denken nicht vereinbar; ein universeller Wirkungszusammenhang mache es erforderlich, Geist als physikalischen Zustand aufzufassen (Roth, 1997, S. 281, 331). Insgesamt geht hiernach nichts daran vorbei, dass der vernunftbegabte Mensch so weit auf nicht-rationale Bestrebungen zurückinterpretiert wird, dass auch der Unterschied des Menschen zum Tier nur noch ein gradueller ist.

III. Konstruktion der Wirklichkeit Das Gehirn konstruiert sich seine Wirklichkeit. Das wird dadurch verständlich, dass Roth von der Innenbetrachtung der Hirnprozesse ausgeht und nicht wirklich zur Außenwelt zurückkommt. Der „universelle Wirkungszusammenhang“ der Naturwissenschaften ist deshalb ein Konstrukt, während die Realität, zu der auch das Gehirn zählt, unerkennbar ist (Roth, 1997, S. 324 ff.). Die Wirklichkeit ist also in Wirklichkeit nicht „wirklich“. Im Gegensatz zum neuronalen Reduktionismus Wolf Singers (2002, 2003) ist bei Roth der kommunikative Austausch des Menschen mit anderen Menschen für die Konstruktion des Ichs und seine Selbstzuschreibungen unerlässlich (Roth, 2003, S. 517). Unsere Autonomie, so Roth, bestehe darin, im Zweifel die Gesellschaft zu suchen, die zu uns passe (2003, S. 564). Was hier als gleichsam sozioneuronal erscheint, bleibt freilich letztlich auch neuronal bedingt. Offen bleibt bei Roth nicht anders als bei Singer, wieso diverse Gehirne eine Wirklichkeit konstruieren, die für die übrigen Gehirne „verbindlich“ ist und Geltung hat oder eben auch nicht.

IV. Bewusstsein als Epiphänomen? Wie Edelman (2004) ausführt, muss eine naturwissenschaftliche Analyse des Bewusstseins die Frage beantworten, wie aus dem Feuern von Neuronen subjektive Eindrücke, Gedanken und Emotionen entstehen können: „Eine wissenschaftliche Erklärung muss einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen aufzeigen, sodass wir Aspekte der einen Ebene aus Ereignissen auf der anderen Ebene herleiten können“ (2004, S. 14). Wie aber lässt sich ein solcher Kausalzusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein konkret erfassen? Edelman fragt, welche Elemente und Merkmale von Körper und Gehirn für das Auftreten von Bewusstsein notwendig und hinreichend sind. Die Frage lasse sich „am besten dadurch beantworten, dass wir genau bestimmen, wie die Eigenschaften bewussten Erlebens aus den Eigenschaften des Gehirns hervorgehen“ (2004, S. 19). Genauer sollen sich die phänomenalen Eigenschaften der einen Ebene – also des Bewusstseins – aus Ereignissen der anderen

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Ebene verstehen lassen (S. 25). Dazu müssten, so Edelman, zunächst „die neuronalen Korrelate des Bewusstseins“ aufgespürt werden. Danach gelte es, zwischen ihnen und Aspekten des phänomenalen Erlebens hin- und herzuwechseln, um herauszukristallisieren, in welcher Weise sie einander entsprechen (S. 68). Schon da stellt sich allerdings die Frage, ob solche Entsprechungen das Auftreten von Bewusstsein notwendig und hinreichend erklären können. Edelman geht von der Beobachtung aus, dass die millionenfachen Verschaltungen in Form unterschiedlich aufgebauter Schaltkreise bzw. Neuronengruppen jeweils aus großen Mengen von Einzelverbindungen bestehen. Dabei handelt es sich großenteils um Verbindungen von Gehirnregionen untereinander (z. B. Regionen des Kortexes und der tiefer liegenden Kerne). Edelman (2004) nennt das Bewusstsein eine „Eigenschaft“ des Gehirns. Die neuronale Aktivität sei nicht etwa Ursache des Bewusstseins, vielmehr „die Transformation eine simultan gegebene Eigenschaft der Aktivität“ (S. 83). Damit kann nach Edelman das Bewusstsein selbst keine Kausalwirkung ausüben (S. 85). So bleibt die natürliche Welt einschließlich des Gehirns kausal geschlossen, wie es das physikalische Weltbild fordert, und das Bewusstsein ist ein zusätzliches Phänomen, ein „Epiphänomen“, das seinerseits nichts bewirkt (S. 87). Edelman unterscheidet dabei eine ganze Reihe von „Bewusstseinszuständen“; er kommt so zu Eigenschaften von Eigenschaften (vgl. etwa S. 119, 129).

V. Natur- oder Kulturbedingtheit juristischer Entscheidungsprozesse oder beides? Der neurobiologische Determinismus geht davon aus, dass sich alle mentalen Prozesse, auch hochkomplexe Empfindungen, auf funktionelle Abläufe im Gehirn zurückführen lassen. Er basiert auf folgender – hier vereinfachter – Argumentation: Verhaltens- und Empfindungsweise beruhen auf neuronalen Schaltkreisen, d. h. nervlichen Verbindungen innerhalb des Zentralnervensystems. Gene und ihre Proteine sind wichtige Determinanten dieser neuronalen Verknüpfungsmuster. Das „Ausdrucken“ genetischer Botschaften, ihre Expression, wird von Umwelteinflüssen beeinflusst. Ohne den Einfluss dieser Umweltfaktoren bleiben viele Gene stumm und wirkungslos. Deshalb ist es möglich, dass erst eine Lernerfahrung – über die Aktivierung von Genen – die Verknüpfung bestimmter Neurone verändert. Die Komplexität der juristischen Entscheidung liegt nicht im Kopf allein (dazu näher Weimar, 2005). Auch wenn kein Zweifel besteht, dass juristisches Entscheiden wie alles menschliche Verhalten auf physikalisch-chemischen Prozessen des Gehirns beruht, stellt sich dennoch die Frage, ob es zum Verständnis der Binnenstruktur des Entscheidens ausreicht, neuronale Prozesse zu erkennen, oder ob für ein solches Verständnis weitere Bedingungen biologischer, psychologischer und sozialer Art erforderlich sind. Ein zentrales Argument für diese erweiterte Frage-

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stellung stammt aus der Hirnforschung selbst. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Hirnentwicklung im Rahmen genetisch gegebener Grenzen von Umwelteinflüssen und Lebenserfahrungen abhängig ist. Das Gehirn ist kein statisches, sondern ein plastisches Organ, das sich in seiner Feinstruktur inneren und äußeren Einflüssen anpasst. Wenn aber die Vernetzung und Sprossung von Hirnzellen untereinander von biografischen Entwicklungen (z. B. Lernerfahrungen) abhängig sind und Umweltbelastungen etwa in Form von Rechtsstress und Entscheidungsdruck Einfluss auf Mikroanatomie und Neurophysiologie verschiedener Hirnzentren haben, so ist die Hirnaktivität potenziell auch Ausdruck von Lebensumständen und Welterfahrung. Die Frage hierbei ist, ob sich juristische Entscheidungsprozesse in bloße Naturprozesse auflösen lassen oder ob Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft zwei eigenständige und auch methodisch verschiedene Bereiche darstellen, die so gut wie nichts oder doch nur wenig miteinander zu tun haben und daher nicht vermengt werden dürfen. Bei allem neurobiologischem Verständnis bezieht der gegenwärtige Determinismus zwar auch Umwelt- und Lerneffekte ein, allerdings nur insoweit, als sie auf die Expression von Genen und damit auf Gehirnfunktionen Einfluss haben. Konsequenterweise muss er Psychologie und Neurojurisprudenz (dazu Weimar, 2000, 2005) weit gehend auf eine angewandte Natur- bzw. Neurowissenschaft reduzieren und ist überzeugt, dass sich alle Kultur letztlich als Natur ausdrücke. Damit kehrt er die etwa von Carl Friedrich von Weizsäcker vertretene Position, dass alle Naturwissenschaft letztlich Kulturwissenschaft sei, in ihr Gegenteil um: „Alle Kulturwissenschaft ist letztlich Naturwissenschaft“. Alles Leben setzt sich hiernach aus Genetik und Erfahrung zusammen. Für einen freien Willen oder eine subjektorientierte Sichtweise ist dann kein Platz. Eine integrative Neurojurisprudenz hat es demgegenüber mindestens mit drei Ebenen zu tun, die einen je eigenen Zugang nötig machen, auch wenn sie in Wechselwirkung zueinander stehen: die biologische, die soziale und die personale Ebene. Wahrscheinlich fühlen sich die meisten Menschen von der dritten Ebene unmittelbar berührt, da sie sich vor allem als Personen verstanden wissen wollen. In der Neurojurisprudenz steht der Mensch als Normanwender und juristischer Entscheider im Zentrum des Interesses. Es ist schwer vorstellbar, dass das innere Erleben hier durch diagnostische Methoden je präzise erfasst und vorhergesagt werden kann. Solange aber dem Erlebensbereich des Entscheiders – seinem Fühlen, Wollen und Handeln – eine Vorrangstellung eingeräumt wird, ist eine Reduktion auf bloße biosoziale Gesichtspunkte aus methodischen und erkenntnistheoretischen Gründen ausgeschlossen. Im Fall der juristischen Entscheidung sind psychologische Einflüsse unübersehbar. Erst das Wahrnehmen einer multivalenten Situation oder auch das zunächst erfolglose Bemühen um ein bestimmtes Ziel und seine Erreichung (Problemlösung) macht das Entscheidungsgeschehen verständlich. Und erst die psycholo-

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gische Dynamik, die das biosoziale Grundmuster des Entscheiders aktuell begleitet, macht die biologische und soziokommunikative Einschränkung deutlich. Wird die multivalente Situation sehr stark erlebt, verengt sich der Handlungsspielraum des Entscheiders oft so weit, dass nurmehr ein inneres Abwägen, aber kein unmittelbares aktives Entscheiden möglich ist. In einem solchen Fall scheint das Denken auf die zwiespältige Frage eingeengt, wie mit einem bestimmten Entscheidungsimpuls die Situation geklärt werden kann. Aber auch im größten Zaudern und in ambivalent erfahrener Entscheidungsunfähigkeit kommt die erlebte Möglichkeit zum Ausdruck, etwas zu wollen oder etwas nicht zu wollen. Es ist dieser Zwiespalt der Wahlfreiheit, der die Entscheidungs- bzw. Handlungsfähigkeit in der multivalenten Situation einschränkt, während gleichzeitig aber die innere Differenz bzw. die Herausforderung zur Entscheidung bestehen bleibt (vgl. Weimar, 1996). Dieser Zwiespalt wird wohl besonders deshalb erfahren, weil sich seit der Aufklärung ein Menschenbild entwickelt hat, das vom Ideal eines autonomen und selbstverantwortlichen Akteurs ausgeht. Anders als im Mittelalter, als der Mensch sich schicksalhaft in ein kosmisches Geschehen eingebettet sah, steht der moderne Mensch unter dem besonderen Druck, sich durch methodisches und diszipliniertes Handeln selbst zu verwirklichen. Motto: das Leben als letzte Gelegenheit. Die Vorstellung eines geradezu autarken Subjekts kann in der entscheidungsbedingten Blockadesituation mitunter zur Tragödie werden. Weil aber der moderne Mensch dieses aufgeklärte Selbstbild verinnerlicht hat, kann er sich in der für ihn schwierigen Entscheidungssituation nicht davon entfernen. Denn ein autonomer Mensch erlebt sich als darauf angewiesen, initiativ denken und handeln zu können. Gerade diese Fähigkeiten sind aber in der Entscheidungssituation eingeschränkt (Weimar, 1996). Der Entscheider ist letztendlich auf sich selbst geworfen, zumal wenn er in den vorherrschenden rechtlichen und kulturellen Wertungen einen tragenden Grund zunehmend schwerlich zu finden vermag.

VI. Neuronale Prozesse und Kausalität Man „hat“ nach allem die subjektive Erfahrung von Willensfreiheit, aber es gibt eben keinen echten freien Willen auf der neurobiologischen Ebene. Die meisten Neurobiologen meinen ganz in diesem Sinn, dass das Gehirn so funktioniert, dass wir zwar die Erfahrungen von Willensfreiheit haben, dass es sich dabei aber um eine Illusion handelt, weil die neuronalen Prozesse kausal hinreichend sind, um nachfolgende Zustände des Gehirns zu determinieren, einige unter der Annahme, dass es (zusätzlich) eines äußeren Reizimpulses und / oder weiterer Wirkungen seitens des restlichen Körpers gibt. In der Verarbeitung von Außenreizen und der Steuerung von Reaktionen und Handlungen geht die evolutionäre Entwicklung offensichtlich dahin, die Außenwelt immer detaillierter im neuronalen Netz zu rekonstruieren, um auf die immer

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detaillierter rekonstruierte Wirklichkeit ebenso differenziert und flexibel reagieren zu können. Als „Überlebensorgan“ konzipiert, hat unser Gehirn eine Komplexität erreicht, die es uns ermöglicht, zumindest teilweise unserer selbst bewusst zu werden. VII. Gehirn und enterales Neurosystem Ein genaues Abbild des Gehirns befindet sich neueren Forschungen zufolge überraschenderweise im Bauch. Bisher gingen die Neurowissenschaften ganz überwiegend davon aus, dass das Gehirn die zentrale Schaltstelle in unserem Körper ist. Weitere neurowissenschaftliche Forschungen haben jedoch ergeben, dass der Bauch ein eigenes vom Gehirn unabhängiges Nervensystem besitzt. Dieses enterale Nervensystem kann Befehle des Gehirns korrigieren oder widerrufen und steuert keineswegs nur eigenständig die Verdauung. In den Darmwänden befindet sich die gleiche Art von Nervenzellen, Wirkstoffen, Neurotransmittern und Rezeptoren wie im Gehirn. Daher bezeichnet der amerikanische Neurobiologe Michael Gershon (2001) in seinem Buch „Der schlaue Bauch“ den Bauch als das „zweite Gehirn“. Dieses gibt mehr Botschaften an das Gehirn im Kopf als umgekehrt (vgl. Gershon, 2001, S. 41 ff.). Die Vielzahl dieser Botschaften ist noch nicht entschlüsselt, ein Teil davon behandelt die Verdauung. Was aber bedeuten die anderen Nachrichten? Hier liegt noch ein weites, wenig bearbeitetes Forschungsfeld. Eine weitere interessante Entdeckung sind die verschiedenen Botenstoffe und psychoaktiven Substanzen, die im Bauch nicht nur vorkommen, sondern dort auch hergestellt werden. Diese Substanzen wie Dopamin, Serotonin oder Opiate sind verantwortlich für unsere Stimmungen und Gefühle. Auf „seelische Unausgeglichenheit“ werden oft mangels klarer Befunde Magengeschwüre, Sodbrennen, Obstipation und andere Fehlfunktionen des Verdauungstrakts zurückgeführt. Der eigentliche Grund für diese Beschwerden aber scheint darin zu liegen, dass die Kommunikation zwischen dem ersten und dem zweiten Gehirn gestört ist. Ein leicht eintretender Fall, denn nur ein paar tausend Nervenfasern verbinden Gehirn und unseren Darmtrakt, das „zweite Gehirn“, dessen rund 100 Millionen Nervenzellen wiederum Reflexe auch völlig ohne Einflüsse aus Gehirn und Rückenmark weiter vermitteln können (vgl. Gershon, 2001). Diese Entdeckungen stellen das bisherige Menschenbild zumal der Jurisprudenz in Europa und womöglich darüber hinaus auf den Kopf. Der Bauch also hat es in sich und nicht umsonst wurden viele Atem-, Zentrierungs- und Meditationstechniken für den Bauch entwickelt. Sie unterstützen uns darin, den Bauch in seiner gesunden Funktion zu fördern und ein Gleichgewicht zu finden zwischen Bauch und Verstand.

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VIII. Vom autonomen zum integrierten Entscheider-Subjekt Gerade im Entscheidungsgeschehen geht die subjektive Erfahrung nicht unter. Bei aller Abhängigkeit erfährt der als Entscheider Handelnde dieses Erleben als das einzige, was ihm bleibt: als etwas ihm Eigenes. Er ist als Individuum „unhintergehbar“, kann nicht hinter sich selbst zurücktreten. Sein Eigenwert ist zwar auch durch die Natur gegeben, liegt aber biografisch in ihm selbst. Nicht anders als andere Personen mögen Richter, Verwaltungsentscheider, Forscher, Ärzte usw. zuweilen an übersteigerter Subjektivität und am Erleben ihres Ungenügens scheitern können. Aber sie vermögen manchmal auch durch ihr Betroffensein von den Belastungen des Entscheidungsgeschehens hindurch eine nicht selbstverständliche Erlebensfähigkeit neu zu entdecken. Sie spüren dann, dass es diese nur ihnen zukommende Erstperson-Perspektive ist, die sie in ihrer Individualität ausmacht. Vielleicht kann ein tieferes Verständnis des Entscheidungsprozesses dazu verhelfen, das viele von uns überfordernde Menschenbild eines „starken Subjekts“ wieder abzulegen. Durch Infragestellung eines absolut autonomen und autarken Ichs muss das Subjekt nicht untergehen. Es kann sich als von vielen Bedingungen abhängig bzw. als natürliches Lebewesen verstehen und trotz neuronaler Bedingtheiten spüren, dass es über einen Eigenwert – über eine Psyche – verfügt.

IX. Transzendenz geistiger Phänomene? Es dürfte klar geworden sein, dass die beschriebenen geistigen Phänomene eng an die neuronalen Strukturen unseres Gehirns gekoppelt sind. Nach meiner Darstellung einiger neurophysiologischer Grundlagen kognitiver Prozesse bleibt nun zu fragen, ob kognitive, geistige und seelische Phänomene ausschließlich Folgen materieller Prozesse (z. B. bioelektrischer Funktionen) sind oder ob es sich bei Phänomenen dieser Art um solche handelt, die die materielle Welt transzendieren. Man weiß schon recht viel darüber, welche Strukturen des Limbischen Systems etwa bei Angstzuständen erregt werden und welche Großhirnareale zur räumlichen Vorstellung oder sprachlichen Kodierung aktiviert werden. Und bestimmte Bewusstseinsphänomene können gezielt pharmakologisch verändert werden. Insofern liegt eine nondualistische Auffassung nahe, seelische und geistige Prozesse seien Folge lediglich der aufgezeigten chemisch-physikalischen, also materiellen Prozesse. Anders formuliert: Ist ein neuronales Netz erst komplex genug, entwickelt es Systemeigenschaften, die notwendigerweise Kognition, Denken usw. hervorbringen. Solche quantitativen „Sprünge“ von Systemen werden als „Fulguration“ (Konrad Lorenz) bezeichnet. So plausibel die nondualistische Sichtweise auch ist, eines ist sie nicht: logisch zwingend. Dass nämlich zwei Phänomene eng miteinander zusammenhängen,

Determinismusstreit heute und die Methodologie der juristischen Entscheidung

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heißt nicht notwendigerweise, dass das eine aus dem anderen folgt. Es ist ebenso denkbar, dass Geist einerseits und Gehirnfunktionen andererseits zwei Aspekte einer Wirklichkeit sind, die dahinter oder darunter liegen, die wir aber nicht erkennen können, weil sie unseren Denkkategorien und unserer Wahrnehmungsausstattung verschlossen bleiben. Und selbst wenn das aber zuträfe, so folgt daraus selbstverständlich wiederum nicht, dass so etwas wie Willens- und Entscheidungsfreiheit auch nachgewiesen ist. Anders ausgedrückt: Vielleicht sind das menschliche Gehirn und der menschliche Geist in letzter Konsequenz einfach nicht in der Lage, sich als Phänomene selbst zu begreifen.

X. Ausblick Natürlich kann gefragt werden, ob es eine Wirklichkeit gibt, die sich mit heutigen naturwissenschaftlichen Methoden nicht angemessen erfassen lässt. Aber gerade komplexe Vorgänge wie juristisches Entscheiden sind nicht ohne Entsprechungen im Gehirn. Das Geist Genannte ist ein natürlicher Zustand unserer Welt – auch wenn es sich von dem Zustand bloßen „materiellen“ Feuerns von Neuronen abhebt und konventionell hiervon unterschieden wird. Als masseloses Phänomen gehört es, auch ohne auf die Gesetze der Festkörperphysik reduzierbar zu sein, aber zur physikalischen Welt. Damit wird die Idee des freien Willens, die als implizite Grundbedingung für die Methodologie juristischen Entscheidens gilt, zumindest fragwürdig. Womöglich stehen wir hier vor einem sehr einschneidenden Paradigmenwechsel. Zum Verständnis juristischen Entscheidens gehört offenbar auch eine Vorstellung davon, was den Menschen „eigentlich“ ausmacht und wie unser Verhältnis zum Rest der Natur ist. Der Mensch als von egoistischen Genen gesteuerter Roboter oder als ein mit freiem Willen Handelnder – das sind durchaus verschiedene Perspektiven unseres Selbstverständnisses mit Auswirkung auf Entscheidungsverhalten und seine Zuordnung auch in rebus iurisprudentibus. Die juristische Methodologie versucht indes nicht einmal, die beiden Sphären des Wissens kenntlich zu machen (vgl. ansatzweise jedoch Bydlinski, 1982, S. 124 f.; weiterführend Richli, 2000, S. 381 ff.). Sie scheint vom Grundsatz her geradezu einhellig eine „Einheit des Wissens“ über die Natur des Menschen vorauszusetzen. Die neuen biologischen Sichtweisen sind demgegenüber in ihrer Fundamentalität weitaus belangvoller für das Wissenschaftsbild des juristischen Entscheidens, als es die Jurisprudenz und ihre Methodologie selbst je waren. Der überkommene Methodologismus der Jurisprudenz kann den Blick auf neue Perspektiven versperren. Der neuronale Determinismus wiederum kritisiert zwar die Scheinevidenzen mancher geisteswissenschaftlicher Positionen, er klärt jedoch nicht gründlich genug die nichtempirischen Annahmen, die vorschreiben, was als Beobachtung oder was als mögliche Erklärung gelten darf. So bleibt die juristische Methodologie in der Dichotomie von Biologie und Kultur gefangen. In diesem Sinn bleiben bei ihr

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hochaktuelle Fragestellungen gegenwärtig außen vor. Kann juristische Methodologie es sich leisten, ein wissenschaftlich und rechtspolitisch so zentrales Feld unbesetzt zu lassen? Nein, eigentlich nicht. Aber was soll’s. Da gibt es ja – out of the mainstream – die Forschungsfelder der Neurojurisprudenz. Zu klären bleibt also: Können wir, wie wir wollen, sollen und dürfen, oder müssen wir, wie wir sind? Die zunehmende Kenntnis von Hirnvorgängen wird unser Menschenbild nicht bedrohen, sie wird es bereichern.

Literatur Bydlinski, F. (1982): Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff. Wien / New York: Springer. Edelman, G. M. (2004): Das Licht des Geistes – Wie Bewusstsein entsteht. Düsseldorf / Zürich: Walter Verlag. Erk, S. / Walter, H. (2000): Denken mit Gefühl – Der Beitrag von funktioneller Bildgebung und Simulationsexperimenten zur Emotionspsychologie. In Nervenheilkunde 2000, 3 – 12. Fiedler, K. (1988): Emotional mood, cognitive style and behavior regulation. In: Fiedler, K. / Forgas, J. P. (eds.), Affect, cognition, and social behavior (pp. 100 – 119). Toronto: Hogrefe. – (1991): On the task, the measures and the mood in research on affect and social cognition. In: Forgas, J. P. (ed.), Emotion and social judgment (pp. 82 – 104). Oxford: Pergamon. Gershon, M. (2001): Der kluge Bauch. Die Entdeckung des zweiten Gehirns. München: Goldmann. Libet, B. (1985): Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action. Behavioral and Brain Sciences, 8, 529 – 566. Richli, P. (2000): Interdisziplinäre Daumenregeln für eine faire Rechtsetzung. Basel – Genf – München: Helbing & Lichtenhahn. Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2003): Fühlen, Denken, Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Roth, G. / Schockenhoff, E. (2004): SPIEGEL-Streitgespräch zwischen dem Neurobiologen Gerhard Roth und dem Moraltheologen Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel am freien Willen. In: Der Spiegel, Nr. 52 vom 20. 12. 2004, 116 – 120. Singer, W. (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2003): Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weimar, R. (1996): Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Bern: Stämpfli. – (2000): Neuroscience Before the Gates of Jurisprudence. In: Usteri, M. / Fikentscher, W. / Wickler, W. (Hrsg.), Gene, Kultur und Recht (S. 39 – 52). Bern: Stämpfli. – (2005): Zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft – Aspekte einer Wende? In: Dürr, R. / Gebauer, G. / Maring, M. / Schütt, H.-P. (Hrsg.), Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk (S. 171 – 181). Münster: LIT-Verlag.

Interdisziplinarität: Was darf die Rechtswissenschaft wissen? Aus dem Zusammenwirken verschiedener Disziplinen1 ergeben sich Probleme. Eine wissenschaftliche Disziplin kann als kognitives System von Theorienkomplexen und Methoden wie auch als gesellschaftliches Subsystem aufgefasst werden. Beide Sichtweisen können in der Realität nicht exakt voneinander abgegrenzt werden. Für den Bereich interdisziplinärer Zusammenarbeit sind beide Perspektiven von Bedeutung. Beeinträchtigungen des Zusammenwirkens gehen regelmäßig von beiden Bereichen aus. Interdisziplinärer Zusammenarbeit stehen vor allem konservative Tendenzen2 gegenüber, die der einzelnen Disziplin im Interesse ihrer Selbsterhaltung eigen sind. Diesen Tendenzen entsprechend wird wissenschaftliches Arbeiten, sobald es nicht mehr eingefahrenen disziplinären Gepflogenheiten entspricht, als Schritt über Grenzen und in aller Regel als „abweichendes“ Verhalten qualifiziert. Selbst in ihrer Thematik und Methodik verwandte Disziplinen werden häufig aufgrund institutioneller Ordnungen scharf gegeneinander abgegrenzt, was Schwierigkeiten einer konstruktiven Zusammenarbeit mit sich bringen kann.3

I. Stellung der Einzelwissenschaft Während etwa Rechtswissenschaftler, Mathematiker, Psychologen, Mediziner u. a. vielfach in ihrer Kompetenz als Spezialisten angesprochen werden, findet sich andererseits auch die Tendenz dieser Wissenschaftler, sich bei nicht direkt in ihren Bereich fallenden Fragen als nicht zuständig anzusehen.4 Dass Arbeitsteilung im Bereich von Wissenschaft (Spezialistentum) sinnvoll, ja notwendige Bedingung disziplinären Erkenntnisfortschritts ist, ist unbestritten: die 1 Siehe vor allem Holzhey, Interdisziplinarität, in: ders. (Hrsg.), Interdisziplinär, Interdisziplinäre Arbeit und Wissenschaftstheorie (Ringvorlesung der Eidgenössischen Technischen Hochschule und der Universität Zürich im Wintersemester 1973 / 74, Teil 1), Basel – Stuttgart 1974, S. 105 – 129 (113 ff.) 2 Zu diesen Tendenzen vgl. v. Cranach, Über die wissenschaftlichen und sozialen Voraussetzungen „erfolgreicher“ interdisziplinärer Forschung, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 48 – 60 (59) sowie Cerletti, Dringliche Aufgaben für die interdisziplinäre Forschung, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 78 – 88 (84). 3 Vgl. im Einzelnen Cerletti, Aufgaben, S. 78 ff. 4 Ausführlich hierzu und zum Folgenden Holzhey, Interdisziplinarität, S. 114.

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stereotype Berufung auf die Grenzen des eigenen Fachgebiets kann aber ebenso als Form ängstlicher Absicherung wie als Verweigerung von Mitverantwortung für Probleme oder Problemlösungen interpretiert werden, die über das – im Interesse genau prüfbarer Einsichten – wohl abgesteckte Gebiet der Disziplin hinausreichen. Das mag ja immerhin angehen, gäbe es nicht Objektbereiche, die von den bestehenden Disziplinen weder vollständig erfasst noch nach allen wesentlichen Gesichtspunkten umfassend untersucht werden. Wer Fragen stellt, die nicht als Fragen einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin zu identifizieren sind oder die einzeldisziplinäre Kompetenz überschreiten, steht vor ähnlichen Problemen wie ein Bürger, der in der staatlichen Bürokratie nicht den richtigen Ansprechpartner zur Beantwortung seiner Fragen findet. Setzt sich eine disziplinübergreifende Problemstellung aber durch, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass eine neue Disziplin – eine Interdisziplin – entsteht.5 Je nachdem, wie man interdisziplinäre Arbeit definiert und beurteilt, wird man zu einer solchen Entwicklung verschieden Stellung nehmen können. Zum Teil sind interdisziplinär zu lösende Aufgaben so komplex, dass sie nicht nur einer einzigen neuen Wissenschaftsdisziplin überantwortet werden können. Behält man die unterschiedlichen Zielsetzungen im Blick, die mit der Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit verbunden sein können, dann ist klar, dass jedenfalls ein Zweck, nämlich die wissenschaftliche Bearbeitung eines bislang vernachlässigten Problemfeldes außerhalb der bekannten Disziplinen erreicht wird, sofern interdisziplinäre Arbeit in die Schaffung neuer Disziplinen mündet und so den Differenzierungsprozess der Wissenschaft verstärkt. Vielleicht ist das unvermeidlich. Das Unternehmen Wissenschaft hat im Übrigen nicht nur Misserfolge,6 sondern insgesamt außerordentliche Leistungen erbracht. Keine andere Kombination zwischen einem kognitiven System und einem Sozialmechanismus hat in der Geschichte der Menschheit mehr geleistet. Man muss dabei zur Kenntnis nehmen, dass schon interdisziplinäre Verständigung als solche Spezialisten verlangt, Spezialisten für jene Metasprachen, die das Gespräch zwischen verschiedenen Wissenschaften ermöglichen. Das Verhältnis zwischen Disziplinen entspricht nach bisheriger Erfahrung selten dem Prinzip eines herrschaftsfreien Dialogs. So ist bei Luyten sogar die Rede von der Gefahr des „Imperialismus“ einer Disziplin.7 Luyten begründet dies mit der Tendenz, jedem Wissenszweig, der wissenschaftlich sein möchte, einen Typ von Wissenschaft in Form einer bestimmten Methode aufzudrängen. Beispiele für einen Herrschaftsanspruch dieser Art sind etwa der Physikalismus oder der Psy5 Vgl. zu diesem Problemkreis Kosiol / Szyperski / Schmielewicz, Zum Standort der Systemforschung im Rahmen der Wissenschaften, in: Bleicher (Hrsg.), Organisation als System, Wiesbaden 1972, S. 65 – 97 (84 f.) 6 Vgl. v. Cranach, Forschung, S. 55 f. 7 Luyten, Interdisciplinarité: un impératif de la recherche scientifique, in: Civitas, 29. Jg. (1973), S. 222 – 236 (S. 225 f.).

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chologismus.8 Nur handelt es sich hierbei immer schon um einen weltanschaulichen Totalitätsanspruch, weshalb man wohl kaum einen Vertreter der Physik und Psychologie findet, der ihn erhebt, abgesehen davon, dass ein solcher Anspruch einzelwissenschaftlich nicht zu begründen ist. In subtilerer Form treten Hegemonieansprüche einzelner Disziplinen hinsichtlich des methodischen Ansatzes bei der Erforschung bestimmter Objektbereiche auf. Interdisziplinäre Zusammenarbeit kann so zwar in die Gefahr geraten, der Verwirklichung von Hegemonieansprüchen Vorschub zu leisten; sie kann aber gerade auch – bei entsprechenden Vorkehrungen – solche unbegründeten, engen und wenig flexiblen Ansätze aufdecken und abbauen helfen.9 Als Fehlentwicklung besonderer Art im Zusammenwirken von Disziplinen muss eine Zusammenarbeit aufgrund vorgängig fixierter Lösungsansätze gelten. Einerseits kann in der interdisziplinären Zusammenarbeit gerade die Chance gesehen werden, ein solches Vorgehen, wie es in den Einzelwissenschaften gelegentlich anzutreffen ist, zu vermeiden, weil der Problemansatz hier meist erst erarbeitet werden muss. Andererseits zeigt jedoch die Untersuchung der Defizit-Theorie der schichtspezifischen Sprachsozialisation, dass eine Theorie allein aufgrund ihrer interdisziplinär fundierten Entwicklung erhebliche Bekräftigung gewinnen kann. Die bisherigen Darlegungen machen deutlich, dass interdisziplinär orientierte wissenschaftliche Arbeit prinzipiell die gleichen Ziele hat wie die einzelwissenschaftliche Arbeit. Es geht darum, neue Theorien zu entwickeln oder neue Anwendungen bestehender Theorien zu ermöglichen. Ein interdisziplinäres Vorgehen wird sowohl in der Grundlagen- wie in der angewandten Forschung sinnvoll sein, wenn es die Komplexität der Probleme erfordert.10 Dabei können von gelingender interdisziplinärer Zusammenarbeit wiederum fruchtbare Impulse auf die einzelwissenschaftliche Forschung erwartet werden.

II. Wissenschaftliche Kooperation: Motive und Funktionen Grob schematisiert lässt sich feststellen, dass sich interdisziplinäre Arbeit wie jede andere Forschung im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Motivationen11 gründet. Es kann das schlichte Bestreben nach Wahrheitssuche den Anstoß geben, oder es sind Problemstellungen, die sich durch gesellschaftspolitische Relevanz auszeichnen und von außen an verschiedene Wissenschaftler herangetragen werden. 8 Im Einzelnen Traupel, Was können wir von interdisziplinärer Arbeit erwarten?, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 36 – 42 (39 ff.). 9 Vgl. Traupel, Interdisziplinäre Arbeit, S. 42. 10 So vor allem de Bie, Problemorientierte Forschung, Hauptströmungen der sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1973, S. 31 ff. 11 Zu den Motiven interdisziplinärer Forschung vgl. insbesondere Hadorn, Ist Interdisziplinarität überhaupt möglich?, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 43 – 47 (44 ff.).

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Im ersten Fall, bei dem es durchweg um Grundlagenforschung geht, ergeben sich weniger Schwierigkeiten als im zweiten Fall. So kann Grundlagenforschung den Weg zur Interdisziplinarität pragmatisch wählen und auch wieder verlassen. Dabei ergibt sich die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener disziplinärer Richtungen regelmäßig ohne Druck von außen, und in der Auswahl der Partner kann sich der Initiant ausschließlich nach Fachkompetenz und kollegialer Bereitschaft richten. Je besser er selbst qualifiziert ist, desto größer ist die Chance, adäquate Mitforscher zu finden. Fruchtbare interdisziplinäre Arbeit ist vor allem dort zu erwarten, wo Wissenschaftler zusammenarbeiten, die ursprünglich meist gar nicht auf Interdisziplinarität eingestellt waren, sondern auf einem Spezialgebiet führende Arbeit geleistet haben.12 Solche Wissenschaftler werden dann in einem Team danach streben, ihren eigenständig konzipierten Beitrag zum gemeinsamen Ganzen zu leisten. Erst wenn die Möglichkeit einer Kombination autonomer Beiträge besteht, wird das Niveau der interdisziplinären Forschung einer anspruchsvollen Einzelwissenschaft nicht überschreiten. Im Übrigen können die Mitglieder eines frei gefügten Teams jederzeit wieder zu ihren Einzelstudien zurückkehren, falls eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht so gelingt, wie man es sich erhofft hatte.13 Als herausragendes Beispiel für den Erfolg eines nur temporär gemeinsam forschenden Teams, das ein keineswegs gesellschaftspolitisch motiviertes Problem der Grundlagenforschung gelöst hat, mag die Arbeitsgemeinschaft Crick-WatsonWilkens gelten, der die Aufklärung der Struktur der Erbsubstanz gelang.14 Hier konnte nur die Zusammenarbeit von Biologen, Chemikern und Kristallstrukturforschern zum Erfolg führen. Keiner dieser Partner hätte als „Einzelgänger“ oder mit nur gelegentlicher Hilfe das Ziel erreicht. Ähnliches ließe sich für andere interdisziplinäre Gruppierungen zeigen. Problematischer erscheint interdisziplinäre Forschung, sobald sie gesellschaftspolitisch oder im Besonderen auch wirtschaftlich motiviert ist.15 Sie muss sich insofern an den Möglichkelten ihrer praktischen Verwendbarkeit für die Gesellschaft und in ihr messen lassen. Auch in diesem Kontext lassen sich zwei Motivationen16 unterscheiden: Die Wahrnehmung von Aufklärungsfunktionen und die interdisziplinäre Kooperation aus Gründen der gesellschaftlichen Steuerung. Zwischen diesen Motivationen besteht ein enger Zusammenhang, sodass die aus der Wahrnehmung dieser Aufgaben erwachsenden Ergebnisse kaum der einen oder der anderen Funktionsart allein zurechenbar sind. 12 So Traupel, Interdisziplinäre Arbeit, S. 41 und Jochimsen, Zur gesellschaftspolitischen Relevanz interdisziplinärer Zusammenarbeit, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 9 – 35 (14 f.). 13 So Jochimsen, Relevanz, S. 13 und Hadorn, Interdisziplinärität, S. 44. 14 Zum Problemkreis der gesellschaftspolitisch motivierten Forschung Jochimsen, Relevanz, S. 20 ff. 15 Vgl. zu diesem Beispiel Hadorn, Interdisziplinärität, S. 44. 16 Zur Unterscheidung von Aufklärungs- und Steuerungsfunktion interdisziplinärer Kooperation vgl. Jochimsen, Relevanz, S. 15 ff.

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Erfolgt interdisziplinäre Forschung zum Zweck der Aufklärung, so lässt sich als Adressat in erster Linie der Bürger als Mitglied der Gesellschaft ausmachen, während der Staat, die Wirtschaft oder bestimmte Verbände zunächst nicht direkt angesprochen sind.17 Interdisziplinäre Zusammenarbeit zeigt sich hierbei nicht so sehr in der Produktion und Reproduktion technisch verwertbaren Wissens, sondern in der Anwendung und Verbreitung von Erkenntnissen, die auch zur kritischen Analyse von Auffassungen, Zuständen und Prozessen geeignet sind. Die gesellschaftspolitische Relevanz interdisziplinärer Zusammenarbeit ergibt sich durch die als Alternative zur Vorgehensweise nicht kooperativer Einzeldisziplinen zu verstehende Wahrnehmung von Aufklärungsfunktionen. Ein bedeutsames Merkmal der insoweit besonderen Leistungsfähigkeit interdisziplinärer Forschung liegt in der Möglichkeit, soziale Tatbestände systematisch darzustellen und auf diesem Weg zur Vermeidung von Fehlurteilen über die Beschaffenheit axiomatischer Grundlagen, angewandter Methoden und Techniken anderer Disziplinen beizutragen. Interdisziplinäre Forschung kann so die Auffassungen von Gesellschaftsmitgliedern korrigieren, die auf falschen Annahmen oder auf dem Gebrauch nicht bewährter Theorien über die Struktur der Gesellschaft beruhen, auf diese Weise also erkenntnistheoretische Aufklärungsfunktionen im Rahmen einer Information über Wissen und einer Distribution von Wissen übernehmen. Ferner besteht die Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit bei der Analyse und Kritik von Konzeptionen und Ideologien. Bestimmte, von Entscheidungsträgern im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich vertretene Konzeptionen und Strategien, insbesondere Rechtfertigungs- und politische Heilslehren sowie die tatsächlichen Verhaltensweisen der Akteure können so durch systematische Kritik des jeweiligen Zweck-Mittel-Zusammenhangs einer Prüfung unterzogen werden.18 Die ideologiekritische Aufklärungsfunktion interdisziplinärer Zusammenarbeit sorgt auf diese Weise für eine Stärkung der Urteilsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder. Angesichts der Wissenschafts- und Ideologiegläubigkeit vieler Menschen kann interdisziplinäre Zusammenarbeit auch dazu beitragen, den vorläufigen Charakter von Erkenntnis deutlich zu machen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit erfolgt schließlich aus Gründen der Planung und Steuerung sozialer Prozesse. Zum Adressaten wissenschaftlicher Erkenntnisse werden hier Akteure im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Insbesondere Politiker und Wirtschaftler treten dabei häufig als Nachfrager von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf, streben nicht nur deren systematische VerwenDazu und zum Folgenden Jochimsen, Relevanz, S. 16. Zur sozialen Wertgrundlage der Wissenschaft vgl. Fürstenberg, Die Wissenschaft im gesellschaftlichen Spannungsfeld, in: Scholz (Hrsg.), Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft, Berlin 1969, S. 22 – 34 (23 ff.) sowie Jochimsen / Knobel, Zum Gegenstand und zur Methodik der Nationalökonomie, in: dies. (Hrsg.), Gegenstand und Methoden der Nationalökonomie, Köln 1971, S. 11 – 66 (52 f.). 17 18

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dung an, sondern auch die Formulierung neuer Problemstellungen, Bereitstellung von Forschungsmitteln und die Vergabe von Forschungsaufträgen.19 Die gesellschaftspolitische Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit besteht hier darin, dass wissenschaftliche Forschung auf diesem Weg Ergebnisse zeigen könnte, die bei der Planung und Steuerung sozialer Prozesse besser anzuwenden sind als Ergebnisse der Einzelforschung. Inwieweit dies zutrifft, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass solche Arbeit ebenso notwendig und legitim ist wie die zweckfreie Wahrheitssuche.20 In diesem Zusammenhang wäre etwa an Aufgaben der Umwelt- oder Bildungsforschung zu denken. Eine besondere Schwierigkeit mag sich bereits bei der Besetzung des Arbeitsteams einstellen. So ist zu prüfen, ob sich die auf ihren Spezialgebieten führenden Wissenschaftler überhaupt gewinnen und für Aufgaben einplanen lassen, die eigentlich von anderen konzipiert wurden. Es besteht womöglich auch die Gefahr, dass die entsprechende angewandte Forschung als zweitrangig und unoriginell betrachtet wird.21 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch solches Forschen als Dienst an der Gemeinschaft Anerkennung und Förderung verdient.22 Louis Pasteur schob diese Bedenken jedenfalls beiseite, als er, damals bereits ein berühmter Kristallograf und Chemiker, mit Praktikern der Seidenraupenzucht zusammenarbeitete, da es notwendig wurde, die verheerende Péprine-Seuche im Rhonetal mit neu zu konzipierenden Methoden zu bekämpfen.23 Das gemeinsame Bemühen führte zum Erfolg; eine wirtschaftliche Notlage konnte überwunden werden. Freilich sind auch diejenigen Fachwissenschaftler zu verstehen, die Bedenken haben, sich für bestimmte angewandte und interdisziplinäre Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Abschrecken mag einerseits die Erwartung der finanzierenden Instanzen und der hinter ihr stehenden Öffentlichkeit, wonach in bestimmter Zeit ein handfestes Ergebnis vorzuliegen hat. Andererseits fällt es den besten Forschern erfahrungsgemäß schwer, sich für längere Zeit zu binden. Diese Gegebenheiten führen dazu, dass sich interdisziplinäre Forschergruppen häufig nicht optimal konstituieren lassen.24 Insbesondere fehlt einem permanenten Arbeitsteam eine bereits bei der Gründung absehbare anpassungsbereite Dynamik und personelle Mobilität. Diese Erstarrungsgefahr ist um so mehr zu bedenken, als Hierzu Jochimsen, Relevanz, S. 17. Zu den folgenden Darlegungen vgl. auch Jochimsen, Relevanz, S. 17 f. 21 Siehe dazu im Einzelnen Hadorn, Interdisziplinarität, S. 44 f. 22 Vgl. Jochimsen / Knobel, Zum Gegenstand, S. 64, die sogar von einem Vorgang der gegenseitigen Befruchtung von Problemwahl, Problemstellung, Theoriebildung, Methodenentscheidung sowie der Auswahl adäquater Betrachtungsweisen und Techniken der Analyse sprechen. Ähnlich auch de Bie, Forschung, S. 83 ff. 23 Hierzu Hadorn, Interdisziplinärität, S. 45. 24 Zu Problemen und Chancen interdisziplinärer Zusammenarbeit siehe de Bie, Forschung, S. 97 ff. 19 20

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die sich im Bereich von Interdisziplinarität stellenden Aufgaben durchweg besonders anspruchsvoll sind. So liegt die Befürchtung nahe, dass etwa in der Umweltforschung sich eine mehr oder weniger harmlose Aktivität oder gar ein Dilettantismus ausbreiten könnte, der von erstrangiger Wissenschaft weit entfernt bleibt. Es liegt auf der Hand, dass es für die verantwortlichen wissenschaftspolitischen und finanzierenden Instanzen nicht gerade einfach ist, den angesprochenen Schwierigkeiten zu begegnen. So ist beispielsweise zu fragen, wie die in Ökologie ausgewiesenen Biologen Verbindung mit Fachleuten der Klimatologie, der Geologie und den geeigneten physikalisch-chemischen Spezialisten aufnehmen können, um dringliche Probleme der Umweltforschung auch unter rechts- und verwaltungswissenschaftlicher Begleitung zu bewältigen.25 Den „Umweltwissenschaftler-an-sich“, der für diesen interdisziplinären Komplex allein „zuständig“ wäre, gibt es nämlich nicht; es kann ihn nicht geben. Ein weiteres Beispiel liefert der Bereich der Bildungsforschung. Leider ist gerade dort festzustellen, dass die interdisziplinäre Ausrichtung unzureichend ist. Dabei mögen – häufiger als in den Naturwissenschaften – festgefahrene Lehrmeinungen die notwendige Öffnung sperren. Hier mag eine interdisziplinäre Zusammenarbeit deshalb schwierig sein, weil die Mitwirkung einer maßgebenden Fachwissenschaft bestimmte Kreise nicht stören darf, die nicht nach nur wissenschaftlichen Kriterien gezogen sind.

III. Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation Vor dem Hintergrund der Explosion des Wissens und fortschreitender Spezialisierung der Wissenschaften ist der Ruf nach verstärkter interdisziplinärer Zusammenarbeit laut geworden.26 Die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Auflösung unseres Geisteslebens in viele Teilbereiche ist zwar nicht neu, dennoch aber aufgrund der immer deutlicher werdenden Entwicklung in diese Richtung aktueller geworden. Angesichts der unvorstellbaren Fülle von Erkenntnissen fällt es schwer, einigermaßen zu überblicken, wo die „wesentlichen“ Erkenntnisse zu suchen sind. Bei dieser Situation drängt sich der Gedanke auf, man müsse sich einmal darum bemühen, das Verbindende zu suchen und Synthesen zu entwickeln. Festzuhalten ist, dass in der Verzweigung der Wissenschaft in unzählige Spezialgebiete eine – angesichts einer gegenüber früheren Jahrhunderten unvorstellbaren Ausweitung des Wissens – innere Notwendigkeit liegt.27 Im aufklärerischen Denken war es die Überzeugung, dass der Mensch durch rationales, voraussetzungsloses Denken und nur so zur Wahrheit gelangen könne. Die Wahrheit suchte man Zu den weiteren Darlegungen ausführlich Hadorn, Interdisziplinärität, S. 45 f. Zu den Ausgangspunkten interdisziplinärer Kooperation vgl. vor allem Traupel, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 36 – 39. 27 Dazu und zum Folgenden Traupel, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 36. 25 26

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um ihrer selbst oder – vielleicht besser – um der geistigen Befreiung willen, die man sich vom Wissen über die Wahrheit versprach. Schon zu jener Zeit verknüpfte sich damit auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Rückblickend fällt heute die Einfachheit auf, mit der Denker früherer Epochen „die Dinge“ gesehen haben, wie sehr sie den komplexen Charakter der Probleme unterschätzten. Aufgrund dieser Sichtweise waren viele von ihnen von der Fähigkeit menschlichen Denkens überzeugt, mindestens grundsätzlich zu umfassender und abschließender Erkenntnis gelangen zu können. Diese Vorstellungen müssen dem heutigen Wissenschaftler als geradezu naiv erscheinen, da er die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit überall dort erfährt, wo er mit seiner Analyse ansetzt, um zu verstehen und zu ergründen, und praktisch überall hinter gelösten Problemen neue entdeckt.28 Das hatte man nicht vorausgesehen, und aus diesem Grund ist die Verästelung und weitere Spezialisierung der Wissenschaften unvermeidlich. Diese Entwicklung stellt jedoch den ursprünglichen Sinn wissenschaftlicher Bemühungen in Frage, wenn man bedenkt, dass zwar jeder Wissenschaftler einen kleinen Ausschnitt des Ganzen versteht, keiner jedoch einen Überblick hat, der heutigen Problemanforderungen gerecht wird.29 Diese Situation ist nicht nur auf die Unüberschaubarkeit des wissenschaftlichen Denkens und die daraus resultierende Unmöglichkeit einer hinreichenden Zusammenführung der Wissenschaften zurückzuführen, sondern ebenso darauf, dass sich die meisten Wissenschaften aus prinzipiellen Gründen nicht zu interdisziplinärer Zusammenarbeit entschließen. Ein Hindernis, das hier sicherlich Bedeutung hat, ist die Tatsache, dass sich wissenschaftliches Denken nicht voraussetzungslos entwickelt und das Ausmaß, in dem – meist implizit – gewisse Voraussetzungen bestehen, in den einzelnen Wissensgebieten sehr unterschiedlich sein kann. Insbesondere in den Wissenschaften, in denen das Geistesleben der Menschen oder der Mensch als Persönlichkeit Gegenstand der Untersuchungen ist, zeigen sich Einflüsse der geistigen Struktur des Wissenschaftlers auf das Denken und die jeweils erarbeiteten Ergebnisse.30 Schon deshalb kann weder von Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft die Rede sein noch davon, dass die jeweiligen Voraussetzungen allgemein akzeptabel seien. Dabei ist tendenziell festzustellen, dass je untermittelbarer die Fragestellungen einer Wissenschaft den Menschen selber angehen, desto weniger die Möglichkeit besteht, verbindliche Aussagen für alle Menschen bereitzustellen. Naturwissenschaftliche Disziplinen gehen, obwohl sie Aussagen nur über Sachverhalte machen, die in hohem Maße kontrolliert werden können und den Menschen zumindest nicht direkt berühren, von der Überzeugung 28 So geht auch Lenk davon aus, dass die wissenschaftliche und technische Entwicklung und Anwendung nicht jeweils nach disziplinären Schubfächern aufgeteilt und dem zufälligen Wildwuchs überlassen sein sollten; vgl. Lenk, Interdisziplinarität und die Rolle der Philosophie, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 2. Jg. (1980), S. 10 – 19 (10). 29 Zu diesem Problemkreis Traupel, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 37. 30 Zu verschiedenen Möglichkeiten wissenschaftlicher Einstellung siehe Fürstenberg, Wissenschaft, S. 30 ff.

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aus, Wesentliches erforschen und vor allem Naturgesetze erklären zu können. Man verspricht sich davon ein umfassendes und gesichertes Weltverständnis, das in alles eingreift und somit auch die menschliche Persönlichkeit betrifft. Die Vorstellung, wahre und eigentliche Grunderkenntnis liefern zu können, die allem vorausgeht und übergeordnet ist, findet sich jedoch nicht nur in den Naturwissenschaften. Man erkennt allenthalben, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit offenbar alles andere als eine selbstverständliche und problemlose Angelegenheit ist, zumal niemand mit Erfolg die Fülle wissenschaftlicher Erkenntnis ordnen oder integrieren könnte, weil sie unüberschaubar ist.31 Darüber hinaus sind auch unvereinbare Positionen oder gar Totalitätsansprüche als Hindernisse interdisziplinärer Zusammenarbeit zu werten, die im Ausgangspunkt einsetzender Kooperation überwunden werden müssen. IV. Interdisziplinäre Kooperation aus gesellschaftlicher Sicht Das Suchen nach der Wahrheit kann auch als Ausdruck gesellschaftsbedingter Wertsetzungen verstanden werden. Gesellschaftliche Gegebenheiten bestimmen weitgehend die jeweils relevanten Fragestellungen. Die Ordnungen, Wertungen und die in der Gesellschaft vorhandenen Spannungen prägen dabei auch den Wissenschaftler selbst.32 Die Interdependenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft werden vor allem deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die Existenzgrundlagen des modernen Menschen durch wissenschaftliche Forschung und Anwendung ihrer Ergebnisse immer stärker verändert und erweitert, zum Teil aber auch erst geschaffen werden.33 Wissenschaftliche Bemühungen richten sich immer intensiver und umfassender auf die Kontrolle der Außenwelt und ihrer Reflexion im Bewusstsein. Während noch im europäischen Mittelalter die unterscheidende Beschreibung und der Beweis einer offenbarten Ordnung der Welt im Mittelpunkt wissenschaftlicher Bemühungen standen, wurde es erst nach der Anwendung logischrationaler Methoden auf empirische Phänomene möglich, Herrschafts- und Leistungswissen über die Dinge zu erlangen. Damit wurde ein der Sache nach unbegrenzter Prozess der Rationalisierung und Objektivierung der Welt eingeleitet, wonach es nichts mehr gibt, das nicht Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden könnte.34 Was einmal erfolgreich in einen Erkenntniszusammenhang eingeordnet werden konnte, bleibt deswegen jedoch nicht in seiner Bedeutung für 31 Dazu Traupel, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 39 und Lenk, Interdisziplinarität, S. 14, der betont, dass Wissenschaftskooperation keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei. 32 Zur Wissenschaft in ihrem gesellschaftlichen Kontext vgl. Fürstenberg, Wissenschaft, S. 22 ff. sowie Jochimsen, Relevanz, S. 20 ff. 33 Dazu und zum Folgenden Fürstenberg, Wissenschaft, S. 22. 34 Zu diesem Problemkreis Gadamer, Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 89 – 104 (100 f.).

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den Menschen unverändert. Vielmehr wird es zum beherrschbaren Bauelement und insoweit in seinen neu erkannten Qualitäten Ausdrucksform wissenschaftlicher Denkweise selbst. Mit fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis wurde sich der Mensch seiner Distanz zur Außenwelt immer stärker bewusst, vermochte sie im Gegenzug erfolgreich zu verringern und machte somit die Außenwelt mehr und mehr zum beherrschbaren Handlungsfeld.35 Da menschliches Handeln sozialen Bezug hat, an anderen Menschen orientiert ist und von ihnen beeinflusst wird, werden auch die Erkenntnisobjekte selbst dadurch zu Tatsachen mit sozialer Bedeutung, sodass eine Beziehung zwischen ihnen und dem handelnden Subjekt entsteht. Wissenschaftliche Bemühungen, vor allem wenn sie im Rahmen interdisziplinärer Wissenschaftskooperation ihren Ausdruck finden, stehen hiernach in enger Beziehung zur Gesellschaft.36 Die angedeuteten Wechselwirkungen sind aber auch im umfassenden Sinne Grundlage jeder wissenschaftlichen Arbeit. Auf dieser Basis produziert der Mensch eine beherrschbare Welt, ein kontrollierbares Medium und Objekt seines Handelns. War die Wissenschaft in früheren Kulturperioden im Wesentlichen Mittel der geistigen Orientierung, so ist sie in der modernen Welt ein Produktionsfaktor ersten Ranges. Diese Aussage gilt nicht nur für die Naturwissenschaften und ihre technische Anwendung, sondern lässt sich in gleichem Maße auf die sozialwissenschaftliche Forschung übertragen, die mehr und mehr eine zweckorientierte Kontrolle von Wirkungszusammenhängen – wie beispielsweise in der exakten Wirtschaftsforschung – anstrebt.37 Ebenso haben die traditionellen Kulturwissenschaften eine wichtige Funktion im gesellschaftlichen Produktionsprozess übernommen: Sie erweitern und schaffen neue Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten und sind dabei eng mit industriellen Neuentwicklungen bei den Massenmedien und der Freizeitindustrie verbunden.38 Es gibt keinen Wissenschaftszweig mehr, der nicht auch gesellschaftliche Nutzungsmöglichkeiten eröffnet. Dass dazu auch die Rechtswissenschaft zu rechnen ist, bedarf keiner näheren Begründung. Dabei erwartet die Gesellschaft vom einzelnen Wissenschaftler die Realisierung bestimmter Werte, die sich in seinem Berufsethos konkretisieren sollten.39 So sind in der westlichen Welt die Werte der Objektivität, im Sinne einer völligen Sachbezogenheit, die jederzeit überprüfbar und der Kritik zugänglich sein muss, und der Universalität, im Sinne eines Strebens nach uneingeschränkter Erkenntnis und der uneingeschränkten Vermittlung dieser Erkenntnis, für das Verhalten des ForSo Fürstenberg, Wissenschaft, S. 22. Dazu Jochimsen, Relevanz, S. 21. 37 Zur Gesellschaftsplanung und zu den sich damit für den Bereich der Sozialwissenschaften ergebenden wissenschaftstheoretischen Fragen vgl. Spreer, Zur Wissenschaftstheorie der Wirtschaftsplanung, Bonn – Bad Godesberg 1974, S. 23 ff. 38 So Fürstenberg, Wissenschaft, S. 23. 39 Zu dieser Frage Fürstenberg, Wissenschaft, S. 23 f. 35 36

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schers verbindlich; seine soziale Rolle und das mit ihr verbundene Ansehen ruhen gleichsam auf diesen Werten, auf ihrer Anerkennung und Verwirklichung. Wie schon deutlich wurde, kann wissenschaftliche Forschung nicht als ein von der Richtung sozialer Umwelteinflüsse unabhängiger Vorgang verstanden werden.40 Je unentbehrlicher ihre Ergebnisse für die moderne Gesellschaft wurden, desto fraglicher wurde auch der private oder sozial exklusive Charakter der Wissenschaft. Neben der Forderung nach Objektivität und Universalität erlangte die Forderung nach Berücksichtigung von zwischen Theorie und Praxis bestehenden Interdependenzen Geltung. Der Wissenschaftler sollte daher auf die Bedürfnisse der Praxis Rücksicht nehmen, was in vielen Wissenschaften die Diskussion um das Problem zweckfreier Forschung initiierte.41 Das mag vor allem daran liegen, dass eine vollständige Anerkennung der Forderung nach Interdependenz von Theorie und Praxis zunächst die Universalität des Forschens, aber vor allem auch ihre Objektivität gefährden kann. Welcher Lösung dieses Problem auch zugeführt wird, fest steht jedenfalls, dass sich kein Wissenschaftszweig dem Interesse und der Beeinflussung durch gesellschaftliche Anforderungen entziehen kann. Eine Analyse des Handlungsraums eines Wissenschaftlers muss jedoch auch die direkt an den Forschungsarbeiten interessierten Personen berücksichtigen.42 Zu diesem Personenkreis gehören sicherlich die Mitarbeiter und Fachkollegen, worin ein nicht zu unterschätzender Leistungsanreiz für den Wissenschaftler liegt. Darüber hinaus lässt sich in der Gegenwart feststellen, dass ein immer größerer Teil wissenschaftlicher Arbeit in Auftrag gegeben wird und so der Personenkreis direkter Interessenten zunimmt. Deutlich sichtbar wird diese Entwicklung bei den Forschungslabors und Entwicklungsabteilungen der Industrie und den entsprechenden Einrichtungen der Verbände und Parteien; sie ist jedoch auch im Bereich der eigentlichen Wissenschaftszentren nicht zu übersehen. Als weiterer Interessent ist hier der Staat zu nennen, der große Forschungsprojekte zu politischen oder militärischen Zwecken durchführen lässt. Forschung wird damit zu einer öffentlichen Angelegenheit, ihre Förderung damit zur politischen Frage.43 Das berufliche Selbstverständnis des Wissenschaftlers kann mit dieser politischen Funktionalisierung seiner Tätigkeit kaum in Einklang gebracht werden. 40 Zur Darstellung der wechselseitigen Beeinflussung von Theorie und Praxis vgl. Jochimsen, Relevanz, S. 22. 41 Vgl. hierzu auch Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Scholz (Hrsg.), Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft, Berlin 1969, S. 11 – 21 (11 f.) und Lohmar, Das Zieldreieck der Demokratie, in: ders., Wissenschaftspolitik und Demokratisierung, Ziele, Analysen, Perspektiven, Düsseldorf 1973, S. 9 – 39 (10 f.); Wiebecke / Lohmar, Wissenschaft und gesellschaftliche Effizienz, in: Lohmar, Wissenschaftspolitik, S. 41 – 103 (72). 42 Zu den Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit insbesondere Wiebecke / Lohmar, Wissenschaft, S. 79 ff. 43 Vertiefend hierzu Lübbe, Legitimitätswandel der Wissenschaft, in: Moser (Hrsg.), Neue Funktionen von Wissenschaft und Technik in den 80er Jahren, Wien 1981, S. 7 – 19 (17 f.).

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Ein immer stärker werdendes Interesse ist auch bei den von den Auswirkungen wissenschaftlicher Arbeit Betroffenen festzustellen.44 Dabei ist keineswegs nur an Spezialprobleme etwa aus dem Bereich der Umweltforschung zu denken. Die Umweltgestaltung des Lebensraums jedes Einzelnen durch die Ergebnisse der Wissenschaft weckt ein Interesse an den vorliegenden Zusammenhängen und Folgen. Als Konsequenz ergibt sich eine wachsende Beschäftigung mit der Wissenschaft seitens der Träger der öffentlichen Meinung. Da die öffentliche Meinung selbst eine politische Macht darstellt, sind Rückwirkungen auf die wissenschaftliche Forschung kaum zu vermeiden, was einerseits erwünscht, so beispielsweise bei der Vermittlung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung an breite Kreise der Öffentlichkeit, andererseits in manchen Fällen auch unerwünscht sein kann. Deutlich wird insoweit, dass die Tätigkeit des Wissenschaftlers in einem vielschichtigen sozialen Spannungsfeld angesiedelt ist und daher auch von Faktoren beeinflusst wird, die mit der Wissenschaft selbst wenig zu tun haben.45 Diese Tatsache muss man hinnehmen und mit ihr rechnen; schließlich kommt darin auch die grundlegende gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft zum Ausdruck.

V. Gesellschaftsinduzierte Forschung Deutlich wurde bisher, dass der Wissenschaftsprozess gesellschaftspolitische Relevanz widerspiegelt und dass dies auch im Rahmen von Wissenschaftskooperation festzustellen sein müsste.46 Geht man von der Möglichkeit unbegrenzter Fragestellung in Wissenschaft und Forschung aus, die auch bei der Zunahme gesicherten Wissensbestands und weiterem wissenschaftlichen Fortschritt bestehen bleibt, so muss aus dem vorhandenen Bestand ungelöster Probleme und den neu hinzudrängenden Fragen immer eine Auswahl für die wissenschaftlichen Aktivitäten getroffen werden. Es ist daher zu fragen, wer diese Auswahl trifft, wer sie treffen sollte und unter welchen Gesichtspunkten sie getroffen werden sollte. Dass bestimmte gesellschaftliche Ziele mithilfe wissenschaftlich begründeter Technologien erreichbar sind, stellt die unmittelbare Relevanz gesellschaftlicher Güter für die wissenschaftliche Tätigkeit her.47 Besondere Bedeutung kommt der direkten Beziehung zu, die zwischen strategischen Zielen und ihnen zugeordneten technologischen Beiträgen hergestellt werden kann. Die gesellschaftlichen Güter, zu denen die Wissenschaft beiträgt, können knapp mit Erkenntnis, Aufklärung und Selbstverständnis sowie individueller und sozialer Wohlfahrt wiedergegeben wer44 Hierzu und zum Folgenden Hochstrasser, Schweizereische Wissenschaftspolitik, in: ders. (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 61 – 77 (72 ff.) sowie Holzhey, Interdisziplinarität, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 105 – 129 (106). 45 Zu diesem Ergebnis kommt auch Fürstenberg, Wissenschaft, S. 30. 46 Zur gesellschaftsinduzierten Forschung vgl. insbesondere Jochimsen, Relevanz, S. 20 – 26 sowie v. Cranach, Forschung, S. 56. 47 Hierzu und zum Folgenden Jochimsen, Relevanz, S. 21.

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den;48 dabei ist festzuhalten, dass die direkte Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft mit der Feststellung ihres Existierens nicht etwa bereits planbar ist. Wohl kann man davon ausgehen, dass sich durch Förderung der Reorganisation der Forschungsförderungspolitik interdisziplinäre Problemeinstiege und Themenstellungen eröffnen. Wir haben es mit einem im Vergleich zur Frühzeit der Entfaltung der Wissenschaften veränderten gesellschaftlichen Kontext zu tun. Heute nämlich kann man nicht mehr unter der Voraussetzung handeln, dass die Wissenschaft lediglich eine anregende und beglückende Begleitung bei der gesellschaftlichen Praxis des Menschen sei, die er mit ihrer Hilfe etwas besser zu erklären vermag. Vielmehr ist die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit und Praxis gesellschaftlichen und politischen Handelns nicht nur in wichtigen, an Bedeutung gewinnenden Teilbereichen von der wissenschaftlich-technischen Beherrschung naturgesetzlicher und sonstiger wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse abhängig, sondern wesentlich durch die Erkenntnisfortschritte bzw. den Erkenntnisstand strukturell und inhaltlich bestimmt. Die Theorie begleitet nicht mehr die Praxis und bestimmt dabei ihre Felder selbst, sie ist der Praxis teilweise um vieles voraus, umgekehrt befruchtet die Praxis und die Anwendung theoretischer Erkenntnisse in der Praxis die Wissenschaft zunehmend.49 Beide sind heute zu miteinander notwendigerweise wechselseitig verkoppelten Bereichen geworden. Deshalb steht die gesellschaftliche Praxis zunehmend unter dem Zwang, die erforderliche vorausschauende Theorie zu erhalten oder auch selbst Initiative zu entwickeln, wenn das Wissenschaftssystem dazu nicht in der Lage ist. In Bezug auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit bleibt festzuhalten, dass der Kanon klassischer wissenschaftlicher Disziplinen nach wie vor entscheidenden Einfluss auf die Auswahl der Forschungsvorhaben hat.50 Sie legen Forschungsgegenstände fest und bilden adäquate Forschungsmethoden aus. Auf dem so eingegrenzten Forschungsfeld einer Disziplin entstehen im Zuge der Spezialisierung neue Teildisziplinen, teilweise durch weitere Aufspaltung des Forschungsgegenstands, zunehmend aber auch als Versuch, die Fragestellungen anwendungsbezogen und komplexer zu formulieren und zu bearbeiten. Darüber hinaus ergibt sich eine Zusammenfassung von Disziplinen aus der Verbindung einzelner Teildisziplinen, die teilweise neu entwickelt wurden. Als Beispiele sind hier die Volks- und Betriebswirtschaftslehre als einheitliche Wirtschaftswissenschaft51 oder die VerDazu vertiefend Lohmar, Zieldreieck, S. 14 ff. Vgl. Jochimsen, Relevanz, S. 21 f. sowie Lohmar, Zieldreieck, S. 25, S. 32 ff.; auch Nowotny / Schmutzer, Angst vor der Technik oder Angst vor sozialer Kontrolle – Zur gesellschaftlichen Wirklichkeit von Technik und Wissenschaft, in: Moser (Hrsg.), Funktionen, S. 20 – 51 (32), gehen zu Recht von einer zunehmenden Kluft zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen aus. 50 So Jochimsen, Relevanz, S. 22 f. 51 Hierzu Jochimsen / Knobel, Zum Gegenstand, S. 65 f. 48 49

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waltungswissenschaft zu nennen, die sich aus unterschiedlichen Teildisziplinen zusammensetzt. Wir konstatieren damit eine Evolution der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen wie ihrer Gesamtheit. Diese Entwicklung verlief und verläuft für den Außenstehenden meist unbemerkt, aber doch stetig.52 Gelegentlich wurde dieser Prozess durch Brüche und Schnitte tangiert, wie beispielsweise durch die Weigerung der Universitätsdisziplinen im 19. Jahrhundert, Technologien53 als Wissenschaften mit Universitätsrang anzuerkennen. Die enger werdenden Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft lassen sich darüber hinaus mit der Evolution der Disziplinen selbst verknüpfen.54 Die Elemente wissenschaftlicher Organisationseinheiten sind dabei hierarchisch aufzuführen, nämlich in Bezug auf ihre gesellschaftspolitische Relevanz. Seit der naturwissenschaftlichen Revolution sind auch die Technologien als wissenschaftliche, wenn auch pragmatische, auf Anwendungen und Umsetzungen empirisch fundierter Erkenntnisse gerichtete Disziplinen anerkannt und in einem gewissen Sinne als Synthese interdisziplinärer Kooperation zu verstehen.55 Als Grundlage der Funktionen des Wissenschaftssystems für die Gesellschaft sind die empirischpositivistischen Disziplinen – z. B. der klassischen Naturwissenschaften – von besonderer Bedeutung. Auf einem pragmatisch-technologischen Niveau fassen weitere Technologiedisziplinen die ersteren gezielt zusammen. Aus der Verbindung unterschiedlicher Technologien sind – bezogen auf die Ordnung von Teilsystemen der Gesellschaft – ferner normative Disziplinen entstanden, die mit Methoden der Kybernetik der Planung von gesellschaftlichen Subsystemen dienen und die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur voraussetzen, sondern diese auch immer wieder herbeiführen. Denkbar ist, dass es über die drei Ebenen – empirisch, pragmatisch, normativ – hinaus weitere wissenschaftliche Organisationseinheiten geben kann, deren Bezugsrahmen durch die Aufgabe der Gewinnung und Begründung von integrierten Zielen der Gesellschaft gekennzeichnet ist.56 Es ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich, diese Postulate im Einzelnen zu würdigen. Aber den vorbezeichneten Ebenen des Empirischen, des Pragmatischen und des Normativen lassen sich existierende Fachbereiche bzw. Departments an den Universitäten oder Forschungsinstituten zuordnen.57 Hier sind etwa die diszipVgl. Jochimsen, Relevanz, S. 22 f. Zum Technologiebegriff vgl. Lenk, Technokratie und Technologie, Notizen zu einer ideologischen Diskussion, in: ders. (Hrsg.), Technokratie als Ideologie, Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1973, S. 105 – 124 (105 ff.). 54 So auch Nowotny / Schmutzer, Technik, S. 35; Wiebecke / Lohmar, Wissenschaft und gesellschaftliche Effizienz, in: Lohmar, Wissenschaftspolitik, S. 75 ff. 55 Vgl. hierzu und zum Folgenden Jantsch, Technological Planning and Social Futures, London 1972, S. 241 ff. 56 Vgl. Jantsch, Technological Planning, S. 241. 57 Zum Folgenden Jochimsen, Relevanz, S. 23 f. 52 53

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linär ausgerichteten Fachbereiche (z. B. Physik, Wirtschaftswissenschaft, Biochemie) zu nennen, deren Problemstellung das „know why“ und das Wissen an sich, weniger jedoch das „know how“ ist. An zweiter Stelle stehen dabei die funktionsorientierten Fachbereiche (z. B. Datenverarbeitung, Lebensmittelerzeugung und -verteilung, Wohnungsbau, Energieerzeugung und -übertragung, Bildungstechnologie), deren Problemstellung eher das „know what“ als das „know how“ ist. Schließlich gibt es darüber hinaus Fachbereiche, die auf die Planung von soziotechnischen Teilsystemen gerichtet sind und deren Problemstellung auf das „know where to“ ausgerichtet ist (z. B. ökologische Systeme in natürlicher bzw. vom Menschen gestalteter Umwelt, Informations- und Kommunikationssysteme, öffentliches Gesundheitswesen, Stadtentwicklung und Städtebau). Dennoch liegt die eigentliche Entfaltung des Wissenschaftsgefüges in dieser Richtung noch in der Zukunft und wird auch wahrscheinlich nicht widerspruchslos hingenommen werden, da in der tradierten Wissenschaftsorganisation die klassischen empirischen bzw. begrifflich-methodologischen Disziplinen bisher großen Einfluss haben. Allerdings ist auch in ihnen niemals Wissenschaft allein gemäß wissenschaftsimmanenten Kriterien und allein gemäß dem reinen Erkenntnisdrang der Forscher betrieben worden. Als Glieder der Gesellschaft fragen sich auch die Forscher der Einzeldisziplinen nach der Relevanz ihres Forschens für die gesellschaftliche Entwicklung. Und sie bemühen sich, diesem Kriterium zu entsprechen. Wichtiger ist jedoch die Frage, welche Relevanzkriterien dabei offen oder versteckt im Vordergrund stehen, welche Steuerungsmechanismen aus der Gesellschaft erforderlich sind, welche Maßstäbe und Maximen für eine rationale Forschungspolitik gewonnen werden können.58 Tatsächlich war die Wissenschaft jedenfalls in einem weiten Sinne immer schon auf gesellschaftliche Relevanz gerichtet.59 Neu sind die Erwartung und Hoffnung, die heute überall als Notwendigkeit empfunden werden, als gesellschaftlicher Bedarf, der davon ausgeht, dass sich die wissenschaftliche Forschung in die Erfordernisse und Interessen der Gesellschaft von heute und morgen konkreter und problemorientierter einordnet. Wissenschaft wird damit zum Bestandteil einer veränderungsgerichteten Politik und erhält primär von hier aus ihren Auftrag, ihre Problemstellung und Methodik. Für den ideologiekritischen Betrachter des modernen Wissenschaftsbetriebs freilich stellt sich dies auch so dar, dass nunmehr an die Stelle der Steuerung durch partikulare Interessen (etwa der Wirtschaft) oder neben diese Steuerung Kriterien einer rationalen Politik treten sollen, deren Probleme zukunftsbezogen sind und sich etwa auf die Fragen des Klimawandels, die sozialen Fragen der Migranten usw. beziehen, auf Probleme also, bei denen die Betroffenen sich .selbst kaum artikulieren können. Eine planvolle gezielte Ausweitung der Kenntnisse ist hier vor allem dann zu erwarten, wenn die Gewinnung und Anwendung entsprechender Forschungsergebnisse möglich wird. 58 59

Jochimsen, Relevanz, S. 24. Zur gesellschaftlichen Relevanz der Wissenschaft Nowotny / Schmutzer, Technik, S. 31 ff.

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Allerdings wachsen die Probleme meist schneller als die vorzuschlagenden Lösungsmöglichkeiten, sodass die politisch Handelnden sich häufig in einer Situation befinden, die sich dadurch auszeichnet, dass entstehender Schaden aufgestaut wird.60 Diese Situation erzeugt eine wachsende Kluft zwischen Problemerzeugung bzw. Problembewusstsein und Problembewältigung. In einer solchen Lage kann vielfach nicht die Entscheidung so lange hinausgezögert werden, bis die Wissenschaft das Problemfeld geklärt hat, die Problemanalyse erstellt ist und umsetzungsorientierte Lösungen entwickelt sind. Wenn die autonomen und die unterstützten Bereiche der Wissenschaft auf diese Herausforderungen nicht flexibel reagieren, wird das politische System immer wieder in die Versuchung kommen, ja an der Notwendigkeit nicht vorbei können, sich durch gesondert eingerichtete Institutionen Möglichkeiten der Beratung zu verschaffen. Selbst wenn sich insoweit herausstellen sollte, dass eine derartige Vorgehensweise mit großen Ressourceneinsatz61 verbunden ist und darüber hinaus auch noch Unsicherheiten über ihren Erfolg bestehen, so ist nicht zu verkennen, dass solche Entscheidungen wenigstens kurzfristig befreiende psychologische Wirkung haben. Eine Politik des Abwartens wäre in diesem Zusammenhang verfehlt. VI. Blick in die Zukunft Für eine Struktur beeinflussende Wissenschaftspolitik ist die interdisziplinäre Kooperation von Wissenschaft zu einer entscheidenden Frage geworden.62 Grund hierfür ist die wachsende Diskrepanz von Ausbildung und Spezialisierung und der gleichzeitig komplexer werdenden Probleme, die charakteristisch für das heutige gesellschaftliche Zusammenleben und seine Organisation sind. Als Teil der menschlichen und sozialen Organisation kommt dabei der Rechtswissenschaft eine besondere Verantwortung im Zusammenhang mit der Selbsterneuerung der Gesellschaft sowie der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten beim Erfinden, Planen und Entwerfen komplexer Handlungsprogramme zu.63 Eine aktive Gestaltung der Zukunft hängt von dem Umfang und dem Tempo ab, mit dem politische, ökonomische und wissenschaftliche Bereiche die Fähigkeit erwerben, wirksam mit dynamischen Systemen umgehen zu können,64 und zwar im Rahmen einer integrativen Sichtweise, die soziale, ökonomische, politische, technologische, psychologische, anthropologische und andere Dimensionen umfasst.65 Zum Problemdruck der in der Gesellschaft Handelnden Jochimsen, Relevanz, S. 25 f. So auch Nowotny / Schmutzer, Technik, S. 33. 62 Vgl. Jochimsen, Relevanz, S. 32 f.; Lenk, „Technokratie“ als gesellschaftliches Klischee, in: ders. (Hrsg.), Technokratie, S. 9 – 20 (16 ff.); Nowotny / Schmutzer, Technik, S. 37 ff. 63 Siehe vor allem Moser, Hochschul- und Wissenschaftsplanung zwischen Technokratie und Ideologie, in: Lenk (Hrsg.), Technokratie, S. 173 – 192 (187 ff.). 64 Vgl. Lübbe, Bemerkungen zur aktuellen Technokratie-Diskussion, in: Lenk (Hrsg.), Technokratie, S. 94 – 104 (101 ff.). 65 So auch Jochimsen, Relevanz, S. 33. 60 61

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Dies alles sollte eine moderne Rechtswissenschaft nicht nur wissen dürfen; sie sollte auch entsprechend handeln. Freilich: Gerade vor unorthodoxen und selbst vor zunehmend sich etablierenden Forschungsansätzen nicht zuletzt auch auf neurowissenschaftlichem Gebiet „schützt“ sich nicht nur die Rechtspraxis, auch die wissenschaftliche Jurisprudenz zeigt nicht selten noch Unverständnis solchen Ansätzen gegenüber oder wehrt sie ab. Was solche Ansätze für unser Menschenbild zeigen, darf die Rechtswissenschaft aber getrost wissen. Obwohl sie um ihre „Existenz“ oder auch nur um ihren „Gegenstand“ eigentlich nicht zu bangen braucht, nicht wenige ihrer Vertreter scheinen eben Angst vor mancher neuen wissenschaftlichen Realität zu haben. Aber das war wohl immer schon so. Dabei sollte das Wissen um die Begrenztheit des Wissbaren nicht zuletzt eine aufgeklärte Rechtswissenschaft davor bewahren, jenen zu folgen, die einfache Lösungen ausgeben und vorgeben, sie wüssten.66 Die interdisziplinär zu entwickelnde Neue Rechtswissenschaft kann insbesondere die in den Neurowissenschaften und der Neurojurisprudenz untersuchte Perspektive aufgreifen und in Weiterentwicklung herkömmlicher Leitbilder fragen, welche Lösungen heute und morgen problemangemessen zu suchen und zu finden sind.67

66 So in ganz allgemeinem Sinne Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt am Main 2002, S. 199. 67 Zu einer umfassenden rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung vgl. HoffmannRiem, Modernisierung von Recht und Justiz, Frankfurt am Main 2001.

Methodik rechtsinterdisziplinärer Kooperation Bereichsübergreifende Problemfelder, die durch Stichworte wie Klimawandel, Energie- und Rohstoffkrise, Bevölkerungsexplosion und gravierende Unterschiede zwischen Industrie- und Schwellen- bzw. Entwicklungsländern hinsichtlich Lebensstandard und Bildung gekennzeichnet werden können, überfordern regelmäßig die herkömmlichen Einzelwissenschaften.1 Die Vielfalt disziplinärer Perspektiven und die Widersprüchlichkeit der aus einzelwissenschaftlicher Sicht abgegebenen Expertenurteile werfen bedeutsame organisatorische und methodologische Fragestellungen auf. So ist vor allem die Anwendung wissenschaftlicher Ansätze, Expertisen und Resultate in denjenigen Bereichen mit Problemen behaftet, die viele herkömmliche Einzelwissenschaften betreffen und sich einer klaren Zuordnung zu klassischen Disziplinen entziehen.

I. Natur- und Geisteswissenschaften – ein gestörtes Verhältnis? Die Selbstreflexion der Wissenschaft, die unter dem Druck dieser Probleme eingesetzt hat, ließ einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Wissenschaft und sozialer Umwelt, eine Art Paradigmenwechsel der Wissenschaft selbst, deutlich werden.2 Eine fundierte interdisziplinäre Zusammenarbeit von Natur-, Geistesund Gesellschaftswissenschaftlern kann jedoch gerade vor einem Hintergrund tief greifender politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wandlungen3 nur im Rahmen organisierter Kooperation stattfinden. Wissenschaftstheoretische Probleme ergeben sich hierbei vor allem aufgrund der Tatsache, dass organisierte wissenschaftliche Kooperation zugleich Gesellschaftsplanung ist. Während beispielsweise ein technischer Plan auf scheinbar relativ problemlose Weise mithilfe unumstrittener naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu erstellen ist, haben Geisteswissenschaften von jeher diffizile Methodenfragen aufgeworfen.4 Die Entwicklung einer interdisziplinären Rahmentheorie, die zur organisierten Kooperation der Wissenschaften beitragen soll, setzt damit die Klärung der Frage voraus, wie 1 Hierzu vor allem Lenk, Interdisziplinarität und die Rolle der Philosophie, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 2. Jg. (1980), S 10 – 19 (10). 2 So Böhme / van den Daele / Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, 2. Jg. (1973), S. 128 – 144 (129). 3 Vgl. zu dieser Problematik Herlitzius / Osterland, Theoretische Grundfragen des Rechts in der Wissenschaft und Technik, in: Staat und Recht, 31. Jg. (1982), S. 300 – 310 (302 ff.). 4 Hierzu und zum Folgenden vgl. Spreer, Zur Wissenschaftstheorie der Wirtschaftsplanung, Bonn – Bad Godesberg 1974, S. 23 und 26 ff.

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Natur- und Geisteswissenschaften angesichts ihrer unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen einzuschätzen sind. Verfechter einer Methodenautonomie beider Bereiche gehen davon aus, dass Geistes- und Kulturwissenschaften, zu denen auch die Gesellschaftswissenschaften zählen, von anderer, komplexerer Struktur seien als die Naturwissenschaften, da sich ihr Gegenstand auf kollektive Entitäten, soziale Ganzheiten, Totalitäten, den Zeitgeist, Gestalten, Essenzen, die Gesellschaft als Ganzes, geschichtliche Kräfte und vieles mehr bezieht. Dieser Auffassung zufolge sind Geistes- und Kulturwissenschaften komplexer als die Naturwissenschaften, da etwa die Sozialwissenschaften psychologische Erkenntnisse voraussetzen, die Psychologie ihrerseits biologisches Wissen und dieses wiederum bestimmtes Grundwissen der Physik, Chemie und Mathematik voraussetzt.5 Dementsprechend wäre ein analytisch-selektives Vorgehen nicht nur fehl am Platz, sondern sogar unmöglich. Das zweite in diesem Zusammenhang häufig genannte Argument beinhaltet die Vorstellung, dass Geistes- und Kulturwissenschaften, insbesondere die Sozialwissenschaften, keine Generalisierungen im Sinne der Entwicklung von Gesetzen erarbeiten könnten, sodass ihnen eine analytische Vorgehensweise zu diesem Zweck von vorneherein unmöglich sein müsse.6 Gegenstandsadäquat sei für diese Wissenschaften – so ein weiteres Argument – eine Methode des Verstehens, die eine – im Vergleich zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis – völlig verschiedene Wahrheit liefere.7 Die „beiden Wahrheiten“ widersprechen sich – dieser Ansicht nach – zwar nicht, da sie sich ja auf unterschiedliche Gegenstände beziehen, sie unterscheiden sich in ihrer Art jedoch etwa so wie literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Der Behauptung, Sozialwissenschaften seien komplexer und auch komplizierter als die Naturwissenschaften, begegnet Popper mit dem Hinweis, dass in den meisten, wenn nicht in allen sozialen Situationen ein rationales Element existiere.8 Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Mensch nur selten oder so gut wie niemals völlig rational handelt (bounded rationality), so besteht aufgrund des rational vermittelten Teils menschlicher Handlungen die Möglichkeit, relativ einfache Modelle ihrer Aktionen und Interaktionen zu entwickeln und als Annäherungen zu verwenden.9 5 Allgemein dazu Grunberg, Gegenstand und externe Grenzen der Wirtschaftswissenschaft, in: Jochimsen / Knobel (Hrsg.), Gegenstand und Methoden der Nationalökonomie, Köln 1971, S. 69 – 87 (69 f. sowie insbesondere S. 86). 6 Exemplarisch für den Bereich Wirtschaftswissenschaft dargestellt bei Grunberg, Gegenstand, S. 70 f. 7 Siehe Oppenheimer, Über Wissenschaft und Kultur, in: Kreuzer (Hrsg.), Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Dialog über die „zwei Kulturen“, Stuttgart 1969, S. 87. 8 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 5. Aufl. Tübingen 1973, S. 110. 9 Hierzu Oeser, Wissenschaft und Information, Bd. 1 (Wissenschaftstheorie und empirische Wissenschaftsforschung), Wien – München 1976, S. 102.

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Dem zweiten Argument ist vor allem entgegenzuhalten, dass der Unterschied zwischen den geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen und den naturwissenschaftlichen Verfahren „konstruiert“ und aus dem vermeintlichen Gegensatz der beiden Bereiche abgeleitet ist.10 Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um eine Verwechslung von Forschungsmethodik und -inhalt, sondern wie schon bei der Diskussion des ersten Arguments um eine Verwechslung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Das dritte Argument ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es erfordert, da es die Kernfrage betrifft, die hinter den Bemühungen um die Begründung einer Methodenautonomie steht, eine genauere Analyse. Die Funktionen des Verstehens werden insbesondere deutlich im Rahmen der Diskussion um historische Methoden in den Sozialwissenschaften. So wird beispielsweise zur Stützung des geisteswissenschaftlichen Anspruchs auf Methodenautonomie das historische Bewusstsein angeführt.11 Gadamer will so die hermeneutischen Ergebnisse jeder wissenschaftlichen Kritik entziehen und begründet dies damit, dass Verstehen die Wahrheit schlechthin konstituiere, wobei diese Wahrheit von ganz anderer Qualität sei als die analytisch gewonnene Wahrheit. Vom hermeneutischen Standpunkt aus kommt dabei der Erfassung und Deutung von Sinnhaftigkeit und Sinngehalt entscheidende Bedeutung zu. Im Einzelnen geht es hier um die Funktionen des Verstehens im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess.12 Es lassen sich im Wesentlichen drei Funktionen des Verstehens unterscheiden.13 So ist zunächst die Funktion der Identifizierung von Sachverhalten oder bestimmten Phänomenen, dann die Erklärungsfunktion des Verstehens und schließlich die Befriedigungsfunktion des Verstehens zu nennen. Der heuristischen Funktion des Verstehens entsprechend konstituiert das Verstehen als solches nicht eine bestimmte Erklärung, es kann jedoch als ein essentiell heuristischer Mittler fungieren, der vor allem bei der Suche nach Erklärungshypothesen menschlichen Verhaltens hilfreich sein kann. Insoweit kommt der hermeneutischen Methode ein sicherer Platz im Rahmen der Sozialwissenschaften zu.14 Während also die heuristische Funktion des Verstehens weitgehend akzeptiert wird, beinhaltet die Erklärungsfunktion des Verstehens eine wesentlich größere Vgl. zum Folgenden auch Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 27. Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. Tübingen 1972, S. 245 ff. Eine nähere Analyse dieser Auffassung findet sich bei Albert, Die Einheit der Sozialwissenschaften, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 10. Aufl. Königstein / Ts. 1980, S. 53 – 70 (60). 12 Ausführlich zu diesem Problemkreis Oeser, Wissenschaft, Bd. 1, S. 25 – 38. 13 Im Einzelnen Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 28 f. 14 So im Ergebnis auch Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: ders. / v. Bormann / Bubner u. a., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971, S. 7 – 44 (35 f.). Vgl. auch ders., Einheit, S. 60. 10 11

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Problematik. So ist davon auszugehen, dass eine konsequent atheoretische Hermeneutik keine Erklärung liefern kann, da jeder Erklärungsversuch einen – häufig impliziten – Rekurs auf nomologisches Wissen zur Voraussetzung hat und insofern der Bezug auf gesetzmäßige Zusammenhänge erforderlich ist.15 Der gelegentlich geäußerten Ansicht, dass die in den Sozialwissenschaften ange-wandten allgemeinen Gesetze trivial seien, sodass auf ihre Darstellung verzichtet werden könne, tritt Albert entschieden entgegen. Seiner Ansicht nach muss eine derartige Unterschätzung erklärungsrelevanten nomologischen Wissens gefährlich sein, zumal hermeneutisch explizierte Hypothesen ohne ausdrückliche Einbeziehung theoretischer Einsichten allenfalls für Phänomene akzeptabel sein können, die ausschließlich und direkt auf menschliche Willensentscheidungen reduzierbar sind. Verstehen ist demnach weder ein Ersatz für nomothetische Verfahren noch ist es im sozialwissenschaftlichen Erklärungszusammenhang erforderlich. Nach den bisherigen Erörterungen lässt sich weiterhin feststellen, dass eine gelungene hermeneutische Deutung zwar ein Gefühl der Evidenz hervorruft, dies jedoch nicht als Wahrheitskriterium in Frage kommt.16 Andernfalls müsste es Gewissheit über Wahrnehmungsurteile geben, was wiederum das Zurückgehen auf ein Sinnkriterium der Wissenschaft bedeutet und damit zu der unhaltbaren Situation führen kann, dass sich eine erklärtermaßen antipositivistische Hermeneutik auf das am Begründungsversuch scheiternde positivistische Sinnkriterium beruft.17 Deutlich wird im Rahmen dieser Erläuterung der Funktionen des Verstehens jedoch auch, dass sich das Hermeneutik-Verständnis vor allem auf menschliche Handlungen sowie weitere psychologische und subjektive Faktoren bezieht und sich schon aus diesem Grund auf die Geisteswissenschaften beschränkt.18 Kisiel weist jedoch darauf hin, dass die Naturwissenschaften ebenso einer Hermeneutik unterworfen seien. In diesem Sinne dürfte auch Heisenbergs Bemerkung zu verstehen sein, dass in der Naturwissenschaft als Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich zu betrachten sei, sondern hier die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur im Mittelpunkt stehe, insofern also der Mensch sich selbst wieder begegne.19 Auch nach Ansicht Friedrich Müllers können die Naturwissenschaften nicht ohne qualitative Bestimmungen auskommen.20 So hängt nicht nur in den Geistes15 So geht Albert davon aus, dass die Vorstellung, die Methode des methodologischen Historismus sei geeignet, in den Disziplinen der Geisteswissenschaften die Stelle der Erklärung auf nomologischer Grundlage einzunehmen, einer genauen Überprüfung bedarf; hierzu und zum Folgenden vgl. ders., Einheit, S. 60 f. 16 So Popper, Logik, S. 20. 17 Vgl. auch Albert, Einheit, S. 60 ff. 18 Dazu Kisiel, Zu einer Hermeneutik naturwissenschaftlicher Entdeckung, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Bd. 2 (1971), S. 195 – 221 (209). 19 Siehe Heisenberg, Schritte über Grenzen, Gesammelte Reden und Aufsätze, 4. Aufl. München – Zürich 1977, S. 122; Popper, Objektive Erkenntnis, Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, S. 204 ff.

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wissenschaften die Begriffsbildung von der Stellung der Probleme ab; die Qualität eines erforschten Vorgangs oder sonstigen Sachverhalts wird auch in den Naturwissenschaften durch die Richtung des Erkenntnisinteresses mitbestimmt. So ist der Naturforscher gehalten, seinen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich in einem Vorentwurf zu konkretisieren. Die Ausgestaltung des jeweiligen Untersuchungsfelds ist, selbst wenn man davon ausgeht, dass bei naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit die Ergebnisse als grundsätzlich zuverlässig verifizierbare Erkenntnisse von der subjektiven Erfahrung des Forschers zu trennen sind, durch die Leistungen des erkennenden Bewusstseins mitgeprägt. Die Auswahl des zu untersuchenden Realitätsausschnitts, die Festlegung der Fragerichtung und auch die Interpretation der festgestellten Einzeldaten in Bezug auf die Forschungsfrage führen nicht nur zu einer „Veränderung“ des Erkenntnisgegenstands; dieser wird vielmehr erst durch quantitative und qualitative begriffliche Schematisierung zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschung und ist daher durch die Leistung des Forschers geradezu konstituiert. Dem einem bestimmten Realitätsausschnitt zugeordneten vorentworfenen Modell werden, ausgehend von den verwendeten Begriffen, Einzelheiten der Erfahrungskenntnis zugeordnet. Auch das Objekt exakter Wissenschaft ist daher nicht vollständig zu „objektivieren“. Selbst Messungen sind schon als „Eingriffe“ in den Gegenstand des jeweiligen Forschungsvorhabens zu registrieren. Weiterhin zeigen sowohl Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation 21 als auch die Bemühungen um Theorien der Messanordnung, dass die durch Messungen erzeugten Veränderungen nicht vollständig überschaubar sind. Deutlich wird insoweit nicht nur der Einfluss der Fragestellung auf die Richtigkeit der Befunde und das ihnen entsprechende Begriffsschema, sondern ebenso der Einfluss der Versuchsbedingungen bei der Vornahme von Messungen22. Mit diesen Einschränkungen und der Berücksichtigung von praktischen Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten im Rahmen der Beobachtung können Naturgesetze als objektive Aussagen angesehen werden. Im Gegensatz zu der Ansicht, nur für die Geisteswissenschaften könne der Mensch als Ganzes in seiner physisch-psychischen und finalen Einheit im Mittelpunkt stehen, ist hier festzuhalten, dass auch ein experimentelles Vordringen der kausalen Prinzipien der Naturwissenschaften letztlich nicht über deren normative Grundlagen hinwegtäuschen kann.23 20 Zu diesem Problemkreis insbesondere Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin 1966, S. 14 f.; ferner Max Weber, „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 172 f. 21 Hierzu Popper, Logik, S. 167 ff. 22 Vgl. Böhme / van den Daele / Krohn, Finalisierung, S. 141 f. 23 Siehe insbesondere Zuber, Ziele und Möglichkeiten der biologischen Forschung, in: Holzhey (Hrsg.), Wissenschaft / Wissenschaften, Interdisziplinäre Arbeit und Wissenschaftstheorie (Ringvorlesung der Eidgenössischen Technischen Hochschule und der Universität Zürich im Wintersemester 1973 / 74, Teil 2), Basel – Stuttgart 1974, S. 114 – 131 (116 ff). Zuber betont in diesem Zusammenhang, dass nur dann normative Elemente in der naturwissen-

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Vor diesem Hintergrund rückt die Möglichkeit, durch gemeinsame Anstrengungen der empirischen Wissenschaften und der Geisteswissenschaften die Forschungsresultate auch in Grenzbereichen besser verstehen zu lernen, interdisziplinäre Forschung und ihre Zielsetzung leichter durchschaubar zu machen und damit im Allgemeinen besser in den Griff zu bekommen, in greifbare Nähe.

II. Kooperationsmöglichkeiten zwischen Geistes- und Naturwissenschaften Insbesondere die Entwicklung der Ökologie zeigt, dass die Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften kein bloßes Gedankenspiel ist.24 Ökologisches Denken führt einerseits zur Entdeckung natürlicher Reproduktionszusammenhänge, zeigt deren Besonderheiten und die Faktoren ihrer Wandelbarkeit und trägt andererseits der Tatsache Rechnung, dass wissenschaftlich-technisches Handeln des Menschen innerhalb der Natur auf eine Zweckrealisierung angelegt ist, die nicht den Naturzwecken entspricht. Die Abhängigkeit von Zwecken der Natur und denen der Gesellschaft kennzeichnet die Ökologie als eine Wissenschaft mit normativen und strategischen Elementen, die dem Idealbild einer reinen Naturwissenschaft nicht (mehr) entspricht. Die Entstehung der modernen Ökologie als Wissenschaft stellt sich insofern auch dar als eine Reaktion auf die Zweckbestimmung der Natur durch wissenschaftlich-technische Eingriffe des Menschen.25 Der Gegenstandsbereich der Ökologie ist als Reproduktionszusammenhang zu definieren, was dazu zwingt, der Natur ein Maß eigener Art zuzugestehen, und so schon im Rahmen der Naturwissenschaft zur Unterscheidung von Sein und Sollen führt. Da der Mensch auch selbst Teil des ökologischen Systems ist, für das Stabilität und Reproduzierbarkeit verlangt werden müssen, ist schon die Bestimmung jenes Maßes ohne Rekurs auf Normen menschlicher Naturgestaltung undenkbar. Damit lässt sich die Reproduktion der Natur nicht mehr ausschließlich durch Naturkonstanten bestimmen: In die Definition des Sollwerts natürlicher Systeme gehen vielmehr Humanbestimmungen der Natur ein, die sich auf Formen und Zwecke der menschlichen Entwicklung der Natur gründen. Die Ökologie kann somit als eine Wissenschaft charakterisiert werden, die als naturwissenschaftlich geprägte Disziplin offen ist für normative schaftlichen Forschung bedeutsam werden, wenn der Mensch in diese Forschung einbezogen wird. Er relativiert diese Aussage jedoch mithilfe der Unterscheidung zwischen objektiven Bemühungen der naturwissenschaftlichen Forschung und dem im Gesamtsystem des Organismus sichtbar werdenden finalen, ziel- und zweckgerichteten Charakter. 24 Vgl. im Einzelnen Böhme / van den Daele / Krohn, Finalisierung, S. 141 ff.; kritisch hierzu Toulmin,Die evolutionäre Entwicklung der Naturwissenschaft, in: Diederich (Hrsg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1974, S. 249 – 275 (253 ff.). 25 So Böhme / van den Daele / Krohn, Finalisierung, S. 142 f.

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und strategische Elemente und in diesem Rahmen zu einem Entwicklungskonzept für die Natur beitragen kann. Der ökologische Wissenschaftstypus hat aufgrund bestehender Notwendigkeiten ein Konzept normativ finalisierter Wissenschaft geprägt, das eine rationale Koordination von Naturzwecken und Gesellschaftsinteressen in Finalisierungsfällen ermöglicht.26 Der technische Umgang mit der Natur hat globale Dimensionen erreicht, nimmt an Intensität weiter zu und droht zugleich die Zwecke der Natur und die Interessen der Gesellschaft zu verletzen. Die Nutzung natürlicher Systeme darf deshalb einerseits nicht in Unkenntnis oder gar Missachtung bekannter Reproduktionsregeln dieser Systeme erfolgen, andererseits aber auch nicht im Widerspruch zu den verallgemeinerungsfähigen Interessen der menschlichen Gesellschaft stehen. Um sicherzustellen, dass im Rahmen der Finalisierung oder der gesteigerten Effizienz einer gesellschaftlichen Orientierung wissenschaftlich-technischen Fortschritts natürliche Lebensbedingungen ebenso wenig außer acht gelassen werden wie soziale Entwicklungsziele der Menschen, wird eine normative Orientierung finalisierbarer Wissenschaft notwendig. Eine liberale, normativ jedoch ungeregelte Finalisierung würde zwar garantieren, dass die gesellschaftliche Zweckorientierung wissenschaftlicher Forschung auf dem Weg strategischer Theoriebildung verläuft, nicht jedoch dafür sorgen, dass quasi-normative Zwecke der Natur und quasi-objektive Interessen der Menschen auch allgemein anerkannt und berücksichtigt werden. Problematisch bleibt, wie das wachsende Potenzial strategischer Theoriebildung gegen nicht-verallgemeinerungsfähige Partikularinteressen abgesichert werden kann. Eine sich universell verstehende Wissenschaft würde sich jedoch gegen derartige Formen zugunsten einer solchen Strukturierung der Gesellschaft richten, in der schließlich der Weg wissenschaftlicher Forschung durch den rational erzeugten Konsens der Gesellschaft vorgezeichnet werden kann.27

III. Stellung der Rechtswissenschaft – wissenschaftstheoretisches Neuland Die Frage der Stellung der Rechtswissenschaft gründet sich vor allem auf die von den Geisteswissenschaften unternommenen Abgrenzungsversuche, die die Geisteswissenschaften in einen Gegensatz zu den Naturwissenschaften bringen und ihre Verfahrensweisen aus unterschiedlichen und einander ausschließenden Prinzipien erklären wollen. Seit Dilthey28 eine Konzeption der Geisteswissen26 Weiterführend van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft, Institutionalisierung und Definition der positiven Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Böhme / ders. / Krohn, Experimentelle Philosophie, Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main 1977, S. 129 – 182 (171 f.). 27 Dazu Böhme / von den Daele / Krohn, Finalisierung, S. 143. 28 Zur Konzeption Diltheys, der die berechenbare Welt physikalischer Vorgänge und die völlig andere Welt des Geistes unterscheidet, vgl. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissen-

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schaften in Abhebung von den Naturwissenschaften entwickelt hatte und dabei zur Charakterisierung der verschiedenen Methoden beider Bereiche die Begriffe „Erklären“ und „Verstehen“ in den Mittelpunkt stellte, ist diese Unterscheidung aus der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Immer wieder versuchten Theoretiker der Geisteswissenschaften zu zeigen, dass die Divergenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nicht nur in der Verschiedenheit des Objektbereichs liegt, sondern auf eine grundsätzliche Dichotomie zwischen zwei einander fremden Formen von Wissenschaft gegründet ist.29 Die als Verschiedenheit inkommensurabler Methoden bestimmte grundlegende Differenz hat die Selbstinterpretation der Geisteswissenschaften nachhaltig beeinflusst, was vor allem Ausdruck fand in den sich mehr und mehr akkumulierenden positiven bzw. negativen Wertungen. Mag auch verständlich sein, dass sich Theoretiker der Sozialwissenschaften bemühten, den Physikalismus wie auch die Vorstellung abzuwehren, die Gesellschaft sei im Grunde genommen in gleicher Weise aufgebaut wie etwa das Planetensystem, so blieb dabei doch aufgrund mangelnder Beschäftigung mit der konkreten Wirklichkeit der Wissenschaften lange Zeit unberücksichtigt, dass moderne Vorstellungen von der Einheit aller Wissenschaften Bezug nehmen auf die Art und Weise der Aussagenbegründung.30 So lässt sich in den Sozialwissenschaften – wenngleich in der Rechtswissenschaft bislang nur mit größter Zurückhaltung – ebenso wie in den Naturwissenschaften die Anwendung mathematisch und statistisch orientierter Verfahren feststellen. Insofern richten die Sozialwissenschaften ihr Augenmerk vor allem auf die Untersuchung partieller und marginaler Veränderungen.31 Zu diesem Zweck werden theoretische Modelle entwickelt, operationalisiert und – soweit möglich – mittels statistischer Verfahren getestet. In diesem Zusamschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (Gesammelte Schriften, Bd. I), 7. Aufl. Stuttgart – Göttingen 1973, S. 9 ff.; ders., Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 248 ff. Vgl. weiterhin Acham, Sozialwissenschaft und Wertgeschehen, Zur Rolle normativer Gehalte im Erkenntnisprozeß, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 7. Aufl. Köln – Berlin 1980, S. 165 – 195 (172 f.); Zimmerli, Paradigmawechsel und Streitbehebung, Einheitswissenschaft – einmal anders, in: Simon-Schaefer / ders. (Hrsg.), Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Konzeptionen, Vorschläge, Entwürfe, Hamburg 1975, S. 356 (dort Fußn. 3); Essler, Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Erklärung, in: Landgrebe (Hrsg.), 9. Deutscher Kongress für Philosophie, Düsseldorf 1969, Philosophie und Wissenschaft, Meisenheim am Glan 1972, S. 101 – 116 (108). 29 Hierzu Simon-Schaefer, Der Autonomieanspruch der Geisteswissenschaften, in: ders. / Zimmerli (Hrsg.), Wissenschaftstheorie, S. 12 – 20 (12). 30 Vgl. auch Essler, Erklärung, S. 109 ff. 31 Dazu und zum Folgenden Kleinewefers, Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis der Sozialwissenschaften, in: Holzhey (Hrsg.), Wissenschaft, S. 61 – 79 (72 f.); ferner Apel, Das Kommunikationspriori und die Begründung der Geisteswissenschaften, in: SimonSchaefer / Zimmerli (Hrsg.), Wissenschaftstheorie, S. 23 – 55 (49).

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menhang orientieren sich Wissenschaftler häufig an Gleichgewichtsvorstellungen, wobei dann allerdings wenig Raum für die Berücksichtigung konflikthafter Entwicklungen bleibt. Probleme der empirischen Forschung können weiterhin die Einführung von Gedankenstrukturen wie etwa die Entwicklung von Modellen notwendig machen. Eine andere wissenschaftstheoretische Position nehmen die interpretierenden Sozialwissenschaften32 ein: Sie beschäftigt sich überwiegend mit sehr umfassenden Aggregaten und deren mittel- bis langfristiger Entwicklung. Im Gegensatz zur mathematisch und statistisch orientierten Sozialwissenschaft meinen die interpretierenden Sozialwissenschaften auch in der Lage zu sein, Zustände des sozialen Systems zu deuten und geschichtlich einzuordnen. Partielle Probleme werden mithilfe des Subsumtionsverfahrens in den großen Zusammenhang allgemeiner Erkenntnissen eingeordnet. Dabei besteht grundsätzlich die Möglichkeit, zur Lösung dieser partiellen Probleme auch die mathematisch und statistisch orientierte Sozialwissenschaft heranzuziehen. Im Rahmen der interpretierenden Sozialwissenschaften lassen sich zwei Richtungen33 unterscheiden, wobei die erste einen geschichtlichen Determinismus34 erkannt zu haben glaubt, während die andere eine solche Entwicklung nicht annimmt. Der historische Determinismus geht davon aus, dass systemimmanente Konflikte und die sich daraus ergebende geschichtliche Dialektik wesentliche Punkte jeder Interpretation darstellen. Eine Unterscheidung zwischen Kontradiktion und Realrepugnanz wird dabei allerdings nicht mehr aufrechterhalten, sodass im Ergebnis ein geschlossenes, wenn auch im Einzelnen nicht exakt terminierbares Geschichts- und Weltbild entsteht. Der übrigen interpretierenden Richtung fehlt es demgegenüber meist an einer Systematik der Methoden und Erkenntnisse. Grundsätzlich gehen die interpretierenden Sozialwissenschaften davon aus, dass die in der sozialen Wirklichkeit existierenden Objekte teilweise zwar messbare Eigenschaften besitzen, darüber hinaus jedoch auch durch individuelle Züge gekennzeichnet sind, die ihre Messbarkeit ausschließen, weil Einzigartiges weder definierbar noch vergleichbar ist.35 Aus dieser Grundeinstellung der interpretieren32 Hierzu und zum Folgenden Kleinewefers, Selbstverständnis, S. 73. Zu den verschiedenen Möglichkeiten kultur- und geisteswissenschaftlicher Interpretation vgl. Frey, Erklärende Interpretationen, in: Simon-Schaefer / Zimmerli (Hrsg.), Wissenschaftstheorie, S. 71 – 85 (72 ff.). 33 Zur Darstellung der verschiedenen Positionen in den Sozialwissenschaften vgl. Klima, Theorienpluralismus in der Soziologie, in: Diemer (Hrsg.), Der Methoden- und Theorienpluralismus in den Wissenschaften (Vorträge und Diskussionen des 5. wissenschaftstheoretischen Kolloquiums 1969 und des 6. wissenschaftstheoretischen Kolloquiums 1970), Meisenheim am Glan 1971, S. 198 – 219 (206 ff.). 34 Dazu beispielhaft die Untersuchung von v. Salis, Zyklische Abläufe des politischen Geschehens, in: Jagmetti / Schluep (Hrsg.), Festschrift Walther Hug zum 70. Geburtstag, Bern 1968, S. 667 – 681 (667 ff.), der gewisse Regelmäßigkeiten der Abläufe politischen Geschehens annimmt. 35 Siehe Kleinewefers, Selbstverständnis, S. 66.

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den Sozialwissenschaften zur Individualität ergibt sich notwendig die Möglichkeit eines Nebeneinanders beliebig vieler Meinungen, ohne dass Gründe dieser Verschiedenheiten diskursiv zu ermitteln wären.36 Wird die Meinungsvielfalt von vorneherein als Besonderheit des sozialwissenschaftlichen Untersuchungsobjekts betrachtet, so entspricht dies der oben abgelehnten Auffassung, dass zwischen Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften ein prinzipieller Unterschied besteht. Der Untersuchungsgegenstand der Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft ist gekennzeichnet durch geordnet-komplexe Phänomene, die eine große Anzahl von Variablen und deren systematische Beziehungen zueinander umfassen. Diese Beziehungen können jedoch nicht durch feste Parameter beschrieben werden, da die Parameter ihrerseits wieder Funktionen von anderen Variablen sind. Strukturkonstanten gibt es daher nicht: Das System kann als in hohem Maße lernfähig bzw. gesamtinterdependent angesehen werden. Die mathematisch und statistisch orientierte Theorie geht jedoch zur Untersuchung partieller Probleme des Gesamtsystems von der weit gehenden Autonomität der zu untersuchenden Subsysteme aus, was dem geordnet-komplexen Gesamtphänomen nicht entspricht. Bei den Vertretern des historischen Determinismus bleibt zwar der Grundgedanke des historischen Zusammenhangs erhalten, die Zahl der Variablen wird jedoch drastisch reduziert, wobei einer Anzahl denkbarer anderer Entwicklungsmuster die Chance der Bewährung durch empirische Evidenz genommen wird. Aufgrund dieser Reduktion37 wird es dann möglich, das geordnet-komplexe Gesamtsystem so zu behandeln, als gehe es um einfache Probleme. Nicht-deterministische interpretierende Theorien vertrauen stattdessen auf die Intuition als ein Denkverfahren, das aus der Gesamtheit vorhandener Informationen wesentliche Strukturen der Wirklichkeit und deren Veränderungen herausheben könne. Problematisch bei dieser Konzeption muss die in der Praxis höchst unsystematische, kontroverse und intersubjektiv weder nachvollziehbare noch überprüfbare Gewinnung der auf Intuition beruhenden Erkenntnisse sein. Die Schwierigkeiten einer methodischen Behandlung geordnet-komplexer Phänomene bedeuten nicht, dass die Sozialwissenschaften samt Rechtswissenschaft aus dem kritischen Denken auszuschließen wären38 und insoweit dann eine Sonderstellung einnehmen müssten. Unter dem Gesichtspunkt einer Lösung dieser Probleme werden mathematisch und statistisch orientierte Verfahren nicht einfach sinnlos, da sie als Annäherung an zeitweilige Partialstrukturen und – sofern theoretische Modelle entwickelt werden – als Ansätze zur Konstruktion einer angemessenen Theorie gelten können. Zwar unterliegen beide Vorgehensweisen dem grundsätzlichen Einwand der Unangemessenheit hinsichtlich des Objekts, jedoch Hierzu und zu den weiteren Darlegungen Kleinewefers, S. 73 ff. Anders Schanz, Die Betriebswirtschaftslehre und ihre sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen: Das Integrationsproblem, in: Raffée / Abel (Hrsg.), Wissenschaftstheoretische Grundfragen der Wirtschaftswissenschaften, München 1979, S. 122 f. 38 Im Einzelnen dazu Kleinewefers, Selbstverständnis, S. 77 f. 36 37

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stellt auch die Intuition kein angemessenes Verfahren dar, sondern unterliegt den genannten Einwänden. Mithilfe der modernen Systemtheorie sollte es möglich sein, intuitives Denken im Nachhinein etwas aufzuhellen, außerdem die Weiterentwicklung und Relativierung vorhandener deterministischer Vorstellungen zu fördern und zur Berücksichtigung der Interdependenzen an den Grenzlinien partieller Analysen beizutragen.

IV. Methodenprobleme rechtsinterdisziplinärer Forschung 1. Zusammenführen von Fachsprachen auf transdisziplinärer Ebene

Die Auseinandersetzung der Parteien, die Überprüfung des Sachverhalts und das Messen am Gesetz ermöglichen eine laufende Überprüfung gefühlsmäßiger Urteile und somit ihre Modifikation oder Ablehnung.39 Weiterführen könnte insoweit die Zusammenarbeit der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen; es bestünde dann die Chance einer Analyse auftretender Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ein flüchtiger Blick auf den sozialwissenschaftlichen Bereich und die dort anzutreffenden Aussagensysteme zeigt jedoch, dass die verschiedenen Disziplinen kaum etwas miteinander zu tun haben.40 Man gewinnt so den Eindruck, dass es sich um einigermaßen mühelos voneinander abgrenzbare, autonome Disziplinen handelt, sodass sich die Frage nach ihrer Zusammenarbeit und den daraus erwachsenden Integrationsmöglichkeiten gar nicht erst stellt. Gründe hierfür ergeben sich aus desintegrativen Tendenzen41, die schon bei der Entwicklung unterschiedlicher Fachsprachen einsetzen. So meint man schon deswegen zu keiner Kooperation gelangen zu können, weil der in der einen Disziplin übliche Begriffsapparat in keiner anderen wiederzuentdecken ist. Die Schwierigkeiten gegenwärtiger Kooperation der Fachwissenschaften werden deshalb in besonderem Maße deutlich, wenn eine Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Naturwissenschaften – insbesondere zwischen Rechts- und Neurowissenschaften – sinnvoll wäre. Typisch für mangelnde interdisziplinäre Nähe ist insoweit die fehlende Basis sprachlicher Verständigung.42 So scheitern insbesondere rechtsinterdisziplinäre Siehe Kleinewefers, Selbstverständnis, S. 78. Dazu Schanz, Integrationsproblem, S. 124. 41 Zur Ursachenanalyse desintegrativer Tendenzen in der Sozialwissenschaft vgl. Schanz, S. 124 f. 42 Ansatzpunkte zur Überwindung von Verständigungsschwierigkeiten im Rahmen interdisziplinärer Gespräche finden sich bei Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1974, S. 133 – 146; Holzhey, Interdisziplinarität, in: ders., Interdisziplinäre Arbeit und Wissenschaftstheorie (Ringvorlesung der Eidgenössischen Technischen Hochschule und der Universität Zürich im Wintersemester 1973 / 74, Teil 1) Basel – Stuttgart 1974, S. 105 – 129 (110 f.); Hejl, Zur Diskrepanz zwischen struktureller Komplexität und traditionalen Darstellungsmitteln der funktional-strukturellen Systemtheorie, in: Maciejewski (Hrsg.), Theorie 39 40

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Gespräche häufig an der Kritik der innerhalb der Rechtswissenschaft unangezweifelten Grundlagen auf der Ebene der Primärterminologie. Wenn eine zufällige Verständigung ohne Terminologie, das heißt auf umgangssprachlicher Basis, gelingt, so handelt es sich um einen Ausnahmefall, in dem die bestehende terminologische Verkrustung der Disziplinen aufgebrochen werden konnte. Zwar ist eine umgangssprachliche Verständigung immer dann unproblematisch, wenn man innerhalb des Themenbereichs der Umgangssprache bleibt; diese Basis ist jedoch dann unzureichend, wenn eine Verständigung über wissenschaftliche Methoden und Ziele erfolgen soll. Solange interdisziplinäre Verständigung zufällig über die unkritisch verwendete Umgangsprache gelingt, lässt sich der Aufwand für interdisziplinäre Forschung kaum durch die Behauptung der Chance einer Analyse auftretender Probleme und Konflikte aus unterschiedlichen Blickwinkeln rechtfertigen. Die Umgangssprache wird im alltäglichen Leben gelernt, allerdings erfolgt der Übergang von der Umgangssprache zur Fachsprache43 in einer unkontrollierten, den Lernenden meist nicht bewussten Art und Weise. Gerade daran scheitert die schrittweise Einführung der Fachsprache in ein interdisziplinäres Gespräch. Zur Verbesserung interdisziplinärer Verständigung ist es daher erforderlich, die ersten, über die alltägliche Sprache hinausführenden Schritte in methodischer Form (in geordneter Reihenfolge sowie ohne Zirkel und Sprünge) durchzuführen. Die Umgangssprache reicht als Basis aller Fachsprachen nicht aus. Jede interdisziplinäre Forschung muss sich als erstes explizit um die Konstruktion einer sprachlichen Basis bemühen, auf der dann die Fachsprachen schrittweise eingeführt werden können. Zwar lässt sich eine solche Basis in der natürlichen Sprache in ungeordneter Form nachweisen, die interdisziplinäre Forschung muss diese Basis jedoch erst methodisch aufbereiten. Eine infradisziplinäre Grundsprache, die als eine Ebene unter allen Fachsprachen anzusiedeln wäre, gilt es auf diesem Weg erst zu erarbeiten.44 Bei genauerer Betrachtung der natürlichen Sprache ergibt sich, dass einander fremde Personen, die aus demselben Land stammen, die Sprache des jeweiligen Landes gemeinsam haben. Diese zufällige Gemeinsamkeit muss jedoch nicht gemeinsamer Bestandteil aller Fachsprachen bleiben. Auffassungen dieser Art führen der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Theorie-Diskussion, Supplement 2), Frankfurt am Main 1974, S. 186 – 235 (204) und Frey, Methodenprobleme interdisziplinärer Gespräche, in: Ratio, Bd. 15 (1973), S. 153 – 172. Zur intersubjektiven Verständigung vgl. auch Tugendhat, Phänomenologie und Sprachanalyse, in: Bubner / Cramer / Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, Bd. II (Sprache und Logik, Theorie und Auslegung und Probleme der Einzelwissenschaften), Tübingen 1970, S. 3 – 23 (23). 43 Zu der im Hinblick auf die Entwicklung einer allgemeinen Wissenschaftssprache notwendigen methodischen Vorgehensweise siehe Lorenzen, Wissenschaftstheorie, S. 137 ff. Allgemein zur Konstruktion von Fachsprachen Bunge, Scientific Research I, The Search for Systems, Berlin – Heidelberg – New York 1967, S. 46 ff. 44 Hierzu und zum Folgenden Lorenzen, Wissenschaftstheorie, S. 138 ff.

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vielmehr zum Verzicht einer methodisch kontrollierbaren Grundlage von Wissenschaft. Dieser Verzicht führt zur Abhängigkeit wissenschaftlicher Verständigung vom zufallsbedingten Wandel der Umgangssprache und versperrt die Möglichkeit internationaler bzw. interlingualer Wissenschaft von vorneherein. Sinnvoll vor diesem Hintergrund ist der Rückgang auf den Anfang kritischer Wissenschaft. Dabei führt der Weg von der assertorischen und modalen Syllogistik bis zur Wiederaufnahme des Fundierungsproblems aller Wissenschaften durch die Logik. Bemühungen in dieser Hinsicht beschränkten sich zunächst auf die Konstruktion der für die Mathematik und die Naturwissenschaften erforderlichen sprachlichen Mittel. Schon diese Aufgabe erwies sich als kaum lösbar. Eine gemeinsame Grundlage aller Wissenschaften kann nur durch die Entwicklung einer Logik und Ethik voranschreiten, die Bezug nimmt auf die Zusammensetzung von Sätzen und dabei ein eigens zu begründendes System von logischen Partikeln verwendet. Problem einer derartigen rationalen Grammatik sind die nicht logisch zusammengesetzten Sätze. Hier wird jedoch eine Entscheidung gegen die Syntax der eigenen Landessprache und die Ausrichtung an den Erfordernissen einer Wissenschaftssprache unumgänglich. Ob nun die Konstruktion einer Wissenschaftssprache gelungen ist, lässt sich am besten an ihrem Beitrag zur Lösung der in einer interdisziplinären Diskussion angeschnittenen Fragen und Probleme feststellen.45 Damit könnte wissenschaftliches Reden von vornherein einer Kontrolle durch die zugehörigen Handlungen unterworfen werden. An die Stelle der Umgangssprache tritt auf diese Weise ein kontrollierbarer Gebrauch von Begriffen und deren Verbindung durch geeignete syntaktische Mittel. Eine erste, über die einzelwissenschaftlichen Aufgaben hinausgehende Voraussetzung interdisziplinärer Gespräche ist also die methodische Durchführung der noch vor der eigentlichen wissenschaftlichen Forschung liegenden Schritte. Dazu gehört offensichtlich die methodische Einführung logischer Partikel im Rahmen der Logik.46 Eine entsprechende Fundierung der axiomatisch-mathematischen oder 45 Frey geht in diesem Kontext davon aus, dass zwischen Wissenschaftlern, die mit einer „einstufigen Wissenschaftssprache“ arbeiten, ein interdisziplinäres Gespräch Erfolg versprechender sei, als dies der Fall sein kann bei Wissenschaftlern, die Disziplinen mit „zweistufigen Wissenschaftssprachen“ vertreten. Bei den „einstufigen Wissenschaftssprachen“ handelt es sich nach Frey um Fachtermini, syntaktische Regeln, Abkürzungen, möglicherweise auch um durch Bildschemata und Demonstrationsprozesse bereicherte Umgangssprache. Unproblematisch ist ein Gespräch zwischen Wissenschaftsvertretern, die sich dieser einstufigen Fachsprache bedienen, vor allem deshalb, weil lediglich Fachtermini und Ergänzungen der Umgangssprache gelernt werden müssen. Zweistufige Wissenschaftssprachen sind durch eine Zweiheit von Objekt- und Metasprache gekennzeichnet, die Ausdruck findet in der Unterscheidung zwischen einem Kalkül und seiner Interpretation oder in der Differenz von Beobachtungssprache und theoretischer Sprache, für deren Zuordnung wieder eine Metasprache beider erforderlich ist. Die hier sicherste Lösung wäre dann die Konstruktion einer Metasprache. Vgl. Frey, Methodenprobleme, S. 160 ff. 46 Zur Bedeutung einer methodischen Einführung logischer Partikel vgl. Lorenzen, Wissenschaftstheorie, S. 144 sowie Frey, Sprache – Ausdruck des Bewußtseins, Stuttgart 1965, S. 117 ff.

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der grundlegenden physikalischen Theorien kann dabei nur mithilfe einer Analyse wissenschaftlicher Forschung erfolgen. Es wäre dabei zu untersuchen, wie die einzelnen Wissenschaftler aus Prämissen logische Schlussfolgerungen ziehen. Nur auf diesem Weg ließe sich die jeweilige Vorgehensweise rekonstruieren; die einzelnen Teile könnten dann in einer kritischen schrittweisen Konstruktion wieder zusammengesetzt werden und so schließlich das mathematisch-physikalische Vokabular für Wissenschaftssprachen gewonnen werden. Erheblich mehr Schwierigkeiten bereitet es, für die „praktischen“47 Wissenschaften ein Grundvokabular zu erarbeiten. Hier kann es nicht genügen, eine Analyse dessen zu erstellen, was in den Sozialwissenschaften tatsächlich getan wird, da es keine allgemein anerkannten Normen darüber gibt, welche Argumente normative Aussagen als gerechtfertigt oder als ungerechtfertigt ausweisen. Damit wird jedoch die Möglichkeit, über eine kritische Rekonstruktion der Sprache praktischer Wissenschaft vernünftige Regeln für solche Argumente zu erlangen, nicht ausgeschlossen.48 Die Erstellung eines Grundvokabulars für alle praktische Wissenschaft muss über die Analyse bestimmter Worte hinaus auch für die in dieser Analyse festgestellten Zwecke ausreichen. Als grundlegende Schritte bilden Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie zusammen ein infradisziplinäres Wissen, das durch eine gemeinsam verstandene logische und ethische Terminologie erst zu formulieren ist. Auf der Grundlage eines in dieser Weise gestalteten Grundwissens kann interdisziplinäre Verständigung stattfinden und bleibt nicht dem Zufall überlassen.49 Die methodische Erarbeitung dieser allgemeinen Basis kann dabei ohne Vorwegnahme der Erkenntnisse der einzelnen Fachwissenschaften immer dann erfolgen, wenn die interdisziplinäre Forschung an Verständigungsschwierigkeiten zu scheitern droht. 2. Überwinden verfestigter Schemata

Neben den Schwierigkeiten sprachlicher Verständigung bilden die Denkgewohnheiten50 der beteiligten Spezialisten ein zentrales Hindernis rechtsinterdisziplinärer Zusammenarbeit. Die oft anzutreffende Verschlossenheit anderen Fragestellungen gegenüber resultiert nicht bloß aus sprachlicher Befangenheit. Jeder Wissenschaftler ist vielmehr an die Grundannahmen der eigenen Disziplin gebunden.51 Lorenzen, Wissenschaftstheorie, S. 144. So Lorenzen, S. 144. 49 Frey weist darauf hin, dass ein derartiges Grundwissen nicht ganz ausreichen würde, um interdisziplinäre Gespräche einigermaßen befriedigend und exakt zu ermöglichen, andererseits die Konstruktion einer Metasprache nur von Spezialisten interdisziplinärer Gespräche erwartet werden kann. Bisher ist eine derartige Metasprache jedoch noch nicht konstruiert worden, weshalb nach „Behelfen“ zu suchen ist. Vgl. Frey, Methodenprobleme, S. 171. 50 Vgl. im Einzelnen Holzhey, Interdisziplinärität, S. 112 f. 51 v. Cranach äußert sich hierzu in Bezug auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychologie und Ethologie; vgl. v. Cranach, Über die wissenschaftlichen und sozialen 47 48

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Eine dieser Grundannahmen im Bereich der Psychologie ist beispielsweise die Auffassung von der nahezu grenzenlosen Plastizität des Verhaltens, was nach der behavioristischen Theorie dazu führt., die Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften zu verwerfen. Für den medizinischen Bereich lässt sich auf die Annahme verweisen, Krankheiten seien physiologischer Natur. Als weiteres Beispiel für derartige Grundannahmen ist die psychologische Aufgliederung des individuellen Systems nach den Hauptkomponenten Wahrnehmung, Denken, Lernen und Motivation zu nennen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit kann, wenn sie zustande kommt und erfolgreich ist, zur Revision solcher (natürlich auch nützlichen und in gewissem Sinne bewährten) Axiome führen. Die „entgrenzenden“ Wissenschaftler müssen aber mit emotional gefärbten Reaktionen rechnen, da sie insoweit an so genannte Selbstverständlichkeiten und damit an das aus Theorie und Institution bestehende Gerüst einer Disziplin rühren. Die Rolle des Mittlers und Vermittlers interdisziplinärer Gespräche kann auch die Wissenschaftspublizistik52 übernehmen und insofern zumindest teilweise zur Beseitigung der gleichzeitig vorhandenen Über- und Unterinformation der Beteiligten beitragen. Aus der in diesem Zusammenhang zu fordernden Transparenz und Durchschaubarkeit der veröffentlichten Beiträge ergeben sich jedoch persönliche Probleme der interdisziplinär forschenden Wissenschaftler:53 Als Vertreter ihrer Disziplin sind die Wissenschaftler verantwortlich für ihr Fachgebiet und haben daher dafür zu sorgen, dass ihren Gesprächspartnern die richtigen Informationen zufließen. Die Fähigkeit und Bereitschaft zuzuhören bzw. nachzuvollziehen und zu verstehen ist ebenso mitzubringen wie Geduld und Beharrlichkeit, da interdisziplinäre Forschung nicht nur Selbstdisziplin bei der eigenen Arbeit erfordert, sondern darüber hinaus auch bedeutet, sich damit abzufinden, über eine längere Zeit Beiträge zu leisten, die in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nur wenig Beachtung finden. 3. Zur Einheit der Forschungslogik

Die bisherige Analyse zeigt, dass in den verschiedenen Wissenschaften jeweils andere Denk- und Forschungsziele dominieren, dennoch aber über die Erarbeitung eines gemeinsamen Grundwissens die Möglichkeit zu interdisziplinärer Zusammenarbeit besteht. Abgrenzungsbestrebungen einzelner Wissenschaften lassen sich Voraussetzungen „erfolgreicher“ interdisziplinärer Forschung, in: Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär, S. 48 – 60 (57). 52 Zu den Aufgaben und Möglichkeiten der Wissenschaftspublizistik vgl. Lohmar, Wissenschaftspublizistik als Voraussetzung politischer Planung, in: Scholz (Hrsg.), Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft, Berlin 1969, S. 277 ff. (insbesondere S. 281). Zur insoweit notwendigen Öffentlichkeitsarbeit der Philosophen siehe Lenk, Plädoyer für praxisnähere Philosophie, in: Lenk, Wozu Philosophie? Eine Einführung in Frage und Antwort, München 1974, S. 97 – 106 (105). 53 Vgl. Holzhey, Interdisziplinarität, S. 113.

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demgegenüber regelmäßig mit einer ungenügenden Trennung zweier Aspekte der Forschungslogik erklären.54 So ist dem Problem der Entdeckung bzw. Gewinnung theoretischer Aussagen ein völlig anderer Platz zuzuweisen als demjenigen einer Begründung, Geltung und Prüfung theoretischer Aussagen. Die Hermeneutiker sahen beispielsweise nicht den rein privaten, heuristischen Charakter des Gewinnungsproblems; und mit ihnen verwechselten auch Intellektualisten und Positivisten Geltungs- und Entstehungsfragen55, ohne dem Aspekt der Überprüfung eine bedeutende Rolle zugestanden zu haben. Durch die Betonung des Überprüfungsproblems rückt jedoch gerade die Möglichkeit einer Lösung der großen Methodenstreitigkeiten in greifbare Nähe, da auf dieser Basis ein interdisziplinär-methodisches Vorgehen möglich erscheint. Gegner der Methodenautonomie gehen deshalb auch von der Unteilbarkeit der Forschungslogik aus. Sie begründen dies mit der Übereinstimmung der in den realwissenschaftlich fundierten Sozialwissenschaften relevanten analytischen Methoden und den in den Naturwissenschaften zum Zuge kommenden Vorgehensweisen.56 Dabei weisen sie vor allem auf die auch in den Sozialwissenschaften vorherrschende Erklärungsfunktion allgemeiner Gesetze hin. Demnach gehen die Forderungen nach Methodenautonomie auch auf ein Missverständnis naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden und der für jede Wissenschaft geltenden Forschungslogik zurück. Ein nach diesen Überlegungen zu gestaltendes Integrationsprogramm57 müsste deshalb zunächst vorhandenes Wissen in einen systematischen Zusammenhang bringen. Derartige Systematisierungs- und Ordnungsfunktionen lassen sich nicht zuletzt durch denkökonomische Notwendigkeiten begründen, da auf diese Weise der Überblick über die gesammelten Erkenntnisse erleichtert wird. Ferner sollte ein Integrationsprogramm den Weg zu neuem Wissen frei machen, was beispielsweise mit der Überwindung verfestigter Denkschemata und der sich damit eröffnenden Möglichkeit zur Entdeckung bislang nicht gestellter Fragen, nicht vorgenommener Experimente und Felduntersuchungen geschehen kann. Insoweit handelt es sich um eine heuristische Funktion des Integrationsprogramms. Beide Funktionen, die der Systematisierung bzw. Ordnung und diejenige der Öffnung neuem Wissen gegenüber, werden von allgemeinen Theorien58 erfüllt. Sie sind in der Lage, Verbindungen zwischen Phänomenen herzustellen, deren Zusammengehörigkeit zunächst als äußerst überraschend erscheinen muss. Auf diese Weise lassen sich Sachverhalte entdecken, die bislang unbeachtet geblieben sind, und zudem Überprüfungsmuster aufgrund neuer Anregungen entwickeln. Zu dieser Problematik Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 50. Vgl. hierzu Zimmerli, Paradigmawechsel, S. 341. 56 Ähnlich Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 50 f. 57 Die Anforderungen, die an ein solches Programm zu stellen sind, erörtert Schanz, Integrationsproblem, S. 129. 58 Siehe hierzu und zum Folgenden Schanz, S. 129 f. 54 55

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

So ist innerhalb der naturwissenschaftlichen Bereiche eine Integration durch Theorien längst üblich. Zu denken ist insofern etwa an die Gravitationstheorie von Isaak Newton, der zwischen verschiedenen Phänomenen (Bewegung der Himmelskörper, Ebbe und Flut sowie dem freien Fall von Gegenständen) einen systematischen Zusammenhang hergestellt hat. Auch zu der eben beschriebenen heuristischen Funktion hat dieses theoretische Konzept beitragen können. Diesem Beispiel entsprechend ist also im Rahmen interdisziplinärer Forschung nach allgemeinen Erklärungsprinzipien zu suchen, die der jeweils spezifischen Bedingungskonstellation entsprechend ausgerichtet werden können. Im Blick auf empirische Untersuchungen kann ferner auf dieser allgemein-theoretischen Basis eine zielgerichtete Auswahl untersuchungswürdiger Probleme erfolgen. Das traditionelle metatheoretische Paradigma der Vorherrschaft wissenschaftslogischer Elemente in der Wissenschaftstheorie ist durch ein Verständnis zu ersetzen, das von der verschränkt wechselseitigen Dienstleistung beider Wissenschaftsbereiche für einander ausgeht.59 Da mathematisch-naturwissenschaftliche Strukturen die logischen Modelle für die Überprüfungszusammenhänge in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften abgeben und zudem geistes- und sozialwissenschaftliche Strukturen die Elemente metawissenschaftlicher Reflexionen der Zusammenhänge von Entdeckung, außerwissenschaftlichen Einflüssen, Zielsetzungen und Relevanzen nicht nur für die Geistes- und Sozial-, sondern auch für die Naturwissenschaften abgeben, kann ein derartiges Verständnis als gerechtfertigt gelten.

V. Entscheidungen im Metabereich der Wissenschaft 1. Festlegung auf ein Wissenschaftsideal

Das Verständnis einer gegenseitigen Ergänzung der Wissenschaftsebenen setzt ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis60 voraus. Zugleich wird damit die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit und die Einsicht in ihre Notwendigkeit wesentlich beeinflusst. Da ein verengtes Wissenschaftsleitbild sich negativ auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit auswirken kann, ist der Kritik von Wissenschaftsidealen im Rahmen der Forschungswissenschaft besondere Beachtung zu schenken. Eine Kritik wird zunächst festzustellen haben, ob die jeweiligen Vorstellungen61 zweckmäßig im Blick auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit sind. Geht Vgl. im Einzelnen Zimmerli, Paradigmawechsel, S. 352. Vgl. hierzu Törnebohm / Radnitzky, Forschung als innovatives System: Entwurf einer integrativen Sehweise, die Modelle erstellt zur Beschreibung und Kritik von Forschungsprozessen, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Bd. 2 (1971), S. 239 – 290 (280 f.) sowie Radnitzky, Der Praxisbezug der Forschung, Vorstudien zur theoretischen Grundlegung der Wissenschaftspolitik, in: Studium Generale, Bd. 23 (1970), S. 817 – 855 (828 f.). 59 60

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man wie der amerikanische Wissenschaftshistoriker Kuhn beispielsweise davon aus62, dass die Wissenschaftsgeschichte durch größere und kleinere Revolutionen charakterisiert ist63, in denen radikales und aus dem vorher geltenden Wissen nicht ableitbares Umdenken die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Theorien ist, dann kommt der Analyse sozialer und psychischer Faktoren bei der Erforschung wissenschaftlicher Entwicklungsgesetzmäßigkeiten eine große Bedeutung zu. Nach Ansicht Poppers ist die Wissenschaftsentwicklung hingegen aus der Widerlegung von Theorien zu erklären.64 Soziale und psychische oder auch ökonomische Faktoren spielen für die jeweilige Einzeldisziplin eher die Rolle von Randbedingungen, die die Existenz und Entwicklungsmöglichkeit von Wissenschaft begrenzen, mit ihr aber in keiner inhaltlichen Beziehung stehen. Vor diesem Hintergrund ist hier die Frage nach dem Wissenschaftscharakter interdisziplinärer Forschung zu stellen. War es bisher üblich, nur die nach analytischen Merkmalen abgegrenzten Einzeldisziplinen als Wissenschaft zu bezeichnen, so erscheint nun die Frage möglich, ob man den Wissenschaftsbegriff erweitern sollte.65 Die interdisziplinäre Forschung übernimmt zunächst die Theorien der Einzeldisziplinen, wobei der wissenschaftliche Informationsgehalt in der Regel unverändert bleibt. Das Wissen der Einzeldisziplin wird in den interdisziplinären Diskurs eingebracht. Da aber im Rahmen der interdisziplinären Forschung – wie das Beispiel der Ökologie besonders deutlich macht –zusätzlich eigenständige problemorientierte Forschung betrieben wird, tritt auch eine Bereicherung des Wissensbestands im Blick auf das jeweils angesprochene Problem ein. Soweit bei einer solchen Forschung die entstehenden neuen instrumentalen Aussagen und Erkenntnisse mit wissenschaftlichen Mitteln auf ihre Wahrheit geprüft werden, spricht nichts dagegen, auch die aus der interdisziplinären Zusammenarbeit hervorgehenden Interdisziplinen als Wissenschaften zu bezeichnen. Sie sind als synthetische Wissenschaften im Gegensatz zu den analytischen Fachdisziplinen zu bezeichnen. An die Stelle des selektiven (analytischen) Erkenntnisobjekts (Identitätsprinzips) bei den Einzeldisziplinen tritt bei den Interdisziplinen ein kombinatives (synthetisches) Integrationsprinzip. Mithilfe dieses Prinzips könnten aus den Einzeldisziplinen die für die jeweilige Interdisziplin geeigneten Theorien einer Selektion und Koordination zugeführt werden. 61 Zur Darstellung der beiden Wissenschaftsvorstellungen vgl. Weingast, Das Dilemma: die Organisation von Interdisziplinarität, in: Wirtschaft und Wissenschaft, 22. Jg. (1974), H. 3, S. 22 – 28 (22). 62 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1973, S. 181 ff. 63 Als illustratives Beispiel ist hier der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild zu nennen. 64 Vgl. Popper, Erkenntnis, S. 25 ff. Zur Zweckmäßigkeit dieses Wissenschaftsideals in Bezug auf eine allgemeine Planungstheorie vgl. Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 14 f. 65 Ähnlich Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Zum Standort der Systemforschung im Rahmen der Wissenschaften, in: Bleicher (Hrsg.), Organisation als System, Wiesbaden 1972, S. 65 – 97 (85 f.).

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie 2. Erkenntnisleitendes Interesse und Forschungsebenen interdisziplinärer Zusammenarbeit

Das gewählte Wissenschaftsideal gibt – zumindest partiell – Aufschluss über die vorliegenden Erkenntnisinteressen66. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein operatives Wissenschaftsideal, da nur so die hinter diesem Wissenschaftsideal liegenden Erkenntnisinteressen transparent und kritisierbar werden. Die hier angesprochenen Erkenntnis leitenden Interessen sind nicht mit der Motivation des Forschers gleichzusetzen. Gemeint sind vielmehr diejenigen Interessen, die in den Umweltkontext – wie etwa den Markt für Forschung, soziopolitische Zusammenhänge, das geistesgeschichtliche Klima – eingebettet sind und die Bedingungen der Möglichkeiten gewisser Arten von Forschungsunternehmen oder von Forschung überhaupt wiedergeben. Auch wenn diese Interessen nicht notwendigerweise von Forschern oder Interessenten der Forschung reflektiert werden, so kommen sie doch in den Zielsetzungen des Forschungsunternehmens zum Ausdruck. Zumindest diese sind den Forschern bewusst, da sie im Rahmen konkreter interdisziplinärer Diskurse mit Bezug auf konkrete Forschungsunternehmen zur Sprache kommen. Zur Charakterisierung interdisziplinärer Forschungsunternehmen gehört hiernach eine bestimmte Perspektive und das dahinter stehende Interesse und damit ein zumindest über die Richtung orientierendes Programm.67 Deshalb ist zu fragen, ob im Rahmen interdisziplinärer Diskurse wissenschaftliche Forschung betrieben werden oder aber eine Zusammenarbeit auf der Objektebene erfolgen soll.68 Bei einem konkreten Problem können die jeweiligen Spezialisten kooperativ tätig werden und auftauchende Fragen in der entsprechenden Zuständigkeit klären. Jeder Beteiligte wendet dabei die instrumentalen Theorien seiner Einzeldisziplin an, eine Kooperation findet jedoch erst auf der Objektebene der Realität statt.69 Aus Sicht der Wissenschaft hat jeder der Beteiligten allein gewirkt. obwohl in der Praxis eine Gemeinschaftsarbeit vorliegt. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass diese Kooperationsform für die Praxis keine besseren Ergebnisse erbringt. Eine Kooperation auf wissenschaftlicher Ebene würde dementsprechend dann vorliegen, wenn die beteiligten Wissenschaftler ihre Erfahrungen und Eindrücke miteinander abstimmen und ihre einzelnen Theorien in dieser Hinsicht ggf. modifizieren.70 Dabei wird gewissermaßen die Kooperation von der Phänomenebene auf eine primäre wissenschaftliche Aussagenebene gehoben. Mit dieser Kooperation liegt zwar keine neue Wissenschaft im üblichen Sinne vor, dennoch kann hier von 66 Siehe dazu und zum Folgenden Törnebohm / Radnitzky, Forschung, S. 241; Radnitzky, Praxisbezug, S. 826 f. 67 Ähnlich Törnebohm / Radnitzky, Forschung, S. 242. 68 Zur Darstellung der verschiedenen Forschungsebenen siehe Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Standort, S. 81 f. 69 Vgl. Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Standort, S. 82. 70 Im Einzelnen Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Standort, S. 82.

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einer problem- oder objektorientierten Integration die Rede sein, die zur Weiterentwicklung des Wissens beitragen kann. Im Einzelnen geht dieser Vorgang so vor sich, dass eine Wissenschaft unter anderem über eine bestimmte explanatorische Theorie verfügt, die sieh auf ein bestimmtes Erfahrungsobjekt bezieht; eine zweite Wissenschaft verfügt neben weiteren Theorien über eine Theorie, die sich ebenfalls auf dieses Erfahrungsobjekt bezieht und eine dritte Wissenschaft enthält ebenfalls eine Theorie über dasselbe Erfahrungsobjekt, wobei diese explanatorischen Theorien der verschiedenen Wissenschaften nicht erst auf der Phänomenebene zusammengeführt, sondern schon auf der wissenschaftlichen Aussagenebene zu einem gemeinsamen problemorientierten, interdisziplinären instrumentalen Theoriensystem verschmolzen werden.

VI. Interdisziplinforschung als Systemforschung 1. Forschungsziele

Es stellt sich die Frage, wie die Teilplanungen verschiedener Wissenschaften integriert werden können, um schließlich im Rahmen interdisziplinärer Forschung zu effizienten Problemlösungen beitragen zu können. So ist vor allem die systematische und logische Koordination der disziplinbezogenen Ziele unter allgemeineren Wertsetzungen erforderlich, um eine verstärkte Re-Integrierung der einzelnen Wissenschaftssysteme71 zu erreichen. Insoweit kann es jedoch nicht von Vorteil sein, die weit gehende Spezialisierung der Wissenschaften rückgängig zu machen, da dann die Gefahr eines Dilettantismus auf vielen Gebieten besteht. Bei unveränderter oder wachsender Spezialisierung und Differenzierung der Wissenschaftssysteme könnte dennoch die Chance einer Integration darin gesehen werden, dass die nach analytischen Merkmalen abgegrenzten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen auf dem Weg der Synthese zu problemorientierter interdisziplinärer Forschung zusammenfinden. Ziel der Forschung kann es nicht sein, die weit getriebene Spezialisierung aufzugeben, vielmehr sollte, um schädliche Nebenwirkungen einer bestimmten Spezialisierungsart möglichst auszuschalten, dem Differenzierungsprozess eine ergänzende problemorientierte Spezialisierung entgegengesetzt werden. 2. Allgemeine Systemtheorie

Als Grundlage für die Entwicklung einer umfassenden Interdisziplinforschung kann insbesondere das Konzept der Allgemeinen Systemtheorie dienen.72 Es sollen daher im Folgenden Inhalt und Ziele der Allgemeinen Systemtheorie kurz dar71 Zur Re-Integrierung differenzierter Wissenschaftssysteme vgl. Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Standort, S. 84 f. 72 Vgl. insbesondere Grochla, Systemtheorie und Organisationstheorie, in: Bleicher (Hrsg.), Organisation, S. 123 – 137 (124 ff.) sowie Kosiol / Szyperski / Chmielewicz, Standort, S. 66 ff.

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

gestellt und daraufhin untersucht werden, ob und wie weit der systemtheoretische Ansatz für die Theoriebildung im Rahmen interdisziplinärer Forschung bedeutsam sein kann. Begründet wurde die Allgemeine Systemtheorie in den 1930er Jahren von dem österreichischen Biologen Bertalanffy73; weitergeführt wurde sie durch Ackoff74, Ashby75, Boulding76 und Mesarovic´77, die weitere wichtige Beiträge lieferten. Wissenschaftshistorisch liegt der Ursprung der Allgemeinen Systemtheorie in den Denkansätzen des Holismus78 sowie in der organismischen Auffassung der Biologie. Freilich lässt sich die Ganzheitsströmung bis in die Antike zurückverfolgen, einen entscheidenden Einfluss auf das methodologische Vorgehen der Wissenschaft gewinnt sie jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wesentlicher Ansatzpunkt der holistischen gegenüber der mechanistischen Perspektive ist die Betrachtung der Gegenstände nach ihrem ursprünglichen („unversehrten“) strukturellen Zusammenhang. Insofern findet Berücksichtigung, dass die Erklärung realer Gebilde nicht durch isolierende Untersuchungen der Eigenschaften und Verhaltensweisen der Teile erfolgen kann, das Ganze also mehr ist und etwas Anderes als die Summe seiner Teile. Da diese Aussage allein auf das Wesen der Objekte zielt, vermag begrifflich erfasste Ganzheitlichkeit eine theoretisch fundierte Erklärung nicht zu geben.79 Um den begrifflich erfassten Sachverhalt der Ganzheit exakt untersuchen und erklären zu können, ersetzt Bertalanffy ihn durch den Systembegriff80, den er als einen Komplex untereinander in Wechselwirkungen stehender Elemente charakterisiert. Die somit geforderte Systemauffassung des Organismus konkretisiert und erweitert er im Rahmen der organismischen Biologie durch die Entwicklung eines speziellen Beschreibungs- und Erklärungsmodells, das er als „Offenes System“81 bezeichnet. Die Darstellung und Erklärung biologischer Organisationsprobleme wie Wachstum, Anpassung, Regulation und Gleichgewicht mithilfe dieses system73 v. Bertalanffy, Zu einer allgemeinen Systemlehre, in: Bleicher (Hrsg.), Organisation, S. 31 – 45 (31 ff.). 74 Ackoff, Systems, Organizations and Interdisciplinary Research, in: General Systems, Bd. 5 (1960), S. 1 – 8 (1 ff.). 75 Ashby, General Systems, Theory as a New Discipline, in: General Systems, Bd. 3 (1958), S. 1 – 6 (1 ff.) sowie ders., An Introduction to Cybernetics, London 1964. 76 Boulding, General Systems Theory – The Skeleton of Science, in: General Systems, Bd. 1 (1956), S. 11 – 17 (11 ff.). 77 Mesarovic´, Foundations for a General System Theory, in: ders. (Ed.), Views on General Systems Theory, Proceedings of the Second Systems Symposium at Case Institute of Technology, New York – London – Sydney 1964, S. 1 – 24. 78 Hierzu vor allem Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 213 ff. 79 Zur Kritik der Ganzheitslehre vgl. Spreer, Wissenschaftstheorie, S. 224 ff. 80 v. Bertalanffy, Das biologische Weltbild, Bd. 1, Die Stellung des Lebens in Natur und Wissenschaft, Bern 1949, S. 24. 81 v. Bertalanffy, Weltbild, Bd. I, S. 127 ff. sowie ders., Systemlehre, S. 37 ff.

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theoretischen Modells ist jedoch häufig isomorph mit den Problemstrukturen anderer Disziplinen, sodass Bertalanffy die spezifisch biologische Systemauffassung und das Modell Offenes System zu einer „Allgemeinen Systemtheorie“82 erweiterte. Somit können materiell verschiedenartige Objektsysteme häufig durch formalisomorphe Systemgesetze erklärt werden. Aufgabe der Allgemeinen Systemtheorie ist es daher, formale Isomophien in den Strukturen von Theorien mit materiell unterschiedlichem Sachbezug aufzudecken, in einer einheitlichen System übergreifenden Terminologie zu beschreiben und zu interdisziplinär verwendbaren, generalisierten Theoriesystemen zusammenzufassen. Geht man davon aus, dass der Begriff System allgemein als eine Anzahl von Elementen mit Eigenschaften, die untereinander verknüpft sind, definiert werden kann,83 so resultieren qualitative Unterschiede in den Eigenschaften und Verhaltensweisen realer Systeme aus den Eigenschaften der System bildenden Elemente und aus der Art und Intensität der zwischen ihnen bestehenden Relationen. Diese unterschiedlichen Systemqualitäten lassen sich auf verschiedene Komplexitätsgrade84 zurückführen. Bertalanffy kommt es jedoch weniger auf eine Bestimmung von Komplexitätsgraden an als vielmehr auf die Einteilung in „geschlossene“ und „offene“ Systeme.85 So wird neben materiellen und energetischen Austauschprozessen zwischen offenen Systemen und der Umwelt die Aufnahme und Abgabe von Informationen zu berücksichtigen sein. Ein System kann demnach immer dann als offen bezeichnet werden, wenn es Strömungsgrößen wie Stoff, Energie oder Information aus der Umwelt aufnimmt, einem bestimmten Verarbeitungsprozess unterwirft und in umgewandelter Form an die Umwelt zurückgibt. Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen lässt sich also zwischen den offenen Systemen und ihrer Umwelt ein fortwährender Austauschprozess und ein damit in Zusammenhang stehender Abbau sowie eine Erneuerung der System bildenden Elemente feststellen.86

3. Allgemeine Systemtheorie und rechtsinterdisziplinäre Forschung

Die Bedeutung der Allgemeinen Systemtheorie für die rechtsinterdisziplinäre Forschung ist zunächst terminologischer Art.87 So können die in verschiedenen Wissenschaftsbereichen vorliegenden Theorien mithilfe der systemtheoretischen Terminologie einheitlich beschrieben werden. Die so gewonnenen deskriptiven 82 v. Bertalanffy, Allgemeine Systemtheorie, Wege zu einer neuen Mathesis Universalis, in: Deutsche Universitätszeitung, 1957, H. 12, S. 8 – 12 (8 ff.); ders., Systemlehre, S. 31 f. 83 Vgl. hierzu Fuchs, Systemtheorie, in: Bleicher (Hrsg.), Organisation, S. 47 – 57 (48 f.). 84 Vgl. im Einzelnen Beer, Kybernetik und Management, Frankfurt am Main 1962, S. 27 ff. 85 v. Bertalanffy, Systemlehre, S. 37 ff. 86 So v. Bertalanffy, Systemlehre, S. 10. 87 Zum Folgenden allgemein Grochla, Systemtheorie, S. 129 f.

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

Aussagensysteme stellen die Basis für einen Vergleich materiell unterschiedlicher Theorien dar und geben somit erste Hinweise auf das Vorhandensein von Isomorphien in den Problemstrukturen. Aus systemtheoretischer Sicht stellt die Interdisziplinforschung ein geschaffenes, also künstliches System dar, das aus den verschiedenen Wissenschaften als dessen Subsystemen zusammengesetzt ist. Je nachdem, wie die Elemente angeordnet sind und in Beziehung zueinander stehen, vermag das System der interdisziplinären Forschung gesetzte Ziele zu erreichen sowie die hierzu erforderlichen Aufgaben zu erfüllen. Voraussetzung für die Zielerreichungsprozesse ist ein fortwährender Austausch von Information zwischen Interdisziplinforschung und Umwelt einerseits und zwischen den Wissenschaftssubsystemen andererseits. Sowohl die Interdisziplinforschung in ihrer Gesamtheit als auch die Wissenschaftssubsysteme vermögen auf kurz- oder längerfristige Störungen zu reagieren. Dieses adaptive Verhalten kann als Suchprozess zur Anpassung an veränderte Umweltkonstellationen im „Umsystem“ Gesellschaft interpretiert werden. Demgegenüber stehen im Fall der internen Systembetrachtung die Interaktionen zwischen den Elementen (Theorien der verschiedenen Wissenschaften) und die Anpassungsvorgänge der Subsysteme im Vordergrund. Entsprechend lässt sich das Verhalten der Subsysteme als Suchprozess zur Verwirklichung der Teilziele interdisziplinärer Forschung im Blick auf die Erfüllung des Gesamtziels verstehen. Um sowohl auf interne als auch auf externe kurz- und / oder längerfristige Veränderungen in der Gesellschaft reagieren zu können, ist die Aufrechterhaltung der innerhalb der Interdisziplinforschung herrschenden dynamischen Ordnungsstruktur in Form eines Fließgleichgewichts erforderlich. Voraussetzung hierfür ist die fortwährende Versorgung mit Information aus der Umwelt. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist hiernach einerseits durch den kontinuierlichen Austausch von Strömungsgrößen mit der Umwelt, andererseits durch die Verarbeitung dieser Größen im Inneren des Systems gekennzeichnet. Die zur Aufrechterhaltung des Fließgleichgewichts und zur Anpassung notwendigen Regulationsvorgänge können sowohl nach dem Prinzip der primären als auch nach dem Prinzip der sekundären Regulation erfolgen. Da das offene System Interdisziplinforschung interne wie externe Ziele auf verschiedenen Wegen, unter unterschiedlichen Anfangsbedingungen und trotz innerer wie äußerer Veränderungen zu erreichen vermag, zeigt es als Ganzes äquifinales Verhalten, wenngleich das Verhalten von Subsystemen infolge fortschreitender Funktionsspezialisierung determiniert sein kann. Neben der Generalisierung deskriptiver Aussagensysteme zwecks Feststellung von Gemeinsamkeiten in den Problemstrukturen materiell verschiedenartiger fachspezifischer Sachverhalte vermag die systemtheoretische Terminologie ferner die Ermittlung formaler Isomorphien in den Strukturen empirisch-kognitiver Theorien über materiell unterschiedliche Sachverhalte zu erleichtern.88 Sowohl im Fall der 88

Hierzu und zum Folgenden vgl. Grochla, Systemtheorie, S. 130 ff.

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terminologischen Vereinheitlichung deskriptiver Aussagensysteme als auch bei der Generalisierung der Begriffe empirisch-kognitiver Theorien ist die Bedeutung der systemtheoretischen Terminologie nur mittelbarer Art. Demgegenüber scheint der Feststellung formaler Isomorphien in den Strukturen empirisch-kognitiver Theorien eine weitaus größere und unmittelbare Bedeutung im Rahmen des interdisziplinären Entdeckungszusammenhangs zuzukommen. Besteht zwischen den formalisierten Begriffen zweier Theorien eine umkehrbar eindeutige Relation, stehen also die Begriffe der Theorien in einer reflexiven, symmetrischen und transitiven Beziehung (Aquivalenzrelation) 89, so sind beide Theorien von derselben logischen Struktur. In diesem Fall kann von einer formalen Isomorphie zwischen beiden Theorien gesprochen werden, und jede der Theorien kann jeweils alternativ als Modell für die andere aufgefasst werden.

VII. Ausblick Der Prozess einer systemtheoretisch orientierten Interdisziplinforschung lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen: Existieren empirisch-kognitive Theorien, die sich in verschiedenen Disziplinen bei der Erklärung materiell verschiedener, in der Problemstruktur jedoch gleicher Sachverhalte bewährt haben, so ist zunächst eine begriffliche Vereinheitlichung dieser Theorien mittels der systemtheoretischen Terminologie erforderlich. Auf dieser Basis ist festzustellen, ob eine formale Strukturisomorphie zwischen den Theorien besteht. Zu diesem Zweck sind die fachspezifischen Begriffe durch transdisziplinäre Begriffe zu ersetzen. Sofern dann eine Isomorphie festgestellt werden kann, können die Theorien zu einer allgemeinen Theorie zusammengefasst werden, die wiederum in verschiedenen Disziplinen als Modell zur Erklärung des entsprechenden fachspezifischen Sachverhalts zu dienen vermag90. Liegen beispielsweise eine ökologische Anpassungstheorie T1, eine rechtliche Anpassungstheorie T2 und eine entsprechende ökonomische Theorie T3 vor, so können diese Theorien – sofern ihre formalen Strukturen isomorph sind – zu einer problemspezifischen allgemeinen Anpassungstheorie TA im Rahmen der Allgemeinen Systemtheorie zusammengefasst werden.91 Existieren für den interdisziplinären Sachverhalt „Anpassung“ zunächst nur deskriptive Aussagen, so kann – unter der Annahme, dass zwischen der systemtheoretisch generalisierten Theorie TA und der zu entwickelnden interdisziplinären Theorie TIA eine formale Strukturisomorphie besteht – TA als Modell für TIA interpretiert werden. In diesem Fall können aus dem allgemeinen Modell TA systemtheoretisch generalisierte HypotheSiehe Carnap, Einführung in die symbolische Logik, Wien 1954, S. 67 ff. und S. 118 ff. Dazu auch Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt am Main 1974, S. 123 ff. 91 Denkbar in diesem Zusammenhang ist auch eine direkte Transformation der einen Theorie in eine zweite und / oder dritte Theorie. 89 90

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7. Teil: Entgrenzung versus Disziplinierung der Rechtstheorie

sen über den problembezogen-interdisziplinären Sachverhalt abgeleitet werden, die zwangsläufig einen hohen Abstraktionsgrad92 aufweisen werden. Hierbei erfüllt das systemtheoretisch generalisierte Theoriesystem eine heuristische Funktion im Rahmen des interdisziplinären Entdeckungszusammenhangs in einer Weise, dass die abgeleiteten Hypothesen dazu beitragen können, bestehende Forschungslücken aufzudecken und darüber hinaus auf mögliche Wege zu deren Beseitigung hinzuweisen. Ob und inwieweit die aus dem Theoriesystem abgeleiteten Hypothesen zur Erklärung der jeweils vorliegenden problemspezifischen Fragestellung tatsächlich geeignet sind, kann nicht schon im Rahmen des Entdeckungszusammenhangs beurteilt werden. Hierzu bedarf es der Operationalisierung und Überprüfung der Hypothesen im Rahmen des Begründungszusammenhangs. Die Effizienz der beschriebenen heuristischen Vorgehensweise hängt auch davon ab, wie groß die Klasse der im Rahmen der Allgemeinen Systemtheorie generalisierten und als Modelle in den interdisziplinären Diskurs eingebrachten Theorien ist. Je größer die Anzahl der allgemeinen Systemmodelle ist, die mit dem jeweils vorliegenden Problemkreis isomorph zu sein scheinen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erfassung der erklärungsbedürftigen Phänomene mithilfe der aus den Systemmodellen ableitbaren Hypothesen gelingt. Da die Zielsetzung der Allgemeinen Systemtheorie darin besteht, möglichst viele disziplinspezifische Theorien auf Isomorphie zu überprüfen und formal isomorphe Theorien mithilfe dieser heuristischen Vorgehensweise zu interdisziplinär verwertbaren Systemmodellen zu generalisieren, dürfte sie dazu beitragen, auch den rechtsinterdisziplinären Entdeckungszusammenhang anzustoßen und zu systematisieren.

92 Vgl. hierzu Bertalanffy, General System Theory, Foundations, Development, Applications, Harmondsworth – Middlesex (England) – Ringwood – Victoria (Australia) 1973, S. 8 ff.

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30. Gilt das Pfändungsvorrecht des § 850d ZPO für den Anspruch auf Zahlung des Prozesskostenvorschusses und Erstattung der Prozesskosten im Rahmen eines Unterhaltsrechtsstreits? In: NJW 1959, S. 2002 – 2003. 31. Zur polizei- und ordnungsrechtlichen Zustandshaftung bei erlaubten Noteinwirkungen. In: SKV 1959, S. 125 – 126. 32. Die Einzelhandelserlaubnis bei nachträglich eingetretener Unzuverlässigkeit. In: SKV 1959, S. 208 – 210. 33. Die Polizeipflicht endet dort, wo Unmögliches verlangt wird. In: DVP 1959 (Gruppe 661) S. 9 – 10. 34. Konkurrenz der polizeirechtlichen Zustandshaftung und wasserrechtlichen Unterhaltspflicht. In: SKV 1959, S. 242 – 243. 35. Die Rechtsstellung der kommunalen Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen. In: KA 1959, S. 95 – 97. 36. Nochmals: Die Rechtsstellung der kommunalen Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen. Erwiderung auf die Kritik von Gerhard Oeltze (KA 1959, S. 136 – 138). In: KA 1959, S. 212 – 214. 37. Nochmals: Die Haftung der Beamten als Sachbearbeiter für Beamtenbesoldung. Erwiderung auf die Ausführungen von K. Kunze (ZBR 1959, S. 183 – 186). In: ZBR 1959, S. 356 – 357. 38. Die rechtliche Behandlung von Überzahlungen im Beamten- und Besoldungsrecht. In: Der Beamte in Rheinland-Pfalz 1959, S. 91 – 94. 1960 39. Zweifelsfragen zur Ersatzpflicht gegenüber drittbeteiligten Verkehrsteilnehmern. In: MDR 1960, S. 900 – 901. 40. Die Verjährung des vertraglichen Nachbesserungsanspruchs des Käufers. In: MDR 1960, S. 995. 41. Schadensersatz bei unfallbedingten Aufenthalten im Straßenverkehr. In: VersN 1960, S. 1 – 3. 42. Die Bedeutung von Haftungszusagen nach Verkehrsunfällen im Haftpflicht- und Versicherungsrecht. In: VersN 1960, S. 16 – 18. 43. Die Haftung des Bauunternehmers gegenüber dem Nachbarn des Bauherrn bei Überbauung der Grundstücksgrenzen. In: VersN 1960, S. 85 f. 44. Die Schadensliquidation im Interesse eines Dritten und verwandte Haftpflichtfragen. In: VersN 1960, S. 48 – 49. 45. Darf ein mit 40 km / h fahrender Pkw von einem anderen Pkw mit einer – infolge der Geschwindigkeitsbegrenzung in geschlossenen Ortschaften – nur um 10 km / h höheren Geschwindigkeit überholt werden? In: VersN 1960, S. 63.

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46. Die Bedeutung des § 898 RVO nach der neueren Rechtsprechung. In: VersN 1960, S. 64 – 65. 47. Die Haftpflicht der Ordnungsbehörden. In: VersN 1960, S. 76 – 77. 48. Der Verkaufsminderwert bei Unfallwagen vor ihrer Veräußerung. In: VersN 1960, S. 106 – 107. 49. Wer muss „verkehrsrichtiges Verhalten“ beweisen? In: VersN 1960, S. 139 – 140. 50. Zweifelsfragen zur Feststellung des merkantilen Minderwertes bei Unfallfahrzeugen. In: VersN 1960, S. 165 – 166. 51. Der polizeiliche Eingriff in den Wirkungsbereich anderer staatlicher Aufgabenträger. In: DÖV 1960, S. 114 – 116. 52. Grenzfragen bei der Haftpflicht der Ordnungsbehörden. Ein Beitrag zur Auslegung des § 42 OBG NRW. In: StuP 1960, S. 36 – 38. 53. Polizeipflicht und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. In: SKV 1960, S. 268 – 269. 54. Können zurückerstattete Überzahlungen aus der Zeit vor dem 1. September 1953 wiedergefordert werden? In: ZBR 1960, S. 109 – 110. 1961 55. Nochmals: Vermögens- und Sachschaden bei außervertraglicher Haftung. Entgegnung zu Hans Stohmann, Vermögens- und Sachschaden bei außervertraglicher Haftung (VersR 1960, S. 775 – 777). In: VersR 1961, S. 202 – 203. 56. Veräußerung von Sicherungsgut als Betrug zum Nachteil des Treunehmers? In: MDR 1961, S. 24 – 25. 57. Ist § 5 AbzG bei Zurückhaltung der dem Verkäufer zur Reparatur übergebenen Kaufsache anwendbar? In: MDR 1961, S. 827 – 828. 58. Die Bestellung einer Kaufgeldhypothek aus der Sicht des § 1365 BGB. In: MDR 1961, S. 909. 59. Haftung für Unfälle eines Skischlepplifts. In: VersN 1961, S. 23. 60. Haftungsbegrenzung im Schadensersatzrecht. In: VersN 1961, S. 32 – 33. 61. Schadensersatz bei „Freiheitsberaubung“ im Straßenverkehr? In: VersN 1961, S. 45. 62. Die Rechtslage beim Handeln auf eigene Gefahr durch einen Minderjährigen. In: VersN 1961, S. 49 – 50. 63. Zur Anwendbarkeit des § 1365 BGB bei dinglichen Unterwerfungsklauseln. In: JR 1961, S. 255 – 256.

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64. Über die Bedeutung einer Mängelbeseitigungszusage beim Kauf. In: JR 1961, S. 377 – 378. 65. Probleme des merkantilen Minderwertes bei unfallgeschädigten Kraftfahrzeugen. In: DAR 1961, S. 270 – 273. 66. Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten nach der Verwaltungsgerichtsordnung. In: SKV 1961, S. 18 – 19. 67. Zur Problematik der Entschädigungstatbestände im nordrhein-westfälischen Ordnungsbehördengesetz (OBG). In: DÖV 1961, S. 379 – 381. 68. Die Haftung öffentlich-rechtlich beliehener Privatunternehmer. In: VersN 1961, S. 77 – 78. 69. Steht dem mittelbaren Besitzer gegen den unmittelbaren Besitzer ein Schadensersatzanspruch aus § 823 BGB zu? In: VersN 1961, S. 98. 70. Aktuelle Haftpflichtversicherungsfragen bei Kfz-Unfällen. In: VersN 1961, S. 145 – 147. 71. Anrechnung von Eigenersparnissen bei Benutzung eines Mietfahrzeugs? In: VersN 1961, S. 162. 72. Zum Bereich der genehmigungsfreien wissenschaftlichen und Vortragstätigkeit des Beamten. In: ZBR 1961, S. 70 – 71. 73. Die Bedeutung der Zueignungsabsicht beim Diebstahl. In: StuP 1961, S. 336 – 341. 74. Schadensersatz beim Deckungskauf. In: VersN 1961, S. 5 f. 1962 75. Der „Rechtfertigungsgrund“ des verkehrsrichtigen Verhaltens – BGHZ 24, 21. In: JuS 1962, S. 133 – 139. 76. Aktuelle Fragen aus der Praxis des Haftpflichtrechts. In: VersN 1962, S. 54 – 55. 77. Der Bergerest beim Kfz-Totalschaden. In: VersN 1962, S. 120. 78. Feststellungsklagen „gegen“ Versicherungsgesellschaften. In: VersN 1962, S. 133 – 134. 79. Der Risikoausschluß bei Ehegatten in der Kfz-Haftpflichtversicherung. In: VersN 1962, S. 173 ff. 80. Zur Problematik der Schadensersatzpflicht bei Verletzung der elterlichen Gewalt. In: MDR 1962, S. 7 – 9. 81. Zur Verfassungsmäßigkeit der §§ 49 StVO und 71 StVZO. In: MDR 1962, S. 105 – 106.

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82. Probleme bei der Erstattung von Mietwagenkosten. In: VersR 1962, S. 400 – 403. 83. Zweifelsfragen zur Auslegung des § 67 Abs. 5 JWG. In: ZblJugR 1962, S. 228 – 229. 84. Die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften in den juristischen Fakultäten. In: JuS 1962, S. 204. 85. Ist der Konkurseröffnungsbeschluss ein „Räumungstitel“ im Konkurs des Mieters? In: ZMR 1962, S. 132 – 133. 86. Grundlagen und Wesen der Gemeindeverfassung. In: Gemeinde 1962, S. 17 – 19. 87. Überzahlungen im kommunalen Besoldungsrecht. In: Gemeinde 1962, S. 25 – 27. 88. Die wirtschaftsrechtlichen Grundlagen der Gemeinde. In: Gemeinde 1962, S. 38 – 39. 89. Das Satzungsrecht der Gemeinden. In: Gemeinde 1962, S. 60 – 61. 90. Rechtsstellung und Befugnisse des Gemeindedirektors. In: Gemeinde 1962, S. 81 – 82. 91. Grundfragen der Kommunalaufsicht. In: Gemeinde 1962, S. 105 – 106. 92. Wissenswertes über die Gemeindeeinrichtungen. In: Gemeinde 1962, S. 120 – 121. 93. Die Bedeutung der kommunalen Finanzverfassung. In: Gemeinde 1962, S. 140 – 141. 94. Aufbau und Struktur des Finanzausgleichs. In: Gemeinde 1962, S. 180. 95. Grundfragen der kommunalen Ordnungsverwaltung. In: Gemeinde 1962, S. 200 – 202. 96. Die Haftung für Gemeindebedienstete. In: Gemeinde 1962, S. 226 – 227. 97. Grundfragen aus dem kommunalen Dienstrecht. In: Gemeinde 1962, S. 249 – 251. 98. Der Anspruch des Ratsmitglieds auf Dienst- und Arbeitsbefreiung. In: Gemeinde 1962 (Sonderdruck zur Mitgliederversammlung 1962 des Gemeindetages Nord-Rhein, S. 4). 1963 99. Die Ehe- und Familienwohnung während des Scheidungsprozesses. In: ZMR 1963, S. 198 – 200. 100. Grundsätzliches zum sog. Spurenfahren auf Großstadtstraßen. In: VersN 1963, S. 61 – 62.

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101. Die Kardinalfrage nach vielen Verkehrsunfällen: Schadensersatz auch bei Nichtanmietung eines Ersatzfahrzeugs? In: VersN 1963, S. 145 – 147. 102. „Zufalls“-Schädigungen durch die öffentliche Hand. In: DÖV 1963, S. 607 – 610. 103. Hoheitsgewalt gegen Hoheitsgewalt? Dargestellt am Beispiel des polizeilichen Eingriffs in den Wirkungsbereich anderer hoheitlicher Aufgabenträger. In: SKV 1963, S. 29 – 32. 1964 104. Grundprobleme und Zweifelsfragen zum Wegnahmerecht des Mieters. In: ZMR 1964, S. 69 – 73. 105. Aktuelle Probleme beim finanzierten Kfz-Abzahlungskauf. In: VersN 1964, S. 25 – 27. 106. Totalschaden und Grenzen zumutbarer Reparatur. In: VersN 1964, S. 37 – 38. 107. Die Haftung des Staates für schuldlos-rechtswidrige Schädigungen, insbesondere für sog. Zufallsschäden. In: SKV 1964, S. 8 – 12. 1967 108. Untersuchungen zum Problem der Produktenhaftung. Ein Beitrag zur soziologischen Rechtsforschung. Basel-Stuttgart 1967. X, 102 S. Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 79. 109. Die Bedeutung des Zugangs von Willenserklärungen. In: StuP 1967, S. 62 – 64. 1968 110. Soll die Haftung des Produzenten gegenüber dem Verbraucher durch Gesetz, kann sie durch richterliche Fortbildung des Rechts geordnet werden? In welchem Sinne? In: DRiZ 1968, S. 266 – 271. 111. Zum Problem der Produktenhaftung. In: Jahrbuch der Basler Juristenfakultät. XLIV. Heft. Jahrgang 1965. Basel 1968, S. 33 – 34. 1969 112. Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Basel – Stuttgart 1969. XIII, 219 S. Neudruck Bern 1996. XVI, 226 S. Mit einem Geleitwort von Martin Usteri, Manfred Rehbinder und Raimund Jakob. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 2.

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113. Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung. In: Richteramt und Rechtsfindung. Bad Boll 1970, S. 23 – 37. Gastvortrag auf der Fortbildungsveranstaltung „Richteramt und Rechtsfindung“ der Evangelischen Akademie Bad Boll in Verbindung mit dem Justizministerium BadenWürttemberg und dem Verein der Richter und Staatsanwälte Baden-Württemberg e. V. vom 1. – 3. Oktober 1970 in Bad Boll. 1972 114. Gestaltungen des Verfassungsprozesses in ihrer materiell-rechtlichen Bedingtheit. Vervielf. Ms. Karlsruhe 1972. Gastvortrag vor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim am 2. Februar 1972. In Bibl. Siegener Inst. f. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung vorh. 115. Entscheidungstheorie in der Rechtswissenschaft. Vervielf. Ms. Karlsruhe 1972. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1977 / 78. Siegen 1978, S. 132 – 133. 116. Zur Problematik des rechtswidrigen Staatsakts. Vervielf. Ms. Karlsruhe 1972. Gastvortrag am 22. Oktober 1972 vor der Abteilung für Öffentliches Recht, Agrarrecht und Umweltrecht der Universität Hohenheim. Franz Schad berichtet darüber zusammenfassend in seinem Beitrag „Zur Notwendigkeit einer Rechtswidrigkeitslehre im öffentlichen Recht“. In: Festschrift für Alfred Pikalo. Berlin 1979, S. 247 – 253. 1974 117. Umwelt und Recht (mit Franz Schad). In: Schaefer, H. (Hrsg.), Folgen der Zivilisation. Bericht der Studiengruppe „Zivilisationsfolgen“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Frankfurt am Main 1974, S. 260 – 288. 118. Rez.: Hans Dölle, Internationales Privatrecht. Eine Einführung in seine Grundlagen. 2. Aufl. Karlsruhe 1972. In: DRiZ 1974, S. 71. 119. Rez.: Dieter Blumenwitz, Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Ein Beitrag zur Dezentralisierung der auswärtigen Gewalt in den föderalen Staatsordnungen der Gegenwart, München 1972. In: DRiZ 1974, S. 105 f. 1975 120. Fälle aus dem Allgemeinen Teil des BGB (mit Wilhelm Weimar). St. Augustin 1975. VI, 108 S. 2. überarb. Aufl. 1980. VI, 132 S. Das BGB in Fällen, Bd. 1. 121. Umweltplanung im sozialen Rechtsstaat. Vervielf. Ms. Hohenheim 1975. Festvortrag Universität Hohenheim anlässlich der Emeritierung von Franz Schad am 31. Januar 1975.

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In veränderter Version auch unter dem Titel „Eigentumsfreiheit und Umweltplanung im sozialen Rechtsstaat“. In: López Calera, N. / Seele, W. (Hrsg.), Politisches System und Bodenordnung. Frankfurt am Main – Bern – New York 1988, S. 247 – 260. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 6. 1976 122. Fälle aus dem Schuldrecht – Einzelne Schuldverhältnisse (mit Wilhelm Weimar). St. Augustin 1976. IV, 120 S. 2. erw. Aufl. 1979. IV, 132 S. Das BGB in Fällen, Bd. 2b. 123. Fälle aus dem Sachenrecht. Recht der beweglichen Sachen (mit Wilhelm Weimar). St. Augustin 1976. VI, 96 S. Das BGB in Fällen, Bd. 3a. 1977 124. Versorgung und materiale Gleichheit. Zur Bindung des Gesetzgebers an verfassungsrechtliche Handlungspflichten im Bereich der Rentenpolitik. Dargestellt am Beispiel der Versorgungslage der Bediensteten der alten Deutschen Lufthansa. Überlingen 1977. III, 51 S. 125. Fälle aus dem Sachenrecht. Recht der unbeweglichen Sachen (mit Wilhelm Weimar). St. Augustin 1977. IV, 90 S. 2. überarb. Aufl. 1980. IV, 90 S. Das BGB in Fällen, Bd. 3b. 126. Theorie und Praxis. Beiträge zum gesamten Bodenrecht. Schriftenreihe des JosefHumar-Instituts e. V. Düsseldorf. Institut für Boden-, Bau-, Agrar- und Umweltrecht. Begründet von Günther Frohberg, Alfred Pikalo und Robert Weimar. Bd. 1 (1977) ff. 1978 127. La propietad del suelo, la explotación agricola y forestal y la protección del medio ambiente. In: Estratto dalla revista „Diritto-Economia“ Anno I – 1977 – Nr. 3. Edizioni del C.E.D.E.I.E. Camerino (MC) 1978, S. 27 – 72. Erweiterte Fassung des auf dem IX. Europäischen Agrarrechtskongress des Comite Europeen de Droit Rural vom 29. September – 2. Oktober 1977 gehaltenen Generalreferats. Universität Valencia. 128. Festschrift für Franz Schad zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Robert Weimar. Düsseldorf 1978, XIV, 554 S. Theorie und Praxis. Beiträge zum gesamten Bodenrecht, Bd. 2. 129. Franz Schad zum 70. Geburtstag. In: Festschrift für Franz Schad zum 70. Geburtstag. Düsseldorf 1978, S. VII – XIII. Theorie und Praxis. Beiträge zum gesamten Bodenrecht, Bd. 2. 130. Landwirtschaft als Umweltgestaltung. Ökologisch-ökonomische Implikationen des Agrarumweltrechts. In: Weimar, R. (Hrsg.), Festschrift für Franz Schad zum 70. Geburtstag. Düsseldorf 1978, S. 473 – 519. Theorie und Praxis. Beiträge zum gesamten Bodenrecht, Bd. 2.

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131. Zur Funktionalität der Umweltgesetzgebung im industriellen Wachstumsprozess. In: Gemper, B. B. (Hrsg.), Stabilität im Wandel. Wirtschaft und Politik unter dem evolutionsbedingten Diktat. Festschrift für Bruno Gleitze zum 75. Geburtstag. Berlin 1978, S. 511 – 526. Im vorliegenden Band, S. 467 – 481. 132. Alterssicherung als Problem sozialstaatlicher Teilhabe. Zur Bedeutung verfassungsrechtlicher Verteilungsmaßstäbe für eine soziale Rentengestaltung. Überlingen 1978. III, 63 S. 133. Das Problem der Rechtswidrigkeit in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht. Vortragsmanuskript. Wien 1978. Gastvortrag am 6. November 1978 in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Franz Schad berichtet darüber zusammenfassend in seinem Beitrag „Zur Notwendigkeit einer Rechtswidrigkeitslehre im öffentlichen Recht“. In: Festschrift für Alfred Pikalo. Berlin 1979, S. 247 – 253. 134. Umweltgesetzgebung und Wirtschaftspolitik. Zur rechtlichen Gestaltung der Wachstumsqualität. Vortragsmanuskript. Wien 1978. Gastvortrag an der Wirtschaftsuniversität Wien 1978. Guido Leidig berichtet darüber in seiner Abhandlung „Gesetzgebung und Effizienz. Zugleich ein Beitrag zur ökonomisch-ökologischen Steuerungsfunktion von Rechtssystemen“. In: Rechtstheorie und Gesetzgebung. Festschrift für Robert Weimar. Herausgegeben von Ilmar Tammelo und Erhard Mock. Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 231 – 257. Beiträge zur Allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 1. 1979 135. Recht – Umwelt – Gesellschaft. Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Günter Frohberg, Otto Kimminich und Robert Weimar. Berlin 1979, XIII, 400 S. 136. Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag (mit Günther Frohberg und Otto Kimminich). In: Frohberg, G. / Kimminich, O. / Weimar, R. (Hrsg.), Recht – Umwelt – Gesellschaft. Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag. Berlin 1979, S. XIII – XIV. 137. Eigentum, Umweltrecht und Wirtschaftssystem. In: Frohberg G. / Kimminich, O. / Weimar, R. (Hrsg.), Recht – Umwelt – Gesellschaft. Festschrift für Alfred Pikalo zum 70. Geburtstag. Berlin 1979, S. 311 – 343. 138. Festansprache anlässlich der Überreichung der Festschrift „Recht – Umwelt – Gesellschaft“ für Alfred Pikalo am 11. Oktober 1979 auf dem X. Europäischen Agrarrechtskongress mit Colloquium vom 11. – 13. Oktober 1979 im Internationalen Congress Centrum (ICC) zu Berlin. Vervielf. Ms. Berlin 1979. In Bibl. Siegener Inst. f. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung vorh. 139. Rechtsvergleichende Untersuchungen über die Richtlinien des Rates betreffend den Verkehr mit Saatgut sowie frischem Geflügelfleisch und deren Umsetzung in die nationale Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsauftrag der Europäischen Kommission, Brüssel. Vervielf. Ms. Siegen 1979. In Bibl. Europ. Komm. Brüssel vorh.

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140. Bodeneigentum, land- und forstwirtschaftliche Bewirtschaftung und Umweltschutz. In: Servicio de publicaciones agrarias (Ed.), Comite Europeo De Derecho Rural (C.E.D.R.). Asociacion Espan˜ola De Derecho Agrario (A.E.D.A.). IX Congreso y Coloquio Europeos De Derecho Rural, Propiedad y empresa agraria. Madrid 1979, S. 61 – 98. Wolfgang Winkler berichtet darüber in seinem Beitrag „Die wissenschaftlichen Arbeiten des IX. Europäischen Agrarrechtskongresses“. In: AgrarR 1978, S. 290 – 293. 141. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung. Begründet und herausgegeben von Robert Weimar. Schriftenreihe des Siegener Instituts für Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung. Bd. 1 (1979) ff. 142. Editorial zur nachgenannten Schriftenreihe sowie Vorwort zu Leidig, G. In: Leidig, G., Dominante Werbung. Ziele, Wirkungen, rechtliche Gestaltung. Frankfurt am Main – Bern – Cirencester / UK 1979, S. V – VI. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung, Bd. 1. 143. Editorial. In: Scheib, U., Die rechtliche und wirtschaftliche Bedeutung des „Groupement d’intérêt economique“ in Frankreich. Frankfurt am Main – Bern – Cirencester / UK 1979, S. I. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung, Bd. 2. 1980 144. Umweltpolitik und Umweltgesetzgebung. Zur ökonomisch-ökologischen Dimension in Politik und Recht. Dem Institut für Umwelt- und Naturschutz der Universität für Bodenkultur Wien gewidmet. Vervielf. Ms. Wien 1980. IX, 122 S. In: Bibl. Inst. f. Umwelt- und Naturschutz Univ. f. Bodenkultur Wien und in Bibl. Siegener Inst. f. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung vorh. 145. Editorial und Vorwort. In: Dümchen, Ch., Zur kartellrechtlichen Konzeption Franz Böhms. Frankfurt am Main – Bern – Cirencester / UK 1980, S. I – II. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung, Bd. 4. 1981 146. Standortplanung bei Kernkraftwerken. Planungsrechtliche Aspekte. In: Gemper, B. B. (Hrsg.), Energieversorgung. Expertenmeinungen zu einer Schicksalsfrage. München 1981, S. 137 – 146. 147. Bürgerliches Recht (mit Peter Schimikowski). Düsseldorf 1981. XXIV, 316 S.; 2. überarb. Aufl. 1986. XXIV, 316 S.; 3. überarb. u. erw. Aufl. 1990. XXIV, 315 S.; 4. überarb. Aufl. 1991. XXIV, 315 S. 148. Explikative oder normative Rechtstheorie? In: Tammelo, I. / Aarnio, A. (Hrsg.), Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik. Berlin 1981. RTH Beih. 3 (1981), S. 193 – 214. Im vorliegenden Band, S. 68 – 87. Vortrag auf dem Finnisch-Österreichischen Symposium „Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik“ am 27. – 28. Oktober 1980. Universität Salzburg. Zusammenfassender Bericht bei Werner Krawietz, Zur Struktur von Entwicklung und Fortschritt in der Rechtstheorie. In: RTH Beih. 3 (1981), S. 333 – 347.

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149. Agrarrecht in Europa. Berichte des X. Europäischen Agrarrechtskongresses. Berlin 1979. Herausgegeben von Alfred Pikalo, Robert Weimar und Wolfgang Winkler. Frankfurt am Main – Bern 1982. V, 485 S. Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, Bd. 230. 150. Rechtsökologie – Ethik oder Sozialtechnologie? In: Gemper, B. B. (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung. Festschrift für Karl Klein zum 70. Geburtstag. Siegen 1982, S. 664 – 684. Im vorliegenden Band, S. 166 – 178. 151. Der Bedeutungswandel des Gesetzes. In: Krawietz, W. / Topitsch, E. / Koller, P. (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. Berlin 1982. RTH Beih. 4 (1982), S. 241 – 262. Im vorliegenden Band, S. 203 – 220. Vortrag anlässlich Hans Kelsens 100. Geburtstag (geb. 11. Oktober 1881) auf dem Symposium „Ideologiekritik und politische Theorie bei Hans Kelsen“ vom 15. – 17. Mai 1981 auf Schloss Retzhof bei Leibnitz / Österreich. 152. Juristische Wahrheit. Bemerkungen zur Theorie der brauchbaren Entscheidung. In: Universidad nacional autónoma de México (Hrsg.), Memoria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Problemas de Filosofía Social. Bd. IX. Mexico City 1982, S. 225 – 244. Vortrag auf dem X. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) „Filosofía del Derecho y Problemas de Filosofía Social“ 1981. Universität Mexico City. 153. Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie. Begründet und herausgegeben von Ilmar Tammelo und Robert Weimar Bd. 1 (1982) ff. Nach dem Tod Ilmar Tammelos herausgegeben von Michael W. Fischer und Helmut Schreiner (seit Bd. 4 ff.). 154. Geleitwort (mit Ilmar Tammelo). In: Tammelo, I., Zur Philosophie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main-Bern 1982, S. III. Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, Bd. 1. 155. Geleitwort (mit Ilmar Tammelo). In: Boukema, H. J. M., Good Law. Towards a Rational Lawmaking Process. Frankfurt am Main – Bern 1982, S. V. Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, Bd. 2. 156. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Mario G. Losano, Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit in der Reinen Rechtslehre, auf dem Internationalen Symposion „Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion“ vom 22. – 27. September 1981 in Wien. Nach einem Diskussionsbericht von Wolfgang Baumann und Gabriele Stadlmayer. Universität Wien. In: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion. Referate und Diskussionen auf dem zu Ehren des 100. Geburtstags von Hans Kelsen vom 22. – 27. September 1981 veranstalteten Internationalen Symposion. Wien 1982, S. 105. Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 7. 157. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Klaus Adomeit, Der Begriff der Rechtsnorm, auf dem Internationalen Symposion „Die Reine Rechtslehre in wissen-

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schaftlicher Diskussion“ vom 22. – 27. September 1981 in Wien. Nach einem Diskussionsbericht von Martin Köhler und Helmut Tichy. Universität Wien. In: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion. Referate und Diskussionen auf dem zu Ehren des 100. Geburtstags von Hans Kelsen vom 22. – 27. September 1981 veranstalteten Internationalen Symposion. Wien 1982, S. 179. Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 7. 158. Vorwort (mit Alfred Pikalo und Wolfgang Winkler). In: Agrarrecht in Europa. Berichte des X. Europäischen Agrarrechtskongresses Berlin 1979. Herausgegeben von Alfred Pikalo, Robert Weimar und Wolfgang Winkler. Frankfurt am Main – Bern 1982, S. 5 – 6. Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, Bd. 230. 1983 159. Grundzüge des Wirtschaftsrechts (mit Peter Schimikowski). München 1983. XVII, 409 S. 2. völlig überarb. Aufl. 1993. XIX, 444 S. 160. Grundlagen einer „Einheit“ materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus. In: Mayer-Maly, D. / Simons, P. M. (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic. Berlin 1983, S. 473 – 495. Im vorliegenden Band, S. 281 – 300. Erweiterte Fassung eines Kongressvortrags an der Universität Salzburg – Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre – 1981. 161. Raumordnung und Umweltvorsorge. In: Weimar, R. (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens – heute und morgen. Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 72 – 101. Mit einer Abb. zum Objektbereich der Ökonomisch-ökologischen Rechtslehre. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 1. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Internationalen Symposium „L’aménagement foncier, aujourd’hui et demain“ der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg vom 25. – 26. März 1982 in Strasbourg. In früherer Fassung bearbeitet auch als Projekt des Forschungsschwerpunkts „Materielle, personelle und institutionelle Infrastruktur“ der Universität Siegen. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1981 / 82. Siegen 1982, S. 229. 162. Rechtstheoretische und methodologische Aspekte zur richterlichen Entscheidung. In: Mock, E. / Jakob, R. (Hrsg.), Auslegung – Einsicht – Entscheidung. Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. 81 – 103. Beiträge zur Allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 2. Im vorliegenden Band, S. 363 – 380. 163. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg – Studies of the European Faculty of Land Use and Development Strasbourg – Forschungen der Europäischen Fakultät für Bodenordnung Strasbourg. Begründet und herausgegeben von Matthys J. M. Bogaerts, Hendrik J. M. Boukema, Aimé De Leeuw, Günther Frohberg, Gernot Kocher, Werner Krawietz, Hans Lenk, Nicolás M. López Calera, Mario G. Losano, Niklas Luhmann, Theo Öhlinger, Walter Seele, Ilmar Tammelo, Juha Tolonen, Robert Weimar und Henry W. West Bd. 1 (1983) ff.

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164. Die Ordnung des Bodens – heute und morgen. Herausgegeben von Robert Weimar Frankfurt am Main – Bern – New York 1983. IX, 207 S. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 1. 165. Vorwort. In: Die Umweltvorsorge im Rahmen der Landesplanung Nordrhein-Westfalen. Eine integrationsorientierte Untersuchung (mit Guido Leidig). Forschungsauftrag auf Vorschlag der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen. Frankfurt am Main – Bern – New York 1983, S. V – VI. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 3. 166. Die Umweltvorsorge im Rahmen der Landesplanung Nordrhein-Westfalen. Eine integrationsorientierte Untersuchung (mit Guido Leidig). Forschungsauftrag auf Vorschlag der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Frankfurt am Main – Bern – New York 1983. XXIV, 313 S. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 3. 167. Wertfreiheit der Rechtstheorie als methodisches Prinzip? Vervielf. Ms. Siegen 1983. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf Einladung der Westfälischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Verbindung mit dem Institut für Öffentliches Recht und Politik und dem Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am 3. Februar 1983 in Münster sowie in demselben Jahr auch in Wien auf Einladung der Österreichischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Universität Wien. In Bibl. Siegener Inst. f. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung vorh. Zusammengefasst als Forschungsprojekt in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1981 / 82. Siegen 1982, S. 227. 1984 168. Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft. In: Krawietz, W. / Schelsky, H. / Winkler, G. / Schramm, A. (Hrsg.), Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag. Berlin 1984, S. 69 – 102. Im vorliegenden Band, S. 21– 50. 169. Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft. In: Krawietz, W. / Mayer-Maly, Th. / Weinberger, O. (Hrsg.), Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. Berlin 1984, S. 703 – 722. Im vorliegenden Band, S. 51– 67. 170. Raumordnung, Raumplanung und Entwicklungsplanung (mit Peter Schimikowski). WiSt 1984, S. 470 – 471. 171. On Policy and Function of Legal Norms in Legal Dogmatics. Für den Kongress „Reason in Law“ der Italienischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) vom 12. – 15. Dezember 1984 in Bologna konzipiertes Referat von Robert Weimar. Für ihn vorgetragen von Erich Zalten. Universität Bologna.

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Kurzfassung des Referats in: Fischer, M. W. / Lenk, H. / Trappe, P. (Hrsg.), Juristische Operationsfelder und Interdisziplinarität bei Robert Weimar. Bibliographische Streifzüge zu seinem 65. Geburtstag. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris – Wien 2000, S. 111 – 112. 172. Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts. In: Krawietz, W. / Schelsky, H. (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen. Berlin 1984. RTH Beih. 5 (1984), S. 409 – 423. Im vorliegenden Band, S. 117 – 129. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Interdisziplinären und Internationalen Kolloquium „Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen“ am 11. Oktober 1981 in Haus Rothenberge, dem Landheim der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 173. Agrarrecht in Europa. Berichte des XI. Europäischen Agrarrechtskongresses Edinburgh 1981. Herausgegeben von Alfred Pikalo, Robert Weimar und Wolfgang Winkler. Frankfurt am Main – Bern 1984. V, 409 S. Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, Bd. 347. 174. Vorwort (mit Alfred Pikalo und Wolfgang Winkler). In: Agrarrecht in Europa. Berichte des XI. Europäischen Agrarrechtskongresses Edinburgh 1981. Herausgegeben von Alfred Pikalo, Robert Weimar und Wolfgang Winkler. Frankfurt am Main – Bern 1984, S. 5 – 6. Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, Bd. 347. 175. Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung. In: Fischer, M. W. / Mock, E. / Schreiner, H. (Hrsg.), Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts. Stuttgart 1984. ARSP Beih. 20 (1984), S. 155 – 167. Im vorliegenden Band, S. 221 – 235. Vortrag auf dem Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie – Österreichische Sektion – 1983. Universität Salzburg. Zusammengefasst als Forschungsprojekt in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1981 / 82. Siegen 1982, S. 227. 176. Ansätze zu einem Bodenschutzrecht. In: Borchard, K. (Hrsg.), Bodenpolitik in Stadt und Land. Festschrift für Walter Seele zum 60. Geburtstag. Bonn 1984, S. 101 – 116. Beiträge zu Städtebau und Bodenordnung, Bd. 6. 177. Jurist und Technik zwischen Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Josef Kühne zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Manfred Straube und Robert Weimar. Wien 1984. VII, 280 S. 178. Zueignung (mit Manfred Straube). In: Straube, M. / Weimar, R. (Hrsg.), Jurist und Technik zwischen Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Josef Kühne zum 60. Geburtstag. Wien 1984, S. V. 179. Technokratie und Rechtssystem. Zur Frage nach der Zukunft des Rechts. In: Straube, M. / Weimar, R. (Hrsg.), Jurist und Technik zwischen Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Josef Kühne zum 60. Geburtstag. Wien 1984, S. 65 – 78. Im vorliegenden Band, S. 585 – 597. 180. Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz – der nächste Schritt? In: RTH 15 (1984), S. 313 – 332. Im vorliegenden Band, S. 141 – 159.

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Bibliografie Robert Weimar Erweiterte Fassung eines Vortrags mit dem Thema „Ökonomisch-ökologische Jurisprudenz. Zur umweltökonomischen Perspektive im Rechtsdenken der Gegenwart“ auf dem Second International Congress on Legal Science vom 7. – 12. September 1980. Freie Universität Amsterdam.

181. Wandel im Rechtssystem. In: Jüssen, G. (Hrsg.), Tradition und Innovation. Bonn 1984, S. 126 – 128. Kurzfassung eines Vortrags mit dem Thema „Wandel im Rechtssystem“ auf dem XIII. Deutschen Kongress für Philosophie vom 24. – 29. September 1984. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1985 182. Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis. In: Lampe, E.-J. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Opladen 1985. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 158 – 172. Im vorliegenden Band, S. 509 – 525. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf der Arbeitstagung „Das sogenannte Rechtsgefühl“ vom 9. – 11. Dezember 1983 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF). Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1983 / 84. Siegen 1984, S. 257. 183. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Reinhold Zippelius, Rechtsgefühl und Rechtsgewissen, auf der Arbeitstagung „Das sogenannte Rechtsgefühl“ vom 9. – 11. Dezember 1983 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF). Nach einem Diskussionsbericht von Getrude Lübbe-Wolff. In: Lampe, E.-J. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Opladen 1985. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 21 – 22. 184. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Ernst-Joachim Lampe, Rechtsgefühl und juristische Kognition (Karl Engisch zum 85. Geburtstag gewidmet), auf der Arbeitstagung „Das sogenannte Rechtsgefühl“ vom 9. – 11. Dezember 1983 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF). Nach einem Diskussionsbericht von Getrude Lübbe-Wolff. In: Lampe, E.-J. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Opladen 1985. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 134. 185. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Carl F. Graumann, Sinn für Gerechtigkeit in der Masse, auf der Arbeitstagung „Das sogenannte Rechtsgefühl“ vom 9. – 11. Dezember 1983 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF). Nach einem Diskussionsbericht von Carl-Heinz Metz. In: Lampe, E.-J. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Opladen 1985. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 326 – 327. 186. Kommentare von Robert Weimar zu den Diskussionsbeiträgen von Dieter Dölling, Martin Killias, Ernst-Joachim Lampe und Heinz Müller-Dietz zu dem Referat von Robert Weimar, Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis, auf der Arbeitstagung „Das sogenannte Rechtsgefühl“ vom 9. – 11. Dezember 1983 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF). Nach einem Diskussionsbericht von Getrude LübbeWolff. In: Lampe, E.-J. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl. Opladen 1985. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 172 – 173.

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187. Die Rekonstruktion von Rechtsvernunft. In: Arnaud, A.-J. / Hilpinen, R. / Wróblewski, J. (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht. Berlin 1985. RTH Beih. 8 (1985), S. 259 – 266. Im vorliegenden Band, S. 301 – 307. Vortrag auf dem XI. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) „Philosophical Foundations of the Legal and Social Sciences“ vom 14. – 20. August 1983 in Helsinki. Universität Helsinki. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1983 / 84. Siegen 1984, S. 258. Auch in: The 11th World Congress on Philosophy of Law and Social Philosophy – Abstracts of Congress Papers (Ed. Jyrki Uusitalo), Helsinki: Finish Society for Philosophy of Law 1983, S. 347 – 348. 1986 188. Beiträge zur Allgemeinen Rechts- und Staatslehre. Begründet und herausgegeben von Werner Krawietz, Ilmar Tammelo, Robert Weimar und Ota Weinberger. Bd. 1 (1986) ff. 189. Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften – La planification du sol dans le cadre du progrès des sciences – Land Use Planning; Contribution of the different Scientific Disciplines. Herausgegeben von Werner Krawietz und Robert Weimar. Frankfurt am Main – Bern – New York 1986. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 2. 190. Die Erneuerung des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im ökonomisch-ökologischen Zeitalter. In: Krawietz, W. / Weimar, R. (Hrsg.), Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften. Frankfurt am Main – Bern – New York 1986, S. 147 – 162. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 2. Im vorliegenden Band, S. 130 – 140. Vortrag auf dem Internationalen Symposium „Die Ordnung des Bodens im Fortschritt der Wissenschaften“ der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg im Oktober 1982 in Strasbourg. Zusammengefasst als Forschungsprojekt in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1983 / 84. Siegen 1984, S. 258. 191. Wie ist Rechtsprechungslehre als Wissenschaft möglich? In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 155 – 185. Mit Thesen. Im vorliegenden Band, S. 381 – 401. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ vom 19. – 22. September 1984 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 192. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Plenarreferat von Norbert Achterberg, Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 33 f.

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193. Diskussionsbeiträge von Robert Weimar zu dem Vortrag von Norbert Achterberg, Der Standort der Rechtsprechungslehre zwischen Philosophie und Staatsrecht, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 208 – 210. 194. Diskussionsbeiträge von Robert Weimar zu dem Vortrag von Hendrik Philip Visser’t Hooft, Zur praktischen Rationalität in der Rechtsprechungslehre, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 219 f. und 224. 195. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Vortrag von Norbert Hoerster, Der Standort der Rechtsprechungslehre zwischen Philosophie und Staatsrecht, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 208 f. 196. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Vortrag von Robert Walter, Rechtsprechung als Rechtsvollzug und als Rechtsschöpfung, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 511. 197. Kommentare von Robert Weimar zu den Diskussionsbeiträgen Robert Walter, Hendrik Philip Vissert’t Hooft, Alois Troller und Erich Zalten zu dem Vortrag von Robert Weimar, Wie ist Rechtsprechungslehre als Wissenschaft möglich?, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 184 f. 198. Diskussionsbeiträge von Robert Weimar zu dem Vortrag von Valentin Petev, Die spezifische Rationalität der richterlichen Entscheidungstätigkeit, auf dem Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1984. In: Achterberg, N. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1986, S. 583 und 585. 199. Ansätze zu einer Rechtsberatungslehre. In: Voigt, R. (Hrsg.), Law and Legal Science. Das Recht und seine Wissenschaft. New Theoretical Approaches. Neue Zugänge zum Recht. Siegen 1986, S. 123 – 140. 2. unveränd. Aufl. 1989, 3. unveränd. Aufl. 1991. Mobilität und Normenwandel, Bd. 1. 200. Letter an Hans Lenk: Stellungnahme zu dem Problemkreis seines Beitrags „Gibt es ein Recht zukünftiger Generationen“? In: Dialektik 13 (1986), S. 143 – 144. Letter auch in: Lenk, H., Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit. Frankfurt am Main 1998, S. 382 – 384. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1250. 201. Ecology versus Economy in Law. Study of a Basic Problem. In: Eckhoff, T. / Friedman, L. M. / Uusitalo, J. (Hrsg.), Vernunft und Erfahrung im Rechtsdenken der Gegenwart. Berlin 1986. RTH Beih. 10 (1986), S. 415 – 421. Im vorliegenden Band, S. 160 – 165. Vortrag auf dem XI. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) „Philosophical Foundations of the Legal and Social Sciences“ vom 14. – 20. August 1983. Universität Helsinki. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1983 / 84. Siegen 1984, S. 257.

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Auch in: The 11th World Congress on Philosophy of Law and Social Philosophy – Abstracts of Congress Papers (Ed. Jyrki Uusitalo), Helsinki 1983, S. 345 – 346. 202. Rechtstheorie und Gesetzgebung. Festschrift für Robert Weimar. Herausgegeben von Ilmar Tammelo und Erhard Mock. Mit einem Geleitwort der Herausgeber. Frankfurt am Main – Bern – New York, X, 438 S. Beiträge zur Allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 1. 203. Die Stiftung & Co. KG als Rechtsform der Unternehmung (mit Georg Geitzhaus und Udo A. Delp). Wolfgang Hefermehl zum 80. Geburtstag gewidmet. In: BB 1986, S. 1999 – 2010. 204. Rez.: Eike von Hippel, Der Schutz des Schwächeren. Tübingen 1982. VIII, 214 S. In: ZWS 106 (1986), S. 632 – 635. 1987 205. Rechtswissenschaft als Weltbild. In: Krawietz, W. / Ott, W. (Hrsg.), Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart. Festschrift für Alois Troller zum 80. Geburtstag. Berlin 1987, S. 351 – 368. Im vorliegenden Band, S. 343 – 360. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1985 / 86. Siegen 1986, S. 248 – 249. 206. Unpolitische Jurisprudenz? Zum Funktionswandel der juristischen Dogmatik. In: Görlitz, A. / Voigt, R. (Hrsg.), Rechtspolitische Forschungsdesigns. Siegen 1987, S. 22 – 23. HiMoN-DB, Heft 97. Kurzfassung eines Vortrags auf dem Symposium „Rechtspolitische Forschungsdesigns“ des Arbeitskreises „Regulative Politik“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft vom 5. – 7. Oktober 1987. Universität Stuttgart. 207. Eigenkapital und Eigenkapitalersatz im Unternehmen. In: NWB 1987 (Fach 18), S. 2873 – 2878. 208. Regelungsbefugnis des Bilanzrichtlinien-Gesetzgebers für Auslandssachverhalte? In: DB 1987, S. 521 – 525. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1985 / 86. Siegen 1986, S. 246. 209. Die KG & Still – eine stille Gesellschaft? In: DB 1987, S. 1077 – 1082. 210. Die Stiftung & Co. KG in rechtlicher und steuerlicher Sicht (mit Udo A. Delp). In: INF 41 (1987), S. 74 – 77. 211. Die Stiftung & Co. KG – ein dauerhafter Schutz gegen Bilanzeinsicht? (mit Udo A. Delp). In: BB 1987, S. 1707 – 1710. 212. Die GmbH & Co. KG vor den Toren des GmbH-Rechts (I) (mit Georg Geitzhaus). In: DB 1987, S. 2026 – 2032. 213. Die GmbH & Co. KG vor den Toren des GmbH-Rechts (II) (mit Georg Geitzhaus). In: DB 1987, S. 2085 – 2088.

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214. Fiktion. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 1, Gruppe 2: Rechtsphilosophie, hrsg. von Norbert Achterberg. Neuwied – Frankfurt am Main 1987. 2 / 140, S. 1 – 3. 215. Folgenberücksichtigung. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 1, Gruppe 2: Rechtsphilosophie, hrsg. von Norbert Achterberg. Neuwied – Frankfurt am Main 1987. 2 / 150, S. 1 – 3. 216. Imperativ. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 1, Gruppe 2: Rechtsphilosophie, hrsg. von Norbert Achterberg. Neuwied – Frankfurt am Main 1987. 2 / 220, S. 1 – 3. 217. Methode. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 1, Gruppe 2: Rechtsphilosophie, hrsg. von Norbert Achterberg. Neuwied – Frankfurt am Main 1987. 2 / 350, S. 1 – 3. 218. Politische Dimensionen des modernen Rechtsbegriffs. Vervielf. Ms. Siegen 1987. Vortrag auf dem Kongress „Lateinamerika und Europa im Dialog“ vom 28. September – 3. Oktober 1987 in Münster. Kongress der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Verbindung mit dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) und dem Europäischen Rat für Sozialforschung über Lateinamerika (CEISAL). Zusammenfassender Bericht bei Martin Schulte, Verfassung und politische Herrschaftsstruktur in vergleichender Perspektive. In: DVBl. 1988, S. 32 – 35. 1988 219. Zustimmungspflichtige Geschäfte innerhalb der Kommanditgesellschaft. In: MDR 1988, S. 7 – 10. 220. Abschied von der Gesellschafter- und Handelnden-Haftung im GmbH-Recht? In: GmbHR 1988, S. 289 – 299. 221. Rechtsfragen der gesellschaftsintegrierten Stiftung (mit Udo A. Delp). In: NWB 1988 (Fach 18), S. 2909 – 2916. 222. Die typische Betriebsaufspaltung – ein Unterordnungskonzern? In: ZIP 1988, S. 1525 – 1529. 223. Rechts- und Gestaltungsformen zur Vermeidung der Register- bzw. Hauspublizität (mit Michael Reeh). In: DB 1988, S. 1637 – 1643. 224. Bodenordnung als Rechtsbegriff und rechtsdisziplinärer Bereich. Eine wissenschaftstheoretische Problematisierung. In: De Leeuw, A. / Frohberg, G. / Kühne, J. (Hrsg.), Bodenordnung und interdisziplinäre Forschung. Frankfurt am Main – Bern – New York 1988, S. 163 – 178. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 5. Vortrag auf dem Internationalen Symposium „Bodenordnung und interdisziplinäre Forschung“ der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg vom 24. – 25. März 1983 in Strasbourg. Conseil de l’Europe. 225. Eigentumsfreiheit und Umweltplanung im sozialen Rechtsstaat. In: López Calera, N. / Seele, W. (Hrsg.), Politisches System und Bodenordnung. Frankfurt am Main – Bern – New York 1988, S. 247 – 260. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 6.

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Vortrag auf dem von der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg und ihres Alfred Pikalo-Instituts in Kooperation mit der Universität Granada – Departamento de Filosofia del Derecho, Moral y Polityca – vom 29. – 30. September 1983 in Granada veranstalteten Internationalen Symposium „Politisches System und Bodenordnung“. Universität Granada. 226. Rechtsberatungslehre – ein neuer Zweig der Wissenschaft. In: Panou, S. / Bozonis, G. / Georgas, D. / Trappe, P. (Hrsg.), Theory and Systems of Legal Philosophy. XII. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie Athen 1985. Stuttgart 1988. ARSP Supplementa Vol. III (1988), S. 197 – 204. Im vorliegenden Band, S. 343 – 360. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem XII. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) „Theory and Systems of Legal Philosophy“ 1985. Universität Athen. 1989 227. Der Einsatz der eigenen Arbeitskraft im Schadensersatzrecht. In: NJW 1989, S. 3246 – 3249. 228. Die gesellschaftsrechtliche Praxis unter dem Einfluss der neuen handelsrechtlichen Publizitätspflichten (mit Christine Kohl). In: MDR 1989, S. 396 – 401. 229. Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) in rechtlicher und steuerlicher Sicht (mit Udo A. Delp). In: WPg 1989, S. 89 – 99. Auch in: ISI 1990, S. 211 – 226. 230. Rechtsfragen der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung. In: NWB 1989 (Fach 18), S. 3031 – 3038. 231. Juristische Rationalität als politischer Diskurs? Mit einem Exkurs zur Rationalisierung des Verhältnisses von Raumplanung und Wirklichkeit. In: Boukema, H. J. M. / West, H. W. (Hrsg.), Soziale Aspekte der Europäischen Raumordnung. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris 1989, S. 225 – 243. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 9. Im vorliegenden Band, S. 455 – 466. Vortrag auf dem VII. Internationalen Symposium der Europäischen Fakultät für Bodenordnung (Strasbourg) „Social Aspects of European Regional Planning“ im August 1985. Wolfson-College der Universität Cambridge / GB. 232. Natur und Mensch. Zur Ambivalenz rationaler Ressourcensteuerung im Rechtssystem. In: Frohberg, G. / Leidig, G. (Hrsg.), Der Mensch als Maßstab der Raumordnung? Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris 1989, S. 127 – 156. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 10. Im vorliegenden Band, S. 179 – 200. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem VIII. Internationalen Symposium der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg „Man – The Gauge of Spatial / Regional Planning? auf Einladung der Marie-Curie-Sklodowska-Universität Lublin

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Bibliografie Robert Weimar unter Beteiligung der dortigen Juristischen Fakultät und weiterer Fakultäten der Universität Lublin vom 22. – 24. Mai 1986 in Lublin. 1990

233. Einführung und Grundlagen: Teil 1. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Teil 2. Die Aktiengesellschaft. In: Technische Akadamie Wuppertal (Hrsg.), TAW-Osterseminare für Führungskräfte der DDR-Wirtschaft vom 9. – 20. April 1990 in Cottbus zu den Themen „Das GmbH-Gesetz der BRD“ und „Das Aktiengesetz der BRD“. Wuppertal 1990, S. 1 – 11 (GmbH-Recht) und anschließend S. 1 – 11 (AG-Recht). Vorträge am 9. und 10. April 1990 in Cottbus vor Führungskräften der DDR-Wirtschaft. 234. Umwelthaftung der Unternehmen. In: Metall 1990, S. 1206 – 1209. 235. Ökologische Dimensionen in Wirtschaft und Recht. Herausgegeben von Matthys J. M. Bogaerts und Robert Weimar. Frankfurt am Main – New York – Paris 1990. X, 218 S. 236. Avant-Propos (mit Matthys J. M. Bogaerts). In: Bogaerts, J. M. Matthys / Weimar, R. (Hrsg / Ed.), Ökologische Dimensionen in Wirtschaft und Recht. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris 1990, S. V. Auch englisch (S. VI) und deutsch (S. VI f.). Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 11. 237. Treuhandanstalt und Treuhandgesetz. In: RIW 1990, S. 10 – 15. 238. Europäische Gemeinschaft – Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) (mit Udo A. Delp). In: ISI 1990, S. 211 – 226. Auch in: WPg 1989, S. 89 – 99 unter dem Titel „Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) in rechtlicher und steuerlicher Sicht“. 239. Rez.: Jürgen Backhaus, Mitbestimmung im Unternehmen. Eine ökonomische Rechtsanalyse des Verfassungsgerichtsurteils vom 1. März 1979 als Beitrag zur Theorie der wirtschaftlichen Rechtspolitik. Mit einem Vorwort von Gérard Gäfgen. Göttingen 1987, VI, 306 S. In: ZWS 110 (1990), S. 488 – 492. 1991 240. Die Europäische Raumordnungscharta – The European Regional / Spatial Planning Charta – La Charte Européenne de l’Aménagement du Territoire. Herausgegeben von Theo Öhlinger und Robert Weimar. Frankfurt am Main – Bern – New York 1991. VIII, 362 S. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 8. 241. Agrarrecht in Europa. Berichte des XIV. Europäischen Agrarrechtskongresses Salzburg 1987. Herausgegeben von Alfred Pikalo, Robert Weimar und Wolfgang Winkler. Frankfurt am Main – Bern 1991. V, 835 S. Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, Bd. 874.

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242. Haftungsrisiken für die Beteiligten einer GmbH „im Aufbau“. In: GmbHR 1991, S. 507 – 515. 243. Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers bei Umstrukturierung von Treuhandunternehmen? (mit Jochen Alfes). In: NZA 1991, S. 833 – 836. 244. Treuhandanstalt und Konzernrecht (mit Bruno Bartscher). In: ZIP 1991, S. 69 – 79. 245. Die Entflechtung von Treuhandunternehmen. In: ZIP 1991, S. 769 – 777. 246. Einstandspflicht der Treuhandanstalt für Sozialpläne ihrer Beteiligungsunternehmen? (mit Jochen Alfes). In: ZIP 1991, S. 1529 – 1543. 247. Zur aktuellen Rechtslage umgewandelter Kombinate und Kombinatsbetriebe. In: BB 1991, S. 1511 – 1512. 248. International verwendete Strategien der Abwehr feindlicher Übernahmeversuche im Spiegel des deutschen Aktienrechts (mit Jürgen Breuer). In: BB 1991, S. 2309 – 2321. 249. Die Privatisierung der Aktiengesellschaften in den neuen Bundesländern. In: BB-Beilage Supplement Deutsche Einigung – Rechtsentwicklungen 1991, Nr. 3, Folge 18, S. 1 – 11. 250. Betriebsbelegschaften als Investitionshemmnis in den neuen Bundesländern. Arbeitsrechtliche Fragen zum VermG, SpTrUG und THG (mit Jochen Alfes). In: BB-Beilage Supplement Deutsche Einigung – Rechtsentwicklungen 1991, Nr. 9, Folge 21, S. 16 – 24. 251. Die Kapitalgesellschaften „im Aufbau“ in den neuen Bundesländern. In: BB-Beilage Supplement Deutsche Einigung – Rechtsentwicklungen 1991, Nr. 13, Folge 22, S. 12 – 20. 252. Treuhandanstalt und Privatisierung. In: DB 1991, S. 373 – 375. 253. Neuregelung des § 613a BGB für die neuen Bundesländer (mit Jochen Alfes). In: DB 1991, S. 1830 – 1832. 254. Der Vorrang der Investition und seine Grenzen – Zur Prioritätenregelung des Vermögensgesetzes. In: DB 1991, S. 2527 – 2531. 255. Handlungsformen und Handlungsfelder der Treuhandanstalt – öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich? In: DÖV 1991, S. 813 – 823. 256. Probleme der Kreditsicherung an Grund und Boden in den neuen Bundesländern. In: DtZ 1991, S. 50 – 52. 257. Zum Wirkungsbereich der Treuhandanstalt gegenüber ihren Gesellschaften. In: DtZ 1991, S. 105 – 108. 258. Spaltung von Treuhandunternehmen. In: DtZ 1991, S. 182 – 184.

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259. Treuhandanstalt als herrschendes Unternehmen – konzernrechtlicher Haftungsdurchgriff (Anmerkung zu KrG Erfurt, Urt. vom 29. Juli 1991 – 4 Ca 789 / 91). In: EWiR 1991, S. 947 – 948. 260. Avant-Propos (mit Theo Öhlinger). In: Öhlinger, Th. / Weimar, R. (Hrsg.), Die Europäische Raumordnungscharta. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris 1991, S. III. Auch englisch (S. IV) und deutsch (S. IV). Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 8. 261. Europäische Raumordnungscharta – Anspruch und Resonanz. In: Öhlinger, Th. / Weimar, R. (Hrsg.), Die Europäische Raumordnungscharta. Frankfurt am Main – Bern – New York-Paris 1991, S. 343 – 359. Travaux scientifiques de la Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg, Vol. 8. Vortrag zu Strasbourg anlässlich des von der Faculté Européenne des Sciences du Foncier Strasbourg vom 11. – 12. April 1985 in Zusammenarbeit mit dem Europarat veranstalteten Internationalen Symposiums „The European Regional / Spatial Planning Charta“. Conseil de l’Europe.

1992 262. Das Rechtsgespräch. In: Hoppe, W. / Krawietz, W. / Schulte, M. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium Münster 1988. Köln – Berlin – Bonn – München 1992, S. 283 – 302. Im vorliegenden Band, S. 402 – 420. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Zweiten Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 21. – 24. September 1988. Zusammengefasst in: Universität Siegen (Hrsg.), Forschungsbericht 1987 / 88. Siegen 1988, S. 248. 263. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Jan M. Broekman, Philosophische Grundlagen der juristischen Redlichkeit und Argumentation, auf dem Zweiten Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster vom 21. – 24. September 1988. In: Hoppe, W. / Krawietz, W. / Schulte, M. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1992, S. 277. 264. Diskussionsbeitrag von Robert Weimar zu dem Referat von Hans-Martin Pawlowski, Die Autorität des Richterspruchs, auf dem Zweiten Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 21. – 24. September 1988. In: Hoppe, W. / Krawietz, W. / Schulte, M. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1992, S. 451. 265. Kommentare von Robert Weimar zu den Diskussionsbeiträgen von D. Strempel, J. Berkemann, C. Kempe, J. Goydke, B. Müller, A. Neurath, F. Pardon, H. Alwart, J. M. Broekman und P. Bader zu dem Vortrag von Robert Weimar, Das Rechtsgespräch, auf dem Zweiten Internationalen Symposium „Rechtsprechungslehre“ in Münster 1988.

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In: Hoppe, W. / Krawietz, W. / Schulte, M. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Köln – Berlin – Bonn – München 1992, S. 304 ff., 307 f., 313 – 315. 266. Treuhandanstalt und Treuhandunternehmen – qualifizierte faktische Konzernverbindungen? In: ZGR 1992, S. 477 – 498. Auch in: Treuhand-Unternehmen zwischen allgemeinem Recht und Sonderrecht. Mit einer Vorbemerkung von Peter Hommelhoff. Sonderdruck aus ZGR 3 / 92. Vortrag in dem von Peter Hommelhoff geleiteten Arbeitskreis „Innerdeutsches Gesellschafts- und Kartellrecht“ in dessen Sitzung im März 1992 in Bad Blankenburg. Zusammenfassender Bericht bei Oliver Habighorst und Wolfgang Spoerr, Treuhandanstalt und Konzernrecht in der Diskussion. In: ZGR 1992, S. 499 – 512. 267. Grundsatzfragen im Recht der UmwVO-Gesellschaften. In: ZIP 1992, S. 73 – 83. 268. Die Gesamteröffnungsbilanz der Treuhandanstalt (unter Mitarbeit von Angelika Rieger und Volker Latsch). In: ZIP 1992, S. 378 – 386. 269. Nachprivatisierungsprobleme. Rechte und Risiken für die Beteiligten beim Erwerb von Treuhandunternehmen. Köln 1992. XII, 194 S. RWS-Skript, Bd. 239. Erweiterte Fassung der im Rahmen einer Seminarveranstaltung des Verlags Kommunikationsforum RWS unter dem Thema „Nachprivatisierungsprobleme“ am 7. September 1992 in Berlin vorgetragenen und diskutierten Problematik um rechtliche Folgen der Privatisierung (Veranstaltungsleitung: Peter Rawert). 270. Die Haftungsverhältnisse bei der Vor-AG in neuerer Sicht. In: AG 1992, S. 69 – 79. 271. Grundfragen zum Kapitalersatzrecht der Treuhandunternehmen. In: BB 1992, S. 82 – 87. 272. Aktuelle Fragen zur Restitution von Unternehmen in den neuen Bundesländern nach der Unternehmensrückgabeverordnung. In: DB 1992, S. 77 – 80. 273. Der Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Aktuelle Neuerungen für Investition und Restitution (mit Jochen Alfes). In: DB 1992, S. 1075 – 1079. 274. Entscheidungspraxis der Treuhandanstalt zwischen unternehmerischer Freiheit und verwaltungsrechtlichem Ermessen. In: DWiR 1992, S. 493 – 500. Mit Summary und Résumé. 275. Enthaftung der Treuhandanstalt durch Gesetz? (mit Jochen Alfes). In: DB 1992, S. 1225 – 1226 276. Wegfall des Abhängigkeitsberichts bei treuhandeigenen Aktiengesellschaften? In: DB 1992, S. 1969 – 1970. 277. Das Treuhandkreditaufnahmegesetz. In: DtZ 1992, S. 317 – 318.

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278. Die Abtretung von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz (mit Jochen Alfes). In: DNotZ 1992, S. 619 – 641. 279. Haftungsrisiken der Treuhandanstalt als Alleingesellschafterin der Treuhandgesellschaften. In: DStR 1992, S. 718 – 723. 280. Treuhandunternehmen nach der Privatisierung. In: DStR 1992, S. 1514 – 1519. 281. Typische Haftungsrisiken für Geschäftsführer und Führungskräfte der GmbH. Centrale-Seminare am 2. November 1992 in Bonn und am 30. November 1992 in Darmstadt. Köln 1992. V, 74 S. 1993 282. Die wettbewerbsrechtliche Bedeutung internationaler Verhaltensregeln im Weltwirtschaftsrecht. In: RIW 1993, S. 85 – 88. 283. Überwindung der Haftungssperre des § 28a EGAktG? In: DZWir 1993, S. 441 – 449. Mit Summary und Résumé. 284. Haftung bei Investitionsblockaden in den neuen Bundesländern? In: VIZ 1993, S. 476 – 481. 285. Haushaltsrechtliche Instrumente der Treuhandanstalt gegenüber ihren Beteiligungsunternehmen. In: DÖV 1993, S. 2 – 10. 286. Offene Fragen zur Übernahme betrieblicher Sozialeinrichtungen durch Kommunen in den jungen Bundesländern (mit Jochen Alfes). In: DÖV 1993, S. 688 – 696. 287. Haftungsrisiken aus Investitions- und Beschäftigungsgarantien bei privatisierten Unternehmen. In: DStR 1993, S. 63 – 69. 288. Betriebsübernahmen ohne § 613a BGB? (mit Jochen Alfes). In: NZA 1993, S. 155 – 161. 289. Haftung der Treuhandanstalt auch nach dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz? In: VIZ 1993, S. 47 – 50. Überarbeitete Fassung eines Vortrags vor der Deutsch-Deutschen Juristischen Vereinigung e. V. und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig auf der am 19. – 20. November 1992 in Leipzig veranstalteten gemeinsamen Arbeitstagung. Universität Leipzig. 290. Die Treuhandanstalt im Verwaltungsprivatrecht. In: ZIP 1993, S. 1 – 14. 291. Die GmbH & Still im Fortschritt des Gesellschaftsrechts. In: ZIP 1993, S. 1509 – 1524.

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292. Zweifelsfragen zur Verfügungs- und Vertretungsbefugnis der Treuhandanstalt (mit Jochen Alfes). In: BB 1993, S. 378 – 382. 293. Arbeitsrechtliche Grundsatzfragen der Betriebsaufspaltung (mit Jochen Alfes). In: BB 1993, S. 783 – 789. 294. Offene Fragen zu § 3c Vermögensgesetz (mit Erika Simon). In: VIZ 1993, S. 96 – 101. 295. Die Treuhandanstalt zwischen Haftung und Privilegierung. In: BB 1993, S. 1399 – 1403. 296. Was passiert, wenn ein Unternehmensverkauf der Treuhandanstalt nicht die versprochenen Investitionen und Arbeitsplätze bringt? Interview. In: Rechtsreport Nr. 2 / 93, S. 11. Mit Portrait. 297. Rechte von Treuhandunternehmen gegen Stillegung? In: DB 1993, S. 821 – 824. 298. Treuhandgesetz. Kommentar. Stuttgart 1993. XVI, 244 S. Kohlhammer Kommentare. 299. Zur Rückzahlung sog. Altkreditschulden – Zwangskreditierung in der ehemaligen DDR (Anmerkung zu Bezirksgericht Magdeburg, Urt. vom 4. November 1992 – 2 S 36 / 92). In: EWiR 1993, S. 159 – 160. 300. Zur aktuellen Rechtslage umgewandelter Kombinate und Kombinatsbetriebe. In: BB 1991, 1511 f. 301. Weltwirtschaftsrecht. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1993. 17 / 1730, S. 1 – 8. Auch in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1994. W 260, S. 1 – 12. 302. Geschäftsanteil. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1993. 15 / 570, S. 1 – 3. Auch in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1993. S. 1 – 5. 303. Publikumsgesellschaft. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1993. 17 / 1300, S. 1 – 4. Auch in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1993. S. 1 – 6. 304. Stille Gesellschaft. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1993. 17 / 1480, S. 1 – 5. Auch in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1993. S. 1 – 8. 305. Rez.: Ulrich Drobnig, Michael Becker und Oliver Remien, Verschmelzung und Koordinierung von Verbänden. Tübingen 1991. XI, 128 S. In: DtZ 1993, S. 308. 306. Rez.: Albert Bleckmann, Zur verfassungsrechtlichen Sanierungspflicht der Treuhandanstalt. In Zusammenarbeit mit Ingo Erberich. Köln-Berlin-Bonn-München 1992. VIII, 93 S. In: DtZ 1993, S. 274.

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307. Rez.: Peter Hommelhoff (Hrsg.), Treuhandunternehmen im Umbruch. Recht und Wirklichkeit beim Übergang in die Marktwirtschaft. Köln 1991. In: DtZ 1993, S. 84. 1994 308. Umweltrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers. In: GmbHR 1994, S. 82 – 89. 309. Tilgungs- und Verzinsungspflichten bei DDR-Altkreditverbindlichkeiten (Anmerkung zu OLG Dresden, Urt. vom 28. März 1994 – 2 U 1531 / 93). In: EWiR 1994, S. 807 – 808. 310. Umwandlung volkseigener Güter in Kapitalgesellschaften im Aufbau (Anmerkung zu BGH, Urt. vom 6. Juli 1994 – VIII ZR 62 / 93). In: EWiR 1994, S. 1025 – 1026. 311. Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Basis der Rechtsdogmatik und praktischen Vernunft. In: Koch, H.-J. / Neumann, U. (Hrsg.), Praktische Vernunft und Rechtsanwendung. Stuttgart 1994. In: ARSP Beih. 53 (1994), S. 246 – 254. Im vorliegenden Band, S. 236 – 246. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem XV. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) „Praktische Vernunft und Rechtsanwendung“ vom 18. – 24. August 1991. Universität Göttingen. 312. Boykott. In: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1994. B 920, S. 1 – 6. Auch in: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1995. 17 / 320, S. 1 – 4, Ferner in: Lexikon des Rechts. Wettbewerbsrecht (UWG / GWB) und gewerblicher Rechtsschutz, hrsg. von HermannJosef Bunte. Neuwied – Kriftel – Frankfurt am Main 1997. S. 36 – 39. 313. Wirtschaftsrecht – Begriff und Gegenstand. In: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1994. W 700, S. 1 – 10. Auch in: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1995. 17 / 1830, S. 1 – 6. Ferner in: Lexikon des Rechts. Wettbewerbsrecht (UWG / GWB) und gewerblicher Rechtsschutz, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Kriftel – Frankfurt am Main 1997. S. 410 – 415. 1995 314. Keine analoge Anwendung des § 11 Abs. 2 TreuhG auf Altkapitalgesellschaften (Anmerkung zu BVerwG, Beschl. vom 10. August 1994 – 7 B 49.94). In: EWiR 1995, S. 187 – 188. 315. Versicherungsaufsicht. In: Ergänzbares Lexikon des Rechts (LdR). Bd. 5, Gruppe 17: Wirtschaftsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied – Frankfurt am Main 1995. 17 / 1620, S. 1 – 4. Auch in: Lexikon des Rechts. Versicherungsrecht, hrsg. von Hermann-Josef Bunte. Neuwied-Kriftel-Frankfurt am Main 1998, S. 213 – 216. Ferner in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), hrsg. von Hermann-Josef Bunte und Rolf Stober. Neuwied 1998. V 520, S. 1 – 6.

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316. Neues Umwandlungsrecht. Flexibilisierung von Unternehmensstrukturen. Mit einem Vorwort von Diethelm Schmidt. Wiesbaden 1995. 46 S. Erweiterte Fassung eines Vortrags vor dem Betriebswirtschaftlichen Ausschuss des Bundesverbandes Druck in Frankfurt am Main am 21. März 1995. 317. Kapitalsicherung bei der GmbH. In: b&b 1995, S. 7 – 10. Mit einem Portrait. 318. Psyche – Recht – Gesellschaft. Widmungsschrift für Manfred Rehbinder. Herausgegeben von Raimund Jakob, Martin Usteri und Robert Weimar. Bern – München 1995. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 1. 319. Vorwort (mit Raimund Jakob und Martin Usteri). In: Jakob, R. / Usteri, M. / Weimar, R. (Hrsg.), Psyche – Recht – Gesellschaft. Widmungsschrift für Manfred Rehbinder. Bern – München 1995, S. 7 – 8. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 1. 320. Psychologische Dimensionen juristischen Subsumierens. In: Jakob, R. / Usteri, M. / Weimar, R. (Hrsg.), Psyche – Recht – Gesellschaft. Widmungsschrift für Manfred Rehbinder. Bern – München 1995, S. 169 – 183. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 1. Im vorliegenden Band, S. 526 –538. 321. Vorwort. In: Leidig, G., Chaosforschung und Umweltschutz. Basel 1995, S. 2. Social Strategies, Vol. 4. 1996 322. Schriften zur Rechtspsychologie (SRP). Begründet und herausgegeben im Auftrag des Europäischen Instituts für Rechtspsychologie von Raimund Jakob, Manfred Rehbinder, Martin Usteri und Robert Weimar. Bd. 1 (1995) ff. 323. Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. Mit einem Geleitwort von Martin Usteri, Manfred Rehbinder und Raimund Jakob. Bern 1996. XVI, 226 S. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 2. 324. Geleitwort. In: Schneider, J., Die Aktiengesellschaft im schweizerischen Recht. Ein Überblick unter Berücksichtigung der steuerrechtlichen Grundlagen. Frankfurt am Main – Bern – New York – Paris – Wien 1996, S. V. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung, Bd. 17. 325. Voraussetzungen und Merkmale der Insolvenz einer GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1996, S. 185 – 191. 326. Haftungsrisiken des GmbH-Geschäftsführers (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1996, S. 263 – 271. 327. Der Beirat in der GmbH. Voraussetzungen, Einrichtung, Einsatzmöglichkeiten (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 1996, S. 500 – 503. 328. Kapitalersatz in der Insolvenz der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1996, S. 341 – 346. Mit drei Abb. 329. Rechtliche Möglichkeiten einer Sanierung der notleidenden GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1996, S. 410 – 416.

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330. Grundprobleme und offene Fragen um den faktischen GmbH-Geschäftsführer (I). In: GmbHR 1997, S. 473 – 480. 331. Grundprobleme und offene Fragen um den faktischen GmbH-Geschäftsführer (II). In: GmbHR 1997, S. 538 – 543. 332. Ausgleichsansprüche bei Auflösung nichtehelicher Lebensgemeinschaft? In: MDR 1997, S. 713 – 717. 333. Einmann-Personengesellschaften – ein neuer Typ des Gesellschaftsrechts? In: ZIP 1997, S. 1769 – 1778. 334. Entwicklungen im Recht der werdenden Aktiengesellschaft. In: DStR 1997, S. 1170 – 1174. 335. Haftung und Verlustbeteiligung des Kommanditisten. In: DStR 1997, S. 1730 – 1734. 336. Ausgleichsansprüche wegen verfassungswidriger Vermögensteuer? (mit Klaus-Peter Grote). In: MDR 1997, S. 994 – 999. 337. Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung im Gründungsstadium (unter Mitwirkung von Klaus-Peter Grote). In: DZWir 1997, S. 441 – 447. Mit Summary und Résumé. 338. Flexibilisierungsstrategien: Chancen und Risiken bei der Umwandlung von Unternehmen. In: Schmidt, D. / Rottland, L. / Leidig, G. (Hrsg.), Unternehmensstrukturen erfolgreich gestalten. Wiesbaden 1997, S. 21 – 36. Mit acht Abb. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf der XXII. Woche der Druckindustrie – Fachtagung des Bundesverbandes Druck und seiner Landesverbände – im Congress Centrum Hamburg am 22. – 24. Oktober 1996. 339. Die Haftung des Erwerbers bei Firmenfortführung (mit Klaus-Peter Grote). In: NWB 1997 (Fach 18), S. 3511 – 3516. 340. Eine GmbH wird liquidiert (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1997, S. 107 – 113. 341. Grundlagen und neuere Entwicklung des Konzernrechts (mit Klaus-Peter Grote). In: NWB 1997 (Fach 18), S. 3549 – 3558. 342. Rechtsfragen um den Consultingvertrag (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 1997, S. 311 – 313. 343. Grundfragen der Europäischen wirtschaftlichen Interessengemeinschaft (mit KlausPeter Grote). In: NWB 1997 (Fach 18), S. 3533 – 3542. 344. Rechtsaudit im Unternehmen. Perspektiven und Chancen eines innovativen Consultingbereichs (mit Klaus-Peter Grote). In: WiB 1997, S. 841 – 847. 345. Mehrfachbeteiligung in der Personengesellschaft (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 1997, S. 527 – 532.

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1998 346. Einberufung der Hauptversammlung durch unterbesetzten Vorstand (Anmerkung zu LG Münster, Urt. vom 3. Dezember 1997 – 21 O 161 / 97). In: EWiR 1998, S. 387 – 388. 347. Grundfragen der anwaltlichen Rechtsberatung. In: MDR 1998, S. 1008 – 1017. MDR-Beitrag zum 62. Deutschen Juristentag vom 22. – 25. September 1998 in Bremen. 348. Insolvenzlexikon der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: b&b 1998, S. 9 – 16. 349. Vertragsgestaltung internationaler Transfers von Managementleistungen (mit KlausPeter Grote). In: RIW 1998, S. 267 – 274. 350. Outsourcing – Probleme der Vertragsgestaltung und -durchführung (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 1998, S. 179 – 184. Mit einer Abb. 351. Krisenmanagement in der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). Wiesbaden 1998. III, 191 S.

1999 352. Subunternehmervertrag – Outsourcingvertrag. Heidelberg 1999. 46 S. 2. neu bearb. Aufl. 2003, 48 S. Heidelberger Musterverträge, Heft 92. 353. Neue Grundsatzfragen um Scheinselbständigkeit und arbeitnehmerähnliche Selbständige (mit Dietrich Goebel). In: ZIP 1999, S. 217 – 226. 354. Schutz für Künstler. In: atelier 102 (1999), S. 17 – 19. 355. Die neue Arbeitnehmerähnlichkeit – ein Sozialschutz wider Willen? (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 1999, S. 208 – 214. 356. Anwaltliche Gestaltung von Subunternehmer- und Outsourcingverträgen. In: MDR 1999, S. 645 – 649. 357. Keine Parteifähigkeit einer nach der UmwVO entstandenen Einmann-Vor-GmbH im Liquidationsverfahren (Anmerkung zu BGH, Urt. vom 25. Januar 1999 – II ZR 383 / 96, ZIP 1999, 489). In: EWiR 1999, S. 429 – 430. 358. „Wer eine GmbH gründet, gilt nicht als scheinselbstständig“. Interview (mit Joachim Jahn, der die Fragen stellte). Mit einem Portrait. In: Handelsblatt vom 16. August 1999, S. 47. 359. Zur Heilung einer gescheiterten Vermögensübertragung nach § 12 SpTrUG (Anmerkung zu BGH, Urt. vom 27. Mai 1999 – VII ZR 245 / 97, EWiR 1999, S. 811). In: EWiR 1999, S. 811 – 812.

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Bibliografie Robert Weimar 2000

360. Reziprozität im Umweltrecht als rechtspsychologisches Phänomen. In: Jakob, R. / Fikentscher, W. (Hrsg.), Korruption, Reziprozität und Recht. Grundlagenwissenschaftliche und rechtsdogmatische Forschungsbeiträge. Bern 2000, S. 99 – 109. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 4. Im vorliegenden Band, S. 552 – 561. Dem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den Robert Weimar im Frühjahr 1998 auf dem Symposium „Reziprozität und Korruption“ im Europäischen Institut für Rechtspsychologie (Zürich) gehalten hat. 361. Neuroscience Before the Gates of Jurisprudence. In: Usteri, M. / Fikentscher, W. / Wickler, W. (Hrsg.), Gene, Kultur und Recht. Festschrift für Robert Bossard. Bern 2000, S. 39 – 51. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 5. Im vorliegenden Band, S. 602 – 614. 362. Juristische Operationsfelder und Interdisziplinarität bei Robert Weimar. Bibliographische Streifzüge zu seinem 65. Geburtstag. Festschrift. Herausgegeben von Michael W. Fischer, Hans Lenk und Paul Trappe. Frankfurt am Main – Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Wien 2000. VIII, 331 S. 363. Ärztliche Praxisnetze – Anwaltliche Gestaltung des Gesellschaftsvertrages. In: MDR 2000, S. 866 – 869. 364. Die Leistungsbeziehungen des Personenunternehmers zu seinem Betrieb nach dem geplanten Steuersenkungsgesetz (mit Udo A. Delp). In: INF 2000, S. 225 – 229. 365. Verfassungsmäßigkeit von Disziplinarausschüssen bei Kassenärztlichen Vereinigungen? In: ZfS 2000, S. 257 – 261. 366. Die kleine Aktiengesellschaft im Gründungsstadium (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2000, S. 305 – 310. 367. Die Umwandlung einer GmbH in eine kleine Aktiengesellschaft (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2000, S. 497 – 499. 2001 368. Schriften zur Humanitäts- und Glücksforschung. Herausgegeben von Hans Lenk und Robert Weimar Bd. 1 (2001) ff. 369. Jurisprudenz als Weltbild. In: diagonal 2001 (Heft 2), S. 147 – 153. 370. Risiken bei Konkurrenzverboten in Unternehmens- und Beteiligungskaufverträgen. In: DB 2001, S. 1477 – 1481. 371. Wettbewerbsverbot des Kommanditisten in der GmbH & Co. KG (mit Klaus-Peter Grote). In: BuW 2001, S. 26 – 28.

Bibliografie Robert Weimar

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372. Die Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In: NWB 2001 (Fach 18), S. 3805 – 3810. 373. Verjährungsunterbrechung durch „demnächstige“ Zustellung des Mahnbescheides. In: Rpfleger 2001, S. 521 – 526. 374. Editorial. In: Hartmann, F., Das methodologische Denken bei Karl Larenz. Eine Analyse und Kritik. Frankfurt am Main-Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Oxford – Wien 2001, S. V – VII. Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung, Bd. 21. 2002 375. Problem Solving in Organisations. In: Leidig, G. / Mayer, Th. (Hrsg.), Betriebswirtschaft und Mediengesellschaft im Wandel. Festschrift für Diethelm Schmidt und Lorenz Rottland. Wiesbaden 2002, S. 239 – 252. 376. Evolution, Kultur und Rechtssystem. Beiträge zur New Political Ecology (mit Guido Leidig). Frankfurt am Main – Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Oxford – Wien 2000, X, 146 S. Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd. 82. 377. Predominant Ecological Conditions as the Basis of Human Happiness. In: Rehbinder, M. / Usteri, M. (Hrsg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik. Bern 2002, S. 49 – 61. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 6. Im vorliegenden Band, S. 539 – 551. Überarbeitete Version eines Vortrags auf dem Zürcher Symposium „Glück als Ziel der Rechtspolitik“ des Europäischen Instituts für Rechtspsychologie am 11. – 13. Mai 2001. 378. Bußgeldregelung des § 17 Absatz 4 OWiG verfassungswidrig? In: BuW 2002, S. 742 – 743. 379. Haftung bei Missbrauch von Insiderwissen durch Unternehmensberater (mit KlausPeter Grote). In: INF 2002, S. 657 – 661. 380. Grundfragen des Rechts der Aktiengesellschaft (mit Klaus-Peter Grote). In: NWB 2002 (Fach 18) S. 3919 – 3930. 2003 381. Kreativität: Psychischer Prozess und Merkmal geistigen Schaffens. In: Rehbinder, M. (Hrsg.), Die psychologische Dimension des Urheberrechts. Bern 2003, S. 63 – 76. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 7. Auch in: Rehbinder, M. (Hrsg.), Die psychologische Dimension des Urheberrechts. Baden-Baden 2003, S. 63 – 76. UFITA-Schriftenreihe, Bd. 211. Im vorliegenden Band, S. 562 – 574. Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem gemeinsamen Workshop des Münchner Instituts für Urheber- und Medienrecht und des Europäischen Instituts für Rechtspsychologie (Zürich) am 7. März 2003 im Literaturhaus zu München.

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Bibliografie Robert Weimar

382. „Menschenzüchtung“? Psychologische und anthropologische Aspekte. In: MancinoCremer, L. / Borchmeyer, D. (Hrsg.), Homunculus. Der Mensch aus der Phiole. Symposium der Goethe-Gesellschaft zu Heidelberg. Neckargemünd – Wien 2003, S. 199 – 221. Reihe „Gegensatz“, Bd. 6. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem interdisziplinären Homunculus-Symposium der Goethe-Gesellschaft zu Heidelberg in Verbindung mit der Literarischen Gesellschaft Palais Boisserée und dem Kulturamt der Stadt Heidelberg vom 1. – 3. Februar 2002. Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 383. Rechtsfragen zur GbR als Holding (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2003, S. 233 – 238. 384. Grundsatzfragen der Kostenregelung im arbeitsgerichtlichen Vergleich. In: NZA 2003, S. 540 – 543. 385. Kündigung des GmbH-Geschäftsführers aus wichtigem Grund (mit Klaus-Peter Grote). In: BuW 2003, S. 508 – 514. 386. Kostenbelehrungspflicht des Prozessvertreters beim arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren. In: AuR 2003, S. 172 – 173. 387. Höhe der Gebühr nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO (Anmerkung zu der Entscheidung des BAG vom 4. 2. 2003 – 2 AZB 17 / 02 = AuR 2003, S. 432 – 433). In: AuR 2003, S. 433. 388. Die Umwandlung in eine GmbH als Weg aus der persönlichen Haftung (mit KlausPeter Grote). In: INF 2003, S. 913 – 918. 389. Grundfragen des Rechts der GmbH & Co. KG (mit Klaus-Peter Grote). In: NWB 2003 (Fach 18), S. 4023 – 4032. 2004 390. Offene Fragen zum Kostenersatz des Arztes für die Einbehaltung der „Praxisgebühr“ (mit Bernd Roland Elsner). In: GesR 2004, S. 120 – 124. 391. Typische Fehler bei der Gesellschafterversammlung der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2004, S. 232 – 234. 2005 392. Entstehung und Dimensionen des Schöpferischen – Modellvorstellungen kreativen Handelns. In: Abel, G. (Hrsg.), Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin 2005. Bd. 1, S. 981 – 990. Erweiterte Fassung eines auf dem XX. Deutschen Kongress für Philosophie in Berlin gehaltenen Kongressreferats. Technische Universität Berlin. 393. Zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft – Aspekte einer Wende? In: Dürr, R. / Gebauer, G. / Maring, M. / Schütt, H.-P. (Hrsg.), Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk. Münster 2005, S. 171 – 181. Im vorliegenden Band, S. 615 – 625.

Bibliografie Robert Weimar

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394. Demotivation: Bewältigung arbeitsinduzierter Belastungen. In: Rehbinder, M. (Hrsg.), Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung. Mit 6 Abb. und 11 Tab. Bern 2005, S. 89 – 127. Schriften zur Rechtspsychologie, Bd. 8. Erweiterte Version einer Präsentation im Rahmen der Tagung „Psychologische Aspekte im Recht der Personalführung“ des Europäischen Instituts für Rechtspsychologie im Herbst 2004. Graduate School of Business Administration (GSBA), Zürich. 395. Ausschluss des Gesellschafters und Geschäftsführers bei der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2005, S. 271 – 275. 2006 396. Recht & Psychologie. Gelebtes Recht als Objekt qualitativer und quantitativer Betrachtung. Herausgegeben von Raimund Jakob, Martin Usteri und Robert Weimar. Bern 2006, 406 S. 397. Verfassungsrechtliche Reflexion zum geplanten JStG 2007 (mit Udo A. Delp). In: steuer-journal.de 2006 (Heft 19), S. 23 – 25. 398. Rechtsfragen zu Prokura und Generalvollmacht (mit Klaus-Peter Grote). In: INF 2006, S. 872 – 877. 399. Determinismusstreit heute und die Methodologie der juristischen Entscheidung. In: Jakob, R. / Usteri, M. / Weimar, R. (Hrsg.), Recht und Psychologie. Gelebtes Recht als Objekt qualitativer und quantitativer Betrachtung. Bern 2006, S. 277 – 296. Im vorliegenden Band, S. 626 – 638. 400. Die Schutzgebühr im Steuerrecht (mit Udo A. Delp). In: INF 2006, S. 544 – 546. 401. Änderungen im Gesellschafterbestand der Personengesellschaft (mit Klaus-Peter Grote). In: NWB 2006 (Fach 18), S. 4355 – 4370. 402. Aktuelle Rechtsfragen um die Schutzgebühr (mit Klaus-Peter Grote). In: DB 2006, S. 600 – 603. 2007 403. Überregulierung in der Gesetzgebung. In: Schreckenberger, W. (Hrsg.), Recht, Staat und kulturelle Entwicklung, Speyer 2007, S. 59 – 78. Mit 6 Tab. Im vorliegenden Band, S. 482 – 497. Erweiterte Fassung eines hochschulöffentlichen Vortrags an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften (DHV) am 11. Mai 2006. 404. Lokführer-Streik: Entschädigung? Nur wenn das Gemeinwohl erheblich leidet. In: WR vom 6. August 2007 (Nr. 180, RSI S. 1). 405. Gemeinwohl als Gradmesser. Zum haftungsrechtlichen Fragenkreis bei rechtswidrigen Lokführerstreiks. In: SZ vom 7. August 2007, S. 15. 406. Weisungsrechte der Gesellschafter gegenüber dem Geschäftsführer der GmbH (mit Klaus-Peter Grote). In: SteuerConsulting 9 / 2007, S. 36 – 41. Mit Portrait und Kurzvita.

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Bibliografie Robert Weimar 2008

407. Neurojurisprudenz. Einführung in die Neue Rechtswissenschaft und Praxis des Rechts. Frankfurt am Main – Berlin – Bruxelles – New York – Oxford – Wien (in preparation). Schriften zur Neurojurisprudenz, Bd. 1. 408. Erwägen im richterlichen Entscheidungsprozess (mit Claudia Venske). In: Jüttemann, G. (Hrsg.), Suchprozesse der Seele. Die Psychologie des Erwägens. Göttingen 2008, S. 187 – 200. 409. Konflikt und Entscheidung. Psychologische Theorien und Konzepte auf dem Prüfstand. Frankfurt am Main – Berlin – Bruxelles – New York – Oxford – Wien 2008 (in press). 410. Bürgerliches Recht (mit Peter Schimikowski und Andrea Tietze). UTB, 5., neu bearb. Aufl. Stuttgart (in preparation). 411. Subunternehmervertrag – Outsourcingvertrag. 3. überarb. Aufl. Frankfurt am Main. Heidelberger Musterverträge, Heft 92. 412. Steuerrechtliche Abziehbarkeit von Berufsbildungskosten. In: ZSteu 2008 (in preparation). 413. Umrisse eines Qualitätsentwicklungs-Modells der juristischen Entscheidung. In diesem Band, S. 88 – 103. 414. Europarechtsbasierte Auslegungsrhythmen. In diesem Band, S. 247 – 261. 415. Integrations- und angleichungsorientierte Interpretationskonzepte im Europäischen Privatrecht. In diesem Band, S. 262 – 278. 416. Staatsakt und Unrecht bei Hans Kelsen. In diesem Band, S. 308 – 342. 417. Verwaltungsentscheider – die „neuen“ Rechtsmacher: Strukturierung des Normbereichs durch agency-made law. In diesem Band, S. 421 – 454 418. Psychology meets Legal Theory. Aspekte wechselseitiger Neuorientierungschancen. In diesem Band, S. 575 – 581. 419. Interdisziplinarität: Was darf die Rechtswissenschaft wissen? In diesem Band, S. 639 – 655. 420. Methodik rechtsinterdisziplinärer Kooperation. In diesem Band, S. 656 – 680.

Autorenverzeichnis Aarnio, A. 34, 36, 40, 43 – 45, 47, 48 Abele, A. 550 Acham, K. 663 Achterberg, N. 40, 381, 383 – 386, 388, 392, 476 Ackoff, R. L. 676 Adomeit, K. 503 Albert, H. 35 – 38, 40, 41, 46, 52, 56, 58, 59, 61, 65, 66, 72, 83, 87, 91, 97, 125 – 128, 175, 287, 307, 350, 379, 431, 658, 659 Alexy, R. 34, 39, 43 – 49, 245, 304 Amabile, T. M. 572, 573 Amelang, M. 563, 565 – 568, 570 – 573 Amsterdam, A. G. 543, 550 Apel, K.-O. 394, 658, 663 Argyle, M. 549, 550 Arndt, A. 402 Ashby, W. R. 676 Assmann, H.-D. 153 Bachof, O. 224, 325, 421 Badura, P. 324, 328 Barron, F. 563, 573 Barth, R. 102 Bartussek, D. 563, 565 – 570, 571 – 573 Baumgärtel, G. 406, 501 Baur, F. 413 Bechtler, Th. W. 101, 448, 449 Beck, D. 576, 581 Beck, U. 33 Becker, H. 134 Becker, P. 550 Beer, S. 677 Behrens, P. 141, 161 Bellebaum, A. 539, 540, 543, 550 Bender, R. 416 Bergbohm, K. 298 Bernal, J. D. 397 Bernhardt, R. 254 Berns, S. 543, 550

Bertalanffy, L. v. 676, 677, 680 Bettermann, K. A. 203 Betti, E. 438 Beyer, W. R. 48 Bieber, R. 274 Bihler, M. 367, 514, 517 Binder, J. 512 Blankenburg, E. 501 Bleckmann, A. 249, 260, 263, 273 Bloch, M. 580, 581 Bobis-Seidenschwanz, A. 555, 561 Böhlk, H. J. 89, 429, 437, 441 – 443 Böhme, G. 656, 660, 661, 662 Bohne, E. 195 Böhret, C. 441, 493, 569, 573 Bökemann, D. 477 Boukema, H. J. M. 161 Boulding, K. 676 Bradburn, N. 549, 550 Brand, E. 540,550 Brechmann, W. 251 Brohm, W. 105, 106, 108, 112 Brüggemann, J. 228 Bruner, J. 543, 550 Brusiin, O. 433 Buchwald, D. 102 Bull, H. P. 188 Bull, R. 581 Büllesbach, A. 100, 101 Bunge, M. 667 Burghart, A. 483 Buxbaum, R. M. 270 Bydlinski, F. 24, 498, 637, 638 Calabresi, G. 145, 146, 151 – 153, 155, 172 Calvin, W. H. 547, 550 Canaris, C.-W. 434, 435, 567 Cardozo, B. 363 Carnap, R. 178, 679 Cerletti, A. 639

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Autorenverzeichnis

Christensen, R. 421, 423 Clemens, Ch. 95, 98 Coase, R. H. 142 – 145, 149, 156, 161 Coing, H. 207, 323, 324, 433, 438 Cramer, F. 598 – 600 Cranach, M. v. 639, 640, 650, 669 Csikszentmihalyi, M. 548, 551 Daele, W. van den 656, 660 – 662 Dales, J. H. 471 Damasio, A. R. 577, 581, 613, 621, 624 Deimling, G. 517 Deneke, F.-W. 609, 610, 613 Dettenborn, H. 581 Dewey, J. 438 Diemer, A. 34 Di Fabio, U. 553 – 555, 561 Dilthey, W. 394, 662 Doehring, K. 402 Döhring, E. 93, 233, 402, 430, 431, 442, 444 Dölle, H. 272 Draht, M. 448 Dreier, R. 22, 24, 26, 44, 47, 51, 53, 54, 56, 64, 69, 121, 345, 590 Drevdahl, J. E. 563, 573 Dubischar, R. 68, 95 Dubs, H. 515 Dürig, G. 104, 185, 325, 338 Dürr, R. 615, 638 Dux, G. 239, 348, 350, 351 Ebersbach, H. 470 Ebsen, J. 434 Ecker, W. 92 Edelman, G. M. 631, 632, 638 Edwards, W. 578, 581 Ehmke, H. 208 Ehrenstein, W. 509 Ehrlich, E. 449, 451 Eichenberger, K. 203, 596 Eimer, M. 619, 624 Ellscheid, G. 69, 80, 91, 281, 282, 289, 297, 299 Ellul, J. 459, 587 Emge, C. A. 324, 510 Engel, A. K. 603, 613

Engisch, K. 43, 88, 90, 323, 344, 354 – 357, 363, 366, 372, 373, 411, 532, 537 Erk, S. 629, 638 Esser, J. 95, 99 – 102, 208, 227, 240, 291 – 295, 322, 323, 343, 349, 350, 370, 371, 429 – 431, 439 Essler, W. K. 28, 663 Everling, U. 272 Evers, H.-U. 206, 285, 325, 365

346, 438,

241, 353,

Faber, Ch. 85, 176 Feyerabend, P. K. 131 Fiedler, K. 576, 581, 629, 638 Fischer, M. W. 130, 354 Flassbeck, H. 139 Fleiner, F. 332 Forsthoff, E. 208, 228, 332, 338, 340 Franski, H. 408 Frey, B. 169, 470, 664, 667 – 669 Friedrichs, J. 31 Fröhler, L. 481 Frotscher, W. 106 Fuchs, H. 677 Fuchs, J. 289 Funke, J. 547, 551, 576, 581, 617, 624 Fürstenberg, F. 643, 646 – 648, 650 Gadamer, H.-G. 26, 233, 647, 658 Gardner, H. 580,581 Gatzemeier, M. 41 Gehlen, A. 560, 561 Geiger, Th. 27, 78, 448 Gelzer, K. 479 Germann, O. A. 446 Gershon, M. 635, 638 Gethmann, C. F. 38, 43 Gierke, O. v. 328, 329, 332, 334, 340, 512 Giese, K. J. 497 Gigerenzer, G. 578, 581 Giorgi, R. de 383, 384 Goerlich, H. 228 Gold, P. 603, 613 Goodman, A. 544, 551 Gottwald, P. 407 Graumann, C. F. 510, 519 Grimm, D. 217 Grochla, E. 675, 677, 678

Autorenverzeichnis Groiss, R.-E. 470 Großfeld, B. 270 Groys, B. 562, 573 Grunberg, E. 657 Gruter, M. 497 Guilford, J. P. 565, 573 Gutknecht, B. 481 Habermas, J. 41, 42, 268, 394 Hadorn, E. 641, 642, 644, 645 Haerlin, P. 543, 551 Häfelin, U. 318, 320, 321, 325 – 330, 332, 334 Hafter, E. 336 Hagen, J. J. 378 Haggard, P. 619, 624 Hagner, M. 544, 551 Hahn, B. 413, 415 Hamann, A. 182, 183 Hansmeyer, K.-H. 468, 473 Harenburg, J. 203, 499 Hartkopf, G. 195, 474, 475 Hartmann, N. 322 Hassemer, C. 418, 445 Hassemer, W. 222, 223, 230, 231, 299 Hattenhauer, H. 356 Haverkate, G. 26, 218, 222, 300, 450 Heck, Ph. 223, 368, 527 Heckhausen, H. 619, 624 Heisenberg, W. 659, 660 Hejl, P. 666 Helberg, K. 385 Helfritz, H. 329, 332 – 334, 338, 339, 341 Hell, D. 568, 574 Heller, H. 329, 342 Helmer, O. 394 – 396 Hempel, C. G. 52, 397 – 399 Henckel, W. 416 Henneke, J. 469, 476 – 478 Herberger, M. 58, 110, 386, 387 Herdegen, M. 265 Herdemerten, A. 182 Herlitzius, E. 656 Herzog, R. 185 Heusinger, B. 406 Hillmann, K.-H. 139, 178 Hippel, E. v. 189, 320, 321, 337, 340 Hirsch, E. D. 211, 364, 516

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Hochstrasser, U. 650 Hoerster, N. 285 Höffe, O. 497 Hoffmann-Riem, W. 426, 655 Holzhey, H. 639, 650, 666, 669, 670 Hommelhoff, P. 272 Hoppe, W. 137, 169 Horn, H. 96 – 98, 421, 432, 433 Horn, H. D. 492 Huber, E. R. 185 Husen, P. v. 208 Hülsmann, H. 88, 431 Ihering, R. v. 212, 220, 512, 513 Ipsen, J. 260, 385 Jagusch, H. 402 Jahr, G. 105, 172 Jakob, R. 521, 525, 559 – 561 Jänicke, M. 166, 480 Janich, P. 90 Jantsch, E. 652 Jarass, H. D. 106, 253 Jaspers, K. 286, 345, 585 Jayme, E. 265 – 268 Jellinek, G. 324, 328 – 335, 338, 339 Jellinek, W. J. 337 Jochimsen, R. 642 – 644, 649 – 654 Joerges, Ch. 108 Johnson, D. M. 563, 574 Jonas, H. 197 Jürgensen, H. 471 Kainz, F. 515 Kaiser, G. 169 Kalsbach, W. 501 Kambartel, F. 41 Kant, I. 341, 513 Kasper, F. 103 Kaufmann, A. 69, 80, 95, 283 – 290, 298, 431, 448 Kaupen, W. 208, 501 Keesing, R. 580, 581 Keller, J. 619, 624 Kelsen, H. 21, 117 – 121, 126, 127, 133, 135, 203, 220, 284, 287, 308 – 311, 313 – 324, 326, 331, 333 – 335, 339 – 342, 348, 448, 465

720

Autorenverzeichnis

Kettembeil, E. 51, 417 Kilian, W. 76, 88, 91, 129, 225, 228, 229, 307, 378, 379, 423, 428, 434, 439 – 441, 444, 445, 447 Kimminich, O. 469, 473, 474 Kipp, H. 329 Kirchner, Ch. 107, 143, 158, 172 Kirton, M. J. 571, 574 Kisiel, T. 659 Klages, H. 594 Klein, F. 416, 512 Kleinewefers, H. 663 – 666 Klenner, H. 448 Klima, R. 664 Kloepfer, M. 182, 183, 186, 192 – 194, 539, 551, 559, 561 Klug, I. 431 Knobel, H. 643, 644, 651 Koch, C. 585 Koch, H.-J. 31, 347, 530, 537 Koehler, Ch. 272 Kolb, B. 609, 613 König, E. 38, 40 König, G. 394 Konzendorf, G. 441, 493, 569 Korinek, K. 480, 481, 594 Kosiol, E. 640, 673 – 675 Koslowski, P. 267 Kötz, H. 255, 270 Kraft, V. 72, 73 Kramer, E. A. 434, 435 Krawietz, W. 21, 22, 33, 51, 52, 68, 70, 73, 76, 84, 122, 176, 212, 214, 215, 222, 223, 231, 286, 293, 295, 368, 378, 589 Kreitmayr, W. 402 Krieken, Th. v. 330 Kriele, M. 227, 228, 431, 432 Krings, H. 38, 42 Kris, E. 568, 574 Kröber, G. 37 Krohn, W. 656, 660 – 662 Kromer, M. 421 Krüger, H. 222 Küchenhoff, E. 333 Küchenhoff, G. 333 Kuhl, G. 479 Kuhlmann, W. 34 Kuhn, R. S. 131, 673

Kühne, J. 50, 461, 585, 594, 597 Kunz, H. 21, 564, 574 Künzli, R. 41 Kurzka, W. 482 – 484 Ladeur, K.-H. 221 Lamprecht, R. 208 Larenz, K. 121, 127, 203, 206 – 212, 223, 231, 286, 323 – 325, 330, 421, 430, 431, 435, 438, 527, 567 Laumen, H.-W. 403 – 412, 414, 416, 417, 419 LeDoux, J. E. 621, 624 Leibholz, G. 104 Leidig, G. 193, 484, 487, 567, 569, 574, 598 Leiminger, K. 321 Leinfellner, W. 178, 398 Leipold, H. 141 – 143, 145, 148, 152, 152 Lenk, H. 244, 302, 303, 397, 547, 551, 554, 561, 568, 569, 574, 585, 588, 593, 595, 611 – 614, 620, 622, 624, 646, 647, 652, 654, 656, 670 Lenz, H. 182, 183 Lesgold, A. 567, 574 Libet, B. 618, 619, 624, 630, 638 Linke, D. 539, 551, 600 Llewellyn, K. N. 206 Lohmar, U. 649, 651, 652, 670 Lorenzen, P. 38, 39, 173, 244, 302, 666 – 669 Lubart, R. I. 570, 571, 574 Lübbe, H. 45, 46, 649, 654 Lückert, H. R. 516 Lüder, K. 497 Lüderssen, K. 43, 49, 213 Luhmann, N. 22, 66, 72, 78, 100, 101, 135, 208, 217, 224, 225, 233, 281, 297, 365, 422, 423, 449, 478, 591 Lutter, M. 262, 273 Luyten, N. A. 640 MacKinnon, D. W. 563, 574 Maier, H. 512 Maier-Rigaud, G. 139 Maihofer, W. 203, 289, 290 Makkonen, K. 445 Malanowski, W. 208 Malorny, M. 186

Autorenverzeichnis Mangoldt-Klein, H. v. 325 Manigk, A. 357 Mansel, H.-P. 270 Marcic, R. 206, 234, 284, 285, 289, 290, 432 Marcuse, H. 460, 588 Martindale, C. 568, 574 Marx, W. 41, 43 Matzner, E. 477 Maunz, Th. 104, 105, 325, 338 Maurer, H. 426 Mayer-Maly, D. 33 Mayer-Tasch, P. C. 176, 180 Mayring, Ph. 549, 551 McClelland, D. C. 537 Memon, A. 576, 581 Mendelsohn, G.A. 567, 574 Merkl, A. 118 Mertens, H.-J. 105, 106 Mesarovic´, M. D. 167, 467, 676 Mettenheim, Ch. v. 305 Meyer-Abich, K. M. 167, 196, 467 Michelman, F. J. 151 – 156 Miehsler, H. 479 Millikan, R. G. 550, 551 Mills, E. 471, 475 Mittelstraß, J. 123 Mock, E. 76, 159, 165, 384, 516 Moens, G. 95 Mohammed al-Mussyyar 547, 548 Möhring, Ph. 412 Monissen, H. G. 149 Moore, R. 448 Moser, F. 654 Moser, H. 38, 39, 41, 47 Müller, A. 89 Müller, F. 117, 215 – 218, 227, 228, 357, 423, 428 – 430, 432, 433, 448 – 452, 455, 458, 659, 660 Müller, G. 188, 435 Müller, M. 289 Müller-Schmidt, P. P. 42, 43 Müller-Volbehr, J. 187 Münch, I., v. 182, 187 Murswiek, D. 554, 561 Nagel, E. 52 Nawiasky, H. 330 – 332, 334, 336, 342

721

Neumann, F. 218, 221 Neumann, U. 227 Newcomb, T. M. 553, 561 Newton, I. 672 Nietzsche, F. 516 Nirk, R. 412 Noll, P. 167, 204, 380, 381, 391, 468, 472 – 474, 476, 477, 483, 498, 603 Nowotny, H. 651 – 654 Nußbaum, H. v. 105, 167 Oberndorfer, P. 481 Oelmüller, W. 40, 48, 50 Oeser, E. 657, 658 Öhlinger, Th. 384 Olbricht, J. 544, 551 Oldemeyer, E. 524 Opalek, K. 94 Opp, K. D. 28, 58, 62, 77, 128, 437 Oppenheim, P. 397 – 399 Oppenheimer, J. R. 657 Oppermann, Th. 247, 263, 272 Osterland, R. 656 Ott, W. 285, 292 Papier, H.-J. 482, 483 Pasteur, L. 644 Pawlowski, H.-M. 24 Peczenik, A. 21, 34, 36, 43 – 45, 47, 48 Penrose, R. 607, 614 Perelman, Ch. 45, 93 Pestel, E. 167, 467 Pfaffenbach, B. 142, 145, 148 Piaget, J. 351 Pichler, J. W. 497 Picker, E. 98 Pieper, S. 249 Pikalo, A. 504 Podlech, A. 89, 220, 378, 428, 431, 437, 440, 445, 446 Pöggeler, F. 499 Popper, K. R. 37, 41, 42, 56, 237, 396, 657, 659, 660, 673 Posner, R. A. 143, 144, 145, 147, 161 Priester, J.-M. 68 Prisching, M. 141 – 143, 145 – 148, 153, 156, 157, 161, 164 Probst, U. 176

722

Autorenverzeichnis

Rack, M. 47 Radbruch, G. 286, 320, 324, 325, 332, 500 Radnitzky, G. 672, 674 Rahlf, J. 242 Raisch, P. 107, 113, 141 Raiser, Th. 385 Ramm, T. 227, 426 Rapp, F. 588 Rauland, M. 544, 546, 551 Rauschnig, D. 169 Rawls, J. 497 Rehbinder, E. 473, 477, 503 Rehbinder, M. 514, 517, 560, 561, 564, 574 Rehm, H. 329 – 331, 334 Rein, M. 596 Reinhart, G. 270 Rescher, N. 38, 394 – 396 Rheinstein, M. 254, 255 Richli, P. 496, 549, 551, 637, 638 Rickert, G. 585 Riezler, E. 511 – 515 Rill, H. P. 478 Rinck, J. 104 – 106, 108, 109 Rittner, F. 106, 108, 114, 272 Rochhausen, R. 35 Rödig, J. 95 Rohde, H. S. 595 Ronge, V. 471 Rossmann, H. 530, 537 Rossnagel, A. 553, 561 Roth, G. 612, 614, 627 – 631, 638 Röthel, A. 89, 93, 96, 98, 100 – 102 Rotteck, C. v. 43 Rottleuthner, H. 28, 94, 101, 203, 437 Rubenson, D. L. 570, 574 Runco, M. A. 570, 574 Rupp, H. H. 225, 226, 424, 528, 537 Rüsen, J. 48 Rüßmann, H. 31, 347 Rüthers, B. 94, 208, 297, 421 Sachsse, H. 597 Salis, J. R. v. 664 Sanders, A. F. 534, 537 Sandkühler, H. J. 35, 37 Sandrock, O. 104, 113, 270 Sauer, W. 288 Savigny, C. F. 511

Savigny, E. v. 67, 87, 94, 380, Schaaf, H. 540, 550 Schad, F. 473 – 475, 477, 479, 480 Schäffer, H. 478 Schambeck, H. 433 Schanz, G. 665, 666, 673 Schapp, J. 89, 530, 537 Schefold, Ch. 33, 37, 48, 87 Scheler, M. 74 Schelsky, H. 220, 459, 460, 585, 587, 588, 590, 593 Scherl, H. 501 Scheuner, U. 182 Schick, W. 185 Schild, W. 120, 448 Schimikowski, P. 104, 186, 187, 189, 190, 192 – 194 Schluep, W. 104, 106 Schmidt, E. 413 Schmidt, J. 84, 176 Schmidt, K. 141 Schmidt, R. 106, 107 Schmielewicz, K. 640 Schmutzer, M. E. A. 651 – 654 Schnapp, F. E. 187 Schneider, E. 403 Schockenhoff, E. 628, 638 Schollmeier, A. 249 Schreckenberger, W. 489, 491, 496, 497 Schreiber, A. 129 Schreiner, H. 80, 93 – 95, 173, 367 Schroth, U. 430, 431 Schulze, H. 269 Schumann, C. 502 Schünemann, H. W. 101, 437 Schurig, W. 510, 516 Schütt, H.-P. 638 Schwark, E. 106 Seeliger, G. 499 Seiffert, H. 58, 431 Selltitz, C. 31 Senghaas, D. 585 Shapere, D. 123, 390 Siebert, H. 147 Simma, B. 249 Simon, D. 58, 110, 203, 205 – 207, 387, 437 Simon, H. A. 578, 581 Simon-Schaefer, R. 663

Autorenverzeichnis Singer, W. 612, 614, 620, 625, 626, 631, 638, 655 Sintonen, M. 42 Sinz, R. 511 Sonnemann, U. 203 Spinner, H. 307, 379, 679 Spreer, F. 648, 656, 658, 671, 673, 676 Sprout, H. 467 Sprout, M. 467 Stamer, P. 149, 155 Stammler, R. 210, 289 Starck, Ch. 24, 76 Stegmüller, W. 59, 61, 394 Steiger, H. 180, 181, 183, 184, 191, 196, 197 Stein, E. 187, 188 Stein, M. J. 562, 574 Steinberg, R. 542, 543, 551, 560, 561 Steinmüller, W. 476 Stelzer, M. 384 Sternberg, R. J. 570 – 572, 574 Stober, R. 106 Storm, P.-Ch. 181, 182, 188, 189, 192, 194 Streißler, E. 447 Struck, G. 228 Stüben, E. 380 Sturm, A. 512 Stürner, R. 404, 413 Suhr, D. 372, 379, 532, 537 Svensson, R. 522 Szyperski, N. 640, 673 – 675 Tammelo, I. 53, 70, 95, 159, 165, 286, 287, 300, 303, 365, 368 Taupitz, J. 257 Tebaldeschi, I. 51, 70, 93 Tenbruck, F. H. 343 Teubner, G. 213, 232 Thiel, Ch. 38, 40, 41 Thieme, W. 381 Thom, A. 35 Thomae, H. 520 Thoss, R. 475 Tilmann, W. 105 Todd, P. M. 578, 581 Topitsch, E. 72 Törnebohm, H. 672, 674 Toulmin, S. E. 661

723

Traupel, W. 641, 642, 645 – 647 Troje, H. E. 432 Troller, A. 353 – 356, 385 Tschudi, H. P 188 Tugendhat, E. 667 Ulmann, G. 536, 537 Ulmer, P. 107 Unterseher, L. 89, 229, 429, 437, 441 – 443 Urban, K. K. 568, 574 Utz, A. F. 289 Veenhoven, R. 549, 551 Viehweg, Th. 99, 322, 323, 370, 531 Voigt, R. 141, 169 Vrij, A. 576, 581 Wälde, Th. W. 137, 142, 144, 146 – 152, 154, 156 – 159, 170, 439, 440, 442 Wallas, G. 565, 574 Walter, H. 545, 547, 551, 629, 638 Walter, R. 383 – 385 Wank, R. 410, 418, 435 Warnkönig, L. A. 511 Wassmann, J. 580, 581 Weber, M. 68, 74, 206, 236, 459, 586, 587, 660 Weber, Th. 404, 406 Weber, W. 72 Wegener, W. 85, 176 Weihe, U. 42, 45 Weimar, R. 22, 23, 29, 32, 33, 36, 37, 38, 47 – 51, 54, 55, 57, 67, 76, 90, 92, 95 – 102, 104, 117, 121, 125 – 129, 131, 133, 137, 141, 144, 147 – 150, 157 – 159, 166, 170, 174, 179, 186, 187, 189, 190, 192 – 194, 196, 199, 212, 221, 222, 235, 236, 244, 285, 288, 290, 294, 295, 300, 302, 305, 306, 345, 357, 358, 378, 381, 385, 388, 389, 391, 395, 396, 398, 399, 405, 409, 411, 418, 419, 436, 461, 463, 469, 473 – 475, 477, 479, 480, 514, 520 – 522, 525, 534, 538, 543, 545 – 547, 549, 551, 555, 561, 567, 569, 574, 575, 581, 597, 598, 601, 602, 611, 614 – 616, 621, 622, 625, 632 – 634, 638 Weinberger, Ch. 364

724

Autorenverzeichnis

Weinberger, O. 21, 22, 24, 25, 27, 32, 39, 48, 52, 56, 67, 76, 118, 121, 122, 125 – 127, 177, 204, 223, 228, 236, 245, 288, 290, 294 – 296, 304, 345, 346, 359, 364, 393, 409, 431 Weinert, F. E. 566, 574 Weingast, P. 673 Weinkauff, H. 325 Weisberg, R. W. 565, 566, 574 Weisser, G. 85, 177 Welan, M. 470 Wellmer, A. 35, 38, 39, 47 Welzel, H. 283, 354 Westermann, Ch. 38, 95, 173 Weyrauch, W. O. 344 Whishaw, J. Q. 609, 613 Wickler, W. 608, 614 Wieacker, F. 206, 290, 322 Wiebe, G. 537, 538 Wiebecke, F. 649, 652 Wiedemann, P. 555, 561 Wielinger, G. 224, 422, 431 Wieser, W. 524 Wiethölter, R. 106, 477

Willms, B. 43 Wimmer, N. 136, 137, 168, 170, 469, 476, 478, 480, 481 Wittgenstein, L. 85 Wohlgenannt, R. 67 Wolenski, J. 94 Wolff, Chr. 322 Wolff, H. J. 326, 330, 331, 341 Wright, G. H. v. 21 Wundt, W. 617, 625 Wyduckel, D. 381 Young, J. Z. 612, 614 Zacher, E. 282 Zedalis, R. J. 541, 551 Zeh, W. 491 Zimmerli, W. Ch. 40, 663, 671, 672 Zinn, K. G. 96 Zippelius, R. 206, 363 – 366, 418, 421 Zöllner, W. 102 Zuber, H. 660 Zuleeg, M. 249, 250 Zweigert, K. 255, 376, 522

Sachverzeichnis Agency-made law 10, 421, 435, 447, 449, 452, 453, 492, 567 Auslegung siehe auch Interpretation 27, 31, 32, 67, 89, 92, 98, 99, 129, 138, 194, 208 – 212, 218, 222, 223, 225 – 227, 229 – 231, 247, 249 – 254, 256 – 264, 266, 269, 272 – 274, 277, 282, 290, 297, 299, 357, 363, 365, 366, 382, 385, 409, 418, 324, 424, 426, 434, 436, 438, 445, 450, 452, 453, 456, 457, 461, 521, 525, 527 – 529, 535, 536, 590, 667 – richtlinienkonforme 251, 252, 253, 254 Auslegungsmethoden 107, 214, 252, 256 – 260, 273 – Harmonisierung der 199, 257, 259, 266, 271, 272, 273, 274, 470, 477 – Leitaspekte der 262 – Nebeneinander mehrerer 252, 257 – Rangordnung der 258, 259 Auslegungsrhythmen 9, 247 – europarechtsbasierte 9, 247 – 261 Basiswertproblem 78 Begründungsdenken 125, 350, 351 Bindung 26, 89, 92, 194, 203, 207, 222, 224 – 226, 232, 256, 282, 348, 411, 421 – 424, 426, 427, 434 – 436, 457, 478, 526 – 528, 535, 537, 556 Deduktion 92 – 95, 212, 231, 307, 349, 370, 380, 527, 531, 536 Deduktionsmodell 530 Deduktionszusammenhang 83, 175 Determinismus 626, 632, 633, 637, 664, 665 Drittperson-Perspektive 622, 623 Dynaxität 483 – 485 effet utile 247 – 250 Emotion 544, 547, 573, 576, 577, 581, 613, 617, 620, 624, 628, 629, 631, 638

Empirisierungstendenzen 23 Entscheidung 9 – 11, 13, 14, 22, 26, 29, 32, 35, 36, 38 – 42, 46 – 48, 51, 53, 58, 59, 64, 67, 68, 73, 75 – 78, 81 – 93, 96 – 104, 106, 109, 112,113, 122, 126 – 129, 133, 138, 141, 143 – 146, 149 – 152, 156 – 158, 167, 172 – 177, 187, 194, 195, 197, 198, 203, 204, 206 – 208, 215, 218, 219, 221, 222, 224 – 226, 227, 229, 230 – 235, 244, 248, 254, 257, 259, 260, 264, 269, 277, 282, 286, 290, 291, 293, 297, 299, 302, 322, 351, 353, 357, 359, 363 – 366, 369 – 372, 374 – 376, 377 – 382, 385, 387, 392, 393, 398, 402 – 412, 414, 415, 417, 418, 422 – 428, 430 – 447, 449, 452, 453, 456 – 461, 463, 464, 468, 473, 474, 483, 486, 490, 493, 498 – 500, 504 – 506, 509, 514, 515, 517, 518, 520 – 524, 526 – 530, 532, 535 – 538, 573, 576, 581, 586 – 590, 599, 614 – 618, 622, 623, 625 – 630, 632 – 634, 638, 654, 668, 672 – administrative 99, 101, 575, 576, 577, 599, 611 – Begründung der 101 – juristisch-administrative 88, 92, 99, 101, 422, 423, 425, 426, 428, 434, 440, 441, 443 – 445, 447 – 449, 454 – legislative 599 – Qualitätsentwicklungs-Modell 9, 88 – 103 – richterliche 363 – 380, 575, 576, 577, 599, 611 – Richtigkeit der 48, 88, 90, 92, 97, 100, 101, 222, 223, 363, 375, 407, 408, 434, 461, 521 – Ungewissheit der 82, 88, 91, 156, 198, 304, 346, 363, – Wertungsrationalität der 306, 378 Entscheidungsfindung 93, 158, 205, 212, 368, 373, 411, 412, 428, 429, 431 – legislative 489

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Sachverzeichnis

Entscheidungsfreiheit 433, 499, 572, 618, 637 – juristisch-administrative 433 Entscheidungsprozess 35, 43, 58, 62, 76, 90, 92, 95, 98, 101, 132, 143, 205, 226, 369 Entscheidungstheorie 22, 26, 49, 367, 372, 380, 438, 578 Epiphänomen 631, 632 Erkenntnisinteresse 9, 38, 50, 54, 115, 117, 120, 130, 135, 136, 179, 204, 236, 241, 384, 388, 400, 453, 455, 561, 660, 674 – Erneuerung des 4, 50, 130, 135, 179 Erkenntniskritik 33 Erstperson-Perspektive 621 – 623, 626, 636 Europäisierung des Privatrechts 256, 266 Falsifikation 29, 43, 66, 243 – normative 34, 37, 242 Falsifikationskriterium 66 Fiscal authority-made law 421, 452 Folgenverantwortung 213, 232, 282, 297, 423, 425, 441, 528 – administrative 425 – richterliche 425 Geltungsprüfung 23, 24, 28 – 30 Gesetz 9, 10, 12, 14, 16, 17, 22 – 24, 26, 27, 30 – 32, 35, 46, 55, 59, 89, 92, 93, 97, 99, 102, 105, 106, 128, 143, 188, 189, 194, 195, 201, 203, 204 – 207, 209 – 213, 218, 220 – 227, 229 – 235, 242, 245, 251, 253, 270, 275, 281, 282, 284, 285, 287, 289, 291, 292, 295, 297 – 300, 305, 306, 336, 338, 348, 349, 352, 357, 363 – 366, 369, 371, 376, 378, 385, 405, 409, 410, 417, 418, 421 – 424, 426, 427, 430, 431, 433 – 436, 439, 442, 443, 446 – 448, 453, 456 – 458, 461, 463, 464, 466, 473, 476, 478, 480, 482 – 485, 487, 491, 492, 504, 521, 522, 526 – 529, 531, 532, 535 – 537, 556, 561, 589, 590, 615, 622, 627, 628, 637, 657, 659, 666, 671 – Bedeutungswandel des 9, 49, 51, 117, 119, 203, 206 – 212, 214, 216, 220, 221, 232, 294, 385, 409, 492, 522 – Gesetzesanwendung und Rechtsfortschreibung 9, 221 – 235, 385, 411, 463

– Richtigkeit des 89, 436 – Umgang mit dem 9, 22 – 24, 32, 201, 410, 453, 456- 458, 461, 502, 504, 526, 615 Gesetzgebung 10, 27, 32, 57, 62, 77, 82, 138, 144, 158, 166, 167, 171 – 174, 179, 181, 191, 193 – 197, 209, 274, 275, 281, 282, 290, 295, 299, 300, 306, 354, 371, 381, 382, 385, 409, 413, 421, 432, 453, 456, 458, 465, 468, 473, 474, 476, 478, 480, 482, 484, 485, 487, 489 – 492, 496, 497, 505, 561, 593 – Optimierung der 487 – Überregulierung 10, 482 – 497 Gründe – Vernünftigkeit der 38, 102 Handlungsalternativen 40, 49, 82, 141, 173 Handlungsorientierung 38, 41, 48, 50 Ideologiekritik 71, 203, 461 – 463, 590, 592, 658 implied powers 254 Informationssuche 88, 578 Informationsverarbeitung 290, 306, 380, 537, 576, 578, 579, 628, 629 Innovationsinteresse 212, 217, 220, 466 – als Diskurs über den Gesellschaftstyp 217, 220, 465 – richterliches 217 Interdisziplinarität 11, 139, 497, 550, 639, 642, 644 – 647, 650, 656, 666, 670, 673 – interdisziplinäre Kooperation 120, 642, 645, 647, 652, 654 – rechtsinterdisziplinäre Kooperation 11, 656 – 80 Interpretation siehe auch Auslegung 22 – 24, 26 – 32, 39, 42, 44, 45, 47, 72, 74, 75, 94, 105, 120, 126, 185, 211, 212, 224, 238, 239, 242, 249, 252, 255, 269, 294, 364, 422, 428, 430, 431, 434, 451, 523, 545, 607, 612, 615, 618, 622, 623, 630, 660, 664, 668 – Interpretationsspielraum 433 – im Europäischen Privatrecht 9, 250, 262 – 278 – integrationsorientierte 9, 262, 273 Judge-made law 162, 421, 492, 567

Sachverzeichnis Jurisprudenz 9, 21, 22, 24, 26, 28, 33, 47, 51, 52, 54, 56, 67 – 69, 76, 99, 101, 118, 121, 122, 126, 141, 158, 159, 204, 208, 236, 245, 269, 288, 298, 305, 322, 324, 331, 345, 367, 370, 372, 437, 461, 462, 470, 498, 499, 505, 537, 590, 591, 601, 616, 626, 635, 637, 655 – ökonomisch-ökologische 141 – 159 Justizsyllogismus 205, 206, 227 – 229 – Unbegrenztheit des 227, 529 Klimawandel 653, 656 Konditionalprogramm-These 224, 423 Konsensbildung 97 Kreativität 10, 537, 562 – 564, 566 – 574 Kybernetik 16, 22, 524, 652, 677 Law enforcement 492 Lawyer-made law 102, 492, 503, 505, 567 Lebensform 40, 43 – 45, 267, 305 Legitimität 38, 98, 100, 300, 596, 597 Limbisches System 617, 622, 627 – 630, 636 Lückenproblem 89, 229, 230, 535 Methodologie 9, 11, 25, 28, 31, 37, 58, 128, 139, 201, 222, 223, 234, 259, 350, 392, 394, 396, 399, 440, 616, 618, 624, 626, 637, 638 – der juristischen Entscheidung 9, 11, 88, 93, 102, 233, 269, 307, 430, 461, 517, 528, 529, 626, 632, 633 – postmoderne 9, 201 Nanowissenschaft 624 Naturrecht 39, 206, 281 – 284, 286 – 292, 296, 298, 299, 346, 359, 461, 590 – erkenntnistheoretische Aspekte 283 – ontologische Aspekte 33, 283 Neodogmatik 9, 201, 453 Neuroethnologie 579, 580 Neurowissenschaft 601, 621, 624, 626, 630, 633, 635, 655, 666 – und Jurisprudenz 602 – 614 Neurojurisprudenz 496, 567, 601, 615, 616, 620, 621, 626, 633, 638, 655 Normanpassung 205, 212, 557 – richterliche 205, 212 – und gesellschaftlicher Wandel 205

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Normbereich 10, 209, 214, 215, 218, 219, 269, 357, 421, 439, 440, 444, 445, 449 – 453, 465 Normenwandel 14, 49, 51, 64, 203, 204, 207, 208, 210, 213, 215 – 217, 294 – und Rechtsbegriff 296 Normhypothese 67, 99 Normkonkretisierung 89, 93, 96, 98, 100 – 102, 214, 215, 218, 219, 269, 451, 452 Normtext 24 – 26, 209, 211, 214, 218, 219, 430, 449, 450, 452 Normziel 35, 77, 364 Ökonomische Analyse des Rechts 107, 138, 141, 142, 157, 158, 172 Politik 10, 43, 47, 72, 83, 84, 87, 102, 135, 141, 166, 169, 175, 176, 208, 273, 287, 361, 432, 433, 453, 455, 460, 464, 467, 470, 476, 480, 482, 496, 573, 593, 595, 653, 654 – Gesetzgebung 455 – politischer Diskurs 454, 455 – 466 Postmoderne 265, 266, 267, 268

125, 272, 456, 490,

Rationalität 10, 33, 37, 38, 43, 44, 48, 49, 69, 96, 97, 100, 102, 103, 120, 173, 216, 221, 230, 233, 234, 239, 245, 288, 300, 301, 304, 305, 307, 343, 358, 365, 380, 412, 418, 419, 421, 432, 437, 454, 455, 457 – 465, 517, 526, 535, 537, 586, 588, 593, 595, 627, 657 – als politischer Diskurs 10, 454, 455 – 466 – juristische 10, 454, 455, 458, 461, 463, 465 Rechtsanwendung 90, 102, 171, 194, 197, 205, 209, 219, 227, 236, 299, 300, 369, 370, 378, 409, 426, 437, 440, 445, 446, 451, 461, 462, 503, 504, 531, 581, 590, 591 Rechtsbegründung 90, 102, 171, 194, 197, 205, 209, 219, 227, 236, 281 – 300, 369, 370, 378, 409, 426, 437, 440, 445, 446, 451, 461, 462, 503, 504, 531, 581, 590, 591 – im Naturrechtsdenken 281 – im Positivismus 281 – materiale 281

728

Sachverzeichnis

Rechtsberatungslehre 10, 381, 405, 498 – 506 Rechtsbildung 385, 461, 590 – Richtigkeit der 590 Rechtsdogmatik 9, 21, 24, 53, 70, 76, 90, 96, 212 – 214, 231, 236 – 238, 242, 243, 245, 270, 322, 323, 382, 383, 398, 399, 430, 448, 449, 497, 502, 504, 505, 618 – Flexibilität der 213 – Stabilität der 213 – Status der 236 – und praktische Vernunft 9, 236 – wissenschaftstheoretische Basis 9, 236 Rechtserkenntnis 9, 21, 22, 197, 213, 240, 244, 245, 287, 289, 345, 358, 391, 393, 395, 411, 422, 430, 615, 625 Rechtsfindung 40, 95, 99, 101, 203, 205, 214, 215, 227, 232, 240, 269, 296, 307, 343, 346, 352, 353, 363, 366, 368, 370, 380, 381, 403, 406 – 409, 411 – 414, 421, 429, 431, 446, 461, 502, 503, 505, 516, 521, 530, 531, 534, 536, 589, 590, 593 Rechtsfortschreibung 9, 32, 221, 231, 233, 235, 306, 307, 385,409, 418, 454, 463, 536, 537, 592 Rechtsgefühl 10, 64, 223, 357, 367, 375, 398, 509 – 518, 521 – 525, 527, 559, 561, 576, 629 – als Ordnungsbedürfnis 10, 509, 522 Rechtsgespräch 10, 98, 402 – 420, 500 – als Konfliktregelungsstrategie 404 – im Dienst der Rechtsfindung 409 – und Rechtsschöpfung 410 – und Streitentscheidung 406, 413 Rechtsgewinnung 210, 218, 219, 227, 232, 239, 290, 296, 300, 306, 431, 432, 502, 585 Rechtsökologie 9, 47, 67, 135, 138, 159, 166, 169 – 178, 295, 597 – als Ethik 9, 47, 67, 159, 166, 295, 597 – als Sozialtechnologie 9, 47, 67, 159, 166, 295, 597 Rechtsprechung 10, 57, 62, 77, 82, 89, 103, 138, 150, 158, 171 – 173, 185, 191, 194, 206, 208, 210, 215, 221 – 223, 230 – 234, 249, 252, 259 – 261, 274, 276, 290, 299, 306, 325, 349, 361, 365, 376, 381 – 391, 393, 400, 412 – 414, 418, 421, 427, 433 – 435, 456, 474, 515, 528, 535, 571, 590

Rechtsprechungslehre 381 – 402, 419, 436, 498, 500, 505 – als Wissenschaft 381 – wissenschaftstheoretische Anforderungen 386 – flexible Grenzbereiche 388 – hermeneutische Perspektive der 394 – empirische Perspektive der 395 Rechtspsychologie 10, 383, 387, 496, 507, 525, 526, 539, 552, 562, 567, 575, 576, 581, 602, 618 – als Rechtstheorie 507 Rechtsschöpfung 212, 231, 299, 383, 410, 411, 435, 492, 526, 536 – administrative 435 Rechtssystem 9, 10, 22, 29, 33, 46, 50, 64, 67, 88, 89, 94, 106, 117 – 119, 129, 135, 137, 141, 144, 145, 170, 171, 179, 193, 205, 206, 222, 224, 232, 233, 235, 256, 266, 270, 285, 287, 291 – 295, 297, 299, 300, 351, 366, 370, 383, 389, 416, 449, 454, 460 – 462, 487, 490, 493, 531, 537, 552, 560, 574, 585, 588, 589, 591 – 593, 598 – 601, 615 – und Technokratie 10, 50, 461, 585, 587,588, 589, 590 Rechtstechnologie 54, 59, 63, 82, 87, 367 Rechtstheorie 9, 10, 16, 19, 21 – 23, 25, 29, 33, 34, 36 – 40, 42 – 44, 48, 49, 51 – 57, 62, 63, 65, 67 – 71, 75 – 87, 90, 91, 94, 96, 100 –102, 117, 118, 120 – 122, 125, 127 – 130, 133, 134, 138, 141, 160, 161, 170, 172, 174, 176, 193, 203 – 205, 207 – 209, 216, 220 – 222, 227, 234, 236, 244, 281, 284, 285, 288, 294, 295, 298 – 301, 307, 317, 345, 346, 356, 357, 364, 367, 368, 372, 379, 385, 387, 389, 391, 399, 409, 421, 422, 428, 430, 431, 433, 444, 448, 449, 453, 455, 456, 474, 476, 487, 496, 501, 507, 509, 522, 525, 561, 576, 577, 579, 581, 583, 587, 590, 618 – Disziplinierung der 583 – Entgrenzung der 583 – explikative 23, 33, 38, 54, 55, 57, 68, 128, 134, 174, 236, 345, 391, 399 – normative 23, 33, 38, 54, 55, 57, 68, 128, 134, 174, 236, 345, 391, 399 – und Psychologie 575 – 582

Sachverzeichnis – wissenschaftstheoretische Anforderungen 62 – zwischen juristischer Dogmatik und Rechtsphilosophie 68 Rechtsvergleichung 17, 250, 254 – 258, 265, 266, 268, 270 Rechtsvernunft 10, 48, 244, 245, 300 – 306 – als oberster Grundwert 303 – als politische Fähigkeit 303 – als Wertungsrationalität 306 – Rekonstruktion der 281 – Ungewissheit der 304 – Unvollständigkeit der 304 Rechtswirklichkeit 10, 21, 53, 55, 56, 70, 208, 212, 231, 279, 349, 356, 535, 536 – Konstruktion der 10, 279 Rechtswissenschaft 9 – 11, 21 – 33, 37, 40, 41, 43, 45, 46, 48 – 59, 62 – 72, 76 – 79, 81, 93, 94, 101, 105 – 108, 117 – 128, 130 – 137, 139 – 141, 158, 159, 166, 169, 172, 204, 206, 209, 210, 216, 236, 242, 244, 286 – 288, 300, 301, 305, 323, 330, 332, 343 – 349, 353, 354, 358, 359, 367, 369, 370, 378, 380, 381, 387, 388, 391, 393, 395, 396, 411, 435, 437, 448, 450, 474, 477, 480, 496, 505, 515, 567, 585, 594, 601, 615 – 620, 624 – 626, 633, 638, 639, 648, 654, 655, 662, 663, 665, 667 – als Weltbild 10, 354, 411 – Wissenschaftstheorie der 11, 51, 55, 615, 624, 638, 662 Reine Rechtslehre 9, 29, 33, 36, 67, 117, 118, 11, 120, 126, 129, 133, 236, 285, 308, 315 – 318, 322, 324, 326, 331, 334, 340, 342, 345, 389, 448 – Objektfeld der 120 – Theoriecharakter der 117 Ressourcensteuerung 9, 179, 180, 182, 185, 188 – 196, 198, 199 – als Staatsaufgabe 180 – als Staatszielbestimmung 193 – globale 198 – grenzüberschreitende 198 – verfassungsrechtliche Verankerung 185, 191 – verfassungsrechtliche Schranken der 189

729

Satisficing 578, 579 Sozialresonanz 10, 598, 599, 600 Sprunglehre 21 Staatsunrecht 308- 313, 315 – 325, 331, 333, 334, 339, 341 – bei Hans Kelsen 308 – Kritik 318 – Zurechnungsproblem 326 Subsumieren 10, 74, 190, 207, 241, 526, 529, 534, 536 – juristisches 526 – 538 – psychologische Dimensionen des 526 – 538 Theoriebildung 9, 22, 29 – 31, 51, 54, 56, 58, 59, 62 – 67, 119, 121, 128, 129, 170, 236, 305, 345, 388, 389, 644, 661 – rechtsökologische 170, 676 Theoriefortschritt 9, 22, 29, 67, 117, 129, 236, 285, 345, 389 – und Reine Rechtslehre 117 Theorieprogramm – rechtwissenschaftliches 122 – und „Einheitsgegenstand“ der Rechtswissenschaft 124 Theorieprüfung 60 Überprüfung 24, 28, 31, 33, 36 – 38, 46, 49, 50, 60, 65, 67, 77, 95, 97, 129, 194, 400, 424, 429, 437, 443, 493, 494, 570, 659, 666, 671, 680 – von praktischen Sätzen 33 Umweltgesetzgebung 10, 141, 166 – 168, 179, 193, 295, 467 – 470, 473, 474, 479 – 481 – Regelungsfunktion 167 – Reziprozität im Umweltrecht 552 Umweltpolitik 149, 150, 155, 166, 168, 169, 171, 195, 472, 474, 475, 477, 480 Umweltstaatlichkeit 168 Umweltvorsorge 131, 137, 168, 192, 594, 595, 597 Urteilssicherheit 578, 579 Vernunft 9, 35 – 37, 43, 91, 128, 158, 160, 167, 173, 236, 244, 245, 268, 287, 301 – 304, 350, 351, 358, 359, 421, 423,

730

Sachverzeichnis

431, 461, 468, 491, 511, 551, 561, 577, 585, 590, 614, 629 Vernünftigkeit 38, 48, 102, 147, 245, 300, 304, 306, 307, 359, 379, 447 Verwaltung 10, 13, 46, 57, 82, 103, 138, 158, 169, 171, 173, 179, 194, 297, 315, 336, 361, 421 – 423, 426, 427, 434 – 436, 440 – 443, 445, 448, 453, 456, 459, 464, 470, 474, 478, 484, 485, 491, 493, 497, 575, 586, 587, 589, 616 Verwaltungsentscheider 10, 88, 90, 94, 99, 101, 421, 423, 425, 429, 433, 434, 435, 436, 438 – 448, 452, 454, 575, 576, 580, 616, 636 – Agency-made law 421 – 454 Verwaltungsjurisprudenz 444, 453 Verwendungszusammenhang 58 Wahrheitsgehalt 47, 60, 64 Wertfreiheitsprinzip 68, 71, 79, 80, 85, 176, 177 – Abschied vom 176 – als Grundlage explikativer Rechtstheorie 81 – als Problem metawissenschaftlicher Entscheidung 75 – als Wissenschaftsideal der Rechtstheorie 71

Wertung 33, 35 – 37, 41, 42, 52, 54, 55, 58, 62, 63, 67, 69, 71, 74, 76 – 81, 85, 86, 88, 89, 91 – 93, 106, 127, 140, 170, 173, 177, 178, 206, 208, 223 – 225, 255, 260, 292, 294, 347, 358, 359, 367, 370, 374, 385, 411, 418, 419, 421 – 423, 427 – 435, 437, 440, 443, 444, 447, 514, 518, 519, 533, 573, 634, 647, 663 Werturteil 34 – 36, 43, 54, 58, 62, 69, 72 – 81, 86, 91, 95, 96, 170, 177, 287, 292, 411, 428, 476, 514 Willensfreiheit 551, 615, 617, 619, 626, 634 Wirtschaftsrecht 9, 13 – 15, 18, 104 – 114, 138, 158, 171, 186, 293, 467 – Begriff 104 – rechtstheoretische Perspektive 104 – wissenschaftstheoretische Perspektive 104 Wissenschaftsentwicklung 131, 132, 662, 673 – und Rechtswissenschaft 131 Wissenschaftstheorie 11, 28, 35, 37 – 39, 51 – 55, 58, 67, 72, 83, 87, 110, 126, 175, 176, 178, 236, 238, 242, 244, 302, 367, 379, 380, 386, 394, 395, 400, 401, 431, 506, 573, 615, 624, 638, 639, 647, 648, 656 – 660, 663, 664, 666 – 669, 671 – 673, 676 Wissensvermehrung 130, 134, 140